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Gedächtnis – Identität – Differenz

2008
978-3-7720-5301-6
A. Francke Verlag 
Marijan Bobinac
Wolfgang Müller-Funk

Der vorliegende Band versammelt Beiträge einer internationalen Konferenz in Kroatien, die sich mit den überschneidenden literarischen und kulturellen Feldern im deutschsprachigen und post-jugoslawischen Raum beschäftigen. Viele der darin versammelten Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Kroatien, Österreich, Deutschland, Frankreich, Ungarn, Slowenien und Kanada greifen in ihren Analysen von transkulturellen Wechselbezügen auf neue kulturwissenschaftliche Methoden zurück, die in einigen Aufsätzen auch exemplarisch und programmatisch vorgestellt werden. Dabei wird vor dem Hintergrund der jüngsten dramatischen historischen Ereignisse auf dem Balkan eine Tiefensymbolik sichtbar, als deren Leitmedium man hier die Literaturen auf dem Balkan wie im deutschsprachigen Raum ansehen kann.

K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 2 A. Francke Verlag Tübingen und Basel Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 12 · 2008 Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext Beiträge des gleichnamigen Symposiums in Lovran/ Kroatien, 4.-7. Oktober 2007 Herausgegeben von Marijan Bobinac und Wolfgang Müller-Funk in Zusammenarbeit mit Gerald Lind und Rikard Puh A. Francke Verlag Tübingen und Basel Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien, des Initiativkollegs »Kulturen und Differenz« der Universität Wien, der Steiermärkischen Landesregierung, der Phil. Fakultät der Universität Zagreb und des kroatischen Wissenschaftsministeriums. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Artresor, Zagreb Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8301-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Inhalt I. METHODISCHE VORAUSSETZUNGEN UND GRUNDLAGEN W OLFGANG M ÜLLER -F UNK (Wien): Narrative Modellierungen von symbolischen Räumen. Einige grundsätzliche Überlegungen mit Anwendungsbeispiel: Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens . . . . . . . . . 3 H ELGA M ITTERBAUER (Graz): Kultureller Transfer - Transkulturalität. Zur Dynamik der literarischen Moderne um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 A LEXANDRA S TROHMAIER (Graz): Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. DIE BÜHNE DER NATION K ÁLMÁN K OVÁCS (Debrecen): Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz. Eine Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 D ANIEL B ARIC (Tours): Therese von Artner (1772-1829). Eine Schriftstellerin vor der Vielfalt der Sprache in Kroatien . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 E MILIJA M AN ~ I } (Wien): Vom »Volkslied« zur Nationalkultur. Zur Rezeptionsgeschichte des romantischen Kulturbegriffs am Beispiel Serbiens . 63 M IRA M ILADINOVI } Z ALAZNIK (Ljubljana): »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡…™ kann man ‡…™ verzeihen, ohne daß ‡…™ die Ehre der slovenischen Nation darunter leidet.« Slowenisches Theater des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 M ATJA ` B IRK (Maribor): »Man geht in Marburg damit um, ein neues Theater zu bauen ... Die Einwohner und Begüterten der Umgebung steuern freiwillig dazu bei ...« Literatursoziologisches zu Wechselbeziehungen zwischen der deutschen und der slowenischen Bühne in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . 85 @ ELJKO U VANOVI } (Osijek): Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci}. Von innovativ regionalen zu internationalen Elementen der Lachkultur des Volkstheaters . . . . . . . . . . 95 C LEMENS R UTHNER (Edmonton/ Kanada): De- & Recoding Konjic(a). Eine herzegowinische Stadt als Modellfall kulturwissenschaftlicher Imagologie. . . 107 A NNA B ABKA (Wien): »Das war ein Stück Orient«. Raum und Geschlecht in Robert Michels Die Verhüllte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 000-sadrzaj.indd 5 26.8.2008 11: 17: 58 VI Inhalt III. DIE KRISE DER DEMOKRATIE IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT J ACQUES L E R IDER (Paris): Mitteleuropa als umstrittener Erinnerungsraum und als Zukunftsperspektive in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I RMELA VON DER L ÜHE (Berlin): Chronist des Untergangs oder Reporter einer Neuen Zeit? Joseph Roth und das kulturelle Gedächtnis der Donaumonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 G ERALD L IND (Wien): »Von Politik aber verstanden wir nichts.« Erinnerung und Identität im Kapitel »Auf dem Schneeberg« aus Gerhard Roths Roman Landläufiger Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 M ARIJAN B OBINAC (Zagreb): Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb. Zum Versuch einer Vereinnahmung des österreichischen Klassikers im Ustascha-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 IV. KRIEG UND FRIEDEN IM SPIEGEL DER POSTJUGOSLAWISCHEN UND DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR VOR UND NACH 1989 R IKARD P UH (Zagreb): Faust auf Faust. Goethes Drama als kroatisches Politikum 1942-1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 U LRICH D RONSKE (Zagreb): Identität und Exil. Zu Dinah Nelkens Erzählung U {umu, in den Wald, zu den Partisanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 S VJETLAN L ACKO V IDULI } (Zagreb): Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort. Zur Wirkung der Handke-Kontroverse in Serbien seit 1991 . . . . . . . . . . . . . . 205 G ORAN L OVRI } (Zadar): Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens. Zeichen der Unsicherheit oder geteilte Erzählerpersönlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 A LMA K ALINSKI (Zagreb): Zwischen Europa und Balkan. Das Spiel mit Auto- und Heterostereotypen über Kroaten und Kroatien in Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 D ANIELA F INZI (Wien): Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird. Wie der Soldat das Grammofon repariert von Sa{a Stani{i} . . . . . . . . . 245 M ILKA C AR (Zagreb): Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre. Die Romane von Alenka Mirkovi}, Dubravka Ugre{i} und Da{a Drndi}. . 255 S LAVIJA K ABI } (Zadar): Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft. Vom Verlust der Heimat in der Prosa von Dubravka Ugre{i} und Monika Maron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I VANA P ERICA (Zagreb): Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift. Dubravka Ugre{i}s Museum der bedingungslosen Kapitulation . . . . . . . . . . . 279 000-sadrzaj.indd Sec1: VI 26.8.2008 11: 17: 58 VORWORT Der vorliegende Band versammelt Beiträge der internationalen Konferenz, die im Oktober 2007 im istrianischen Lovran (Kroatien) unter dem Titel »Gedächtnis, Identität, Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext« stattgefunden hat. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Kroatien, Österreich, Deutschland, Frankreich, Ungarn, Slowenien und Kanada beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit den überschneidenden literarischen und kulturellen Feldern im deutschsprachigen und post-jugoslawischen Raum und greifen dabei von Analysen von transkulturellen Wechselbezügen auf neue kulturwissenschaftliche Methodologie zurück, die in einigen Aufsätzen auch exemplarisch und programmatisch vorgestellt wird. Vor dem Hintergrund der jüngsten dramatischen historischen Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien wird dabei eine Tiefensymbolik sichtbar, als deren Leitmedium man hier die Literaturen auf dem Balkan wie im deutschsprachigen Raum ansehen kann. Die drei Begriffe im Titel des Sammelbandes (und der Konferenz) - Gedächtnis, Identität, Differenz - umreißen die - ansonsten recht unterschiedlichen - methodologischen Herangehensweisen der einzelnen Beiträger: Als zentral zeigt sich, wie auch auf dem Gebiet der rezenten Gedächtnisforschung, die Verbindung von Gedächtnis und Erinnerung sowie von kollektiver Identitätsbildung. Wo allerdings Identitäten gestiftet werden, dort begegnet man regelmäßig auch dem Phänomen der Differenz. Zeitliche und räumliche Koordinaten werden mit dem symbolischen Raum des ehemaligen Jugoslawien festgelegt, wobei dessen vielfältige Beziehungen zum kulturellen Umfeld, zum multiethnischen Raum der Donaumonarchie und dem deutschsprachigen Kontext an Fallstudien erforscht werden. Literatur, Theater und andere Künste werden als Medien und symbolische Ausdrucksformen verstanden, die bei der Schaffung und Ausgestaltung moderner Nationalkulturen im 19. und 20. Jahrhundert eine maßgebliche Rolle gespielt haben und spielen. Die Manifestationen von Literatur, Theater und Kunst wirken zum einen auf die internen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten ein, sie sind aber zugleich mit externen literarischen, intellektuellen und ästhetischen Entwicklungen verknüpft. Diese Beziehungen werden als inter-, intrabzw. transkulturell bestimmt und beschreiben Prozesse eines wechselseitigen Kulturtransfers. In einem ersten Schritt werden diese methodischen Prämissen vorgestellt und daraufhin an drei ausgewählten, exemplarischen Themenbereichen diskutiert: BH 10 Book.indb VII 22.8.2008 22: 10: 21 VIII Vorwort • die Bühne der Nation. Die Entstehung und Entwicklung des Nationaltheaters im mittel- und südosteuropäischen Raum zwischen Abgrenzung und Nachahmung. • die Krise der Demokratie und ihre symbolische Bearbeitung in der Literatur und in intellektuellen Diskursen der Zwischenkriegszeit: Südosteuropa, Mitteleuropa und der deutschsprachige Raum. • der Zusammenbruch Jugoslawiens, die Konstruktion neuer Nationalstaaten sowie Krieg und Frieden im Spiegel der postjugoslawischen und deutschsprachigen Literaturen nach 1989 Für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung des Sammelbandes sei dem Österreichischen Wissenschaftsfonds, der Steiermärkischen Landesregierung und dem kroatischen Wissenschaftsministerium gedankt. Den Kern dieses Symposiums bilden die Teilnehmer des vom kroatischen Wissenschaftsministerium finanzierten Forschungsprojekts »Gedächtnis und Identität. Der kroatischdeutschsprachige Kulturtransfer«. Am Symposium beteiligen sich aber auch andere Kolleginnen und Kollegen, die sich als Experten für Fragen, die hier zur Diskussion stehen, hervorgetan haben. Die Herausgeber Wien - Zagreb, im Mai 2008 BH 10 Book.indb VIII 22.8.2008 22: 10: 21 I. METHODISCHE VORAUSSETZUNGEN UND GRUNDLAGEN BH 10 Book.indb 1 22.8.2008 22: 10: 21 BH 10 Book.indb 2 22.8.2008 22: 10: 21 W OLFGANG M ÜLLER -F UNK (W IEN ) Narrative Modellierungen von symbolischen Räumen Einige grundsätzliche Überlegungen mit Anwendungsbeispiel: Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens Wie vielfach angemerkt, besteht die Problematik der Kulturwissenschaften - dem Terminus »Kulturanalyse« wird an dieser Stelle der Vorzug gegeben 1 - in der Vielschichtigkeit des Begriffs »Kultur«. In einer mittlerweile durch überbordende Einführungsbücher charakterisierten Situation ist es sinnvoll, dafür zu plädieren, diese Polyvalenz sichtbar zu machen und freizulegen, um Missverständnisse und Kurzschlüsse zu vermeiden. 2 Der hier vorgebrachte Vorschlag läuft darauf hinaus, reflektiert mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs umzugehen, anstatt illusorischerweise zu glauben, man könnte den Streit um die »Kultur« (oder auch Begriffe wie »Medien« oder »Raum«) dadurch lösen, dass man eine eindeutige Definition gleichsam von oben vorschreibt und verordnet. Umgekehrt geht es in der kulturellen Wende darum, der unhinterfragten Gleichsetzung von Kunst und Kultur ebenso eine Absage zu erteilen wie einem normativen Begriff von Kultur, der diese als eine mehr oder minder positiv besetzte Sphäre ansieht. In Bezug auf zum Teil sehr unterschiedliche in der gegenwärtigen Debatte verwendete Kulturtheorien möchte ich im Anschluss an Chris Jenks in einem ersten Schritt vier Kulturbegriffe unterscheiden: • einen emphatischen, der Kultur als positiv, ja sogar als überlegen begreift und den Jenks in der literarischen Moderne von der Romantik bis zur elitären Auffassung der Frankfurter Schule am Werk sieht: Kultur als Form geistiger Entwicklung und Persönlichkeitsbildung. Jenks verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf den Bildungsbegriff des deutschen Idealismus und der deutschen Klassik. • einen praktisch orientierten, körperlichen und kollektiven Begriff, der mit dem der Zivilisation verwandt ist, eine (sozialbiologische) anthropologische Komponente in sich trägt und seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch vom Darwinismus inspiriert ist. In ihm spielen Vorstellungen von Degeneration und Fortschritt (auch Rasse) eine maßgebliche Rolle. Jenks assoziiert dieses Verständnis von Kultur kritisch mit dem (britischen) Imperialismus. 1 Wolfgang Müller-Funk: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften, Tübingen 2006. 2 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2. erweiterte Auflage, Wien - New York 2008. BH 10 Book.indb 3 22.8.2008 22: 10: 21 4 Wolfgang Müller-Funk • einen deskriptiven Begriff, der Kultur als eine konkrete Kategorie, als ein bestimmtes soziales Feld (Bourdieu) 3 beschreibt, als eine begrenzte Sphäre in einer Gesellschaft, die exklusiv, partikulär und ausdifferenziert ist und in der es ein ausgebildetes Spezialistentum gibt. Diese Sphäre entspricht im Wesentlichen dem Bereich der klassischen Kunst-Kultur, die heutzutage durch diverse Pop- und Subkulturen und gegebenenfalls durch den Medienbereich erweitert ist. 4 • einen sozialen Begriff, der Kultur als das Insgesamt von Lebensweisen (’whole way of life’) begreift, in dem der Lebensvollzug ins Spiel kommt. Diesen heute gängigen Begriff von Kultur bezeichnet Jenks als pluralistisch: er korrespondiert mit einer demokratischen Sichtweise. 5 Wenn ich es recht sehe, dann ist die gegenwärtige Diskussion um die Ausarbeitung dieses vierten Begriffes bemüht, obschon auch die anderen Begriffe in der Diskussion um Globalisierung, Neue Medien, Gedächtnis und Kulturtransfer eine gewisse Rolle spielen. Andreas Reckwitz hat darauf hingewiesen, dass sich die gegenwärtige Diskussion dadurch auszeichnet, dass der Kulturbegriff auf die Herstellung von Bedeutung abzielt. In ihm spielt, und damit bin ich beim Thema, die Konstruktion eine herausragende Rolle, ob man nun von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ausgeht oder stärker mit semiotischen Konzepten operiert. In diesem Diskurs löst sich scheinbar wie von selbst der alte Gegensatz von Natur und Kultur, der sowohl in holistischen wie in den exklusiven Theorien von Kultur eine maßgebliche Rolle spielt, fast vollständig zugunsten einer Auffassung auf, in der Wirklichkeit selbst als eine Konstruktion erscheint und so etwas wie einen Grenzbegriff darstellt, eine Art Ding an sich. Der Begriff Konstruktion, dessen architektonische Bezüge unübersehbar sind, macht deutlich, dass dieser Kulturbegriff ohne räumliche Formeln wie Raum und Grenze undenkbar ist. Die Pointe der spatialen Wende liegt nicht zuletzt darin, dass diese symbolischen Räume nicht deckungsleich mit jenen sind, die wir als territorial begreifen und die doch auch nur durch symbolische Formatierungen (Landkarte, exemplarische Bildformationen) sichtbar sind. 6 Sofern die Wirklichkeit einen unhintergehbaren horizontalen Bezugspunkt bildet und nicht, wie in radikalen konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Diskursen, vollständig ausgeblendet und durch ein System von Selbstbezügen ersetzt wird, besitzen Literatur wie andere Artefakte oder ästhetischexpressive Medien eine doppelte Funktion: Sie sind Konstruktionsformen einer Realität, die ohne sie nicht bestünde, und sie sind Instrumente einer Reflexion, die uns den unbewussten Vollzug kultureller Praxis ins Bewusstsein hebt. Kunst, 3 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes A. d. Franz. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt/ Main 1999. 4 Roman Horak: Die Praxis der Cultural Studies, Wien 2002. 5 Chris Jenks: Culture, Second Edition, London 2005, S. 6-24. 6 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt/ Main 2006, S. 81-259. BH 10 Book.indb 4 22.8.2008 22: 10: 21 Narrative Modellierungen von symbolischen Räumen 5 und damit Literatur, ist deskriptiv wie normativ bewusste Kultur. Die Referenz von Literatur ist also im Kontext von Kultur als Insgesamt symbolischer Formen und Praktiken zu sehen, deren nicht unprominenter, exquisiter wie peripherer Teil die Literatur selbst ist, die kollektive Konstruktionsformen einer Gesellschaft sowohl generiert als auch hinterfragt. Zu diesen symbolischen Befindlichkeiten gehören in ihrer narrativen Dimension die gemeinsamen Archive erfundener Gemeinschaften, diverse Programme von Lebensstilen, das Verhältnis von Fremdem und Eigenem, das jedem Kulturtransfer zugrunde liegt - also jene Eckpunkte der Konstruktion von Kultur, die im Titel dieses Buches mit Gedächtnis, Identität und Differenz benannt sind. Wenn Kultur als Konstruktion begriffen wird, dann ist es evident, dass dieser Raum nicht als machtfrei gedacht werden kann. Denn in der Kultur selbst ist Macht im Spiel, wo Ex- und Inklusionen festgelegt und festgeschrieben werden, wie das Michel Foucault in seiner Version einer Diskurstheorie vorgeführt, 7 wo um Bedeutung und kulturelle Hegemonie gestritten wird und wo Differenzen und Identitäten fixiert werden. Es geht nicht mehr darum, auf individueller wie kollektiver Ebene, »wahre« Identität zu finden, sondern wie Identität konstruiert wird, welche Form von Differenz sie erzeugt, ob sie Pluralität und Alterität zulässt, wie offen und durchlässig oder auch fixiert ihre Grenzen sind. Nicht alle Macht steckt in der Kultur, ihren Diskursen, Narrativen und anderen Symbolisierungen. Umgekehrt verhält es sich auch nicht so, dass in all diesen symbolischen Formen lediglich Macht vorzufinden ist. Der gegenwärtige Kulturbegriff ist medial und schließt Formen der Repräsentation mit ein. Entgegen seiner Etymologie, in der das Medium als ein unscheinbares Mittel erscheint, sind Medien jene Formen von Externalisierungen, die Bedeutung öffentlich machen. Medien sind Formen der Repräsentation und der Konstruktion. Das lässt sich etwa, und darüber werden wir in diesem Buch ausführlich diskutieren, am Beispiel des Theaters und popularkultureller Formen der Nationalkultur anschaulich beschreiben. Die transdisziplinären Fragestellungen, die mit der kulturanalytischen Orientierung verbunden sind, werfen auch ein völlig neues Licht auf Diskussionen, die etwa in den deutschen, österreichischen und post-jugoslawischen (kroatischen, slowenischen, serbischen oder bosnischen) Literaturen in den letzten 15 Jahren ausgetragen wurden. Nebenbei bemerkt macht es einen dramatischen Unterschied, ob man die Ermordung der europäischen Juden als Shoah oder als Holocaust bezeichnet, obschon sich doch beide Begriffe auf das gleiche Ereignis beziehen. Damit nicht einfach vergleichbar, aber in gewisser Weise verwandt ist der Unterschied, der darin liegt, ob man die Kriege auf dem westlichen Balkan Bürgerkriege oder postjugoslawische Kriege nennt. Hinter diesen Etiketten ver- 7 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. A. d. Franz. v. Walter Seitter, Frankfurt/ Main 1982, S. 31. BH 10 Book.indb 5 22.8.2008 22: 10: 21 6 Wolfgang Müller-Funk bergen sich unvereinbare Erzählkonstruktionen und Sinnstiftungen, damit aber auch ganz unterschiedliche Kriege. Eine solche Herangehensweise eröffnet eine Metaebene im politischen Streit und lässt uns literarische Texte ganz neu interpretieren, nämlich im Hinblick auf ihre jeweilige Funktion im Prozess der Erfindung der jungen Nationen auf dem Balkan und auf das kollektive Gedächtnis, in dem es immer auch darum geht, was erinnert wird, welche Erzählungen dominant sind und auch: wie erzählt wird. Ich möchte hier nicht einem Reduktionismus das Wort reden, der literarische Texte ausschließlich aus dieser Perspektive analysiert. Aber diesen Bezug zugunsten einer neuen und gleichzeitig so alten Immanenz der Literatur (werkimmanente Schule, New Criticism, aber auch diverse Spielarten der Dekonstruktion) zu ignorieren - die Anzeichen für eine Rephilologisierung der Literaturwissenschaft mehren sich - erscheint im Kontext der hier vorgenommenen Akzentsetzung verhängnisvoll. Eine solche literaturwissenschaftliche Selbstgenügsamkeit unterschlägt eine wichtige metapolitische Funktion der Literatur (»Politik der Form«) und ihrer wissenschaftlichen Reflexion und verunmöglicht einen kritischen Diskurs mit Nachbardisziplinen; sie minimiert zudem die gesellschaftliche Relevanz der Literaturwissenschaften. Der vorliegende Band, der auf eine internationale Konferenz im istrianischen Lovran in Kroatien zurückgeht, kann über die selbstverständlichen philologischen Erträge hinaus neue Perspektiven auf die Literatur werfen und selbst einen kritischen Beitrag zur Schaffung eines post-nationalen Bewusstseins leisten. Der politische Anspruch eines Konzepts, das Kultur als Konstruktion sieht, liegt vornehmlich darin, dass die Beschreibung von Kultur selbst integraler Bestandteil des Beschriebenen ist und diese - so oder so - verändert. Wenn Kultur also vornehmlich Konstruktion, also symbolischer Weltbau, ist und symbolisch generiert wird durch Bilder, Narrative und Diskurse sowie ihre jeweiligen Medialisierungs- und Präsentationsmöglichkeiten, dann gewinnt die Frage nach der Verantwortung der Konstrukteure und Konstrukteurinnen entscheidend an Gewicht. Auch dann, wenn man davon ausgeht, dass es lebensweltliche Vorgaben gibt, an denen sich symbolische Arbeit entzündet: Hunger, Liebe, Krieg, Ungerechtigkeit, Angst, Versklavung, Tod - die scheinbar ewigen Themen des Menschen nicht zuletzt in der Literatur. Sie werden aber nur erfahr- und kommunizierbar in jenem selbst gewobenen Beziehungsgefüge, das wir als Kultur bezeichnen. Ob und welche Form von Kulturwissenschaften betrieben wird, ist also eine theoretische, aber darüber hinaus auch eine praktisch-politische Frage. Dass Literatur selbst zum Medium einer solchen kritischen kulturwissenschaftlichen Hinterfragung werden kann, zeigt jener Roman, der heimlich - oder auch nicht heimlich - im Mittelpunkt dieses Buches steht: Die Rede ist von Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens, das im Oktober 2007 in kroatischer Übersetzung erschienen ist und kontrovers diskutiert wurde. Das Bedeutsame an Gstreins Roman ist nicht zuletzt, dass er sich auf einer Meta-Ebene bewegt. Er BH 10 Book.indb 6 22.8.2008 22: 10: 21 Narrative Modellierungen von symbolischen Räumen 7 stellt den vorhandenen, in verschiedenen medialen Formaten festgeschriebenen Erzählungen über die jugoslawischen oder post-jugoslawischen Kriege keine eigene Version entgegen, vielmehr wird die Frage gestellt, wie in modernen Medien - in diesem Fall in Zeitungen, im Fernsehen, aber auch in literarischen Gattungen wie dem Essay - erzählt werden kann. 8 Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens ist in seinem Kern - und das wird in dem eigenständig publizierten Nachwort Wem gehört eine Geschichte? programmatisch ausgeführt - ein Roman, in dem nicht Ereignisse im Mittelpunkt stehen, sondern verschiedene Erzählversionen über sie. Der Zweifel über das Erzählen strukturiert den Roman und seine Repräsentationsform. Die Geschichten der verschiedenen Erzähler im Text werden nicht selten als »Hirngespinste« bezeichnet: 9 Das ist nichts anderes als eine Bezeichnung für Texte bzw. symbolische Konstruktionen. Der gewissermaßen pejorative Überschuss resultiert daraus, dass die meisten Erzähler und Erzählerinnen ihre Erzählungen für bare Münze nehmen und ihre Konstituiertheit bzw. deren konstitutive Bedingungen nicht durchschauen. Gstreins Roman treibt das, was man seit Genette als intradiegetischen-homodiegetischen Erzählstil bezeichnet, auf die Spitze, indem er mehrere Erzählungen verschachtelt und zugleich parallelisiert. Auf der Ebene der Rahmenhandlung passiert eigentlich nicht viel, der namentlich ungenannte Erzähler bewegt sich zu Fuß und im Auto durch Hamburg (er breitet en passant einen literarischen Stadtplan vor dem Leser aus), reist durch Exjugoslawien, sitzt in seinen Stammcafés in Hamburg, im Café Prückl in Wien, im Kaffeehaus am Jela~i}-Platz in Zagreb. Die extreme Armut an Ereignissen auf der Ebene der Rahmenhandlung ist verblüffend: • Der in Hamburg lebende, aus Tirol stammende Journalist und Autor Paul will einen Roman über den ermordeten Kriegsreporter Allmayer, einen Landsmann, schreiben. • Das Geheimnis des ermordeten Kriegsreporters wird nach längerer Recherche gelüftet. • Paul, der Nebenbuhler, Landsmann und Doppelgänger des Erzählers begeht in Zagreb Selbstmord. • Die schöne Helena, die kroatische Lebensgefährtin Pauls, wird die Geliebte des Erzählers. • Der Erzähler schreibt den Roman, den Paul nicht zu schreiben vermochte. 8 Eine ausführliche Analyse des Romans erfolgt demnächst: Wolfgang Müller-Funk: Narrative zwischen Ethik und Ästhetik: Krieg und Medien. Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens. In: Narration und Ethik in historischer und interkultureller Perspektive. Hg. v. Claudia Öhlschläger, München 2008. 9 Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens, Frankfurt/ Main 2003, S. 18. BH 10 Book.indb 7 22.8.2008 22: 10: 21 8 Wolfgang Müller-Funk Der Erzähler im Roman, der systematische Zweifler am Erzählen, diese unsichtbare Figur mit der symbolischen Vollmacht von Stimme und Fokalisierung, gibt selbst keine Geschichte von sich, sondern lässt sich von verschiedenen Menschen verschiedene Geschichten über die vermeintlich selben Ereignisse erzählen, die alle um das scheinbar gleiche Thema kreisen: um Jugoslawien, den Krieg und die Rolle der Medien. So werden die »Hirngespinste« eines medialen, das heißt öffentlichen Erzählens auf beiden Ebenen einem Härtetest unterzogen: auf der thematischen (Krieg, Balkan), wie auf der strukturellen (Narrative, Medien). Programmatisch wird im Roman vermieden, Begebenheiten ohne narrative Referenz wiederzugeben - dadurch wird der Anspruch des Romans sinnfällig, das Geschehene immer als ein erzähltes Geschehen vorzuführen, darzustellen und zu kommentieren. Gstrein sichtet gleichsam das symbolische Material, das über Jugoslawien verfügbar ist, und legt die Eigendynamik moderner Medien in ihrer seltsamen Mischung aus Aufklärungspathos und struktureller Komplizenschaft frei. Damit gerät das, was ich als Politik der Form bezeichnen möchte, in den Vordergrund. Die Pointe des Romans besteht darin, dass nicht nur die Kriegsherren auf beiden Seiten das Handwerk des Tötens ausüben, sondern dass, unter bestimmten Bedingungen, auch die Medien das Handwerk des Tötens betreiben. Das gilt für Kriegs- und Bürgerkriegsberichterstattungen bis hin zum so genannten Krieg gegen den Terror unserer Tage. Im Feld der Politik, das Carl Schmitt durch das Freund-Feind-Verhältnis charakterisiert hat, 10 ist, insbesondere im aktuellen Konfliktfall, kaum eine Position jenseits des binären Ja/ Nein, Freund/ Feind denkbar; aber Gstrein macht deutlich, dass im Feld der Literatur eine solche Hinterfragung von Denkmustern unabdingbar ist. Kultureller Transfer - und diese überaus wichtige Übersetzung des Gstrein’schen Buches ist ja zweifelsohne ein solcher Transfer - findet ebenso wenig statt wie die Organisation kollektiver Gedächtnisbestände in einem luftleeren Raum, sondern wird durch gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen konturiert. Dass etwa die österreichische und deutsche Öffentlichkeit, vielleicht zum ersten Mal, ein nennenswertes Interesse an der kroatischen Kultur (aber auch an anderen post-jugoslawischen Kulturen) zeigt und dass es so etwas wie einen reziproken Transfer gibt, hat auf bestürzende Weise mit jenen Kriegen zu tun, die auch für die Menschen in den deutschsprachigen Ländern eine symbolisch relevante Bedeutung hatten. Wenn amerikanische Spitzenverlage, wie neulich zu lesen war, keine übersetzten Bücher mehr akzeptieren, dann zeugt das nicht bloß von einem hohen Maß an Ignoranz und Arroganz, sondern macht jene Macht sichtbar, die hinter dieser Überlegenheitsgeste steht. Auch der literarische Transfer ist nicht selten von solchen Asymmetrien überlagert: Die Miss- 10 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 26 ff. BH 10 Book.indb 8 22.8.2008 22: 10: 21 Narrative Modellierungen von symbolischen Räumen 9 achtung ganzer Nationalliteraturen durch die großen europäischen Literaturen ist eine Seite dieser Medaille, ihre exotische Verfremdung eine andere. Womit ich noch einmal bei Gstreins Roman angelangt bin: Wofür er nämlich plädiert, ist die Herstellung von normalen Beziehungen jenseits von Missachtung und falscher Romantisierung. Gstreins Roman beschäftigt sich kritisch mit den fatalen Strategien des exotischen Narrativs, dessen Muster sich in Reisebeschreibungen wie in Kriegsberichten finden. Dabei sind, gerade im Falle von Balkanismus und Orientalismus, nicht allein die pejorativen oder auch meliorativen Stereotypierungen problematisch, vielmehr besteht die Naivität auch darin, dass dieses Erzählen die Binsenweisheit unterschlägt, dass das Fremde vornehmlich ein funktionales Element des eigenen Diskurses darstellt. Weil das fremde und zugleich nahe Jugoslawien eine konstitutive Rolle für die österreichische Befindlichkeit vor allem (aber nicht erst) seit den 1970er Jahren spielte, haben die Kriege im fremden Land die Gemüter im eigenen derartig erhitzt. 11 Das Stereotyp, die Typisierung fremder Räume, folgt immer den Maßgaben der eigenen kulturellen Dynamik und lässt sich als paradoxe Kombination von brachylogischen, d. h. kurzschlüssigen, Aneignungsstrategien und Ausschließungsmechanismen im Hinblick auf das Fremde beschreiben. Das »Stereotyp als Hauptstrategie dieses Diskurses«, schreibt Homi Bhabha im Hinblick auf das (post)koloniale Subjekt, ist »eine Form der Erkenntnis und Identifizierung, die zwischen dem, was immer ’gültig’ und bereits bekannt ist, und dem, was ängstlich immer von neuem wiederholt werden muss, oszilliert.« 12 Gstreins Roman ist zudem im Hinblick auf die narrative Modellierung von Orten zentral, insofern nämlich deutlich wird, dass Räume immer auch zeitlich begrenzt sind. Angesichts der in den Human- und Sozialwissenschaften verkündeten Wende zum Räumlichen (’spatial turn’) besteht - vor allem in den deutschen Kulturwissenschaften - die Gefahr, zu einer statischen Auffassung von Kultur zurückzukehren und darüber hinaus das zeitlich-historische Moment, wie es gerade für die symbolische ’Landkarte’ des literarischen Textes maßgeblich ist, zu löschen. Gewiss gilt es, eine einseitige lineare Konstruktion von Geschichte mitsamt den historistischen Prämissen hinter sich zu lassen und Geschichte von einer kontingenten Gegenwart aus ins Blickfeld zu rücken. Aber die zeitliche und damit auch eine historische Dimension bei der Analyse kultureller Phänomene auszublenden, impliziert eine Einbuße an Reflexion und Perspektive. Ins Zentrum rückt die Frage, wie in literarischen Texten der Zusammenhang von Raum und Zeit als Chronotopos organisiert wird, wie das Narrative den Raum symbolisch modelliert und damit auch Handlungsweisen vorgibt. Die 11 In diesem Sinne diskutieren Roman und Kommentar auch den Fall Handke, nämlich als eine linke Sentimentalität, die das neutrale Jugoslawien für die eigene Identität benötigt. Deshalb auch sammeln einige der Figuren in Gstreins Roman Erinnerungen aus dem titoistischen Jugoslawien wie Reliquien. 12 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. A. d. Engl. v. Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl, Tübingen 2000, S. 97. BH 10 Book.indb 9 22.8.2008 22: 10: 21 10 Wolfgang Müller-Funk traditionelle Form des Chronotopos ist bereits im antiken Roman, wie Bachtin gezeigt hat, die Reise, das Abenteuer, die Ausfahrt in einen unbekannten, gefährlichen Raum, die Bewährung und glückliche Heimkehr als teleologisches Moment umfasst. In der Zeit des Abenteuers geschieht mit den Menschen »immer nur etwas«. 13 Darin besteht - über die moralische Legitimation des aufklärerischen Aufdeckens hinaus - die heimliche und unheimliche Anziehungskraft des kriegerisch umkämpften Raumes. Auch unter den Bedingungen einer radikal medialisierten Kultur sind die Momente der Abenteuerzeit ‡...™ auf die Punkte verteilt, an denen ein Riss im normalen Ereignisverlauf, in der normalen, von Ursache oder Zweck bestimmten Lebensreihe klafft, an denen diese Reihe bricht und das Eindringen übermenschlicher Kräfte (Schicksal, Götter, Bösewichte) ermöglicht. 14 Was also in die Abenteuer des modernen Journalismus einbricht, das sind nicht nur die historischen Vorgeschichten, die Ungleichzeitigkeiten zwischen dem Westen und dem Balkan, sondern auch - wenn auch spürbar säkularisiert - Momente einer mythischen Zeit und ein Zeitmaß, das den linearen Zeitlauf in einer bürokratisch verfassten Gesellschaft durchbricht. An dieses ’klassische’ Moment männlich-heroischer Prosa knüpft Gstrein mit seinem Roman über die modernen Abenteuer des Kriegsjournalismus an: gefährliche Reisen von realitätshungrigen Menschen auf der Suche nach existentiellen Grenzen in real und symbolisch umkämpften Räumen. Als ein solcher Raum präsentiert sich im Roman der westliche Balkan, das ehemalige Jugoslawien. Zwei der Ausreisenden, Allmayer und Paul, kehren nicht zurück, lediglich der Chronist, der die Spurensuche mit seinem Alter Ego, Paul, begonnen hat, vermag sich vor den realen und symbolischen Tretminen des Krieges zu retten. Die Geschichten, mit unverwechselbaren Orten verschränkt, sind ineinander verschachtelt wie jene Babuschka-Puppen, die man gerne als Tourist von der Russland-Reise mit nach Hause nimmt: Die hat mir erzählt, dass der mir erzählt, dass die usw. Zugleich aber stehen gewisse Erzählungen parallel oder auch kontrastiv zueinander. Das kontrastive Element dominiert bei Paul und Helena, während die Geschichten der ihren Helden unkritisch bewundernden Frauen in der Umgebung Allmayers - Isabella, Lilly, Pauls Ex-Frau - einander parallel zugeordnet sind. All diesen Erzählungen sind bestimmte Räume und Zeiten zugeordnet: Die Stadt Hamburg ist als urbane Kulisse und als Medienhauptstadt symbolisch markiert, sie ist aber auch, nicht ganz zufällig, der Ort einer österreichischen Diaspora, die sich lose rund um den Medienbetrieb in der Stadt organisiert. Sie ist auch der Ort, an den es die Kroatin Helena verschlagen hat, die für eine große Kosmetikfirma in der Stadt arbeitet. Wien und Innsbruck bzw. Tirol rücken nur 13 Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik. A. d. Russ. v. Michael Dewey, Berlin - Weimar 1986, S. 20. 14 Ebenda, S. 19. BH 10 Book.indb 10 22.8.2008 22: 10: 21 Narrative Modellierungen von symbolischen Räumen 11 einmal direkt ins Geschehen, Wien bzw. das renommierte Intellektuellen-Café Prückl als Ort des Gespräches zwischen der Autorin Lilly und dem Erzähler, Innsbruck/ Tirol als Raum des vergangenen, abgelaufenen Lebens von Paul und Allmayer sowie als Ort, wo das Begräbnis des Kriegsreporters stattfindet und sich wichtige ErzählerInnen treffen. Den dritten markant urbanen Raum bildet Zagreb, das vor allem durch zwei zentrale Orte markiert ist, nämlich den Jela~i}- Platz und das Hotelzimmer am Strossmayerov Trg, in dem Pauls Leben endet, in einer selbst gewählten Parallelität zu Cesare Pavese, dem Verfasser des Tagebuches Das Handwerk des Lebens. Der wichtigste topographische und symbolische Raum ist indes das (ehemalige) Jugoslawien, der »Balkan« als Ganzes: Dieser mehrfache - reale, symbolische, imaginäre - Raum ist nicht nur durch die Erzählungen der Romanfiguren, sondern vor allem auch durch Texte präsent. Nachdem ihm Paul von Allmayers Tod erzählt hat, beginnt der Erzähler mit seiner eigenen Recherche: Er erwirbt in einem Antiquariat der Hamburger Innenstadt einen »in Belgrad erschienen Bildband über die jugoslawischen Eisenbahnen«, studiert Allmayers Kriegsberichte und stößt bei Paul auf Helenas Bücher, Rebecca Wests Tagebuch aus den späten 1930er Jahren Black Lamb and Grey Falcon, in dem - wenn auch in sympathisierender Absicht - der exotische Reiz des Balkans und seiner Menschen abgefeiert wird, ein Heft des National Geographic vom August 1990, eine Geschichte Kroatiens mit dem Bild der brennenden Stadt Dubrovnik. 15 Reiseliteratur im handgreiflichen wie im übertragenen Sinn. Der Bildband über die Eisenbahnen enthält für den Kenner der Literatur des symbolischen Raumes Ex-Jugoslawien einen versteckten intertextuellen Hinweis auf das Werk von Danilo Ki{, in dem der halb reale, halb imaginäre Vater steht, der einen allgemeinen Eisenbahnfahrplan dieses Raumes erstellen will. 16 Der Hinweis auf den Bildband Traumstraßen in Jugoslawien - vergleichbare Bände gab es in den 1960er und 1970er Jahren auch von Italien und Spanien - stellt den alltäglichen Tourismus früherer Zeiten in einen ironischen Konnex mit dem außergewöhnlichen Albtraum-Tourismus der Kriegsberichterstatter und verweist zugleich auch auf die symbolische Inbesitznahme Jugoslawiens durch die deutschsprachigen »Westler«. Rebecca Wests bislang nicht ins Deutsche übersetztes Buch wiederum ist die wohl literarisch ambitionierteste Beschreibung des Jugoslawiens der 1930er Jahre mit einer nicht unprekären exotischen, ethnologisch pro-serbischen Tendenz eines Balkanismus nach der Devise: »Je fremder, desto besser.« In ihrer Schilderung der gastfreundlichen, natürlich-wilden Serben hat West Vieles von den Handke’schen Plots und Tableaus vorweggenommen. 15 Zit. Anm. 9, Gstrein, Handwerk, S. 50. 16 Danilo Ki{: Ba{ta, pepeo. Deutsche Ausgabe Danilo Ki{: Garten, Asche. A. d. Serb. v. Anton Hamm, Frankfurt/ Main 1985, S. 45: »‡...™ mein Vater schrieb einen imaginären Fahrplan ohne genügende Beachtung der Klassenkonflikte und der sozial-geschichtlichen Ereignisse in der Welt, schrieb ihn, ohne den geschichtlichen Kategorien Zeit und Raum Rechnung zu tragen, wie die Bücher der Propheten geschrieben wurden: von seiner Vision besessen und am Rande des wahren Lebens.« BH 10 Book.indb 11 22.8.2008 22: 10: 21 12 Wolfgang Müller-Funk Das sind die Landkarten, an denen sich die Figuren im Roman, die zu ihren journalistischen und literarischen Steppvisiten ins ehemalige Jugoslawien aufbrechen, orientieren, derer sie sich bedienen, um ihre Bilder, Projektionen und Vorstellungen über den Raum des ehemaligen Jugoslawien, den symbolischen Raum eines Europa schockierenden Krieges, zu bekräftigen und zu bestätigen. Aus der logischen Anordnung der territorialen und symbolischen Räume ergibt sich ein ganz spezifischer Chronotopos, eine Bewegung im Raum, die von Hamburg, dem medialen Zentrum ihren Ausgangspunkt nimmt und die in die Peripherie (Österreich, Ex-Jugoslawien) führt. Die Medien folgen den Routen der Prachtstraßen des Tourismus, aber irgendwann werden sie von der Zeitdimension, die Bachtin zu seiner Idee der Raum-Zeitverschränkung gebracht hat, eingeholt: Als Reisen in den peripheren Raum werden sie zu Reisen in die Zeit, in ein Jahrhundert, das durch das Attentat von Sarajewo, den Ersten Weltkrieg, die nationalsozialistische Okkupation, den Zweiten Weltkrieg und das Ustascha- Regime sowie durch das Jugoslawien Titos und die Periode vor den Kriegen auf dem Balkan gekennzeichnet ist. Chronotopie ist aber nicht nur auf der Ebene der Handlung zu orten, sondern auch auf jener des Erzählens, das sich mimetisch an den Chronotopos anschmiegt. Es ist das Erzählen, das Zeit und Ort verschränkt. Je komplizierter und verwirrender das Geschehen sich ausnimmt, um so mehr wird schon auf der thematischen Ebene das Moment der Auswahl maßgeblich. Ein Handlungselement auszusparen, es nicht zu erzählen, bedeutet ein Verheimlichen, ein Verschweigen, eine strukturelle Lüge. Unter diesen Bedingungen erzählt der Roman vom Wettstreit des Erzählens über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Er verweigert die Aussage, welche Erzählung die angemessene wäre, aber er legt die fatalen Mechanismen von Geschichte frei, in der sich stereotype Besetzungen mit überkommenen Erzählmustern kreuzen, Erzählmuster, die der Roman auf der semantischen wie auf der semiologischen Ebene verabschiedet. So endet der Roman nicht mit einem glücklich überstandenen Abenteuer in einem exotischen und wilden Raum, sondern ganz profan mit zurückhaltender Romantik in einem Schlafzimmer in einer Hamburger Wohnung. Die Begegnung mit der Anderen, der Frau, der Kroatin, Helena, steht nicht länger unter dem Vorzeichen des Fremden und Exotischen. Eine ganz normale, stets gefährdete erotische Liebe kündigt sich an, jenseits der überhitzten symbolischen Gefechte in Raum und Zeit, die der Roman dekonstruiert. BH 10 Book.indb 12 22.8.2008 22: 10: 21 H ELGA M ITTERBAUER (G RAZ ) Kultureller Transfer - Transkulturalität Zur Dynamik der literarischen Moderne um 1900 1. Entwicklungslinien der Transferforschung Die Theoriebildung der Kulturtransferforschung datiert in die Mitte der 1980er Jahre, als am Pariser CNRS (Centre national de la recherche scientifique) Michel Espagne und Michael Werner in Abgrenzung gegen die Einflussgeschichte - konkret gegen deren inhärente hegemoniale Tendenz - das Konzept des Kulturtransfers entwickeln, und damit die Perspektive vom »Export« auf den »Import« beziehungsweise auf die Wechselwirkungen zwischen Kulturen lenken. Dieses Modell richtet die Perspektive sowohl auf interkulturelle als auch auf intrakulturelle Wechselbeziehungen, es schließt Reziprozität ein und stellt die Prozessualität des Phänomens ins Zentrum. Kulturtransfer ist damit als dynamischer Prozess zu betrachten, der die drei Komponenten Ausgangskultur, Vermittlungsinstanz und Zielkultur miteinander verbindet. Hinterfragt werden die Objekte, Praktiken, Texte und Diskurse, die aus der jeweiligen Ausgangskultur übernommen werden. Den zweiten Bereich bildet die Untersuchung der Rolle und Funktion von Vermittlerfiguren und Vermittlungsinstanzen (Übersetzer, Verleger, Wissenschaftler, Universitäten, Medien, Verlage etc.). Im Zusammenhang mit der Zielkultur stehen die Selektionsmodi ebenso wie die Formen der Aneignung und der produktiven Rezeption im Mittelpunkt des Interesses (dies bezieht sich auf Übersetzungen, kulturelle Adaptionsformen, Formen der kreativen Rezeption, Nachahmung). 1 Man könnte kulturelle Transferprozesse auch als »Prozesse der interkulturellen Übertragung und Vermittlung kultureller Artefakte« definieren, worunter »Texte, Diskurse, Medien, Praktiken« zu verstehen sind. 2 Dieses Sender-Empfänger-Modell richtet den Fokus auf die aufnehmende Kultur und erachtet den Prozess der Übertragung mindestens so wichtig wie die Aneignung eines Artefakts in einer bestimmten Kultur. Damit unterscheidet sich die Transferforschung genuin von der Rezeptionsforschung, die das Ergebnis eines Transferprozesses im Blickfeld hat, den Prozess dagegen ingoriert. Dieses Konzept geht aber noch von einer relativ homogenen Vorstellung von Kultur 1 Ausführlicher in: Helga Mitterbauer: Kulturtransfer - ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht. Newsletter Moderne, 2/ 1999/ 1, S. 23-25. 2 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Kulturtransfer. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hg. v. Ansgar Nünning u. Vera Nünning, Stuttgart - Weimar 2003, S. 318-320, hier S. 318. BH 10 Book.indb 13 22.8.2008 22: 10: 22 14 Helga Mitterbauer aus, zumal sich die frühen Studien in erster Linie mit den deutsch-französischen Beziehungen beschäftigen. 3 In den vergangenen Jahren wird die in der frühen Transferforschung tendenziell essentialistische Vorstellung von Kultur zugunsten einer dynamischen Vorstellung weitgehend aufgelöst, 4 wie sie etwa im Konzept der Hybridität bzw. des Métissage der angloamerikanischen und frankophonen Postcolonial Studies vorformuliert ist; diese arbeiten mit einem auf Interaktionen basierenden Kulturbegriff, der auf die Transferforschung übertragbar ist. Vor allem mit der Vorstellung einer dynamischen internen Differenziertheit sowie jener der ausgefransten Ränder lässt sich die empirisch beobachtete Komplexität theoretisch fassen. Damit können sowohl ethnische und soziale Unterschiede berücksichtigt, als auch plurizentrische Gefüge wie etwa die Österreichisch-Ungarische Monarchie mit den dazu gehörigen Widersprüchen erfasst werden. Dass komplexe Gefüge wie Zentraleuropa nicht nur vielfältige interne Differenzen und höchst unklare und im Lauf der Geschichte sich ändernde Grenzen aufweisen, sondern vielfach mit anderen Zentren verflochten sind, lässt sich mit Ansätzen aus der Netzwerkanalyse nachzeichnen. Die in der Netzwerkanalyse vertretene Idee von Clustern bietet den Vorteil, eine Nationalkultur durch jede beliebige Gruppe oder ein Individuum ersetzen zu können, und die starken oder schwachen Beziehungen, Überbrückungen von Dritten, den Austausch kultureller Elemente zwischen diesen zu untersuchen. Die Modellierung als Netz trägt darüber hinaus auch dazu bei, die zweipolige Konstellation innerhalb der Kulturtransferforschung zu überwinden. Der Gründer der Transferforschung, Michel Espagne, hat bereits Mitte der 1990er Jahre eine Tagung zu triangulären Transfers organisiert und damit die Forschung in Richtung dreipoliger Bezugssysteme, jüngst auch zu Transfers zwischen vier Polen erweitert. 5 Über diese dreibzw. vierpoligen Modelle weisen Konzepte aus der Netzwerkanalyse insofern hinaus, als sie die unterschiedliche Bedeutung von Clustern und von mehr oder weniger intensiven Beziehungen berücksichtigen. Neben hybriden Kulturen und deren Vernetzungen stehen zwei weitere Punkte im Zentrum der Diskussionen. Erstens stellt sich das Problem des missverständlichen deutschen Begriffs »Kulturtransfer«, der die Vorstellung von klar umrissenen Kulturen, zwischen denen transferiert wird, insinuiert, der angesichts interaktionistischen dynamischen Kulturbegriffs nicht mehr haltbar erscheint, weshalb der Fokus besser auf den Transfer kultureller Artefakte gerichtet und, um Missverständnisse zu reduzieren, das französische »Transfert culturel« als 3 Vgl. Helga Mitterbauer: Bibliographie Kulturtransfer (Stand 2002). In: SFB Moderne - Wien und Zentraleuropa um 1900 ‡http: / / www-gewi.uni-graz.at/ moderne/ kutrbib.htm, Zugriff v. 25. 3. 2008™. 4 Vgl. Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers (= Stauffenburg Discussion 22). Hg. v. Federico Celestini u. Helga Mitterbauer, Tübingen 2003. 5 Vgl. Transferts culturels triangulaires France - Allemagne - Russie (= Philologiques 4). Hg. v. Katia Dimitrieva u. Michel Espagne, Paris 1996; Russie, France, Allemagne, Italie. Transferts quadrangulaires du néoclassicisme aux avant-gardes. Hg. v. Michel Espagne, Tusson 2005. BH 10 Book.indb 14 22.8.2008 22: 10: 22 Kultureller Transfer - Transkulturalität 15 »kultureller Transfer« übersetzt wird. Damit trägt man auch dem Umstand Rechnung, dass der Austausch häufig nicht zwischen (nationalen) Kulturen, sondern vielmehr zwischen kulturellen Gruppierungen verschiedener Städte oder Regionen stattfindet. Zweitens spielen Machtdispositionen eine große Rolle; immerhin hängt der Erfolg eines Transferprozesses maßgeblich von der Durchsetzungsmacht des Vermittlers ab. Federico Celestini hat den kulturellen Transfer einmal treffend als »Resultante von Machtstrategien« bezeichnet. 6 Dabei stellt sich vor allem die Frage, welche Kräfte und Machtdispositionen einem »gelungenen« beziehungsweise einem »nicht-gelungenen« Transfer zugrunde liegen. Verstehen wir Macht mit Hannah Arendt als eine Qualität, die einem Individuum von anderen - einer Gruppe, dem Staat, einer Gesellschaft etc. - zugeschrieben wird, öffnet die Verbindung zum Moment des Aushandelns, das zum Beispiel Homi Bhabha, ein zentraler Theoretiker der Postcolonial Studies, in einem diskursiven Raum, dem »Third Space«, verortet. 7 Ähnlich verhält es sich mit Autorität, die entweder aus einem Amt resultiert oder die jemand aufgrund bestimmter Kenntnisse und Fähigkeiten erlangt. Autorität basiert auf Legitimation, 8 auf Respekt, auf »fraglose‡r™ Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird; sie bedarf weder des Zwanges noch der Überredung«. 9 Macht und Autorität sind ein wichtiges soziales Kapital, dem bei der Implementierung kultureller Artefakte in einen neuen Kontext hohe Bedeutung zukommt. Zugleich stehen sie in Relation von den Kräfteverhältnissen, die in der jeweiligen Gruppe, Gesellschaft herrschen. Kräfteverhältnisse im Sinne von physischen und gesellschaftlichen Bewegungen, die bestimmte Energiequanten erzeugen 10 - so die politisch-philosophische Definition einer Hannah Arendt -, oder nach Bourdieu im Sinne eines »System‡s™ der wechselseitigen Bestimmungen einer Pluralität von Instanzen, isolierten Kräften ‡...™ oder ganzen Aktionssystemen« 11 wirken maßgeblich auf den handelnden Vermittler und auch auf die Rezipienten ein. Bourdieu hat das komplexe Interaktions- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen diesen Machtkonstellationen und den Kräftefeldern eingehend beschrieben: 12 Ihm zufolge ist das Kräftefeld bedingt durch die Vernetzung aller Machtpositionen in diesem Feld und somit anonym und diffus. Macht beziehungsweise Autorität entsteht nur im Zusammenhang und in Wechsel- 6 Federico Celestini: Archäologie und Mikrophysik des Transfers. Versuch einer Instrumentalisierung. In: Zit. Anm. 4, Celestini, Mitterbauer, Ver-rückte Kulturen, S. 81. 7 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl (= Stauffenburg Discussion 5), Tübingen 2000, insbes. S. 29-58. 8 Vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen. Übersetzt von Wolfgang Fietkau, Frankfurt/ Main 6 1997, S. 102-103. 9 Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Aus d. Engl. v. Gisela Uellenberg, München - Zürich 14 2000, S. 46. 10 Vgl. ebenda. 11 Zit. Anm. 8, Bourdieu, Soziologie, S. 102. 12 Ebenda, S. 76. BH 10 Book.indb 15 22.8.2008 22: 10: 22 16 Helga Mitterbauer wirkung mit den übergreifenden Kräfteverhältnissen. Dabei bestimmen Macht beziehungsweise Autorität die Position im Feld, zugleich aber resultiert aus der Position Macht. Und selbstverständlich ist Macht als dynamischer Prozess aufzufassen, der permanentem Wandel unterliegt. 13 Im Zusammenhang mit kulturellen Transferprozessen können diese machttheoretischen Überlegungen zur differenzierteren Analyse beitragen, denn die Basis jedes Transfers bilden bestimmte Kräfteverhältnisse in den entsprechenden kulturellen Systemen, zwischen denen transferiert wird. Zusätzlich bedarf es der Koppelung von Machtstrategien und zugestandener Autorität, um als »fremd« aufgefasste kulturelle Elemente in einem kulturellen Kontext verankern zu können. Zwischen diesen Kräftefeldern der sozialen Strukturen und den akteursbezogenen Machtdispositionen herrschen vielfältige Wechselwirkungen, die einander permanent überschneiden und zu einer ständigen Veränderung sowohl des Systems und der Akteure, als auch der kulturellen Elemente führen, sodass jede kulturelle Formation immer nur eine momentane Resultante sein kann. Eine Erweiterung erfuhr die Transferforschung jüngst in Form der so genannten »Histoire croisée«. 14 In diesem von Michael Werner entwickelten Ansatz wird einerseits die Verkreuzung der Perspektiven vorgeschlagen, andererseits die Einbeziehung der Beobachterposition. Werner plädiert dafür, den Prozess des Transfers nicht als einseitiges Phänomen zu betrachten, sondern immer auch die gegenüberliegende Position mitzudenken. Verständlich wird dies am Beispiel der Rezeption von Handkes Publikationen zum Jugoslawien-Krieg. Unter konsequenter Anwendung der Histoire croisée müssten dabei die österreichische und deutsche Perspektive ebenso beachtet werden wie die kroatische und die serbische, und darüber hinaus die französische, denn in Frankreich wird der Konflikt wiederum ganz anders gesehen. Zusätzlich müssten noch die historischen Bedingungen dieser Sichtweisen analysiert werden. Diese schon vielfache Überkreuzung der Perspektive müsste noch um die Reflexion der Beobachterposition erweitert werden. Lässt sich doch ein anderes Ergebnis der Analyse erwarten, wenn ein kroatischer, serbischer, österreichischer oder anderer Forscher von seinem jeweils unterschiedlichen Kontext aus den Fall untersucht. 13 Vgl. ebenda, S. 49-50. - Als hilfreich für die Definition erweist sich schließlich Foucaults diskurstheoretische Auffassung von Macht als Strategie, als »Disposition, Manöver, Techniken, Funktionsweisen« oder als »komplexe strategische Situation in einer Gesellschaft«. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafe. Die Geburt des Gefängnisses. Aus d. Franz. v. Walter Seitter, Frankfurt/ Main 1994, S. 38 sowie Michel Foucault: Der Wille zum Wissen (= Sexualität und Wahrheit 1). Übersetzt v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/ Main 1977, S. 114. 14 Vgl. dazu De la comparaison à l’histoire croisée (= Le genre humain). Hg. v. Michael Werner u. Bénédicte Zimmermann, Paris 2004; Michael Werner u. Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, Geschichte und Gesellschaft 28/ 2002, S. 607-636; Michael Werner: Transfer und Verflechtung. Zwei Perspektiven zum Studium soziokultureller Interaktionen. In: Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne 22). Hg. v. Helga Mitterbauer u. Katharina Scherke, Wien 2005, S. 95-107. BH 10 Book.indb 16 22.8.2008 22: 10: 22 Kultureller Transfer - Transkulturalität 17 2. Wiener Moderne transkulturell Transferprozesse beziehungsweise transkulturelle Vernetzungen sind jedoch keineswegs nur ein Phänomen der jüngsten Geschichte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen tiefgreifende Veränderungen herbeigeführt. Der Buch- und Medienmarkt wird durch die Erfindung neuer Drucktechniken wie des Rotationsdrucks wesentlich beschleunigt und ausgeweitet. Im Bereich der Kommunikationstechnik gibt es neben dem Telefon ein hochentwickeltes Postsystem mit bis zu dreimaliger Zustellung pro Tag in den europäischen Großstädten. Und das Reisen ist durch den Bau der Eisenbahn wesentlich erleichtert worden. Hinzu kommt ein bis dahin nicht da gewesenes hohes Bildungsniveau in der Ober- und Mittelschicht. Von Hugo von Hofmannsthal zum Beispiel ist bekannt, dass er schon in seiner Gymnasialzeit die maßgeblichen Werke der europäischen Moderne in französischer, englischer und italienischer Sprache gelesen und selbstverständlich auch Latein und Griechisch beherrscht hat. Vor diesem Hintergrund überrascht die enge Vernetztheit der Jung Wiener Autoren mit Schriftstellern in den anderen Zentren der Moderne Europas keineswegs. In ihrer Anfangsphase finden die Jung-Wiener Autoren eine spezielle gesellschaftliche und rechtliche Situation vor: Die im Vergleich mit dem Deutschen Reich ungleich strengeren Zensurbestimmungen und das ungünstige und anachronistische Urheberrecht verhindern die Etablierung einer Verlagslandschaft. Da sich Österreich-Ungarn bis zum Ende der Monarchie weigert, der so genannten Berner Convention beizutreten, die das Urheberrecht international regelt, besteht kaum Schutz vor ungenehmigten Übersetzungen und Nachdrucken im Ausland, woraus ein unvergleichlich höheres Verlegerrisiko in der k.u.k. Monarchie resultiert. 15 Hinzu kommt eine Theatersituation, die sich lange am Geschmack des höheren Adels orientiert, weshalb gerade die modernistischen Autoren auf den deutschen, insbesondere den Berliner Literaturmarkt ausweichen. Im Gegensatz dazu herrscht auf politischer Ebene eine ambivalente Haltung gegenüber Berlin, das nach der Niederlage in der Schlacht von Königgrätz (1866) und der 1871 erfolgten Gründung des Deutschen Reichs der Residenzstadt Wien zunehmend die Vorrangstellung auf deutschsprachigem Gebiet streitig macht. Durch die von Bismarck durchgesetzte kleindeutsche Lösung ist Österreich politisch von Deutschland abgetrennt und damit sind auch alle österreichischen Hoffnungen auf die Errichtung eines Staatswesens in der Tradition des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation obsolet geworden. 16 Wenn Hermann Bahr also auf die Überwindung des Naturalismus abzielt, hat dieses Ansinnen nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische Dimension, und 15 Vgl. Peter Sprengel u. Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 45), Wien - Köln - Weimar 1998, S. 31. 16 Vgl. ebenda, S. 24 ff. BH 10 Book.indb 17 22.8.2008 22: 10: 22 18 Helga Mitterbauer zwar zu beweisen, dass Wien nicht hinter Berlin nachhinke, sondern durchaus zu einer eigenständigen kulturellen Entwicklung fähig sei. Die Orientierung am Ästhetizismus der französischen Décadence impliziert die Opposition gegenüber dem Berliner Naturalismus. Die Jung-Wiener Autoren übernehmen Elemente aus dem französischen, englischen und skandinavischen Kontext, transformieren diese, passen sie den eigenen Bedürfnissen an und entwickeln daraus einen Stil, der bald als eigenständig anerkannt wird. Motive wie die Todessehnsucht, eines der wichtigen Merkmale der Décadence, werden von den Wienern, denen gemeinhin ein besonderer Hang zur Morbidität nachgesagt wird, begeistert aufgenommen. Dies gelangt bereits im inflationären Vorkommen des Begriffs des Todes in den Titeln zahlreicher Werke der Jung-Wiener Autoren zum Ausdruck, zum Beispiel in Hofmannsthals Einaktern Der Thor und der Tod und Der Tod des Tizian oder in Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs, und auch Arthur Schnitzler hat seine frühen Erzählungen mit Sterben betitelt. Ein weiteres Kennzeichen dekadenter Literatur bildet der Rückzug aus der Gesellschaft und der als barbarisch empfundenen Gegenwart. Die Isolation des Künstlers vom Leben wird zur Tugend stilisiert und zum Kennzeichen der wahren Kunst erklärt. Der Décadent wendet sich von der Natur ab und zieht sich in eine künstliche Welt zurück. Als bekannte Beispiele dafür wären Joris Karl Huysmans À rebours und Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht anzuführen. Als die einem Décadent würdige Beschäftigung wird die Erforschung des Ich und der Kunst erachtet, deren traditionelle Formen sich auflösen. Die Selbstreflexion des Künstlers wird zum zentralen Thema der Décadenceliteratur, wobei die allgemein wahrgenommene Auflösung des Subjekts literarisch behandelt wird, beeinflusst nicht zuletzt von Sigmund Freud oder Ernst Mach mit seiner Formel vom »unrettbaren Ich«. Ferner soll eine symbolische Bildlichkeit beim Leser bestimmte Empfindungen und Stimmungen evozieren. Stimmungen, einer der Schlüsselbegriffe in der Kunst des Fin de Siècle, werden durch die möglichst gleichzeitige und kombinierte Stimulation der Nerven durch Gerüche, Farben, Klänge etc. hervorgerufen. Die Parisreise Hermann Bahrs 1888-1889 wird in diesem Zusammenhang als auslösendes Moment für die Konstruktion und Propagierung der Wiener Moderne erachtet. 17 Aufgebrochen als Verehrer Emile Zolas macht der Programmatiker der Wiener Moderne in Paris die Bekanntschaft der Parnassien und damit des Ästhetizismus. Vom Herbst 1890 bis zum Frühling 1891 publiziert Bahr eine Serie von Aufsätzen, in denen er sich vom Naturalismus abgrenzt und ein Programm der modernen Literatur formuliert. Dieses Programm basiert im Wesentlichen auf Ideen, die in Werken von Maurice Barrès, Catulle Mendès, Paul Bourget, Jules Barbey d’Aurevilly, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Joris-Karl Huysmans vorformuliert sind. Die Bemühungen Hermann Bahrs stoßen rasch auf 17 Vgl. Norbert Bachleitner: Im Feenland der Moderne. Hermann Bahrs Parisbild in den Jahren 1888/ 89. In: Paris? Paris! Bilder der französischen Metropole in der nichtfiktionalen deutschsprachigen Prosa zwischen Hermann Bahr und Joseph Roth. Hg. v. Gerhard R. Kaiser u. Erika Thuner, Heidelberg 2002, S. 61-74. BH 10 Book.indb 18 22.8.2008 22: 10: 22 Kultureller Transfer - Transkulturalität 19 Resonanz und die Gruppe der Jung-Wiener Autoren wird bald international anerkannt. In Berlin werden die Autoren um Bahr, Hofmannsthal, Schnitzler, Dörmann etc. bereits ab 1895 als eigenständige Richtung wahrgenommen, in Paris ist die Gruppe ab etwa 1900 etabliert, was sich durch eine verstärkte Präsenz in Zeitschriften wie dem Mercure de France niederschlägt. Der kulturelle Transfer zwischen Wien und Paris ist keineswegs ein einseitiges Phänomen, sondern eingebunden in ein vielfach verflochtenes Netzwerk, was der Umstand belegt, dass Bahr rasch zu einem Gewährsmann für österreichische Literatur und Kultur (und darüber hinaus) für Pariser Zeitschriften aufsteigt. 18 So ist etwa die Beziehung zwischen Hermann Bahr und Maurice Barrès 19 signifikant für das verzweigte Beziehungsnetz um 1900, in dem es häufig zu drei- oder mehrpoligen Konstellationen kommt. Wie andere Kritiker seiner Zeit informiert Bahr nicht nur unermüdlich über französische Kunst und Kultur im deutschsprachigen Raum, sondern erhält in doppeltem Sinn eine Stimme in Paris, und zwar einerseits durch die Möglichkeit, seine Sicht der Rezeption französischer Literatur in einem Pariser Medium darzustellen und andererseits, indem in einer Pariser Zeitschrift auf eine Wiener Zeitschrift aufmerksam gemacht wird, deren Kulturressort unter seinem Einfluss steht. Paris ist im Fin de Siècle zwar ein wichtiger Orientierungspunkt für die Wiener Moderne, aber nicht der einzige. Anregungen kommen bekanntermaßen auch von der skandinavischen Literatur, und es ist durchaus interessant, dass Autoren des Jungen Wien mit Henrik Ibsen gerade eines der wichtigsten Vorbilder des Berliner Naturalismus hoch schätzten. 20 Bereits im Ibsen-Essay von 1887 sieht Hermann Bahr bei Ibsen in der Synthese von Romantik und Naturalismus eine Überwindung des Naturalismus vorgezeichnet. 21 Bahr hat sich nur mit wenigen Autoren so oft beschäftigt wie mit Ibsen und noch im Selbstbildnis von 1923 schreibt er dem norwegischen Dramatiker die Rolle eines Paten für die Jung-Wiener Autoren zu. Möglich ist ihm diese Affirmation nur deshalb, weil er die sozialkritische Perspektive in Ibsens Œuvre weitgehend ausblendet, Ibsens Figuren als Darstellung von Individuen liest, den norwegischen Autor zum Vertreter der Nervenkunst und des Symbolismus stilisiert und eine Interessensähnlichkeit von Freud und Ibsen feststellt, also die psychologische Dimension seines Werks aufwertet. 18 Vgl. dazu z. B. den Brief von Maurice Barrès an Hermann Bahr in: Hermann Bahr - Mittler der europäischen Moderne. Publikation zur Ausstellung in der Galerie im Stifter-Haus 25. August bis 25. September 1998 (= Literatur im Stifter-Haus 12). Hg. v. Lukas Mayerhofer u. Kurt Ifkovits, Linz 1998, S. 110. 19 Vgl. dazu auch Helga Mitterbauer: Überall und nirgendwo. Kulturvermittler als hybride Akteure im Dritten Raum. In: Verflechtungsfiguren. Intertextualität und Intermedialität in der Kultur Österreich-Ungarns (= Budapester Studien zur Literaturwissenschaft 3). Hg. v. Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk u. Magdolna Orosz, Frankfurt/ Main (u. a.) 2003, S. 189-206. 20 Vgl. Lukas Mayerhofer: Facetten einer Rezeption. Hermann Bahr und Henrik Ibsen. In: Zit. Anm. 18, Bahr - Moderne, S. 71-86. 21 Vgl. dazu Hermann Bahr: Henrik Ibsen. In: Hermann Bahr: Zur Kritik der Moderne (= Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hg. v. Claus Pias), Weimar 2004, S. 70-90. BH 10 Book.indb 19 22.8.2008 22: 10: 22 20 Helga Mitterbauer Ähnlich argumentiert auch Hugo von Hofmannstahl in der »kritischen Studie« Die Menschen in Ibsens Dramen von 1892. 22 Hofmannsthal liest in Ibsen das, was für ihn poetologisch von Belang ist. Im Gegensatz zu Bahr sieht Hofmannsthal in Ibsen weniger einen Wegbereiter des Kommenden, sondern die wesentlichen Elemente des Ästhetizismus bei ihm bereits vorgeben, jene Elemente, die auch in seinen eigenen literarischen Werken eine große Rolle spielen. Konkret thematisiert er den état d’âme, die hohe Selbstreflexivität, das Oszillieren zwischen Tod und Leben, Einsamkeit versus Rückzug aus dem Leben und die hohe Bedeutung der Symbolik. Anregungen holen sich die Jung-Wiener Autoren darüber hinaus im britischen Symbolismus, wo die Dekadenz durch den im November 1893 erschienenen Aufsatz The Decadent Movement in Literature von Arthur Symons popularisiert worden ist. In Wien setzt man sich mit Autoren wie Algernon Charles Swinburne, Walter Horatio Pater, Ernest Dowson und vor allem mit Oscar Wilde auseinander; ebenso kann von einer Kenntnis der prägenden Zeitschriften dieser Epoche, The Yellow Book und The Savoy, ausgegangen werden. In verschiedenen Abstufungen weist die englische Literatur der Jahrhundertwende die wesentlichen Merkmale der Dekadenz auf. In jüngeren anglistischen Studien wird sie aber zunehmend als kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen und ihren Auswirkungen auf die Kunst dargestellt. 23 Hugo von Hofmannsthal beschäftigt sich früh mit der britischen Literatur: Bereits in einer Rezension von 1891, erschienen unter dem Titel Englisches Leben, kritisiert Hofmannsthal noch recht naiv und voreingenommen eine realiter längst nicht mehr unumstrittene Führungsrolle der englischen Aristokratie. 24 Auch der Essay über Algernon Charles Swinburne von 1892 ist eine sonderbare Würdigung mit zahlreichen Widersprüchen und noch im 1894 erschienenen Porträt von Walter Pater 25 reduziert Hofmannsthal Kunst auf die Künstlerpersönlichkeit, wird aus biographischen Momenten auf das Werk geschlossen. Sich der Position Stefan Georges anschließend, betont Hofmannsthal das Ideal der Innerlichkeit bei Pater, wonach Vorgänge in der Seele des Künstlers betrachtet werden sollen, und zwar konkret die unbegrifflichen Ideen, die in der Literatur 22 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Die Menschen in Ibsens Dramen. Eine kritische Studie (1892). In: Hugo von Hofmannsthal, Reden und Aufsätze I (1891-1913) (= Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), Frankfurt/ Main 1979, S. 149-159. 23 Vgl. Rainer Emig: Übertragene Dekadenz. Überlegungen zur Rezeption britischer fin de siècle-Literatur bei Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 45). Hg. v. Norbert Bachleitner, Amsterdam - Atlanta 2000, S. 317-343. 24 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Englisches Leben (1891). In: Zit. Anm. 22, Hofmannsthal, Reden und Aufsätze, S. 127-138. 25 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Algernon Charles Swinburne (1892). In: Zit. Anm. 22, Hofmannsthal, Reden und Aufsätze, S. 143-148; Hugo von Hofmannsthal: Walter Pater (1894). In: Zit. Anm. 22, Hofmannsthal, Reden und Aufsätze, S. 194-202. BH 10 Book.indb 20 22.8.2008 22: 10: 22 Kultureller Transfer - Transkulturalität 21 in symbolischen Formen ihren Ausdruck finden. Was bei Pater ein entpersönlichter Prozess ist, wird von Hofmannsthal in eine geniale künstlerische Leistung transformiert: Hofmannsthal dekodiert die Ironie im Begriff des Genies des englischen Ästhetizismus nicht, sondern versteht das l’art pour l’art-Konzept als Wiederaufnahme der romantischen Genieästhetik. Schließlich publiziert Hofmannsthal 1905 noch einen Aufsatz über Oscar Wilde. 26 Darin betont er die bloße Oberfläche der Maske, womit er doch noch mit den Vorstellungen des Ästhetizismus sympathisiert, Wildes gelebten Ästhetizismus akzeptiert. Auch in diesem Text meint Hofmannsthal wie schon in den früheren Aufsätzen, der englische Ästhetizismus müsse erst den Vorstellungen der deutschsprachigen Literatur angepasst werden. Hermann Bahr hat bereits 1894 in seinem in der Wiener Wochenschrift Die Zeit erschienenen Décadence-Aufsatz erstmals auf Oscar Wilde aufmerksam gemacht und dabei jenen Strang der deutschsprachigen Wilde-Rezeption geprägt, wonach Wilde »mehr durch sein Leben als durch seine Werke berühmt« sei und das Œuvre als »Dichtungen für Dichter« betrachtet wird, die trotz all der »feinen Listen« nicht so leicht das Publikum erreichten. 27 Neben der französischen, der skandinavischen und englischen Literatur wäre noch eine Reihe von Referenzpunkten zu nennen, die von den Jung-Wiener Autoren aufgegriffen und transformiert werden. Da es in diesem Beitrag aber nicht um eine Vollständigkeit der Aufzählung geht, sei auf die Wiener Wochenschrift Die Zeit hingewiesen, die gerade deshalb Aufmerksamkeit verdient, weil darin überdurchschnittlich viel fremdsprachige Literatur rezipiert wird. Wieder einmal spielt Hermann Bahr als Leiter des Kunst- und Kulturressorts eine wichtige Rolle. Helene Zand und Lottelies Moser haben festgestellt, dass der größte Teil der in der Zeit rezipierten Literatur zwar aus dem deutschsprachigen Raum (64%) stammt, aber immerhin 13% betreffen Frankreich und noch 8% Skandinavien, die damit ebenso häufig wie Texte aus der slawischen Literatur besprochen sind. In prozentuell geringerem Ausmaß findet die italienische, ungarische und englische Literatur Erwähnung. Gerade das Beispiel der slawischen Literatur belegt die verhältnismäßige Offenheit der Zeit, denn in anderen zeitgenössischen Medien nimmt diese ein wesentlich geringeres Ausmaß ein, etwa im Kunstwart oder in der Freien Bühne, wo die slawische Literatur 4% der besprochenen Werke beträgt, oder gar nur 2% wie in den Blättern für die Kunst. 28 Die Wiener Wochenzeitung Die Zeit kann als medialer Ausdruck der Hybridität der Wiener Moderne erachtet werden, schlagen sich doch darin die interkulturellen Austauschprozesse nieder. 26 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Sebastian Melmoth (1905). In: Zit. Anm. 22, Hofmannsthal, Reden und Aufsätze, S. 341-344. 27 Hermann Bahr: Décadence. In: Die Zeit (Wien), Band 1, Nr. 6, vom 10. 11. 1894, S. 87-89. 28 Vgl. Lottelies Moser u. Helene Zand: Die ZEIT, ein »Wiener Posten der guten Europäer«? In: Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz Csáky. Hg. v. Gotthard Wunberg u. Dieter A. Binder, Wien - Köln - Weimar 1996, S. 247-257. BH 10 Book.indb 21 22.8.2008 22: 10: 22 22 Helga Mitterbauer Die Fluidität der Wiener Moderne drückt sich aber nicht nur in den Anregungen aus verschiedenen literarischen Strömungen aus, sondern auch in ihrer Vorbildwirkung für andere moderne Zentren. Als Residenzstadt ist Wien um 1900 sowohl Vorbild als auch Reibefläche für die modernen Tendenzen in den aufstrebenden Hauptstädten der Kronländer, deren Verhältnis zu Wien sehr unterschiedlich ist. Auf die Wechselwirkungen mit Wien bei der Etablierung der Zagreber Moderne, deren maßgebliche Zeitschrift Mladost sich nicht nur an Wiener Vorbildern orientiert, sondern aufgrund der spezifischen politischen Konstellation auch in Wien herausgegeben wird, wurde bereits mehrfach hingewiesen. 29 Aber auch die kroatische Moderne findet trotz der vielen fruchtbaren Kontakte mit Wien Anregungen für die eigene Entwicklung in anderen Metropolen, denn die verschiedenen modernen Strömungen der Jahrhundertwende sind intensiv miteinander vernetzt, sodass es immer Vereinfachung bleibt, wollte man versuchen, eine bipolare Linie zu ziehen. Um 1900 gibt es auch zahlreiche Schriftsteller aus den Kronländern, die in einem Naheverhältnis zu Wien stehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Autor Tadeusz Rittner. 30 1873 in Lemberg, Galizien geboren, kommt er mit zwölf Jahren nach Wien, wo er am Elitegymnasium Theresianum maturiert und anschließend Rechtswissenschaften studiert. Rittner stammt aus einer konvertierten polnisch-jüdischen Familie, der Vater war Universitätsprofessor in Lemberg, später sogar Unterrichtsminister bzw. Minister für Galizien. Rittner wird auf Wunsch des Vaters Beamter und seine Versuche, die Leitung eines Theaters übernehmen zu können, erfüllen sich bis zu seinem frühen Tod 1921 nicht. Er lebt fast die ganze Zeit in Wien, nur 1918 will sich Rittner am Aufbau des neuen polnischen Staates beteiligen, muss diesen Plan wegen einer Erkrankung aber ebenso aufgeben wie jenen, Direktor am Warschauer Theater zu werden. 1919 deklariert er sich zum polnischen Staatsbürger, kehrt jedoch bald wieder nach Österreich zurück. Rittner publiziert in seiner Muttersprache Polnisch, viele seiner literarischen und feuilletonistischen Texte auch auf Deutsch, fast bei allen Werken gibt es parallele Versionen in beiden Sprachen. Sein Œuvre umfasst insgesamt 17 Dramen, davon 14 in Doppelversionen, vier Romane, zahlreiche Novellen und unzählige Feuilletons für die österreichische und die polnische Presse. Beiträge von Rittner lassen sich in nicht weniger als 16 polnischen und rund 20 österreichischen Zeitschriften nachweisen, was die Krakauer Germanistin Maria Kłan´ ska 29 Vgl. dazu die informativen Beiträge im Band Ambivalenz des Fin de siècle. Wien - Zagreb (= Buchreihe des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa). Hg. v. Damir Barbari} u. Michael Benedikt, Wien (u. a.) 1998. 30 Zu Rittner vgl. Stefan Simonek: Distanzierte Nähe. Die slawische Moderne der Donaumonarchie und die Wiener Moderne (= Wechselwirkungen 5), Bern (u. a.) 2002, S. 19-62; Maria Kłan´ ska: Thaddaeus Rittner. Ein polnisch-österreichischer Dichter der Wiener Moderne. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 »Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«, Band 6 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 58). Hg. v. Peter Wiesinger, Bern (u. a.) 2002, S. 353-359. BH 10 Book.indb 22 22.8.2008 22: 10: 22 Kultureller Transfer - Transkulturalität 23 zu folgender Feststellung veranlasst hat: »Rittner war ein patriotischer Pole, ein loyaler Österreicher, ein polnischer und österreichischer Autor.« 31 Ohne Zweifel gehört er zu jenen Autoren, die sowohl der österreichischen als auch der polnischen Literatur der Jahrhundertwende zuzurechnen, die in beiden Kulturen beheimatet, also hybride Subjekte mit interner différance im Sinne der Postcolonial Studies sind. Weil er in seinen Beiträgen für die polnischen und österreichischen Zeitschriften die Leser über aktuelle Tendenzen in der jeweils anderen Moderne informiert hat, kommt Rittner eine wichtige Bedeutung als Vermittler zwischen der polnischen und der österreichischen Moderne zu. Im Besonderen betrifft das seine Feuilletons in polnischen Zeitschriften, wo er über die verschiedenen Begegnungen mit der Wiener Moderne geschrieben und mehrere Essays zu den zentralen Autoren der Wiener Moderne publiziert hat. Rittner, der sich selbst primär als Dramatiker verstanden hat, erobert zuerst die polnischen Bühnen: Bereits 1902 wird ein Einakter am Lemberger Theater gespielt, der Durchbruch in Polen gelingt ihm 1904 mit der Uraufführung seines Dramas Das kleine Heim in Krakau. Danach werden die meisten seiner Stücke vorwiegend in Warschau und in Krakau erfolgreich inszeniert. Mit etwas Zeitverzögerung werden Rittners Dramen auch in Wien, und zwar auch erfolgreich, aufgeführt. 1912 erobert er mit Der Sommer das Wiener Burgtheater. Danach laufen Stücke von ihm auch auf der Residenzbühne und der Neuen Wiener Bühne. Gerade während des Ersten Weltkriegs erfreuen sich Rittners am Burgtheater aufgeführte Dramen großer Beliebtheit. Von seinen Novellen erscheint die erste Sammlung in Buchform unter dem Titel Drei Frühlingstage zuerst in Wien, auch sein erster Roman, Das Zimmer des Wartens, wird zuerst auf Deutsch publiziert (1918 in Berlin). In Polen werden seine Dramen mit Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs immer wieder aufgeführt, später werden sie auch im polnischen Fernsehen gesendet, und heute gilt Rittner als einer der klassischen Dramatiker des Jungen Polens. Dagegen wird Rittner in Österreich nach seinem Tod bald vergessen: 1933 wird zum letzten Mal ein Stück im Burgtheater inszeniert, 1936 der Sommer zum letzten Mal im Österreichischen Rundfunk gesendet, und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wird Rittner in Österreich nicht wieder entdeckt. Im Hinblick auf die einleitend erwähnte Histoire croisée ist interessant, dass die rezenten Publikationen über ihn von polnischen Germanisten oder von österreichischen Slawisten stammen. Dagegen kümmert sich die österreichische Germanistik kaum um ihn, vermutlich, weil sie ihn als polnischen Autor einstuft. Dennoch ist Rittner ein gutes Beispiel für einen Autor, der nationalliterarische Begrenzungen hinter sich lässt, und dessen Werk sowohl der österreichischen als auch der polnischen Literatur zugerechnet werden kann. 31 Ebenda, Kłan´ ska, Thaddaeus Rittner, S. 358. BH 10 Book.indb 23 22.8.2008 22: 10: 22 24 Helga Mitterbauer 3. Fazit Diese Blitzlichter auf die vielfachen und vielfältigen Wechselwirkungen um 1900, die freilich nur auf ein Forschungsdesiderat hinweisen können, zeigen, wie eng die europäische Moderne um 1900 miteinander verwoben ist und wie trotz engerer Beziehungen zwischen verschiedenen Orten oder Strömungen immer mehrere Wechselwirkungsstränge gleichzeitig wirksam sind. Die Wiener Moderne, konkret die Gruppe des Jungen Wien um Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal, etabliert sich einerseits durch die kreative Transformation kultureller Elemente aus den französischen, skandinavischen, englischen und anderen Literaturen als ein Zentrum der Moderne. Zugleich ist Wien der Ort, mit dem sich die Avantgarden in den Hauptstädten der Kronländer vergleichen, der ständig als Maßstab herangezogen wird, an dem man sich orientiert und dem gegenüber man seinen eigenen Platz zu bestimmen sucht. Aber vielfach ist Wien nur ein Durchzugspunkt bzw. der Ort, aus dem der Anstoß zum Transfer kommt. Sobald der Prozess in Gang gekommen ist, vergleicht man auch in Zagreb Wien mit Paris oder London bzw. orientiert sich ebenso wie an Wien an anderen Zentren der europäischen Moderne, und wertet das ehemalige Vorbild früher oder später als epigonal ab. Festzuhalten wäre noch, dass jede kulturelle Untersuchungsgröße als dynamische Verdichtung aufzufassen ist, bei der ständig Mehrfachkodierungen von personaler wie kollektiver Identität stattfinden. Die in diesem Rahmen notwendigerweise kursorisch angeführten Beispiele machen sichtbar, dass die interkulturellen Wechselwirkungen einem nichtlinearen und dyschronen Netzwerk gleichen, in dem Wertvorstellungen, Überzeugungen, Diskurse ständig neu verhandelt werden. Vor dem theoretischen Hintergrund einer erweiterten Transfertheorie wird die Literatur der Jung-Wiener Autoren zu einem dynamischen Gefüge, das aus zahlreichen anderen literarischen Strömungen Anregungen bezogen und dabei die übernommenen Motive, ästhetischen Momente usw. kreativ transformiert hat. BH 10 Book.indb 24 22.8.2008 22: 10: 22 A LEXANDRA S TROHMAIER (G RAZ ) Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis Die gegenwärtige, durch den so genannten spatial respektive topographical turn bedingte Konjunktur des Raumes in den Kulturwissenschaften scheint durch eine Tendenz zur Polarisierung gekennzeichnet, wie sie sich etwa an der Theoriebildung der Geographie - als der Leitdisziplin des spatial turn - konstatieren lässt: 1 Dem in der angloamerikanischen Humangeographie im Zuge der kulturellen Wende formulierten theoretischen Ansatz der new cultural geography, die darauf abzielt, den Raum als vermeintlich naturgegebene Grundlage holistisch gedachter Kulturen zu de-ontologisieren und dessen symbolische Verfasstheit aufzuzeigen, kann die Position der so genannten radical geography gegenübergestellt werden, deren Proponenten eine Re-Materialisierung des Raumes fordern. 2 Im Unterschied dazu werden im vorliegenden Beitrag diskurs- und performanztheoretisch fundierte Zugänge zum Raum konturiert, durch die, so eine These, sowohl der symbolischen und kulturellen als auch der materiellen Kontingenz des Raumes Rechnung getragen werden kann. Der erste Teil dieses Beitrages widmet sich Ansätzen der Raumtheorie, die - vielfach (implizit) von einem Diskurs- und Performanzbegriff foucaultscher Provenienz ausgehend - die Konstituiertheit des Raumes als Produkt kultureller (diskursiver und körperlicher) Praktiken erfassen. Die Relevanz dieser Ansätze für narratologische Fragestellungen wird im zweiten Teil anhand eines konkreten literarischen Topos exemplarisch veranschaulicht. Am Beispiel einer spezifisch raumzentrierten Gattung der Erzählliteratur, der Ghettogeschichte, werden mögliche Perspektiven skizziert, die sich aus einer Übertragung kultur- und raumtheoretischer Positionen auf den Objektbereich der Literaturwissenschaft eröffnen. Dabei wird der Fokus von der Frage nach dem Wie der Deskription auf die Frage nach dem Wie der Konstitution des literarischen Raumes (in der/ durch narrative Praxis) verschoben: Der erzählte Raum erscheint unter diskurstheoretischen Prämissen weniger durch Deskription von gleichsam naturgegebener Landschaft (als Hintergrund der Handlung) denn durch Narration (von Handlung) konstituiert. Damit verbunden ist der Versuch, das Potential raumbzw. kulturwissenschaftlicher Paradigmen für eine (bislang primär an der Kategorie 1 Zur Geographie als Leitdisziplin des spatial turn vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (= rororo 55675), Reinbek bei Hamburg 2006, S. 285. 2 Vgl. dazu Julia Lossau: ’Mind the gap’: Bemerkungen zur gegenwärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht. In: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Hg. v. Stephan Günzel, Bielefeld 2007, S. 53-68. BH 10 Book.indb 25 22.8.2008 22: 10: 22 26 Alexandra Strohmaier Zeit orientierte) literaturwissenschaftliche Erzählforschung bzw. das ihrer kulturtheoretischen Profilierung ansatzweise sichtbar zu machen. Diskurs, Performanz, Raum: Theoretische Zugänge Das Korpus der Schriften Foucaults kann als ein theoretisches Fundament verstanden werden, das die (Re-)Konzeptualisierung der Kategorie Raum als Objekt von Diskurs (und damit Macht) sowie Performanz in den Kulturwissenschaften der letzten Dekaden entscheidend (mit)geprägt hat. Neben der von Foucault aufgezeigten wirklichkeitskonstituierenden Funktion von Diskursen ist es insbesondere die durch seine Schriften initiierte Selbstreflexion wissenschaftlicher Praxis, die zu einer Sensibilisierung für die diskursive Bedingtheit und die Machtgebundenheit des Raumes (etwa als Gegenstand der Geographie oder der Ethnograhie) in den Kulturwissenschaften beigetragen hat. Foucault erkennt dem Diskurs bekanntlich eine performative Funktion oder Wirkmächtigkeit zu. In Die Archäologie des Wissens plädiert er dafür, Diskurse »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.« 3 Diskurse sind - wie performative Sprechakte - gleichsam Handlungen, die das bewirken oder realisieren, was sie vermeintlich nur benennen oder repräsentieren. In der Kulturwissenschaft manifestiert sich eine diskurstheoretisch fundierte Konzeption des Raumes darin, dass die Beschreibung von Räumen nicht lediglich als ein Akt der Repräsentation einer ontologischen Gegebenheit gedacht wird, sondern als einer, der an der Produktion des Raumes mitwirkt. Die Topographie ist immer auch eine diskursive Praxis, die den vorgeblich präexistenten Raum, den sie vermeintlich nur beschreibt, im Akt der Beschreibung (in seiner spezifischen Form) vielmehr erst hervorbringt, performativ herstellt: »Die Topographie eines Ortes ist nicht etwas, das es schon gäbe und darauf wartete, in einem konstativen Sprechakt beschrieben zu werden. Sie wird, in einem performativen Sprechakt, gemacht, mit Wörtern oder anderen Zeichen.« 4 Die Implikationen dieser Konzeption von Topographie als diskursive und produktive Praxis lassen sich durch eine graphische Markierung visualisieren: »Topo-Graphie impliziert ‡...™ einen Bindestrich und meint das Schreiben, das Einkerben des Raumes.« 5 In den Kontext dieser diskursanalytisch fundierten Theoriebildung sind auch die Studien zu situieren, die von einer meta-geographischen oder meta-ethnographischen Position aus die Naturgegebenheit des Raumes als Objekt der Wissenschaft in Frage stellen, indem sie die diskursiven Praktiken aufzeigen, die 3 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 356), Frankfurt/ Main 1981, S. 74. 4 J. Hillis Miller: Die Ethik der Topographie. In: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen (= Trajekte). Hg. v. Robert Stockhammer, München 2005, S. 161-196, hier S. 183. 5 Vittoria Borsò: Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift. In: Zit. Anm. 2, Topologie, S. 279-295, hier S. 279. BH 10 Book.indb 26 22.8.2008 22: 10: 22 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 27 ihn bedingen. Die diskursive und mithin kulturelle und politische Beschaffenheit des geographischen Raumes betont etwa der Berliner Geograph und Historiker Hans-Dietrich Schultz mit dem programmatischen Titel seiner Untersuchung zur Genese »Mitteleuropas« in der deutschen Geographie: »Räume sind nicht, Räume werden gemacht.« 6 Schultz verweist auf die disziplinhistorische Bedeutung der sich um 1800 in der deutschen Geographie etablierenden Idee der natürlichen Grenzen für die Konzeption geographischer Räume, die sich als (nachträgliche) Naturalisierung ideologisch und politisch motivierter Raumkonzepte verstehen lassen, und konstatiert, dass »die Räume der klassischen Länderkunde keine Realitäten, sondern Konstruktionen sind, die eher ‡...™ dem Bereich der Ideologie als dem der Empirie angehören«. 7 Diese Wirkmächtigkeit des wissenschaftlichen Diskurses in der Konstitution geographischer Räume stellen auch die beiden US-amerikanischen Geographen Trevor J. Barnes und James S. Duncan heraus. In Referenz auf Foucault explizieren sie die raumkonstituierende Funktion des geographischen Diskurses als Effekt einer diesem immanenten »naturalizing power«. 8 In seinen meta-ethnographischen Studien zur Funktion des Raumes in der Kulturanthropologie untersucht James Clifford die Bedeutung räumlicher Praktiken für die Konstitution von Kultur als ethnographischen Untersuchungsgegenstand. Kultur wird in räumlichen Begriffen konfiguriert und durch lokalisierende Verfahren als distinkter und kohärenter Raum etabliert. Damit wird nicht nur der Kulturraum als homogene Entität, sondern auch die Verräumlichung von Kultur als Produkt diskursiver Praktiken fassbar. 9 In der Geschichte der Ethnologie kommt dabei dem Dorf, das methodisch als metonymischer Mikroraum der Fremdkultur konzipiert wird, den es in der anthropologischen Feldforschung zu erschließen gilt, eine zentrale Funktion zu; es konstituierte, wie Clifford darstellt, eine überschaubare Einheit, das Zentrum der Forschung, und diente als pars pro toto, als Brennpunkt oder Teil, durch den man das kulturelle Ganze repräsentieren konnte. 10 Dieser Fokus auf die Wirkmächtigkeit diskursiver Praktiken in den (im weitesten Sinn) auf Foucault rekurrierenden raumtheoretischen Ansätzen impliziert nicht, dass die Materialität des Raumes negiert wird, sondern lediglich, dass die kulturell und historisch spezifischen diskursiven Praktiken, durch die Materialität - in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen - überhaupt erst hervorgebracht wird, berücksichtigt werden. Foucault selbst stellt die 6 Hans-Dietrich Schultz: Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese »Mitteleuropas« in der deutschen Geographie, Europa Regional, 5/ 1997, S. 2-14. 7 Ebenda, S. 11. 8 Trevor J. Barnes u. James S. Duncan: Introduction: Writing Worlds. In: Writing Worlds. Discourse, Text and Metaphor in the Representation of Landscape. Hg. v. T. J. Barnes u. J. S. Duncan, London - New York 1992, S. 1-17, hier S. 9. 9 Vgl. James Clifford: Traveling Cultures. In: J. C.: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambride ‡u. a.™ 1997, S. 17-46, hier S. 19. 10 Vgl. ebenda, S. 21. BH 10 Book.indb 27 22.8.2008 22: 10: 22 28 Alexandra Strohmaier Irreduzibilität der materiellen Kontingenz des Raumes heraus, wenn er soziale Räume und architektonische Konstruktionen als Installation und Materialisierung von Machtmechanismen versteht und deren konkrete territoriale Auswirkungen reflektiert. Paradigmatisch dafür erweist sich Foucaults Auseinandersetzung mit dem Panopticon Benthams: Foucault beschreibt es als Konkretisierung eines sich im 18. Jahrhundert etablierenden Machttyps, dessen Wirksamkeit in der Disziplinierung und Kontrolle der Körper auf deren Verteilung im Raum und der Koordination ihrer räumlichen Praktiken gründet. 11 Denn - so Foucault an anderer Stelle: »Der Raum hat bei jeglicher Machtausübung fundamentale Bedeutung.« 12 Die Materialität des Raumes im Sinne Foucaults lässt sich anhand der von Judith Butler unter Rückgriff auf den foucaultschen Diskurs- und Performanzbegriff unternommenen Revision des klassischen Konstruktivismus näher erläutern. 13 Im Gegensatz zu konventionellen Ansätzen des Konstruktivismus, in denen Konstruktion als soziale oder semiotische Einwirkung auf eine außer- und vordiskursiv gedachte Natur verstanden wird, operiert Butler mit einem Konzept von Konstruktion, die sich als performative Wiederholung von Normen beschreiben lässt, durch die Materialität intelligibel wird. Im Unterschied zu traditionellen Konzeptionen von Konstruktion, in denen das Natürliche als das erscheint, worauf das Soziale einseitig einwirkt, was selbst aber vor aller Intelligibilität liegt, betont Butler, dass Natur eine Geschichte hat, da sie immer schon durch die und in der Sprache konstruiert/ konstituiert wird und Sprache die Bedingung darstellt, unter der Materialität auftritt. Butler plädiert dafür, die konventionellen Konzeptionen von Konstruktion zu ersetzen: Was ich an Stelle dieser Konzeptionen von Konstruktion vorschlagen möchte, ist eine Rückkehr zum Begriff der Materie, jedoch nicht als Ort oder Oberfläche vorgestellt, sondern als ein Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen. 14 Materie ist in diesem Sinn »immer etwas zu Materie Gewordenes«, 15 was sich nach Butler auf die von Foucault aufgezeigte produktive Funktion regulierender Macht und deren materialisierende Effekte zurückführen lässt. 11 Foucault bezeichnet diesen Machttypus dem entsprechend auch als Panoptismus. Vgl. dazu Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2271), Frankfurt/ Main 1994, S. 251 ff. Zur irreduziblen Materialität des geographischen Raumes in kulturpragmatisch orientierten Raumtheorien vgl. auch Jörg Dünne: Forschungsüberblick »Raumtheorie«, http: / / www.raumtheorie.lmu.de/ Forschungsbericht4.pdf ‡Zugriff v. 18. 2. 2008™, S. 8 ff. 12 Michel Foucault: Raum, Wissen und Macht. In: M. F.: Schriften in vier Bänden. Bd. IV: 1980-1988. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/ Main 2005, S. 324-341, hier S. 337. 13 Vgl. dazu insbesondere den Abschnitt »Von der Konstruktion zur Materialisierung« in Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (= edition suhrkamp N. F. 737), Frankfurt/ Main 1997, S. 24-35. 14 Ebenda, S. 32. 15 Ebenda. BH 10 Book.indb 28 22.8.2008 22: 10: 22 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 29 Unter diesen diskurstheoretischen Prämissen erscheint der Raum als Produkt der Materialisierung kultureller (Macht-)Ordnungen, die durch die/ in der diskursive/ n und performative/ n Praxis wiederholt (dabei aber auch verschoben oder subvertiert) werden (können). Was diese Raumkonzeption von jenen eines simplen diskursiven Monismus oder Linguistizismus unterscheidet, ist, dass der Raum nicht als immateriell - weil ausschließlich diskursiv konstruiert - gedacht wird, sondern als Effekt der Materialisierung diskursiver (und mithin kultureller) Normen. Der Raum entbehrt in dieser Konzeption nicht der Materialität, sondern er ist erkenntnistheoretisch nur durch die diskursiven Ordnungen zugänglich, die seine Materialisierung regulieren. Michel de Certeau eröffnet einen an Foucault orientierten, aber in seinen handlungstheoretischen Implikationen über dessen Diskurstheorie hinausgehenden kulturpragmatischen Zugang zum Raum. 16 Neben dem Diskurs kommt dabei auch dem Körper eine konstitutive Funktion in der Ausbildung des Raumes zu. De Certeau erörtert die kulturellen Praktiken des Alltags in ihrer Bedeutung für die Produktion des Raumes. Dieser erweist sich als Produkt diskursiver und körperlicher Praktiken, durch die der Raum strukturiert, organisiert und performativ hergestellt wird. Als zwei dominante raumbildende Handlungen erörtert de Certeau das Erzählen und das Gehen, beide setzen und verschieben Grenzen und transformieren Orte in Räume. Denn nach de Certeau »ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«. 17 Die narrative und die pedestrische Praxis dynamisieren den Ort (lieu), den de Certeau als »eine momentane Konstellation von festen Punkten« 18 definiert, zum Raum (espace) als einem »Geflecht beweglicher Elemente«. 19 Das abstrakte Ortesystem wird durch Richtungsvektoren und die Aspekte der Temporalität in der Aktualisierung lokaler Strukturen zum Raum ausgefaltet. Das Passieren der Orte als serielles Aneinanderreihen der Schritte, durch das/ in dem Raum performativ realisiert wird, erscheint wie das Sprechen als Artikulation oder Realisierung einer Sequenz von Zeichen. Der Ort wird dabei implizit mit dem System der langue, der Raum mit der Praxis der parole verglichen: Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird, das heißt, von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird ‡...™; er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben. 20 Die Bedeutung des Erzählens für die Raumgenese besteht nach de Certeau vor allem in Geschichten, die an Orte gebunden werden, diese zueinander in Bezie- 16 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179-238. Zu de Certeaus kulturpragmatischer Bestimmung von Raum vgl. auch zit. Anm. 11, Dünne, »Raumtheorie«, S. 9. 17 Zit. Anm. 16, Certeau, Kunst, S. 218 ‡Kursiv im Original™. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 Ebenda. BH 10 Book.indb 29 22.8.2008 22: 10: 22 30 Alexandra Strohmaier hung setzen und derart gleichsam Räume hervorbringen. In einer interessanten Analogie, in der de Certeau Geschichten in ihrer Funktion mit dem Begriff gleichsetzt, der im heutigen Athen die kommunalen Verkehrsmittel bezeichnet, metaphorai, charakterisiert de Certeau die Bedeutung von Geschichten für die Raumgenese: »Auch die Geschichten könnten diesen schönen Namen tragen: jeden Tag durchqueren und organisieren sie die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.« 21 De Certeau analogisiert den sprachlichen Akt des Erzählens und den körperlichen Akt des Gehens aufgrund ihrer performativen Funktion. Das Gehen wird wie der Akt des Aussagens als Artikulation, als Aktualisierung und Transformation bestehender Strukturen (Routen oder Äußerungen) verstanden: »Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist.« 22 Wie der Sprechende Aussagen zitiert und verändernd wiederholt, aktualisiert und variiert der Gehende bestehende Routen und stellt auf diese Weise variable Räume her. Routen verhalten sich nach de Certeau zum Raum wie Aussagen zur Sprache, sowohl Raum als auch Sprache existieren nur durch die bzw. in der Realisierung von Wegen und Worten. Anthropologisch und handlungstheoretisch bildet das Gehen, durch das der Raum körperlich angeeignet und strukturiert wird, nach de Certeau auch die Voraussetzung für die Repräsentation des Raumes. Die Routen oder Wegstrecken, die der Körper im Raum zurücklegt, gehen der symbolischen Repräsentation des Raumes voraus. Der parcours, der eine sequentielle (gleichsam narrative) Konfiguration relativer Raumbezüge und somit einen in der körperlichen Praxis konstituierten Raum darstellt, bildet die Voraussetzung - für die geometrische Strukturierung des Raumes als Konstellation fester Punkte für die Karte. Diese erweist sich als Ergebnis einer nachträglichen Abstraktion, in der vom Vorgang des Gehens, der sie ermöglicht hat, abgesehen wird. Das kartographische System beruht darauf, dass die Spuren der Schritte - Reste der körperlichen »Kerbung« des Raumes - getilgt werden. 23 Dem Repräsentationssystem der Karte entspricht als Modalität der Raumwahrnehmung bzw. -aneignung der panoramatische Blick des Voyeurs, dem sich der Raum als geometrisches Ortesystem präsentiert. Der Körper des Voyeurs, der von einer divinatorischen Position aus (de Certeau lokalisiert ihn exemplarisch in der 110. Etage des World Trade Centers) auf den urbanen Raum blickt, den der Fußgänger (marcheur) mit seinen Schritten durchmisst, ist sozusagen aus dem Verkehr gezogen, aus den räumlichen Bezügen entbunden, die im Akt des Gehens zwischen den Orten gespannt werden. 24 Aus der Vogelperspektive or- 21 Ebenda, S. 215. 22 Ebenda, S. 189. 23 Vgl. ebenda, S. 222 ff. 24 Vgl. ebenda, S. 179 ff. BH 10 Book.indb 30 22.8.2008 22: 10: 22 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 31 ganisieren sich die urbanen Elemente zu einem statischen System, in dem die Unwegsamkeiten und Untiefen der pedestrischen Raumerfahrung planiert sind; die urbanen Elemente, die im Akt des Gehens in die Serie der Schritte eingebunden sind, ergeben ein simultanes Nebeneinander. Der Karte steht die Variabilität des parcours oder der Wegstrecke gegenüber, die der marcheur erzeugt. In der pedestrischen Praxis wird der Raum multisensorisch (nicht nur mit dem Distanzsinn des Auges, sondern auch den Nahsinnen) wahrgenommen, das Subjekt der Schritte nimmt eine bewegliche Feldperspektive ein; der Raum (espace), den die Schritte hervorbringen, wird durch deren Nacheinander strukturiert. 25 De Certeau betont also die performative Dimension von Raum, der durch Praktiken im Raum entsteht. Dabei wird dieser nicht nur als symbolischer oder diskursiv verfasster, sondern auch als materieller gedacht, zumal es den Raum erst durch die und in der Bewegung des Körpers zu erschließen gilt. Diese konkrete physische Beschaffenheit des Raumes stellt auch Hartmut Böhme heraus, wenn er darauf verweist, dass der Raum nicht einfach da ist, sondern zunächst vom Subjekt körperlich angeeignet, in seiner Materialität überwunden werden muss. 26 Der Umgang in/ mit dem Raum in seiner Materialität erweist sich als Voraussetzung für dessen symbolische Konstitution: »Raum und Räumlichkeit muß, um überhaupt gedacht werden zu können, erfahren werden. Dies bedeutet: die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen.« 27 Umgekehrt aber wird dieser Raum erst durch die und in den Ordnungen des Symbolischen erfahrbar, die - als stabilisierte Raumordnungen gedacht - nach Böhme auch den Rahmen für die Ausbildung und Tradierung von Kultur darstellen. Nach Böhme kommt Topographien dadurch auch eine performative Funktion zu, indem sie den Körper im Raum ausrichten und kulturelle Praktiken präfigurieren. 28 Die konstitutive Funktion körperlicher Praxis für die Raumgenese ist in der spezifischen Bedeutung des Körpers als Bedingung von Räumlichkeit begründet, wie sie implizit auch Foucault in Anlehnung an Merleau-Ponty herausstellt. Der eigene Körper ist, so Foucault, der einzige Ort, an dem das Subjekt zeit seines Lebens ist, und als solcher sozusagen unhintergehbar: »Mein Körper ist ‡...™ der absolute Ort, das kleine Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin. Mein Körper ist eine gnadenlose Topie.« 29 Dieser Konzeption von Körper als unhin- 25 Vgl. ebenda, S. 217 ff. Vgl. dazu auch das Kapitel »Taktik und Strategie (de Certeau)« in: Jan Lazardzig u. Kirsten Wagner: Raumwahrnehmung und Wissensproduktion. Erkundungen im Interferenzbereich von Theorie und Praxis. In: Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung (= Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften 10). Hg. v. Christina Lechtermann, Kirsten Wagner u. Horst Wenzel, Berlin 2007, S. 123-139, hier S. 134 ff. 26 Vgl. Hartmut Böhme: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext (= Germanistische Symposien. Berichtsbände XXVII). Hg. v. H. B., Stuttgart - Weimar 2005, S. IX-XXIII, hier S. XVII. 27 Ebenda, S. XV. 28 Vgl. ebenda, S. XIX. 29 Michel Foucault: Der utopische Körper. In: M. F.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/ Main 2005, S. 23-36, hier S. 25. BH 10 Book.indb 31 22.8.2008 22: 10: 22 32 Alexandra Strohmaier tergehbarer (Stand-)Ort des Subjekts und Determinante der Raumkonstitution entspricht Husserls Konzept des »Nullpunkts«, 30 des leiblichen Hierseins, in seiner Funktion für die Genese des Raumes. Nach Husserl fungiert der Leib als Orientierungszentrum. Das Hier des Leibes ist der Nullpunkt, von dem alle Richtungsvektoren ausgehen und Handlungsräume emergieren. Das egozentrische Orientierungssystem, das der axiale Leib konstituiert, mit seinen Horizontalachsen (vorne und hinten, links und rechts) und seiner Vertikalachse (oben, unten) und den entsprechenden Aktionsradien, bildet auch den Ausgangspunkt der sprachlichen Raumdeixis, wie sie etwa Karl Bühler in Anlehnung an die Raumphänomenologie erörtert. 31 Der Körper fungiert im Akt des Aussagens als das, was den Raum hervorbringt, indem er ihn durch indexikalische Referenz aufspannt. Raum kann mithin nicht länger als narrativ organisierte räumliche Ordnung gedacht werden, die unabhängig von der Position des sprechenden Subjekts aktualisiert wird. Raum wird vielmehr im Akt der Enunziation - aufgrund der spezifischen lokalen Positioniertheit des sprechenden Subjekts - durch deiktische Indikation performativ hergestellt. Johannes Angermüller spricht in diesem Zusammenhang auch vom »indexikalen Raum der Enunziation«, 32 dessen »Koordinaten ‡...™ immer im Nullpunkt der Enunziation« 33 zusammenlaufen - und der mithin durch den/ in dem Akt des Aussagens (der Enunziation) selbst konstituiert wird. Das heißt, Raum entsteht nicht nur durch immer wieder neu aktualisierbare Aussagen, sondern auch durch den bzw. in dem irreversiblen Akt des Aussagens selbst. Der Raum, so lässt sich nach den hier vorgestellten raumtheoretischen Ansätzen festhalten, entzieht sich sowohl einem simplen Naturalismus als auch einem einfachen Konstruktivismus; er ist weder im System der Zeichen noch als reine Materialität je ganz zu fassen. Mit der von Jacques Lacan etablierten Triade - den drei Registern des Symbolischen, des Imaginären und des Realen, deren Interrelationen er an der topologischen Figur des Borromäischen Knotens zu veranschaulichen sucht - könnte man den Raum mithin am Schnittpunkt von Symbolischem, dem das Imaginäre immer schon untergeordnet ist, und Realem situieren. 34 Das Reale des Raumes wäre in diesem Sinn als das zu verstehen, was 30 Edmund Husserl: Husserliana. Bd. IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. 2. Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hg. v. Marly Biemel, Tübingen 1952, S. 158. 31 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (= Ullstein-Buch 3392), Frankfurt/ Main - Berlin - Wien 1978, S. 102 ff. Zum egozentrischen Orientierungssystem vgl. Kirsten Wagner: Im Dickicht der Schritte. ’Wanderung’ und ’Karte’ als epistemologische Begriffe der Aneignung und Repräsentation von Räumen. In: Zit. Anm. 26, Topographien der Literatur, S. 177-206, hier S. 195. 32 Johannes Angermüller: Diskurs und Raum. Zur Theorie einer textpragmatischen Diskursanalyse. In: Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen (= Argument Sonderband N. F. 286). Hg. v. J. A., Katharina Bunzmann u. Martin Nonhoff, Hamburg 2001, S. 63-76, hier S. 73. 33 Ebenda. 34 Zur Struktur des Borromäischen Knotens vgl. Jacques Lacan: Fadenringe. In: J. L.: Seminar. Buch XX (1972- 1973): Encore. Hg. v. Norbert Haas u. Hans-Joachim Metzger, Weinheim - Berlin 2 1991, S. 127-147. Zu der Verschränkung von Imaginärem, Symbolischem und Realem und ihrer Darstellung anhand des Borromäischen Knotens vgl. auch Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, S. 64 f. BH 10 Book.indb 32 22.8.2008 22: 10: 23 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 33 vom Symbolischen, der Kultur, niemals ganz überformt werden kann, es bleibt eine irreduzible Materialität, durch die sich der Raum einer restlosen Symbolisierung widersetzt. Raum ist in diesem Sinn weder reine Natur, noch geht er in seiner Materialität je ganz im Symbolischen auf, auch wenn er immer nur durch die Ordnung des Symbolischen fassbar, weil immer schon durch sie strukturiert ist. Annäherungen an den erzählten Raum in diskurs- und performanztheoretischer Perspektive Die im ersten Teil dieses Beitrages skizzierten diskurs- und handlungstheoretisch fundierten Raummodelle legen eine Schwerpunktverschiebung in der narratologischen Raumanalyse nahe: Es gilt, den narrativen Raum, der in der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung bislang primär in seiner semantischen Dimension (als Schauplatz, Hintergrund oder Voraussetzung der Handlung) untersucht wurde, 35 in seiner diskursiven Gemachtheit zu erfassen, als Produkt einer Setzung von Orten oder lokalen Punkten und deren Dynamisierung. Die Relevanz und das Potential einer derartig orientierten Raumanalyse sollen im Folgenden am Beispiel des von Karl Emil Franzos etablierten Topos Barnow und seiner gattungsspezifischen Realisierung in Form der Ghettogeschichte exemplarisch veranschaulicht werden. 36 Die spezifische Funktion der Ghettogeschichte, die sich auch als »ethnographische Novelle« 37 kategorisieren lässt, kann in Rekurs auf die von Clifford an der Geschichte der Ethnographie herausgestellte Bedeutung des Dorfes und seiner Funktion in der Verräumlichung kultureller Alterität präzisiert werden. Die Wirkmächtigkeit von Ghettogeschichten, deren Raumorientierung bereits durch das Bestimmungswort dieser Gattungsbezeichnung impliziert wird, scheint wesentlich durch die diskursiven räumlichen Praktiken bedingt zu sein, durch die ostjüdische Kultur entworfen und einem westlichen Publikum vermittelt wird. Die Kultur des so genannten Ostjudentums, seine Traditionen und Rituale werden durch Geschichten vermittelt, die an spezifische Orte gebunden sind bzw. spezifische (vermeintlich paradigmatisch »jüdische«) Lebensräume hervorbrin- 35 Vgl. dazu etwa Natascha Würzbach: Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger (= Anglistische Forschungen 294). Hg. v. Jörg Helbig, Heidelberg 2001, S. 105-129, hier S. 105 ff.; Birgit Haupt: Zur Analyse des Raums. In: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme (= WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 6 ). Hg. v. Peter Wenzel, Trier 2004, S. 69-87, hier S. 69. 36 Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse einer narratologischen Raumanalyse wiedergegeben, die bereits publiziert wurde. Vgl. Alexandra Strohmaier: »Barnow in Halb-Asien«. Zur Konstruktion des Raumes in den Texten von Karl Emil Franzos. In: Karl Emil Franzos. Schriftsteller zwischen den Kulturen (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien 12). Hg. v. Petra Ernst, Innsbruck - Wien - Bozen 2007, S. 11-36, hier S. 22 ff. Die theoretische Grundlage der folgenden Ausführungen bildet die Narratologie Genettes. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung (= UTB). Hg. v. Jochen Vogt, München 2 1998. 37 W. G. Sebald: Westwärts - Ostwärts: Aporien deutschsprachiger Ghettogeschichten. In: W. G. S.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur, Salzburg - Wien 1991, S. 40-64, hier S. 42. BH 10 Book.indb 33 22.8.2008 22: 10: 23 34 Alexandra Strohmaier gen und durch die körperliche Präsenz von Erzählfiguren oder durch die Rekurrenz von Figurenkörpern im erzählten Raum gewissermaßen »Authentizität« verbürgen. Das fiktive Barnow, das als symbolisches Substitut für Czortkow, den an der östlichen Grenze Galiziens lokalisierten Geburtsort Franzos’, fungiert, 38 wird in der ersten Erzählung des Autors gleichsam anhand einer abstrakten Karte entworfen. Am Anfang von Franzos’ »Erstlingswerk«, das in geringfügig modifizierter Form unter dem Titel Das Christusbild in die Sammlung von Ghettogeschichten Die Juden von Barnow aufgenommen wurde, 39 wird vom extradiegetisch-homodiegetischen Erzähler gleichsam folgende Karte als Konstellation von festen Punkten gezeichnet: »Da steht es wieder greifbar lebendig vor mir, das arme, verfallene Landstädtchen mit seinen engen, krummen, düsteren Gassen, mit der verfallenen Burg oben auf dem Berge, mit dem stolzen Kloster unten am Flusse.« 40 Als signifikant hinsichtlich der oben herausgestellten Bedeutung des parcours als Voraussetzung für kartographische Repräsentation erweist sich dabei, dass diese Karte Barnows aus der imaginären Aktualisierung einer realen Wegstrecke oder Route hervorgegangen ist, wie sich anhand einer autobiographischen Schrift von Franzos rekonstruieren lässt. 41 Der mit der ersten topographischen Darstellung Barnows in Das Christusbild etablierte Stadtplan wird einige Zeilen später gleichsam aus der Übersicht - der Position des Voyeurs - noch einmal vorgeführt, damit er, durch iteratives Erzählen, sozusagen als mental map oder kognitive Karte von den Rezipienten internalisiert werden kann: Mitten in die unendliche Ebene hingestreut liegt das kleine Städtchen. Nur eine sanfte Anhöhe ist in der Nähe, da liegen die Trümmer einer Burg, wo einst die Herren von Barnow gehaust: die Starosten Barecki. Aber nun sitzt der letzte Sproß dieses Geschlechts, ein wahnsinniger Greis, in seinem düstern Hause am Flusse, die neuen Herren aber ‡...™ in dem neuen, prächtigen Grafenschloß in der Ebene. 42 Und der Blick der erzählenden Instanz erfasst dann von einem gleichsam olympischen Beobachterstandpunkt aus die »engen Straßen von Barnow« 43 und jenen »abgeschiedenen, wie verstoßenen Stadtteil, der sich in den ungesunden Morästen des Flusses hindehnt« 44 - das Judenviertel. 38 Zum fiktionalen Toponym Barnow und seiner realen Entsprechung vgl. Karl Emil Franzos: Mein Erstlingswerk: »Die Juden von Barnow«. In: Die Geschichte des Erstlingswerks. Hg. v. K. E. F., Leipzig 1895, S. 213-240, hier S. 238. 39 Vgl. dazu auch das Vorwort zur sechsten Auflage der Sammlung, in dem der Autor darauf hinweist, dass die »älteste Novelle dieses Bandes: ’Das Christusbild’ ‡...™ zugleich die erste« ist, die er geschrieben hat. Karl Emil Franzos: Vorwort zur sechsten Auflage. In: Ders.: Die Juden von Barnow. Geschichten, Stuttgart - Berlin 8 1907, S. V-VIII, hier S. V. 40 Karl Emil Franzos: Das Christusbild. In: Zit. Anm. 39, Franzos, Juden von Barnow, S. 227-257, hier S. 227. 41 Vgl. dazu ausführlicher zit. Anm. 36, Strohmaier, Barnow, S. 22. 42 Zit. Anm. 40, Franzos, Christusbild, S. 200. 43 Ebenda. 44 Ebenda. BH 10 Book.indb 34 22.8.2008 22: 10: 23 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 35 Das urbane Layout des fiktiven Barnow, als topographische Konstellation aus festen Punkten und Orten, wird in den folgenden Ghettogeschichten des Autors durch weitere topographische Angaben präzisiert und durch die Rekurrenz von Figuren und die Bewegung der Erzählerund/ oder Figurenkörper, die diese Karte sozusagen performativ aktualisieren, dynamisiert. Die topographischen Präzisierungen erfolgen dabei auf der Ebene der histoire unter anderem dadurch, dass die Einführung der Figuren mit der Angabe ihres Wohnortes einhergeht. Die Figuren werden im erzählten Raum situiert, indem ihr Wohnort quasi in der fiktiven Karte Barnows eingetragen wird. 45 Der Plan von Barnow, der in Das Christusbild durch die Setzung markanter Orte, Bauten und Bezirke hergestellt wird, erfährt in den folgenden Erzählungen auf der Ebene der histoire eine Dynamisierung durch die Geschichten der Figuren, die an diese Orte gebunden werden, so dass sich allmählich, durch die diversen Bezüge auf das Ensemble der Figuren und auf das durch die erste Erzählung konstituierte gleichsam urbane Layout Barnows, ein erzählter Raum entfaltet. Die Ruine auf dem Hügel etwa, von der am Beginn der Erzählung Das Christusbild die Rede ist, scheint gleichsam als locus amoenus in der Ghettonovelle Esterka Regina zu fungieren, 46 in der dieser Ort mit der Geschichte einer unerfüllten Liebe verbunden wird. Der »blaue Weiher« 47 im Park des Schlosses, an dem sich die beiden Protagonisten von Das Christusbild treffen, wird, wie es die implizite topographische Ordnung dieser Erzählung suggeriert, zum Ort des Todes für die gleichnamige Heldin der Erzählung Judith Trachtenberg. 48 Der »Judenfriedhof zu Barnow« oder der »gute Ort«, der Foucaults »Heterotopie des Friedhofs« 49 gleichsam paradigmatisch - auch nominell - zu veranschaulichen scheint, wird zum erzählten Raum in den Novellen Das »Kind der Sühne« und Ohne Inschrift. 50 Der narrative Raum, der auf diese Weise entsteht, setzt sich 45 So beginnt etwa die Novelle Der Shylock von Barnow mit der »Verortung« ihres Protagonisten: »Gerade dem alten, grauen Kloster der Dominikaner gegenüber steht das große, weiße Haus des Juden, hart an der Heerstraße, die von Lemberg nach Skala führt und das düstere Städtchen durchschneidet. Wer in einem der kleinen, schmutzigen Häuser des Ghetto geboren ist, wächst in Ehrfurcht und Bewunderung auf vor diesem Hause und seinem Besitzer, dem alten Moses Freudenthal.« Karl Emil Franzos: Der Shylock von Barnow. In: Zit. Anm. 39, Franzos, Juden von Barnow, S. 1-45, hier S. 1. Die folgende Novelle der Sammlung, Nach dem höheren Gesetz, handelt, wie zu Beginn herausgestellt wird, von der Geschichte der neuen Bewohner dieses »große‡n™ weiße‡n™ Haus‡es™ an der Heerstraße«, deren ursprüngliche Wohnorte in der imaginären Karte von Barnow ebenfalls genau eingetragen sind. Karl Emil Franzos: Nach dem höheren Gesetz. In: Zit. Anm. 39, Franzos, Juden von Barnow, S. 46-94, hier S. 46. Auch die gleichnamige Protagonistin der Novelle Esterka Regina wird eingeführt, indem auf ihren spezifischen Wohnort hingewiesen wird: Sie »war ein armes, schüchternes Mädchen aus der Judengasse zu Barnow. In dem kleinen Häuschen neben der jüdischen Schlächterei wohnte sie«. Karl Emil Franzos: Esterka Regina. In: Zit. Anm. 39, Franzos, Juden von Barnow, S. 169-213, hier S. 169. 46 Vgl. Anm. 45, Franzos, Esterka Regina, S. 194. 47 Zit. Anm. 40, Franzos, Christusbild, S. 240. 48 Vgl. Karl Emil Franzos: Judith Trachtenberg. Erzählung, Wien 1987, S. 228. 49 Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Zit. Anm. 12, Foucault, Schriften, S. 931-942, hier S. 937. 50 In Ohne Inschrift verweist Franzos bzw. der mit dem Autor als ident inszenierte Erzähler ausdrücklich auf (s)eine frühere Topographie dieses Ortes: »Auch der ’gute Ort’ zu Barnow ist eine freundliche, liebe Stätte. Und wie es da im Frühling aussieht, habe ich schon einmal erzählt ‡...™.« Karl Emil Franzos: Ohne Inschrift. In: Zit. Anm. 39, Franzos, Juden von Barnow, S. 258-289, hier S. 259. BH 10 Book.indb 35 22.8.2008 22: 10: 23 36 Alexandra Strohmaier nicht nur aus den Gassen, Plätzen und Orten der Stadt Barnow zusammen, sondern auch aus seinen Bewohnern und ihren Alltagspraktiken, ihren Rout(in)en und Ritualen. Die Dynamisierung der narrativen Ordnung erfolgt auf der Ebene des discours durch den Wechsel in der Fokalisierung sowie durch die Modifikationen der Kategorie Stimme. Die Fokalisierungswechsel werden unter anderem durch die Pluralisierung narrativer Ebenen und - damit verbunden - der Pluralisierung der narrativen Stimmen motiviert. Dadurch werden die nicht-fokalisierten Topographien, wie sie zumeist in den Rahmenerzählungen (durch einen heterodiegetischen Erzähler) entworfen werden, durch die intern fokalisierten Passagen der homodiegetischen Binnenerzähler ergänzt. Dabei kommt der körperlichen Präsenz dieser Erzählfiguren in der erzählten Welt und der von ihnen ausgehenden Raumdeixis eine zentrale Funktion zu: Die von den intradiegetischen Erzählern erzählten Geschichten werden durch das leiblich markierte Hier im Raum des Erzählens verortet. Das Ich des Erzählens wird im Akt des Erzählens in seiner spezifischen räumlichen Positioniertheit fixiert - und in Relation zu ihm der Andere. Das ist der Fall, wenn der körperlich präsente (Binnen-)Erzähler sich im Erzählakt an einen in der erzählten Welt anwesenden Anderen wendet und den von ihm erzählten Raum der Geschichte durch lokaldeiktische Referenzen an den Raum des Erzählens bindet, was ein rekurrentes Merkmal der Texte Franzos’ ist und im Folgenden an der Ghettonovelle Der wilde Starost und die schöne Jütta, die Teil der Juden von Barnow ist, näher erläutert werden soll. In dieser Novelle wird durch zwei Geschichten, die auf dasselbe Ereignis eingehen und die von zwei verschiedenen intradiegetischhomodiegetischen Erzählern (intern fokalisiert) erzählt werden, der jeweilige Ort der Geschichte auf der Ebene der histoire mit dem Ort des Erzählens korreliert. Die historische Bedeutung des erzählten Ortes wird gleichsam vor Ort von einem Binnenerzähler anhand einer Geschichte zum Ausdruck gebracht. Erzählter Ort und Ort des Erzählens ist in einem Fall, der ersten der zwei erzählten Binnengeschichten, das düstere Schloss am Fluss als Wohnort des wahnsinnigen Starosten Barecki, auf das bereits in Das Christusbild hingewiesen wurde. Wo sich dieses verfallene Gebäude befindet, wurde dort bereits gleichsam kartographisch festgehalten, 51 in Der wilde Starost und die schöne Jütta wird vom Rahmenerzähler beschrieben, wie man dorthin gelangt, und zwar in Form einer Handlungsanweisung, die nach de Certeau eine Wegstrecke oder einen parcours bezeichnet: »Wenn man über die Sered-Brücke geht und dann unter den Linden hin, das träge, schleichende Flüßchen entlang - da liegt es vor Einem.« 52 Zusätzliche Bedeutung erfahren die in der ersten Erzählung des Autors erwähnten Bauten und Institutionen in Der wilde Starost und die schöne Jütta zudem dadurch, dass sie gleichsam zu Wegmarken einer Route durch Barnow 51 Vgl. Anm. 40, Franzos, Christusbild, S. 229. 52 Karl Emil Franzos: Der wilde Starost und die schöne Jütta. In: Zit. Anm. 39, Franzos, Juden von Barnow, S. 112-141, hier S. 118. BH 10 Book.indb 36 22.8.2008 22: 10: 23 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 37 werden, die die Vertreter der katholischen Konfession Barnows auf ihrem in der Rahmenerzählung beschriebenen Fronleichnamszug zurücklegen. 53 Dieses katholische Ritual ist es auch, was die Geschichte vom wilden Starosten und der schönen Jütta bedingt und strukturiert - der Fronleichnamszug, der durch die Judenstadt führt, demonstriert dabei bereits am Anfang der Erzählung, dass sich Macht auch in räumlichen Praktiken manifestiert, in diesem Fall in der gewaltsamen Überschreitung räumlicher Grenzen. Die Geschichte vom wilden Starosten und der schönen Jütta wird von zwei Zeugen, dem alten Diener des Starosten und einer Vertreterin der jüdischen Gemeinde, dem »Urbabele«, erzählt. Bei der Vorbereitung für das am nächsten Tag stattfindende Fronleichnamsfest im verfallenen Schloss des mittlerweile aus Trauer um den Verlust Jüttas wahnsinnig gewordenen Starosten erzählt dessen alter Diener Stephan den bei der Vorbereitung mithelfenden Arbeitern, wie der Starost einst die schöne Jüdin »beim Fronleichnamsfeste zum ersten Male gesehen, gewaltsam ihrem Vater entrissen und hierher gebracht habe«. 54 Am Abend desselben Tages erzählt in einem Haus in der Judenstadt die zweite Binnenerzählerin, das »Urbabele«, ihrer Urenkelin den Ausgang dieser Geschichte. Sie erzählt, wie Vertreter der jüdischen Gemeinde Monate nach Jüttas Entführung durch den Starosten das Schloss überfielen, Jütta und ihren dem Starosten in der Zwischenzeit geborenen Knaben nach Russland verschleppten und wie ihr Mann, der Dorfvorsteher Simon Grün, der brutalen Rache des Starosten und seiner Männer erlag, als jener Tag der ersten Begegnung, das Fronleichnamsfest, sich jährte: Morgen ist ja die Jahrzeit nach Deinem Urgroßvater! O Kind, morgen jährt sich wieder einmal der schwarze Tag, da die Christen wie die Wölfe eingebrochen sind in unser Haus, und sie haben sein liebes Haupt zerschmettert, und ich habe sein Leben nicht zurückhalten können, und er ist gestorben - hier auf dieser Diele! 55 Im Akt des Erzählens wird der erzählte Ort deiktisch am Ort des Erzählens verankert und dieser für die Rezipienten symbolisch besetzt, dem Ort wird eine Geschichte und mithin Bedeutung verliehen. Dieser Akt des Erzählens veranschaulicht aber auch die Funktion des Erzählens als raumkonstituierende Praxis. Es ist nämlich nicht nur das Erzählte, die Geschichte, durch die diesem Ort Bedeutung verliehen wird, sondern auch durch das (erzählte) Erzählen wird der Ort zum Raum. Das Beispiel demonstriert also auch die performative Funktion des Erzählens in der Konstitution des Raumes, und - insofern der Körper des Subjekts bzw. dessen Position im respektive zum Raum phänomenologisch den variablen Ursprung der Raumgenese darstellt - dessen Gebundenheit an den Körper. 53 Der »Weg ‡...™ geht regelmäßig von der Pfarrkirche quer über den Ringplatz, dann durch einige Gäßchen und über die Sered-Brücke zum Altar im Schlosse des alten Starosten, von da zum Kloster der Dominikaner und dann ‡...™ wieder zur Pfarrkirche.« Ebenda, S. 114. 54 Ebenda, S. 130. ‡Hervorhebung A. St.™ 55 Ebenda, S. 134. ‡Hervorhebung A. St.™ BH 10 Book.indb 37 22.8.2008 22: 10: 23 38 Alexandra Strohmaier Dieses die lokale Deixis funktionalisierende narrative Verfahren der Raumerzeugung, das narratologisch an eine homodiegetische und intern fokalisierte Erzählsituation gebunden ist, wird gleichsam auf die Spitze getrieben, wenn die Erzählung die Geschichte eines Ganges des Erzählers durch den erzählten Raum darstellt, die sich an einzelnen Punkten des erzählten Raumes durch Geschichten weiterer Erzähler ausfaltet. Das ist der Fall in Franzos’ Text Markttag in Barnow aus der Sammlung Cultur-Bilder aus Halb-Asien. 56 Das in nahezu allen in Galizien situierten Erzählungen des Autors eine Rolle spielende Zentrum des Ortes Barnow, der Marktplatz, wird in dieser Erzählung zum Zentrum der Geschichte, des erzählten Ortes, und zum Ort des Erzählens. Das geschieht dadurch, dass der Erzähler als Fußgänger (marcheur) fungiert und das Gehen selbst zur Geschichte macht. Auch wenn er am Beginn der Erzählung - quasi als Voyeur - auf den erzählten Ort blickt, kommt die Geschichte doch erst in Gang, als er sich selbst unter das Volk auf dem Marktplatz mischt, sich durch die Menschen und Marktstände bewegt und seinen Weg kommentiert, an einzelnen Marktständen Halt macht und weitere Erzähler zu Wort kommen lässt. Dadurch, dass im Präsens erzählt wird, entsteht der Eindruck einer (partiellen) zeitlichen Koinzidenz von Erzähltem und Erzählen. Der erzählte Raum und der Raum des Erzählens, Erzählzeit und erzählte Zeit werden gleichsam synchronisiert. 57 Die Wirkmächtigkeit dieses spezifischen narrativen Verfahrens der Raumkonstitution besteht für die Rezipienten darin, dass man als Leser, der Bewegung des Körpers des Erzählers folgend, der ja den Punkt bildet, von dem die zahlreichen lokaldeiktischen Verweise in der Erzählung ausgehen, im und durch das Lesen dessen Route nachvollzieht. Durch die interne Fokalisierung (die »Mit-sicht«) werden die auf der Ebene der histoire zusätzlich durch Erzähleranreden zum Mitgehen aufgeforderten Leser gleichsam auf dem Weg des Erzählers durch den erzählten Raum mitgenommen. Dabei wird ein ähnlicher Effekt evoziert, wie ihn die filmische Erzähltechnik durch die Bewegung einer dynamisch positionierten Kamera (etwa in Form einer Handkamera oder eines Körperstativs) zur Illusion eines dreidimensionalen Raumes einsetzt: Die Zuseher blicken durch die Augen einer Person und bewegen sich gleichsam in deren Körper durch den Raum. 58 Am Topos Barnow wird die performative Dimension des Erzählens für die Konstitution des Raumes deutlich, aber auch - insofern die raumbildende Praxis des Erzählens die körperliche Orientierung im Raum zur Voraussetzung hat 56 Karl Emil Franzos: Markttag in Barnow. In: Ders.: Vom Don zur Donau. Neue Cultur-Bilder aus »Halb-Asien«. Bd. 1 (= Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa 3), Stuttgart 2 1890, S. 1-117. 57 Vgl. dazu auch Schönerts Charakterisierung dieser Erzählung: »Im Präsens, quasi synchron, bewegt sich der Erzähler mit einzelnen Figuren oder Figurengruppen hin nach Barnow zum Markt und dann durch das Geschehen des Markttages bis zum hereinbrechenden Abend.« Jörg Schönert: Zur interkulturellen Problematik der »Culturbilder« aus »Halb-Asien« von Karl Emil Franzos. In: Narratologie interkulturell. Studien zu interkulturellen Konstellationen in der deutschsprachigen und ungarischen Literatur 1880-1930. Hg. v. Tom Kindt u. Katalin Teller, Frankfurt/ Main 2005, S. 157-166, hier S. 165 f. 58 Zu dieser Form des filmischen Erzählens vgl. etwa: Reinhard Kargl: Wie Film erzählt. Wege zu einer Theorie des multimedialen Erzählens im Spielfilm, Frankfurt/ Main ‡u. a.™ 2006, S. 130 f. BH 10 Book.indb 38 22.8.2008 22: 10: 23 Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis 39 - dessen Gebundenheit an den Körper. Raum entsteht, so zeigt der Topos Barnow, durch die Setzung topographischer Konstellationen (Karten) und deren Aktualisierung und Dynamisierung. Auf der Ebene der histoire erfolgt die Dynamisierung durch Geschichten, die an Orte gebunden werden und diese zum Raum ausfalten. Auf der Ebene des discours sind es insbesondere die Modalitäten der beiden Kategorien Stimme und Fokalisierung, durch die eine grundlegende Modellierung des narrativen Raumes erfolgt. Die Karte als topographisches System, das nach de Certeau an die Perspektive eines »Voyeur-Gott‡es™« 59 gebunden ist, wird dabei primär durch den Typus der Null- oder Nichtfokalisierung, die anthropologische Sprache des Raumes, die der marcheur generiert, durch die Kombination eines homodiegetischen Erzählers (der körperlich Teil der von ihm erzählten Welt ist) mit dem Typus der internen Fokalisierung oder Mitsicht narrativ realisiert. Die Materialität des Raumes wird in diesem Zugang nicht ignoriert, es wird lediglich deutlich, dass es kulturell vermittelte räumliche Strukturen sind, nach denen sich Körper im Raum ausrichten und Kulturen verräumlicht werden. Raum entsteht durch die Materialisierung kultureller Ordnungen und seine Materialität ist nur in diesen bzw. durch diese erfahrbar. 60 59 Zit. Anm. 16, Certeau, Kunst, S. 181. 60 Der Beitrag entstand im Rahmen des durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderten Forschungsprojekts 11820: »Literatur und/ als Ethnographie. Zur diskursiven Konstruktion des Anderen am Beispiel Galiziens (1772-1918)« (Projektleitung: Ingrid Spörk). BH 10 Book.indb 39 22.8.2008 22: 10: 23 BH 10 Book.indb 40 22.8.2008 22: 10: 23 II. DIE BÜHNE DER NATION BH 10 Book.indb 41 22.8.2008 22: 10: 23 BH 10 Book.indb 42 22.8.2008 22: 10: 23 K ÁLMÁN K OVÁCS (D EBRECEN ) Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz Eine Fallstudie Vieles wurde von der »hybride‡n™ Verfasstheit des zentraleuropäischen kulturellen Raumes« 1 gesagt, worauf ich hier nicht detailliert eingehen kann. Ich verweise nur darauf, dass die Kodierung von kultureller Differenz auch die Setzung von hierarchischen Ordnungen bedeutet, dass die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern ein Machtkampf ist, da die Symbolisierung, wie es Müller-Funk formulierte, als »funktionales Element von Herrschaft« angesehen werden soll. 2 Unter diesem Aspekt betrachtet Clemens Ruthner in der »Skizze« des Forschungsprojekts Herrschaft, Ethnische Differenzierung und Literarizität in Österreich-Ungarn 1867-1918 den österreich-ungarischen Ausgleich und die Gründung der österreich-ungarischen Monarchie (1867). Ungarn wurde demnach »von einem beherrschten Territorium zum mitherrschenden Teilreich der Doppelmonarchie«. 3 Der Fall Pyrker lässt die Bedeutungsvielfalt der beiden Thesen sichtbar werden. Einerseits wird offensichtlich, dass das multiethnische, sprachliche und -kulturelle Königreich Ungarn im Habsburgerreich unterschiedliche Phasen erlebte, dass der dritte Raum einem historischen Wandel unterlag. Auf der anderen Seite zeigt Pyrkers Fall, dass die kulturelle Repräsentation möglicherweise nicht nur offensiv, mit »kolonistischer« Dominanzabsicht, sondern eventuell auch defensiv erfolgen kann. Ein Blick auf die Hybriditätsformen um 1800 zeigt den Unterschied zum späteren verschärften Machtkampf. Um 1800 blühte in Ungarn ein Hungarus-Patriotismus auf, der eine vom Reichspatriotismus geprägte Vorstellung der Nation war. 4 Im Jahre 1801 erschien in Pest der deutschsprachige Almanach einiger Freunde ungarischer Musen, dessen Herausgeber, Christopher Rösler (1773-1837), im Vorwort folgende Bemerkungen vorausschickt: 1 Helga Mitterbauer - András Balogh: Zentraleuropa. Ein hybrider Kommunikationsraum, Wien 2006, S. 7. 2 Wolfgang Müller-Funk: Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur. In: Wolfgang Müller-Funk - Peter Plener - Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie (= Kultur - Herrschaft - Differenz. Hrsg. v. Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk, Klaus R. Scherpe), Tübingen - Basel 2002, S. 14-32, hier S. 14. 3 Clemens Ruthner: Kulturelle Imagines und innere Kolonialisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder. In: Moritz Csáky - Klaus Zeyringer (Hg.): Inszenierung des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder, Innsbruck - Wien etc. 2002, S. 30-54, hier S. 31. 4 László Tarnói: Parallelen, Kontakte und Kontraste. Die deutsche Lyrik um 1800 und ihre Beziehungen zur ungarischen Dichtung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, Budapest 1998, S. 308. BH 10 Book.indb 43 22.8.2008 22: 10: 23 44 Kálmán Kovács Auswärtige Rezensenten bitten wir um schonende Aufmerksamkeit auf das neue Ereigniß der ungrischen Literatur. Übrigens empfiehlt sich diese Anstalt und ihre Fortdauer der Unterstützung und dem Patriotismus unseres Vaterlandes, der wahrlich nicht ächter sein kann ‡! ™, als wenn er zur Erhöhung einheimischer Kultur thätig ist. 5 Im Vorwort Röslers wird (1) eine deutschsprachige Buchausgabe als »Ereigniß der ungrischen Literatur«, (2) die deutschsprachige Kultur als »einheimische Kultur« des Vaterlandes bezeichnet. »Ungrische« Literatur und Vaterland werden hier nicht sprachlich-kulturell definiert, alle Untertanen der ungarischen Krone, unabhängig von der ethnisch-kulturellen Herkunft, bilden eine Gemeinschaft im gemeinsamen »Vaterland«. Dies soll dabei zu keinem »multikulturellen Kitschbild der gleichberechtigten, ’um den Thron des Kaisers gescharten’ Völker« führen. 6 Der Hungarus-Patriotismus schließt die Symbolbildungen von kulturellen Asymmetrien auch nicht aus. Für den ungarischsprachigen literarischen Diskurs war die Sprache zwar konstituierend, es gab aber keine weiteren ungarischen »Originalitätsansprüche«. 7 Am 9. Februar 1812 wurde beispielsweise das Deutsche Theater in Pest eröffnet, damals das größte deutsche Theater in Europa. Ursprünglich plante man eine Eröffnung mit dem Stück Bélas Flucht von Kotzebue. 8 Da aber die Flucht eines Herrschers im Jahre 1812 noch sehr nahe Erinnerungen hervorrief, »wurde das Drama eines unbekannten Verfassers, Die Erhebung von Pest zur königlichen Freistadt, gegeben«. 9 Das Vorspiel war Kotzebues Ungarns erster Wohltäter, ein Spiel über den ungarischen Gründungsvater König St. Stephan, als Nachspiel kam Die Ruinen von Athen auf die Bühne, ebenfalls von Kotzebue. Die Musik zu beiden Texten »lieferte« Beethoven. 10 Dies zeigt einerseits, dass die deutsche Gemeinschaft, die in Ofen bekanntermaßen keine Minderheit, sondern die entscheidende Mehrheit war, sich als 5 Ebenda, S. 312. 6 Zit. Anm. 2, Müller-Funk, Verhältnis, S. 23. 7 In der Konzeption von János Horváth (1878-1961), dem führenden Literaturhistoriker der Zwischenkriegszeit, gibt es drei Phasen der nationalen Ausdifferenzierung. In der ersten dominierten Übersetzungen und das Ziel war es, dass die ungarische Sprache als literarische Sprache überhaupt benutzt wird. Dazu bemerkt Horváth, dass diese Literatur »nach heutigen Begriffen« außer der Sprache kaum ungarische Züge hatte. János Horváth: A magyar irodalom fejlo”déstörténete, Budapest 1976, S. 33. 8 Stoff des historischen Schauspiels ist die Flucht von König Béla IV. (reg. 1235-1270). Der König von Ungarn und Kroatien fand 1241 vor den Tataren an der kroatischen Adriaküste in Trau (kroat. Trogir) Zuflucht. Die kroatische Adaptation des Stückes wurde in Kroatien erfolgreich gespielt. Marijan Bobinac: Begehrt, verschwiegen, verabscheut. August von Kotzebue auf der kroatischen Bühne, Zagreber Germanistische Beiträge, 15/ 2006, S. 15-52, hier S. 35 f. 9 Jolán Pukánszky-Kádár: Geschichte des deutschen Theaters in Pest und Ofen. In: Hedvig Belitska-Scholtz - Olga Somorjai: Deutsche Theater in Pest u. Ofen 1770-1850. Bd. 1-2, Budapest o. J. ‡2004™, S. 11-35, hier S. 16. 10 König Stephan, op. 117 und Musik zu August von Kotzebues Festspiel Die Ruinen von Athen für Solostimmen, Chor und Orchester, op. 113. Siehe das Digitale Archiv des Beethoven-Hauses Bonn: http: / / www. beethoven-haus-bonn.de. Ferner: Pukánszky-Kádár, 15 und Ferenc Kerényi: Katona József dilemmái. In: Mihály Szegedi-Maszák - Veres, András (Hg.): A magyar irodalom történetei 1800-tól 1919-ig, Budapest 2007, S. 184-195, hier S. 185. Vgl. auch den Bericht der Wiener Zeitung vom 19. 2. 1812 (http: / / anno.onb. ac.at/ ). BH 10 Book.indb 44 22.8.2008 22: 10: 23 Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz 45 Hungarus inszenieren wollte. 11 Andererseits wurde das deutschsprachige Stück eines deutschen Autors für das deutsche Theater von der ungarischen Theaterszene nicht als etwas Fremdes betrachtet, sondern geradezu als Konkurrenz empfunden. Die damalige ungarische Theatergruppe in Pest wollte Schritt halten und selber ein ungarisches St. Stephan-Stück in ihr Repertoire aufnehmen. Bald wurde das entsprechende Stück gefunden, und zwar das deutschsprachige Drama von Franz Xaver (Xavier) Girzick mit dem Titel Stephann, der erste König der Hungarn. 12 Das Stück über König St. Stephan wurde 1813, am Vorabend des Stephantages in ungarischer Sprache aufgeführt, und damit wurden die nationalen Bedürfnisse der Ungarn vollständig gestillt. Wo sind hier die Trennlinien? Wurden die übersetzten Stücke als Produkte einer fremden Kultur empfunden? Wie wurde hier Fremdes und Eigenes kodiert? Generell können wir behaupten, dass der Unterschied im Vergleich zu den späteren Verhältnissen nicht sehr prägnant war. Kaum etwas, was in ungarischer Sprache vorgetragen wurde oder zumindest stofflich als ungarisch betrachtet werden konnte, wurde als Fremdes empfunden. Offensichtlich war man noch auf der Suche nach einem eigenen kulturellen Code. Dieser Zustand änderte sich aber schnell: Die Markierung von kultureller und sprachlicher Differenz wurde rigoroser und der Schwerpunkt verlagerte sich auf die Sprache. Dies bedeutete in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Ungarn durch Exklusion nichtungarischer Ethnien und Sprachen sich zum alleinigen Repräsentanten der ungarischen Nation erklärten, die eigentliche Wende. Im Schnittpunkt dieser Entwicklung stand unter anderem Johann Ladislaus Pyrker von Felso”-Eo”r (1772-1847), der Patriarch Erzbischof von Erlau (Eger), Autor von deutschsprachigen Dramen, Epen und Gedichten. Um ihn entbrannte eine der ersten literarischen Streitigkeiten Ungarns. Unmittelbarer Anlass dafür war Pyrkers Werk Perlen der heiligen Vorzeit 13 (1821), eine Sammlung von alttestamentarischen Erzählungen in Hexametern. Der Dichter Ferenc Kazinczy (1759-1831), Repräsentant und Doyen der vorromantischen Generation, übersetzte einen Teil von Pyrkers Perlen in Prosa, wodurch der Streit ausgelöst 11 Anders hätte es auch nicht gewesen sein können: Das »königlich städtische Schauspielhaus« (Wiener Zeitung, wie oben) wurde zum Geburtstag des Königs eröffnet. 12 Franz Xaver Girzick (Gir`ik), ursprünglich Franti{ek Jirˇík (1760-1813), war Opernsänger, Schauspieler, Übersetzer und Autor. Er wurde in Prag geboren, wirkte 1783 im Theater in der Leopoldstadt (Wien), dann mehrere Jahre in Pressburg (1784-1788) und seit 1789 in Ofen und Pest. László Tarnói: Ungarnimage um 1800. Ungarn - Heimat und/ oder Fremde - auf deutsch, Palimpszeszt, 9/ 1998, http: / / magyar-irodalom. elte.hu/ palimpszeszt/ 09_szam/ 12.htm. Richard Pra`ák: Das Wirken von Frantisek Xaver Jirˇík am deutschen Theater in Ofen und in Pest in den Jahren 1789-1813, http: / / www.europainstitut.hu/ pdf/ beg11/ prazak. pdf. Die deutsche Variante des Namens auf dem Titelblatt des Stückes war Girzick. Vgl. in László Tarnói (Hg.): Die täuschende Copie von dem Gewirre des Lebens. Deutschsprachige Dramen in Ofen und Pest um 1800 (= Deutschsprachige Texte aus Ungarn 2. Hrsg. v. András Balogh und László Tarnói), Budapest 1999, S. 115. 13 Das Werk wurde von demselben wohltätigen Frauenverein herausgegeben, welcher im Jahre 1818 eine Übersetzung von Körners Zriny bestellt hatte und der das Stück als Laienaufführung auf die Bühne brachte. Vgl. dazu Kálmán Kovács: Die Rezeption von Theodor Körners Zriny und die Konstruktion von nationalen Mythen im 19. Jahrhundert, Zagreber Germanistische Beiträge, Beiheft 9/ 2006, S. 89-98, hier S. 114. Vgl. auch das Titelblatt von Johann Ladislav Pyrker (1821): Perlen der heiligen Vorzeit, Ofen 1821. BH 10 Book.indb 45 22.8.2008 22: 10: 23 46 Kálmán Kovács wurde. Einerseits wurde darüber diskutiert, ob Verse in Prosa übersetzt werden dürften, andererseits ging es um die Bestimmung nationaler Literatur. Auf Grund einer sprachlich-kulturell definierten nationalen Literatur wurde Pyrker vorgeworfen, dass er nicht in ungarischer Sprache geschrieben habe, und Kazinczy wurde gerügt, weil er dieses »unpatriotische« Verhalten durch seine Übersetzung unterstützt hatte. In der vorliegenden Arbeit wird nicht der Pyrker-Streit, sondern Pyrkers retrospektiver Blick in seinen Erinnerungen Mein Leben 14 (geschrieben 1846-47) dargestellt. Als These möchte ich vorausschicken, dass Pyrker retrospektiv die Kodierung und Markierung der ansonsten erlebten kulturellen Differenz verweigern will. Er wollte das »Rohmaterial« offensichtlich manipulieren und so sein eigenes Bild bewusst steuern. So muss der Bericht über diese Verweigerung gelegentlich darüber erzählen, was alles in Pyrkers Memoiren nicht erzählt wird. Erst vor der Folie des Verschwiegenen werden die Stellen der Verweigerung deutlich. Johann Ladislaus Pyrker von Felso”-Eo”r (Nagyláng, 1772-1847 ‡Wien™) war eine interessante Figur der Habsburger-Monarchie. Die Herkunft der deutschen Familie ist nicht geklärt. Pyrker wurde in Nagyláng (Westungarn) geboren, wo der Vater als Oberverwalter der Grafen Zichy arbeitete. Der Adelsstand und der adelige Name Felso”-Eo”r, den er nach der Ernennung zum Bischof von der Zips angenommen hatte, 15 stammt von einem Verwandten aus dem heute burgenländischen Oberwart, nach heutiger ungarischer Orthographie Felso”o”r. Pyrker besuchte 1780-1787 die von Paulinern geführte Mittelschule in Stuhlweißenburg (ung. Székesfehérvár), wo der Unterricht in lateinischer Sprache erfolgte. 16 In der ungarischen Philologie gab es Spekulationen darüber, ob der junge Pyrker überhaupt Deutsch sprach, da er in einer selbstbiographischen Notiz Ähnliches andeutete. Von der Anstellung in der Ofener Kanzlei heißt es: Doch ward ich dort in der sogenannten Hauptkanzlei nicht gleich aufgenommen und einstweilen nicht einmal zum Abschreiben für fähig erklärt, da ich nicht eine Zeile korrekt deutsch zu schreiben im Stande war; ich musste daher die deutschen Buchstaben erst nachmalen lernen und mich in der Sprache selbst befleißigen. 17 Wir können die Fragen um Pyrker nicht mit Sicherheit beantworten, da seine Erinnerungen unzuverlässig sind, und genauere Forschungen noch ausstehen. Auf jedem Fall dürfen wir aber annehmen, dass Pyrker zweisprachig aufgewachsen ist. Wir wissen, dass er ungarisch sprach, dass er die Sprache als Kind und 14 Johann Ladislaus Pyrker: Mein Leben. 1772-1847. Hg. v. Aladar Paul Czigler (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Historische Komission: Fontes Rerum Austriacarum. Österreichische Geschichtsquellen. I. Abteilung: Scriptores. Bd. 10), Wien 1966. 15 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 1, 269. 16 Roland Dobersberger: Johann Ladislaus Pyrker. Dichter und Kirchenfürst, Wien 1997, S. 24; Magyar Pedagógiai Lexikon I-II. Bd. II, Budapest 1934, S. 474. 17 Selbstbiographische Notizen für J. H. Jäck. In: Aladar Paul Czigler: Einleitung. In: J. L. Pyrker: Mein Leben. Hg. v. A. P. Czigler, Wien 1966, S. XXI-XLVI, hier S. XXXIII. BH 10 Book.indb 46 22.8.2008 22: 10: 23 Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz 47 Schüler erlernen musste, weil er nach der Schule und einem einjährigen Aufenthalt in Buda außerhalb Ungarns lebte. In der Paulinerschule lehrten darüber hinaus zwei bedeutende (ungarische) Dichter der Zeit: Pál Ányos (1756-1784) und Benedek Virág (1754-1830). Ein ungarisches Abschiedsgedicht des sterbenden Lehrers und Dichters Ányos behielt Pyrker jahrzehntelang in Erinnerung und publizierte es 1821. 18 Was seine Deutschkenntnisse betrifft, können wir davon ausgehen, dass er in einer ungarndeutschen Familie um 1800 Deutsch lernte. Darüber hinaus wohnte er in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) jahrelang »in einem honetten deutschen Bürgerhause in Kost und Wohnung«. 19 In Ofen (Buda) lebte er bei einem »deutschen Herrn, Reisinger, einem von Wien dahin versetzten Beamten«, 20 und »verschlang« dessen Bücher. Er las u. a. Wieland, Klopstock, Goethe, Lessing und Schiller. 21 Es ist schwer anzunehmen, dass ein Anfänger Schiller, Wieland und Klopstock »verschlingt«. In Cziglers Interpretation bezieht sich Pyrkers Bemerkung auf die Orthographie und nicht auf die Sprachkenntnisse, was nicht unplausibel ist. 22 Der Hinweis auf die mangelnden Sprachkenntnisse verschwindet übrigens in den späteren Erinnerungen. Nach einem anderthalbjährigen Aufenthalt in Ofen (Buda) finden wir den jungen Pyrker, der immer Soldat werden wollte, plötzlich als Novize im Stift Lilienfeld bei St. Pölten. Nach einem Probejahr und drei weiteren Jahren im Priesterseminar wurde er 1796 zum Priester geweiht. Nach etwa fünfzehn Jahren, die man aufgrund der Napoleonischen Kriege wohl nicht als stille Jahre bezeichnen kann, wurde er 1812 Abt im Stift Lilienfeld. Zu dieser Zeit kam er in Kontakt mit Caroline Pichler, die ihn in ihren Erinnerungen öfter erwähnte. In Lilienfeld entwickelte Pyrker eine österreichische Reichsidentität, 23 ehrte den Kaiser und die kaiserliche Familie über alles und wurde »ein treuer Diener seines Herrn«. In der Beschreibung einer Reise aus Italien über Innsbruck nach Gastein (1822) heißt es in den Erinnerungen: Als ich hinter Trient nach mehr als anderthalb Jahren wieder in das erste deutsche Dorf kam, ringsum wieder Berge und Tannen und Wildbäche wie in Österreichs Gebirgen ersah, und insbesondere jetzt das erste Mal das teure Land meiner Voreltern betrat, da wurde es in mir rege; es sang und klang alles um mich her, und ich fühlte mich so überselig, daß ich jeden Baum am Wege in der Freude meines Herzens hätte umfassen mögen. So konnte es nicht lange bleiben. Ich ahnte es, ein bedeutender Augenblick meines Lebens sei nun wieder gekommen. Ich suchte in meiner Rocktasche nach einem reinen Blatt Papier, ergriff das Reisblei und entwarf den Plan zu einem neuen Epos - zu »Rudolph von Habsburg« ‡...™. 24 18 Ebenda, S. XXX. 19 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 2. 20 Ebenda, S. 4. 21 Ebenda, S. 5. 22 Zit. Anm. 17, Czigler, Einleitung, S. XXI. 23 István Bitskey: Johann Ladislaus Pyrker und die europäische Literatur, Jura Soyfer. Zeitschrift der Jura Soyfer-Gesellschaft, Nr. 3, 4/ 1995, S. 4-6, hier S. 5. 24 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 113. BH 10 Book.indb 47 22.8.2008 22: 10: 23 48 Kálmán Kovács Der Reichspatriot machte in kurzer Zeit eine steile Karriere: 1818 ernannte ihn der Kaiser zum Bischof von der Zips 25 (ung. Szepes, slow. Spi{). Drei Jahre später sehen wir ihn bereits als Patriarch von Venedig und 1827 wurde er schließlich »Patriarch Erzbischof« von Erlau (ung. Eger). In diesen Stationen durchläuft er den hybriden Kulturraum Zentraleuropas und wird damit auch wider Willen konfrontiert. Aus Lilienfeld, gewissermaßen aus dem Zentrum der dominanten Kultur, kommt Pyrker an das »Ende der Welt«, in eine entlegene Provinz des Königreichs Ungarn, in die Gespanschaft Zips mit dem Bischofsitz Zipser Kapitel (slow. Spi{ská Kapitula, ung. Szepeshely oder Szepeskáptalan). 26 Der Bischofsitz Zipser Kapitel bestand eigentlich nur aus den Gebäuden des Kapitels, die eigentliche Ortschaft Kirchdorf (ung. Szepesváralja, slow. Spi{ské Podhradie) hatte im Jahre 1841 insgesamt 3144 deutsche und slowakische, überwiegend katholische Einwohner. 27 Pyrker wollte in den Erinnerungen auch nach zwanzig Jahren nicht verschweigen, wie verzweifelt er die Ernennung in die Zips aufgenommen hatte: »Vor Schrecken ließ ich den Brief aus den Händen fallen und warf mich auf den Boden, meines Zimmers, auf das Antlitz, verhüllte es mit beiden Armen und weinte lange Zeit fort.« 28 Und von der Reise zur neuen Dienststelle heißt es: »Mit heißen Tränen überschritt ich am 10-ten Mai die Grenze des Zipßer Komitats ‡...™. ‡es™ lag auch ein tiefes Heimweh mir im Herzen, das sich nach Österreichs weit hinter mir liegenden Gebirgstälern zurücksehnte.« 29 Die Bevölkerung der Zips war ethnisch gemischt. Nach Angaben von Fényes lebten in der Gespanschaft 1841, etwa zwanzig Jahre nach Pyrkers Zeit, 191.523 Menschen. Die Mehrheit der Bevölkerung war slowakisch (98.951), ca. ein Drittel deutsch (68.833) und etwas über zehn Prozent ruthenisch. Darüber hinaus wurden 2043 Juden und 500 Ungarn verzeichnet. 30 Dies ist nur deswegen interessant, weil von dieser bunten Mischung in den Erinnerungen kaum etwas sichtbar wird. Venedig war für das Zipser Bistum eine Art Aufstieg, und zugleich eine ambivalente Situation. Pyrker war ja vom österreichischen Kaiser ernannt worden und vertrat damit in gewissem Sinne die »Unterdrücker«. Er berichtet darüber, wie er einen zum Tode verurteilten Priester aus der Carbonari-Bewegung »der priesterlichen Würde entsetzen« musste. 31 Andererseits hatte der Kolonist beinahe Minderwertigkeitsgefühle, und er überlegte, wie ihn die Anderen anerkennen würden, »da man es sich lange Zeit nicht erklären konnte, wie ihnen ein 25 Das Bistum Zips umfasste drei damalige Gespanschaften (Verwaltungseinheiten): Zips, Liptau und Arva. (Mein Leben, 89). Die Gebiete liegen heute in der Slowakischen Republik. 26 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 292, Anm. 5a. 27 Elek Fényes: Magyarország geographiai szótára. Bd. 3, Pest 1851, S. 122. 28 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 80. 29 Ebenda, S. 88. 30 Alexis Fényes: Ungarn im Vormärz. Nach Grundkräften. Verfassung, Verwaltung und Kultur, Leipzig 1851, S. 40. 31 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 124. BH 10 Book.indb 48 22.8.2008 22: 10: 23 Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz 49 solcher aus Ungarn zukommen sollte«. 32 Schließlich fühlte er sich durch seine italienischen Sprachkenntnisse legitimiert: »Da ich an jenem Tage von einer besonderen Heiterkeit beseelt fertig italienisch mit allen wie ein längst Bekannter sprach, so war, dem Himmel sei dank, mein Glück bei ihnen gemacht, und ich fand meine seither beklommene Brust auf einmal erleichtert.« 33 Pyrker genoss in Venedig Land und Leute, den Reichtum kultureller Denkmäler und Institutionen und vor allem die Kunstszene. Der Erzbischof von Erlau gehörte zwar zu den höchsten Würdenträgern Ungarns, aber Erlau war nach Venedig im kulturellen, kirchen- und weltpolitischen Sinne doch ein Rückschritt, den er auch als solchen erlebt hat. Die Nachricht von der Ernennung zum Erzbischof in Erlau, kam so unerwartet und so tief ergreifend, daß ich meinte, durch die Trennung von Venedig müsste ich von dem Leben scheiden. Es ist sonst wohl eine schöne Sache, in sein Geburtsland zurückkehren zu können, allein ich, der ich in den meinigen eine so wenig frohe Jugend genoß, 34 der ich von meinem zwanzigsten Jahre an in dem freundlichen Österreich ‡...™ verlebte und im ganzen bereits sechsunddreißig Jahre in glücklichen Verhältnissen von jenem abwesend war, wusste mich für jene Idee nicht zu begeistern ‡...™. 35 Er sieht und markiert auch die kulturellen Differenzen. Über Erlau heißt es in einem Brief: Ein stilles Städtchen auf das lärmende Venedig, wohin ich mich in vieler Hinsicht, besonders in jener des Lebens in der Kunstwelt zurücksehnte! ! - Zu tun gibt es genug in einer Diözese von beinahe achtmalhunderttausend Seelen, worunter aber gegen dreißigtausend Kalviner und gegen zwanzigtausend Lutheraner nebst fünfzehntausend Juden begriffen sind. Hier ist das eigentliche Ungarn und allüberall die ungarische Sprache die herrschende. Von der deutschen will man hier und weithin rings nichts hören, folglich können Sie sich vorstellen, wie es in Hinsicht der Literatur aussieht. 36 Hier hätte er also im Vergleich zu Venedig mehr Möglichkeit gehabt, seine Dominanz als Träger und Vertreter einer hegemonialen Kultur zu demonstrieren, aber er tat es, zumindest laut seinen Erinnerungen, nicht. Zu den Erinnerungen kommend möchte ich betonen, dass es hier nicht mehr um Johann Ladislaus Pyrker, den Abt von Lilienfeld, Bischof von der Zips etc. geht, sondern um den Narrator in seinen Erinnerungen. Wir wissen ja, dass Memoiren gewissermaßen fiktiv sind, worauf ich aber hier nicht näher eingehen kann. Die Erinnerungen schrieb Pyrker kurz vor seinem Tod 1846-47 und ausdrücklich mit dem Ziel, sein Bild nach dem Tod zu steuern: »Sie ‡die Selbstbiographie, K. K.™ sollte vorzüglich dazu dienen, so manches Unhaltbare, was nach meinem Tode 32 Ebenda, S. 101. 33 Ebenda, S. 101. 34 Ansonsten erwähnt Pyrker seine unglückliche Jugend nicht. 35 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 140. 36 Zit. in: zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 317. BH 10 Book.indb 49 22.8.2008 22: 10: 23 50 Kálmán Kovács über mich verbreitet werden könnte, im voraus zu berichtigen.« 37 Aus anderen Briefen geht eindeutig hervor, dass er die Erinnerungen in die späteren Ausgaben der Gesammelten Werke aufnehmen wollte. 38 Es ist nicht geklärt, warum es nicht dazu kam. Die als These erwähnte Verweigerung kultureller Differenzen bedeutet näher, dass Pyrker (1) die Spuren jeglicher sprachlich-kulturellen Hybridität des Reiches verwischen will, (2) dass er versucht, alle seine Beziehungen zur ungarischen Literatur unsichtbar zu machen, und (3) dass er über politische Konflikte nicht berichten will. Der junge Pyrker wuchs im Medium von drei Sprachen (Deutsch, Ungarisch, Latein) auf. In der Beschreibung der Schulzeit lesen wir zwar kurze Hinweise auf die erwähnten deutschen Hausherren, aber ansonsten nichts von Kommunikation und Sprachen. Von dem Aufenthalt in Pest und Ofen erwähnt er auch, dass er damals »zu schriftstellern begann«, 39 aber er verschweigt, in welcher Sprache er dies getan und was er geschrieben hat. Es ist ebenfalls möglich, dass er gerade an etwas schrieb, dessen Spuren er später auslöschte. 1810 veröffentlichte er in Wien den Band Historische Schauspiele mit drei Dramen, die historische Themen aus der Geschichte Ungarns und Kroatiens behandelten. Hier erschien auch sein Zrínyi-Stück, das Theodor Körner wahrscheinlich als Quelle benutzte. In den Erinnerungen lesen wir aber über seine literarischen Aktivitäten im Jahre 1810 nur Folgendes: Ich fühlte es in meinem Innersten, nun sei die Stunde gekommen, an mein lang beabsichtigtes Werk, das epische Gedicht »Tunisias«, Hand zu legen. ‡...™ So gelang es mir bei einer fortgesetzten Anstrengung ‡...™ von dem Frühjahr 1810 bis zu jenem des folgenden Jahres mit dem elften Gesange zu Ende zu kommen. 40 Pyrker erzählt zwar über seine schriftstellerischen Aktivitäten, aber nichts über die »ungarischen« Dramen. Dabei war der Autor an seinem Dramenband nicht uninteressiert. 1810 schrieb er in dieser Angelegenheit drei Briefe an seinen ehemaligen Professor in Stuhlweißenburg, an den Dichter Benedek Virág, einen sogar in ungarischer Sprache. Virág schrieb seinerseits an den Dichter Ferenc Kazinczy und bat ihn, den Band zu rezensieren, was jener auch tat. 41 Pyrker verschweigt später also mit Absicht seine ungarische literarische Ader. Die Historischen Schauspiele werden in die Sämmtlichen Werke nicht aufgenommen, werden nicht erwähnt und die Ausgabe gilt heute als absolute Rarität. Wir wissen, dass die ungarischen Briefe Pyrkers verschwunden sind 42 und laut Dobersberger hat Pyrker auch »sämtliche Familiendokumente vernichtet«. 43 Auch in 37 Brief Pyrkers v. 28. Jan. 1847, zit. in: zit. Anm. 17, Czigler, Einleitung, S. XXV. 38 Zit. Anm. 17, Czigler, Einleitung, S. XXV f. 39 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 5. 40 Ebenda, S. 53 f. 41 In der Zeitschrift Hazai és Külföldi Tudósítások am 30. März 1811. Mária Kajtár: Pyrker János László és a magyar irodalom. In: Pyrker Emlékkönyv. Hg. v. György Hölvényi, Eger 1987, S. 179-194, hier S. 182. 42 Zit. Anm. 17, Czigler, Einleitung, S. XXVII. 43 Roland Dobersberger: Johann Ladislaus Pyrker. Dichter und Kirchenfürst, Wien 1997, S. 175. BH 10 Book.indb 50 22.8.2008 22: 10: 23 Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz 51 der Selbstbiographie wollte Pyrker »absichtlich jede Beziehung zu ungarischen Persönlichkeiten meiden«. 44 Tatsächlich finden wir kaum Hinweise auf die ungarische Kulturszene, deren Teil er trotz alledem war. Seine deutschen Texte waren ja bekannt, er war ein angesehener Kirchenfürst, Mäzen, Mitbegründer des Nationalmuseums in Pest und u. a. Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Dass dies in den Erinnerungen nicht sichtbar wird, ist das Ergebnis eines Konzepts. Die Homogenisierungsabsicht hat auch eine narratologisch-theoretische Dimension. Die natürliche Sprache, in der ein fiktionaler Text geschrieben worden ist, ist unabhängig von jener Sprache, die die Figuren sprechen. Hamlet sollte eigentlich dänisch sprechen, aber das Publikum wird weder durch den englischen Originaltext, noch durch eine deutsche oder ungarische Übersetzung verwirrt. Erst wenn die Sprache thematisiert wird, nehmen wir sie wahr. Wenn der Wechsel der Sprache im Bericht nicht kenntlich gemacht wird, so funktioniert die Erzählsprache als Mittel zur Homogenisierung, wie etwa die Versrede, worüber Schiller Folgendes formulierte: Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Produktion noch dieses Große und Bedeutende, daß er, indem er alle Charaktere und alle Situationen nach einem Gesetz behandelt und sie, trotz ihres innern Unterschiedes, in einer Form ausführt, er dadurch den Dichter und seinen Leser nötiget, von allem noch so charakteristisch Verschidenen etwas Allgemeines, rein Menschliches zu verlangen. 45 Eine ähnlich homogene Ordnung suggeriert Pyrkers Erzählung, wenn der Wechsel zwischen den Sprachen nicht erwähnt und angezeigt wird. Kaiser Franz I. erklärte Pyrker vor dessen Ernennung in die Zips, er höre mit Freude, dass Pyrker ungarisch könne, da es für einen Bischof in Ungarn nützlich sein könnte. 46 Bei den Reden und Ansprachen in Ungarn wird hingegen selten angegeben, welche Sprache gerade gesprochen wird. Lakonisch heißt es nur etwa: »Der Domprobst hielt dort die gewöhnliche Begrüßungsrede, und ich darauf meine erste Anrede an alle Gläubigen meiner Diözese«. 47 In welcher Sprache? - Dies scheint für den Erzähler irrelevant zu sein. Dabei kommen in der Zips Latein, Deutsch, Ungarisch und Slowakisch in Frage. Die Amtssprache war Latein, die politische Führungselite war in großem Maße magyarisch, die bedeutenderen Städte, die sechzehn Zipser Bergbaustädte, waren deutsch und die Mehrheit der Bevölkerung sprach slowakisch. Pyrker war sich der ethnischen Vielfalt seiner Diözese selbstverständlich bewusst, aber es wird in den Erinnerungen kaum thematisiert. 48 Dass Pyrker nicht gerne über die sprachlichen Differenzen sprach, zeigt sich auch an den Berichten über seine Dorfschullehreranstalten (Präparandenanstalten), die er sowohl in der Zips als auch in Erlau gründete. Nicht von Pyrker wis- 44 Zit. Anm. 17, Czigler, Einleitung, S. XXVII. 45 Schiller an Goethe, Jena, 24. 11. 1797. 46 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 80. 47 Ebenda, S. 89. 48 Ebenda. BH 10 Book.indb 51 22.8.2008 22: 10: 23 52 Kálmán Kovács sen wir, dass die Unterrichtssprache in der Zipser Schule deutsch und slowakisch war. 49 Nur in der Erlauer Schule war die Unterrichtssprache ungarisch. In der Forschung zur Bildungsgeschichte in Ungarn gilt deswegen die Erlauer Schule als die erste ungarische Anstalt dieser Art. Im Gegensatz zu den Berichten aus Ungarn spricht Pyrker relativ viel über sprachliche Differenzen im italienischen Kontext. Meistens sind es Situationen, in denen die Kommunikation in einer nichtdeutschen Sprache (Italienisch oder Französisch) Schwierigkeiten bereitete, oder wenn die erfolgreiche Diskussion in der Fremdsprache eine Legitimation, oder gar ein Erfolg für ihn ist. Ich erinnere dabei an die bereits zitierte Stelle, in der er mit den Venezianern italienisch sprach, »wie ein längst Bekannter«. Im Ausdruck »Bekannter« leben hier das Fremde und das Eigene nicht etwa in friedlicher Koexistenz miteinander, sondern die Differenz wird eliminiert. Dort also, wo es im Text narratologisch gesehen um die Markierung von sprachlicher Differenz geht, handelt es sich im xenologischen Sinne auch um die Eliminierung der kulturellen Differenz. Politische Konflikte erlebte er auch in Venedig, aber es fällt auf, dass er gerade diejenigen in Ungarn verschweigt. Es ist deswegen auffallend, da er als Erzbischof von Erlau (Eger) nicht nur Kirchenfürst, sondern auch Inhaber der weltlichen Macht war. Wir wissen, dass er in den Komitatssitzungen, in denen er den Vorsitz hatte, sehr starke, an Rebellion grenzende Konflikte erlebte. Der Erzbischof gehörte darüber hinaus zu den höchsten Würdenträgern des Königreichs Ungarn; er war u. a. Mitglied des Oberhauses im Landtag. Bei der Krönung von Erzherzog Ferdinand zum König von Ungarn (Sept. 1830) spielte Pyrker daher z. B. eine eminente Rolle. Er führte mit Ignaz Graf Gyulai, dem Ban von Kroatien, eine Deputation der Stände an, die den Kaiser begrüßte, und war zugleich der Wortführer. Zusammen mit dem Apostolischen Nuntius Spinola empfing er später den Kaiser auf der Treppe des Pressburger Domes und assistierte dem Primas regni bei der Krönung des Königs. 50 Es wäre also nicht ganz verkehrt, von dem Erzähler ein gewisses Interesse für die Öffentlichkeit und die Gesetzgebung zu erwarten, aber dieser verweigert hartnäckig den Bericht über politisch-soziale Konflikte, ja er schaltet die politische Erinnerung völlig aus. Er erwähnt zwar in raschem Nacheinander die Landtage von 1833, 1834, 1835. Von dem Landtag 1833 lesen wir aber nur den einzigen Satz: »Im Monat Dezember fuhr ich auf den bereits früher ausgeschriebenen Landtag, dessen Dauer sich leider bis in das vierte Jahr hinausdehnte.« 51 Im Bericht über das Jahr 1834 heißt es kurz: »Außer der Teilnahme an den Landesverhandlungen hatte ich mich heuer in Hofgastein während der Kurzeit mit einem neuen Haus 49 Emil Benkóczy: Pyrker elso” magyar tanítóképzo”je. Az egri érseki r. k. tanítóképzo” centenáriumára. Adatok a tanítóképzés történetéhez, Eger 1828. Zit v. Kálmán Fericsán: Tanítómesterek, mestertanítók, Budapest - Pécs 2000, http: / / mek.oszk.hu/ 01900/ 01900/ 01900.pdf. 50 Dobersberger, S. 346 f., [tefan Hol~ík: Pozsonyi koronázási ünnepségek 1530-1830, Bratislava 2005, S. 60; Wiener Zeitung, 14. 9. 1830. 51 Zit. Anm. 14, Pyrker, Mein Leben, S. 164. BH 10 Book.indb 52 22.8.2008 22: 10: 23 Johann Ladislaus Pyrker oder die Verweigerung kultureller Differenz 53 beschäftigt.« 52 Auch im Bericht des Folgejahres (1835) lesen wir nur einen Satz: »Von Gastein nach Pressburg zurückgekehrt wohnte ich den Herbst und den Winter über den Landtagssitzungen bei, ohne daß ich weitere Beschwärden ‡...™ des Wohlseins empfunden hätte.« 53 Und vom Jahr 1836 schreibt er schließlich: »Nach dem Schlusse des Landtages fuhr ich um die Mitte des Monats Mai heim nach Erlau und von dort nach Besorgung der notwendigen Geschäfte gegen Ende Juni abermals nach Gastein ‡...™.« 54 An einer anderen Stelle formuliert er sein Unbehagen ganz offen: »Da für den 14-ten Mai dieses Jahres ‡1843, K. K.™ die Eröffnung des Landtages bestimmt war, so fuhr ich zu demselben nach Pressburg ab, um dort wieder ein Jahr und noch darüber in einer Sphäre zu leben, die meinem ganzen Wesen nicht zusagte.« 55 Dabei waren damals wichtige Themen an der Tagesordnung, weil in diesen Jahren das moderne Ungarn gestaltet wurde. Diskutiert wurden die wichtigsten Themen der bürgerlichen Umgestaltung (Leibeigenschaft, adelige Privilegien), es wurden die grundlegenden gesetzlichen Voraussetzungen für die wirtschaftliche und politische Modernisierung geschaffen, und symbolische Institutionen der Nationsbildung (Nationalmuseum) gegründet. Erwähnenswert ist auch der Landtag von 1843-44, an dem die ungarische Sprache zur Amtssprache (1844) erklärt wurde. Besonders letztgenanntes Thema verursachte starke politische Konflikte mit anderen ethnischen Gruppen, etwa mit den Kroaten, und so wird verständlich, dass der Reichspatriot nicht gerne in Erinnerung rufen wollte, wie sein Traum von einer übernationalen Gemeinschaft zerplatzt. Nur einmal zieht der Kirchenfürst direkt seinen Degen, als er in der Debatte über die Mischehen die ungarische Opposition sehr ausführlich beschimpft. 56 Zum Schluss soll der Aspekt der Religion angesprochen werden. Bei Pyrker ist die Geltung eines christlichen Universalismus mehr plausibel als in der Kultur seiner Zeit. Auch in Bezug auf seine apologetischen Epen darf dieser Aspekt nicht vergessen werden. Aus seinen Erinnerungen geht hervor, dass sein Interesse für Karl V. kein politisches, sondern ein religiöses war: Mein liebstes Spiel war, meine Schulkameraden in Reih und Glied zu ordnen, wo dann die gesehenen Manövers ‡in der nahe liegenden Kaserne, K. K.™ nachgeahmt wurden ‡...™. Dies bezog sich darauf, daß die Wiedereroberung Jerusalems aus den Händen der Ungläubigen ‡...™ noch lange darnach meine Lieblingsidee war. Wann sie zuerst in mir entstand, wüsste ich nicht mehr genau anzugeben; aber gewiß ist es ‡...™, dass ein Trinitarier-Mönch, der als Sammler für die Erlösung der gefangenen Christen in Afrika, in das Haus meines Vaters kam, mir, dem etwa siebenjährigen Knaben, viel von den Mißhandlungen erzählte, welche die armen Christen von den 52 Ebenda, S. 166. 53 Ebenda, S. 168. 54 Ebenda. 55 Ebenda, S. 218. 56 Ebenda, S. 219 f. BH 10 Book.indb 53 22.8.2008 22: 10: 24 54 Kálmán Kovács Korsaren erdulden müssten, und ‡...™ machte ‡...™ mich auf ‡...™ Karl V. aufmerksam. ‡...™ Seitdem war mir der Name Karl V. der teuerste in der ganzen Geschichte ‡...™. 57 Der christliche Universalismus wirkt auf jeden Fall gegen die Symbolisierungen von kulturellen Asymmetrien. Die Auflösung des christlichen Universalismus war ja eine Voraussetzung zur Herausbildung von Repräsentationen der kulturellen Differenz. Müller-Funk bemerkt zu den Prozessen im 19. Jahrhundert, dass »der alteuropäische, wesentlich durch das Christentum vermittelte Universalismus, der die Partikularismen harmonisch überwölben möchte, historisch nicht mehr zur Verfügung« stand. 58 Wollte man jedoch die Verweigerungen Pyrkers interpretieren, so ist man auf Spekulationen angewiesen, da die Forschung die nötigen Kenntnisse zu fundierten Antworten noch nicht besitzt. Wir können höchstens Fragen formulieren: Huldigte der Bischof mit der homogenisierenden Erzählung seiner übernationalen reichspatriotischen Gesinnung und wollte er damit auch die neue nationalromantische Generation und den Prozess der nationalen Ausdifferenzierung »unsichtbar« machen? Oder wollte er gar jenen »trügerische‡n™ Schein eines symbolisch durchgängigen, monolingualen und überhaupt homogenen Raumes« 59 suggerieren, der etwa in Ludwig Winders Roman Der Kammerdiener erscheint? 60 Leitete den Kirchenfürsten eine kolonistische Absicht? Oder war die Verweigerung eine Flucht vor der Rolle des Kolonialherrn? Wollte der verletzte Pyrker das Feld der symbolischen Ordnungen den Ungarn überlassen und sich in ein »österreichisches« Refugium zurückziehen? In diesem Fall hätte er den hybriden Kulturraum in zwei homogene Teile umgestaltet. 57 Ebenda, S. 3 f. 58 Zit. Anm. 2, Müller-Funk, Verhältnis, S. 18. 59 Ebenda, S. 31. 60 Ebenda, S. 29 ff. BH 10 Book.indb 54 22.8.2008 22: 10: 24 D ANIEL B ARIC (T OURS ) Therese von Artner (1772-1829) Eine Schriftstellerin vor der Vielfalt der Sprachen in Kroatien Therese von Artner gehört zu den weniger bekannten Schriftstellerinnen, welche in Kroatien tätig waren und auf deutsch geschrieben haben. Einer der Gründe, der dies erklären mag, ist die Tatsache, dass sie in verschiedenen Milieus auftrat: In Ödenburg/ Sopron, Wien und Zagreb hat sie eine Zeit lang in kulturell bedeutenden Kreisen verkehrt. Dass sie ihre letzten Jahre in Zagreb verbrachte, war durch eine familiäre Bedingung entschieden worden. Was aber ihre Anwesenheit in Kroatien für sie und ihr Werk bedeutete, beschäftigte erst neuerdings die Kritik. Weder zeitlebens noch danach fand ihre schriftstellerische Tätigkeit besondere Anerkennung. Erst die Verschiebung von einer rein literarischen zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive machte eine neue Würdigung ihres Werkes möglich. Mit einem solchen Ausgangspunkt wird hier eine Deutung zu einem Aspekt ihrer schriftstellerischen Arbeit vorgeschlagen. 1. Zur Biografie Nicht in allen Einzelheiten ist das Leben der Schriftstellerin Therese von Artner bekannt. Vieles muss ihren eigenen Schriften und denjenigen ihrer Freunde entnommen werden, um die Stationen ihrer Tätigkeit zu rekonstruieren. Einige Fakten scheinen allerdings festzustehen. 1 Sie stammte aus einer evangelischen Familie Oberungarns aus dem Komitat Neutra/ Nitra in der heutigen Slowakei. Ihr Vater war Offizier und legte offensichtlich Wert darauf, dass seine Tochter eine möglichst gute, allerdings nicht überdurchschnittliche Ausbildung bekommt. Die Familie lebte in Ödenburg/ Sopron in Westungarn bis 1796, als ihre Mutter verstarb. Der Vater lebte noch bis 1799. In Wien verkehrte sie im Umfeld der 1 Grundlegend für die Beschäftigung mit Therese von Artner ist die Dissertation von Magdalena Bauer: Therese von Artner und Marianne Neumann von Meißenthal. Zwei Repräsentantinnen der ersten Generation schreibender Frauen im österreichischen Raum (Studien zu einer Doppelbiographie). Mit bisher unveröffentlichten Handschriften. Diss., Wien 1992. Die Rezeption der Werke durch das zeitgenössische Lesepublikum, wie auch durch die Literaturwissenschaft wird dort eingehend behandelt. Die einzige längere Monografie wurde ihr von der ungarischen Germanistin Gabriella Pausz gewidmet: Nemes Artner Mária Terézia (1772-1829) és írói köre ‡Die adelige Maria Theresia Artner und ihr schriftstellerischer Kreis™ (= Német philologiai dolgozatok XXI), Budapest 1917. Das letzte Kapitel beschreibt ihre Tätigkeit in Zagreb (S. 92-114). Das Hauptaugenmerk wird allerdings auf die Theaterstücke gelenkt. Ein Artikel beschäftigt sich mit ihrem Aufenthalt in Zagreb und dessen Zusammenhang mit ihren Werken: Ivan Pederin: Therese von Artner und die österreichische Literatur des Biedermeiers in Zagreb, Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie, 28/ 1984, S. 300-312. BH 10 Book.indb 55 22.8.2008 22: 10: 24 56 Daniel Baric Schriftstellerin Karoline Pichler, deren Bekanntschaft sie im Hause Graf István Széchenyis machte. Karoline Pichler ermutigte sie, sich der Literatur zu widmen. Mit Maria Gräfin von Zay, bei welcher sie in Wien wohnte, gründete sie einen Salon in Ödenburg/ Sopron, nach dem Modell des Wiener Salons der Karoline Pichler. Sie veröffentlichte Gelegenheitsgedichte und Theaterstücke. 2 Ein episches Gedicht, Die Schlacht von Aspern, welches sie ein »vaterländisches Heldengedicht« nannte und Henriette, der Gattin Erzherzog Karls, des Helden von Aspern, schickte, durfte sie nicht veröffentlichen. 3 Ab 1822 und bis zu ihrem Tode im Jahre 1829 lebte sie in Zagreb bei ihrer Schwester, die dort mit einem Offizier verheiratet war. Wahrscheinlich war Therese von Artner in Zagreb Gouvernante und Lehrerin von Kindern von Adeligen und Offizieren. In Zagreb veröffentlichte sie weiterhin eine Reihe von Gelegenheitsgedichten, zum Teil in der deutschsprachigen Presse in Kroatien und Ungarn, und schrieb Stücke für das städtische Theater. Von ihr erschien auch postum ein Bericht über ihre Reise in Kroatien und Italien: Briefe über einen Theil von Croatien und Italien. 4 2. Interpretationen: eine chronologische Skizze Die Rezeptionsgeschichte ihrer Werke zeigt einen eindeutigen Einschnitt an der Wende zum 20. Jahrhundert. In Wurzbachs Biographischem Lexikon steht noch: »Ohne daß sich ihre Arbeiten über den Wert höheren Dilettantismus zu erheben vermöchten, unterscheiden sie sich doch wesentlich durch die schlichte Form und die Innigkeit des ausgesprochenen Gedankens von den halt-, sinn- und geistlosen Faseleien jener Reimerinnen, die um die Hohlheit des Inhalts den Mantel der patriotischen Phrase hängen.« 5 Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert wurde sie, ganz im Sinne dieser Analyse, als Autorin von Theaterstücken wahrgenommen und ihre Werke wurden nach ästhetischen Werten gemessen. Erst in den letzten Jahren des Bestehens der Monarchie wurde in die kritische Analyse ihres Schaffens der Umstand mit einbezogen, dass sie auch in einem Kontext, zum Teil einem deutschsprachigen, zum Teil einem ungarischen und 2 Ausführliches Verzeichnis ihrer Werke mit Quellenangabe der Erstausgabe: zit. Anm. 1, Bauer, Therese von Artner, S. 622-624. 3 Siehe dazu den Artikel von Wynfried Kriegleder: Therese von Artner und ihr vaterländisches Heldengedicht Die Schlacht von Aspern. In: Deutsche Sprache und Kultur, Literatur und Presse in Westungarn/ Burgenland. Hg. v. Wynfried Kriegleder und Andrea Seidler, Bremen 2004, S. 249-266. 4 Therese von Artner: Briefe über einen Theil von Croatien und Italien an Caroline Pichler von Therese von Artner, Pest 1830. Eine andere Ausgabe ist in Halberstadt im gleichen Jahr erschienen, mit der gleichen Seitennummerierung. 5 Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche von 1750 bis 1850 im Kaiserstaat und in seinen Kronländern gelebt haben. 1. Teil, Wien 1856, S. 438. BH 10 Book.indb 56 22.8.2008 22: 10: 24 Therese von Artner (1772-1829) 57 kroatischen, gewirkt hatte. Dieses Element hatte in Kroatien Velimir De`eli} 6 in seiner Studie zur deutschsprachigen Literatur in Zagreb hervorgehoben. Gabriella Pausz veröffentlichte 1917 in einer Reihe von ungarischen germanistischen Studien einen Text über die Rolle Therese von Artners in der Entwicklung der Salonkultur in Ungarn. Charakteristisch ist ab diesem Zeitpunkt die Einordnung der Tätigkeit Therese von Artners in mehrere sprachliche Milieus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Therese von Artner im Kontext eines verstärkten Interesses für das österreichische Schrifttum und die österreichische Vergangenheit gewertet, 7 so in einer Dissertation von 1935 unter dem Titel Die Dichterinnen der Befreiungskriege. 8 In der Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland von 1939 heißt es, wohl im Sinne des Titels, dass Therese von Artners literarisches Werk »ein Zeugnis der Zusammengehörigkeit des südostdeutschen geistigen Binnenraumes mit seinen ungarländischen Kulturvorwerken« 9 sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschiebt sich die Perspektive. Die grenzüberschreitende Dimension ihres Lebens rückt in den Vordergrund und so häufen sich Hinweise hierauf in ihrem Schaffen an der Schnittstelle zwischen den deutschen, ungarischen und slawischen Sprach- und Kulturgebieten. Bezeichnenderweise werden aber zunächst Begriffe benutzt, um ihre kulturelle Identität herauszuheben, die aus der Perspektive einer nun verschwundenen oder verschwindenden deutschen Präsenz hergeleitet werden. In einer 1952 eingereichten Dissertation wird sie als »volksdeutsche Ungarin« und »ungarische volksdeutsche Schriftstellerin« bezeichnet. 10 Als »Deutschungarin« scheint sie in der Donauschwäbischen Biographie auf. 11 In Nachschlagewerken, die in Jugoslawien entstanden sind, wird sie zur Literaturgeschichte des Landes gerechnet. Sowohl im Lexikon der Schriftsteller Jugoslawiens von 1972 als auch in der Enzyklopädie Jugoslawiens wird ihr jeweils ein Artikel gewidmet. 12 Wollte man in der ersten Phase der Rezeption ihre Leistung nach ästhetischen Normen messen, als einen Beitrag zur Literaturgeschichte, so war man im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend geneigt, sie nach ihrer vermittelnden Rolle zwischen verschiedenen Sprachgebieten in der Monarchie zu beurteilen. Diese Rolle wurde dann als mehr oder minder gelungen gewertet. Dabei gerät die Frage nach der literarischen Qualität ihrer Werke in den Hintergrund. Auch in der 6 Velimir De`eli}: Iz njema~kog Zagreba. Prinos kulturnoj povjesti Hrvata ‡Aus dem deutschen Agram. Beitrag zur Kulturgeschichte der Kroaten™, Zagreb 1901, S. 27-29. 7 Zit. Anm. 1, Bauer, Therese von Artner, S. 443-453. 8 Michaela Rabenlechner: Die Dichterinnen der Befreiungskriege (um 1813/ 14), Wien 1935. 9 Karl Kurt Klein: Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland. Schrifttum und Geistesleben der deutschen Volksgruppen im Ausland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Leipzig 1939. Nach: zit. Anm. 1, Bauer, Therese von Artner, S. 444. 10 Franz Juhasz: Die Beziehungen zwischen der deutschen und ungarischen Literatur im Zeitraum von 1772 bis 1848. Diss., Wien 1952. Nach: zit. Anm. 1, Bauer, Therese von Artner, S. 450. 11 Ebenda, S. 453. 12 Milan Selakovi}: Leksikon pisaca Jugoslavije, Novi Sad 1972, S. 98. Branko He}imovi}: Enciklopedija Jugoslavije. Band 1, Zagreb 1980. BH 10 Book.indb 57 22.8.2008 22: 10: 24 58 Daniel Baric Wiener Dissertation von Magdalena Bauer wird ihre Laufbahn aus einer eher soziologischen Perspektive der Literaturgeschichte untersucht, indem insbesondere die Möglichkeit für den Wirkungsbereich einer schreibenden Frau im österreichischen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht wird. Darüber hinaus werden einige ihrer Werke unter »kulturgeschichtlichen Aspekten« untersucht. 13 Wenn auch ihr Schaffen analytisch und kritisch beleuchtet wird und die Wiedergabe der kroatischen Realität als besondere Leistung begrüßt wird, so finden ihre Beschreibungen und Analysen der kroatischen Situation kaum Anerkennung. »Für sie ist Kroatien vor allem ein territorialer Begriff, Folklore, Getreidehandel, römische Altertümer und Brustwehr gegen die Türken«, heißt es in einem Artikel des kroatischen Germanisten Ivan Pederin. 14 Auch wenn ein solches Urteil an und für sich wohl begründet sein mag, könnte die Beschäftigung mit den Schriften Therese von Artners etwas mehr über den kulturellen Zustand im Kroatien der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu Tage fördern. 3. Ein Leben am Rande der Habsbugermonarchie: die Suche nach Spuren von Sprachen Durch den Wechsel des Aufenthaltsortes wurde Therese von Artner mit einer Reihe von Sprachen und Kulturen konfrontiert. An einer ausdrücklichen Hierarchie der Sprachen hielt sie aber bis zum Ende fest. Das Lesen von Meisterwerken der Literatur auf deutsch war für sie Voraussetzung für eine sittliche und kulturelle Entwicklung der Habsburgermonarchie. Über den Vorteil, deutsche Literatur zu lesen, berichtet sie in den Briefen über ihre Reise in die Militärgrenze: Auch hat man seit einigen Jahren Sorge getragen, für jedes Regiment eine Bibliothek anzulegen, worin, nebst militärischen und wissenschaftlichen Werken, wenigstens Schiller, Wieland und Goethe nicht fehlen. Was bedarf es auch viel mehr? An diesem Kleeblatt haben wir wahrlich Moses und die Propheten. Schiller fehlt wohl auch - Dank den vielen und spottwohlfeilen Ausgaben - kaum mehr in einem Privathaus; er ist der Atlas, auf dessen Schultern die ästhetische Kultur in manchen Provinzen Österreichs ruht, und der zur Not auch genügt, sie aufrecht zu erhalten. 15 Die Verherrlichung der Repräsentanten der deutschen Klassik verbietet es allerdings in ihren Augen nicht, dass ein beliebter fremdsprachiger Autor mit Gewinn gelesen wird: »Vorzüglich wird der herrliche Walter Scott, zu dessen kräftigen Natur- und Charakterschilderung, besonders in der gebirgigen Karlstädter Grenze, gar viele Originale zu finden wären, hier mit erhöhtem Anteil gelesen.« 16 13 Zit. Anm. 1, Bauer, Therese von Artner, S. 328-335. Über das »Historische Drama (Rogneda und Wladimir) - kulturgeschichtliche Aspekte«. 14 Zit. Anm. 1, Pederin, Therese von Artner, S. 311. 15 Zit. Anm. 4, Artner, Briefe. 16 Ebenda. BH 10 Book.indb 58 22.8.2008 22: 10: 24 Therese von Artner (1772-1829) 59 Auf ihren Reisen durch Kroatien berichtete Therese von Artner auch über Spuren der Präsenz der Dynastie. Die periphere Lage Kroatiens macht sie auf die Überreste einer nicht überall zu sehenden Gegenwart aufmerksam. Indem ein Offizier ihr das »Mineralbad Topusko« zeigt, sieht sie, dass zur Linken auf einer Terrasse ein geräumiger Pavillon erbaut wurde, der den Gästen einen angenehmen Versammlungsort gewährt, und zu welchem eine breite Rasentreppe führt. Interessant ist er durch die Zeit seiner Errichtung, welche mit der Reise Ihrer k. k. Majestäten, im Jahre 1818, durch diese Gegenden zusammentraf, deren erhabenen Namen er noch an seiner Stirne trägt. 17 Sie fügt noch hinzu: »Auch ein Fremdenbuch hat man hier, welches wohl nicht herrlicher eingeweiht sein könnte, als durch die Namen Franz und Caroline, welche das erste Blatt zieren.« 18 Für sie, die ein Leben in verschiedenen Städten der Monarchie verbracht hatte, war die Dynastie in der Form der Namen des kaiserlichen Paares, welche sie zum Beispiel in diesem Fremdenbuch lesen konnte, ein verbindendes Element zwischen ihrer Erziehung und dem Raum, in welchem sie wohnte, und der nicht nur deutschsprachig war. In diesen sehr spärlichen Spuren einer dynastischen Präsenz, welche den Besuch des Herrschers festhielten, offenbarte sich ihre Zugehörigkeit zu einem staatlichen Ganzen, mit dem sie sich identifizierte. Ihr Gespür für die Anwesenheit einer imperialen Dimension zeigt sie weiterhin, indem sie auch »zur Erheiterung« 19 eine Episode aus »der kurzen Herrschaft der Fremdlinge«, das heißt der Franzosen, in ihrem Bericht wiedergibt. Mit offenkundiger Schadenfreude hat sie eine Erinnerung aus der Zeit der Illyrischen Provinzen festgehalten, die auf die Frage nach der möglichen Verständigung zwischen den Franzosen und der einheimischen Bevölkerung eine Antwort liefert: In einem Dorfe begann man wegen dem Tode eines Bauern die Glocken zu läuten. Dies erregte die bange Aufmerksamkeit der Fremden, welche immer die Sturmglocke gegen sich ertönen zu hören besorgte. Deshalb fragte einer den nächsten Eingeborenen: »Bum, bum, Franzos? « - Der Grenzer, ein Mann, der die Welt in manchen Feldzügen gesehen hatte, erriet ihn sogleich. »Bum, bum, nix Franzos! « erwiderte er: »Bauer caput«. 20 In diesem Zitat erscheint der kroatische Bauer als Weltmann, der sich mühelos mit dem Franzosen in der gleichen stark vereinfachten deutschen Sprache, ohne jegliche verbale Form, zu verständigen weiß. Die antifranzösische Perspektive wird nicht verborgen: Die Franzosen werden unverhohlt als die »Fremden« bezeichnet. Es kommt hier auch ein wesentliches Anliegen Therese von Artners zum Vorschein, nämlich die Benutzung der deutschen Sprache als eigentliches 17 Ebenda, S. 51. 18 Ebenda, S. 52. 19 Ebenda, S. 66. 20 Ebenda, S. 66. BH 10 Book.indb 59 22.8.2008 22: 10: 24 60 Daniel Baric Bindeglied in der Monarchie, und zwar hier im Gegensatz zum französischen implizit als unbegründet dargestellten imperialen Anspruch. Die Fähigkeit zur Kommunikation in dieser Art von deutscher Sprache deutet aber auf eine Realität hin, nämlich auf die mancherorts an der Militärgrenze von der Militärverwaltung festgestellte ungenügende Kenntnis der deutschen Sprache. Die mitunter äußerst schwierige Kommunikation auf deutsch wurde in Berichten erwähnt und bemängelt, was auf die Dauer den Aufbau eines Schulwesens mit sich brachte, das größten Wert auf die Beherrschung der Kommandosprache legte. 21 Im Laufe der Reise kommt sie in unmittelbare Nähe zur bosnischen Grenze. Ihre Beobachtungen beziehen sich auf die dort vorherrschende Spannung zwischen der Sprache der imperialen Macht und der Konfession einerseits und der alltäglichen Realität anderseits: Der Teil der Türkei, an welchen wir hier grenzen, ist türkisch Kroatien, zur Statthalterschaft Bosnien gehörig. Ein Teil der Bewohner hat zwar die Religion der Eroberer, den Islamismus, angenommen, die Mehrzahl ist jedoch dem christlichen Glauben treu geblieben. Die Sprache ist durchaus der illyrische, sonst auch der in der slavonischen und kroatischen Grenze gesprochene Dialekt. Selten, selbst unter den vornehmen, islamitischen Bosniaken findet man einen, der, außerdem daß er seine Gebete in der Sprache des Korans (der arabischen), ohne sie zu verstehen, hersagt, türkisch reden und schreiben kann. 22 Das imperiale Gefüge des Osmanischen Reiches wird somit in seinen Fundamenten hinterfragt, da weder die Sprache der Religion, noch der weltlichen Macht von den Einheimischen beherrscht wird. Auf ihrem Weg von Zagreb nach Italien hält sie in Sisak. In der Stadt wird sie von den zahlreichen römischen Denkmälern gefesselt. Sie kannte eine vergleichbare römische Ruinenlandschaft in Westungarn, in Steinamanger/ Szombathely, das römische Savaria. Im Unterschied aber zu Savaria, »dem ungarischen Herkulanum ‡...™ haben aber noch wenige Siscium’s römische Überreste gesehen«. 23 Savarias Monumente seien nämlich schon oft beschrieben worden und nun in Museen aufbewahrt. »Niemand hat aber sie ‡d. h. die Monumente von Siscium, Anm. D. B.™ beschrieben, fügt sie hinzu, und unbedeutende Zufälle können sie wieder vernichten; so sei denn durch diese kurze Schilderung wenigstens ihre Existenz beglaubigt, und der Aufmerksamkeit künftiger Forscher ein neuer Fundort angewiesen.« 24 »Siscium war eine der fünf Kolonialstädte, welche das Recht hatten, Münzen zu prägen. Die Römer sollen auch ansehnliche Gold- und Silberbergwerke 21 Franz Julius Fras: Instruction zur zweckmäßigen Führung des Lehramtes für die Lehrindividuen der Karlstädter Grenze. Handschrift National- und Universitätsbibliothek Zagreb, NSK R 4821; Maja Häusler: Zur Geschichte des Deutschunterrichts in Kroatien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/ Main - Berlin - Bern 1998; Daniel Baric: À l’écoute des langues parlées en Croatie durant la première moitié du XIXe siècle - entre communication et incompréhensions, la part de l’allemand, Balkanologie, VIII (2), 2004, S. 71-87. 22 Zit. Anm. 4, Artner, Briefe, S. 72. 23 Ebenda, S 25. 24 Ebenda. BH 10 Book.indb 60 22.8.2008 22: 10: 24 Therese von Artner (1772-1829) 61 hier gehabt haben, wovon jedoch jetzt keine Spur mehr ist.« 25 Eben diese Spuren einer römischen Vergangenheit suchte Therese von Artner in spärlichen sprachlichen Dokumenten. Wozu sollte die Erhaltung und Deutung römischer Inschriften dienen? Indem sie Siscium verlässt, erklärt sie zu welchem Zweck der Aufenthalt in der Ruinenstadt von Bedeutung für das gegenwärtige Sisak werden soll: »Und so wollen wir denn dem unterirdischen Siscium, wie dem überirdischen Sziszeg Lebewohl sagen, in der sichern Überzeugung, dass dieses bald und verschönert aufblühen, in eben dem Maße aber auch jenes beachtet und gewürdigt auferstehen werde! « 26 Die Zivilisierung von Sisak, das kulturelle und wirtschaftliche Aufblühen der Stadt - und dies mag wohl auf das ganze kroatische Gebiet übertragen werden - hängt nämlich für die Autorin dieser Zeilen von der Fähigkeit der Forscher ab, das römische Erbe in der Form der noch übrig gebliebenen Inschriften zu entziffern. Die Beobachtung von Spuren der Antike bringt sie in Verbindung mit der Fähigkeit der Untertanen eines Imperiums, mit dem einstigen imperialen Machtzentrum zu kommunizieren. Wohl ist sich Therese von Artner sicher, dass eines Tages ihre Leser, und zuvorderst ihre Freundin Karoline Pichler, an welche die Briefe adressiert werden, diese Steine verstehen werden. Dem Buch wurden zur Veranschaulichung des Textes, wohl des praktischen Entzifferungsvermögens des Lesers gedenkend, die erwähnten Inschriften als lithographische Blätter beigefügt. Gleichwohl gibt es noch viele Steine mit Inschriften hier, die ich nicht versäumen wollte, für mich kopieren zu lassen, wenn ich auch nicht im Stande bin, sie mit kritischer Sprachforschung zu beleuchten, zu erklären und zu ergänzen. Leider verstehe ich nicht, wie Du, oder viele meiner Landsmänninnen, die ehrwürdige Sprache des Cicero, die mir den Schlüssel hiezu gäbe, da mir keine gelehrte, sondern nur eine schlichte Bildung ward, und so muß ich Dir diese Mühe selbst überlassen. 27 Auch angesichts der mangelhaften Ausbildung in alten Sprachen erhebt Therese von Artner keineswegs Kritik an ihrer Familie oder am vorhandenen Erziehungswesen. Sie ist nicht entmutigt, obwohl ihre Kenntnisse sie für die ersehnte Forschungsarbeit nicht tauglich macht. Es werden auch keine konkreten Wünsche geäußert bezüglich einer verbesserten Ausbildung, sowohl der Frauen insgesamt, als auch der Bewohner der Gegend um Sisak insbesondere, die wahrscheinlich aus Unkenntnis die noch vorhandenen antiken Reste zu vernichten drohen. Die Entzifferungsarbeit sowie die Übersetzung von solchen Texten konnten nämlich wesentlich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Den Ausweg bietet dann die Pflege eines besonderen Instinkts: Mit dem Inhalte soll man auch schwer ins Klare kommen können, wie mich Mehrere versicherten, die ich um Verdolmetschung bat. Vielleicht bist Du hierin glücklicher; uns Frauen wohnt ein Sinn zum Erraten inne, womit wir zuweilen viel schneller 25 Ebenda, S. 25. 26 Ebenda, S. 26. 27 Ebenda, S. 14. BH 10 Book.indb 61 22.8.2008 22: 10: 24 62 Daniel Baric zum Ziele kommen, als die Männer auf ihrem systematischen, und oft ein bisschen pedantischen Wege. 28 Es wurde in der Rezeption der Werke Therese von Artners im 20. Jahrhundert auf eine nicht vorhandene kulturelle Annäherung der Völker Österreichs hingewiesen, indem sie keine tieferen Einsichten über anderssprachige Bevölkerungen ihren Lesern anzubieten vermag. Die zivilisierende Funktion, die von der deutschen und österreichischen Literatur für den allgemeinen Zustand in der östlichen Hälfte der Monarchie erwartet wird, ist tatsächlich kaum bei ihr zu übersehen. Hinter dieser Behauptung steckt aber auch ein besonders ausgeprägtes Interesse für die Vielfalt der gegenwärtigen und früheren Sprachen, die in diesem Raum gesprochen werden und wurden. Wenn auch mit einer Hoffnung auf die letztendliche Entzifferung, vermengt sich dieses Gespür für Sprachen mit einem äußersten Interesse für Spuren von Sprachen, welche nicht mehr verstanden werden. Somit vergegenwärtigt sie sich und dem Leser die Frage nach den Schwierigkeiten in der Kommunikation oder gar deren Unmöglichkeit in einem mehrsprachigen Raum. 28 Ebenda, S. 23. BH 10 Book.indb 62 22.8.2008 22: 10: 24 E MILIJA M AN ~ I } (W IEN ) Vom »Volkslied« zur Nationalkultur Zur Rezeptionsgeschichte des romantischen Kulturbegriffs am Beispiel Serbiens Die Aussage von Raymond Williams, einem der Begründer der Kulturwissenschaften, dass culture eines der zwei oder drei schwierigsten Worte im Englischen darstelle, könnte auch auf andere Sprachen übertragen werden. Nicht weniger kompliziert stellt sich die Kategorie der Identität dar. Die Geschichte der Begriffe wie auch die Ausbreitung ihres Gebrauchs weist auf verschiedene Konzeptionen von Kultur hin. In diesem Sinne scheint die Frage nach der Entstehung eines totalitätsorientierten Kulturkonzeptes (angelehnt an Andreas Reckwitz) 1 in der Romantik berücksichtigenswert. Während der normative Kulturbegriff, der sich im Kontext der Aufklärung ausbildet, die Kultur als eine erstrebenswerte Lebensform, und zwar die des Bürgertums (nicht alle sozialen Klassen haben an der Kultur teil), versteht, setzt der totalisierende (romantische) Kulturbegriff ganze Gesellschaften, im 19. Jh. vor allem nationalstaatlich verfasste, mit Kultur gleich. Die Kultur eines ganzen »Volkes« wird »individualisiert« beziehungsweise ihre Eigenart und ihre Differenz zur Kultur anderer »Völker« hervorgehoben. So erscheint eine ideale Lebensweise nach innen homogen und nach außen geschlossen oder wie Herder es beschreibt: wie eine »Kugel« gegenüber anderen »Kugeln«. »‡...™ in gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und am genauesten betrachtet individuell.« 2 Wenige Epochen der deutschen Dichtungs- und Geistesgeschichte sind so umstritten und vieldeutig wie die Romantik. Die Bewertungen der Romantik stehen zuweilen in scharfem Gegensatz zueinander, und dies nicht zuletzt, da das romantische Denken selbst ein Denken in Gegensätzen ist. Die Befreiungskriege in Deutschland von 1813 bis 1815 sind ohne die geistige und seelische Vorbereitung durch die Romantik kaum zu denken. »Als der Sieg errungen, war man sich dessen durchaus bewusst, daß nach der Befreiung des Vaterlandes noch wesentliche Aufgaben zu erfüllen seien, damit die Deutschen endlich eine Nation werden«, wie Eichendorff 1814 an Fouque schrieb oder wie er in dem Gedicht »An die Freunde« sagte: »Es hat der Krieg den Funken kühn entglommen, 1 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Kontigenzperspektive der »Kultur«. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen. Hg. v. Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen, Stuttgart - Weimar 2004, S. 1-20, hier S. 1. 2 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, Frankfurt/ Main 1967, S. 40. BH 10 Book.indb 63 22.8.2008 22: 10: 24 64 Emilija Man~i} Das Schlechte stürzt’ er um in blut’gen Streit, Das Beßre auf den Trümmern aufzuführen, Muß sich nun Geisterkampf lebendig rühren.« 3 Die revolutionären Umbrüche und ihre Folgen zeigen besonders deutlich, wie eng gesellschaftliche Symbolik und behauptete beziehungsweise zu ändernde kollektive Identitäten verknüpft sind. Nach Dietrich Harth werden auf kultureller Ebene lange vor dem Umbruch des gesellschaftlichen Systems die Voraussetzungen für das Neue geschaffen, weshalb politische und soziale Revolutionen stets auch als Revolutionen der Kultur zu verstehen sind. Eine geglückte Revolution kann einen neuen Mythos erzeugen, dessen Texte, Symbole und Zeichen von einer kulturellen, sozialen oder ethnischen Einheit als Identifikationsmarken akzeptiert werden. Die Französische Revolution von 1789 hat einen solchen Mythos produziert - den Mythos der Nation. Sie hat das Bewusstsein für jene Fragen der kollektiven Identitätsbildung geweckt, von denen man heutzutage redet. Die Normierung einer nationalen Kultur und entsprechenden Identität wurde in Deutschland durch die Abwesenheit eines Zentrums der aristokratischen und dann auch bürgerlichen Kultur erschwert. Diese Erfahrung motivierte die einheimischen Schriftsteller einen ästhetischen und theoretischen Diskurs zu entwickeln, wie die Kultur beschaffen sein sollte, mit der diejenigen sich identifizieren konnten, die einer politischen und sozialen Integration entbehrten. Die Suche nach dieser Kultur war zugleich ihre Produktion und auch hier gilt: Die Bestimmung des Eigenen war zugleich Akt des Sichunterscheidens. 4 Eine über zustimmungsfähige Symbole der Revolution ausgedrückte Identität der Deutschen lag außerhalb der politischen Realität und wurde von manchen Gruppen umso stärker vermisst. 5 Bei der deutschen Einigungsbewegung ging es erst um die Herauskristallisierung einer Nation, einer irgendwie begründeten Sprach- oder Kulturgemeinschaft, und erst danach um die Gründung eines Nationalstaates. Diese Art der Nationsbildung und Nationalstaatsgründung in Mitteleuropa wurde anschließend, (mitsamt ihrem vermeintlich »objektiven« und romantischen Charakter) zum Modell für alle jene (wiederum »nachholenden«) Nationsbildungsprozesse, deren »außenpolitische« Etappen sowohl die Herauslösung aus einem bereits bestehenden (Groß-)Staat, als auch die Überwindung »nationaler« Teilung durch neue »nationale« Zusammenschlüsse umfasste ‡...™. 6 Nach Sundhaussen liegt die Besonderheit der Nationalbewegungen in Südosteuropa in einer Kombination von zentraleuropäischen, kulturell beziehungsweise ethnisch objektiven Nationalstaatsmodellen mit dem unitaristisch zentralistischen französischen Staatsmodell, das im Zuge der Politisierung der Nationalbewegungen auch dementsprechend mehr Gewicht bekam. Die mys- 3 Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik, Tübingen 1953, S. 129. 4 Dietrich Harth: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften, Dresden - München 1998, S. 152. 5 Vgl. ebenda. 6 Claudia Hopf: Sprachnationalismus in Serbien und Griechenland, Wiesbaden 1997, S. 75. BH 10 Book.indb 64 22.8.2008 22: 10: 24 Vom »Volkslied« zur Nationalkultur 65 tische Identifikation von Nationalität, so schreibt Hobsbawm, mit einer Art platonischer Idee von Sprache, welche hinter und über allen ihren Varianten und unperfekten Versionen bestehen soll, ist sehr viel charakteristischer für eine ideologische Konstruktion nationalistischer Intellektueller, deren Prophet Herder war, als für die wirklichen Sprecher eines Idioms. Es handelt sich laut Hobsbawm um ein literarisches und kein existenzielles Konzept. 7 Da die symbolischen Ordnungen beziehungsweise kulturellen Codes in der Sprache als schriftliche Texte oder oral, etwa in mündlichen Erzählungen, Liedern oder Redewendungen kolportiert werden, wird hier die fast 40-jährige Debatte über die angestrebte und dann schließlich durchgesetzte Sprachreform von Vuk Karad`i} im 19. Jahrhundert in Serbien ins Visier genommen, die eine einmalige radikale Veränderung des bisherigen Usus bedeutete. Vuk Karad`i} stützte sich dabei ausschließlich auf die »Volkssprache«, auf die von der Romantik idealisierte Volksdichtung, besonders auf die Heldenepen, die er sammelte. Er baute die reine serbische »Volkssprache« zur Standardbeziehungsweise Schriftsprache aus und reformierte das serbische Alphabet. Meine leitende Fragestellung ist: Wie wird ein Selbstkonzept oder Selbstbild, eine kognitive Repräsentation des eigenen Selbst, also eine Gedächtnisstruktur, die alle selbstbezogenen Informationen enthält, zu einer bestimmten Zeit entworfen und weiterentwickelt? Sprache an sich und besonders die Volkssprache wird häufig als Ausdruck von Identität und Authentizität einer Person oder eines Volkes wahrgenommen. Eine normierte Volkssprache kann gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen fördern, die modernisierend wirken und den Wünschen neu aufstrebender Eliten entgegenkommen. Sie ist zumeist Beginn oder zumindest Impuls für neue nationale, volkssprachliche Literaturentwicklungen. 8 Die Festlegung einer Sprache oder Sprachvariante zu einer nationalen Normsprache ist im Regelfall nicht unproblematisch. Da es zunächst völlig unklar ist, welche Identität, Substanz und welchen Umfang eine Population und deren Sprache besitzen, sind nationale und linguistische Grenzen schwer bestimmbar. Nach Anderson sollen Gemeinschaften nicht durch ihre Authentizität voneinander unterschieden werden, sondern durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden. So könne man eine Sprache zum Medium machen, durch das ein Land vorstellbar wird. 9 Die Aufstandsbewegungen bei den Serben und Griechen des frühen 19. Jahrhunderts sind nicht primär als nationale Bewegungen zu bezeichnen. Die ersten Ziele von sich erhebenden Volksgruppen waren viel häufiger sozialer Natur: ein Leben nach eigenständigen Regeln, die Formierung von Identität und eine Neudefinierung der eigenen Gemeinschaft. Darüber hinaus bestand die Bestrebung, oftmals alte, in der Vergangenheit erworbene Rechte zu restaurieren oder auch 7 Eric J Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990, S. 56. 8 Vgl. Anm. 6, Hopf, Sprachnationalismus, S. 87. 9 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreiches Konzeptes, Frankfurt/ M. 1988. BH 10 Book.indb 65 22.8.2008 22: 10: 24 66 Emilija Man~i} wirtschaftlich gute und mit anderen gleichberechtigte Chancen zu erhalten. Erst mit der Zeit entstand ein, später viel beschworenes, nationales Selbstbewusstsein. Eine Verbindung von Kultur und politischem Gemeinwesen wurde lange Zeit nicht angestrebt. Möchte man neue, umfassendere Gesellschaften (und damit neue Loyalitäten) formen, müssen die eben beschriebenen segmentären Populationen »zunächst davon überzeugt werden, dass sie gemeinsam bestimmte, einzigartige, ethnokulturelle Charakteristika besitzen«, 10 meint Fishman. Das serbische Reich, das sich zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert unter den Herrschern der Nemanjidendynastie als ein großes, kompaktes Reich entwickeln konnte, geriet 1389 unter osmanische Herrschaft und wurde 1459 osmanische Provinz. Die spätere Nationalbewegung und -geschichtsschreibung bezog sich im 19. Jahrhundert auf diesen mittelalterlichen serbischen Staat (Du{anovo Carstvo). Zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert wanderten Tausende von Serben aus den osmanisch besetzten Gebieten nach Ungarn beziehungsweise ins Habsburgerreich aus, um sich so der osmanischen Herrschaft zu entziehen. Das Haus Habsburg verordnete die Wehrpflicht für die sogenannten habsburgischen Serben und gewährte ihnen im Gegenzug besondere Rechte, wie Schulen zu gründen, ihre Sprache zu pflegen, kulturelle Eigenständigkeiten zu bewahren. Unter osmanischer Herrschaft, südlich der Donau, wäre dies so nicht möglich gewesen. Eine sehr unterschiedliche Entwicklung der jeweiligen Populationen war die Folge des breit gestreuten und durch die Donau gespaltenen Siedlungsgebietes der Serben. Im Verlauf der Jahrhunderte hatten sich bei den Serben nördlich und südlich der Donau verschiedene parallele Sprachvarianten ausgebildet (Kirchenslawische, Slaveno-Serbische und Volkssprachliche Variante). Vuk Karad`i}, der aus den osmanisch besetzten Gebieten Serbiens stammte, floh nach dem Scheitern des ersten serbischen Aufstandes 1813 in die Habsburgermonarchie, nach Wien. Die Freundschaft mit dem Slowenen Jernej Kopitar, der Hofbibliothekar und Zensor slawischer und griechischer Bücher in Wien war, gab Karad`i} den entscheidenden Anstoß dazu, serbische Volkslieder und andere Volksweisheiten zu sammeln, niederzuschreiben und herauszugeben, sich Gedanken über die serbische Sprache zu machen, über die Grammatik, Orthographie und ihren Wortschatz. Kopitar hat auch die Verbindung zwischen Karad`i} und Jacob Grimm hergestellt und ihn in die serbische Volkspoesie eingeführt. Grimm hat dann die Begeisterung für diese Poesie weiter an Goethe, Savigny, Brentano und andere vermittelt. Grimms Wiener Aufenthalt Ende 1814 und Anfang 1815 sowie Karad`i}s Kasseler Besuch 1823 hatten entscheidende Auswirkungen auf Grimms Beschäftigung mit der serbischen Dichtung und Sprache. Nach dem Wiener Aufenthalt schrieb Grimm, als ersten Beitrag in diesem Bereich, eine Besprechung der Volkslieder. Dem Kasseler Besuch folgte die Publikation der deut- 10 Fishman 1972, zit. nach Anm. 6, Hopf, Sprachnationalismus, S. 30. BH 10 Book.indb 66 22.8.2008 22: 10: 24 Vom »Volkslied« zur Nationalkultur 67 schen Übertragung der serbischen Grammatik von Karad`i} mit der berühmten Vorrede. Die Besprechung der Volksliedsammlung von Jacob Grimm ist eine Pionierarbeit in der Pflege dieser Poesie gewesen, da sie eine Reihe von poetischen Besonderheiten der serbischen Volkslieder wie Betrachtungen über den Reim, die Metapher, die slawische Antithese, die Symbole und Bilder sowie den Wortklang beinhaltet. In der Volksdichtung ist laut Grimm »der athem einer jeden sprache ungehemmt und frei zu spüren«, weswegen Grimm die serbischen Liedersammlungen als Quellen bezeichnet, aus denen »der wahre geist der slavischen sprache, poesie und der ganzen natur dieser völker treuer studiert und geschöpft werden« könne als etwa aus den gebildeten Teilen der slawischen Literatur. 11 Im 18. Jahrhundert bezeichnete die häufigste Verwendung des Wortes »Volk« die soziale Unterschicht, die im Gegensatz zur Oberschicht der Gebildeten stand. Möser und Herder stellten sich gegen eine solche, auch sprachlich manifestierte Geringschätzung der weniger privilegierten Schichten. Möser verstand die bäuerlichen Grundbesitzer als Kern des Volkes, dessen Traditionen erhalten werden müssten. Und Herder wollte aus der Sprache und Dichtung der Völker als Gemeinschaften, die durch die gemeinsame Abstammung, Sprache und Geschichte gebildet werden, ihre Seele, ihr Wesen, ihren Nationalcharakter erfassen. Wie eine Quelle von dem Boden, auf den sie sich sammelte, Bestandteile, Wirkungskräfte und Geschmack annimmt: so entsprang der alte Charakter der Völker aus Geschlechtszügen, der Himmelsgegend, der Lebensart und Erziehung, aus den frühen Geschäften und Taten, die diesem Volk eigen wurden. 12 Herder sieht Völker als Individualitäten und geht dem Bedingtsein der Kulturen in Klima und Landschaft, in Zeitumständen und ursprünglichen Anlagen der Völker nach. Solche Anregungen haben eine starke Nachwirkung in der Romantik, was schon in den Studien Friedrich Schlegels zum griechischen Altertum zu spüren ist, in denen er Kultur als Ausdruck des Volkes bestimmt und die Dichtung der Griechen im Zusammenhang mit ihrem Lande und mit ihren politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen sieht. A. W. Schlegel sagt in seinen Berliner Vorlesungen, dass »die hohen gebildeten Stände unserer Nation keine Literatur haben«, in dem Sinne, dass sich darin die hervorstechenden Anschauungen der Welt und des Lebens einer Nation finden, »aber der gemeine Mann hat eine«, nämlich in den so genannten Volksbüchern. 13 In der Aufforderung zur Mitarbeit an seiner Sammlung Des Knaben Wunderhorn betonte Achim von Arnim auch 11 Miljan Moja{evi}: Jacob Grimm und die serbische Literatur und Kultur, Marburg 1990, S. 87. 12 Johann Gottfried Herder: Aus den »Ideen zur Philosophie der Menschengeschichte«, Buch XII, 1787. In: Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm. Hg. v. Paul Kluckhohn, Berlin 1934, S. 36-39, hier: S. 38 13 Vgl. dazu zit. Anm. 3, Kluckhohn, Ideengut, S. 103. BH 10 Book.indb 67 22.8.2008 22: 10: 24 68 Emilija Man~i} die nationalen Ziele, die mit der Vorliebe der Romantiker für die Volksdichtung einhergingen. Wären die deutschen Völkern in einem einigen Geist verbunden, sie bedürften dieser gedruckten Sammlungen nicht, die mündliche Überlieferung machte sie überflüssig, aber eben jetzt, wo der Rhein einen schönen Teil unseres alten Landes loslöst vom alten Stamme, andere Gegenden in kurzsichtigen Klugheit sich vereinzeln, da wird es notwendig, das zu bewahren und aufmunternd auf das zu wirken, was noch übrig ist, es in Lebenslust zu erhalten und zu verbinden. 14 Die Auffassung, dass in der Hervorhebung der Volkssprache und ihren literarischen Manifestationen im Volkslied, Sprichwort und so weiter ein konstitutives Element der modernen Nation zu sehen ist, war auch eines der Hauptargumente Karad`i}s gegenüber seinen Gegnern. Als Karadzic sich für Grimms Besprechung des ersten und zweiten Bandes der Volkslieder »Tausend Mal« bedankt, tut er das, wie er meint, »im Namen aller Serben, die ihre Sprache und Nation lieben«. 15 Karad`i} verstand den Widerspruch seiner Gegner auch als gegen die serbische Volksdichtung, Volkssprache, das Volksleben - also gegen die junge serbische Nation gerichtet. Karad`i}s Epoche machende Verdienste um die neue serbische Kultur, wie sie sich seit seiner Zeit entwickelt hat, wurden dieser Sichtweise folgend fast ins Mystische gehoben, seine aus der Bildungsschicht und Kirche kommenden Gegner wurden hingegen manchmal fast mit einem Bann belegt. Die von den serbischen Gebildeten anfangs unterschätzten Volkslieder, die Volkssprache (als Schweine- und Rinderhirtensprache), die Volkssitten und bräuche werden durch Karad`i}s jahrzehntelange Tätigkeit zu Grundlagen der neueren geistigen Kultur des serbischen Volkes. Die Polemik über die serbische Literatursprache, die von 1815 bis 1847 geführt wurde, stellt eines der Zentralereignisse der serbischen neuzeitlichen Kulturgeschichte dar. Sie hatte entscheidenden Einfluss auf die Formung des gegenwärtigen serbischen Kulturerbes. Die Ergebnisse dieser Polemik haben in entscheidendem Maße die spätere gesellschaftliche Haltung gegenüber den bisherigen serbischen Kulturtraditionen bestimmt, und letztlich haben sie eine starke Diskontinuität in der modernen kulturellen Entwicklung und der Perzeption der kulturellen und künstlerischen Traditionen verursacht. Schon am Anfang des so genannten Sprachenstreits war klar, dass ihm zwei verschiedene Lösungskonzepte der angehäuften Probleme kultureller sowie politischer Natur dieser Zeit zugrunde lagen. Das völkische Kulturkonzept, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts unter Serben in den Gebieten unter osmanischer Herrschaft entwickelte und von Karad`i} in ein kohärentes System gebracht wurde, basierte ausschließlich auf der mündlichen Volkspoesie und befürwortete einen radikalen und raschen Ausweg aus der Situation. Das zweite so genannte bürgerliche Kulturkonzept, das am Ende des 18. Jahrhunderts sich zu formieren begann, ging aus den serbischen Gesellschaftskreisen 14 Zit. nach zit. Anm. 3, Kluckhohn, Ideengut, S. 105. 15 Zit. nach zit. Anm. 11, Moja{evi}, Grimm, S. 87. BH 10 Book.indb 68 22.8.2008 22: 10: 24 Vom »Volkslied« zur Nationalkultur 69 in der Habsburgermonarchie hervor. In ihm drangen verschiedene Elemente der kulturellen Tradition ineinander: von der serbischen mittelalterlichen Kultur über fremde Einflüsse, welche die an mitteleuropäischen Universitäten ausgebildeten Intellektuellen übernahmen, bis zu der eigenen bürgerlichen Kultur, deren Schaffen durch die relativ ungestörte Arbeit der serbischen Schulen und durch die Emanzipation der gesellschaftlichen Eliten während des 18. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie möglich geworden war. Dieses Kulturkonzept war weder kohärent noch in ein einheitliches System gebracht worden. Es hatte sowohl klerikale als auch bürgerliche Elemente, die oft im Gegensatz zueinander standen. Im Sprachenstreit schalteten sich seine Vertreter ohne klare Vision davon ein, wie die Sprache normiert werden sollte. Einig waren sie sich aber in der Ansicht, dass eine radikale Trennung von dem bisherigen literarischen Erbe eine schädliche Diskontinuität in der kulturellen Entwicklung bedeuten und zur Vernachlässigung und zum Vergessen jener literarischen Traditionen führen würde, die nicht in der Volkssprache verfasst wurden. Vuk Karad`i} fragte sich in der Situation von 1818: »‡W™ie soll man heute für die Serben schreiben? Nicht einmal sie selbst sind sich darüber einig, sondern haben sich in zwei Parteien geteilt: Die einen sagen, dass man richtig Slawisch schreiben und die Volkssprache mit allem Dazugehörigen zurücklassen soll, wie eine verdorbene Schweine- und Rinderhirtensprache. ‡...™ Die anderen (von denen es mehr gibt) meinen, dass weder richtiges Slawisch noch Serbisch nötig ist, sondern dass man die Volkssprache verbessern und zwischen beiden Sprachen gemischt schreiben soll, ‡...™.« 16 Karad`i} betont auch die soziale Konnotation der Sprachvarianten: das Serbische wurde von Schweine- und Rinderhirten gesprochen, das Slawische wurde von den höheren Herrschaften in Ungarn befürwortet. Nur weil Karad`i} durch die Setzung der Volksprache als Norm rücksichtslos mit der literarischen Tradition brach und sich vom Regelwerk älterer Schriftwerke und deren Orthographie distanzierte, konnten die Klarheit und Funktionalität von Karad`i}s Sprachreform und somit ihr Erfolg zustande kommen. »Hätte es in Serbien einen Shakespeare gegeben, so mochten wohl Vuk selber Skrupel gekommen sein, sich über ihn hinwegzusetzen.« 17 Der Bruch und die Veränderung, die die radikale Sprachreform Karad`i}s in der kulturellen Entwicklung verursachte, mündete am Ende des 19. Jahrhunderts in eine einheitliche kulturelle Ganzheit mit einer neuen bürgerlichen Kultur, die von den neuen gesellschaftlichen Eliten geformt wurde. In ihrem Kern waren jedoch die Kulturwerte, auf denen Karad`i}s radikale Sprachreform mit einer in Europa einmaligen Schreibregel basierte, eingebaut. Die Ergebnisse, die der Streit um zwei verschiedene Kulturkonzepte mit sich brachte, wurden durch ihre politische Instrumentalisierung mehrmals in der politischen Geschichte Serbiens wieder aktualisiert und 16 Zitat nach zit. Anm. 6, Hopf, Sprachnationalismus, S. 163. 17 Norbert Reiter: Vuks Sprachdemokratismus. In: Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanovi} Karad`i}. Hg. v. Reinhard Lauer, Wiesbaden 1988, S. 50-67, hier S. 67. BH 10 Book.indb 69 22.8.2008 22: 10: 24 70 Emilija Man~i} immer mit einer gewissen Schwere und Empfindlichkeit verbunden, umso mehr, da mit der Sprachenfrage in den Umbruchzeiten des 19. und 20. Jahrhunderts das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit beziehungsweise Identität verbunden war. Die Zivilisation von Gunj i opanak (Obergewand aus Tuch und Opanke) entsprach ganz der populistischen Rhetorik, die die Radikale Partei von Nikola Pa{i} ins serbische politische Leben eingeführt hat. »Das Konzept der Volkskultur und -sprache, das im serbischen Dorf und Bauer verkörpert war, wurde ein wichtiges Element der politischen Kommunikation.« 18 In der politischen Rhetorik wurden die mit diesem Konzept verbundenen Werte oft a priori den bürgerlichen entgegengesetzt, da sie »wahre« nationale oder Klassenwerte widerspiegelten. Die Folge war, dass in der serbischen Gesellschaft die Vorstellung vom serbischen Bauern und die mythologisierte Person von Vuk Karad`i} die wichtigen Symbole der kollektiven Identität darstellen. Idealisierung des Gruppenliedes und sein Hochstilisieren zum Volkslied waren Herders fortwirkende Taten. Dem Volkslied wurde nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Wirkung zugeschrieben, da sich seine Wirkqualität auf die Erreichung einer emotionalen Identifikation beschränkt, und zwar mit den als »wahr« und »gut« dargestellten Inhalten der vor allem nationalen Ideologie. 19 Wie Ernst Klusen in seinem Buch »Volkslied: Fund und Erfindung« schreibt, hat Herder selbst damit nichts zu tun, er schuf nur die Voraussetzungen dafür. Genauso wenig hat Vuk Karad`i} mit dem politischen Missbrauch des völkischen Kulturkonzeptes in Serbien zu tun, er hat aber ebenso die Voraussetzungen dafür geschaffen. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts schöpften nationale Bewegungen immer wieder aus dem Ideenrepertoire der deutschen Romantik. Die gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert wurden von einigen Romantikern auch als Verlust von Identität wahrgenommen. Die romantische Sehnsucht nach Identität und Verbindlichkeit entsprach der elementaren menschlichen Identitätssuche in verschieden Epochen und Zeiten. Gerade diese elementare Identitätssuche wird bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen vermeintlichen Nationen oft zur schwierigen Gratwanderung, was möglicherweise Teile der Radikalität, versteckten Verunsicherung und Gewaltbereitschaft im nationalistischen Kampf erklärt ‡...™. 20 Nach Fishman ist die Notwendigkeit von Identität, von Gemeinschaft in der Moderne größer als sie jemals war, und sie wird noch größer werden. »Wehe den Eliten in Universitäten, Regierungen und der Industrie, die das nicht erkennen oder die, noch schlimmer, meinen, dies sei nur ein rudimentäres Überbleibsel der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts.« 21 Seiner Meinung nach werden immer 18 Miroslav Jovanovi}: Jezik i dru{tvena istorija, Belgrad 2002, S. 82. 19 Vgl. Ernst Klusen: Volkslied: Fund und Erfindung, Köln 1969. 20 Zit. Anm. 4, Harth, Gedächtnis, S. 108. 21 Zitat nach zit. Anm. 6, Hopf, Sprachnationalismus, S. 110. BH 10 Book.indb 70 22.8.2008 22: 10: 24 Vom »Volkslied« zur Nationalkultur 71 diejenigen am ruhigsten und rationalsten mit Nationalismen umgehen können, die um ihre eigene Identität, Zugehörigkeit und Anerkennung nicht mehr fürchten müssen, die einen festen Platz besitzen und denen ihre Nation sicher ist. 22 Nationalismus ist eher weniger eine rückwärtsgewandte Ideologie als vielmehr gegenwarts- und zukunftsbezogen. Vor allem in Bezug auf Ziele und Veränderungswünsche in der Gegenwart und Zukunft wird die Vergangenheit aktiviert und aktualisiert. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens hat gezeigt, wie labil die Identität im südosteuropäischen Raum ist. Manche Analytiker wollen den Zerfall als die allgemeine Identitätskrise sehen, die nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus 1989 in Europa ausgebrochen war. Zu oft wurde in diesem Raum die Kategorie der Identität dermaßen in Beschlag genommen, dass die negativen Folgen dieses Missbrauchs noch heute zu spüren sind. Die so genannten nationalen Wiedergeburten in den Teilrepubliken Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre wiesen auf eine Art der Neuentdeckung des homogenisierten Kulturverständnisses hin und führten zur Verkennung der Tatsache, dass auch die Nationalkulturen einander mehr oder weniger stark durchdringen. Es ist deswegen geradezu unmöglich, kulturelle Identität allein an einem lokalen, nationalen, geschichtlichen oder kulturellen Rahmen fest zu machen. Gerade der Balkan sollte stellvertretend für jenen Raum stehen, in welchem Kultur von jeher weder exklusiv noch autark, sondern als »Textur«, als heterogenes Gewebe, zur Realität geworden ist. 22 Vgl. dazu Joshua Aaron Fishman: Language and Nationalism. Two Integrative Essays, Rowley/ Massachusetts 1972. BH 10 Book.indb 71 22.8.2008 22: 10: 24 BH 10 Book.indb 72 22.8.2008 22: 10: 24 M IRA M ILADINOVI } Z ALAZNIK (L JUBLJANA ) »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡...™ kann man ‡...™ verzeihen, ohne daß ‡...™ die Ehre der slovenischen Nation darunter leidet« 1 Slowenisches Theater des 19. Jahrhunderts 1. Eine kleine Einführung Die Geschichte des slowenischen Theaters ist keine eindeutige und erst recht keine einfache. Zum einen trug dazu maßgeblich der Umstand bei, dass jener Landstrich, den man heute entweder als slowenisches ethnisches Gebiet oder als das Land Slowenien bezeichnet, damals ein Teil der Habsburger Monarchie war, in dem Slowenisch für die zweite Landessprache (die erste war naturgemäß Deutsch) gehalten wurde und somit also keinesfalls für die Muttersprache eines (Groß)Teils seiner Bewohner. 2 Auch aus diesem Grund wurden alle Bemühungen der Slowenen um eine slowenische Zeitung, ein slowenisches Theater und eine slowenische Universität von der Obrigkeit und den meisten Deutsch- Österreichern mit Befremden oder gar mit äußerster Abneigung betrachtet und behandelt. Zum anderen aber waren dem slowenischen Theater auch die Beziehungen der Slowenen untereinander wenig bekömmlich. Slowenen bemühten sich seit 1838, nachdem der Krainer Literat und Kultur-Journalist Leopold Kordesch (1808-1879) ein entsprechendes Gesuch eingereicht hatte, um eine politische und/ oder Kulturzeitung in slowenischer Sprache. Seine wiederholten Gesuche wurden abgelehnt genauso wie jene des Pre{eren-Freundes Andrej Smole (1800-1840) oder des Druckers Josef Blasnik (1800-1872). Erst nachdem sich der Verein zur Beförderung und Unterstützung der Industrie und Gewerbe in Innerösterreich zweimal schriftlich für die Herausgabe eines slowenischen 1 Leopold Kordesch: Noch eine nothgedrungene Replik, Illyrisches Blatt, 12. 12. 1848, S. 400. 2 Es ist hier nicht der Ort, auf diese historische Tatsache genauer einzugehen. Doch darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass das französische Regime im Grund- und Mittelschulwesen mehr Verständnis für die slowenische Sprache aufbrachte als die österreichische Staatlichkeit davor und danach. Unter den Franzosen war Slowenisch die Unterrichtssprache in allen vier Klassen der Grundschulen (écoles primaires) und in Gymnasien. Der erste Lehrstuhl für Slowenisch wurde in der Donaumonarchie zur Zeit der Illyrischen Provinzen (! ) »per kaiserlichen Beschluß« vom 11. Juli 1811 in Graz gegründet. Am 30. April 1812 hielt Janez Primic dort seine Probevorlesung. Der Lehrstuhl wurde für eine Dauer von drei Jahren etabliert und war erheblich schlechter bezahlt als die Lehrstühle anderer lebenden Sprachen. Anfang Oktober 1813 verfiel Primic dem Wahnsinn, so dass der Lehrstuhl für zehn Jahre, bis zu seinem Tod 1823, unbesetzt blieb. In Ljubljana, der heutigen Hauptstadt Sloweniens und der damaligen der Illyrischen Provinzen, des späteren Königreiches Illyrien und dann noch des Herzogtums Krain, wurde der Lehrstuhl für Slowenisch am 18. 12. 1815 gegründet, den Unterricht begann Franc Metelko am 16. 4. 1817. Slowenisch (das nicht für die Muttersprache der slowenischen Schüler gehalten wurde, welche nach wie vor Deutsch war) konnte sich als Unterrichtssprache in Gymnasien erst in den 70-er Jahren des 19. Jhs. durchsetzen. Ab 1851 war Slowenisch lediglich eines der Unterrichtsfächer an den Gymnasien. BH 10 Book.indb 73 22.8.2008 22: 10: 24 74 Mira Miladinovi} Zalaznik Blattes eingesetzt hatte, wobei die Gesuche auch von dessen Präsidenten Erzherzog Johann (1782-1859) unterstützt wurden, konnte 1843 das Blatt Kmetijske in rokodelske Novice (Slowenische Landwirtschaftszeitung) erscheinen. Sein Hauptziel war die Fachbildung von Bauern und Gewerbetreibenden. Gleichzeitig übernahm es - gleichsam unversehens - auch eine gar nicht hoch genug einzuschätzende Kulturfunktion. Der slowenische Bauer bekam dadurch nämlich einerseits ein Blatt, in welchem er sich in seiner Muttersprache bilden und informieren konnte, andererseits aber sahen nun Städter und Intellektuelle ein, dass es sich in Slowenisch diskutieren und nicht nur dichten ließe. Auch der Redakteur Dr. Janez Bleiweis (1808-1881) stellte die Seiten von Novice sporadisch slowenischen Dichtern zur Verfügung (obwohl das ursprünglich nicht seine Absicht war), wo diese ihre (patriotischen) Gedichte veröffentlichen ließen. Somit beeinflusste er maßgeblich die Bildung des slowenischen Nationalbewusstseins. Da slowenische Dichter damals in den deutschen Blättern Illyrisches Blatt (1819-1849) oder Carniolia (1838-1844) ihre (mitunter gar in Slowenisch verfassten) Werke erscheinen lassen konnten, wo sie nur von Gebildeten gelesen wurden, konnten sie ab jetzt mit Hilfe von Novice auch das einfache Volk ansprechen. Unter diesen Umständen meinte Bleiweis etwas vorschnell, er sei nicht nur der politische Leiter der Slowenen, sondern auch der kulturelle, vor allem auch deswegen, weil dem Blatt innerhalb von zwei Jahren das gelungen war, was nicht einmal Pre{eren mit Vraz und Smole erreichen konnten, nämlich die Einführung einer einheitlichen Schrift, der sog. Gajica. Da der konservative Bleiweis als sog. Altslowene aus angeführten Gründen sich und der Zeitschrift Novice das Primat in der Politik und in der Kultur auch dann noch erhalten wollte, als es zu anderen politischen Ansichten (Liberalismus) und neuen Literaturbestrebungen, -bemühungen und -bewegungen gekommen war, führte dies zu einem kolossalen Bruch zwischen ihm und der nachkommenden Generation der Jungslowenen auf den beiden Gebieten: in der Politik und in der Kultur. Das »Slowenen-Land«, wie Peter Handke in einer seiner Schriften mein Land bezeichnet, erfreute sich in seiner Geschichte der letzten 200 Jahre diverser Namen: Königreich Illyrien, Illyrische Provinzen, wiederum Königreich Illyrien, wobei die Eidesformel von 1814 an den Kaiser Franz den Ersten, kurios genug, »in deutscher und italienischer Sprache vernehmlich vorgelesen, und sodann von den Deputirten auf die übliche Art mit jener Festigkeit und Würde nachgesprochen ‡wurde™, welche die Wichtigkeit dieser feyerlichen Handlung erheischte«. 3 Als das Königreich Illyrien durch die Reichsverfassung vom 4. März 1849 aufgelöst wurde, ging daraus auch das Herzogtum Krain hervor. 2. Das multikulturelle Laibacher Theaterleben Wie war denn das Theaterleben in Ljubljana, auf welches ich mich hier konzentrieren werde, dabei bewusst die Städte Maribor, Ptuj, Novo mesto außer 3 Laibacher Zeitung, 11. 10. 1814, unpaginiert. BH 10 Book.indb 74 22.8.2008 22: 10: 24 »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡...™ kann man ‡...™ verzeihen, ...« 75 acht lassend, die sowohl von deutschen als auch slowenischen Gruppen bespielt wurden? Seit dem 17. Jh. wurden in Ljubljana Theatervorstellungen in Deutsch entweder von fahrenden Komödianten oder von eigens engagierten Theatergruppen aufgeführt. Eine erste Theatergruppe stieg in der Stadt bereits 1653 ab, wenn nicht früher; die ersten namentlich bekannten Darsteller waren 1662 die Insbruggerischen Comödianten. Die Gruppen gastierten zunächst im Rathaus. Von einer mehr oder weniger regelmäßigen Theatersaison kann in Ljubljana seit 1765 gesprochen werden, als das (deutsche) Ständische Theater errichtet wurde, das sich auf der Stelle der heutigen Philharmonie befand. Hier konnte man auch italienisches Theater sehen, welches ebenfalls im 17. Jh. beurkundet ist und anfänglich ausschließlich bei den interessierten Privatpersonen gastiert hatte. Die erste Aufführung einer italienischen Oper wurde 1660 im Auersperg-Garten aufgeführt. Eine Besonderheit der italienischen Aufführungen waren slowenische Arien, die vom berühmten Aufklärer, dem ersten slowenischen Dramatiker und namhaften Historiker Anton Toma` Linhart (1756-1795) und dessen Mäzen @iga/ Sigismund Zois (1745-1819), dem Industriellen rätoromanischer Herkunft, der selbst auch dichterisch tätig war, übersetzt wurden. Belege für das Spielen des italienischen Theaters in Ljubljana reichen bis in die Zeit der Illyrischen Provinzen 1809-1813. Auch heute noch wird das einstige italienische Theater hie und da als ein wichtiges Gegengewicht zum deutschen Theater gesehen. Das Gebäude des Laibacher Ständischen Theaters brannte 1887 nieder. Das neue Landestheater wurde 5 Jahre später, 1892, in jenem Gebäude errichtet, in welchem sich die heutige Oper befindet. Bis 1911 wurden hier Theaterstücke sowohl in deutscher als auch in slowenischer Sprache gegeben, als das deutsche Theater sein eigenes Gebäude erhielt, das Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläums-Theater, welches heute das slowenische Nationaltheater beherbergt. Die ersten, die slowenische Aufführungen organisiert haben, waren in den Jahren 1657-70, d. h. zeitgleich mit den deutschen Aufführungen, Zöglinge des Jesuitenkollegs in Ljubljana, die auch außerhalb ihres Schulgebäudes das Stück Igra o paradi`u (Das Spiel vom Paradies) gespielt haben. Der Kapuziner Lovrenc Maru{i~ (Marusig, 1676-1748) verfasste bzw. übersetzte unter dem Namen Romuald [tandre{ki den Text für das berühmte Passionsspiel von [kofja Loka/ Bischofslack, den so genannten [kofjelo{ki pasijon. Dieser älteste erhaltene Dramentext in Slowenisch umfasst über 1000 Verse und wurde in den Jahren 1727 und 1728 von mindestens 278 Spielern dargestellt. Es wird heute noch mehr oder weniger regelmäßig in [kofja Loka aufgeführt und erfreut sich eines zunehmenden Publikuminteresses. 3. Das slowenische Theater in Ljubljana Als der eigentliche Beginn des Theaters in slowenischer Sprache gilt der 28. Dezember 1789. An diesem Tag vor bald 220 Jahren hatte der hier bereits erwähnte Linhart gemeinsam mit einem Kreis von gleich gesinnten Vertretern BH 10 Book.indb 75 22.8.2008 22: 10: 25 76 Mira Miladinovi} Zalaznik der Laibacher Gesellschaft eine erste Vorstellung in Slowenisch auf den Brettern des Ständischen Theaters gegeben. Angeregt wurde seine Theatertätigkeit zweifelsohne durch die Französische Revolution. Linhart als Dramatiker war beflügelt einerseits vom revolutionären Stück Beaumarchais’ La folle journée ou le mariage de Figaro, das ihn zu seinem eigenen Mati~ek se `eni anregte (es durfte damals nicht gespielt werden), andererseits aber von Joseph Richters Die Feldmühle, das ihn zum Stück @upanova Micka (Des Dorfrichters Töchterchen) inspirierte, welches, wie wir bereits wissen, Ende Dezember 1789 gespielt werden konnte. Die ersten Weichen eines künftigen slowenischen Theaters wurden somit gestellt, doch wurden diese Bemühungen durch den frühen Tod Linharts jäh unterbrochen. Der hier bereits erwähnte Leopold Kordesch, vom Oktober 1845 bis Ende April 1849 Redakteur der Laibacher Zeitung und des Illyrischen Blattes, 4 bemühte sich 1848 erfolglos um eine Krainer Schauspieltruppe, die Stücke in slowenischer Sprache hätte spielen sollen. Den eigenen Aussagen gemäß sei er deswegen um ein Haar verhaftet 5 worden: »W a s ? ? ein slavisches - so was, sagt man: ganz slavisches Theater in Laibach, in der Hauptstadt Krains! ? - Unmöglich! Unerhört! « ‡...™ Wahrhaftig! nur mit Zähneknirschen kann man daran denken, daß seit vielen Jahren ‡...™ in Prag, Lemberg, Agram und (wenn ich nicht irre) auch in Zara stabile slavische Bühnen geduldet werden, während in Laibach nicht ein Mal Dilletanten es wagen durften, die Aufführung irgend eines slavischen Stückes in Vorschlag zu bringen, ja während man in den letzteren Jahren ‡...™ sogar in der Bühnencritik nicht erwähnen durfte, daß ein hie und da eingelegtes slavisches Lied gesungen und applaudirt wurde! - Nur in Krain ‡...™ wollten gewisse hochgetragene Spürnasen den Herd des Schreckenphantoms: Panslavismus um jeden Preis herauswittern. Darum die jahrelange Knechtung jedes wirklichen Aufschwungs unserer Muttersprache; darum die Unterdrückung ihrer Fortbildung, woraus nothwendig Stagnirung unserer schönen vaterländischen Literatur eintreten mußte, und so verdorrte denn jeder junge, frische und hoffnungsvolle Zweig gleich im Keime, bevor er Knospen trieb! - 6 Sein Vorhaben des slowenischen Nationaltheaters betrieb Kordesch als »ein Institut, eine Pflanzschule ‡...™, aus dem die vorstellenden Kräfte hervorgehen« würden: Die Böhmen, Ungarn, Croaten und die österreichischen Polen waren in dieser Beziehung glücklicher. Sie hatten Nationalbühnen und durften sie haben, während, wie allgemein bekannt, im Laibacher ständischen Theater in den letzten Jahren kaum einige slavische Lieder zum Vortrag zugelassen wurden, wobei man aber über 4 Vgl. die Autobiographie von L. Kordesch, publiziert in: Mira Miladinovi} Zalaznik: Neues zum Laibacher Blatt Carniolia (1838-1844) und dessen erstem Herausgeber Leopold Kordesch. In: Benachrichtigen und vermitteln. Deutschsprachige Presse und Literatur in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Mira Miladinovi} Zalaznik, Peter Motzan und Stefan Sienerth, München 2007, S. 71-86, vor allem 73-75, hier S. 74. 5 Vgl. Ivan Prijatelj: Gradivo. Iz `ivljenja kranjskega literata, Veda. Dvomese~nik za znanost in kulturo, 2/ 1912, S. 68-77, S. 293-304, S. 492-502, S. 596-607, hier S. 497. 6 Leopold Kordesch: Slavisches Theater in Laibach, Illyrisches Blatt, 11. 7. 1848, S. 224. BH 10 Book.indb 76 22.8.2008 22: 10: 25 »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡...™ kann man ‡...™ verzeihen, ...« 77 den enthusiastischen Beifall, den sie fanden, nicht einmal schreiben durfte. Diese knechtende, der Nationalität feindliche Zeit ist ‡...™ für immer vorüber und ‡...™ bei dem allgemeinen Aufschwunge, den die slovenische Sprache nimmt ‡...™ ist uns eine Nationalbühne ein Bedürfnis ‡...™ Es ist vielleicht nicht nöthig, sogleich auf die Erbauung eines eigenen Nationalschauspielhauses bedacht zu seyn - die slovenischen Vorstellungen können sehr gut, wie es in Prag, Agram und Lemberg der Fall war und zum Theil noch ist, mit den deutschen in einem und demselben Theater abwechseln ‡...™. 7 Diese Idee, aber eben nur die Idee, nicht jedoch ihr Träger, wurde auch vom Redakteur der slowenischen Zeitschrift Novice, Dr. Janez Bleiweis unterstützt, konnte sich aber auch seinetwegen nicht durchsetzen. Denn Bleiweis wollte es einfach nicht hinnehmen, dass ein anderer (Kordesch) so eine Idee zu verwirklichen trachtete. Nachzuprüfen ist meine Behauptung in Artikeln, die von Bleiweis, Kordesch und anderen in diversen Laibacher Zeitschriften immer wieder publiziert wurden. So wurde denn auch in dem von Kordesch redaktionell betreuten Illyrischen Blatt ein Artikel abgedruckt, der die Meinung des slowenischen Vereins (Slovensko dru{tvo), d. h. also in erster Linie die seines Leiters Bleiweis, zu einem slowenischen Stück zum Ausdruck bringt, das Kordesch und seine Mitstreiter zur Aufführung gebracht hatten: Der slovenische Verein ‡...™ hält sich nur als Begründer und natürlicher Beschützer der slovenischen Nationalbühne verpflichtet, öffentlich den Stab zu brechen über ein durch und durch verfehltes Stück. ‡...™ Verfehlt in der Anlage, gemein und obscön in der Ausführung, trivial und fehlerhaft in der Sprache, ist dieses Product ein Beweis, daß der Herr Verfasser Babnigg 8 entweder durchaus unfähig ist, für die Bühne zu schreiben, oder aber, daß er durch dieses Machwerk die slovenische Muse absichtlich zu verunglimpfen den Muth hatte, um die redlichen Bemühungen des slovenischen Vereins in die Nachtseite seiner Pygmäen-Welt zu stellen ‡...™. 9 Kordesch konnte diese scharfe und ungerechte Kritik eines Stückes, das er selbst auf die Bühne zu bringen mitgeholfen hatte, nicht stillschweigend hinnehmen, sondern reagierte in der gleichen Nummer des Blattes darauf mit Noch eine‡r™ nothgedrungene‡n™ Replik auf die »Beurtheilung, eigentlich Verurtheilung« des aufgeführten Schauspiels. Dabei wies er darauf hin, dass das Werk als slowenische Bearbeitung des Kotzebue’schen Stückes Die Zerstreuten sogar die strenge Vormärz-Zensur passiert hätte und daher moralisch in jeder Hinsicht einwandfrei sei: Das einzige Wort »Svinja« (Schwein) welches vorkam, mag trivial seyn; aber einem schlichten Bauer‡n™, der gegen Geldwucherer im gerechten Zorne eifert, kann man immerhin diesen starken unästhetischen Kraftausdruck verzeihen, ohne daß 7 Leopold Kordesch: Slovenisches Nationaltheater, Illyrisches Blatt, 28. 11. 1848, S. 384. 8 Josef Anton Babnik (Babnigg, Ps. Buchenhain, um 1802-1873), Erzähler, Dramatiker und Kritiker, schrieb vorwiegend in Deutsch, aber auch in Slowenisch, übersetzte aus dem Deutschen ins Slowenische und verfasste eine erste grundlegende Kritik der Lyrik Pre{erens. 9 Der slovenische Verein über die Nationalbühne, Illyrisches Blatt, 12. 12. 1848, S. 397. Es ging dabei um das Stück Zme{njava ~ez zme{njavo (Der Wirrwarr). BH 10 Book.indb 77 22.8.2008 22: 10: 25 78 Mira Miladinovi} Zalaznik - meines Dafürhaltens - die Ehre der slovenischen Nation darunter leidet. - Ich erlaube mir hierbei bescheiden auf Göthe’sches classisches dramatisches Product: »Götz von Berlichingen« hinzudeuten, worin der geniale Göthe mit 500 Säuen herumwirft, ohne daß seine ihn vergötternde Nation sich gekränkt oder beleidigt gefüllt hätte; von den Dramen Shakespeare’s will ich gar nicht reden. 10 Ende April 1849 verließ Kordesch, nicht ganz freiwillig, wie wir heute einem gefundenen Brief an Anastasius Grün 11 entnehmen können, die Redaktion der Laibacher Zeitung und des Illyrischen Blattes. Er widmete sich erneut der Gründung des slowenischen Nationaltheaters in Ljubljana, dessen erster Direktor er werden wollte. Er veröffentlichte in der Laibacher Zeitung einen Artikel mit dem Titel Vertrauensvoller Aufruf an die biedere slovenische Nation zur Realisierung eines echt nationellen Unternehmens. Darin formulierte er neue Ideen zum Spielplan (vorwiegend slowenische Original-Stücke und Übertragungen aus anderen slawischen Sprachen) und zur Finanzierung dieses Vorhabens, das er auch als Mitglied des Historischen Vereins für Krain im Geiste der europäischen Aufklärung, der ihm zeitlich viel näher stehenden Romantik und der sich ändernden politischen Gegebenheiten betrieb: Wer die Culturgeschichte der europäischen Völker auch nur oberflächlich kennt, wird zugeben, daß überall ein Hauptmittel der stufenweisen Veredlung der Sprache und der Bildung des Volkes lediglich die Volksbühne war. Der Grundsatz, daß eine streng auf Moralität basirte, ständig geleitete, durch vaterländische Dramen (als Spiegel ruhmvoller Thaten unserer Vorfahren), die Begeisterung für Vaterland, und alles Große und Erhabene erweckende Nationalbühne eine Pflanzschule wahrer Volksbildung ist, bleibt daher unumstößlich. ‡...™ Zur Verwirklichung dieser angeregten Idee gehört, wie zu jedem bedeutenden Unternehmen, nur noch der nöthige Fond. Dieser Fond kann auf die allerschnellste und leichteste Art durch Zusammentritt einer Actiengesellschaft aufgebracht werden. Einhundert Actionäre à 10 fl. würden alle unvermeidlichen Vorauslagen auf Garderobe, Errichtung eines ambulanten Theaters, neue vaterländische Stücke, etwaige Engagementsvorschüsse, Theaterrequisiten etc. decken. 12 Man weiß, Kordesch hatte mit dieser Idee keinen Erfolg, denn der Vater der Nation, wie man Bleiweis liebevoll, aber wohl auch ein wenig ironisch nannte, war dagegen. In einem Brief an seinen jüngeren Dichterkollegen, übrigens einen Freund von Bleiweis und späteren Bürgermeister von Ljubljana (1864-1868), Ethbin Heinrich Costa (1832-1875), berichtet Kordesch am 21. Juli 1850 über das gescheiterte Projekt: »Ich werde Krain unter den allertraurigsten Familienverhältnissen verlassen, indem die slowenische Theatersache (fluchtwerthen 10 Leopold Kordesch. Noch eine nothgedrungene Replik, Illyrisches Blatt, 12. 12. 1848, S. 400. Bleiweis konnte Konkurrenz schlecht vertragen, vor allem, da er anscheinend keinen Einfluss auf die das Babnigg’sche Stück spielende Gruppe von Theaterliebhabern ausüben konnte. 11 Brief von Leopold Kordesch an Anastasius Grün vom 25. 6. 1849. Nachlaß Anastasius Grün, Karl-Franzens- Universität Graz, Institut für Germanistik. 12 Leopold Kordesch: Vertrauensvoller Aufruf an die biedere slovenische Nation zur Realisierung eines echt nationellen Unternehmens, Laibacher Zeitung, 28. 1. 1850, S. 112. BH 10 Book.indb 78 22.8.2008 22: 10: 25 »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡...™ kann man ‡...™ verzeihen, ...« 79 Andenkens! ), für die ich 6 Monate opferte, mich gänzlich ruiniert und mir das letzte Hemd so zu sagen, vom Leibe gerissen hat.« 13 Mit der erneuten Gründung von ^italnice (Lesevereinen), die nach der Wiedereinführung des Verfassungslebens in Österreich 1860 erfolgt war, fand die kulturpolitische Tätigkeit der Slowenen zunehmend in Gründung von Lesevereinen statt. Bleiweis war darüber begeistert und ließ überschwängliche Artikel in Novice abdrucken. Der erste slowenische Leseverein wurde am 29. Januar 1861 in Triest etabliert, gefolgt von jenem in Maribor (Juli 1861) und in Ljubljana (30. August 1861). Ihre Haupttätigkeit war die Organisation der sog. Bésede, d. h. Veranstaltungen, an denen Stücke, Rezitationen, Gesang, Konzertauftritte und Vorträge organisiert wurden, die in der Regel in einem Ball kulminierten. Auf diese Art wurden sie zum Sammelplatz der slowenischen Intelligenz und des slowenischen Bürgertums und somit zur Brutstätte des nationalen Erwachens. Denn hier konnten sich die Interessenten an allen jenen Segmenten (Literatur, Dramatik, Musik, Wissenschaft ...) des Slowenischen einüben und üben, in welchen bis dahin zweifelsohne Deutsch vorherrschte. Obwohl Lesevereine keine eigentlichen politischen Organisationen waren, so versammelten sich dort eben jene Persönlichkeiten, die später zu slowenischen Politikern wurden. 14 Es war nur selbstverständlich, dass die erste Aufführung eines slowenischen Theaterstückes in der Organisation des (Laibacher) Leservereins erfolgte. Am 4. Januar 1863 wurde das Stück Doma~i prepir (Hausstreit) in einem Raum des Souvan- Hauses vis-à-vis von Kasina gegeben, der den Lesesaal des Lesevereins bis 1892 beherbergte. Es handelte sich bei diesem Schauspiel um eine Adaptierung des Stückes von Kotzebue (1761-1819) Der häusliche Zwist (1810), die sich eines großen Erfolges erfreute (am 3. Februar 1864 sahen es mehr als 500 Besucher). 15 Seit den ersten ernsthaften Bemühungen Kordeschs um das slowenische Nationaltheater sind 18 Jahre verflossen. Im Jahr 1865 wurde auf Betreiben von Bleiweis, der eine Konkurrenz zu seinem Blatt Novice verhindern wollte und sich dadurch entschieden gegen die Jungslowenen und den Lyriker, Erzähler, Dramatiker und Journalisten Fran Levstik (1831-1887) stellte, ein neues deutsches Blatt in Ljubljana mit dem schönen Namen Triglav gegründet, eine »Zeitschrift«, wie im Untertitel angegeben, »für vaterländische Interessen«. Und hier wurde am 13. 4. 1866 ein Artikel nachgedruckt, der ursprünglich in der Wiener Zukunft erschienen war und von Leopold Kordesch verfasst wurde: Es war gegen Ende des Jahres 1849, als der Gefertigte ‡...™ durch die lobenswerthen Bildungsbestrebungen der Böhmen, Polen und Kroaten auf dem Felde der dramatischen Kunst lebhaft angeregt ‡...™ die Idee faßte, in Laibach und Krain ‡...™ ein - slovenisches Theater zu gründen. ‡...™ Wir hofften die Verwirklichung dieser 13 Brief von Leopold Kordesch an Ethbin Heinrich Costa vom 21. 7. 1850, NUK, Ms 1201. 14 D‡ragan™ M‡ati}™: ^italnice, »valilnice« slovenskih kulturnih ustanov. In: Slovenska kronika XIX. stoletja 1861-1883. Hg. v. Janez Cvirn, Ljubljana 2003, S. 25-27. 15 Vgl. M‡alina™ S‡chmidt™-S‡noj™: Prva dramska predstava ljubljanske ~italnice. In: Slovenska kronika XIX. stoletja 1861-1883. Hg. v. Janez Cvirn, Ljubljana 2003, S. 54-55. BH 10 Book.indb 79 22.8.2008 22: 10: 25 80 Mira Miladinovi} Zalaznik Idee durch freiwillig gezeichnete Aktien zu dem geringen Betrage von 10 fl. CM. zu erzielen. Dieser Plan fand vielen Beifall und es wurden auch bereits 100 Aktien gezeichnet. Es sollten mit einem kleinen Personale vorerst im Laibacher Theater nach den Osterfeiertagen des Jahres 1850 einige Vorstellungen gegeben werden, dann aber war präliminirt, daß die kleine Gesellschaft, mit den nötigen Dekorationsstücken versehen, auch Neustadtl, ^ernembl, Adelsberg, Krainburg, Stein und Radmannsdorf, ja selbst Triest und Görz nach der Reihe besuchen sollte ‡...™ Die Sammlung von Unterschriften für die Aktien-Abnahme, das Aussuchen und Einüben des slovenischen Theaterpersonals, die Unterhandlung wegen der Beschaffung der Garderobe und der transportablen Dekorationsstücke hatte viel Mühe und Zeit gekostet, bis es sich zuletzt herausstellte, daß der Ausführung des in Rede stehenden Projektes damals noch allzuviele Hindernisse entgegenstanden. 16 Kordesch, der immer wieder nach Ljubljana zurückkehrte, wusste um die kulturpolitische Lage der Stadt Bescheid: ‡...™ Jahrelang haben die verschiedenen Direktoren des Laibacher deutschen Theaters über den höchst geringen Theaterbesuch Klage geführt und sind sämmtlich trotz aller ihrer Anstrengungen und trotz Subvention von Seite der krainischen Landschaft zu Grunde gegangen. Warum? - Einfach deshalb, weil sie mit sehenden Augen blind waren. - Das ohnehin geringe deutsche Element in Laibach ist nun einmal durch die Zeitströmung von dem sich mehr und mehr entwickelnden slovenischen Elemente notorisch überflügelt, und Laibach ist zu klein, als daß ein deutscher Theaterdirektor in unserer Zeit gleichgiltig und ohne Einbuße auf die überwiegende Mehrheit slovenischer Bewohner, die sein Theater nicht besuchen, niederschauen könnte. Hätten die Direktoren des Landestheaters den nationalen Interessen Rechnung tragen wollen, und sich mit den Slovenen so weit geeinigt, daß in jeder Woche zwei oder mindestens doch eine slovenische Vorstellung im Theater stattgefunden hätte - wahrlich! es wäre ihr Schade nicht gewesen ‡...™ 17 Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Artikels, 1867 also, wurde in Ljubljana der slowenische Verein Dramati~no dru{tvo als der Vorgänger des slowenischen Nationaltheaters gegründet, u. zw. in ausdrücklicher Opposition zur Theatertätigkeit der ^italnica, des Lesevereins. Nichtsdestotrotz wurde seine erste Aufführung am 24. Oktober 1867, d. h. vor fast genau 140 Jahren, in den Räumlichkeiten der ^italnica gegeben: Man spielte das tschechische Stück Na mostu (Auf der Brücke) von V. K. Klicpera. Auch der slowenische Theaterverein wurde im Geiste der Aufklärung und Romantik, aber auch der neuen politischen Konstellationen betrieben. Seine Aufführungen, die nur selten die Qualität der ^italnica-Darbietungen übertroffen hatten, wurden später im deutschen Ständischen Theater gezeigt, ab 1892 aber im Landestheater. In dieser Periode stach bloß die Aufführung von Schillers Kabale und Liebe (1877) hervor, obwohl, vor allem in den ersten Jahren seiner Tätigkeit, die Theaterproduktion beachtlich war. Der Verein verfügte über engagierte Schauspieler, wurde aber dessen ungeachtet von einer schweren Krise in den Jahren 1878-79 erschüttert, die auch als eine 16 Zur Frage des slovenischen Theaters in Laibach, Triglav, 13. 4. 1866, S. 117-118. 17 Ebenda. BH 10 Book.indb 80 22.8.2008 22: 10: 25 »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡...™ kann man ‡...™ verzeihen, ...« 81 Folge der krisenhaften Beziehungen der Slowenen untereinander zu bewerten ist, so dass in dieser Zeit keine slowenischen Aufführungen gegeben wurden. Dazu kam noch, dass der Verein in den 80er Jahren nur 5 ständige Schauspieler und 4 Schauspielerinnen hatte und so genötigt war, mit Dilettanten zu arbeiten. Da diese tagsüber an ihre eigentlichen Berufe gebunden waren, konnten sie nur abends bzw. sonntags und feiertags proben - falls es an solchen Abenden keine Aufführungen gab. 18 Das deutsche Theater konnte in dieser Zeit viel geregelter arbeiten als das slowenische. Nachdem das Ständische Theater am 17. Februar 1887 einem Brand zu Opfer fiel, wurden slowenische Stücke wiederum in den Räumlichkeiten der ^italnica gespielt. Die Krise erreichte, wie bereits erwähnt, ihren Höhepunkt und der dramatische Verein hatte sich erst dann davon erholt, als neue Kräfte hinzukamen, vor allem Ignacij Bor{tnik (1858-1919) und seine spätere Frau, Zofija Bor{tnik-Zvonar (1868-1948). 19 Ignacij Bor{tnik übernahm nach abgeschlossenen dramatischen Studien in Wien 1886 die Leitung des Theaters in Ljubljana und verhalf ihm langsam zu großen Erfolgen, obwohl er keine leichte Arbeit hatte. Unter seiner Leitung studierte man mehr und einspruchsvollere Stücke ein. Er brachte 1886 wieder Schillers Kabale und Liebe, 1887 Gogols Revisor und am 23. November 1890 Hebbels Maria Magdalene zur Aufführung. Einige Monate vor dem Umzug ins fertige Theatergebäude, am Sonntag, dem 27. März 1892 verhalf er als Regisseur dem Ibsen’schen Stück Nora (13 Jahre nach dessen Entstehung) zur slowenischen Erstaufführung, 20 was eine gewagte Entscheidung war, denn das slowenische Publikum war damals theatermäßig eher unerfahren und ungebildet. Seine Frau spielte in der Titelrolle, er übernahm die Rolle des Rechtsanwalts Helmer, Noras Gatten. Das Werk wurde von Fr. Svoboda (Ps. von Fran Gestrin, 1865-1893) übertragen, der als Lyriker, Erzähler und Übersetzer vor allem aus dem Russischen, Tschechischen und Französischen tätig war und trotz seiner Jugend unter diversen Pseudonymen (Ivan Gornik, A. P., Fr. Svoboda, Skalar) unglaubliche 28 Theaterstücke ins Slowenische übertrug. 21 Da sich seine Übersetzung leider nicht erhalten hat, ist nicht mehr mit Sicherheit auszumachen, aus welcher Sprache Nora übertragen wurde. Es ist anzunehmen, dass als Vorlage die deutsche Übersetzung gedient hatte. 22 18 Vgl. Du{an Moravec: Slovensko gledali{~e Cankarjeve dobe (1892-1918), Ljubljana 1974, S. 9-29. 19 Ignacij Bor{tnik spielte sowohl in Ljubljana als auch in Zagreb - dort fast bis zu seinem Tode -, seine Frau auch in Belgrad, Sofia, Osijek und Zagreb, wo sie völlig vergessen 1948 starb. 20 Im südslawischen Raum wurde Nora zuerst in Zagreb (1889), dann in Belgrad und 1892 in Ljubljana gespielt. Die slowenische Übersetzung in Ljubljana wurde vor der deutschen gegeben. Vgl. Katarina Kocijan~i~: Henrik Ibsen v slovenskem gledali{~u. In: Biti pesnik pomeni videti. Ibsen v na{em ~asu. Razstavna dvorana NUK, od 5. oktobra do 4. novembra 2006 (= Katalog zur Ibsen-Ausstellung in der NUK 2006), ohne Paginierung. 21 Vgl. Anton Trstenjak: Slovensko gledali{~e. Zgodovina gledali{kih predstav in dramati~ne knji`evnosti slovenske. S ~etirimi slikami, Ljubljana 1892, S. 91. 22 In der NUK (National- und Universitätsbibliothek, Ljubljana) werden Ibsens Sämtliche Werke in zehn Bänden (Berlin 1898-1904) in deutscher Übertragung, aber auch die spätere deutsche Nachdichtung seiner Dramen in 5 Bänden aus dem Jahr 1907 aufbewahrt. BH 10 Book.indb 81 22.8.2008 22: 10: 25 82 Mira Miladinovi} Zalaznik Die Nora-Aufführung wurde einen Tag vor der Premiere im »politischen Blatt für das slowenische Volk«, dem katholischen Slovenec, 23 angekündigt. Dafür haben aber alle drei führenden Laibacher Blätter, die deutsche Laibacher Zeitung (LZ) und die slowenischen Slovenec und Slovenski narod, bereits am Tag darauf eine Rezension veröffentlicht. Der deutsche Rezensent J. beginnt seine überwiegend lobende Kritik in der LZ, indem er eingangs die Laibacher deutsche Aufführung der Gespenster von Ibsen als einen Beweis dafür in Erinnerung ruft, dass sich das Publikum bereits damals entgegen den Befürchtungen als reif genug für den Realismus des norwegischen Dichters zeigte: ‡...™ die Schöpfungen Ibsens ‡sind™ nicht für Theaterbesucher geschrieben, die bloß eine vorübergehende Aufregung, einen die Verdauung fördernden Sinnenkitzel in der Stätte der Kunst und Bildung suchen und die nur dann befriedigt sind, wenn sie einen echten, schablonenhaften Schluß sehen, der sie der Mühe weiteren Nachdenkens enthebt, nämlich Heirat oder Verlobung, eventuell einen kleinen Mord oder Totschlag oder dergleichen grause Spässe. Noch bitterer dürften jedoch alle jene enttäuscht gewesen sein, die in einem realistischen Drama eine Sammlung ausgewählter Obscönitäten erwarteten, die allerdings in hypermodernen Auswüchsen der naturalistischen Muse, nie aber in den sittlich ernsten Dramen Ibsens zu suchen sind ‡...™ Der große Anwalt der Frauen schildert uns in Nora das Weib der Zukunft, das eine ebenbürtige Genossin dem Manne im Lebenskampfe werden soll, das sich vom Puppenheime losreißt und den Mann, der sich zu der geistigen Höhe und Großherzigkeit seiner Gattin in seiner alltäglichen, niedrigen Denkungsart nicht zu erheben vermag, verläßt. Den begründeten Hauptvorwurf gegen die Charakterschilderung der Nora, darin gipfelnd, daß die Gattin den Gatten, nie aber die Mutter ihre geliebten Kinder verlassen kann, schildert der Dichter durch die Aussicht ihrer Rückkehr, denn das Wunderbarste war und bleibt die Mutterliebe ‡...™ In der Riesenpartie der Nora legte Frau Bor{tnik ein glänzendes Zeugnis ihrer Begabung ab und wußte insbesondere den Zusammenbruch ihres Puppenlebens mit erschütternder Tragik zu geben ‡...™ Daß Herr Bor{tnik den unklaren Schluß mit dem Hinweis auf die Rückkehr Nora’s zu ihren Kindern auf eigene Faust milderte, wollen wir ihm nicht verübeln, denn ein gleiches Zugeständnis wurde auch andernwärts dem Publicum gemacht und mag auf empfindsame Naturen von guter Wirkung sein. 24 Der anonyme Kritiker in Slovenec stimmt im Großen und Ganzen in der Beurteilung der Aufführung mit dem deutschen Kollegen überein. Er lobt sowohl die Hauptdarsteller, da vor allem die Darstellerin der Titelrolle, als auch den Dichter, welcher im Stück die Liebe einer Mutter über den Hass einer Gattin siegen lässt. 25 Die Kritik des liberalen Slovenski narod, das in seinem Urteil nicht so unbefangen war wie Slovenec, da die Mitarbeiter des erstgenannten oft dieselben waren wie die des Theaters, ist ebenfalls positiv. Eingangs konstatiert der Kritiker, der genauso wie sein deutscher Kollege mit einem J. zeichnet, dass man gesonnen sei, eine unparteiische Kritik zu üben, d. h. das zu loben oder zu 23 Slovensko gledali{~e, Slovenec, 26.3.1892, unpaginiert (Mikrofilm). 24 J.: Slovenisches Theater, Laibacher Zeitung, 28. 3. 1892, S. 589. 25 Slovensko gledi{~e, Slovenec, 28. 3. 1892, unpaginiert (Mikrofilm). BH 10 Book.indb 82 22.8.2008 22: 10: 25 »Das einzige Wort ’svinja’ (Schwein) welches vorkam ‡...™ kann man ‡...™ verzeihen, ...« 83 tadeln, was lobensbzw. tadelnswert sei. Auch er erwähnt, dass vor einigen Jahren bereits die deutsche Nora in Ljubljana für Aufmerksamkeit gesorgt habe und sich weder an französischen noch an deutschen Vorbildern orientierte, sondern nach dem Leben geschaffen sei. Er setzt fort, indem er den Lebenslauf Ibsens kurz umreißt, um dann auf Nora überzugehen. Die slowenische Aufführung nennt er eine glückliche und gelungene Vorstellung. Die kindische, leichtsinnige und verwöhnte, doch edel denkende Nora der Zofija Bor{tnik zeige, dass die Schauspielerin ein großes Talent habe, von dem noch vieles zu erwarten sei. Auch Bor{tnik sei seiner Rolle Herr wie auch alle anderen Darsteller. Das Stück sei eines der besten gezeigten Schauspiele überhaupt, daher hoffe man, noch viele ähnliche Produktionen zu sehen. 26 Am 29. September 1892 wurde das Landestheater mit Bor{tniks Bearbeitung von Veronika Deseni{ka von Josip Jur~i~ (1844-1881), der das Stück im Sterbebett schrieb, eröffnet. Das Theater war voll, 800 Besucher 27 nahmen an der feierlichen Eröffnung teil, darunter Landes-Honoratioren: der Präsident, der Landeshauptmann, sämtliche Ausschussmitglieder, Vertreter der Stadtgemeinde und der Wirtschaftsorganisationen, slowenische Intelligenz, die angesehenen Damen Laibachs, zahlreiche angesehene Patrioten aus den umliegenden Orten, aber auch eine Deputation der goldenen Stadt Prag mit dem Leiter des Národné Divadlo. Man war von dem neuen Theatergebäude, den schönen Toiletten, den prachtvollen Kostümen und Dekorationen derart überwältigt, dass man sich auf die Uraufführung des Stückes, das die eigene Geschichte thematisierte, was auch von der Presse angemerkt wurde, keinesfalls konzentrieren konnte. 28 Märchenhafte sieben Jahre später wurde in der Saison 1899/ 1900 zum ersten Mal, endlich, der große Erzähler und Dramatiker Ivan Cankar (1876-1918) im Theater gezeigt, u. zw. sein Stück Jakob Ruda (1898) mit Ignacij Bor{tnik in der Titelrolle. Das slowenische Theater konnte sich somit trotz seines Publikums, welches nach Unterhaltung und Rührseligkeit anderweitiger Autoren dürstete, mit dem besten Autor jener Zeit, wenn auch dem am meisten verfemten, fest etablieren. 26 J.: Slovensko gledali{~e, Slovenski narod, 28. 3. 1892, unpaginiert (Mikrofilm). 27 In der Stadt lebten damals 35.000 Einwohner, davon 15% Deutsche. Vgl. Anm. 18, Moravec, Slovensko gledali{~e, S. 18. 28 Vgl. ebenda. BH 10 Book.indb 83 22.8.2008 22: 10: 25 BH 10 Book.indb 84 22.8.2008 22: 10: 25 M ATJA ` B IRK (M ARIBOR ) »Man geht in Marburg damit um, ein neues Theater zu bauen ... Die Einwohner und Begüterten der Umgebung steuern freiwillig dazu bei ...« Literatursoziologisches zu Wechselbeziehungen zwischen der deutschen und der slowenischen Bühne in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts Um die Wechselbeziehungen zwischen deutscher und slowenischer Bühne im untersuchten Zeitraum in einem neuen Licht zu sehen, wird im vorliegenden Beitrag der bisherige Forschungsrahmen unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus Überlegungen zum literarischen Feld theoretisch erweitert. Basis der Überlegungen Bourdieus sind die sozialen Akteure, die grundsätzlich danach streben, Kapital zu akkumulieren, um so eine führende Position in einem gesellschaftlichen Teilbereich zu erlangen, wobei die gesellschaftlichen Felder immer stärker zur Autonomisierung tendieren. Zu Bourdieus Konzept gehört auch die Einsicht, dass die Akteure sich von den anderen Akteuren im Feld abgrenzen durch Stile, künstlerische Verfahren, Kulturpraktiken usw. Die Distinktion im Feld werde jeweils durch den Erwerb von Kapital begründet. Das Feld der Kunst und der Literatur, das als Raum ästhetischer Möglichkeiten und Positionen definiert wird, zeichne sich besonders durch die Verleihung von kulturellem und symbolischem Kapital aus. Das Ziel der Akteure sei, diese Form des Kapitals in ökonomisches und soziales Kapital umzutauschen, wobei der Erwerb von ökonomischem Kapital im Feld verpönt sei. Bourdieu unterscheidet drei Kunstformen hinsichtlich der Beziehungen zum Markt: erstens die vom Markt weitgehend unabhängige Kunstform, zweitens die dem Markt unterworfene und drittens die engagierte Kunst, deren Aufgaben betont heteronom sind. Die häufigste Form der Distanzierung von den Erwartungen des Publikums sei die Innovation. Laut Bourdieu bringt dem Beherrschten die Auseinandersetzung mit dem Herrschenden symbolisches Kapital und Legitimität ein. 1 Im vorliegenden Beitrag werden, ausgehend von den umrissenen theoretischen Prämissen Bourdieus, die Interdependenzen zwischen deutscher und slowenischer Theaterkultur in den damaligen Feldern der deutschen und slowenischen kulturellen Produktion im slowenischen ethnischen Raum anhand der Bühnen in Maribor und Ljubljana erörtert. Untersucht 1 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999, S. 187-297. Dass sich die literatursoziologische Theorie des literarischen Feldes als produktiver methodologischer Zugang zur Erforschung der Kulturtransferprozesse erweist, bezeugen zahlreiche Veröffentlichungen aus den letzten Jahren. Vgl. dazu Norbert Bachleitner: Eine soziologische Theorie des literarischen Transfers. Erläutert am Beispiel Hermann Bahrs. In: Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne 22). Hg. v. Helga Mitterbauer u. Katharina Scherke, Wien 2005, S. 147-156. BH 10 Book.indb 85 22.8.2008 22: 10: 25 86 Matja` Birk werden die Modalitäten der Herstellung von Distinktion, die Formen des Kapitals, in deren Besitz die Akteure in ihrer Eigenschaft als Kultur-, Theaterkritiker, Zeitungsredakteure, Theaterleiter usw. gekommen waren, die Interdependenz zwischen der jeweiligen Vermittlertätigkeit und der Feld-Positionierung der Kulturakteure, ihre Beziehungen zu den Ansprüchen des damaligen Publikums und den Akteuren in lokalen und regionalen Machtfeldern, die Erweiterung des literarischen Feldes usw. Die slowenische Bühne wuchs in die in den damaligen, mit slowenischer Bevölkerung besiedelten österreichischen Ländern Krain und Steiermark existierende deutschsprachige Theaterlandschaft hinein. Deutsche Bühnen gab es in den Städten Ljubljana (dt. Laibach), Maribor (dt. Marburg an der Drau), Celje (dt. Cilli), Ptuj (dt. Pettau), sporadisch auch in einigen anderen urbanen und ländlichen Umgebungen. Die längste deutschsprachige Theatertradition weist Ljubljana auf, die Metropole Krains und seit 1816 des neu gegründeten Königreiches Illyrien. Dort reicht die deutschsprachige Theaterproduktion in das 16. Jahrhundert zurück. 2 Institutionalisiert wurde sie in einer Welle von Theatergründungen der theresianisch-josephinischen Zeit im Jahr 1765 mit der Eröffnung der Bühne, die nach ihren Inhabern, den Krainischen Ständen, Ständisches Theater benannt wurde. Mit der Theaterproduktion, die seitdem regulär geworden war, wurden professionelle Schauspielergesellschaften aus Deutschland und Österreich beauftragt. Im Unterschied zu Ljubljana, dem Verwaltungs- und Kulturzentrum inmitten des slowenischen ethnischen Raumes, war Maribor eine kleine südsteirische Kreisstadt, innerhalb des damals noch vorwiegend deutschen Kulturraumes. Der seit 1831 am Mariborer Gymnasium tätige Rudolf Gustav Puff (1808-1865) berichtet von einem regen Gesellschaftsleben der Stadt, das zurückzuführen sei auf »den gemütlichen Geiste der Bürger«, bei denen sich »die deutsche Ehrenhaftigkeit mit dem geschmeidigen Hauche des Slaventhumes« verbunden habe, auf den »zahlreichen humanen und sehr geselligen Adel« und nicht zuletzt auf »die seltene Eintracht Zivils und Militärs, von den Behörden, bis in das unterste Familienleben«. 3 Das reale Bild der Situation im Mariborer Kulturfeld fiel weniger positiv aus, wie das Puffs Lobbezeugungen zu entnehmen ist, und zwar schon deshalb nicht, weil die kulturelle Entwicklung der Stadt durch die unmittelbare Nähe des regionalen Kulturzentrums Graz stets gehemmt wurde. 4 Dies führte dazu, dass Maribor im 19. Jahrhundert im Feld deutscher Kultur eindeutig hinter Ljubljana stand. Im Vergleich zu Ljubljana setzte die deutschsprachige Theaterproduktion in Maribor mit einer 20-jährigen Verspätung ein, hatte keine Kontinuität und war in den Händen 2 Vgl. Du{an Ludvik: Nem{ko gledali{~e v Ljubljani do leta 1790 (Deutsches Theater in Ljubljana bis 1790), Ljubljana 1957. 3 Rudolf Gustav Puff: Marburg in Steiermark. Seine Umgebung, Bewohner und Geschichte, Graz 1847, S. 258. 4 Vgl. Manica [pendal: Glasbene predstave na odru mariborskega gledali{~a 1785-1861 (Musikvorstellungen auf der Bühne des Mariborer Theaters 1785-1861), Maribor 1975, S. 26-27. BH 10 Book.indb 86 22.8.2008 22: 10: 25 »Man geht in Marburg damit um, ein Neues Theater zu bauen ...« 87 von Dilettanten. 5 Noch wesentlich ungünstiger gestaltete sich im Vergleich zur slowenischen Metropole die Situation im Mariborer slowenischen Kultur- und Literaturfeld, was aus der nationalen Struktur der Stadtbevölkerung, die mehrheitlich deutsch war, und der bereits erwähnten deutschkulturellen Prägung der südsteirischen Region resultierte. Dass die deutschsprachige Theaterproduktion in der habsburgischen Provinz von ästhetischer und materieller Mediokrität gekennzeichnet war, und dass die Gründe dafür in den finanziellen Bedingungen und dem Erwartungshorizont des Rezipienten in der Provinz zu suchen sind, ist bekannt: Die Theaterkritik in der slowenischen Provinz des Habsburgerreiches - als Beispiel sei der Ljubljanaer Kritiker Leopold Korde{ genannt - sah sich hin und her gerissen zwischen den Erwartungen einerseits des Theaterunternehmers und andererseits des Publikums. Es verwundert daher nicht, dass in der Auswertung der dramatischen Produktion die Postulate der Schonung und des Sich- Begnügens »mit der Hausmannskost«, unter der Voraussetzung, dass »diese gut und gesund ist«, 6 zunehmend zur Geltung kamen. Ungeachtet der dargelegten Bedingungen, zu denen in Maribor im untersuchten Zeitraum noch ständige Probleme mit Räumlichkeiten hinzukamen, gelangten in der Zeit vor 1848 an diversen provisorischen Bühnen in der Stadt 3000 Theaterstücke zur Aufführung. Die deutsche Bühne als eine der wenigen gut ausgebauten Kulturinstitutionen der Stadt, wurde als konstitutiver Teil des lokalen und regionalen Feldes der kulturellen Produktion wahrgenommen, an deren Entwicklung, im Unterschied zu Ljubljana, auch slowenische Theaterenthusiasten beteiligt waren; erstens, weil sie sich mit der deutschen Kultur vorbehaltlos identifizierten, zweitens, weil eine ausreichende nationalkulturelle Substanz, die das Bestehen der slowenischen Bühne ermöglicht hätte, in der Vormärzzeit nicht gegeben war, 7 und drittens, weil unabhängig von der nationalen Herkunft dem Postulat der Bildung und Sittlichkeit der Vorrang vor der nationalkulturellen Bewusstwerdung eingeräumt wurde. Von ähnlichen Überlegungen gingen auch einige andere, außerhalb von Maribor wirkende, aus slowenischen Theaterliebhabern zusammengesetzte Theatergruppen aus: Davorin Trstenjak 8 berichtet in der von ihm redigierten und herausgegebenen Mariborer Kulturzeitschrift Zora (1872-1878), rückblickend 5 Zur Entwicklung des deutschen Theaters in Maribor in der ersten Hälfte des 19. Jhds. vgl.: Zit Anm. 4, [pendal, Predstave na odru; Walter Taufar: Das deutschsprachige Theater in Marbug an der Drau. Typologie eines Provinztheaters. Diss., Maribor 1982; Bruno Hartman: Das deutsche und slowenische Theater in Maribor. In: Kulturelle Wechselseitigkeit in Mitteleuropa. Deutsche und slowenische Kultur im slowenischen Raum vom Anfang 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg (= Wissenschafltiche Bibliothek Österreich - Slowenien 1). Hg. v. Felix J. Bister u. Peter Vodopivec, Ljubljana 1995, S. 207-224, hier S. 208. 6 Leopold Kordesch: Beantwortung der Theaterfrage, Carniolia, 26. 1. 1844 (Nr. 8), S. 32. 7 Zit. Anm. 5, Hartman, Theater in Maribor, S. 209. 8 Davorin Trstenjak (1817-1890) war Anhänger des Illyrismus und Panslawismus und eine wichtige Figur im slowenisch-kroatischen Kulturtransfer im Bereich der Kunst- und Volksdichtung. In den 40er Jahren kam es zum Austausch südslawischer Volkslieder und in volksliedhafter Manier geschriebener Poesie in deutscher Übersetzung zwischen dem Ljubljanaer Illyrischen Blatt, der Carniolia und der Zagreber Croatia. Trstenjak trat auf als Autor einiger in kroatischer Sprache geschriebener Gedichte, darunter des Montenegriner Liedes, das vermutlich während seiner Zagreber Studienjahre in der Zeit von 1836 bis 1840 verfasst und im Illyrischen Blatt (Nr. 4 vom 28. 1. 1841) veröffentlicht wurde. BH 10 Book.indb 87 22.8.2008 22: 10: 25 88 Matja` Birk auf die Vormärzzeit, von einer slowenischen Theatergruppe aus Ljutomer (dt. Luttenberg), die deutsche Theaterstücke zur Aufführung brachte, weil »geeignete einheimische theatralische Schauspiele« 9 nicht vorhanden gewesen seien - in Anbetracht des bereits im Vormärz weitgehend kanonisierten dramatischen Werks 10 von Anton Toma` Linhart, 11 dem 1765 in Radovljica (dt. Radmannsdorf) geborenen Begründer der slowenischen Dramatik, erregt diese Feststellung Verwunderung. Zugleich gibt sie Auskunft über die Interdependenz zwischen von den Deutschen beherrschten Machtfeldern in der Südsteiermark und dem Feld der dortigen, vorwiegend deutschen kulturellen Produktion. Unter den Slowenen, die die deutsche Theaterproduktion in der Stadt förderten, war Janez Anton Zupan~i~ (dt. Johann Anton Suppantschitsch), der bekannte Gymnasiallehrer und deutsch und slowenisch schreibende Literat, der neben dem genannten R. Puff als einer der bedeutendsten Akteure im Mariborer Feld der kulturellen Produktion hervortrat. Seine Positionierung darin hatte Zupan~i} der Förderung der deutsch-slowenischen Literatur- und Kulturvermittlung zu verdanken 12 - einer Tätigkeit, die in den kulturellen Kontaktzonen der Akkumulierung des kulturellen Kapitals zugrundezuliegen scheint, was auch am Beispiel des in Ljubljana geborenen Anastasius Grün zu beobachten ist. 13 In der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 30er und 40er Jahren - einen wichtigen Impuls erhielt er durch die Südbahnverbindung -, nahm die Theaterproduktion in Maribor zu und gewann an Qualität, was unter anderem auch dem genannten R. Puff zu verdanken ist. Puff war einer der bedeutendsten Akteure im Feld der kulturellen Produktion in Maribor. Er machte sich einen Namen als Literat, vor allem jedoch als Mariborer bzw. steirischer Theater- und Kulturchronist in der Region und außerhalb der Steiermark, indem er zum Beiträger in den wichtigsten deutschen Zeitungen und Zeitschriften Ljubljanas (Illyrisches Blatt und Carniolia), Graz’ (Der Aufmerksame), Klagenfurts (Carinthia) und Zagrebs (Croatia) wurde - eine Zeitlang galt er als Inbegriff des Mariborer Kulturlebens, als »Marburgs Factotum bei allen Arrangements des öffentlichen Vergnügens« 14 schlechthin. Puff lieferte einen entscheidenden Beitrag zur Ent- 9 Zit. nach: Bruno Hartman: Kultura v Mariboru. Gibanja, zvrsti, osebnosti, Maribor 2001, S. 13-14. 10 Dass Linharts dramatisches Opus bereits im Vormärz in den slowenischen Literaturkanon aufgenommen wurde, bezeugen u. a. auch zahlreiche Artikel über die Entwicklung der slowenischen Literatur, die in den Ljubljanaer Periodika zur Veröffentlichung gelangten. Vgl. hierzu: Milko: Slovenische Literatur, Carniolia, 24. 8. 1840 (Nr. 34), S. 136. 11 1780 erschien in Augsburg Linharts originellstes Theaterstück Miss Jenny Love, das unter dem Einfluss der Poetik Lessings steht, obwohl es zugleich auch schon einige Elemente des Sturm und Drang aufweist. Deutsch ist auch Linharts 1871 veröffentlichtes Gesangspiel Das öde Eiland. 12 Vgl. Anton Janko: Johann Anton Suppantschitsch/ Janez Anton Zupan~i~ (1785-1833). Bedeutung und Grenzen seines literarischen Werkes. In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen (= Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, Reihe B, Wissenschaftliche Arbeiten, Bd. 74). Hg. v. Antal Mádl und Peter Motzan, München 1999, S. 59-68. 13 Vgl. Matja` Birk: Österreichisch-slowenischer Kulturtransfer am Beispiel von Anastasius Grün und France Pre{eren (im Druck). 14 Leopold Kordesch: Correspondenz aus Steyermark. Graz am 19. December 1847, Illyrisches Blatt, 24. 12. 1847 (Nr. 103), S. 412. BH 10 Book.indb 88 22.8.2008 22: 10: 25 »Man geht in Marburg damit um, ein Neues Theater zu bauen ...« 89 wicklung der Mariborer deutschen Bühne, an der er als Direktor von 1833 bis 1836 tätig war. In dieser Zeit gelang es ihm, »den Dilettanten-Verein vom gänzlichen Zerfalle zu retten«, indem die Einnahmen bis 1835 »in das höchste gestiegen waren«. 15 Puffs Wirken als Kultur- und Theaterchronist auf dem Feld der kulturellen Produktion wurde, wie erwähnt, ergänzt durch sein literarisches Schaffen, das in erster Linie heimatlich-vaterländische Gelegenheitsliteratur enthielt, darunter auch einen wenig bekannten dramatischen Prolog, der bei der Eröffnung des neuen Mariborer Theatergebäudes im Jahre 1852 viel Aufsehen erregte. Ungeachtet des schematischen Charakters der Erzählungen und Gedichte, die auf den Erwartungshorizont des kleinbürgerlichen Rezipienten zugeschnitten waren, 16 verschaffte dem Autor sein literarisches Schaffen in den provinziellen Kulturfeldern (der Stadt, in der Region und in den angrenzenden Ländern) wichtiges symbolisches Kapital. 17 Puffs Beispiel zeugt davon, dass im provinziellen Kulturfeld die Distinktion des Öfteren nicht nach der Innovation, sondern nach der Affirmation erfolgte. Im Besitz der beschriebenen Kapitalformen und in der Eigenschaft des Herrschenden, entwickelte Puff gute Kontakte zu den Machtfeldern im Bereich der Kulturpolitik und der Wirtschaft im nationalen Sozialraum. Dies ist daran zu sehen, dass ihm im Jahr 1847 »das Ehrenbürgerrecht der Stadt« 18 verliehen wurde und dass er wichtige Posten in der Kulturpolitik des Stadt bekleidete: Er wurde ins Komitee für den Bau des neuen Theatergebäudes aufgenommen, wo er in der Funktion des Sekretärs Sammelaktionen von Förderbeiträgen durchführte, wovon er minutiös, in der Manier eines pflichtbewussten Beamten, Bericht erstattete: »Am 26. April 1847 erging der erste Aufruf zu freiwilligen Beiträgen, dessen Ergebnis bis Ende Dezember 1851 in Geld und Materialien über 14000 fl. von 284 Partheien betrug.« 19 Puffs Bemühungen um die Vermittlung eines von der deutschen Kultur dominierten Bildes von Stadt und Region, in dem die slowenische kulturelle Komponente meist 15 Rudolf Gustav Puff: Das neue Theater in Marburg, Marburg 1852, S. 7. 16 Zur Motivik in Puffs Gedichten und Erzählungen, zu dessen Einstellung zur slowenischen Literatur und Kultur und dessen Forderung nach eigenständiger literarischer Produktion in der Südsteiermark vgl. Matja` Birk: Der Recensent und die Kleinstädter. Zur Gesellschaftskritik in der Prosa Rudolf Puffs (1808-1865), eines Mariborer Vormärzliteraten. In: Dr. Mirko Kri`man 70 let. Jubilejni zbornik. Hg. v. Karmen Ter`an Kopecky, Maribor 2003, S. 28-50. 17 Zu Puffs Wirken als Beiträger in Ljubljanaer Illyrischem Blatt vgl. Matja` Birk: »...Vaterländisches Interesse, Wissenschaft, Unterhaltung und Belehrung«. Illyrisches Blatt (Ljubljana, 1819-1849) - nem{ki literarni ~asopis v slovenski provinci predmar~ne Avstrije ‡Illyrisches Blatt - deutsches Literaturblatt in der slowenischen Provinz des vörmärzlichen Österreichs™, Maribor 2000. Zu Puffs Wirken als Beiträger in der Zagreber Zeitschrift Croatia vgl. Marina Fruk: @upanova Croatia u kulturnom `ivotu Hrvatske - znanje o povijesnom vremenu (@upans Croatia im Kulturleben Kroatien - Wissen über historische Zeit). Diss., Zagreb 1995, S. 61, 80 u. 94. In der Ljubljanaer Carniolia tat sich Puff in den 40er Jahren des 19. Jh.s, ähnlich wie im Illyrischen Blatt, als Verfasser von Sagen, Gedichten, Erzählungen, Schwänken und Theaterberichten hervor, worauf die Redaktion immer wieder verwies (vgl. Leopold Kordesch: Literarisches, Carniolia, 27. 12. 1844 ‡Nr. 104™, S. 416). Puffs fiktionale und kritische Beiträge sind auch in Nr. 83 v. 14. Februar 1840, Nr. 17 v. 26. Juni 1840, Nr. 43 v. 25. September 1840, Nr. 74 v. 13. Januar 1843, Nr. 58 v. 19. Juli 1844, Nr. 59 v. 22. Juli 1844 zu finden. 18 M. in der »Carinthia«: Literatur, Illyrisches Blatt, 28. 8. 1847 (Nr. 69), S. 276. 19 Zit. Anm. 15, Puff, Neues Theater in Marburg, S. 9. BH 10 Book.indb 89 22.8.2008 22: 10: 25 90 Matja` Birk unter der Etikette des Heimatlichen zum Vorschein gebracht wird, geben Auskunft über die Abhängigkeit des Kulturfeldes in der Stadt von den lokalen und regionalen Machtfeldern, an der auch jemand von seiner Position im nationalsozialen Feld nicht vorbeigehen konnte. 20 Dennoch blieb Puffs Anerkennung nicht auf deutsche Kulturakteure beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Akteure im slowenischen Feld der Kultur und der Macht, die auf Grund der dargelegten nationalen und kulturellen Situation im Vormärz vorwiegend außerhalb der Region (meist in Krain) agierten. Dort wurde Puff als Herausgeber des ersten slowenischen literarischen Gymnasiastenalmanachs Sprotuletna Vijiolica (Frühlingsveilchen, 1846), als Förderer der autochthonen literarischen Produktion in slowenischer Sprache und Verfechter der kulturellen Umorientierung Maribors an Ljubljana großer Respekt zuteil. 21 Durch sein Engagement für die slowenische Literatur trug er auch in dem Mariborer, monokulturellen literarischen Feld zu dessen Erweiterung bei. Mitte der 40er Jahre waren im Ljubljanaer Ständischen Theater meist zu besonderen Anlässen geschriebene Gelegenheitsstücke sowie Appelle zur Förderung der Kultur zu hören. Weil sie in den Kulturberichten festgehalten wurden, ist anzunehmen, dass sie auch das angrenzende steirische Land mit dessen Kultur- und Machtakteuren erreichten. Den mit epochen- und gattungsspezifischem Pathos beladenen Versen der Krainer Schutzgöttin Carniolia - »Mit Freuden theil’ ich euren frommen Wunsch/ Für mein geliebtes Schooßkind: Krain! ‡...™/ Doch gönnt’ ich gern ihm auch die milde Kunst ‡...™« 22 aus der gleichnamigen, zur Wiedereröffnung des vergrößerten deutschen Theaters in Ljubljana im Oktober 1846 aufgeführten Allegorie von Johann Gabriel Seidl, 23 einem anderen um die deutsch-slowenische Kulturvermittlung bemühten Gymnasiallehrer (in Celje von 1829 bis 1839) - ist zu entnehmen, dass die Appelle einen übernationalen Charakter hatten, d. h. sowohl das deutsche als auch - zumindest implizit - das slowenische Kulturfeld miteinbezogen. Das Slowenische war in der Ljubljanaer Theaterproduktion in der Vorrevolutionszeit praktisch inexistent: Erst ab 1846 waren in einigen Bühnenaufführungen sporadisch slowenische Gedichte (Volks- und Kunstlieder, letztgenannte aus der Feder von Vertretern des slowenischen Dichterparnasses Vodnik und Pre{eren) zu hören, die im Anschluss an deutsche Aufführungen vorgetragen wurden und sich beim Publikum lebhaften Interesses erfreuten. Von der Ljubljanaer Kritik wurde diese und ähnliche Bühnenproduktion in slowenischer Sprache gefördert 20 Vgl. Rudolph Puff: Literatur, Carniolia, 29. 1. 1841 (Nr. 79), S. 316. 21 Vgl. Anm. 16, Birk, Recensent, S. 29-36. 22 Leopold Kordesch: Theater in Laibach, Illyrisches Blatt, 20. 10. 1846 (Nr. 84), S. 336. 23 J. G. Seidl war regelmäßiger Beiträger in den Laibacher deutschen Periodika (Prosa, Lyrik), Bearbeiter von slowenischen Volkssagen und Übersetzer von slowenischen Volksliedern. Zur kulturellen Mittlerrolle von J. G. Seidl vgl. Anton Janko: Johann Gabriel Seidl als Beiträger des Illyrischen Blattes und der Carniolia. In: Benachrichtigen und vermitteln. Deutschsprachige Presse und Literatur in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Mira Miladinovi} Zalaznik, Peter Motzan, Stefan Sienerth (= Wissenschaftliche Reihe ‡Literatur- und Sprachgeschichte™. Hg. v. Edgar Hösch, Thomas Krefeld und Anton Schwob. Band 110), München 2007, S. 87-96. BH 10 Book.indb 90 22.8.2008 22: 10: 25 »Man geht in Marburg damit um, ein Neues Theater zu bauen ...« 91 und als Kassenschlager empfohlen: »Am Schluße wurden Alle insgesamt vier Mal stürmisch gerufen, ‡...™ ein Fingerzeig für die Direction, daß die Wiederholung der gedachten Lieder, z. B. künftigen Sonntag, ein zahlreiches Auditorium versammeln würde ‡...™.« 24 In der Revolutionszeit 1848/ 49 und im Jahr danach kam es in Ljubljana zum Durchbruch im Bereich der slowenischen Theaterproduktion, die einen wichtigen Impuls dem Programm der slowenischen nationalen Vereinigung und kulturellen Bewusstwerdung Zedinjena Slovenija (Vereintes Slowenien) zu verdanken hat. Die Stücke in slowenischer Sprache wurden aufgeführt von zwei, mit der deutschen Bühne unter einem Dach koexistierenden Theatergruppen, die Ende 1848 wurden beide vereint im Slovensko dru{tvo (Slowenischer Verein). 25 In dieser Zeit kam es zu einem literatursoziologisch interessanten Fall einer Auseinandersetzung um die Eroberung der Herrscher-Position im Ljubljanaer Feld der slowenischen kulturellen Produktion. Es ist dies die Kontroverse zwischen zwei Zeitungsredakteuren slowenischer Herkunft, dem deutschschreibenden Leopold Korde{, dem der slowenischschreibende Janez Bleiweis entgegenstand. Die Konkurrenzbeziehung zwischen den beiden Akteuren stammte aus der Vormärzzeit, wo sie um die Gründung eines Periodikums in slowenischer Sprache bemüht waren. 26 Als 1843 Novice (Krainische Landwirtschaftszeitung) ins Leben gerufen wurde, trug Bleiweis den ersten Sieg davon, wodurch ihm ein wichtiger Schritt in der Positionierung im slowenischen Kulturfeld gelang, während Korde{s Wirkungsbereich zunehmend auf das Ljubljanaer deutsche Kulturfeld beschränkt blieb. Es steht außer Zweifel, dass beide Akteure in ihrer Eigenschaft als Journalisten, Zeitungsredakteure und Theaterkritiker in die Revolutionszeit ein im Vormärz akkumuliertes kulturelles (Korde{ als Literat vom Schlage Puffs auch symbolisches) Kapital mit sich brachten. 27 In zunehmend angespannter Atmosphäre spitzte sich im Rahmen der Konkurrenz zwischen deutscher und slowenischer Kultur auch die Beziehung zwischen Korde{ und Bleiweis in ihrer Eigenschaft zweier um die Herrschaft im slowenischen Kulturfeld, sprich Theater, ringender Akteure zu. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden löste Bleiweis’ Kritik an einem von Jo`ef Anton Babnik (dt. Joseph Babnigg mit Pseudonym Buchenhain) ins Slowenische übertragenen und unter der Regie Korde{s aufgeführten Kotzebue’schen Stück aus; die Kontroverse wurde ungeachtet der 24 Leopold Kordesch: Theater in Laibach, Illyrisches Blatt, 17. 2. 1846 (Nr. 14), S. 56. 25 Neben den Werken des slowenischen und deutschen dramatischen Kanons wurde wiederum der Rückgriff auf die deutsche Populärdramatik eines Kotzebue als Paradigma in der Programmgestaltung aktualisiert. Zur Aufführung gelangten @upanova Micka und Ta veseli dan ali Mati~ek se `eni des slowenischen Dramatikers Linhart, Schillers Jungfrau von Orleans in J. V. Koseskis Übersetzung und Stücke von Kotzebue, etwa Die Zerstreuten. Vgl. Matja` Birk: Die deutschsprachige Dramenproduktion am Ständischen Theater in Ljubljana (Laibach) im Vormärz, Sprachkunst, Jg. 30/ 1999, 2. Halbband, S. 213-226. 26 Korde{ erhielt im Jahr 1839 von Sedlnitzky keine Genehmigung für die Herausgabe eines slowenischen Periodikums. Vgl. Mira Miladinovi} Zalaznik: Leopold Kordesch - ein Krainer Literat des Vormärz. In: Anastasius Grün und die politische Dichtung Österreichs in der Zeit des Vormärz. Hg. v. Anton Schwob u. Anton Janko, München 1995, S. 157-168. 27 Vgl. ebenda. BH 10 Book.indb 91 22.8.2008 22: 10: 25 92 Matja` Birk zunehmend erhitzten nationalpolitischen Situation nach langem Unterdrücken Ende 1848 mit aller Heftigkeit in der Öffentlichkeit ausgetragen. 28 Das war jedoch nur das auslösende Moment: Der wahre Streit entfachte sich um die Initiative für die Gründung der Nationalbühne in Ljubljana, die zu gleicher Zeit von Korde{ ausging. 29 Auf Grund der Missstimmung der Theaterdirektion, die die Konkurrenz der slowenischen Bühne nicht zu Unrecht fürchtete, sah sich Korde{ trotz seiner damaligen Herrscherposition im Ljubljanaer und Krainer deutschen Kulturfeld (Anfang 1849 hatte er nach wie vor die Position des Herausgebers des Illyrischen Blattes und der Laibacher Zeitung inne) angesichts heftiger Kritik genötigt, sein öffentliches Engagement für die slowenische Nationalbühne vorläufig zurückzunehmen - »Ich will mich jedes nähern Urtheils über die Aufführung dieses Stückes ‡Linharts Lustspiel Veseli dan ali Mati~ek se `eni; M. B.™ begeben, weil ich mir nach den bekannten unliebsamen Mißhelligkeiten im Monat December v. J. eine gänzliche Neutralität bewahren muß ‡...™« 30 - schrieb er im Januar 1849, als er auch von den Krainischen Ständen unter Druck gesetzt wurde. Anfang 1850 ging Korde{, im Besitz sämtlicher Formen von akkumuliertem Kapital, auf die er sich dabei berief, - »‡...™ und wie die hierorts von mir, redigierten Journale ‡...™ dargetan haben dürften, daß meine Leistungen mein Versprechen überflügelten: so sollen auch bei diesem neuen Unternehmen nur Thaten sprechen« 31 - zum zweiten Mal für die Nationalbühne und eigene Positionierung im slowenischen Kulturfeld in die Offensive: Innerhalb von fünf Tagen veröffentlichte er gar drei Mal den Appell zur Gründung der Nationalbühne, dem er die Aufforderung an die Verfasser von Dramen mit nationalhistorischen Stoffen anschloss. 32 Bleiweis reagierte darauf mit Bedenken in Bezug auf Korde{ im dramatischen und wirtschaftlichen Bereich - »Das Theater muß gut sein, wenn es sich erhalten will ‡...™. Wenn 100 Aktien zusammenkommen, meint Herr Korde{, würde es ausreichen für den Anfang. Unsereinem kommt diese Summe viel zu klein vor ‡...™« 33 - und ließ sich erneut in die öffentliche Kontroverse mit seinem Gegner ein, diesmal mit dem Ziel, symbolisches Kapital und Legitimität zu erlangen, die ihm ermöglichten, Korde{ aus dem Unternehmen zu eliminieren. In der Folge gelang es ihm, die wichtigsten Akteure aus dem slowenischen sozialen Raum, sprich Aktionäre, auf seine Seite zu bringen, was ihm - mitunter 28 Vgl.: Der slovenische Verein über die Nationalbühne, Illyrisches Blatt, 12. 12. 1848 (Nr. 100), S. 397; Joseph Babnigg: Erwiederung, ebenda, S. 400; Leopold Kordesch: Noch eine notgedrungene Replik, ebenda. Zur Situation im Ljubljanaer slowenischen und deutschen sozialen Raum im Jahr 1848 vgl. Mira Miladinovi} Zalaznik: Das Revolutionsjahr 1848 in den Laibachern Blättern Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt und Kmetijske und rokodelske novice. In: Literarisches Leben in Östererich 1848-1890. Hg. v. Klaus Amann et al. Wien 2000, S. 601-623. 29 Vgl. Leopold Kordesch: Slovenisches Nationaltheater, Illyrisches Blatt, 28. November 1848 (Nr. 96), S. 384. 30 Leopold Kordesch: Laibacher Schaubühne, Illyrisches Blatt, 27. 1. 1849 (Nr. 8), S. 32. 31 Ebenda. 32 Leopold Kordesch: Vertrauensvoller Aufruf an die biedere slovenische Nation zur Realisierung eines echt nationellen Unternehmens, Laibacher Zeitung, 28. 1. 1850 (Nr. 23), S. 112. 33 J. Bleiweis: V domorodnih zadevah, Novice, 6. 2. 1850 (Nr. 6), S. 25. BH 10 Book.indb 92 22.8.2008 22: 10: 25 »Man geht in Marburg damit um, ein Neues Theater zu bauen ...« 93 auch wegen der ablehnenden Haltung einiger Sponsoren gegenüber Korde{ in seiner Eigenschaft als Akteur im deutschen Kulturfeld Ljubljanas - keine großen Schwierigkeiten bereitet haben dürfte. An der Arbeit des im April 1850 gegründeten Ausschusses der slowenischen Bühne war Korde{ nicht beteiligt. 34 Mit der Übernahme eines damals prioritären nationalen Projekts, war Bleiweis’ Positionierung unter den Herrschenden im slowenischen Kulturfeld in der Stadt und der Provinz vollzogen, doch zur Gründung der Nationalbühne konnte es damals aus politischen Gründen (Bach’scher Absolutismus) nicht mehr kommen. Der Blick auf die Besprechungen der Theaterproduktion im slowenischen ethnischen Territorium, die in den deutsch- und slowenischsprachigen Periodika Ljubljanas aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, zur Veröffentlichung gelangten, die Forschungen in den im Mariborer Regionalarchiv aufbewahrten Dokumenten wie auch die einschlägige Literatur zum deutschen Theater in Maribor, sprechen dafür, dass es im Unterschied zu Ljubljana, in der Revolutionszeit in Maribor nicht nur keine slowenische, sondern dass auch die deutsche Theaterproduktion im Revolutionsjahr 1848 - laut Puff »dem trübsten und bewegtesten Jahre« 35 - einen signifikanten Rückgang verzeichnen musste. Dieser Rückgang war allerdings weniger politisch als finanziell bedingt und hing zusammen mit der damaligen Situation im Machtfeld, das sich »auf stürmischem Meere« 36 befand und von »steigenden Theuerungen« 37 heimgesucht wurde, was sich auch auf das Feld der kulturellen Produktion auswirkte, im Theaterbereich als Verzögerung bei der Fertigstellung des neuen Mariborer Theatergebäudes, »eines Denkmals edlen Sinnes und biederer Eintracht unserer Bürger«, 38 wie auch »heimischer Gewerbsgeschicklichkeit und heimischen Fleißes«. 39 Während in Ljubljana in der Revolutionszeit 1848/ 49 und im Jahr danach, wie gezeigt, die slowenische Theaterproduktion durch die politische Situation einen wichtigen Impuls erhielt, ging die Revolution und mit ihr die slowenische Nationalbewusstwerdung am deutschkulturellen Maribor vorbei. Auch Puff, der sich, wie dargelegt, um die slowenische Kultur bemühte, stellte sich damals auf die deutschkulturelle Seite. 40 Die nationalkulturelle Lage in der Stadt in Verbindung mit der politischen Situation im Staat, wie bereits am Beispiel von Ljubljana erwähnt, lag der Verspätung bei der Konstituierung des slowenischen Feldes der Kulturproduktion zugrunde, die für Maribor auch in der Nachmärzzeit charakteristisch war. An- 34 Vgl. Slovensko gledali{e, Novice, 10. 4. 1850 (Nr. 15), S. 62. 35 Rudolph Puff: Kunstbericht, Illyrisches Blatt, 1.12.1849 (Nr. 96), S. 382-383, hier S. 383. 36 Rudolph Puff: Kunstbericht aus Marburg, Illyrisches Blatt, 5.12.1848 (Nr. 98), S. 392. 37 Zit. Anm. 35, Puff, Kuntsbericht, S. 382. 38 Ebenda, S. 383. 39 Zit. Anm. 15, Puff, Neues Theater, S. 22. 40 Seit Anfang 1849 kommen in Puffs Korrespondenzberichten aus Maribor im Illyrischem Blatt keine Verweise auf die slowenische Literatur und Kultur vor, was in seinen Beiträgen seit 1840 immer wieder der Fall war. Vgl. Rudolph Puff: Correspondenz, Illyrisches Blatt, 16. 1. 1849 (Nr. 5), S. 20; ders.: Kunstbericht, Illyrisches Blatt, 1. 12. 1849 (Nr. 96), S. 382-383. BH 10 Book.indb 93 22.8.2008 22: 10: 25 94 Matja` Birk gesichts der Abwesenheit der slowenischen Theaterproduktion, taten sich unter den Fördern der deutschen Bühne, die seit 1852 in dem neu gebauten Theatergebäude wirkte, in großer Zahl wiederum slowenische Intellektuelle und Unternehmer hervor. Den mit slowenischer Theaterproduktion beauftragten Dramatischen Verein (Dramati~no dru{tvo), der nach der Gründung in Ljubljana im Jahr 1867 zum Modell künstlerischer Produktion im nationalen Idiom wurde, bekam die Stadt erst 1909. Der Vergleich mit anderen slawischen Völkern in der Monarchie zeigt, dass die Theaterproduktion bei den Slowenen - im vorliegenden Beitrag wurde sie in ihrer Beziehung zur deutschen Theaterlandschaft betrachtet - mit Verspätung einsetzte. 41 Dieser Umstand hatte entscheidende Folgen für die Entwicklung der slowenischen Dramatik: Nach der Unterbrechung von fast hundert Jahren (seit A. T. Linhart) begann sie sich im Rahmen des entfachten deutsch-slowenischen Kulturkampfes in den späten 70er und frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts mit einigen nationalhistorischen Dramen (Tugomer, 1876, und Veronika Deseni{ka, 1886) langsam zu behaupten. Nicht zu unterschätzen sind die Impulse, die dabei von den politischen Veränderungen in den Machtfeldern im nationalen Raum - 1886 erlangten die Slowenen im Krainer Landtag die Mehrheit - ausgingen. 41 In Krakau florierte die Theaterproduktion in polnischer Sprache erstmals in der Zeit von 1840 bis 1845, d. h. vor der 48er Revolution. Vgl. hierzu: Jerzy Got: Das österreichische Theater in Krakau im 18. und 19. Jahrhundert, Wien 1972. In Zagreb wurde die Gründung des Nationaltheaters bereits Anfang der 40er Jahre eine beschlossene Sache; von den Sammelaktionen berichteten auch die Laibacher Periodika. Vgl. hierzu: Theatralisches Potpourri, Carniolia, 28. 2. 1840 (Nr. 87), S. 356. BH 10 Book.indb 94 22.8.2008 22: 10: 25 @ ELJKO U VANOVI } (O SIJEK ) Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci} Von innovativ regionalen zu internationalen Elementen der Lachkultur des Volkstheaters 1 1. Einführung Dynamische Kulturtransferprozesse finden nicht nur in der ästhetisch hohen Schicht der Dichtkunst statt, sondern auch in der Schicht der Unterhaltungs- und Trivialliteratur. Komplexe Relationen der Beeinflussung seitens eines Vorbildes bzw. mehrerer Vorbilder einerseits und der Rezeption seitens Gleichgesinnter jenseits der nationalstaatlichen Grenzen andererseits könnte man eigentlich in allen literarischen Schichten, Genres und Poetiken beobachten. Sogar die Literatur der Wiener Moderne, um ein wohl bekanntes Beispiel zu nennen, erscheint vor dem Hintergrund internationaler interkultureller Beeinflussung und mehrfacher Hybridisierung weniger wienerisch, als man es voraussetzen würde. Sie könnte verstanden werden als »Resultante zahlreicher Anregungen des französischen und englischen Symbolismus ‡...™ und gilt zugleich als Impulsgeber oder Reibefläche für die modernistischen Tendenzen in Zagreb, Ljubljana, Budapest, Prag oder Triest« (Mitterbauer, S. 213). In ähnlicher Weise wäre die Suche nach einer reinen, unabhängigen Originalität und Genialität in der Gattung des Dramas und in der Theaterproduktion absurd. Selbst Shakespeare, der Inbegriff der Originalität laut dem Mythos des Sturm-und-Drang, war eigentlich ein genialer, charismatischer Synthetisator von vorhandenen Impulsen aus dem damaligen intra- und interkulturellen Kontext. Konzentrieren wir uns im Folgenden auf das Komische in der nationalen und internationalen Dramenkunst, und zwar insbesondere hinsichtlich der Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Lachkultur. Laut Unger (Lachkulturen, S. 20) fällt auf, dass die theatralische Lachkultur »nun hochgradig international« ist und dass »im deutschen Sprachraum Kontakt- und Transferprozesse« dermaßen präsent sind - mit der Folge, dass von einer konstanten Übersetzungsbereitschaft bzw. Internationalität in mehreren Segmenten der theatralischen Lachkultur 1 Es handelt sich um eine stark ergänzte und anders akzentuierte Variante des Vortrags, der im Rahmen der Internationalen Nestroy-Gespräche 2006 unter dem Titel »Der slawonische Volksstückhumor in Ilija Okrugi}s Das Brotkörbchen und die Pelzkappe und Ferdo Beci}s Die Deputation der Leutnantinnen im Vergleich mit der Raimund-Kaiser-Nestroy-Lachkultur« gehalten wurde. Vgl. http: / / www.nestroy.at/ nestroygespraeche/ gespr_2006/ gespr_2006_progr.html. BH 10 Book.indb 95 22.8.2008 22: 10: 26 96 @eljko Uvanovi} gesprochen werden könnte. Das deutsche Volksstück und das Volkstheater (ob in Wien, Frankfurt a. M., Darmstadt oder Berlin) stellen dabei keine Ausnahme dar. Wohl bekannt ist, dass die Volkstheater in London, Paris und Venedig zu den ersten Zentren kommerziellen Unterhaltungstheaters zählen. Bekannt ist auch, dass die mimusbetonte Unterhaltung für Kleinbürger in Vorstadttheatern einerseits vom Jesuitendrama des 16. und 17. Jahrhunderts, von der Commedia dell’arte und von der italienischen Barock-Oper schöpfte und andererseits entscheidend auf die Operette, den Schwank, das Boulevardstück sowie den Film und die heutige Fernsehunterhaltung wirkte. Es ließe sich an dieser Stelle zusammenfassend feststellen, dass der Zustand des kulturellen Unbeeinflusstseins von fremden Kulturen und Literaturen im Grunde genommen nicht existiert. Man übersetzt und schreibt ständig von anderen ab: Auch Nestroy entlehnte die Spielhandlung meist französischen, englischen und deutschen Komödien und Romanen der Zeit, aber erst seine eigene sprachliche Virtuosität und die Begabung des innovativen Synthetisierens machten ihn zum originellen Künstler. Literarische Stoffe und Motive sind also ein Gemeineigentum der Universalkultur, dessen sich jeder bedienen darf, aber auf dem Weg zum Erfolg als Dramatiker im Theaterbetrieb wirken mehrere subjektive und objektive Faktoren, darunter auch das Niveau der Entwicklung des Theatermarktes 2 (Angebot von Theaterprogrammen und das Interesse des Publikums dafür) sowie die geopolitische Situation, in der sich eine Nationalkultur befindet (inter arma Musae silent! ). Jedoch könnten besondere Vorlieben des jeweiligen Nationalhumors trotz der Übersetzbarkeit der Lachkultur im internationalen Rahmen nicht ignoriert werden, denn Unger (Lachkulturen, S. 13) glaubt, dass es »gewisse soziale, regionale, nationale oder historische Vorlieben für bestimmte komisierende Verfahrensweisen zu geben« scheint. 2. Zwei Volksstücke aus Slawonien Die weniger bekannten kroatischen Schriftsteller Ilija Okrugi}-Srijemac (1827- 1897), ein progressiver katholischer Priester, und Ferdo Beci} (1844-1916), ein Verwaltungsoffizier, könnten nur mit Vorbehalt zum Vergleich mit den international berühmten, sehr produktiven Vertretern des Wiener Volkstheaters Raimund, Nestroy und Kaiser herangezogen werden. Ihr Opus ist kleiner, die Rezeption der Werke fast unbedeutend - und zwar im Kontext des objektiv an Entwicklung gehinderten kroatischsprachigen Theaterbetriebs. Die beiden Autoren lebten in der 2 Die kroatische volkstümliche Lachkultur kennt im kroatischen Theater des 19. Jahrhunderts wirklich keinen kroatischen Karl Carl, der bekanntlich »die Leitung eines Theater-Geschäfts als das schwerste, unsicherste und darum gefährlichste industrielle Geschäft« (zit. in Yates/ Tanzer, Theater, S. 9) einstufte. - Die Quellenangaben hier und an anderen Stellen in diesem Beitrag beziehen sich auf die Literaturliste im Anschluss an den Text. BH 10 Book.indb 96 22.8.2008 22: 10: 26 Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci} 97 slawonischen Militärgrenze und schrieben Volksstücke, die man bedingt durch regionale und historische Faktoren eher für Militärstücke 3 halten sollte. Der Ostslawonier Ilija Okrugi}-Srijemac präsentiert in seinem Werk Das Brotkörbchen und die Pelzkappe (Sa}urica i {ubara, 1864) ein östliches Randgebiet des kroatischen Kulturkreises, und zwar in multikultureller Mischung mit den Serben, Deutschen und Magyaren, so dass an manchen Stellen einige Soldatenfiguren in einem Satz zwei oder drei Sprachen mischen (Kroatisch, Deutsch und Ungarisch). Er bedient sich in seinem »originellen, fröhlichen Spiel mit Gesang in vier Akten« eines tatsächlich stattgefundenen Lebensdetails (Ähnlichkeit mit Kaiser) aus Syrmium (heute Teil der serbischen Provinz Vojvodina). Die Handlung spielt im Jahr 1827 und beruht auf Ereignissen in der ehemaligen ’Akademie’ für blinde Bettler in der Stadt Irig. Als katholischer, volksnaher Priester ökumenischer Orientierung schildert er humorvolle Szenen aus der serbisch-orthodoxen Dorfbevölkerung, die sich von der Macht der Wahrsagerei verführen lässt. In diesem Volksstück sind nur zwei aus dem Kleeblatt das Opfer des Diebstahls, der in einer drastisch realisierten, farcenhaften Szene mit derben Posseneffekten stattfindet. Im Untertitel des Volksstücks steht: Hundert für einen, was auf die im Evangelium verkündete Belohnung der großzügigen Spender (hundert Mal mehr) anspielt. Okrugi} bedient sich der fast naturalistisch anmutenden Drastik und des bitteren Witzes in Raimunds Manier. Aber da fehlt auch keine Nestroy’sche ironische Zeitsatire: Okrugi} lässt das Gerichtwesen kritisieren in der Gesangseinlage (die Stadt Irig sei bekannt für sein »gerechtes Gericht,/ das schon manchen Kopf machte verrückt«) wie auch in einer Verhörszene. In seinem Werk werden primitive Auswüchse und Missstände in der Gesellschaft mit derb-komischen Mitteln dem Spott preisgegeben. Ferdo Beci}s »fröhliches Spiel in vier Akten mit Gesang« unter dem Titel Die Deputation der Leutnantinnen (Lajtmanu{ka deputacija, 1911) - erschienen zuerst 1881 als Erzählung - zeichnet sich durch urwüchsige Soldaten- und Bauernkomik sowie lustige Volksheiterkeit aus. Es handelt sich um ein Militärstück, in dem aber primitive bäuerliche Soldatenfrauen, die nach Beförderung ihrer Männer von Ehrgeiz und Habsucht besessen werden, zum Gegenstand des Spottes werden. Sie wollen, geführt von der burschikosen Ehebrecherin Manda, als »kaiserlich-königliche Leutnantinnen« vom Stab anerkannt werden. Die Stoffwahl war wiederum à la Kaiser, denn die Anekdote hat sich tatsächlich ereignet. Es handelt sich um ein humorvolles Bild aus dem wirklichen Leben. Außerdem mischt sich etwas von Molière (George Dandin, Preziosen) in die Motivik. Die widerspenstigen Frauen werden am Ende gezähmt von einem taktvollen, lustigen Oberst, der mit seinem Adjutanten ein Nestroy-Scholz-Duo abzubilden scheint. System stabilisierend wirken ferner die abschließenden Beteuerungen der kroatischen Loyalität der habsburgischen Krone gegenüber, was Beci}s Werk 3 Vgl. hierzu Flatz, Krieg (1976); Michel, Militärschwank (1982) und Feuchter-Feler, Le drame militaire (2005). BH 10 Book.indb 97 22.8.2008 22: 10: 26 98 @eljko Uvanovi} thematisch und ideologisch mit Karl Friedrich Henslers Volksstück Die getreuen Oesterreicher, oder das Aufgeboth (1797) verbindet. 3. Faktoren der Differenz 3.1. Geopolitische Situation und Militarisierung Die Diskussion über regional-geopolitische Spezifika in den genannten Volksstücken könnte man mit einer signifikanten Differenz, mit der ernsthaften Kehrseite des kroatischen Volksstückhumors beginnen, mit der Kontrastierung der glücklichen Völker Westeuropas mit dem notgedrungen militarisierten Volk an der Grenze zum ottomanischen, islamischen Reich, was nahe legen sollte, dass der Humor in reliquiae reliquiarum olim magni et inclyti regni Croatiae, vor antemurale christianitatis unter permanenter Alarmbereitschaft ziemlich anders war als in im Frieden lebenden Kulturmetropolen Europas. In Josip Freudenreichs Widmung des populärsten kroatischen Volksstücks Die Grenzer (1857) an den kroatischen Banus Graf Josip Jela~i} stehen die folgenden pathetischen Verse, die zwei unterschiedliche Kulturräume konstruieren: Einerseits handelt es sich um Westeuropa: »Glückliche Völker Westeuropas/ Auf Wissenschaft und Reichtum sind stolz./ Auf allen ihren Wegen und Pfaden/ Wachsen immer fröhliche Blumen./ Sie ernten ihre Früchte, weil keine wütenden Stürme/ Ihrer Arbeit mit Verheerung drohen.« (S. 113) 4 Auf der anderen Seite steht das Gebiet der Militärgrenze: »Wer aber zerstreute düstere Wolken/ Vom Horizont ihres Himmels,/ ‡...™? / Dasjenige Volk, das an der Grenze Wache gehalten hat/ Und seit Jahrhunderten dem Teufel die eiserne Stirn geboten.« (ebenda) Hier taucht das Bild der Kroaten als Garanten der westeuropäischen Freiheit auf und zugleich das implizite Gefühl des Verratenseins, der Verwehrung der Gegenleistung in Form der Reintegrierung der von den Türken eroberten kroatischen Territorien. Die Grenzer waren ein in die Fundamente der europäischen, offiziell christlichen Ordnung integriertes Volk, dessen Lachen in Volksstücken gleichsam geopolitisch bedrückt klingt. Das Lachen war mit einer naiven Volksfrömmigkeit und patriotisch-religiösem Pathos durchzogen. Angesichts der vielfachen Bedrohung in diesem jedem politischen Wind und Wetter ausgesetztem Gebiet an der Grenze zum Ottomanischen Reich, das vom so genannten Zivil-Kroatien abgekoppelt war, blieb der kroatischen Bevölkerung sowie den Mitgliedern der serbischen und anderen Nationalitäten nichts anderes übrig, als in christlicher Religion als letztem Trotz zu verharren. Im Gegensatz zu Freudenreich, dem Schauspieler, Regisseur und Organisator des kroatischen Theaterlebens 1860-1870, zeigte der römisch-katholische Priester Ilija Okrugi} überraschenderweise mehr Spielfreude im Umgang mit der 4 Die Seitenzahl bezieht sich im Falle von Textquellen auf die von Nikola Batu{i} herausgegebene Sammlung von sechs kroatischen Volksstücken (siehe Bibliographie). Die deutsche Übersetzung stammt von mir. BH 10 Book.indb 98 22.8.2008 22: 10: 26 Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci} 99 christlichen Religion als der Verwaltungsoffizier Beci}. Sein gewagtes Verfahren wird allerdings dadurch relativiert, dass er ein problematisches Verständnis des Religiösen und der christlichen Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft auf die serbisch-orthodoxe Bevölkerung projiziert. Drei blinde Bettler profitieren von den Gläubigen, die nach der Messe, angeregt durch die Predigt, den Bettlern ihre Spende geben, obwohl im Evangelium eigentlich von der barmherzigen Hilfe den Armen in Not die Rede ist: »Wer in irgend etwas dem Armen hilft, wird mit hundert mal mehr belohnt.« (S. 158) Zur Zielscheibe von Okrugi}s Spott wird die berechnende Hilfsbereitschaft des Soldaten Mito, der noch immer in der abergläubigen Denkweise befangen ist und seine Spende gleichsam als Zaubertrick zur Erlangung eines Reichtums von hundert Talern versteht, mit dem er seine Braut Milka beeindrucken möchte. Die missdeutete christliche Botschaft wird in Okrugi}s Werk zum Motor possenhafter Verwicklung, die durch den Zusatz des quasi-’Zauberhaften’ gesteigert wird. Das religiöse Pathos ist im Werk des echten Volkspriesters Okrugi} abgetreten und hat den Platz einer drastischen volksnahen Satire überlassen, in der noch immer viel an witziger Lebensfreude der multikulturellen Bevölkerung von Syrmium enthalten ist. Seine Volkskomödie widmete Okrugi} dem \akovoer Bischof J. J. Strossmayer, dem ersten Gründer der Zagreber Jugoslawischen (inzwischen Kroatischen) Akademie, der südslawische kulturelle und ökumenische Prozesse unterstützt hatte (vgl. Batu{i}, S. 193). Die christliche Eintracht zwischen den katholischen Kroaten und den orthodoxen Serben erschien Okrugi} angesichts der türkischen, islamischen Gefahr jenseits der Grenze enorm wichtig. Fünf Jahre vor seinem Tod erschien in Novi Sad sein Epos Der heilige Johannes von Capestrano, Sieger in der Schlacht gegen die Türken bei Belgrad 1456, das den Autor nur bedingt mit Josef Anton Stranitzky und dessen Wiener Haupt- und Staatsaktion Türkisch-bestraffter Hochmuth oder das Ano 1683. von den Türcken belagerte und von den Christen entsetzte Wienn ‡...™ (1715) in Verbindung bringen könnte. Im Werk Ferdo Beci}s ist die Volksfrömmigkeit wiederum soldatenmäßig diszipliniert. Die Zeit zum Mittagsgebet wird von der Hauptwache mit Militärtrompete signalisiert, sowohl am Ende des ersten Aktes wie auch gegen Ende des Stücks. Die Grenzarmee, die in den Krieg an die österreichisch-italienische Front (also nicht gegen die Türken und die islamische Gefahr) zieht, wird vom Pfarrer im festlichen Ornat, unter Läuten aller Kirchenglocken gesegnet. Nach realistischem Muster schöpfte Beci} seinen Stoff aus der unmittelbaren Wirklichkeit, und der Humor der Komödie wird durch den Ernst des kirchlichen Gebetszeremoniells gedämpft. Da die Bevölkerung der Militärgrenze mehrheitlich aus Soldaten bestand, sind alle Volksstücke aus diesem Gebiet eigentlich Militärstücke: gleichermaßen Freudenreichs Die Grenzer wie auch Ferdo Beci}s Die Deputation der Leutnantinnen und Okrugi}s Das Brotkörbchen und die Pelzkappe. Am Anfang der Geschichte des neueren kroatischen Volksstücks steht das Militärstück, was die BH 10 Book.indb 99 22.8.2008 22: 10: 26 100 @eljko Uvanovi} kroatische Literatur wiederum mit der deutschsprachigen verbindet: Denn das »(vorläufig nachweisbare) früheste sich so nennende Volksstück verdankt seine Gestalt dem Krieg.« (Aust, S. 85) Es handelt sich um Karl Friedrich Henslers Stück Die getreuen Oesterreicher, oder das Aufgeboth (1797), in dem das Volk durch »außenpolitische Bedrohung« und »Kriegsbegeisterung« zum homogenen, den Monarchen liebenden »Kollektivindividuum« geschmiedet wird. Verherrlicht wird die »Untertanengesinnung ‡...™ als bewußte Selbstunterwerfung im ausdrücklichen Gegensatz zum revolutionären Volksbegriff der französischen Republik« (ebda) und zu den Forderungen nach demokratischer Freiheit und Gleichheit. Die Gehorsamkeit gegenüber dem Kaiser wird in Okrugi}s Werk nur an einer Stelle kurz aber humorvoll thematisiert. Am Anfang des zweiten Aktes lässt der Autor auf der Bühne den abschließenden Segnungsgesang der serbisch-orthodoxen Liturgie hören, und zwar in komisch klingender, alter, slawisch-serbischer Kirchensprache: »Erlöse, Christus Gott, und erbarme Dich: seiner Exzellenz unseres staatlichen Kaisers und Königs Franz des Ersten - unseres erhabenen Archiepiskopus und Metropolit Stefan ‡...™« (S. 154). In Beci}s Werk wird die Gehorsamkeit gegenüber dem Kaiser hingegen in einem ernsthaften Kontext zum Thema gemacht. Kroatische Rekruten werden 1849 für den österreichischen Kampf gegen Italiener eingezogen, um unter Kommando des glorreichen Marschalls Radetzky gegen die Feinde des Kaisers zu kämpfen. Bartlose Jünglinge zeigen fröhliche Opferbereitschaft für die Sache des habsburgischen Kaisers und melden sich in Überzahl - sogar ein 14-jähriger Joco, dessen Vater bei der Belagerung von Wien fiel. Jedoch, wenn der Antreiber der possenhaften Handlung mit ’Leutnantinnen’, Korporal Tunja, unter Lachen und Tränen sagt: »Ich lache aus Freude, weil ich sehe, dass auch unsere heutige Jugend dem Kaiser so treu ist, dass sie sogar mit Freude bereit ist, für ihn zu sterben und ich weine aus Trauer, weil ich mit ihnen halt nicht gehen kann.« (S. 312), schwingt vielleicht ein gewisser ambivalenter Ton in seiner Äußerung mit, obwohl die Tatsache nicht ignoriert werden kann, dass er eigentlich ein entschlossener Anhänger der Konterrevolution war: Beim Kampf gegen die Revolutionäre in Wien wurde er leicht am Knie verwundet und trug zum Sieg gegen die ungarische revolutionäre Armee in der Schlacht bei Schwechat am 20. Oktober 1848 bei, wo er einen Araber-Schimmel als Kriegstrophäe nehmen konnte. Absolut keine Spur irgendwelcher Ambivalenz ist in der ideologischen Einstellung und Dekoration der hohen Offiziere im Stück zu spüren. Der Oberst Ivan von Mihi~evi} trägt das Maria-Theresia-Ritterkreuz und hat an der Wand seines Zimmers das Gemälde des »Kaisers und Königs aus dem ersten Jahr der Herrschaft« (S. 331), »‡r™echts und links hängen kleinere Gemälde mit Bildnis des Banus Jela~i}, des Marschalls Radetzky und anderer berühmten österreichischen Generäle der damaligen Zeit« (ebenda). In seinem Gästebuch befindet sich unter vielen Autogrammen sogar das des Marschalls Windisch-Graetz (S. 348). Der Kaisergehorsam der hohen Offiziere wird aber bis zum Dramenende durch großzügige Beförderungen reichlich belohnt. BH 10 Book.indb 100 22.8.2008 22: 10: 26 Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci} 101 3.2. Multikulturalität Eine weitere innovative Eigenschaft der hier behandelten Volksstücke wäre eine polyglotte, multikulturelle Komik. Um wichtige komische Effekte zu erreichen, verwendet Okrugi} an emotional aufgeladenen Stellen Sprachgemische aus zwei oder mehreren Sprachen, es entsteht gleichsam Komik in Sprachenkontakt, die aus Mischungen aus Kroatisch, Deutsch und Ungarisch bestehen kann (»WACHTMEISTER: Napoleon kod Leipzigban oles Husar und Bakanco{ geschlagen! Ebbatik! [to je moglo elment be`i{ oderes minden Wunden: Kop, Bruszt, ruko és labok Wunden minden olles, irtéd? « ‡159™), aus Deutsch und Ungarisch (»WACHTMEISTER: Wos! Rauber! Halga{, o{toba, Kanalje! Mito meinen Zug Huszar, gut Huszar, brav Huszar, galant magyar Huszar; - Gestern in Trakteur, iss trink, wie magyar Magnat.« ‡182™), aus Kroatisch und Deutsch (»FELDSCHER: Al samo pittine dalje erzählen.« ‡159™) und aus Kroatisch und Quasilatein mit absurd anmutenden Effekten (»FELDSCHER: Otkad je to bilo {to sam ja latinski u~io, pak jo{ nisam sve zaboravio. Domine quare, si vales, ego dieque labor cic, {to }e re}i racki: bolje znati i{ta nego ni{ta.« ‡160™). 3.3. Der Folklore-Faktor In den hier behandelten Volksstücken kann ferner ein innovativer Stil der Gesangseinlagen festgestellt werden, der den Befund von Thorsten Unger (S. 16) bestätigt, dass die »Komik im Volksbrauchtum und in Folklore-Texten ‡...™ besonders im slawischen Raum ein nicht unerhebliches Lachkulturreservoir« bietet. Statt der effektvollen Gesangseinlagen des damals zeitgenössischen Wiener Volkstheaters neigten Laieninszenierungen der Volksstücke von Okrugi} und Beci} zur reichlichen Verwendung der Folklore-Elemente (mit Tamburizza, Volkslied, Volkstanz und Volkstrachten), die die eigentliche dramatische Handlung in den Hintergrund drängen können. Solche Gesangseinlagen sind nicht ans Publikum gerichtet und stellen keine Kommentare dar. In beiden Volksstücken fehlen Schlusstableaus. Beide kroatische Autoren verwenden den Volksliedschatz (Beci} z. B. Spottlieder Im Reigen braucht man keine alten Omas und Zu viel verlangt Mara vom Weinberghüter und Okrugi} ein serbisches Heldenlied über den Königssohn Marko und traditionelle Bettlerlieder) sowie Werke anderer Autoren (z. B. Lieder aus Franjo Kuha~s Sammlung Milkas Haus und Wessen Bretterzaun ist es? ) als Text ihrer Gesangseinlagen. 5 Während aber Okrugi} sogar ein spöttisches lokalpatriotisches Lied über drei Städte in Syrmium (Karlovci, Ruma und Irig) wagt, bleibt Beci} immer obrigkeitstreu, insbesondere wenn er zwei patriotische Kampflieder des kroatischen Illyristen Ivan Trnski (Wir lieben dich, du 5 Dieser Umstand steht im Gegensatz zu Raimunds origineller Kunst der Gesangseinlagen. Seine eigenen Gesangseinlagen Brüderlein fein, Lied der Jugend und Aschenlied aus dem Mädchen aus der Feenwelt wurden bekanntlich in den österreichischen Liedschatz aufgenommen. BH 10 Book.indb 101 22.8.2008 22: 10: 26 102 @eljko Uvanovi} unser Stolz! und So frei fliegt der Vogel in der Luft) zur Unterstützung der kroatischen Teilnahme am österreichischen Krieg gegen Italiener verwendet. 4. Interkulturelle Ähnlichkeiten 4.1. Thematische Elemente International ähnliche thematische Elemente (also Motive der Weltliteratur) sind in den besprochenen Volksstücken ebenfalls zu finden: erstens das Lachen über Untreue in der Liebe - und Botschaft der notwendigen Treue; zweitens die Frau als intrigante Zauberin und Wahrsagerin (Feen und Hexen des Volkstheaters); drittens der Geizige als Lachfaktor (z. B. geizige Greise aus mittelalterlichen Farcen oder Molières Harpagnon); viertens das Lachen über karnevalisierte Gerichtslogik (das Gericht als eine Lotterie-Anstalt). Aus Platzgründen wird hier nur das erstgenannte Motiv eingehend behandelt und werkimmanent interpretiert. Der Wirt Grga entwirft in der Gesangseinlage am Ende des ersten Aktes von Freudenreichs Grenzern ein Bild der ehelichen Untreue unter Bürgern - dummen Stutzern - in der Hauptstadt, wo die Frau ihren Mann unbestraft zum Hahnrei machen kann, angeblich im Gegensatz zu Zuständen auf dem Lande bzw. in der Militärzone: »Viele Frauen haben dort neben/ Ihrem Mann noch einen dazu,/ und der Mann hält den andern/ für seinen besten Freund/ und vergöttert sogar/ seine treue Frau,/ ohne zu kapieren, dass sie/ ihm Hörner aufsetzt.« (S. 75) Dies scheint die Kammerzofe Karolina Liebherz im zweiten Akt zu dementieren, als sie über die Untreue der Männer, insbesondere der Soldaten spricht, die eine große Vorliebe für den Seitensprung besitzen, und offenbart damit zugleich ihre Angst vor der Heirat mit dem Adjutanten Uljevi}, die sich dann im Schlusstableau, dank dem Versprechen der Treue, zur Heiratslust wendet: »Woher den Männern das Recht,/ Die Frauen an der Nase herumzuführen? / ‡...™/ Hat einer an einem Ort seinen Schatz,/ Beteuert er ihm: immer nur Dein! / In drei Tagen geht dies zum Teufel: / Einer andern wiederholt er dasselbe! « (S. 94) Männer und Frauen beschuldigen sich gegenseitig der Untreue und ebenso anderer Charaktermängel in Okrugi}s Werk. Pantelija, der Chef im Trio der blinden Bettler, erzählt am Anfang von einer kurzen Affäre mit der Witwe Jeka, die sich als herrschsüchtige, widerspenstige Zänkerin erwies und möglicherweise ihren Mann und seinen Bettler-Freund in den Ruin trieb. Ganz im Gegensatz zum in Pantelijas Geschichte thematisierten legendären Königssohn und Inbegriff der Ritterlichkeit und Männlichkeit Marko, der in seinem heldenhaften Abenteuer eine böse, gefährliche Fee überwältigt, war der tote Freund »eine Tante« und »eine gute Seele«. Pantelija definiert die Klasse der armen Pantoffelhelden folgendermaßen: »Auch heute gibt es viele solche Männer. Die Frauen verdrehen ihnen den Hals und sie bleiben stumm. Sie treten auf sie mit Pantoffeln, und diese machen keinen Mucks. Der Teufel soll sie holen, man könnte glauben, dass sie BH 10 Book.indb 102 22.8.2008 22: 10: 26 Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci} 103 von Frauen verzaubert sind.« (S. 135) Es gibt auch andersartige Männer, nämlich Soldaten, die in vielen Fällen eine Art Parallelehemann darstellen konnten: Die Bewohnerinnen von Irig seien bekannt dafür, dass sie »neben ihren Ehemännern auch Soldaten« liebten und in einigen Fällen »verlassen die Soldaten das Haus ungeachtet der Ehemänner nicht« (S. 145 f). In Beci}s Werk sorgt die untreue Frau Manda in der Szene der Verführung des 14-jährigen Schreibers Joco für Humor. Nach ihr sollte Joco keine Angst vor ihrem Ehemann haben, und zwar aus folgendem Grund: ‡...™ mein Mann ist nur auf dem Schlachtfeld ein Löwe, und vor mir hier ist er nur ein Hase, nichts anderes als ein Angsthase der flieht, sobald ich ihn drohend angucke oder ihm die Faust zeige. Deshalb sollst du also keine Angst haben, denn auch wenn er uns küssen und liebkosen sehen würde, dürfte er keinen Mucks machen, weil er weiß, dass ich ihm alle Knochen im Leibe brechen würde. Es würde ihm übel bekommen, seine Nase in meine Geschäfte zu stecken! (S. 323) Die stolze, frisch gebackene Leutnantin wird als immer bereite Ehebrecherin entlarvt. Sie stellt außerdem ein verkehrtes, karikiertes Bild der Weiblichkeit dar mit ihrer tiefen Stimme und aggressiven Attitüde. Sie taugte sogar zur Soldatin, wird aber von den Rekruten abgelehnt mit der folgenden Begründung: »Nein, um Gottes willen, denn die Italiener würden dann alle fliehen, und wir hätten keine Feinde mehr! « (S. 313) Ihre Grobheit manifestiert sich verbal in der Verwendung derber Schimpfwörter: Sogar an ihren ehemaligen Geliebten Korporal Tunja richtet sie in einem Zornausbruch die folgenden Worte: »Du schmutziger Arschficker und Schmarotzer! « (S. 328) In einem Anfall von Hochmut wegen des sozialen und finanziellen Aufstiegs ihres Mannes fällt sie ins Netz der männlichen Intrigantenfiguren (vom Korporal Tunja bis zum Oberst Mihi~evi}), die ihre Hybris nähren bis zum tragikomischen, schmachvollen Zusammenbruch, wodurch die Widerspenstige wiederum zur Bescheidenheit und Demut geführt wird. Der Oberst predigt eine biedermeierliche Lebensphilosophie, nach der sich jeder Schritt für Schritt durch Bildung und Erfahrung aufwärts bewegen sollte. Er belehrt Manda von der Gefährlichkeit des Soldatenlebens an der Front. Angesichts der großen Opfer der Männer erscheint ihre herrschsüchtige Aktion im Stab als grobe Verspottung des militärischen Ehrenideals. Die Hauptschuldige Manda bekennt die Schuld und verabschiedet sich vom Oberst mit Händekuss und Weinen. Ihre Abschiedsworte sind: »Ich gehe jetzt, und so lange ich lebe, werde ich Gott für Sie und die Ihrigen beten! Leben Sie wohl! « (S. 359) Erreicht wird eine Besserung und ein Abfinden mit dem Glück im Kleinen, die sowohl für den biedermeierlichen wie auch frommen, obrigkeitstreuen Menschen nach 1849 charakteristisch war. Beci} zeigt in seinem Stück die Fähigkeit der graduellen Steigerung der humorvollen Spannung in den folgenden Phasen: erstens beim Verfassen des Briefes Mandas an andere elf Leutnantinnen, die sie für die Idee einer Deputation und Vorstellung im Stab gewinnen möchte; zweitens in der Schilderung BH 10 Book.indb 103 22.8.2008 22: 10: 26 104 @eljko Uvanovi} des karnevalisierten Zugs »prunkvoll verzierter Pfauhennen« (S. 320) zum Stab und drittens beim Erscheinen der geschmacklos angezogenen ’Leutnantinnen’ in dunkelbraun-rosa Kleidern mit weißen Lederhandschuhen und Strohhüten mit künstlichen Blumen und Federn - vermeintlich nach neuester französischer Mode - im Stab. Die analphabetischen Bäuerinnen, die nicht einmal Kaffee richtig trinken können, stellen sich als Popo-tation statt Deputation (im Original »dupetucija« statt »deputacija«) der »kaiserlich-königlichen Leutnantinnen« vor, die groteske Knickse machen und sich falsch ausdrücken. Mit diesem Stück scheint sich Beci} in einigen Aspekten sogar dem »Vater des Wiener Voksstückes« (Aust et al., S. 68) Philipp Hafner anzunähern, der schon 1763 in der Figur der Frau Redlichin als Lasterfigur in seiner ’ernsten Komödie’ mit Besserung Die Bürgerliche Dame, oder die bezämmten Ausschweifungen eines zügellosen Eheweibes, mit Hanswurst und Colombina, zweyen Mustern heutiger Dienstboten eine Art Vorbild für Beci}s Frauenkarikatur gegeben zu haben scheint. 4.2. Lachen über Vulgäres Da die Lachkultur innerhalb der Volkskultur laut Michail Bachtin 6 eine subversive Gegenkultur darstellt, neigt sie oft zu vulgären Ausdrücken. Das groteske Körperbild betont Öffnungen, Wölbungen, Verzweigungen, Auswüchse und wird insbesondere im Koitus, in der Schwangerschaft, bei der Geburt, im Todeskampf, beim Essen, Trinken und Sich-Entleeren realisiert. Der Effekt der Assoziierung von Niedrigem wird in Beci}s Werk durch die naive Verballhornung des Wortes »Deputation« durch die analphabetischen ’Leutnantinnen’ zur Popo-tation (im Original »dupetucija«) erreicht, womit eine Art frauenfeindlicher Humor der Militärs hergestellt wird. Dasselbe Mittel verwendet der Bettler Pantelija in Okrugi}s Werk bewusst, um gegen die Beeinflussung des Gerichts durch die Militärs zu protestieren: Der Rittmeister wird zum Vrit-majstor! Vrit bedeutet im kroatischen kajkawischen Dialekt »in den Arsch« und wird verwendet im Fluch »I’te v’rit! « (Schert euch in den Arsch! ). Als Zusammensetzung dürfte der Ausdruck »Vrit-majstor« sogar Pedikator bedeuten. Selbstverständlich kann die vulgäre Sprachkomik auch innerhalb einer Sprache realisiert werden, z. B. nur in Deutsch (die Anrede des Wachtmeisters an den Gerichtsbeamten: »Herr Stuhlrikter«). 5. Schlussbetrachtung Obwohl sie im ästhetischen Sinne ’niederer’ Herkunft sind, erscheinen das Volksstück und das Volkstheater wichtig für die Schaffung, Aufbewahrung und 6 Vgl. sein Werk Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur sowie Turk, Bedingungen (1995), S. 308. BH 10 Book.indb 104 22.8.2008 22: 10: 26 Das kroatische Volksstück der slawonischen Schriftsteller Ilija Okrugi} und Ferdo Beci} 105 Vermittlung von Bildern der Nationalkultur bzw. Nationalkulturen mit intrakulturellen, regionalen Spezifika in deren Randgebieten bzw. Gebieten, die im Kontakt mit anderen Nationalkulturen stehen. Viel eindrucksvoller als es in ethnographischen Studien der Fall sein mag, vermitteln die Volksstücke von Okrugi} und Beci} tiefe Einblicke in die religiöse Kultur Slawoniens, in die Kultur der interkonfessionellen Beziehungen im multikulturellen Milieu von Okrugi}s Syrmium, in die Kultur des Militärlebens im Frieden und Krieg, in die Kultur des Ehelebens in der Militärgrenze und schließlich in die volkstümliche Lachkultur (Spott- und Witzkultur) Slawoniens. Die slawonische Volksstückslachkultur ist durch Militärhumor, polyglotte, multikulturelle Sprachkomik und volkstümliche Gesangseinlagen geprägt, enthält aber zugleich international verbreitete thematische Elemente. Der Humor des Priesters Okrugi} ist liberaler, subversiver als der des Verwaltungsoffiziers Beci}. Während Okrugi} der Gravitationskraft des neuen serbischen Kulturzentrums Novi Sad nicht widerstehen konnte und offen seine idealistische Sympathie für Serben als orthodoxe Christen in der Monarchie zeigte, orientierte sich Beci} germanophil an Wien, was nicht nur durch frequente Verwendung des Adjektivs »nobel« in seinem Volksstück zum Ausdruck kommt, und verherrlichte am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Selbstopferung des kroatischen Volkes für habsburgische Herrscherpläne. Zitierte und benutzte Literatur Aust, Hugo/ Peter Haida/ Jürgen Hein: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart, München 1989. Batu{i}, Nikola (Hg.): Pu~ki igrokazi XIX. stolje}a (= Pet stolje}a hrvatske knji`evnosti, Bd. 36), Zagreb 1973. ‡6 kroatische Volksstücke mit Autorenbiographien und -bibliographien™ Bobinac, Marijan: O nekim aspektima trivijalne drame. In: Umjetnost rije~i, 36/ 1992, Nr. 1, S. 81-97. Bobinac, Marijan: Nem~i}ev Kvas bez kruha u kontekstu be~kog pu~kog kazali{ta. In: Umjetnost rije~i, 41/ 1997, Nr. 3, S. 177-200. Bobinac, Marijan: Puk na sceni. Studije o hrvatskom pu~kom komadu, Zagreb 2001. Feuchter-Feler, Anne: La drame militaire en Allemagne au XVIIIe siècle. Esthétique et Cité, Bern et al. 2005. Flatz, Roswitha: Krieg im Frieden. Das aktuelle Militärstück auf dem Theater des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a.M. 1976. Michel, Alain: Der Militärschwank des kaiserlichen Deutschland. Dramaturgische Struktur und politische Funktion einer trivialen Lustspielform, Stuttgart 1982. Mitterbauer, Helga: Germanistik als Kulturwissenschaft - kulturwissenschaftliche Germanistik? In: Italia - Österreich. Sprache, Literatur, Kultur. Hg. v. Luigi Reitani, Karlheinz Rossbacher u. Ulrike Tanzer, Udine 2006, S. 209-213. BH 10 Book.indb 105 22.8.2008 22: 10: 26 106 @eljko Uvanovi} Turk, Horst: Kulturgeschichtliche und anthropologische Bedingungen des Lachens. In: Differente Lachkulturen? Fremde Komik und ihre Übersetzung. Hg. v. Thorsten Unger, Brigitte Schultze u. Horst Turk, Tübingen 1995, S. 299-317. Unger, Thorsten: Differente Lachkulturen? - Eine Einleitung. In: Differente Lachkulturen? Fremde Komik und ihre Übersetzung. Hg. v. Thorsten Unger, Brigitte Schultze u. Horst Turk, Tübingen 1995, S. 9-29. Yates, W. Edgar/ Ulrike Tanzer: Theater und Gesellschaft im Wien des 19. Jahrhunderts. Zur Einführung. In: Theater und Gesellschaft im Wien des 19. Jahrhunderts. Ausgewählte Aufsätze zum 25-jährigen Bestehen der Zeitschrift Nestroyana. Hg. v. W. Edgar Yates u. Ulrike Tanzer, Wien 2006, S. 7-18. BH 10 Book.indb 106 22.8.2008 22: 10: 26 C LEMENS R UTHNER (E DMONTON / K ANADA ) De- & Recoding Konjic(a) Eine herzegowinische Stadt als Modellfall kulturwissenschaftlicher Imagologie D`emal Sokolovi} gewidmet Denn ist fern, was du liebst, Sind gegenwärtig die Bilder ‡...™ (Lukrez) Eine der vornehmlichsten Aufgaben für eine kulturwissenschaftlich erweiterte Literaturwissenschaft (die sich auch mit Theoriegut der Postcolonial Studies angereichert hat) könnte sein, anhand von kulturellen Texten diesseits und jenseits dessen, was gemeinhin »Literatur« genannt wird, das Ineinander von Repräsentation, Machtstrukturen und Identitätskonstruktionen aufzuzeigen. Die Auseinandersetzung mit diesen »Selbst- und Fremdbildern«, »Stereotypen« 1 etc. führt jedoch unweigerlich zu theoretischen Aporien und damit in jene Sackgasse zurück, in die die Komparatistische Imagologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geraten ist. In diesem Sinne möchte ich mit dem vorliegenden Aufsatz zweierlei unternehmen: 1) die kritische Sichtung vorhandener theoretischer Ansätze, die es zu operationalisieren gilt in Hinblick auf 2) eine exemplarische Fallstudie aus dem Bereich der Reiseliteratur, die zeigen soll, wie scheinbar beliebig, aber doch strategisch das Bild einer herzegowinischen Kleinstadt im 19. und 20. Jahrhundert von österreichisch-ungarischen und (reichs-)deutschen Texten umkodiert werden konnte. Dabei unterliegt der Wechsel der Landschafts-, Menschen- und Stadtbilder nicht nur einem rein faktischen Wandel historischer Rahmenbedingungen und subjektiver Faktoren (Autorperspektiven), sondern auch unterschwelligen narrativen/ rhetorischen und damit politischen Strategien, die weniger mit der Kategorie des subjektiven Wahrnehmers zu erklären sind als mit der Präexistenz kollektiver Diskurssysteme. Dieser Beitrag zur Bildpolitik populärbzw. gebrauchsliterarischer Formen situiert sich im Rahmen meines größer angelegten Forschungsprojektes 2 »Konstruktionen des (balkanisch) Fremden: Bosnien-Herzegowina in kulturellen Texten Österreich-Ungarns und Deutschlands, 1878-1918«. Ziel dieses Unter- 1 Vgl. dazu die repräsentative Synthese von Michael Pickering: Stereotyping. The Politics of Representation, Basingstoke - New York 2001; weiters Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Charakters. Hg. v. Manfred Beller u. Joep Leerssen, Amsterdam 2007. 2 Der erste Teil dieses Projekts wurde aus Mitteln der Universität Antwerpen (BOF/ SFO) finanziert. BH 10 Book.indb 107 22.8.2008 22: 10: 26 108 Clemens Ruthner fangens ist es, die kulturelle Inbesitznahme und Kolonisierung Bosnien-Herzegowinas durch die k. u. k. Monarchie kritisch zu beleuchten und damit zentrale Diskurs(element)e des späten habsburgischen Staates - vor allem seinen vorgeblichen »Multikulturalismus« und die bosnische »Friedens- und Kulturmission« - zu hinterfragen sowie auf die politischen, kulturellen und literarischen Nachwirkungen des Vorstellungskomplexes vom ’österreichischen Orient auf dem Balkan’ 3 bis hin zu Peter Handke, Juli Zeh und Norbert Gstrein - und nicht zuletzt auch Erhard Busek und Alois Mock - aufmerksam zu machen. 4 1) EinBildung: theoretische Annäherungen (Imagologie) 1958 monierte René Wellek auf dem Internationalen Komparatistenkongress von Chapel Hill: One can not be convinced by recent attempts ‡...™ to widen suddenly the scope of comparative literature in order to include a study of national illusions, of fixed ideas which nations have of each other ‡...™ but is such a study still literary scholarship? Is it not rather a study of public opinion useful, for instance, to a program director in the Voice of America and its analogues in other countries? 5 Der angesehene amerikanische Literaturwissenschaftler Prager Herkunft warf hier der so genannten Komparatistischen Imagologie implizit vor, eine Hilfswissenschaft für Marketingzwecke und Propaganda zu sein, oder, methodologisch formuliert, »nothing else but a revival of the old Stoffgeschichte ‡...™ at the price, however, of dissolving literary scholarship into social psychology and cultural history«, 6 wenn nicht gar »Völkerpsychologie«. 7 In Welleks Kritik sind bereits Argumente vorweggenommen, denen sich später auch die Cultural Studies/ Kulturwissenschaft(en) ausgesetzt sehen, nämlich die Auflösung des dem Kunstwerk immanenten ästhetischen Moments zugunsten eines vagen und 3 Zu ’westlichen’ Balkan-Bildern im Allgemeinen vgl. etwa Maria Todorova: Imagining the Balkans, New York - Oxford 1997; Bo`idar Jezernik: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers, London 2004. 4 Publiziert liegen im Rahmen dieses Projekts bereits folgende Texte vor: Clemens Ruthner: »K. u. k. Kolonialismus« als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung, Kakanien revisited, 29. 1. 2003 ‡www.kakanien.ac.at/ theorie/ CRuthner3.pdf™; ders.: Kakaniens kleiner Orient. Post/ koloniale Lesarten der Peripherie Bosnien-Herzegowina, 1878-1918. In: Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn (= Kultur Herrschaft Differenz 9). Hg. v. Endre Hárs (u. a.), Tübingen - Basel 2006, S. 255-283; WechselWirkungen. The political, social and cultural impact of Austro-Hungarian occupation on Bosnia-Hercegovina, 1818-1918. Hg. v. dems. (u. a.), New York 2008; ders.: Habsburg’s little Orient: A Post/ Colonial Reading of Austrian and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878-1918, Kakanien revisited, 22. 5. 2008. ‡www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ CRuthner5.pdf™. 5 René Wellek: Concepts of Criticism, New Haven 1963, S. 284 f. 6 Ebenda, S. 285. 7 Hugo Dyserinck: Komparatistische Imagologie. Zur politischen Tragweite einer europäischen Wissenschaft von der Literatur. In: Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme des 19. und 20. Jhs. (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 8). Hg. v. ders. u. Karl Ulrich Syndram, Bonn 1988, S. 13-37, hier S. 16. BH 10 Book.indb 108 22.8.2008 22: 10: 26 De- & Recoding Konjic(a) 109 gemäß einem traditionellen Wissenschaftsanspruch nicht unproblematischen politischen Kontextes. 8 Die literaturwissenschaftliche Imagologie, der Welleks Attacke galt, ist »ein von der französischen Komparatistenschule hervorgebrachtes Spezialgebiet, das sich mit der Erforschung literarischer ’Bilder’ (d. h. Vorstellungen bzw. ’Stereotypen’) vom ’andern Land’ befaßt«. 9 Oder, wie Jean-Marc Moura definiert: L’imagologie s’intéresse à un domaine fondamental de la littérature comparée: les relations entre les écrivains et les pays étrangers telles qu’elles se traduisent dans les œuvres littéraires. Pour élaborer une image de l’étranger, l’auteur n’a pas copié le réel, il a sélectionné un certain nombre de traits jugés pertinents pour sa représentation de l’altérité. L’imagologie décrit ces éléments, les rapproche des cadres historiques, sociaux et culturels qui en forment le contexte, et détermine ce qui appartient en propre à la création de l’écrivain. Elle contribue ainsi à la connaissance d’auteurs dont la sensibilité s’est particulièrement éveillée au contact d’un pays (l’Italie de Stendhal, le Mexique de Malcolm Lowry), de vogues littéraires typiques d’une période (l’orientalisme des Lumières, la germanophobie française d’avant 1914), ou de représentations de régions, de zones géographiques tenues pour cohérentes (l’Orient des Romantiques, le Tiers Monde des écrivains d’après 1945). 10 Als Gründungsakt der literaturwissenschaftlichen Imagologie gilt Jean-Marie Carrés Vorwort Comment nous voyons vous entre nous ‡...™? zu einer Publikation von Marius-François Guyard aus dem Jahr 1951 (die ein Kapitel mit dem Titel L’étranger tel qu’on le voit enthält). Die Ansätze zu dieser Teildisziplin reichen freilich bis in die frühen Tage der Komparatistik in Frankreich und dessen Nachbarländern zurück und wurden von Forscherpersönlichkeiten wie Louis-Paul Betz (1861-1904), Fernand Baldensperger (1871-1958), Paul Hazard (1878-1944), Paul Van Tieghem (1871-1948) u. a. mitgeprägt. 11 Konkreter historischer Hintergrund nach dem Zweiten Weltkrieg war die geisteswissenschaftliche Aufarbeitung des deutsch-französischen Verhältnisses und anderer nationaler Spannungen in Europa. Im Anschluss an die Auseinandersetzung der »französischen Schule« mit Wellek bzw. der amerikanischen Fachtradition, 12 die dem New Criticism entsprang und dementsprechend skeptisch gegenüber einer 8 Vgl. ebenda, S. 16 u. 32. 9 Ebenda, S. 13. Später definierte Dyserinck, die Imagologie beschäftige sich „mit den Vorstellungen von ’Nationalcharakter’, ’Volkscharakter’, ’Besonderheit’, ’Wesen’ usw. fremder Länder, insofern diese Bilder (’Images’) in der Literatur bzw. in einem mit der Literatur zusammenhängenden Geschehen entwickelt werden« (Hugo Dyserinck: Über neue und erneuerte Perspektiven der komparatistischen Imagologie angesichts der Reaktivierung der Beziehungen zum osteuropäischen Raum. In: Imagologica Slavica. Bilder vom eigenen und dem anderen Land (= Studien zur Reiseliteratur und Imagologieforschung 1). Hg. v. Elke Mehnert, Frankfurt/ M. (u. a.) 1997, S. 12-28, hier S. 13). Vgl. auch die Definition von Manfred S. Fischer: Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 6), Bonn 1981, S. 20. 10 Jean-Marc Moura: Imagologie/ Social images. In: DICTL. Dictionnaire International des Termes Littéraires ‡www.ditl.info/ arttest/ art5883.php, Zugriff v. 1. 3. 2008™. 11 Vgl. Anm. 7, Dyserinck 1988, S. 14; Anm. 9, Dyserinck 1997, S. 14; Marius-François Guyard: La littérature comparée (= Reihe »Que sais-je? «), Paris 1951. 12 Vgl. auch Anm. 9, Fischer 1981, S. 65 f. BH 10 Book.indb 109 22.8.2008 22: 10: 26 110 Clemens Ruthner ’unästhetischen’, d. h. sozialen/ historischen/ politischen Grundierung der Analyse eingestellt war, entstand die so genannte Aachener Schule rund um den belgischen Literaturwissenschaftler Hugo Dyserinck, die vor allem in den 1980er Jahren eine groß angelegte (und internationale) literarhistorische Erforschung jener nationalen images in Angriff nahm. Die Wirkungsgeschichte dieser images (oder mirages) 13 selbst lässt sich in der westlichen Tradition bis in die frühe Neuzeit, wenn nicht gar bis in die Antike zurückverfolgen. Sieht Götz Pochat den »Asianismus«-Vorwurf griechischer und lateinischer Autoren gegen fremde Literaturen und Kulturen (zusammen mit dem antiken »Barbaren«-Diskurs und der aristotelischen Klimazonen-Lehre) als ersten Bezugspunkt, 14 so nennt Hans Rothe als frühes Beispiel die Türkenrede des Humanisten Enea Silvio de Piccolomini in der Mitte des 15. Jahrhunderts. 15 Hier wird davor gewarnt, dass bei mangelhaften Vorkehrungen die Völker Europas über einander herfallen würden: Damit daher die Christen sich des Friedens erfreuen können, muß man den Krieg auf auswärtige Völker hinüberspielen. Wenn es dazu kommt, werden weder die Deutschen in ihrem hehren Mut, noch die Franzosen mit ihrer ritterlichen Beherztheit, noch die Spanier mit ihrem hochstrebenden Sinn, noch die Italiener mit ihrem ruhmbegierigen Geiste fehlen. 16 In Piccolominis Rede sind sinnfällige Elemente auffällig, die im Folgenden wiederkehren werden: Zum einen werden zunehmend national kodierte (und sich verselbständigende) Bilder aus einer Rhetorik von Epitetha entwickelt; zum anderen dienen diese einer diskursiven Fundierung kriegerischer Aggression gegen die Türken (d. h. der militärischen und politischen Einigung angesichts eines äußeren Feindes) und damit der politischen Legitimation und Propaganda; ebenso wenig ist zu übersehen, dass hier eines der ersten - und problematischen - modernen Konzepte von ’Europa’ bzw. dem ’Westen’ sinnfällig wird. Auch Franz Stanzel sieht in seinem imagologischen Essay über die Europäer die Periode um 1500 als wichtige formative Schwellenzeit für ethnische Stereotypen-Bildungen; als Faktoren nennt er die Reformation, die Globalisierung der Neuzeit durch die Entdeckungsfahrten und die beginnende Kolonisierung der Neuen Welt sowie die sukzessive Entdeckung der (Sprach-)Nation (als Folge des Buchdrucks, wäre hier mit Benedict Anderson 17 hinzuzufügen): »die im Humanismus aufbrechende Polemik zwischen den aufsteigenden germanischen 13 Dies ist der Term, der in der französischen Komparatistik verwendet wird. Vgl. Hugo Dyserinck: Zum Problem des ’images’ und ’mirages’ und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft. In: Arcadia 1 (1966), S. 107-120. 14 Götz Pochat: Images in Kunst und Kunstwerk. Imagologie und Kunstgeschichte. In: Zit. Anm. 7, Dyserinck u. Syndram 1988, S. 187-227, hier S. 189 ff. 15 Hans Rothe: Fremd- und Eigenbilder von und über Slaven, vornehmlich über Russen und Polen. In: Zit. Anm. 7, Dyserinck u. Syndram 1988, S. 295-319, hier S. 296. 16 Zit. n. ebenda. 17 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. A. d. Engl. v. Benedikt Burkard u. Christoph Münz (= Ullstein-Buch 26529/ Propyläen TB), Berlin 1998, S. 46. BH 10 Book.indb 110 22.8.2008 22: 10: 26 De- & Recoding Konjic(a) 111 Völkern des Nordens und den absteigenden südländischen Völkern unterstellt einen Gegensatz zwischen jugendlicher Vitalität der Germanen und geistiger Erschöpfung und Altersschwäche«. 18 Seit der Mitte des 19. Jahrhundert, so Pochat, hätten sich dann images völkerpsychologischer Art und nationalistische Tendenzen in der nach Stil- und Wesensausdruck ausgerichteten Kunstgeschichte immer wieder, manchmal in verhängnisvoller Weise, durchgesetzt. Prinzipiell beruht die national geprägte Stilkritik auf der Annahme, daß sich der Charakter eines Volkes oder Stammes äußeren Stilimpulsen zum Trotz stets durchsetzt. Zu der früheren, imagologisch bedeutsamen Klimalehre tritt nun die völkische Komponente hinzu. 19 Pochat bezieht sich hier offenkundig auf die Entdeckung des »Volkes« und seiner »Kultur« bei Herder und den Romantikern, aber vor allem auf die pseudowissenschaftliche Formatierung nationaler Selbst- und Fremdbilder unter dem Eindruck der Völkerpsychologie (z. B. bei Wilhelm Wundt) im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, die versucht, nationalen Kollektiven (dem »Volksgeist«) so wie dem Individuum gewisse psychische Eigenschaften zuzuschreiben. Dieses bedenkliche Unterfangen erweist sich mehr oder weniger latent eingebunden in andere zeitgenössische Diskurse wie Nationalismus, Rassismus und (Sozial-)Darwinismus. 20 Mit den mit dieser Diskurs-Formation einhergehenden biologistischen Hierarchisierungen von »Rassen«, »Völkern« und anderen Gruppen (so z. B. auch vehement entlang der Geschlechterdifferenz) gewinnt der europäische Imperialismus ein wichtiges diskursives Instrument - die diskriminierende Festschreibung kultureller Differenz - für seine Expansionsprojekte wie z. B. den Kolonialismus, der mit der »Inferiorität« außereuropäischer Völker und ihrem daraus resultierenden Bedarf an »Zivilisation« begründet wird. Soweit eine kurze Skizze zur Vorgeschichte der Imagologie und ihres Gegenstandes, die wohl mit der Feststellung enden muss, dass diese komparatistische Subdisziplin allem Anschein nach entweder in Verruf oder Vergessenheit geraten ist - oder beides - und auch von einer gegenwärtig boomenden Bildwissenschaft nicht wirklich wieder aufgegriffen wurde. Dazu mögen die mangelhafte bis aporetische theoretische Reflexion der Aachener Schule und ihrer Kooperationspartner in Verbund mit einer positivistischen Vorgehensweise beigetragen haben, die zwar eine große Anzahl an Themen für Hausarbeiten und Dissertationen abwarf (’Das X-Bild in Y’), ohne dass einigermaßen klar wurde, welchem Zweck die Auflistung vorhandener historischer Bilderwelten dienen sollte. »Die Diskrepanz zwischen gründlicher empirischer Bestandsaufnahme und theoretischem Defizit ist darauf zurückzuführen, daß sich die Forschung in erster Linie 18 Franz K. Stanzel: Europäer. Ein imagologischer Essay, Heidelberg 2 1998, S. 28. 19 Zit. Anm. 14, Pochat 1988, S. 211. 20 Vgl. dazu die beiden exemplarischen Studien von George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Übers. v. Elfriede Burau u. Hans Guenter Holl, München 1990; Elizabeth u. Stuart Ewen: Typecasting. On the Arts and Sciences of Human Inequality. A History of Dominant Ideas, New York 2006. BH 10 Book.indb 111 22.8.2008 22: 10: 26 112 Clemens Ruthner auf das Sammeln der Stereotypen und auf deren nachträgliche Korrektur konzentriert hat«, monierte etwa Michael Jeismann 1991. 21 Im Zentrum steht jene ästhetische Vermittlungsproblematik, die bereits Wellek in seiner Kritik angesprochen hatte und die seither immer wieder formuliert worden ist. »Unser Thema liegt etwas am Rande der Literaturwissenschaft, und zwar auf der Grenze zwischen Literaturgeschichte und Soziologie«, schrieb Hermann Meyer in seiner Studie zum Holländer-Bild in der deutschsprachigen Literatur (1963) - was zu einer »doppelt‡en™ ‡...™ Zielsetzung« führe: 22 1) »Welchen Anteil hat die Literatur am sozialen Prozeß der Ausbildung des allgemeinen Bewußtseinsinhalts, der das Bild vom anderen Volke ist? « 2) »Was ist die literarische Seinsweise eines solchen in der Dichtung auftretenden Bildes, wie funktioniert es in der Dichtung? « 23 Ähnlich sah auch Thomas Bleicher 1980 zwei Schwierigkeiten: zum einen erscheint das Image-System in einem einzelnen literarischen Werk nicht vollständig, allenfalls in mehr oder weniger großen System-Ausschnitten, zum andern schließt das Image-System in sich Faktoren ein, die eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von vornherein überschreiten. 24 Außerdem würde Literatur nicht einfach images reproduzieren, sondern sie habe in ihrer konkreten ästhetischen Ausformung ebenso die Fähigkeit zur Hinterfragung und Subversion von bestehenden Bilderwelten, zum »Images-Ausgleich oder -Aufhebung«. 25 Ganz in diesem Sinne hatte Manfred Fischer, Mitglied der Aachener Schule und Assistent Dyserincks, 1979 die folgenden drei Forschungsperspektiven entwickelt: 1. die »Historizität national-imagotyper Systeme« (gehen tlw. auf alte Mythen zurück); 2. Nationale images als »Elemente komplexer und übernationaler historischer Wechselbeziehungen sowie das Problem ihrer Konstanz und Universalität«; 3. Nationale images »als Strukturelemente eines ästhetischen Kontextes«. 26 21 Michael Jeismann: Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches Handeln? In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität (= Sprache und Geschichte 16). Hg. v. Jürgen Link u. Wulf Wülfing, Stuttgart 1991, S. 84-93, hier S. 84. Links Projekt des »Interdiskurses« gibt sich dagegen betont theoriebewusst. 22 Herman Meyer: Das Bild des Holländers in der deutschen Literatur. In: Ders.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 202-224, hier S. 202. 23 Ebenda. 24 Thomas Bleicher: Elemente einer komparatistischen Imagologie. In: Komparatistische Hefte ‡Bayreuth™ 2 (1980), S. 12-24, hier S. 18. 25 Ebenda, S. 13. Riesz spricht von der »Doppelfunktion« von Kunst zwischen Wiederholung und Zerstörung von images (János Riesz: Einleitung. Zur Omnipräsenz nationaler und ethnischer Stereotype. In: Komparatistische Hefte 2 (1980), S. 3-11, hier S. 10.), ganz im Sinne der ’Janusköpfigkeit’ kultureller Bedeutungsproduktion zwischen Affirmation und Subversion: »The national unity which is sealed by Culture is shattered by culture« (Terry Eagleton: The Idea of Culture, Oxford - Malden 2000, S. 62; die Großschreibung von »Culture« referiert hier auf den Begriff kanonisierter ’Hochkultur’, die Kleinschreibung auf den erweiterten Kulturbegriff der Cultural Studies, der populäre, marginalisierte, dissidente bzw. alternative Formen symbolischer Bedeutungssysteme miteinschließt). 26 Manfred S. Fischer: Komparatistische Imagologie. Für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme. In: Zschr. für Sozialpsychologie 10 (1979), S. 30-44, hier S. 31. BH 10 Book.indb 112 22.8.2008 22: 10: 26 De- & Recoding Konjic(a) 113 In Reaktion auf Welleks Vorwürfe, schrieb Fischer später, bedürfe es »einer strikten Berücksichtigung der ursprünglich spezifischen Seinsweise dieser Bilder sowie jener ästhetischen Funktion, die ihnen als kontextuellen Strukturelementen literarischer Kunstwerke ursprünglich zufiel.« 27 Jede angestrebte Entideologisierung nationaler Bilder, jede nachhaltige Aufklärung über ihre Unzulänglichkeit setzen eine gewissenhafte Aufarbeitung ihrer Geschichte voraus. ‡...™ Die historische Analyse bleibt indessen zur Unwirksamkeit verdammt, solange sie sich im Aufzeigen einzelner Entwicklungsetappen erschöpfe oder ’wahr’/ ’falsch’ als Kriterien für die Bewertung der images anlege. 28 Damit wird der positivistischen Katalogisierung entsprechender literarischer/ kultureller Selbst- und Fremdbilder, wie sie in früheren imagologischen Arbeiten erfolgte, eine klare Absage erteilt. Diese Vorgehensweise zeigt sich zusätzlich durch die Erkenntnisse der Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte (wie etwa bei Umberto Eco, Jacques Derrida und Paul de Man) verunmöglicht, die auf die prinzipiell offene, ja ambivalente ästhetische Struktur von im weitesten Sinne ’literarischen’ Texten hingewiesen hat, die eine Verallgemeinerung im Sinne von historischen »Entwicklungsetappen« hintertreibt. Was also Not tut, ist eine spezifische Analyse einzelner Texte, die ihre Eingebundenheit in ’real’-historische Kontexte als Intertextualität von Diskursen begreift, die einer rhetorischen Analyse zugänglich ist. 29 Dazu sind indes noch nähere Einsichten in die Funktionsweise des kulturellen Fremd- und Selbstbildes nötig, wie sie andernorts erarbeitet wurden. Die sozi(alpsych)ologische Stereotypen-Forschung nahm mit der Arbeit Public Opinion (1922) des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann ihren Anfang. 30 Stereotypen sind »sozio-kulturell gefrorene Bilder«, 31 die mit sozial etablierten in- und out-groups zusammenhängen, 32 Identität stiftende Elemente des kulturellen Gedächtnisses, die auf drei Ebenen wirksam sind: kognitiv (Vorstellungen, Bilder), affektiv (Gefühle), konativ (Disposition für Verhalten). 33 Stereotypen sind damit auch Formen symbolischer Machtausübung im Rahmen gesellschaftlicher und internationaler Machtverhältnisse: »Es sind von Menschen hergestellte ’Gegenstände’, die wieder auf die Menschheit einwirken können, wobei es später u. 27 Manfred S. Fischer: Literarische Seinsweise und politische Funktion nationenbezogener Images. Ein Beitrag zur Theorie der komparatistischen Imagologie. In: Neohelicon ‡Budapest, Amsterdam™ 10 (1983), H. 2, S. 251-274, hier S. 261. 28 Zit Anm. 26, Fischer 1979, S. 35. 29 Vgl. hierzu auch Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie (= KuLi 1), Tübingen - Basel 2005. 30 Vgl. dazu Anm. 1, Pickering 2001, S. 16 ff.; Anm. 20, Ewen u. Ewen 2006, S. 3 ff. 31 Michael Schratz: Interkulturelles Lernen als Erinnerungsarbeit. In: Interkulturelles Zusammenleben. Aber wie? Hg. v. ders. u. Gabriele Fuchs, Innsbruck 1994, S. 137. 32 Änne Ostermann u. Hans Nicklas: Vorurteile und Feindbilder. Weinheim - Basel 1984, S. 25 f. 33 Ebenda, S. 16 f. BH 10 Book.indb 113 22.8.2008 22: 10: 26 114 Clemens Ruthner U. nicht einmal mehr möglich ist, diese Einwirkung hinreichend zu kontrollieren bzw. in den Griff zu bekommen.« 34 Das von Lippmann geschaffene Untersuchungsfeld wurde im Weiteren innerhalb der Sozialpsychologie und Kommunikationswissenschaft der 1970er und 1980er Jahre, von Forschern der Social-Identity-Tradition wie Serge Moscovici, Henri Tajfel und John C. Turner, bearbeitet. 35 Aus Tajfels zentralem Text Social Stereotypes and Social Groups (1981) stammt folgende Auflistung von »key functions«, die charakteristisch für die Wirkungsweise von Stereotypenbildungen sind: 36 - »social causality«: sie erklären komplexe und problematische Ereignisse; - »justificatory«: sie dienen z. B. der diskursiven Legitimation von Kriegen; - »differentiation from other groups (identity function)«: Selbstbestätigung durch Bilder des Fremden; - »variations of themes«: Stereotypen ändern sich selten drastisch; - »self-stereotyping«: die Produktion von Auto-Stereotypen und Übernahme von Hetero-Stereotypen 37 durch die betroffene Gruppe selbst; - »outgroup homogenity effect«: Komplexitätsreduktion dem Anderen gegenüber. Angesichts des steigenden Problembewusstseins, dass es sich bei Stereotypen nicht nur um psychologische Phänomene, sondern vor allem um Formen einer kulturellen Repräsentation des sozial, geschlechtlich oder ethnisch Anderen handelt, kam es zu einem »discursive turn« innerhalb der Forschung. 38 Bald erwies sich auch das einsinnige Konzept eines verzerrten und gesellschaftlich oktroyierten Bilds des Anderen - wodurch das Stereotyp zu einem Paradefall für »falsches Bewusstsein« (Marx) bzw. »Hegemonie« (Gramsci) wird - als wenig zielführend, weshalb Michael Pickering im Anschluss an andere Forscher ein alternatives Modell vorschlägt: Im Prozess des »othering« werden Bilder des Eigenen und des Fremden auf einander bezogen und damit zu einer dynamischen Einheit (oder vielmehr: Zweiheit), deren Pole nicht von einander unabhängig gedacht werden sollten. 39 Schon Manfred Fischer von der Aachener Schule hatte 1981 auf diese Verschränkung von Selbst- und Fremdbild hingewiesen: 34 Zit. Anm. 7, Dyserinck 1988, S. 26. 35 Für einen Überblick vgl. etwa Steve Reicher, Nick Hopkins u. Susan Condor: The Lost Nation of Psychology. In: Beyond Pug’s Tour. National and Ethnic Stereotyping in Theory and Literary Practice. Hg. v. Cedric Barfoot, Amsterdam - Atlanta 1997, S. 53-84, hier S. 63 ff.; Marco Cinirella: Ethnic and National Stereotypes. A Social Identity Perspective. In: Ebenda, S. 37-51. 36 Zit. n. Anm. 35, Cinirella 1997, S. 45 ff. 37 Zur althergebrachten Dichotomie von Auto- und Heterostereotypen vgl. etwa Joseph L. Soeters u. Mireille Van Tuywer: National and Ethnic Stereotyping in Organizations. In: Zit. Anm. 35, Barfoot 1997, S. 495- 510, hier S. 498; Hugo Dyserinck: Die Quellen der Négritude-Theorie als Gegenstand komparatistischer Imagologie. In: Komparatistische Hefte ‡Bayreuth™ 1 (1980), S. 31-40, hier S. 33 ff. 38 Vgl. Anm. 35, Reicher (u. a.) 1997, S. 71 ff. 39 Zit. Anm. 1, Pickering 2001, S. 47 ff. BH 10 Book.indb 114 22.8.2008 22: 10: 26 De- & Recoding Konjic(a) 115 Zu unterscheiden ist zwischen Auto- und Heteroimages, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit in ihrer Genese gegenseitig bedingen, indem das ’Fremde’ zur definitorischen Abgrenzung des ’Eigenen’ herangezogen wird bzw. das ’Fremde’ von der Warte und nach dem Maßstab des vorab angenommenen ’Eigenen’ bewertet wird. Mit einiger Sicherheit läßt sich vermuten, daß in einer großen Anzahl von Fällen Auto- und Heteroimages die beiden Seiten ein und derselben Medaille ausmachen. Nachweislich gibt es auch Fälle, in denen das Heteroimage zur Gewinnung eines Autoimages übernommen und anerkannt wurde. 40 Einen der wichtigsten rezenten Beiträge zur epistemologischen Komplexität dieser Dyadenstruktur des Eigenen und des Fremden hat Homi Bhabha mit seinem Aufsatz The Other Question (1983) geleistet. 41 Der postkoloniale Theoretiker sieht das Stereotyp als »a form of knowledge and identification that vacillates between what is always ’in place’, already known, and something that must be anxiously repeated ‡...™« und möchte genau diesen »process of ambivalence, central to the stereotype«, untersuchen. 42 Mit dieser Ambivalenz hintertreibt das Stereotyp freilich die Fixierung 43 seines Objekts, die z. B. der koloniale Diskurs leisten möchte, wenn er eine Hierarchie zwischen Kolonialherrn und beherrschten Übersee-’Völkern’ etabliert: The objective of colonial discourse is to construe the colonized as a population of degenerate types on the basis of racial origin, in order to justify conquest and to establish systems of administration and instruction ‡...™ a form of governmentality that in marking out a ’subject nation’, appropriates, directs and dominates its various spheres of activity. 44 Die aporetische Struktur dieses strategischen Wissenssystems besteht darin, »that the colonial discourse produces the colonized as a social reality which is at once an ’other’ and yet entirely knowable and visible«; 45 das Andere soll also anders sein (und bleiben), 46 aber gleichzeitig durch den Kolonialdiskurs erfassbar, fixiert und ruhig gestellt werden. Diese letztlich unmögliche Bewegung eines diskursiven Festhalten-Wollens - und der immanente »Wiederholungszwang« dieser Bilderwelten - hat Bhabha in weiterer Folge dazu gebracht, die rassistischen Stereotypen des Kolonialismus auch psychoanalytisch als »arrested, fetishistic mode of representaton« 47 zu fassen - ein Modus, der in sich gebro- 40 Zit. Anm. 9, Fischer 1981, S. 20. 41 Homi Bhabha: The Other Question. Stereotype, Discrimination and the Discourse of Colonialism. In: Ders.: The Location of Culture, London - New York 1994, S. 66-84. 42 Ebenda, S. 66. 43 Vgl. Leersens Anregung, das Stereotyp mithilfe von Bachtins »Chronotopos«-Konzept zu fassen als »a particular representational sphere is created where time is seen to pass at a different rate then elsewhere« (Joep Leersen: The Allochronic Periphery. Towards a Grammar of Cross-Cultural Representation. In: Zit. Anm. 35, Barfoot 1997, S. 285-294, hier S. 287). 44 Zit. Anm. 41, Bhabha 1994, S. 70. 45 Ebenda, S. 71. 46 Bhabha (ebenda, S. 86) bringt dies auf die Formel, der kolonialisierte Andere müsse aus der Sicht der Kolonialherrn »almost the same, but not quite« werden, weil sonst die Hierarchien stützende Differenz wegfallen würde. 47 Ebenda, S. 76. BH 10 Book.indb 115 22.8.2008 22: 10: 26 116 Clemens Ruthner chen und gleichsam in Form einer »Naht« ’zusammengeflickt’ ist: »My concept of stereotype-as-a-suture is a recognition of the ambivalence«. 48 Stereotyping sei damit nicht the setting up of a false image which becomes the scapegoat of discriminatory practices. It is a much more ambivalent text of projection and introjection, metaphoric and metonymic strategies, displacement, overdetermination, guilt, aggressivity; the masking and splitting of ’official’ and phantasmagoric knowledges to construct the positionalities and oppositionalities of racist discourse. 49 Das Stereotyp wird damit nicht (nur) wie bei Said zu einer einsinnigen Brandmarkung, die - tiefenpsychologisch wie medial - auf den Anderen projiziert wird, sondern es ist gleichfalls durch eine in sich aporetische Bewegung charakterisiert, die den kolonialen Diskurs intern destabilisiert. In einer ebenso psychoanalytisch inspirierten Intervention zur kulturellen Repräsentation des Holocaust hat die nordamerikanische Anglistin und Filmwissenschaftlerin Karyn Ball darauf hingewiesen, dass die Bilder einer kulturellen Gedächtnisarbeit 50 - und als solche sind Stereotypen und andere kulturelle images ja durchaus zu klassifizieren - auch mit dem narzisstischen Ich-Ideal eines Kollektivs zusammenhängen: In his Introduction: On Narcissism (1914), Freud describes the emergence of an ideal ego as a puerile and idealized self-image that orients self-love (primary narcissism). He also refers to the subsequent emergence of a secondary-narcissistic ego-ideal as the disciplinary self-standard precipitated by the subject’s encounter with an absorption of the critical gaze of others. The concept of the ego-ideal may help us to understand individual and collective investments in particular memories or images of the past as subject formations that are responsive to social standards. Extrapolating from Freud’s theorization of the ego-ideal, I would therefore like to suggest the companion term memory-ideal ‡...™. 51 Dies passt nicht nur zum Konzept des Fetischismus bei Bhabha, sondern auch zu der vorher vorgetragenen Idee, dass stereotype images Mittel der Selbstverständigung 52 einer Kultur sind; in einer fotografischen Metapher gesprochen: am Negativ des Anderen wird das eigene Positiv erarbeitet. Das bedeutet freilich auch, dass diese Imagines phantasmatisch 53 sind und nicht durch ’Überprüfung’ 48 Ebenda, S. 80. 49 Ebenda, S. 82. 50 Vgl. etwa Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann: Four Formats of Memory. From Individual to Collective Constructions of the Past. In: Cultural Memory and Historical Consciousness in the German-Speaking World Since 1500. Hg. v. Christian Emden u. David Midgley, Bern 2004, S. 19-37. 51 Karyn Ball: Remediated Memory in German Debates about Steven Spielberg’s Schindler’s List, Kakanien revisited, 27. 5. 2006, S. 11 ‡www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ KBall1.pdf™. 52 Vgl. Anm. 37, Dyserinck 1980, S. 32, wo von der »Erfahrung« die Rede ist, »wonach die Prozesse der Imago-Bildung in der Regel weit aufschlußreicher sind für den Bereich, in dem sie entwickelt werden, als für denjenigen, den sie zum Gegenstand haben«. 53 Schon Meyer spricht vom »starre‡n™, affektive‡n™ und letzten Endes wahnhafte‡n™ Charakter der ‡...™ Bilder« (Zit. Anm. 22, Meyer 1963, S. 204.). BH 10 Book.indb 116 22.8.2008 22: 10: 27 De- & Recoding Konjic(a) 117 an einer wie auch immer gearteten historischen ’Wirklichkeit’ ’korrigiert’ werden können, zumal sie auch - vom Wiederholungszwang getrieben - äußerst repetitiv sind. Wie bereits vorher festgestellt wurde, zeichnen sie sich weniger durch einen kognitiven als vielmehr einen affektiven Wert aus und sind als Diskurselemente eher einem Pseudo-Glauben als einem überprüfbaren Wissen zu vergleichen - und, folgt man Bhabha, in ihrer internen epistemologisch-psychologischen Struktur ambivalent und widersprüchlich. Für eine narratologisch inspirierte kulturwissenschaftliche Forschung ist von Belang, dass solche Bildformungen prinzipiell auch in literarischen Texten niemals ’unschuldig’ (’gedankenlos’) und schon gar nicht ’interesselos’ sind (obwohl sie dort den ästhetischen Verfahren der Ironisierung etc. unterworfen sein können); in der Reiseliteratur stammen sie weniger aus einer erfahrenen Realität, sondern sind vielmehr in diese projiziert, hineingelegt, bzw. helfen mit, diese erst zu konstruieren. Aufgezeigt werden kann ihre Verortung in einer konkreten historischen Situation und ihre prinzipiell ambivalente Anlage, analog der ihnen zugrunde liegenden Dialektik von Angst/ Begehren und epistemischer Kontrolle, die wohl charakteristisch ist für jede Annäherung an das/ die Fremde in der westlichen Moderne. 54 Weiters ist auffällig, dass Stereotypen im Fremdbild (»othering«) willkürlich sind, der stigmatisierten Gruppe hartnäckig anzuhaften scheinen (wie schon Tajfel aufgefallen ist), aber auch rekodierbar 55 sind; vor allem aber, dass ihre Willkürlichkeit doch einigen fest gefügten Redeformen - Topoi bzw. Tropen - folgt. 56 So erscheinen beherrschte Ethnien aus der Sicht einer hegemonialen bzw. kolonialen Kultur nachgerade uniform als ’faul’, wenig(er) intelligent, moralisch bedenklich, kurzum: der Kulturarbeit durch den Hegemon bedürftig (»white man’s burden«) - egal, ob von Finnen im zaristischen Russland, Afrikanern oder Indern im British Empire oder Bosniern in Österreich-Ungarn die Rede ist. Jene Topoi und Tropen wirken wie virtuelle Züge auf dem Schachbrett politischer Rhetorik, die in einer bestimmten historischen Situation aufgerufen werden - aber auch deaktiviert werden können, wenn sich die ideologische Motivation ändert. Diese scheinbar willkürliche De- und Rekodierung des Anderen in Form eines »Blickregimes« 57 bzw. im Rahmen einer »Bildpolitik« (Mahasweta Sengupta spricht von einer »tyranny of representation«) 58 soll im Folgenden anhand eines 54 Ein gutes Beispiel dafür ist die diskursive Formation des westlichen Orientalismus; dieser ist, wie zit. Anm. 41, Bhabha 1994, S. 71, in Anlehnung an Edward Said formuliert, »a topic of learning, discovery, practice; on the other, it is the site of dreams, images, fantasies, myths, obsessions and requirements.« 55 So z. B. in der spielerischen bis kommerziellen Übernahme von blackness-Stereotypen in der Rap-Musik, wo sie in den Dienst von coolness und identity building gestellt werden. 56 »Die jeweiligen Zuordnungen können im Verlauf der Jahrhunderte und je nach politischer Perspektive wechseln, von Westen nach Osten oder von Süden nach Norden weitergereicht werden, ihr Bestand bleibt derselbe, bleibt auf die Summe möglicher Eigenschaftsbezeichnungen beschränkt.« (zit. Anm. 21, Jeismann 1981, S. 85) 57 Martin Jay: Scopic Regimes of Modernity. In: Scott Lash u. Jonathan Friedman: Modernity and Identity, Oxford - Cambridge, Mass. 1992, S. 178-195; vgl. auch Anm. 41, Bhabha 1994, S. 76. 58 Mahasweta Sengupta: Translation as Manipulation. The Power of Images and Images of Power. In: Bet- BH 10 Book.indb 117 22.8.2008 22: 10: 27 118 Clemens Ruthner konkreten Beispiels aus Bosnien-Herzegowina um 1900 sichtbar gemacht werden. Kulturwissenschaftlich könnte man hier auch mit Pierre Bourdieu von einer Bildökonomie sprechen - in Anbetracht der Tatsache, dass die stereotypen images als Bestandteil von publizierten Texten auf einem literarischen Markt um Leser werben und in einer eigentümlichen Verhältnis zu einer ’Volkswirtschaft’ kursieren, die Menschen als Produzenten und Konsumenten den Hierarchisierungen von wirtschaftlichem Erfolg und Marktzyklen, kurzum einer Sozioökonomie unterwirft: »Der Kampf um das erwünschte Bild (image) findet in allen Lebensbereichen statt: politisch ist er ein Teil eines globalen Machtkampfes, ökonomisch ‡...™ ein wichtiger Teil unserer ’freien Marktwirtschaft’, Teil des Kampfes um Marktanteile ‡...™«, so der Komparatist János Riesz. 59 2) AbBilder: Konjic(a), eine Fallstudie Das in der Einleitung skizzierte Forschungsprojekt Konstruktionen des Fremden beschäftigt sich vor allem mit jenen Stereotypen, welche österreichische und deutsche Autoren zur Zeit der österreichisch-ungarischen Besatzung Bosnien- Herzegowinas 1878-1918 als Beschreibungsmodus dieser Balkanregion strategisch produzieren bzw. übernehmen (wobei sich schon bei früheren Recherchen erwies, dass reichsdeutsche Texte in ihrer kolonialen Bildlichkeit wesentlicher expliziter vorgehen als die deutsch-österreichischen). Die Stereotypen, d. h. Topoi und Tropen, die dabei zum Einsatz kommen, dienen zumeist der Legitimation der österreichisch-ungarischen Okkupation und ihrer »Kulturmission« - ein Diskurs, mit dem sich die Habsburger Monarchie in die kolonialen Unternehmungen anderer Reiche einreiht. Bei einer Sichtung der vorhandenen Texte vor allem aus dem Bereich der Reiseliteratur ist auffällig, dass die zugewiesenen Charakteristika bei Ortsbeschreibungen koinzidieren, aber auch so stark von einander abweichen können, dass man mitunter den Eindruck erhält, es mit verschiedenen Orten zu tun zu haben. Eine kritische Untersuchung dieser Rekodierungen kann deren ideologischen Hintergrund sichtbar machen - in der Tat werden hier literarische Formen und ihre Rhetorik im Sinne des New Historicism als ’gesellschaftliche (politische) Poetik’ lesbar. 60 Beim vorliegenden Beispiel wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit des Korpus ein kleiner und verhältnismäßig unbedeutender Ort in der Herzegowina gewählt, Konjic(a) an der Neretva, 61 eine gemischt muslimisch-kroatische Bezirksween Languages and Cultures. Translation and Cross-Cultural Texts. Hg. v. Anuradha Dingwaney u. Carol Maier, Pittsburgh - London 1995, S. 159-74, hier S. 171. 59 Zit. Anm. 25, Riesz 1980, S. 11. 60 Bei der Formulierung einer Topografie der Stereotypen wäre auch der spatial turn in den Kulturwissenschaften mitzudenken, was hier aus Platzgründen leider nicht möglich ist. 61 Die untersuchten Texte nennen meist den Ortsnamen mit einem a-Suffix und verwenden den ital. Flussnamen Narenta. BH 10 Book.indb 118 22.8.2008 22: 10: 27 De- & Recoding Konjic(a) 119 hauptstadt von mehreren tausend Einwohnern auf halbem Weg von Sarajewo nach Mostar, die heute vor allem als Austragungsort der Jahreskonferenzen des Institute for Strenghtening Democracy in BiH (organisiert vom bosnisch-norwegischen Politikwissenschaftler D`emal Sokolovi}) bekannt ist. Interessanter wäre in der Tat eine diachrone Analyse von images der Hauptstadt Sarajewos gewesen, das sich in den Texten vom Kriegsschauplatz 1878 zum Musterbeispiel einer mehr oder weniger gelungenen Synthese aus Orient und Okzident um 1900 entwickelt. Da dies aus Platzgründen kaum zu leisten wäre, wurde auf die Stadt und Region Konjic zurückgegriffen, zumal dort eine ähnliche diskursive Entwicklung festzustellen ist - mit einem interessanten Nebenmotiv, dem der Bogumilen. Kurz nach der Jahrhundertwende kommt der Reichsdeutsche Bernhard Wieman auf Einladung eines österreichischen Freundes nach Bosnien-Herzegowina und schreibt über Konjic: Das ist eine fremde, schöne Stadt, eine Stadt so ganz anders, als ich sie bislang gesehen habe, eine schöne Sonnenstadt. Das Wasser der Narenta hat eine wunderbare Bläue; aus weißen Steinhäusern mit grauroten Dächern leuchten die Minarets, und eine hohe, vierbogige Brücke wird gleich unser Weg sein; jenseits des Flusses erheben sich kleine, kahle Berge mit niedrigem Grün, und dahinter sehe ich höhere Gipfel vom schimmerndem Himmel sich abheben. 62 Hier steht Schönheit im Zentrum: der romantische Orient wird zu einem deutschen Postkartenidyll in geistiger Verwandtschaft mit Karl May. 63 Wieman schreibt weiter: »Die Hercegovina ist die lichte, ungemein reizvolle Schwester von Montenegro, eines finsteren Bruders.« 64 Diese Gegenüberstellung der Herzegowina mit der Nachbarregion Crna Gora scheint nicht zufällig: Erstere ist »unser«, letztere Feindterritorium; die »lichte«, ehemals osmanische Provinz steht unter österreichisch-ungarischer Verwaltung, die andere ist barbarisch, gleichsam noch den dark ages zugehörig. Slightly different erscheint Konjic im nächsten Textzitat, das aus einem der ersten österreichischen Automobilreiseführer für die Region stammt, der im selben Jahr (1908) wie Wiemans Reisebericht erschien. Einmal mehr wird hiermit klar, dass es den »Orient« in zeitgenössischen westlichen Diskursen immer als Plural gibt, als ambivalentes Kippbild im Auge des Betrachters (und jenes »Kippen« ist für jeden Diskurs des »primitiven« Anderen signifikant, der in der Zirkelbewegung zwischen blutdürstigem ’Barbaren’ und ’edlem Wilden’, in jener bereits erwähnten Endlosschleife von Angst und Begehren gefangen scheint): 62 Bernard Wieman: Bosnisches Tagebuch. Kempten - München 1908, S. 91. 63 Zur Zeitgenossenschaft von Karl May mit anderen Orientdiskursen in der deutschsprachigen Literatur um 1900 vgl. Nina A. Nieman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschen Kultur um 1900, Berkeley 1994. 64 Zit. Anm. 62, Wieman 1908, S. 214. BH 10 Book.indb 119 22.8.2008 22: 10: 27 120 Clemens Ruthner Konjica ist ein malerisches türkisches Nest: Moscheen, Minaretts, Basare, Mangel an Reinlichkeit. Ueber eine aus mächtigen Quadern gefügte alte Türkenbrücke fuhren wir in die Stadt ein. ’Ui jegerl, a Auto aus Wien! ’ klang es da. Ein Deutschmeister war es aus der dort lagernden Garnison, der offenbar aus der Nummer unseren Heimatsort erkannt hatte. 65 Wohl wird Konjic hier ebenfalls narrativ als pittoresk konstruiert; die »fremde schöne Stadt« des Deutschen Wieman wird hier aber aus österreichischer Perspektive zum »Nest«. Neben der Verkleinerung als Trope kommt hier noch ein anderer wichtiger propagandistischer Topos von Orient-Reiseberichten zum Einsatz: die ’mangelnde Hygiene’, die kontrastiert wird mit dem Heimischen, dem Vertrauten - der Erleichterung, die Heimat und ihre Sprache wieder zu finden, hier in Gestalt eines österreichischen Besatzungssoldaten. Nicht umsonst ist der Reiseführer bemüht darauf hinzuweisen, wie vorteilhaft sich die österreichischungarische Verwaltung auf die Sicherheitssituation ausgewirkt habe, die eine nunmehrige touristische Befahrung mit dem Automobil erst ermöglicht. Die Anverwandlung und Eingemeindung des Fremden ins Heimische wird auch im folgenden Textzitat aus dem Jahr 1896 thematisiert, wo auf das Motiv der Gastronomie zurückgegriffen wird: Es haben sich in diesem einst durch den Fanatismus seiner Bevölkerung berüchtigten Orte eine Menge Fremde niedergelassen und mehrere Gasthäuser (’Elephant’, ’König von Ungarn’, ’Kaiser von Oesterreich’ und besonders die Bahnhofsrestauration) bieten eine ganz gute Verpflegung. Als ich im Jahre 1885 einmal in Konjica übernachtete, genoss das Gasthaus ’zum Kaiser von Oesterreich’ durch seine dicke Wirtin, die ’Schmauswaberl’, in der ganzen Hercegovina einen wohlverdienten Ruf. Nicht etwa durch die Schönheit der Wirtin, denn diese war sehr negativer Natur, sondern durch die vorzügliche Küche. Die Lachsforellen aus der Narenta wurden unter ihrer Hand zu einer Delikatesse, welche das Herz jedes Feinschmeckers befriedigen musste. 66 Hier wird das Zivilisationsnarrativ bereits als gelungener gastronomischer Hybridisierungsprozess erzählt und damit zur success story - das Fremde wird zumindest im Gasthaus dem Heimischen näher gerückt und verschmilzt mit ihm, das »türkische Nest« ist dadurch zumindest teilweise (12 Jahre vor Wieman und ’Filius’) ein zweites Zuhause geworden, in einer Formulierung, die das Nörgeln des schlechten österreichischen Touristen Trawnicek in den Kabarett-Sketches von Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner vorwegzunehmen scheint. Um den Neretwa-Fisch zur Delikatesse zu machen, bedarf es der Hand der dicken österreichischen Wirtin, der man(n) in der Fremde ihre Unansehnlichkeit nachsieht - in einer Form des gendering, das strukturbildend die meisten Bilder des 65 Filius ‡pseud.™: Eine Automobilreise durch Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien. Reiseschilderung für Automobilisten mit 63 Abbildungen, Wien o. J. ‡1908™, S. 56. 66 Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen von Heinrich Renner, Berlin 1896, S. 230. BH 10 Book.indb 120 22.8.2008 22: 10: 27 De- & Recoding Konjic(a) 121 Eigenen und Anderen in kolonialen Diskursen durchzieht. 67 Mit dem ehemaligen (männlichen? ) »Fanatismus« dieser exotischen Peripherie kontrastiert jetzt zentraleuropäische (Frauen-)Häuslichkeit und Küche - eine Sichtweise, die auch der Baedeker-Reiseführer jener Jahre zu teilen scheint: Konjica (279 m; gutes Bahnrest., mit zwei Z.), Bezirksort (2000 Einw.) in einem malerischen Talkessel an der Narenta (Forellen), über die eine alte türkische Steinbrücke führt. Die Temperatur ist hier bereits im Durchschnitt 8° höher als in Sarajevo. Jablanica ‡...™ Militärstation mit Kaserne r. oberhalb der Station. Vom Krstac, östl. in 1 St. auf gutem Wege zu ersteigen, schöner Rundblick. 68 Doch die Region war nicht immer so friedlich, domestiziert und »multikulturell«, wie sich Renner in einem historischen Rückgriff noch einmal hinzuzufügen beeilt: Die erhoffte Ruhe trat nicht ein, und es währte nicht lange, so war die ganze Hercegovina und mit ihr Konjica in der Gewalt der Türken. An die Stelle der christlichen Unduldsamkeit trat der mohammedanische Fanatismus. Aus den Wäldern und Schluchten kamen die gehetzten Bogumilen zum Vorschein, sie wurden Islamiten und erlangten die leitenden Stellungen. ‡...™ In Konjica war es auch, wo die zur Zeit der Insurrektion von 1878 aus Sarajevo ausgewiesenen Oesterreicher mit dem Generalkonsul Wassitsch in der Nacht aufgehalten und mit der Niedermetzelung bedroht wurden. 69 Neben der verräterischen Formulierung, die jene Hercegowiner, die der Okkupation ihrer Heimat 1878 Widerstand leisteten, zu ’Insurgenten’ macht, kommt eines der meiststrapazierten bosnisch-herzegowinischen Narrative als spekulatives Erklärungsmodell ins Spiel: die Bogomilen, eine manichäische christliche Sekte, die schon in vortürkischen Zeiten religiös verfolgt wurde und die hier - nach der erfolgten Zwangskonversion - als historische Folie für den besonderen islamischen Fundamentalismus der Einwohner von K. verantwortlich gemacht wird (während sie in anderen Texten als Beweisführung der unterschwellig christlichen Haltung der Bevölkerung und einer dadurch vereinfachten neuerlichen Mission instrumentalisiert wird). Wie auch immer, das Fremdenverkehrsidyll zeigt sich noch brüchig und von Vergangenheit überschattet. Quasi als Kontrollmenge sei Renners Beschreibung des nahe gelegenen Ortes Jablanica zitiert: Eine Kaserne beherbergt den bewaffneten Schutz, doch er ist bei der Bevölkerung nicht mehr nöthig. ‡...™ Als ich vor langen Jahren nach Jablanica kam, sah es hier ganz anders aus; in einem Han fand ich türkisches Unterkommen mit sehr viel Ungeziefer. 1885 traf ich ein grosses Truppenlager. Eine Kärntnerin hielt ein Gasthaus. ‡...™ 1894 hatte sich aus den provisorischen Fortschritten der dauernde entwickelt. 67 Vgl. exemplarisch Anne McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York - London 1995. 68 Baedekers Oesterreich-Ungarn, Leipzig 28 1910, S. 407. 69 Zit. Anm. 66, Renner 1896, S. 231. BH 10 Book.indb 121 22.8.2008 22: 10: 27 122 Clemens Ruthner Jablanica ist ein Luftkurort ersten Ranges, und in vieler Hinsicht wird man an schweizerische und Tiroler Sommerfrischen in den Hochalpen erinnert. 70 Hier wird fast wie in einem reißerischen Verkaufsprospekt ein ’Vorher’ und ’Nachher’ erzählt: aus der ungezieferverseuchten türkischen Hochburg ist nach der militärischen Intervention eine k. u. k. Sommerfrische geworden; auch hier hat ein weiblich geführtes Gasthaus seinen Einzug gehalten. Aber hat der Orient in der Domestizierung nicht seinen Reiz verloren? Zumindest für Renner dürfte dies nicht der Fall gewesen sein, gibt er doch am Anfang seines Buches zumindest einen Teil seiner Autorenintention preis - den Lobpreis des österreichischungarischen Kolonialismus, dessen Erfolgsgeschichte er im Märchenformat erzählt, wobei 1001 Nacht gleichsam in die Topoi der Brüder Grimm übersetzt wird: Dem grossen Publikum blieben ‡...™ diese Gefilde gänzlich unbekannt; das bosnische Dornröschen schlief noch den jahrhundertelangen Zauberschlaf und fand seine Auferstehung erst, als die kaiserlichen Truppen die Grenzen überschritten und die neue Aera einleiteten. Jetzt wurde das Dickicht, das um Dornröschens Schloss wucherte, gelichtet und nach rastloser und schwerer Arbeit von nicht zwei Jahrzehnten steht Bosnien bekannt und geachtet vor der Welt. Was in diesem Lande geleistet wurde, ist fast beispiellos in der Kolonialgeschichte aller Völker und Zeiten ‡...™ 71 Dass indes auch Konjic von weiteren Rekodierungen nicht verschont worden ist, lässt die Baedeker-Ausgabe von 1971 erahnen, wo es heißt: JABLANICA (198 m; Hotel ^vrsnica), reizvoll gelegenes Dorf, das als Tourenstandort besucht wird. 72 KONJIC (279 m), eine nahe am Ostende des Jablani~ko Jezero in einem Gebirgskessel gelegene Stadt mit 8000 zur Hälfte mohammedanischen Einwohnern. K. hat im 2. Weltkrieg schwere Schäden erlitten. Von der Brücke rechts Blick auf die Moscheen der Altstadt; dahinter hohe Felsenberge. 73 Hier hat der Rückblick auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs alle Reminiszenzen an die k. u. k. Vergangenheit verdrängt und mit den köstlichen Forellen auch den habsburgischen Mythos quasi ausradiert. Was von Konjic übrig bleibt, sind die geografischen essentials: Berge und Moscheen. Einer weiteren Katastrophengeschichte, nämlich jener der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre, war es vorbehalten, den Diskurs über die Region aufs Neue zu formatieren. ^elebi}i, ein Dorf in der Nähe von Konjic, geriet in die Medien als Ort eines Internierungslagers der bosnisch-kroatischen Föderation, dessen serbische Insassen regelmäßig Opfer von Menschenrechtsverletzungen bis hin zu sexuellem Missbrauch und Tötung wurden; der kroatische Lagerkommandant und sein muslimischer Stellvertreter wurden später vom Haager Kriegsverbre- 70 Ebenda, S. 238. 71 Zit. Anm. 66, Renner 1896, S. V. 72 Jugoslawien und Griechenland, Stuttgart 1971, S. 163. 73 Ebenda, S. 166 f. BH 10 Book.indb 122 22.8.2008 22: 10: 27 De- & Recoding Konjic(a) 123 chertribunal zu Haftstrafen verurteilt. Des Weiteren gingen Berichte über die Anwesenheit ausländischer Mudschaheddin-Kämpfer in der Region durch die westliche Presse; dies mag später, im so genannten Global War on Terror nach den Ereignissen des 11. September 2001, die Aufmerksamkeit amerikanischer Nachrichtendienste auf Bosnien-Herzegowina als potenziellen Al-Q’aida-Standort gelenkt haben. 74 Ob dabei die Narrative vom einstigen finsteren Fanatismus der ehemals bogomilischen Bevölkerung bemüht wurden, ist freilich unbekannt. 3) Zusammenschau und Ausblick Diese zugegebenermaßen noch kursorische Aneinanderreihung von Beispielen, die keinerlei Anspruch auf repräsentative Vollständigkeit erheben darf, zeigt, wie Städtebilder nicht nur durch spezifische historische Situationen, sondern vor allem durch eine zugrunde liegende politische Rhetorik fast beliebig konstruierbar bzw. umkodierbar sind; ambivalent sind sie allemal. Dabei kommt ein bestimmtes - und offenkundig transkulturelles - Archiv von narrativen Topoi und Tropen zum Einsatz. Wie geht man nun mit der Disparatheit, Zirkularität und Intertextualität dieser Bilder um? In vielen Fällen lässt sich die ideologische Motiviertheit dieser willkürlichen, von Außenbeobachtern projizierten Porträts zeigen, in anderen nicht. Die Topik bzw. Tropologie dieser Beschreibung liegt nicht unbedingt nur in der individuellen Psychologie, in der ’Subjektivität’ schreibender Subjekte begründet, sondern in einer präexistenten Rhetorik ideologischer Narrative, welche die Autoren gleichsam im Rucksack mitbringen. Diese sind es, die eine kulturwissenschaftlich reorientierte Literaturwissenschaft zum Vorschein bringen kann, auch dort, wo sie im kulturellen Gedächtnis scheinbar verschwunden sind. Diese Bilderwelten kultureller Narrative dienen freilich weniger der Darstellung fremder Menschen und Orte, als vielmehr - wie bereits oben, im ersten Teil angedeutet - eher der Selbstverständigung und Selbstversicherung der darstellenden Kultur. Wie bereits Vesna Goldsworthy in ihrer Studie zu Balkan- Reiseberichten formulierte: »The concept of imaginative, textual colonisation, as suggested by this examination of literary exploitation of the Balkans, shows the way in which an area can be exploited as an object of the dominant culture’s need for a dialogue with itself.« 75 Aus den Bosnien-Darstellungen österreichischer und reichsdeutscher Texte um 1900 erfahren wir also weniger über das k. u. k. Okkupationsgebiet, als über die diskursiven Befindlichkeiten der Besatzer und Touristen in ihrem Gefolge. Hier gilt auch mutatis mutandis, was Doris Bachmann-Medick über den westlichen »Orientalismus« (nach Said) formuliert hat: Beansprucht dieses Diskurssystem eine symbolische »Darstellungsgewalt über den Orient als Gegen- 74 Vgl. etwa Frankfurter Rundschau, 15. 7. 2005. 75 Vesna Goldsworthy: Inventing Ruritania. The Imperialism of the Imagination, New Haven - London 1998, S. 211. BH 10 Book.indb 123 22.8.2008 22: 10: 27 124 Clemens Ruthner welt«, wobei diesem die »Fähigkeit zu eigener Artikulation« abgesprochen wird (nach dem Prinzip: »für andere sprechen und damit Herrschaft ausüben«), 76 so wäre das vorgetragene Gegenmodell dialogisch, d. h. »wechselseitiges Aushandeln von Bedeutungen, von reziproken Formen der Übersetzung«. 77 Gleichzeitig kann gezeigt werden, wie instabil und ambivalent, d. h. von unterschwelligen Wünschen und Ängsten gezeichnet, die angestrebte symbolische Gewalt der narrativen Konstruktionen ist. 78 Genau dies ist nicht nur der Kern des hier vorgestellten Forschungsprojekts zu Bosnien-Herzegowina; es könnte auch der Anreiz für vielfältige andere Projekte einer internationalen Forschungsgemeinschaft sein, die Globalisierung als Aufgabe und Chance begreift. 76 Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen (= Göttinger Beitr. zur int. Übersetzungsforschung. Bd. 12). Hg. v. dies., Berlin 1997, S. 1-17, hier S. 10. 77 Ebenda, S. 11. 78 Vgl. etwa die Positionen von Bernhard Waldenfels: »Jede Ordnung lässt in ihrer unumgänglichen Begrenztheit einen Überschuß an Fremdem entstehen, der in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet und zugleich verhindert, daß diese in sich selbst zur Ruhe kommt« (zit. nach Christoph Jamme: Gibt es eine Wissenschaft des Fremden? Zur aktuellen Theoriedebatte zwischen Philosophie und Ethnologie. In: Fremderfahrung und Repräsentation. Hg. v. dems. u. Iris Därmann, Weilerswist 2002, S. 183-208, hier S. 186). BH 10 Book.indb 124 22.8.2008 22: 10: 27 A NNA B ABKA (W IEN ) »Das war ein Stück Orient« Raum und Geschlecht in Robert Michels Die Verhüllte Lässt sich, wie Heidemarie Uhl fragt, »die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie ‡...™ nicht als ein quasi-kolonialer Herrschaftskomplex begreifen, in dem die hegemoniale Kultur sich beständig durch Grenzziehungen zu ihrem kulturell-zivilisatorischen ’Anderen’ legitimiert ‡...™«? 1 Und welche Resonanz haben die vielfältigen Herrschaftsformen im habsburgischen Zentraleuropa in literarischen Texten gefunden? Eben einem solchen literarischen Text, der dieser Monarchie, diesem ’quasi-kolonialen Herrschaftskomplex’ entsprang und in dem das kulturell-zivilisatorisch ’Andere’, das ’Orientalische’, eine bedeutende Rolle spielt, widmet sich meine Lektüre. Die für mich zentrale theoretische Fragestellung ist, ob neben dem expliziten kolonialen Gehalt des Textes auch seine impliziten kolonialen oder postkolonialen Strukturen lesbar und exponierbar werden oder immer schon exponiert sind. Die Möglichkeit einer postkolonialen Lesart würde bedeuten, dass es sich um einen Text handelt, in dem vielfältige, prozesshafte Identitätskonzepte lesbar sind, in dem binäre Oppositionsstrukturen unterlaufen werden und in dem sich Räume der Hybridität eröffnen, wie sie u. a. mit Homi Bhabhas Konzept des ’Dritten Raumes’ beschreibbar sind. Die Novelle Die Verhüllte 2 ist geschrieben von einem der Soldaten dieses gleichsam kolonialen Herrschaftskomplexes, von Robert Michel, der Schriftsteller und Soldat war, manchmal auch als ’Soldatenschriftsteller’ bezeichnet wird. Robert Michel zählt zu den fast vergessenen, im Archiv zwar aufbewahrten, aber kaum beforschten österreichischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Themen, aber auch seinen Stil fand er - so beschreibt es Ricardo Concetti in einem der raren Sekundärtexte zu Michel - »weit weg von Wien, infolge der Erlebnisse in der rückständigen österreichischen ’Kolonie’ Bosnien-Herzegowina«. 3 Doch es geht hier nicht um eine Deutung des Textes aus der Autorenbiografie heraus, sondern um den Versuch einer postkolonialen Lektüre, die sich u. a. der 1 Heidemarie Uhl: Zwischen »Habsburgischem Mythos« und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, Kakanien revisited, 19. 5. 2002, S. 2 ‡http: / / www. kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ HUhl1.pdf, Zugriff v. 30. 1. 2008™. Vgl. dazu auch Clemens Ruthner: »K.(U.)K. Postcolonial«? Für eine Lesart der österreichischen (und benachbarter) Literatur/ en, Kakanien revisited, 1. 10. 2001 ‡http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner1.pdf, Zugriff v. 30. 1. 2008™ sowie Kakanien revisited: das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. v. Wolfgang Müller-Funk u. a., Tübingen 2002. 2 Robert Michel: Die Verhüllte. In: Robert Michel: Die Verhüllte. Novellen, Berlin 1907, S. 9-39, nachfolgend zitiert über die Seitenzahl. 3 Ricardo Concetti: Muslimische Landschaften. Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Prosa Robert Michels, Kakanien revisited, 13. 12. 2002, S. 5 ‡http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ RConcetti1.pdf, Zugriff v. 30. 1. 2008™. BH 10 Book.indb 125 22.8.2008 22: 10: 27 126 Anna Babka Frage des ’eigenen’ sowie des ’anderen’ Raums widmet, der Semantisierung dieser Räume als Orient sowie der Frage der Verbindung von ethnischer und sexueller Differenz im Zuge rassistischer Stereotypisierungen kolonisierter Subjekte. Was ist der Orient? Eine Frage, die nicht ohne Verweis auf Edward Saids Studie Orientalism beantwortbar ist, hat er doch mit ihr eine »Quasi-Institutionalisierung der Diskussion um die Orientalistik bewirkt«. 4 Saids diskursanalytischer Ansatz in Orientalism geht davon aus, dass die beiden geografischen und kulturellen Pole ’Orient’ - ’Okzident’ und das binäre Verhältnis zwischen ihnen sozial konstruiert sind - eine Erkenntnis, die, wie es Andrea Polaschegg herausarbeitet, die Forschung seit dem Erscheinen von Orientalism prägt und die sich in »der Rede vom Orient als westlicher Erfindung und Imagination, als Fiktion oder Konstruktion durch Titel und Einleitungen der einschlägigen Studien« 5 niederschlägt. Der Orient wurde, wie Said argumentiert, nicht orientalisch vorgefunden, sondern ’orientalisch gemacht’, d. h. orientalisiert. 6 Der Diskurs über den Orient ist besonders durch den Ort seiner Herstellung, seiner Produktion gekennzeichnet. Dieser Ort der Produktion ist in erster Linie ein Text des Westens im Westen, er ist, mit Said gesprochen, eine Idee, die eine Geschichte hat, er ist eine Denktradition, er umschließt Vorstellungen und Bilder sowie ein Vokabular, das ihm Realität und Präsenz im und aus dem Westen hervorgehend verliehen hat. 7 Said spricht hier eine wirklichkeitserzeugende Bilder- und Gedankenwelt an sowie ein spezifisches Vokabular, aufgehoben im (literarischen)Text. Der literarische Text kann als Ort der Herstellung sowohl des Orients als auch des Okzidents gelten. 8 Das Diktum des vom Westen im Westen gemachten Orients deutet auf eine bestimmte Argumentation Saids hin, nämlich die, dass die Richtung von kolonialer Macht einseitig verläuft. Dies ist einer der wesentlichen Kritikpunkte Homi K. Bhabhas an Said. Bhabha geht mit Foucault davon aus, dass Macht als ’unsichtbare’ Disziplinarmacht nicht in eine einzige Richtung wirkt. Macht geht von multiplen, miteinander verknüpften Machtzentren aus, die alle gesellschaftlichen Beziehungen - den Gesellschaftskörper und den Körper des Individuums 4 Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 16. 5 Ebenda, S. 16. 6 Edward W. Said: Orientalism, New York 1978, S. 6. Was nicht bedeutet, dass der Orient ausschließlich eine Idee ist und dass es keinerlei Referenzpunkte zu einer ,Realität‘ des Orients geben könne. Doch, wie es Said formuliert, »the phenomenon of Orientalism as I study it here deals principally, not with a correspondence between Orientalism and Orient, but with the internal consistency of Orientalism and its ideas about the Orient (the East as career) despite or beyond any correspondence, or lack thereof, with a ’real’ Orient.« (Said, Orientalism, S. 5) Das heißt, dass Said den Diskurs über den Orient am Konstruierten festmacht, an den Ideen über den Orient und nicht an seiner schieren Existenz. 7 Vgl. ebenda, S. 5. 8 Bereits Franz Fanon hat in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde Europa als Produkt des modernen Kolonialismus bezeichnet. (Vgl. Brigitte Kossek: Post/ koloniale Diskurse und die De/ Kolonialisierung von Identitäten. In: Afrikanische Diaspora. Out of Africa - into new worlds. Hg. v. Werner Zips, Münster 2003, S. 95 mit folgendem Zitat aus: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M 1981, S. 83: »Europa ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt.«) BH 10 Book.indb 126 22.8.2008 22: 10: 27 »Das war ein Stück Orient« 127 - durchdringen, diskursiv konstituieren und zugleich kontrollieren. Nach Bhabha befinden sich »Subjekte ‡...™ durch die symbolische Dezentrierung multipler Machtrelationen, die sowohl als Stützpunkte als auch als Zielscheibe oder als Widerpart fungieren, immer in disproportionaler Nähe zu einer Position von Opposition und Herrschaft«. 9 Diese dezentrierten Strukturen von Macht deuten, so Bhabha, zudem auf die »unbewusste Szenerie des latenten Orientalismus« 10 hin. Hier spielt Bhabha auf Saids Differenzierung und zugleich Dichotomisierung in Kategorien wie den ’latenten’ und den ’manifesten’ Orientalismus an und formuliert damit einen weiteren Kritikpunkt an Said. Für Said erweist sich diese Oppositionsbildung als wichtig für sein Verständnis der kulturellen Konstruktion des Orients und dessen semantischer Sexualisierung durch SchriftstellerInnen. Unter manifestem Orientalismus versteht Said die frei abgehandelten Ausführungen über den Orient, den latenten Orientalismus hingegen korreliert er mit unbewussten Aussagen und der androzentrischen Konzeption des Orients. Der literarische Text erweist sich für Said als der Ort, an dem seine Lesart besonders deutlich wird: »This is especially evident in the writing of travelers and novelists: women are usually the creatures of a male power-fantasy.« 11 Wenn Homi Bhabha nun Saids Trennung zwischen dem von Said als manifesten Orientalismus bezeichneten »offen dargelegten Erkenntnissen und Ansichten über den Orient« und dem latentem Orientalismus als einer »unbewußten Positivität« kritisiert, so geht es ihm darum, dass Said, obwohl er mit dem Begriff des latenten Orientalismus die Bedeutung des Unbewussten, der Träume und der Fantasie anerkennt, eine unzulässige Scheidelinie zieht und damit zugleich »eine Binarität in die Argumentation einführt«. 12 Neben dem Historischen lässt er der Fantasie als der Szene des Verlangens zu wenig Beachtung zukommen. Bewusstes, also der historisch und diskursiv determinierte, diachronische Aspekt, der die Form und damit den manifesten Orientalismus bezeichnet, und Unbewusstes, das den Inhalt des Orientalismus, »also das unbewußte Arsenal von Phantasie, imaginativen Schriften und essentiellen Ideen« ausmacht, sind zwar unterscheidbar, jedoch, wie die Psychoanalyse zeigt, nicht voneinander zu trennen. 13 Der manifeste und latente Orientalismus stehen demnach in einer sich gegenseitig konstituierenden Beziehung. Saids Orientalismus ist, wie Bhahba in seiner Kritik weiter akzentuiert, zudem geprägt durch den Begriff der Intentionalität, d. h., dass dem »Subjekt der kolonialen Äußerung« Einheitlichkeit und Einheit mit sich selbst unterstellt wird. Brigitte Kossek fasst Bhabhas Kritik an Said folgendermaßen zusammen: Zu erforschen sind nicht einheitliche Bestrebungen der Unterwerfung von anderen Menschen ‡...™, sondern vielmehr Fantasien und die Funktionen der Ambivalenz, die 9 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 106. 10 Ebenda, S. 106. 11 Zit. Anm. 6, Said, Orientalism, S. 207. 12 Zit. Anm. 9, Bhabha, Verortung, S. 106. 13 Ebenda, S. 106. BH 10 Book.indb 127 22.8.2008 22: 10: 27 128 Anna Babka durch die im kolonialen Diskurs produzierten Stereotypen zum Ausdruck gelangen. Die Ambivalenz - das Schwanken zwischen Begehren und Verachten - erlangt im kolonialen Diskurs deshalb eine besondere Wirkung, weil dadurch Identifikationsebenen für das konstruierende (und das konstruierte) Subjekt ermöglicht werden. 14 Die Möglichkeit der Identifizierung und der Hervorbringung von Subjektivität erfolgt in einem Prozess der Ambivalenz, also in einem Verlauf, der durch Mehrdeutigkeit und Vielfältigkeit des Erkennens gekennzeichnet ist. Das Stereotyp als Fetisch spielt dabei bei Bhabha ein große Rolle: Der Fetisch - oder das Stereotyp - gewährt Zugang zu einer Identität, die ebenso sehr auf Herrschaft und Lust wie auf Angst und Abwehr basiert: in seiner gleichzeitigen Anerkennung und Ableugnung der Differenz stellt er eine Form von multiplem und widersprüchlichem Glauben dar. Dieser Konflikt zwischen Lust/ Unlust, Herrschaft/ Abwehr, Wissen/ Verleugnung, Absenz/ Präsenz hat für den kolonialen Diskurs eine fundamentale Bedeutung. 15 Der Ort der Identifizierung, der Äußerungsraum des Subjekts also, ist, wie Bhabha sich auf Lacan beziehend schreibt, »ein Raum der Spaltung«, ein hybrider Raum, ein Raum, der zur Vorbedingung wird für die Artikulation kultureller Differenz. 16 Wie argumentiert Bhabha? Erst wenn wir verstehen, dass sämtliche kulturelle Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ’Reinheit’ von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empirisch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrieren. 17 Sämtliche kulturellen Äußerungen und Darstellungen, sämtliche Sprechakte, die performativ an der Hervorbringung von Subjektivität beteiligt sind, finden in einem Raum statt, der selbst durch Widersprüchlichkeit und Ambivalenz gekennzeichnet ist. Dieser produktive Zwischenraum wird zudem häufig, auch in der Lesart von Karl-Heinz Magister und Ute Riese, als Raum gedacht, in dem die zueinander in einer machtpolitisch konträren Bewegung befindlichen kolonialen und postkolonialen Strukturen eine ’contact zone’ erzeugen (Mary Louise Pratt), in der verschiedene Kulturbestände in Austausch treten können - dies im Hinblick auf ein »Miteinander, Ineinander und Gegeneinander unterschiedlicher Kulturen und kultureller Schichtungen«. 18 Wo und wie ereignen sich diese verschiedenen Prozesse der Hybridisierung in Michels Text, wie werden diese Räume, Zwischenräume erzeugt? Welche Fantasien wirken im Text und wie artikuliert 14 Zit. Anm. 8, Kossek, Post/ koloniale Diskurse, S. 105. 15 Zit. Anm. 9, Bhabha, Verortung, S. 110. 16 Vgl. ebenda, S. 58. 17 Ebenda, S. 57. 18 Karl-Heinz Magister und Ute Riese: Eine kleine Genealogie des Begriffs ’postkolonial’. In: Against the Grain/ Gegen den Strich gelesen. Studies in English and American Literature and Literary Theory. Festschrift für Wolfang Wicht. Hg. v. Peter Drexler u. Rainer Schnoor, Berlin 2004, S. 261-281, hier S. 277. BH 10 Book.indb 128 22.8.2008 22: 10: 27 »Das war ein Stück Orient« 129 sich die sexuelle und ethnische Differenz? Was macht die Fremdheit des Anderen aus und wie fremd ist das Eigene? Welche Identifikationsprozesse werden im Text lesbar für das stereotypisierende beziehungsweise das stereotypisierte Subjekt? Dazu der Einstieg in die Novelle. Inhaltlich geht es im ersten Teil um die Beziehung des Ich-Erzählers, eines Soldaten in Wien, zum Franzosen Rêvignies, einem blonden Schönling. Die beiden jungen Männer lehren einander die jeweilige Muttersprache und stellen Überlegungen über den Orient an - dies besonders motiviert durch die Präsenz der muslimischen Soldaten, die in Wien stationiert sind. »Den jungen Rêvignies interessierten meine bosnischen Soldaten. Er sagte, dass er sie früher nie so lange und von so nahe hätte betrachten können, und er versuchte bei jedem einzelnen Zug um Zug das Orientalische seines Ausdrucks zu erklären« (11). Das Orientalische wird vom Ich-Erzähler nicht wirklich beschrieben, die »großen roten Hände« werden es wohl nicht sein und auch nicht die »Verlegenheit« der Soldaten angesichts dieser unverblümten Musterung (11). Aber die ’großen roten Hände’ stehen im Gegensatz zur hellhäutigen Schönheit von Rêvignies, der als hegemonialer Beobachter fungiert, vorerst wohlgemerkt. Der Dunkelhäutige, der ’Andere’, kann hier zu Beginn zugleich als Objekt der Neugier wie auch des Verlangens Rêvignies gedeutet werden. Die »staunende Neugier« liegt, folgt man dem Ich-Erzähler, dann aber auch auf Seiten der so genannten Orientalen, der in der Fremde stationierten bosnischen Soldaten in Anbetracht des Äußeren Rêvignies’. Der Ich-Erzähler beschreibt Rêvignies’ Aussehen als ungewöhnlich, hatte er doch »auffallendes, sehr lichtes Blondhaar und von solchem Reichtum, dass es wie eine Perücke aussah. Auch alles Übrige im Gesicht war so licht, dass die hellen blauen Augen ganz dunkel zu sein schienen.« (12) Der Ich-Erzähler erzeugt hier eine weitere Differenz, die Differenz in der Differenz gleichsam, und er feminisiert Rêvignies über das auffallende und reiche Blondhaar. Rêvignies scheint noch lichter, heller, außergewöhnlicher im Abstand und Unterschied zu den Orientalen, aber auch zum Ich-Erzähler selbst, er erscheint so hell, dass selbst die hellen Augen dunkel wirken. Im Anschluss an diese Szene gesteht Rêvignies dem Ich-Erzähler seine Schwärmerei für den Orient. Genau dann findet ein Ereignis statt, das als Prolepse dieser Konstruktion des Orients verstanden werden kann, als Fantasie, in der das eigene, der Okzident, orientalisiert wird und somit die multiplen und dezentrierten Strukturen der Oppositionen ins Spiel kommen, die eine postkoloniale Leseweise ermöglichen. Eingeleitet wird dieses Ereignis dadurch, dass Rêvignies die Hand des Ich-Erzählers ergreift, eine Geste, die zugleich die homoerotischen Fantasien der Erzählerfigur konnotiert: Da erfasste Rêvignies plötzlich meine Hand; und ich verstand gleich: Die Sonne zeigte eben noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand. Zu beiden Seiten dieser Kuppel ragten, schlanken Minaretten gleich, hohe Fabrikschlote. Diese Moschee beherrschte mit ihrer Pracht das ganze Bild. Der übrige Horizont zeichnete sich nur in undeutlichen Umrissen, die der Einbildungskraft weiten Spielraum ließen, und die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem BH 10 Book.indb 129 22.8.2008 22: 10: 27 130 Anna Babka abendlichen Meer zu entsteigen schien. In der Nähe das Neugebäude mit den runden Türmen störte durchaus nicht und noch weniger störten die Soldaten in Fez. Das war ein Stück Orient. (12) Diese Sequenz gerät zu einem fast plakativen postkolonialen Moment des Textes. Hier findet die Orientalisierung des Eigenen statt und der Text entwirft einen neuen Raum, in dem ein Zusammenspiel zwischen Identität und Alterität, Zentrum und Peripherie evoziert wird. Dieser neue Raum kann nun thesenhaft über die oben bereits erwähnte, zentrale Denkfigur Homi Bhabhas beschrieben werden - über den ’dritten Raum der Äußerung’. 19 In einer Lektüre von Endre Hars entwirft dieser sogenannte ’Zwischenraum’ die Vorstellung eines Ortes, eines Raums, der sich zwischen den Extremen, den Festgestelltheiten, zwischen den zwei Seiten einer Grenze befindet - mit der Örtlichkeit eines Zwischenraums und Übergangs, dessen Erkenntnisgewinn darin besteht, dass man Unverträgliches, Verschwiegenes, Unbewußtes ansichtig wird. 20 Der beschriebene Ort befindet sich tatsächlich, wenn man so will, zwischen zwei Seiten einer Grenze. Der innere Kolonialismus ist damit angesprochen, die Grenzziehungen, Überschneidungen und Zwischenräume innerhalb einer vermeintlichen Entität. Die Fabrik wird zur Moschee, sie befindet sich nicht im umschwärmten Orient, der doch eigentlich Teil des Habsburgerreichs ist, nicht an der Peripherie, sondern mitten im Zentrum, in Wien. Vielleicht wird die Schaffung des Orts in der Phantasie der beiden Protagonisten auch erst durch die Präsenz der so genannten orientalischen Soldaten möglich, denn noch weniger als das Neugebäude mit den runden Türmen störten, so sagt es der Text, die Soldaten im Fez. Im Gegenteil - der Fez als orientalische Markierung wird auch erst im Zusammenhang mit der phantastischen Hervorbringung der Moschee erwähnt. Diese Hervorbringung, dieser phantasmatische Raum ermöglicht, wie es scheint, auch die einzige physische Geste der Zuneigung zwischen den beiden Männern, ist es doch ein Raum »in dem kulturelle ‡und sexuelle, A. B.™ Differenzen aus der Perspektive von minoritären Gruppen artikuliert werden können.« 21 Der Dritte Raum schafft, wie oben beschrieben, die Bedingungen dafür, dass kulturelle Symbole nie einheitlich und fixiert festgelegt sind, sondern mit neuen Bedeutungen ausgestattet, neu interpretiert, übersetzt oder verhandelt werden (können). Der Ich-Erzähler wird nach Mostar versetzt und kann nicht umhin, seinen Freund Rêvignies nach Mostar einzuladen, verspricht er sich doch einen »großen Genuß davon, wie diese sehr orientalische Stadt auf Rêvignies wirken würde, der für alles Orientalische zu empfänglich war« (14). Mostar war der am weites- 19 Vgl. Anm. 9, Bhabha, Verortung, S. 56. 20 Endre Hárs: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, Kakanien revisited, 21. 1. 2002, S. 2 ‡http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ EHars1.pdf, Zugriff v. 30. 1. 2008™. 21 Hanne Birk und Birgit Neumann: Postkoloniale Erzähltheorie. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hg. v. Ansgar Nünning, Trier 2002, S. 115-152, hier S. 127. BH 10 Book.indb 130 22.8.2008 22: 10: 27 »Das war ein Stück Orient« 131 ten südlich gelegene große Außenposten des Habsburgerreiches zu dieser Zeit. Mostar lag damit im Grenzraum zwischen Habsburgischem Herrschaftsgebiet und Türkischem Hoheitsgebiet und demzufolge im Spannungsfeld von mindestens zwei Hegemonieansprüchen, dem westlichen, habsburgischen, und dem so genannten östlichen, orientalischen, beide mit ihren kulturellen und religiösen Besonderheiten. Gerade aber diese Lokalisierung an der Grenze erzeugte ein Konglomerat von Kulturen und Religionen. Die Brücke von Mostar galt als Symbol dieser kulturellen Diversität - Homi Bhabha würde hier sogleich den Begriff der kulturellen Differenz entgegenhalten, also Differenz als »Prozeß der Signifikation«, als Äußerungsprozess konzipieren. Den Begriff der Diversität bezeichnet Bhabha als Kategorie, als etwas Fertiges, Festgestelltes, Inaktives. 22 Mostar selbst kann nun, folgt man den Figurationen Bhabhas, als »Brücke« gelesen werden - hier Bhabha mit Heidegger -, »die sammelt als der überschwingende Übergang«, 23 oder als »Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen«, oder als kulturelles »Treppenhaus«, 24 als Ort, so suggeriert es der Text Michels selbst, in dem auch der Tür, der Schwelle ein gewichtiges Moment, eine bedeutsame Markierung in der Hervorbringung und im gleichzeitigen Entzug des Orientalischen beikommt. Gleich auf dem ersten Weg, wenn der Ich-Erzähler und sein Gast gemeinsam durch die Stadt gehen und der Ich-Erzähler seine Freude daran hat, »wie Rêvignies alle Besonderheiten dieser merkwürdigen Stadt und ihrer Menschen sah« (14), spielt das Tor beziehungsweise die Tür eine wichtige Rolle. Was Rêvignies sieht, ist eine Türkin, die neben einem Haustor steht, darauf wartend, dass die Gasse, in der eben noch Schafe und Pferde ihr den Weg verstellt hatten, wieder frei werden würde. In einem schreckhaften Moment tat sie mit beiden Armen eine rasche Bewegung gegen das scheuende Pferd, durch welche sich ihr Mantel für einige Augenblicke weit öffnete. Aber Rêvignies war die kurze Enthüllung nicht entgangen; und wäre die Türkin nicht gleich in dem Tore verschwunden, so hätte er wohl getrachtet, noch einmal unter diesen hässlichen Mantel zu sehn. Jung war sie und schön; ihre Haut war so weiß und durchsichtig, wie sie wohl nur in der Verschlossenheit des Harems gedeihen kann. Aber auch ihr Gewand war schön; das Bruststück war mit leuchtenden Seiden bestickt und von Gold durchwirkt. (17) Der Körper der Türkin selbst wird nur kurz sichtbar, der Mantel, das Tor zu ihrer Schönheit, öffnet sich für einen Augenblick. Die Enthüllung währt nicht lange, die orientalische, die »verwahrte Frau«, wie es Rêvignies gleich anschließend ausdrückt, also der geheimnisvolle Teil des Orients, ist nicht feststellbar und verschwindet gleich wieder in dem Tor. Nach diesem Ereignis sprechen die beiden »nur mehr über die mohammedanischen Frauen«. Rêvignies reflektiert die Art und Weise, »wie die Frau bei den Mohammedanern gehalten wird« (17). Er, der 22 Vgl. Anm. 9, Bhabha, Verortung, S. 52. 23 Ebenda, S. 7. 24 Ebenda, S. 5. BH 10 Book.indb 131 22.8.2008 22: 10: 27 132 Anna Babka diese Art selbst immer als rückständig betrachtet habe, habe jedoch auch einsehen müssen, »dass durch eine Änderung dieser Sitte der Orient stark einbüßen müsse an Poesie« (17). Nicht weil der Mohammedaner die Frau als tiefer stehend, als eine Art Sklavin ansieht oder als nicht tüchtig genug, es mit dem Leben aufzunehmen, sperrt er sie ein, und auch nicht aus niedriger Eifersucht; sondern er verwahrt sie in seinem Harem mit der Sorgfalt und unter dem Schutze, wie man das Kostbarste seines irdischen Besitzes bewahren muß. (18) Rêvignies vergleicht nun das Werden der mohammedanischen Frau mit dem Heranreifen einer Perle in einer Muschel, die dann »die eigenste und wertvollste Offenbarung des Orients sein ‡mag™« (18). Er kommt zu dem Schluss, dass »durch den vollständigen Besitz einer solchen Frau ‡einem™ alle tiefsten Geheimnisse des Orients wie mit Zauberschlüsseln mit einem Mal erschlossen werden ‡müssten™« (18). Die Ausführungen Rêvignies’ erscheinen auf den ersten Blick als kolonial-hegemonial im klassischen Sinne und könnten mit Spivak als ’worlding’ beschrieben werden, also als ein Prozess, in dem der koloniale Raum erzeugt wird, und in die Welt gesetzt wird als Text, der aus der Perspektive der kolonialisierenden Macht geschrieben ist. 25 ’Worlding’ kann demnach als eine Art von Schrift oder auch ’Inschrift’ des imperialen Diskurses in den kolonialen Raum betrachtet werden, hinter dem keine originären Tatbestände, authentische oder außerdiskursive Wahrheiten stehen - wie eben die »wahre orientalische Frau«, der »richtige« Orient etc. Doch in Michels Text werden die Schlüssel nicht sperren, so viel kann schon gesagt werden, die Türen fallen immer wieder zu, weder der Orient noch die Frau(en) werden sich Rêvignies erschließen. Das Auslöschen und Überschreiben der Geschichte und Stimmen von kolonialisierten beziehungsweise subalternen (weiblichen) Subjekten gelingt nicht oder gelingt nicht zur Gänze oder wird immer wieder konterkariert durch den Entzug, der, im Sinne einer kontrapunktischen Lektüre nach Said, als widerständige Geschichte, als Gegenstimme gelesen werden kann. Said: Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen zu lesen, sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Vergleich mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert. 26 Kurz nach der Szene also, die den Besitz der Frau mit Zauberschlüsseln in Zusammenhang bringt, die den Orient im literalen Sinne ,entschlüsseln‘ könnten, bricht die Erzählung gleichsam entzwei, die beiden Männer trennen sich, weil 25 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: The Rani of Sirmur. In: Europe and its others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. Hg. v. Francis Barker u. Essex Conference on the Sociology of Literature, Colchester 1985, S. 128-151, hier S. 128. 26 Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. Main 1994, S. 92. BH 10 Book.indb 132 22.8.2008 22: 10: 27 »Das war ein Stück Orient« 133 der Ich-Erzähler den Wachdienst antreten muss, während der andere, Rêvignies, auf Entdeckungsreise geht. Während dieses Wachdienstes denkt der Ich-Erzähler viel an Rêvignies und erwägt »welch tiefen Zauber Mostar in dieser märchenhaften Beleuchtung auf Rêvignies ausüben müsse« (19). Die Beschreibung nun dessen, was dieser in demselben Moment erfährt und sieht, ähnelt sehr der Szene in Wien, in der die Fabrik zur Moschee wird: »Es war wie ein Stück Märchenland, jenseits dessen Horizonten vorläufig nur bläulicher Dunst ist, bis die satte Phantasie sich von hier abwendet und dort ein neues Land schafft.« (19) Auch die Szene in Wien ist phantasmatisch und semantisch ähnlich angelegt: »Die Sonne zeigt eben noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand ‡...™ die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem abendländischen Meer zu entsteigen schien. Das war ein Stück Orient.« (12) Hier treten die Räume in wechselseitigen Bezug. Die Grenzen von Orient und Okzident erscheinen permeabel. Durch die Beschreibung wird eine Art Übergang geschaffen, der die räumlichen und kulturellen Festgestelltheiten vorübergehend verwischt, »die mondbeglänzten Minarette« in Mostar, die aus dem Dunkel, aus der dunklen Hälfte der Talsohle ragen, stehen in engem Bezug zu den Fabrikschloten in Wien, die, »schlanken Minaretten gleich«, unter der »kostbaren Kuppel«, der oberen Hälfte der Sonne, zu sehen sind. Die Landschaftsbeschreibung schließt mit der bereits erwähnten Brücke von Mostar: »Und dort, wo die Rodobolje mit zierlichen Wasserfällen einmündet, lag über den Abgründen der Narenta die alte kunstvolle Brücke wie ein versteinerter Halbmond.« (20) Auch der Ich-Erzähler versteinert förmlich, als er von der Wache zurückkommt und ihm ein Brief übergeben wird. Rêvignies schreibt ihm, dass er eine Türkin entführt habe, dass schreckliche Dinge passiert seien und er abreisen habe müssen, sich jedoch bald wieder melden würde, um die Verwirrungen aufzuklären. Der Ich-Erzähler erhält über einen längeren Zeitraum hinweg jedoch keinen weiteren Brief von Rêvignies und beginnt sich die Geschichte, die ihm durch Rêvignies vorenthalten wurde, selbst zu erzählen, sie gänzlich und bis in die kleinsten Einzelheiten zu erfinden. Die erzählte Figur, Rêvignies, wird durchgängig im semantischen Feld der (Tür-)Schwelle lokalisiert und verbleibt damit in einer Schwellensituation, in einem Schwellenraum. Der Orient, das Orientalische ist immer schon dabei, sich zu ver- und enthüllen, sich zu offenbaren und gleichzeitig zu entziehen. Weiterhin fand Rêvignies einen jungen Menschen, der vor einer Haustür stand und sich gegen die schmalgeöffnete Türspalte presste. Rêvignies schlich langsam näher, um besser sehen zu können. Er kam gerade nahe genug, dass er beobachten konnte, wie eine Hand in der Türspalte zurückgezogen wurde, während sich die Tür vollkommen schloß. Erst glaubte er, dass seine Nähe bemerkt worden sei; aber der junge Bursch drehte sich gar nicht um, sondern sprach mit flüsternden Worten, aus denen es wie Flehen und Beschwören klang, gegen die verschlossene Tür. ‡...™ Endlich tat sich die Tür wieder ein wenig auf und das Mädchen streckte einen Finger hervor, BH 10 Book.indb 133 22.8.2008 22: 10: 27 134 Anna Babka den der junge Türke inbrünstig zwischen die Hände nahm, und nach einigem Flehen bekam er die ganze Hand. (27) Was hier ’gegeben’ wird, was der junge Mann bekommt, ist dürftig und volatil. Rêvignies beobachtet bei dieser Szene, was er selbst begehrt und was ihm auch selbst bereits widerfahren ist. Beide, er selbst und der junge Orientale, bleiben ausgeschlossen, beide Männer stehen vor der Tür, das Geheimnis des Orients ist weiblich und hält sich im Verborgenen. Später, auf der Suche nach einem Arzt, tritt Rêvignies in ein Haus ein, öffnet eine Türe und erblickt, auf einem Teppich sitzend, drei Frauen, »liegend und hockend, die ihr Gesicht gleich in den Händen verbargen« (35). Seinen Rückzug begleiten die Männer des Hauses mit vielen Flüchen, das Tor wird hinter ihm zugestoßen (36). Türen öffnen und schließen sich, die Vertreibung und der Ausschluss zeigen sich als konstitutiv für die Geschichte, das ’Weibliche’, das von Rêvignies als Schlüssel zum Orient bezeichnet wird, gerät zum Schwellenraum beziehungsweise zum Wechselspiel zwischen Verhüllung und Enthüllung, auch in Bezug auf die Eindeutigkeit des Geschlechts. Selbst dieses erschließt sich Rêvignies nicht immer, sieht er doch »einige Schritte vor sich eine dunkle Gestalt über die Gasse huschen. Es war so finster in der Gasse, dass er nicht zu unterschieden vermochte, ob es ein Mann oder eine Frau sei.« (30) In seinem Verlangen nach Erleben (30) erkennt er im Schein einer Laterne eine Gestalt, von der er glaubt, dass sie eine Türkin sei. Beim Näherhinsehen glaubt er zu erkennen, »dass sie den Schlitz des Mantels ein wenig öffne« (31). Er versucht, sein Verlangen zu bekämpfen, doch ‡a™ls sich aber der lange Mantel noch weiter geöffnet hatte, ließ der Widerstand ‡...™ gleich nach und mit einem Sprunge war er dicht an ihr. Ohne an die Gefahr zu denken, der er sich wohl durch eine solche Handlung aussetzte, riß er den Mantel auseinander und presste sie an sich. (32) Rêvignies nimmt sich, was er begehrt. Obwohl er kurz zuvor Erleichterung darüber verspürt hatte, endlich aus »einem Märchenland in die Wirklichkeit zurück‡zu™kehren« (30), überwältigt ihn der Anblick der »Türkin« dann doch, zieht ihn das Orientalische wieder in den Bann. Doch der Zwang verschafft ihm keinen Sieg, der Orient ist schwer zu fassen, Rêvignies verheddert sich in dem Feld der binär aufgespannten Oppositionen, weder das orientalische Märchenland noch die ’Wirklichkeit’, gleichgesetzt mit der Straße, in der wieder »europäisch gekleidete Menschen« zu sehen waren, vermag er zu ergründen, die Orientalin selbst entwischt ihm wieder: »Obwohl sie sich erst willig zeigte, wehrte sie ihn gleich darauf wieder ab. Und plötzlich hatte sie sich geschickt entwunden und lief gegen die Hauptstraße.« (32) Nur mit einem gewaltsamen Akt verschafft er sich ihre Nähe. Er drängt sie in eine Kutsche, küsst sie immer wieder und nimmt ihr damit fast den Atem, doch ihr helles Lachen gibt ihm die Zuversicht, »dass er gesiegt hatte und dass sie nun sein war« (32). Er versteht jedoch nicht, was sie spricht, nimmt sich auch selbst nicht die Mühe, sich verständlich zu machen. Was er von sich gibt, sind Huldigungen, die auch sie nicht versteht. BH 10 Book.indb 134 22.8.2008 22: 10: 27 »Das war ein Stück Orient« 135 Im Lager angekommen, trägt er sie in sein Zimmer. »Hier nahm er ihr den Mantel ab und konnte sie eigentlich erst jetzt ordentlich sehen.« (33) Erst in seinem eigenen Bezugsrahmen, im Lager des Freundes, der ihm dort ein Zimmer beschafft hatte, verliert sie das Schemenhafte. Rêvignies nimmt sich erstmals Zeit, während er bis dahin hektisch bemüht war, sie unter Kontrolle zu bringen. Zugleich ist er voll von Angst, sie könne wieder fliehen. Um dies zu verhindern, versucht er sie gleichsam durch Küsse zu ’betäuben’. Er zieht sie aus, hebt sie aufs Bett und schreckt aus den Liebkosungen empor in dem Moment, als er bemerkt, »dass ihre Lippen seinen Küssen nicht mehr antworteten und dass nach einer krampfhaften Umschlingung ihr ganzer Körper in starrer Unbeweglichkeit blieb« (34). Sie entzieht sich ihm, indem sie unbeweglich, starr wird, sich gleichsam, ungeachtet ihrer Nacktheit, wieder verhüllt. Rêvignies überkommt das Grauen, nicht etwa weil sie bewusstlos oder gar tot daliegt, sondern aufgrund dessen, dass er sich erinnert: ‡D™ie Erinnerung an den eigentlichen Anstoß zu diesem Abenteuer ... eine eigenste Offenbarung des Orients ... hätte er eine geliebte Frau mit seiner Leidenschaft getötet - aber er hatte diese Frau um eines Wahnes willen an sich gedrückt und nun lag ihr Körper wie entseelt da und ihn dünkte, als hätte sein Verlangen ihr die Seele, die er in ihr gesucht hatte, geraubt. (34) Rêvignies, der ’zivilisierte’ Franzose, hat die orientalische Seele gesucht. Seine sexuellen Fantasien entzünden sich am ’Anderen’, an der ’Anderen’, der orientalischen Frau. Die Anderen werden zu seiner Projektionsfläche, werden »zum Träger seiner Gedanken und Wünsche«. 27 Die rassistische Stereotypisierung beruht, so Brigitte Kossek mit Frantz Fanon und Homi Bhabha, auf der Verleugnung und Verschiebung von (verbotenen, verachteten) sexuellen Fantasien auf den ’Anderen’. ‡...™ Der/ die ’Andere’ ist nicht bloß als Kehrseite des Selbst aufzufassen, sondern als ein abgespaltener Teil eines gespaltenen Subjekts, das eigenes Begehren und Verachtung verleugnet, in den Anderen verschiebt und an diesem beherrscht. 28 Die rassistische Stereotypisierung, die sowohl auf Ähnlichkeiten, als auch auf Differenzen beruht, bezieht weitere subjektkonstitutive Faktoren wie Sexualität, Gender etc. mit ein. Das so konstruierte Subjekt wird zum ambivalenten und widersprüchlichen Objekt, das von den Konstruierenden zugleich begehrt wie auch verachtet wird. »Zur bloßen Projektionsfläche gemacht, wird das andere Subjekt in seiner Eigenständigkeit ausradiert und gezwungen, Begehren und Ängste des Konstrukteurs oder der Konstrukteurin zu spiegeln - ein doppeltes Negativ des ’Originals’ zu sein.« 29 Was bedeutet das, was heißt das für unseren Text? Die Projektionsfläche, die ’Türkin’, spiegelt den machtvollen Blick von Rêvignies, 27 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a. Main 1985, S. 120. 28 Zit. Anm. 8, Kossek, Post/ koloniale Diskurse, S. 107. 29 Ebenda, S. 107. BH 10 Book.indb 135 22.8.2008 22: 10: 27 136 Anna Babka spiegelt seine Ängste, sein Verlangen und seinen Misserfolg. Die als orientalisch Konstruierte interveniert mit ihrem Blick und ihrem Verhalten in Identitätsbildungsprozesse seitens des Konstruierenden, seitens Rêvignies’. Seine originäre Identität, seine Okzidentalität und sein Weiß-Sein werden jedoch durch die Spiegelung der Differenz, die nur annähernd absolut ist, aber nicht ganz absolut ist, angegriffen. Die Frau spiegelt damit Rêvignies verzerrtes Image und stellt seine Überlegenheit und seine Macht in Frage. Bhabha: »‡I™n der Identifikation der imaginären Beziehung gibt es immer auch den entfremdeten Anderen (oder Spiegel), der unvermeidlich sein Bild auf das Subjekt zurückwirft.« Es kommt zu einer »bedrohliche‡n™ Umkehrung (return) des Blicks«. 30 Rêvignies zieht die Konsequenzen aus dieser Bedrohung und reist überstürzt ab. Die koloniale Macht wird auf der Ebene der Repräsentation im Text nicht nur hergestellt, sondern auch unterbrochen und unterlaufen. Das Subjekt der kolonialen Äußerung, dessen Position im Text sowohl vom Ich-Erzähler als auch von Rêvignies eingenommen wird, ist nicht als einheitlich erfahrbar. Es ist selbst gespalten und entfremdet. Das vom Erzähler aufgeschriebene Erlebte gerät gleichsam zu einer Szenerie der Fantasie und des Verlangens. Das Erlebte erscheint - Traumsequenzen gleich - in einer sich gegenseitig konstituierenden Beziehung an der Schnittstelle zwischen latentem und manifestem Orientalismus angesiedelt und zwischen Begehren und Verachten oszillierend. Die vermeintlich kolonisierte Orientalin, die im Text an der Schnittstelle von sexueller und ethnischer Differenz inszeniert und aufgeführt wird, also im Sinne des Orientalismus nach Said im Text ’gemacht’ wird, spiegelt das Andere im Eigenen und vice versa. Sie führt so die Reziprozität und gegenseitige Durchdringung dieser Kategorien vor Augen, gleich wie die multiplen Beziehungen und Richtungen von Macht. ’Das Stück Orient’ befindet sich immer schon zwischen zwei Seiten einer Grenze, ver- und enthüllt, als Schwellenraum denkbar. 30 Zit. Anm. 9, Bhabha, Verortung, S. 120. BH 10 Book.indb 136 22.8.2008 22: 10: 28 III. DIE KRISE DER DEMOKRATIE IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT BH 10 Book.indb 137 22.8.2008 22: 10: 28 BH 10 Book.indb 138 22.8.2008 22: 10: 28 J ACQUES L E R IDER (P ARIS ) Mitteleuropa als umstrittener Erinnerungsraum und als Zukunftsperspektive in der Zwischenkriegszeit 1 Wer heute von Zentraleuropa spricht, der will in der Regel das Wort Mitteleuropa. Seit dem berühmt-berüchtigten Buch des sozialen und nationalen Liberalen Friedrich Naumann mit dem Titel Mitteleuropa aus dem Jahre 1915, ist die historische Semantik des Begriffes Mitteleuropa mit dem Imperialismus des Wilhelminischen Reichs verstrickt. Dieser Begriff klang für österreichische Patrioten bedrohlich, da er den Anschlussgedanken voraussetzte. Das Mitteleuropa des Kriegsjahrs 1915 sollte in der Mitte des europäischen Kontinents Österreich und die ganze Habsburgermonarchie unter der Führung des Deutschen Reichs zusammenschließen und ein Zwischeneuropa, man könnte auch sagen: ein drittes Europa, zwischen Westeuropa und Russland bilden. Es ist vor diesem historischen Hintergrund verständlich, dass die deutschen Historiker und Kulturwissenschaftler heute das Wort Mitteleuropa vermeiden und stattdessen von Ostmitteleuropa oder Südostmitteleuropa sprechen. Für die Historiker der Habsburgermonarchie und Österreichs, für die Germanisten, die sich mit der österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte befassen, ist der Begriff Mitteleuropa ebenfalls unbrauchbar. Dafür sprechen sie viel lieber von dem Donauraum oder von Zentraleuropa. Wie in dem »Schema« Preusse und Österreicher von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1917 wird ein typologischer Gegensatz von Mitteleuropa und Zentraleuropa suggeriert, der nicht nur zwei verschiedenen mental maps und Erinnerungsräumen entspricht, sondern zwei Visionen der europäischen Identität voraussetzt. Mitteleuropa kann man als die Erweiterung der deutschen Nationalstaatsideologie der Gründerzeit und der Wilhelminischen Epoche betrachten: als eine von 1 Weitere Veröffentlichungen des Verf. zum Thema Mittelbzw. Zentraleuropa: Bücher: La Mitteleuropa (= Presses Universitaires de France, coll. Que sais-je? n° 2846), Paris 1994 u. ö. (dt. Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes, Wien 1994). Sammelbände: Europe centrale - Mitteleuropa (= vol. 1, Revue germanique internationale). Hg. mit Michel Espagne, Paris 1994; Allemands, Juifs et Tchèques à Prague. 1890-1924. Publications de l’Université Paul Valéry de Montpellier. Bibliothèque d’études germaniques et centre-européennes. Hg. in Zusammenarbeit mit Maurice Godé und Françoise Mayer, Montpellier 1996; Metropole und Provinzen in Altösterreich (1880-1918). Hg. in Zusammenarbeit mit Andrei Corbea-Hoisie, Jassy (Rumänien) - Wien 1996; Les littératures de langue allemande en Europe centrale. Des Lumières à nos jours. Hg. in Zusammenarbeit mit Fridrun Rinner (= coll. Perspectives germaniques), Paris 1998; Kulturelle Nachbarschaft. Zur Konjunktur eines Begriffs. Hg. mit Gerhard Kofler und Johann Strutz, Klagenfurt 2002; Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa. Hg. mit Moritz Csáky und Monika Sommer, Innsbruck 2002. Zuletzt erschienen: Entre l’Est et l’Ouest. La Mitteleuropa. Entretien avec Eryck de Rubercy, Revue des Deux Mondes, Juni 2007, S. 77-91; Le mythe habsbourgeois de la coexistence harmonieuse des nationalités et ses principes antagonistes, le colonialisme et le nationalisme, Chroniques allemandes. Revue du CERAAC de l’Université Stendhal-Grenoble III, 11/ 2006-2007 (Penser le multiculturel en Europe centrale), S. 73-84. BH 10 Book.indb 139 22.8.2008 22: 10: 28 140 Jacques Le Rider der deutschen Macht und Kultur dominierte Mitte Europas, in der die anderen Völker neben der deutschen und deutschsprachigen »Mehrheitsnation« mehr oder weniger den Status von Minderheiten erhalten. In dem Mitteleuropa-Gedanken zeigte sich, dass Imperialismus und Kolonialismus logische und natürliche Folgen des Nationalprinzips sind. Im Gegensatz dazu enthält der österreichische, im habsburgischen Mythos verklärte Begriff Zentraleuropa die utopische Vorstellung eines supranationalen Staatsgebildes, das kein Nationalstaat war, sondern ein historisch gewachsener Vielvölkerstaat, in dem das Wort Nationalität (auf österreichisch-deutsch: Volksstamm) etwas ganz anderes bedeutete als Nation und Nationalismus. Der Zweite Weltkrieg hatte die semantischen Unterschiede der Begriffe Mittel- und Zentraleuropa offenkundig gemacht. Friedrich Naumanns Buch Mitteleuropa war 1915 erschienen. Es fasste das Konzept eines nationalliberalen Imperialismus zusammen. Unter Rückgriff auf Strategien, die im Umfeld der neueren Industrien (v.a. chemische Industrie und Elektroindustrie) entwickelt worden waren, forderte Naumann, am Ende des Krieges müsse ein von Deutschland geführter »mitteleuropäischer« Wirtschaftsbund stehen, der die Kernstaaten Deutschland und Österreich-Ungarn sowie als angegliederte Gebiete der zweiten Stufe Holland, Belgien, die Schweiz, Serbien, Montenegro, Bulgarien und Rumänien umfassen solle. Den Alldeutschen musste Naumanns Entwurf als zu bescheiden erscheinen, sei es, dass sie die deutsche Zukunft weiterhin in der außereuropäischen kolonialen Expansion erblickten, sei es, dass sie es als bedenklich ansahen, sich in der Ausdehnung des deutschen »Lebensraums« nach Osten derart zu bescheiden und vor dem Eroberungskrieg gegen Russland zurückzuschrecken. Aus dieser Sicht widersprach Naumanns Rückzug auf Mitteleuropa der expansiven Ostpolitik des deutschen Generalstabs. Trotz seiner großen Verbreitung vermochte das Mitteleuropa-Buch den Lauf der Dinge nicht wirklich zu beeinflussen. Für die deutsche Schule der Geopolitik - eine andere Produktionssphäre der Mitteleuropa-Diskurse - konnten die von den Pariser Vorortverträgen am Ende des Zweiten Weltkriegs gezogenen Grenzen nichts anderes darstellen als unnatürliche und willkürliche Trennungslinien. In der Zwischenkriegszeit häufen sich dann die geopolitischen Bücher und Aufsätze, die den revisionistischen Forderungen eine wissenschaftliche Begründung zu verleihen suchen. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich gilt für die meisten Vertreter der Geopolitik (z. B. Karl Haushofer ‡1869-1946™ und dessen Sohn Albrecht Haushofer 2 ‡1903- 1945™, ab 1940 Professor für Geographie an der Universität Berlin) als eine Voraussetzung zur sinnvollen Gestaltung des mitteleuropäischen Großraums. Parallel zur Konstruktion der »zweiten Auflage« des Habsburgischen Mythos in Österreich seit den Jahren des Weltkriegs als Alternative zur großdeutschen Mit- 2 Vgl. Albrecht Haushofer: Mitteleuropa und der Anschluß. In: Die Anschlußfrage in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung. Hg. v. Friedrich G. Kleinwächter und Heinz von Paller, Wien -Leipzig 1930. BH 10 Book.indb 140 22.8.2008 22: 10: 28 Mitteleuropa als umstrittener Erinnerungsraum und als Zukunftsperspektive ... 141 teleuropa-Ideologie produziert die französische Geographie, Geschichtswissenschaft, Germanistik und Slawistik eine umfassende Europe centrale-Kulturwissenschaft, deren Höhepunkt der Doppelband IV L’Europe centrale (1930-1931) der Géographie universelle, von Emmanuel de Martonne bildete. Emmanuel de Martonne hatte als junger Wissenschaftler im »Comité préparatoire« von Georges Clemenceau in Versailles, im Trianon und in Saint-Germain-en-Laye eine wichtige Rolle innegehabt. Er entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit zur Hauptfigur der französischen Geographie neben Vidal de la Blache. Die neuen Grenzen Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens hatte Emmanuel de Martonne mitbestimmt. Vor diesem historischen Hintergrund erscheint der Doppelband der Géographie universelle über »L’Europe centrale« als die Fortsetzung und Vertiefung eines französischen Entwurfs, der sich frontal dem deutschen Mitteleuropa-Konzept entgegensetzt. Die neuen Grenzen Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens wurden bei den Friedensverträgen auf Kosten des Deutschen Reichs, Österreichs und Ungarns gezogen. Diese Entscheidungen haben zahlreiche und akute irredentistische Probleme geschaffen und in jedem der Nachfolgestaaten Deutschlands und Österreich-Ungarns deutsche und ungarische Minderheiten ihrem jeweiligen neuen Nationalstaat entfremdet, ohne den Schutz dieser Minderheiten langfristig abzusichern. Vor dem Ersten Weltkrieg 3 ging die Sympathie der Franzosen vorwiegend an die slawischen Völker der Monarchie, an die Rumänen, an die Ungarn; die gängigen Redensarten waren »Völkerkerker« und »Pulverfass Europas«. Doch hatte die Macht des Deutschen Reiches allen Gedanken an eine Schwächung oder gar Sprengung Österreich-Ungarns Einhalt geboten. Die Habsburgermonarchie galt als die beste Garantie für ein allerdings prekäres Gleichgewicht in der Mitte Europas. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs bewirkte einen völligen Umschwung der Einstellung der französischen Eliten. Von da an galt es, das besiegte Österreich-Ungarn zu entflechten und die Nachfolgestaaten als verlässliche Bündnispartner für Frankreich zu konsolidieren. Das Nationalitätenprinzip, das bisher mehr eine langfristige Wunschvorstellung gewesen war, wurde ab 1918 zum realpolitischen Leitprinzip. Ziel und Zweck waren dabei, den deutschen Imperialismus und dessen beiden »Sekundanten auf der Mensur«, Österreich und Ungarn, zu bändigen. Die Petite Entente, als politisches, strategisches und wirtschaftliches Bündnis mit der Unterstützung und der Rückendeckung Frankreichs, war gegen Deutschland, Österreich und Ungarn gerichtet, wo man revisionistische Bestrebungen befürchtete und, im Hinblick auf Ostmitteleuropa, die Wiederkehr der alten Hegemonie-Ansprüche argwöhnte. 3 Vgl. François Genton: Les historiens et les géographes de la IIIe République face à l’Autriche-Hongrie. In: Chroniques allemandes. Revue du CERAAC de l’Université Stendhal-Grenoble III, 11/ 2006-2007 (Penser le multiculturel en Europe centrale), S. 261-271. BH 10 Book.indb 141 22.8.2008 22: 10: 28 142 Jacques Le Rider Der Revisionismus war bekanntlich ein Nährboden für den Faschismus allerorts und in Deutschland für den Nationalsozialismus. Die guten Beziehungen zwischen dem ungarischen autoritären Regime von Horthy und dem italienischen Faschismus sind ein Beispiel unter vielen anderen für die Unterwanderung Ostmitteleuropas durch antidemokratische Systeme. Selbst innerhalb der Petite Entente war die tschechoslowakische Demokratie eher die rühmliche Ausnahme. Weder im jugoslawischen Königreich unter der Kara|or|evi}-Dynastie noch in Groß-Rumänien wurde die Tendenz zur Herausbildung autoritärer und quasi-diktatorischer Herrschaftsformen abgewendet. Das letzte Potential volkwirtschaftlicher Rationalität, das zur Bildung eines mitteleuropäischen Handels- und Wirtschaftsraums hätte führen können, konnte selbst nach der großen Krise von 1929 nicht nutzbar gemacht werden. Als Österreich, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien im Februar 1932 zuerst inoffiziell ein Comité für die wirtschaftliche Kooperation im Donauraum gründeten, reagierte die französische Regierung Tardieu zuerst positiv, obwohl sie die Vorstellung einer Zollunion für ausgeschlossen hielt. Doch war Großbritannien gegen solche Pläne eingestellt, die nach seiner Auffassung Frankreich favorisierten. Auch Deutschland wehrte sich gegen ein solches Projekt, von dem es sich ausgeschlossen fühlte. Und schließlich erwies sich die Kooperation zwischen den einzelnen Staaten des Donauraums als problematisch. Frankreich hatte im Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye die Unabhängigkeit des neuen österreichischen Staats mit dem Anschlussverbot an Deutschland verknüpfen wollen. Umgekehrt galt alles, was zur Festigung einer spezifischen österreichischen Identität beitragen konnte, als förderungswürdig. So schreib der damalige Regierungschef und künftige Staatspräsident Alexandre Millerand an den französischen Botschafter in Wien Lefèvre-Pontalis: Wir haben zweifellos ein Interesse daran, Wien, das seine Bedeutung nicht länger in politischen und territorialen Dimensionen suchen kann, als führendes Zentrum der deutschen Kultur zu erhalten. Gewiss wird sich das Ansehen verringern, das ihm heute noch eine mehrhundertjährige Tradition verleiht, doch verschwinden wird es nicht. Die Wiener bewahren in der Kunst, der Literatur und selbst in der Mode einen Ruf, den sie sich zurecht in Mitteleuropa erworben haben. Es wäre von großem Vorteil, wenn Wien diese kulturelle Austrahlung als Gegengewicht zur Anziehungskraft von Berlin bewahren würde, das nicht nur auf Deutschland ausstrahlt, sondern auch auf die meisten Staaten Mitteleuropas. 4 In diesem Schreiben wird die kulturelle Identität mehr oder weniger als Trostpflaster für den Verlust der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Österreichs verstanden, den der Vertrag von Saint-Germain zur Folge hatte. Doch zeigt diese Weisung aus der Hand des französischen Regierungschefs auch, wie sehr die Betonung der österreichischen kulturellen Besonderheit einem 4 Zitiert in Robert Julien: L’image de l’Autriche perçue par le Quai d’Orsay de 1918 à 1922. In: Relations franco-autrichiennes. 1870-1970. Actes du colloque de Rouen 29. Februar - 2. März 1984 (Austriaca, Spécial colloque), Rouen 1986, S. 108. BH 10 Book.indb 142 22.8.2008 22: 10: 28 Mitteleuropa als umstrittener Erinnerungsraum und als Zukunftsperspektive ... 143 »realpolitischen« Standpunkt entsprach. Während in Österreich die Idee einer selbständigen nationalen Identität lange brauchte, um sich durchzusetzen, war die »österreichische Eigenart« aus der Sicht der Alliierten ein unbestreitbares Faktum oder wurde zumindest als Potential betrachtet, das es nachdrücklich zu stärken galt. Jede Untersuchung der Begriffsgeschichte von Mittel- und Zentraleuropa muss die Facettierung dieses Begriffs im 20. Jahrhundert berücksichtigen. Jede Nation dieser europäischen Region, aber auch jede europäische Macht hat ihre jeweilige Auffassung von Mitteleuropa. Die Ungarn und die Tschechen neigen dazu, sich als das eigentliche Kerngebiet Zentraleuropas zu betrachten, wobei sie in der Zwischenkriegszeit jede Art von Wiederherstellung der ehemaligen Verflechtung mit dem habsburgischen Donauraum abwehrten. Für die Polen ist Mitteleuropa, kann man sagen, ein meistens negativ besetzter Terminus, der an die Teilungen Polens und an die Hegemonie der Mittelmächte in Mitteleuropa erinnert. Der Mitteleuropabegriff wird jedoch für die Polen positiv, wenn er die »katholische Achse« zwischen dem liberalen Westen und dem russisch-sowjetischen, bzw. dem orthodoxen Ost- und Südosteuropa konnotiert. Diese Achse verläuft von Rom und Norditalien über Slowenien und Kroatien nach Österreich und der Slowakei (als katholisches Gegengewicht zum liberalen Tschechien) bis nach Polen und den baltischen Staaten. In der Zwischenkriegszeit wurde übrigens auch ein italienischer Weg in Richtung Mitteleuropa sichtbar. Der Ausbau des italienischen Einflusses auf dem Balkan bis nach Albanien und Griechenland, die Frage des Grenzverlaufs gegenüber Jugoslawien und die Italianisierung Südtirols waren die Hauptanliegen der italienischen Geopolitik. In den zwanziger Jahren blieb Triest Drehscheibe des österreichisch-italienisch-jüdisch-slawischen Kulturtransfers. Italo Svevo, Umberto Saba, der Psychoanalytiker Edoardo Weiss und Ladislao Mittner in Fiume (Rijeka) veranschaulichen diese Verbindung dreier Kulturen, die genauso wie diejenige im damaligen Prag eine »posthume Kultur« war. Der Begriff der »posthumen Kultur« ist in diesem Zusammenhang wertvoll, denn sehr viele wesentliche Elemente des literarischen Mitteleuropas sind posthum: nicht nur Triest und Prag, sondern auch das Bild Galiziens bei Joseph Roth und der »habsburgische Mythos« ab 1920. An diesem Punkt möchte ich auf den bekannten, von Claudio Magris analysierten »habsburgischen Mythos« kurz eingehen. Nicht zufällig erscheinen die beiden bekanntesten und subtilsten Darstellungen dieses Mythos gerade in der Periode zwischen der großen Wirtschaftskrise von 1929 und der nazistischen Machtergreifung in Deutschland: Radetzkymarsch von Joseph Roth, erschienen 1932, und Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil (Buch 1, 1930; Buch 2, 1933). Der habsburgische Mythos wird vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Chaos und der tiefen Kulturkrise, des Faschismus und des Aufstiegs der Nationalsozialisten, zur retrospektiven Utopie einer besseren Ordnung Ostmitteleuropas, einer pluralistischen Gesellschaft und liberalen Staatsverfassung, innerhalb BH 10 Book.indb 143 22.8.2008 22: 10: 28 144 Jacques Le Rider welcher jedes Volk seine Heimat hatte und die Juden als Staatsvolk par excellence sich wenigstens auf das Wohlwollen der k.u.k.-Institutionen verlassen konnten. Natürlich sind die Dimensionen der Ironie und der Kritik bei Robert Musil so wichtig, dass man von einer Aufbauarbeit am Mythos im Mann ohne Eigenschaften kaum sprechen kann. Ebenfalls wird der Mythos bei Joseph Roth durch ein drückendes Dekadenzbewusstsein, man möchte fast sagen durch den Todestrieb des Alkoholikers unterminiert. Trotzdem bleiben Radetzkymarsch und Der Mann ohne Eigenschaften, gerade wegen der differenzierten und vielschichtigen Darstellung, die Höhepunkte des habsburgischen Mythos im 20. Jahrhundert. Der Erfolg und die Akzeptanz des habsburgischen Mythos in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdanken sich einer Dimension dieses Mythos, die ihn tatsächlich zur historischen Lüge werden lassen. Die Darstellung Mitteleuropas als verlorener Kontinent des harmonischen Neben- und Miteinanders der Völker und der Kulturen setzt die Unterscheidung zwischen dem Deutschen Reich und der Habsburger Monarchie voraus. Der ungarische Essayist und Historiker François Fejtö, der im zeitgenössischen Frankreich eine große Breitenwirkung erreichte, schrieb 1987: »Deutschland, selbst das Deutschland vor Bismarck, war und bleibt eine Welt für sich, obwohl es sich geographisch gesehen in der Mitte Europas befindet.« 5 Die Idee, dass Deutschland trotz seines Einflusses - und zu gewissen Zeiten seiner Hegemonie - auf die ganze Region im Gegensatz zu Österreich nicht zu Mitteleuropa gehört, bzw. dass das deutsche Mitteleuropa etwas wesentlich anderes sei als das österreichische Zentraleuropa, weil es dem multikulturellen Pluralismus niemals Raum gegeben habe, gehört zum habsburgischen Mythos. Joseph Roth betonte, dass das Zentrum der Monarchie an deren Peripherie lag. In der Kapuzinergruft erklärt Graf Chojnicki: In dieser Monarchie ist nichts merkwürdig. ‡...™ Ich will damit sagen, daß das sogenannte Merkwürdige für Österreich-Ungarn das Selbstverständliche ist. Ich will zugleich damit auch sagen, daß nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint. Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Maronibrater aus Mostar, die »Gott erhalte« singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alptentälern, sie alle singen »Die Wacht am Rhein«. Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehn, meine Herren! Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden. 6 5 François Fejtö: Ad Mitteleuropa. In: Joseph Rovan (Hg.): Mitteleuropa. Pour ou contre l’Europe? Paris 1987, S. 51-53, hier S. 51. 6 Joseph Roth: Die Kapuzinergruft (1938). In: Joseph Roth: Werke. Bd. 6. Romane und Erzählungen 1936- 1940. Hg. v. Fritz Hackert, Köln 1991, S. 234f. BH 10 Book.indb 144 22.8.2008 22: 10: 28 Mitteleuropa als umstrittener Erinnerungsraum und als Zukunftsperspektive ... 145 Damit wurde z. B. angedeutet, dass die Polen es innerhalb Cisleithaniens besser hatten als im Deutschen Reich: Während Galizien um die Jahrhundertwende schon völlig polonisiert war, wobei die Ruthenen sich allerdings minorisiert fühlten, obwohl sie im Osten Galiziens die demographische Mehrheit bildeten, hatte das Deutsche Reich die polnische Kultur zu einer Minderheitenkultur reduziert. Hier wird es notwendig, sozusagen zwischen einer ersten und einer zweiten Auflage des habsburgischen Mythos zu unterscheiden. Eigentlich beginnt zeitgenössische Geschichte des Habsburgischen Mythos vom supranationalen Zentraleuropa 1866 mit der österreichischen Niederlage in Königgrätz und 1871 mit der Proklamierung des Deutschen Reiches in Versailles. In diesen fünf entscheidenden Jahren erlitt die Habsburger Monarchie den größten Traditionsbruch seit den Napoleonischen Kriegen. Der Sieg Preußens in Königgrätz bedeutete das Ende des Deutschen Bundes, in dem die Habsburger bis zuletzt versucht hatten, ihre traditionelle Führungsrolle aufrechtzuerhalten, und den Ausschluss der Deutschen Österreichs aus der deutschen Einheit. Die kleindeutsche Lösung eröffnete den Weg zur Proklamierung der Deutschen Reichs, trennte jedoch Deutsch-Österreich von dem entstehenden deutschen Nationalstaat. Bis zum preußischen Sieg im deutsch-französischen Krieg versuchte die österreichische Diplomatie mit allen Mitteln, den Triumph der kleindeutschen Lösung unter Bismarcks Führung zu verhindern. Außerdem musste Österreich 1866 Venetien an Napoleon III. abtreten, der es Italien übergab. Damit wurde die Verdrängung Österreichs aus Italien, die 1847 und vor allem 1859-1860 eingesetzt hatte, um ein Entscheidendes weitergebracht. Von ihren italienischen Gebieten behielt die Habsburger Monarchie bis zum Ersten Weltkrieg nur noch Südtirol, Görz, Triest und Istrien. Ab Januar 1871 musste die Habsburgische Monarchie die Folgen ihrer bitteren Misserfolge erfahren. Die Führung des alten Reichs deutscher Nation war bisher ihre traditionelle Aufgabe und europäische Berufung gewesen. Jetzt blieben nur noch der Donauraum und Zentraleuropa für die habsburgische Großmacht erhalten. Der moderne habsburgische Mythos entstand zuerst als politische Ideologie mit dem Zweck, die Umstrukturierung der habsburgischen Symbolik zu legitimieren und die zentrifugalen nationalen Identitäten womöglich zu integrieren. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1866 versuchte, die Deutschen Österreichs über deren Ausschluss aus dem Deutschen Reich und die Ungarn über den wiederholten Verzicht auf einen magyarischen Nationalstaat damit zu vertrösten, dass die Deutschen die Hegemonie in Cisleithanien und die Ungarn die Hegemonie in Transleithanien erhielten. Es war aber nicht leicht, die Deutsch-Österreicher von ihrer nostalgischen Faszination für das Deutsche Reich wegzubringen und zu österreichischen Patrioten zu machen. 1919 definierte man sich in Österreich noch spontan als deutsch. Die Sozialdemokratie erblickte in einem großen sozialistischen Deutschland die bessere Zukunft. Viele Christlichsoziale blieben der Tradition des großdeutschen Nati- BH 10 Book.indb 145 22.8.2008 22: 10: 28 146 Jacques Le Rider onalismus treu und hatten keine große Sympathie für das slawische und magyarische Zentraleuropa, in dem die Republik Österreich ohnehin keinen großen Einfluss mehr hatte. Paradoxerweise hatte der Zusammenbruch der multinationalen Monarchie der Zentraleuropaidee einen neuen Sinn gegeben. Das kulturelle Erbe jenes Kakaniens, das Musil liebevoll verspottete, blieb in den Köpfen siegreich, nachdem es in der Realpolitik verloren hatte. Seitdem es ein Kleinstaat geworden war, konnte Österreich nicht mehr verdächtigt werden, das Schicksal des Donauraums in die Hand nehmen zu wollen. Einzelne Stimmen wie die von Victor Bauer, der 1936 das Buch Zentraleuropa: ein lebendiger Organismus veröffentlichte, 7 und einzelne Initiativen wie die des Unternehmers Julius Meinl, der 1925 die erste Mitteleuropäische Wirtschaftstagung in Wien organisierte, hielten die österreichische Idee von Zentraleuropa wach. Diese Bestrebungen zeigten eine mögliche Alternative zur Zollunion mit der Weimarer Republik, die ohnehin von den westlichen Alliierten, zuletzt im Jahre 1931, als ein erneuter Zollunionplan aufkam, blockiert wurde. Zum Schluss möchte ich die Begriffsgeschichte von Mittelvs. Zentraleuropa in der Zwischenkriegszeit auf eine Formel bringen. Einerseits klärte und verhärtete sich der Gegensatz zwischen dem deutschen Mitteleuropa als großdeutscher, ja sogar als alldeutscher mental map und dem österreichischen Zentraleuropa als Bestandteil des habsburgischen Mythos eines harmonischen multikulturellen Pluralismus im Donauraum. Andererseits hatte die Zerstörung der Habsburgermonarchie und des Deutschen Reichs in Folge des Ersten Weltkriegs das positiv besetzte Zentraleuropa zu einem Erinnerungsraum mit utopischem Potential und das von den meisten europäischen Völkern und Nationen gefürchtete Mitteleuropa zu einem Gespenst der deutschen Großraumpolitik gemacht. 7 Victor Bauer: Zentraleuropa. Ein lebendiger Organismus, Brünn - Leipzig 1936. BH 10 Book.indb 146 22.8.2008 22: 10: 28 I RMELA VON DER L ÜHE (B ERLIN ) Chronist des Untergangs oder Reporter einer Neuen Zeit? Joseph Roth und das kulturelle Gedächtnis der Donaumonarchie Kaum ein Autor aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts lässt sich so vergleichsweise leicht zum literarischen Chronisten einer untergegangenen Kulturlandschaft erklären wie Joseph Roth. Er selbst und die Zeitgenossen, die literaturwissenschaftliche Forschung und die neueren Theorien zum kulturellen Gedächtnis sowie zum transkulturellen Regionalismus finden in Roth einen Erzähler und Kommentator von religiösen, kulturellen, sozialen und mentalen Landschaften. Gerade, weil die politische Geographie dieser Landschaften seit dem 18. Jahrhundert und insbesondere im 20. Jahrhundert einem so radikalen Wandel unterworfen waren, sind Autoren wie Joseph Roth und Soma Morgenstern, Emil Franzos und Josef Wittlin als Kritiker oder Chronisten, Beobachter und Bewahrer kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Transformationsprozesse von so hohem Interesse. Ostjudentum und k.u.k.-Monarchie, Schtetl-Leben und Erster Weltkrieg, traditionale Frömmigkeit und modernes Fortschrittsdenken: das Simultane solch antithetischer Wahrnehmungs- und Lebensformen, ihre Artikulation als Fluchtbewegung oder nostalgische Reminiszenz, ihre literarische Vergegenwärtigung zwischen Expressionismus und neuer Sachlichkeit, all dies findet sich im Werk Joseph Roths, in seinen Romanen und Essays, in seinen Reiseberichten und Feuilletons. 1 An Joseph Roth lässt sich mithin exemplifizieren und problematisieren, welcher Gewinn (vielleicht aber auch welche Grenzen) im Paradigma der kulturellen Konstruktion von Erinnerungsräumen enthalten ist. Roths Werk scheint mir auf die Einsicht hin lesbar zu sein, dass kulturelle Räume keineswegs als ursprungsorientierte, semi- oder voll nationale Größen, sondern dass sie in mehrfacher Hinsicht als dynamische Gebilde zu begreifen sind. Prozesse der Homogenisierung durch Ausgrenzung stehen dabei gleichgewichtig neben Vorgängen, die auf identitäre Ausdifferenzierung oder auf bewusste Differenz- und Alteritätserfahrung zielen. Die ältere bundesrepublikanische Roth-Forschung, die mit David Bronsens Biographie (1974) und dem ein Jahr später erschienenen Sammelband Joseph Roth und die Tradition die Deutungsweichen stellte, hat im Anschluss an Claudio Magris (1963) in Roth den Repräsentanten des »habsburgerischen Mythos in der österreichischen Literatur« gesehen und die strukturelle und thematische Ambi- 1 Vgl. u. a. Bernd M. Kraske (Hg.): Joseph Roth. Werk und Wirkung, Bonn 1988; sowie neuerdings: Telse Hartmann: Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths, Tübingen 2006. BH 10 Book.indb 147 22.8.2008 22: 10: 28 148 Irmela von der Lühe valenz des Roth’schen Oeuvres übersehen. 2 Den linken, pazifistischen, neusachlichen Romancier (und Essayisten) von Romanen wie Hotel Savoy (1924), Das Spinnennetz (1923), Die Flucht ohne Ende (1927), Rechts und links (1929) gegen den Verfasser eines modernen Märchens biblischen Ursprungs (Hiob, 1930) und beide wiederum gegen den ins Reaktionäre tendierenden Habsburg-Nostalgiker von Radetzkymarsch (1932) und Kapuzinergruft (1938) auszuspielen - dies ist inzwischen obsolet. 3 Der »rote Roth« oder - wie er selbst sich nannte - der »rote Joseph« der zwanziger Jahre, der Mitarbeiter der Wiener Arbeiter-Zeitung, des Berliner Börsenkurier, des Prager Tageblatt und schließlich der Frankfurter Zeitung, der Reiseschriftsteller und Feuilletonkorrespondent, 4 dessen Artikelserien über Frankreich und die Sowjetunion, über Albanien, Italien und Polen Maßstäbe für eine literarische Mentalitäts- und Kulturraumgeschichtsschreibung setzten, eben dieser Repräsentant einer literarischen Erinnerungskultur avant la lettre wurde gern als gleichsam tragisch-irrende Gestalt entworfen. Zwischen Alkoholismus und Monarchismus, privatem Elend und politischer Resignation habe Roth die Flucht in die Tradition, in untergegangene Landschaften, vergangene Kulturräume und zerstörte Erinnerungen angetreten. Der Psychopathologismus solcher Zuschreibungen ist ebenso unbefriedigend wie jene vereinseitigende Deutung, die Roth ins organologische Korsett von Aufstieg (der linksliberale Autor zeitkritischer Romane), Blüte und Verfall (der Chronist des Untergangs) presst. Die Haltlosigkeit solcher Zuschreibungen ist inzwischen hinlänglich beschworen und durch eine große Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen abgelöst worden, die das Grenzgängerische, das Dynamische und Ambivalente seiner literarischen Erinnerungs- und Zeitbilder betonen. 5 Ich will im Folgenden an zwei Romanen, die gern als Exempel für den poetischen und erinnerungspolitischen Dualismus des Roth’schen Werks angeführt werden, an Spinnennetz und Hiob, die mentale und die darstellungsästhetische Verschränkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Zeitgeist sichtbar machen, durch die Joseph Roth weniger als Chronist denn als Konstrukteur von Erinnerungsräumen und Gedächtnis-Landschaften erscheint. Die Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Texten, die als Ausgangsbzw. Wendepunkt im Roth’schen Romanschaffen gelten, sind bei genauerem Hinsehen größer als die weit auseinander liegenden historisch-politischen und topographischen Begebenheiten vermuten lassen, von denen sie erzählen. 2 David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974; ders. (Hg.): Joseph Roth und die Tradition, Darmstadt 1975; Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Joseph Roth (= Text und Kritik), München 1974, erw. Ausgabe 1982. 3 Michael Kessler/ Fritz Hackert (Hg.): Joseph Roth. Interpretation - Rezeption - Kritik, Tübingen 1990. 4 Vgl. u. a. Almut Todorov: Brechungen. Joseph Roth und das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«. In: zit. Anm. 3, Kessler/ Hackert, Roth, S. 373-284; Uwe Schweikert: Der »rote Joseph«. Politik und Feuilleton beim frühen Joseph Roth (1919-1926). In: zit. Anm. 2, Arnold, Roth, S. 40-55. 5 Dabei vor allem: Hartmann (zit. Anm. 1); vgl. auch: Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth, München 1989. BH 10 Book.indb 148 22.8.2008 22: 10: 28 Chronist des Untergangs oder Reporter einer Neuen Zeit? 149 Das Spinnennetz, 6 Roths erster Roman, der in 27 Folgen zwischen dem 7. Oktober und dem 6. November 1923 in der Wiener Arbeiter Zeitung erschien, wird gern als sein »politischster« 7 bezeichnet. Die Begründung ergibt sich vor allem aus der Figur des Protagonisten Theodor Lohse, des aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zum Offizier aufgestiegenen und nach Kriegsende deklassierten Heimkehrers. Für Roth ist er die Verkörperung des »reaktionären Akademikers«. In der Gestalt des nationalistischen Jura-Studenten Günther, einem der Rathenau-Attentäter, war Roth dieser »Typus des schlecht bezahlten Hauslehrers« 8 bereits begegnet. Er hatte über den Prozess gegen die Rathenau-Mörder im Oktober 1922 berichtet und dabei unter den realen Attentätern ein Szenarium entdeckt (und auch beschrieben), das zum Muster der Romanhandlung werden sollte: Neben dem erwähnten »Typus des schlecht bezahlten Hauslehrers« begegnet man dem antisemitischen Bankbeamten von Salomon aus dem Rathenau-Prozess. Im Zentrum aber steht eine geheimnisvolle »Organisation«, in deren Dienst die akademisch und ideologisch Entwurzelten sich begeben. Sie gibt ihrem persönlichen Ehrgeiz ein Ziel, verschafft ihrem fast pathologischen Machtstreben einen Raum. Aber nicht wegen seines Bezugs auf den Rathenau-Mord des Jahres 1922, sondern vor allem wegen seines gleichsam visionären politischen Potentials hat man Das Spinnennetz, dessen Ende Fragment blieb, den politischsten Roman Roths genannt. Drei Tage nach Abdruck der letzten Folge des Romans brach am 9. November 1923 der Hitler-Putsch aus; ein zwar militärisch schnell niedergeschlagener, symbolisch indes folgenreicher Vorgang. Er zeugte von der Macht der sich formierenden, nicht länger nur geheimbündlerisch agierenden nationalistischen Rechten, die die Weimarer Republik von Beginn an aufs schärfste bekämpfte, ohne freilich mit der gleichen Entschiedenheit verfolgt zu werden, mit der Polizei und Justiz auf die nicht minder republikfeindliche Linke reagierten. Mit seinem Roman, der zwischen zwei epochenwirksamen und symbolträchtigen politischen Gewaltereignissen spielt, 9 liefert Roth die individual- und sozial-psychologische Bilanz eines aggressiven Untertanenbewusstseins, das im Prinzip von Befehl und Gehorsam die Weltordnung verbürgt sieht. Ihre Zerstörung durch Ende und Ausgang des Ersten Weltkriegs, der gescheiterte Versuch, eine zivile Existenz aufzubauen, und das fortdauernde Bedürfnis, in machtgestützten Strukturen zu agieren, machen den Protagonisten Theodor Lohse nicht lediglich anfällig, sie disponieren ihn für eine rechtsradikale Geheimorganisation, deren politisches Programm so diffus wie aktionistisch, so hasserfüllt wie gewaltbereit ist. Die Über-Ich-gesteuerte Tatbereitschaft ist es, durch die der 6 Joseph Roth: Das Spinnennetz. In: Joseph Roth. Werke Bd. 4. Hg. v. Fritz Hackert, Köln 1989, S. 63-146. Zitate im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 7 Dietmar Mehrens: Vom göttlichen Auftrag der Literatur. Die Romane Joseph Roths, Hamburg 2000, S. 41. 8 Joseph Roth: Leipziger Prozeß gegen die Rathenau-Mörder. In: Joseph Roth. Werke Bd. 1, Köln 1989, S. 872-888, hier S. 876. 9 Hans-Peter Rüsing: Die nationalistischen Geheimbünde in der Literatur der Weimarer Republik, Frankfurt/ Main 2003, S. 15-135 (zum Spinnennetz). BH 10 Book.indb 149 22.8.2008 22: 10: 28 150 Irmela von der Lühe deklassierte Offizier aus den kriminellen Praktiken, die er entweder rhetorisch herbei- oder praktisch ausführt, stimuliert wird; die ihn seine Mediokrität als Größe, seine Beschränktheit als Begabung erfahren lässt. Das Psychogramm des konservativen Revolutionärs, 10 das Roth in Theodor Lohse zeichnet, hat gelegentlich zu der Feststellung geführt, Joseph Roth mache im Spinnennetz da weiter, wo Heinrich Mann mit dem Untertan aufgehört habe. 11 Das ist zweifellos richtig, darf aber den Blick auf Theodor Lohses Gegenspieler nicht verstellen: auf Benjamin Lenz. Er ist der eigentliche Rebell, der im Romanwerk Roths noch häufig vorkommen wird. Im Spinnennetz ist Benjamin Lenz ein zynischer Ostjude aus Lodz, dem jüdische Bräuche, Frömmigkeit und jegliches Wertsystem Schall und Rauch, Gegenstand der Verachtung und des Hasses sind. Er ist der Typus des Doppelspions und des Verräters aus Prinzip, 12 sein Selbsthass (in ihm ähnelt er Theodor Lohse) speist sich nicht aus kleinbürgerlichem Minderwertigkeitskomplex oder aus gesinnungsloser Unterwerfungslust; er speist sich aus elitärer Selbst- und Weltverachtung, aus einem hassgestützten Dünkel, der ihn die Katastrophe als Triumph, den Untergang als Lust empfinden lässt: Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. ‡...™ Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte ‡...™ (IV, 110). Man könnte in den Antipoden Theodor Lohse und Benjamin Lenz »Männer ohne Eigenschaften« sehen. So sehr sie sich in ihrem hasserfüllten, von Ehrgeiz und Machtstreben getriebenen Tatendrang ähneln, so deutlich unterscheiden sie sich aber in ihrem intellektuellen Profil. Die unterwerfungsbereite Ordnungs- und Gefolgschaftssehnsucht Theodor Lohses findet ihre fatale Erfüllung in fememörderischer Aktion, während Benjamin Lenz als Rebell und Solitär schlichtweg alles dem Verdacht der Bürgerlichkeit aussetzt und mit Hass und Spott überzieht, was nach Ordnung und Werten, Liebe oder Gesinnung aussieht. Die machtgierige, gewaltbereite Eigenschaftslosigkeit Theodor Lohses hat dazu geführt, dass man einen bestimmten Persönlichkeitstypus aus Hitlers Entourage in ihm präfiguriert sah: Himmler, Heydrich, Hess oder auch Adolf Eichmann. Benjamin Lenz hingegen, der destruktiv-egomane Rebell, hat in Roths Romanen seine Ausformung und seine Nachfolger gefunden. Einer der prominentesten ist Franz Tunda aus dem Roman Die Flucht ohne Ende (1927). Auch seine mentale Physiognomie ist durch den Ersten Weltkrieg, durch Kriegsgefangenschaft und 10 Vgl. Robert Cohen: Männerwelt - Gewalt - Weimarer Republik. Rechtsextremisten im Frühwerk Joseph Roths und in Ernst Ottwalls »Ruhe und Ordnung«, Modern Austrian Literature 30/ 1997, S. 48-68. 11 Zit. Anm. 7, Mehrens, Auftrag, S. 43. 12 Sebastian Kiefer: »Braver Junge - gefüllt mit Gift«. Joseph Roth und die Ambivalenz, Stuttgart - Weimar 2001, hier S. 122-126. BH 10 Book.indb 150 22.8.2008 22: 10: 28 Chronist des Untergangs oder Reporter einer Neuen Zeit? 151 revolutionäre Umwälzungen geprägt. Als Oberstleutnant in der österreichischen Armee gerät er 1916 in russische Gefangenschaft, kann flüchten und sich eine neue Identität als polnischer Pelzhändler zulegen. Er schließt sich der Roten Armee an, wird Revolutionär, um freilich binnen kurzem auch die Revolution zu verraten. Er ist - mit den Worten seines Freundes, der als Erzähler des Romans und Empfänger von Briefen Franz Tundas fungiert - »das Muster eines unzuverlässigen Charakters«. Damit freilich ist weder ein opportunistischer noch ein egoistischer Charakter, vielmehr ist ein Persönlichkeitstypus gemeint, der durch anarchischen Vitalismus in der Nachfolge Nietzsches ebenso geprägt scheint wie durch überpolitisches Rebellentum. Der Erzähler und Freund formuliert dies so: Er strebte nicht nach sogenannten persönlichen Vorteilen. Er hatte ebensowenig egoistische Bedenken wie moralische. Wenn es unbedingt nötig wäre, ihn durch irgendein Attribut zu kennzeichnen, so würde ich sagen, daß seine deutlichste Eigenschaft der Wunsch nach Freiheit war. Denn er konnte seine Vorteile ebenso wegwerfen, wie er Nachteile abzuwenden wußte. Er tat das meiste aus Laune, manches aus Überzeugung, und das heißt: alles aus Notwendigkeit. Er besaß mehr Lebenskraft, als die Revolution augenblicklich nötig hatte. Er besaß mehr Selbständigkeit, als eine Theorie, die sich das Leben anzupassen sucht, brauchen kann. Im Grund war er ein Europäer, ein »Individualist«, wie gebildete Menschen sagen. Er brauchte, um sich auszuleben, kompliziertere Verhältnisse. Er brauchte die Atmosphäre verworrener Lügen, falscher Ideale, scheinbarer Gesundheit, haltbaren Moders, rotbemalter Gespenster, die Atmosphäre der Friedhöfe, die wie Ballsäle aussehen, oder wie Fabriken, oder wie Schlösser, oder wie Schulen, oder wie Salons. Er brauchte die Nähe der Wolkenkratzer, deren Baufälligkeit man ahnt und deren Bestand für Jahrhunderte trotzdem gesichert ist. Er war ein »moderner Mensch«. (IV, 432) Modernetypisch an Franz Tunda ist sein grenzgängerisches Freiheitsstreben, das weder geographische noch politische, weder kulturelle noch individuelle, weder moralische noch emotionale Grenzen akzeptiert. Nicht einmal seine so konstituierte Heimatlosigkeit erfährt eine Begrenzung durch Benennung: Der Erzähler behilft sich mit Zitaten, wenn er betont, gebildete Menschen sähen in Franz Tunda einen »Europäer« bzw. einen »Individualisten«. Nach Benjamin Lenz hat Roth mit Franz Tunda einen transkulturell und werteimmun agierenden Tatmenschen entworfen, der nicht nur in Literatur und Publizistik, sondern auch in der politisch-philosophischen Essayistik der Zwischenkriegszeit hohe intellektuelle Aufmerksamkeit erfuhr. 13 In Analogie zu dem von Roth mitbegründeten Literatur- und Lebensprogramm der »Neuen Sachlichkeit« erscheinen die Figuren im Spinnennetz einerseits als kalt und sachlich. Berechnung und Brutalität, kriminelles Kalkül und politischer Mord bestimmen das Geschehen. Auch Syntax und Stil sind häufig 13 Vgl. dazu vor allem: Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/ M. 1994; Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960, Göttingen 2007. BH 10 Book.indb 151 22.8.2008 22: 10: 28 152 Irmela von der Lühe von Sachlichkeit, Präzision, erzählerischer Organisation und Distanz gekennzeichnet. Andererseits aber gibt es nicht wenige Stellen, die den psychologischpolitischen Furor, der das Wollen und Erleben der Figuren bestimmt, als sprachlichen-, als Metaphernausbruch gestalten. Die Kaltblütigkeit der Tatbereitschaft kontrastiert so auf eigentümliche Weise mit der expressionistisch anmutenden Bilderfülle. Schon in seinem frühen Roman lassen sich Beispiele für dieses ästhetisch-narrative Grenzgängertum Roths finden: Rot und steil, mit unendlich feinem Prasseln, schoß das lang gehemmte Blut aus Günthers Stirn hinauf in die Baumkronen, eine rote Schnur, und tropfte von den Tannen. Es waren klebrige, zähe Tropfen, sie erstarrten sofort, im Niederfallen noch. Verkrusteten sich wie roter Siegellack. Unendliches rauschendes Rot umgab Theodor. Im Felde hatte er dieses Rot gesehen und gehört, es schrie, es brüllte wie aus tausend Kehlen, es flackerte, flammte wie tausend Feuersbrünste, rot waren die Bäume, rot war der gelbe Sand, rot die braunen Nadeln auf dem Boden, rot der scharfgezackte Himmel zwischen den Tannen, in grellgelbem Rot spielte der Sonnenschein zwischen den Stämmen. Purpurne große Räder kreisten in der Luft, purpurne Kugeln rollten auf und nieder, glühende Funken tänzelten zwischendurch, verbanden sich zu sanft gewellten Funkenschlangen, trennten sich. Aus Theodors Innern kam das rauschende Rot, es erfüllte ihn, schlug aus ihm, aber es machte ihn leicht, und sein Kopf schien zu schweben, als wäre er mit Luft gefüllt. Es war wie ein leichter, roter Jubel, ein Triumph, der ihn hob, ein beschwingtes Rauschen, Tod der schweren Gedanken, Befreiung der verborgenen, begraben gewesenen Seele. (IV, S. 91) Die Szene spielt nach dem ersten und vor dem zweiten Mord. Blut, die Farbe Rot, Feuer, Funken und purpurne Kugeln sind die den Textabschnitt beherrschenden Bilder und Farben. Das Blut des Erschlagenen (Günther) überzieht in der Wahrnehmung Theodor Lohses die gesamte ihn umgebende Natur. Es verändert sogar natürliche Bewegungsabläufe, denn es steigt nach oben in die Baumkronen, tropft von den Tannen, erstarrt zu »klebrige‡n™, zähe‡n™ Tropfen«, verkrustet sich »wie roter Siegellack«. In diesem surrealen Bilderlebnis aber bricht für Theodor Lohse die Erinnerung an den Krieg auf, von dorther kennt er die Verwandlung der Natur in Blut, ihre Verkehrung in eine Feuersbrunst. Wahrnehmung, Empfindung und Erinnerung bilden nunmehr eine Einheit, und das Erinnerungsbild erlaubt ein neues, heftiges Gefühl: das Gefühl der Befreiung. Das rauschende Rot kommt aus Lohses Innerem, es berauscht und befreit ihn. Er fühlt sich beschwingt, erlöst von dumpfen Gedanken - und erfährt eine »Befreiung der verborgenen, begrabenen gewesenen Seele« (IV, 91). Die Bildhaftigkeit der Szene, ihre Wahrnehmungsintensität mutet durchaus expressionistisch an, hier spricht nicht nur der distanzierte Beobachter, hier gestaltet ein Erzähler in dichter Bildfolge innere Vorgänge als äußere Ereignisse; all dies aber nicht psychologisierend. Ein Vorgang, der im Übrigen zum Zeitpunkt des Berichts abgeschlossen ist, wird lebendig gemacht. Er handelt von kaltblütigem Mord und brutaler Gefühlskälte, erlaubt aber - so zeigt die Sprache - eine transgressive Gefühlsintensität und eine rauschhafte Affektentladung, die als BH 10 Book.indb 152 22.8.2008 22: 10: 28 Chronist des Untergangs oder Reporter einer Neuen Zeit? 153 Erlösung und Befreiung erlebt wird. Blut, Rausch, Jubel, Triumph und Befreiung sind die Worte dafür und nicht nur ein einzelner Mensch, Theodor Lohse, erlebt dergleichen, sondern die Natur selbst, Bäume, Boden, Himmel, Sonnenschein sind in das Rot des Blutes einbezogen. »Ich zeichne das Gesicht der Zeit« - so hatte Joseph Roth in einem Brief vom 22. April 1926 an Benno Reifenberg sein Programm und sein Selbstverständnis als Journalist und Romancier formuliert. 14 Tatsächlich kann man in den über 1.300 gedruckten journalistischen Beiträgen und mehr als 20 Romanen Roths Bilder einer Epoche, Portraits von Kulturräumen, episch-sachliche Gemälde mentaler, kollektiver Physiognomien erkennen. Der Typus des desillusionierten, anarchistischen Weltkriegsoffiziers, der heimatlose intellektuelle Melancholiker, der zynisch-enttäuschte Revolutionär und schließlich der fromme, gotteslästerlich aufsässige Ostjude, dem Amerika ein apokalyptisches Szenarium und zugleich die märchenhafte Wiederbegegnung mit dem verloren geglaubten Sohn liefert (Mendel Singer aus dem Roman Hiob): In all diesen Gestalten, in ihren typischen und außergewöhnlichen, repräsentativen und ungewöhnlichen Zügen zeichnet Roth schreibend ein Epochenbild. Mit diesem Bild werden geographischen und politischen, kulturellen und mentalen Räumen Denkmäler gesetzt. Es entstehen literarische Erinnerungsorte, die dem Vergangenen und Verlorenen nicht nur ehrfurchtsvoll oder nostalgisch Tribut zollen, sondern die als aktive, dynamisierende, auch als ästhetische Grenzüberschreitungen gedacht sind und von Roth auch gestaltet werden. An Das Spinnennetz lässt sich diese stilistisch-narrative Grenzverwischung zwischen neusachlichen und expressionistischen Darstellungsverfahren ebenso demonstrieren wie an Hiob, demjenigen Roman, der gern als Roths Abkehr, als literarischer Neubeginn nach dem programmatischen Ausruf »Schluß mit der Neuen Sachlichkeit« 15 gelesen wird. An der mit und gegen die biblische Vorlage erzählten Geschichte vom armen, einfachen, frommen Juden Mendel Singer im wolhynischen »Schtetl« ist alles unbedeutend und gewöhnlich, auch wenn ihn in unaufhaltsamer Folge ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft: Von den vier Kindern sterben zwei im Ersten Weltkrieg; die Tochter, deretwegen die Ausreise nach Amerika schließlich beschlossen wurde, verfällt dort dem Wahnsinn; im Land der unbegrenzten Möglichkeiten verliert Mendel Singer schließlich auch seine Frau und darüber seine Gottesfrömmigkeit. Wunderbar, märchenhaft und in modernetypischer Anverwandlung des biblischen Stoffes an eine Welt industrieller und sozialer Zwänge lässt Roth seine Geschichte enden: Menuchim, das im Osten zurückgelassene kranke Kind, wurde nicht nur gesund; moderne Medizin und mediengestütztes Karrieremanagement haben den begnadeten Musiker nach Amerika gebracht und die Wiederbegegnung zwischen Vater und Sohn erlaubt. 14 Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hg. und eingel. v. Hermann Kesten, Köln - Berlin 1970, S. 88. 15 Joseph Roth: Schluß mit der »Neuen Sachlichkeit«. In: Ders.: Werke Bd. 3, Köln 1991, S. 153-164. BH 10 Book.indb 153 22.8.2008 22: 10: 28 154 Irmela von der Lühe Dass Roth eine moderne Hiob-Geschichte erzählt, ohne dass der Name des biblischen Helden fällt, dass er sie abwandelt und warum er ihr ein glückliches Ende verschafft - über all dies ist in der Forschung viel gestritten worden. 16 Im vorliegenden Zusammenhang geht es daher wiederum nur um die Verbindung zwischen kühler Beschreibung und expressiver Bildlichkeit. Sie macht eine genuine Raumwahrnehmung möglich und konstruiert zugleich einen eigenen literarischen Erinnerungsort. Gemeint ist die antimimetisch und wahrnehmungsästhetisch gestaltete erste Begegnung mit New York, die Roth seinen Mendel Singer machen lässt: Es war ein heller und heißer Tag. Mendel und Deborah saßen in der Fahrtrichtung, ihnen gegenüber Mirjam, Mac und Sam. Der schwere Wagen ratterte über die Straßen mit einer wütenden Wucht, wie es Mendel Singer schien, als wäre es seine Absicht, Stein und Asphalt für ewige Zeiten zu zertrümmern und die Fundamente der Häuser zu erschüttern. Der lederne Sitz brannte unter Mendels Körper, wie ein heißer Ofen. Obwohl sie sich im düstern Schatten der hohen Mauern hielten, glühte die Hitze wie graues schmelzendes Blei durch die alte Mütze aus schwarzem Seidenrips auf den Schädel Mendels, drang in sein Gehirn und verlötete es dicht, mit feuchter, klebriger, schmerzlicher Glut. Seit seiner Ankunft hatte er kaum geschlafen, wenig gegessen und fast gar nichts getrunken. Er trug heimatliche Galoschen aus Gummi an den schweren Stiefeln, und seine Füße brannten, wie in einem offenen Feuer. Krampfhaft zwischen die Knie geklemmt hatte er seinen Regenschirm, dessen hölzerner Griff heiß war und nicht anzufassen, als wäre er aus rotem Eisen. Vor den Augen Mendels wehte ein dichtgewebter Schleier aus Ruß, Staub und Hitze. Er dachte an die Wüste, durch die seine Ahnen vierzig Jahre gewandert waren. Aber sie waren wenigstens zu Fuß gegangen, sagte er sich. Die wahnsinnige Eile, in der sie jetzt dahinrasten, weckte zwar einen Wind, aber es war ein heißer Wind, der feurige Atem der Hölle. Statt zu kühlen, glühte er. Der Wind war kein Wind, er bestand aus Lärm und Geschrei, es war ein wehender Lärm. Er setzte sich zusammen aus einem schrillen Klingeln von hundert unsichtbaren Glocken, aus dem gefährlichen, metallenen Dröhnen der Bahnen, aus dem tutenden Rufen unzähliger Trompeten, aus dem flehentlichen Kreischen der Schienen an den Kurven der Streets, aus dem Gebrüll Macs, der durch einen übermächtigen Trichter seinen Passagieren Amerika erläuterte, aus dem Gemurmel der Menschen ringsum, aus dem schallenden Gelächter eines fremden Mitreisenden hinter Mendels Rücken, aus den unaufhörlichen Reden, die Sam in des Vaters Angesicht warf, Reden, die Mendel nicht verstand, zu denen er aber fortwährend nickte, ein furchtsames und zugleich freundliches Lächeln um die Lippen, wie eine schmerzende Klammer aus Eisen. Selbst wenn er den Mut gehabt hätte, ernst zu bleiben, wie es seiner Situation entsprach, er hätte das Lächeln nicht ablegen können. Er hatte nicht die Kraft, seine Miene zu verändern. Die Muskeln seines Angesichts waren erstarrt. Er hätte lieber geweint, wie ein kleines Kind. Er roch den scharfen Teer aus dem schmelzenden Asphalt, den trockenen und spröden Staub in der Luft, den ranzigen und fet- 16 Vgl. u. a. Fritz Hackert: Joseph Roth - »Hiob. Roman eines einfachen Mannes.« Die Last von Ghetto-Mentalität. In: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 201-218; Bernd Hüppauf: Joseph Roth - Hiob. Der Mythos des Skeptikers. In: Gunter E. Grimm/ Hans-Peter Beyerdörfer (Hg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, Königstein 1985, S. 309-325. BH 10 Book.indb 154 22.8.2008 22: 10: 28 Chronist des Untergangs oder Reporter einer Neuen Zeit? 155 ten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den beizenden Geruch von Zwiebeln, den süßlichen Benzinrauch der Autos, den fauligen Sumpfgeruch aus Fischhallen, die Maiglöckchen und das Karbol von den Wangen seines Sohnes. Alle Gerüche vermengten sich im heißen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. Bald wußte er nicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war. Er lächelte immer noch und nickte mit dem Kopfe. Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einigen Minuten wurde er ohnmächtig. 17 Dies ist keine Stadtbeschreibung, und auch als Bericht von einer Sightseeing Tour wäre der Text nur unzureichend charakterisiert. Dies ist vielmehr die Schilderung einer Höllenfahrt und einer körperlichen Überwältigungserfahrung. Der Eindruck, dem Mendel Singer in New York ausgesetzt ist, speist sich aus schmerzhaften und schließlich in die Ohnmacht mündenden Wahrnehmungen extremer Hitze, extremen Lärms, d. h. des vollständigen Verlusts einer normalen Wahrnehmung. Die Stadt, von der keine einzige präzise Angabe geliefert wird, löst in Mendel Singer eine Auflösungs-, Verschmelzungs- und Überforderungserfahrung aus, und dies mit einer Elementarkraft, die das Technische ins Körperliche und körperliche in technische Vorgänge überführt. Die »wütende Wucht« (S. 73), mit der der Wagen sich durch die Stadt bewegt, erlebt Mendel Singer, als würde sie die Steine, den Asphalt und die Fundamente der Häuser erschüttern. Er selbst, auf einen ledernen Sitz im Wagen gebannt, glaubt sich in einem heißen Ofen, seine alte Mütze kann die Hitze der Stadt nicht abhalten, die »wie graues schmelzendes Blei« (ebd.) auf seine Stirn drückt und auch in sein »Gehirn« eindringt, um im Innern alles mit einer feuchten, klebrigen, schmerzlichen Glut zu »verlöten«. Der Fahrtwind bringt keine Erleichterung, sondern ist »der Atem der Hölle«. Auch dem Geruchssinn werden Extreme zugemutet: der »fette Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen« mischt sich mit dem »beizenden Geruch von Zwiebeln«, dem »süßlichen Benzinrauch der Autos«, dem »fauligen Geruch aus Fischhallen« und dem Duft von »Maiglöckchen«. Es entsteht ein Höllenkreis explodierender Extreme mit vulkanartiger Wirkung: »Alle Gerüche vermengten sich im heißen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte.« Die großstadttypische Verschmelzungs- und Überwältigungserfahrung, der Mendel Singer ausgesetzt ist, gestaltet Roth als negative Synästhesie. Dem romantischen, synästhetischen Entgrenzungserlebnis durch Natur, Liebe oder Poesie antwortet dieses New-York-Erlebnis mit einer ins Apokalyptische ausgreifenden, jede Wahrnehmung vernichtenden Ich-Auflösung: »Bald wußte er nicht mehr, was zu hören, was zu sehen, was zu riechen war ‡...™ Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einigen Minuten wurde er ohnmächtig.« (V, S. 74) Für das Amerika-Bild Roths ist diese Passage ebenso prominent wie für das, was im vorliegenden Kontext das ästhetische Grenzgängertum Roths ge- 17 Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. In: Ders.: Werke Bd. 5, Köln 1990, S. 1-136. Zitate im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. BH 10 Book.indb 155 22.8.2008 22: 10: 28 156 Irmela von der Lühe nannt wurde. Parataktische Sätze, asyndetische Reihung und metaphernbzw. vergleichsgetragene Bildproduktion; sachlich-lakonischer und expressiv-bilderreicher Stil stehen dicht nebeneinander, lassen - metaphorisch gesprochen - den Text selbst zu einem Ort werden, der wahrnehmungsästhetisch als negative Synästhesie entworfen wird. In ihm und mit ihm erscheint der fromme Jude aus dem Osten, der seine Heimat verlassen und seine Herkunft womöglich verraten hat, nicht lediglich in geographischer und topographischer, sondern in personaler und körperlich-sinnlicher Hinsicht über seine Grenzen, auf zerstörerische Weise über die Grenzen seines Wahrnehmungsvermögens hinausgetrieben. So wie in dieser apokalyptischen Szenerie die Metropolenerfahrung zur Höllenfahrt wird, so erscheint die wolhynisch-russische Heimat in der Erinnerung Mendel Singers als Paradies: der Einfachheit trotz des Elends, der räumlichen Weite trotz des Schmutzes, der Natur- und Lebensnähe trotz Armut und Verfolgung: »Die blaue Nacht ist über das Land gespannt, die Sterne glänzen, die Frösche quaken, die Grillen zirpen, und drüben im finstern Wald, singt jemand das Lied Menuchims.« (V, 117) Obwohl Amerika und Russland in Hiob als polare Gegensätze, als politische und lebensweltliche Antipoden erscheinen, bedient sich Roth in der Vergegenwärtigung dieser Räume und Landschaften ähnlicher Verfahren. Immer bewegt er sich ästhetisch im Grenzbereich zwischen sachlichem Bericht, einfacher Narration und schlichter, z. T. biblischer Diktion einerseits und expressiver Ausdruckskunst andererseits. Der erzählten kulturellen, mentalen und politischen Verlusterfahrung, die in Russland oder Amerika, in Galizien oder in Berlin den Roth’schen Helden widerfährt und als deren Chronist er betrachtet wird, steht eine ästhetische Raumerfahrung gegenüber, deren Konstrukteur Roth ist. Räume und Grenzen sind mithin nicht nur Gegenstände, Darstellungsobjekte und auch nicht nur Anlässe literarischer Abbildung, sie sind Medien der Erinnerung; sie werden für Roth zu ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsräumen. Und als solche subvertieren, transzendieren, dynamisieren sie das schon zu Roths Zeiten obsolete Konzept nationaler, ursprungsmythisch legitimierbarer Räume. In den »Weißen Städten« hat Roth in rhetorische Fragen gekleidet, was sich nicht nur als politisch-kulturtheoretisches Credo, sondern was sich auch als ein ästhetisch-poetisches Programm lesen lässt: Schmal sind die Grenzen der Epochen. ‡...™ Ein Schritt trennt die Zeiten. Trennt er sie? Ist das eine Grenze? Ist das nicht ein Übergang? Liegen sie nicht heute friedlich nebeneinander, heute, da beides ausgekämpft hat? Lag nicht beides kindlich nebeneinander im Land meiner Kindheit? Floß nicht eins ins andere in meinen Träumen? Ist es nicht heute wieder eine Welt, zusammengeschweißt von der Macht der Erinnerung? Lebt nicht der Orient im römischen Bogen, lebt nicht der Orient im mittelalterlichen Epos? Gibt es wirklich verschiedene Welten? Gibt es nicht eine einzige? Was uns trennend erscheint, ist es nicht einigend? 18 18 Joseph Roth: Die weißen Städte. In: Ders.: Werke Bd. 2, Köln 1990, S. 486. BH 10 Book.indb 156 22.8.2008 22: 10: 28 G ERALD L IND (W IEN ) »Von Politik aber verstanden wir nichts.« Erinnerung und Identität im Kapitel »Auf dem Schneeberg« aus Gerhard Roths Roman Landläufiger Tod Gerhard Roths 1984 publizierter Roman Landläufiger Tod ist das narrative und diskursive Zentrum des siebenteiligen Zyklus Die Archive des Schweigens. Auf den knapp 800 Seiten des im Zyklus an dritter Stelle stehenden Textes findet sich ein Spiel mit Fakt und Fiktion, dem Realen und dem Phantastischen, experimentellen und realistischen Schreibweisen und dem Regelwerk literarischer Genres. »‡E™in monumentaler und fragmentarischer Roman«, 1 wie Walter Grond festgestellt hat. Das Setting von Landläufiger Tod, ein kleines südweststeirisches Dorf und dessen Umland, ist geprägt von seiner äußerst peripheren Lage, die mit der im Zuge des Friedensvertrages von Saint-Germain (1919) vollzogenen Neukartierung Zentraleuropas und der damit zusammenhängenden Emergenz einer Grenze zwischen dem neu gegründeten SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) und der ersten österreichischen Republik zusammenhängt. Im ersten Teil des Zyklus Die Archive des Schweigens, dem 1990 erschienenen Foto-Text-Band Im tiefen Österreich, schreibt Roth dazu: »Die Grenze zum kommunistischen Jugoslawien bedeutete ‡...™, daß das Gebiet wirtschaftlich vom Binnenland abgeschnitten war. So veränderte sich alles viel langsamer, als anderswo in Österreich.« 2 Der in Landläufiger Tod gespannte zeitliche Bogen reicht von der Monarchie bis in die späten 1970er, frühen 1980er Jahre. Ein wesentliches Strukturelement des Romans in Bezug auf dessen historische Dimension sind, häufig als Erinnerung inszenierte, Lebensgeschichten von Einwohnern des Dorfes. Mit dem Text »Auf dem Schneeberg« wurde eine Lebensgeschichte ausgewählt, anhand derer sich »Einblicke in kulturell vorherrschende Gedächtnis- und Identitätskonzepte, in stereotype Vorstellungen von Eigenem und Fremdem, in Erinnerungswürdiges sowie Nicht-Sanktioniertes« 3 gewinnen lassen. Es folgt nun ein Close Reading des Textes »Auf dem Schneeberg«, es handelt sich hierbei um das dritte Kapitel des ersten Buches - »Dunkle Erinnerung« - von Landläu- 1 Walter Grond: Genese eines Romans. Zum Landläufigen Tod. In: Gerhard Roth. Materialien zu „Die Archive des Schweigens“ (= FTB 11274). Hg. v. Uwe Wittstock, Frankfurt/ Main 1992, S. 143-163, hier S. 149. 2 Gerhard Roth: Im tiefen Österreich (= FTB 11401), Frankfurt/ Main 1994, S. 29. 3 Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven (= Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung 2. Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning). Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning, Berlin - New York 2005, S. 149-178, hier S. 165. BH 10 Book.indb 157 22.8.2008 22: 10: 28 158 Gerald Lind figer Tod, wobei aus Platz- und thematischen Gründen eine Fokussierung auf jene Passagen erfolgt, die sich mit der Zeit bis 1945 beschäftigen. In »Auf dem Schneeberg« werden die Lebenserinnerungen der Tante des Protagonisten von Landläufiger Tod inszeniert, des vorgeblich stummen und schizophrenen Imkerssohns Franz Lindner, Adressat des Erinnerten und cum grano salis homodiegetischer, unzuverlässiger Erzähler des Romans. Lindner ist durch sein Schweigen in gewisser Weise in die privilegierte Position des »Dritten«, wie ihn Bachtin nennt, 4 gerückt. Er ist als Sonderling und Außenseiter am sozialen Rand des Dorfkollektivs verortet, registriert von dort aus aber wachsam unterdrückte, nichtöffentliche Vergangenheitsdiskurse. Lindners Schweigen wird von der Tante als impulsgebend für den Bruch ihres Schweigens über die Vergangenheit bezeichnet: »’Du weißt, ich bin, was die Vergangenheit betrifft, nicht sehr gesprächig. Aber, da Du gezwungen bist zu schweigen, ist mir wohl bei der Vorstellung, einen verständigen Menschen zu finden, der mir zuhört.’« 5 Neben Lindner gibt es noch eine weitere Zuhörerin, nämlich die als eigenständige Figur kaum wahrnehmbare Stiefschwester der Tante, die durch ihre affirmativen Reaktionen auf Aussagen der Tante als die Authentizität des Erinnerten verifizierende Instanz auftritt. Die Lebensnarration der Tante kann aufgrund der in den Erzählvorgang eingebundenen Personen (Stiefschwester und Neffe) im Kontext des Familiengedächtnisses verortet werden, das von Maurice Halbwachs beschrieben 6 und beispielsweise von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall konzeptuell modifiziert wurde. In ihrer Studie »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis konnten die drei Autoren feststellen, dass das Familiengedächtnis aufgrund seiner emotionalen Konnotierung von entscheidender Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein der Familienmitglieder ist. 7 Allerdings ist im Zusammenhang der hier diskutierten Passagen von »Auf dem Schneeberg« weniger das Gedächtnis der Familie, als vielmehr das einer anderen sozialen Gruppe, nämlich das des Dorfes, von Relevanz. Denn die Lebensgeschichte der Tante steht, wie Uwe Schütte schreibt, »stellvertretend für alle Dorfbewohner«, 8 die Verschränkung von individueller und kollektiver 4 Vgl. Michail M. Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. In: Ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (= Fischer Wissenschaft 7418). Hg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. A. d. Russ. v. Michael Dewey, Frankfurt/ Main 1989, S. 7-209, hier S. 54-57. Der Unterschied zum Dritten Bachtin’scher Definition besteht darin, dass Lindner in diesem Kapitel direkt angesprochen wird und nicht nur mitanhört, worüber andere miteinander sprechen. 5 Gerhard Roth: Landläufiger Tod. Mit Illustrationen v. Günter Brus (= Fischer Taschenbuch 11403), Frankfurt/ Main 1994, S. 78. Die Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf diese Ausgabe. 6 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 538). A. d. Franz. v. Lutz Geldsetzer, Frankfurt/ Main 2006, S. 203-242. 7 Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller u. Karoline Tschugnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis (= Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe. Hg. v. Walter H. Pehle). Unter Mitarbeit v. Olaf Jensen u. Torsten Koch, Frankfurt/ Main 2002, S. 18-44. 8 Vgl. Uwe Schütte: Auf der Spur der Vergessenen. Gerhard Roth und seine »Archive des Schweigens« (= Literatur und Leben 50; vorher Diss. East Anglia 1996), Wien - Köln - Weimar 1997, S. 121. BH 10 Book.indb 158 22.8.2008 22: 10: 29 »Von Politik aber verstanden wir nichts.« 159 Geschichte verleiht den Erinnerungen der Tante repräsentativen Status. 9 Diesen Zusammenhang von Identität, individuellem und kollektivem Gedächtnis fasst Birgit Neumann ins Auge, wenn sie schreibt, dass »Konstruktionen der individuellen Vergangenheit ‡...™ tief greifend von soziokulturellen Faktoren geprägt sind«, weshalb »sich in der Praxis der autobiographischen Erinnerung stets auch die Produktion einer überindividuellen Vergangenheit« 10 vollzieht. Für die Romanarchitektur fungiert »Auf dem Schneeberg« als »Rampe«. 11 In dem Text werden historische Begebenheiten angeschnitten und wichtige dörfliche Akteure erwähnt sowie rurale Diskurse und Beschreibungen des Landlebens eingeführt, die im Laufe des Romans aus wechselnden Perspektiven fort- und umgeschrieben werden und mit den ersten beiden Zyklusbänden Im Tiefen Österreich und Der Stille Ozean (1980), die sich auf fotografisch-dokumentarische beziehungsweise literarische Weise der südweststeirischen Grenzregion nähern, in einem auf Zyklusebene lesbaren intertextuellen und intermedialen Wechselspiel stehen. Die Basiserzählung des Kapitels besteht aus dem alljährlichen Gang zum Friedhof einen Tag vor Allerheiligen, die Bewegung durch die Zeit ist also mit einer Bewegung durch den Raum verbunden. Bemerkenswert dabei ist die mit den Erinnerungs-Räumen korrespondierende Semantisierung des durchquerten Raumes durch den Narrator Lindner mit einer - schon in der Ausgangsposition mit dem Gang zu den Gräbern zu Allerheiligen angelegten - Symbolik von Tod und Krankheit. Im Haus der Tante, wo ihre Erzählung der familiären und sozialen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit beginnt, stehen als Grabschmuck gedachte (Totenblumen) Astern auf dem Tisch, in der Nacht kriechen Unmengen (krankheitsübertragender) Schaben aus allen Ritzen, in der Badewanne schwimmen geschlachtete Hühner (vgl. 79), an der Herdplatte riss sich der Onkel bei einer Explosion »die Finger einer Hand« (79) weg, die Stube wird nicht benützt, seit darin der Onkel (vgl. 81) und zuvor auch schon dessen Vater (vgl. 107) gestorben sind, Tante und Stiefschwester tragen selbstverständlich schwarze Kleidung (vgl. 81 u. 85). Als die Tante beim Gang durch den Wald von der Folterung eines Schmugglers erzählt, »‡taumelt™ das Laub wie vertrocknete, fliegende Blutfladen zu Boden« (87), bei der Erzählung vom Beginn der Naziherrschaft »schlagen einige Kastanien auf der Straße auf und zerplatzen.« (91) Interessant ist in diesem Kontext, dass die Tante ein phantastisch anmutendes Naturereignis mit dem Verlauf der Geschichte in einen indirekten Sinnzusammenhang stellt, indem sie ausführlich von einem 1939 auftretenden roten Nordlicht erzählt: »’Unsere 9 Diese über den Romankontext hinausgehende Repräsentativität des Kapitels zeigt sich übrigens auch in der Produktion einer Hörspieladaption: Ein Schneetag (ORF 1987, Erstsendung 8. 2. 1987). 10 Zit. Anm. 3, Neumann, Literatur, S. 158. 11 Diese Formulierung wird an Anlehnung an Heimito von Doderer verwendet, der seinen Roman Die Strudlhofstiege (1951) als Rampe für Die Dämonen (1956) bezeichnet hat. (Vgl. dazu Dietrich Weber: Heimito von Doderer. Studien zu seinem Spätwerk, München 1963, S. 77.) Übrigens könnte man das gesamte erste Buch von Landläufiger Tod als Rampe verstehen, bei »Auf dem Schneeberg« ist diese Funktion allerdings besonders deutlich. BH 10 Book.indb 159 22.8.2008 22: 10: 29 160 Gerald Lind Gesichter und Hände schienen von Blut zu triefen, das rote Licht färbte Felder, Wiesen, Häuser, Vögel und Hunde, wir blickten uns an wie Verursacher eines Verbrechens.’« (94) 12 Während des Aufenthalts auf dem Friedhof beginnt die Tante dann vom Krieg und seinen Folgen zu erzählen (vgl. 96-97), indessen wird der im Laufe des Weges einsetzende Schneefall immer stärker und schließlich zum Schneesturm, der die Schirme »wie schwarze Drachen« (100) in die Luft wirbelt. Eine Unzahl toter Vögel säumt die Straße (vgl. 101, 105 u. 106) und die letzte Etappe des Weges wird zum Schutz vor dem Sturm mit einem vom Tischler geliehenen Sargdeckel auf dem Kopf bewältigt (vgl. 104-107). Für die Einordnung der den Erinnerungsprozess der Tante und Lindners Reaktionen darauf bestimmenden Perspektive muss der kaum vorhandene Zugang zu stabilen Informationsmedien im peripheren Raum, der sowohl für die Erzählgegenwart, als auch für die erinnerten Zeitabschnitte anzunehmen ist, in Betracht gezogen werden. Bibliotheken gab es auf dem Land nicht, Bücher wurden kaum besessen, das Fernsehen hatte Ende der 1970er Jahre gerade erst Einzug in die Haushalte der ländlichen Bevölkerung gehalten. Informationen wurden zum Teil von regionalen Medien wie Radio oder Zeitung bezogen, die Tradierung von Geschichte erfolgte also nicht über das kulturelle Gedächtnis, sondern vor allem im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses, weshalb in Landläufiger Tod aufgrund der sich so ergebenden Rechercheweise von Gerhard Roth viele »Geschichten des Hören-Sagens« 13 enthalten sind. Die Frauen waren noch stärker an den dörflichen Raum gebunden als die Männer, die zum Teil als Pendler auswärts arbeiteten und im 2. Weltkrieg am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg teilnahmen: »’Den Krieg habe ich zu Hause, auf dem Hof arbeitend, verbracht’, fährt meine Tante jetzt fort. ’Was wirklich geschah, wußten wir nicht.’« (96) Die Selbstnarration der Tante ist also paradigmatisch für das sozio-kulturelle Feld des Dorfes in Bezug auf die Perspektive auf und die Tradierung von Historie. Im Kontext gedächtnistheoretischer Zugänge ist die Intention der Tante bemerkenswert, nämlich »’meine Gedanken zu ordnen.’« (78) Übersetzt man »Gedanken« mit Lebensgeschichte, so deckt sich die Zugangsweise der Tante mit dem, was Siegfried J. Schmidt in Bezug auf Ordnung und Erinnerung schreibt: »Die Ordnung des erzählten Geschehens ist eine Funktion des Erzählens, nicht der Ordnung des erzählten Geschehens. Im und durch Erzählen konstruieren wir die ‡...™ Identität des Erzählers.« 14 Die Erinnerungen der Tante folgen einem sozio-kulturell codierten Erzählformat. Laut Birgit Neumann »ist weniger die Faktizität des Erinnerten als vielmehr 12 Ein ähnliches Nordlicht war tatsächlich Anfang 1938 in der Steiermark zu sehen. Vgl. Anm. 8, Schütte, Spur, S. 148. 13 Zit. Anm. 1, Grond, Genese, S. 161. 14 Siegfried J. Schmidt: Gedächtnis - Erzählen - Identität. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Mit Beiträgen von Aleida Assmann (u. a.) (= Fischer Wissenschaft 10724). Hg. v. Aleida Assmann u. Dietrich Harth, Frankfurt/ Main 1991, S. 378-397, hier S. 389. BH 10 Book.indb 160 22.8.2008 22: 10: 29 »Von Politik aber verstanden wir nichts.« 161 dessen Anschließbarkeit an bestehende Gedächtnisstrukturen und aktuelle Relevanzkriterien« 15 entscheidend. Die Tante, die in Tombach (vgl. 79) in der Südsteiermark geboren wurde, »’als der Erste Weltkrieg zu Ende ging’« (79), versucht also mit ihren Erinnerungen an das bestehende kollektive Gedächtnis des Dorfes anzuschließen und spricht von nichts, das ihre Zugehörigkeit zur beziehungsweise ihre Identifikation mit der Dorfgemeinschaft grundlegend in Frage stellen würde, auch wenn sie zum Teil die Besonderheit der Erzählsituation nützt, um den normativen Rahmen dörflicher Selbstnarrationen zu überschreiten. Prägend für die von der Tante erzählte Zwischenkriegszeit ist die Armut, die zum frühen Tod von fünf Geschwistern führte (vgl. 79), medizinische Versorgung nahezu unerschwinglich machte (vgl. 84-85), einen weiterführenden Bildungsweg verunmöglichte (vgl. 83), mit Schulden beim Staat einherging und als Erklärung für den weit verbreiteten Alkoholismus herangezogen wird (vgl. 88-89). Die Schilderung der Lebensverhältnisse der Kindheit wird mit Beobachtungen des Narrators Lindner zur Gegenwart der Basiserzählung verknüpft, die auf eine Kontinuität der Armut schließen lassen. So wird beispielsweise erwähnt, dass sich die Zehen der Tante »Löcher in die schwarzen Wollstrümpfe gebohrt haben, aus denen die Nägel ragen« (78) oder dass die Tante, nachdem sie vom Geldmangel ihrer Familie in den 1920ern und 30ern erzählt hat, verstummt, weil sie, wie Lindner vermutet, an ihren seit kurzem arbeitslosen Sohn denken muss (vgl. 83). Kontinuität spielt eine entscheidende Rolle für die Formation von Identität. Eveline Kilian schreibt dazu: Kontinuität richtet den Blick auf die lebensgeschichtlich-temporale Dimension der Identität, auf die Einheit und Gestalthaftigkeit des Selbst über die Zeit hinweg. Hier spielen Erinnerung und die rückblickende Konstruktion identitätsrelevanter Zusammenhänge eine zentrale Rolle. 16 Kontinuität der Armut kann aber nur deshalb zur Konstruktion von Identität beitragen, weil es sich, in der Darstellung, um kollektive Armut handelt. Die Tante erzählt nicht nur von ihrem Leben und ihrer Familie, sondern sie erzählt eine ganze Region, aber nicht in ihrer Ausdifferenziertheit, sondern als homogenen sozialen Raum. Deshalb findet sich auch in ihren Erinnerungen nichts über ökonomische Unterschiede innerhalb der Landbevölkerung. Aus dieser Konstruktion von Homogenität ergibt sich ein spezifisches Verhältnis zu sozialer, ethnischer und sprachlicher Alterität. Das geschlossene Sozialsystem Dorf wird lesbar in der häufigen Verwendung der Personalpronomen »wir« und »unser« vom Narrator Lindner als auch von der Tante. 17 Diese Wir-Identität impliziert eine Differenz zu anderen Identitäten, die nicht in das »Wir« miteingeschlossen sind und als dyna- 15 Zit. Anm. 3, Neumann, Literatur, S. 158. 16 Eveline Kilian: Zeitdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies (= Sammlung Metzler 344). Hg. v. Vera Nünning u. Ansgar Nünning u. Mitarb. v. Nadyne Stritzke, Stuttgart - Weimar 2004, S. 72-97, hier S. 78. 17 Vgl. Anm. 8, Schütte, Spur, S. 118. BH 10 Book.indb 161 22.8.2008 22: 10: 29 162 Gerald Lind mische Elemente das statische Dorfkollektiv gefährden. So sagt die Tante über die meist aus der Stadt kommenden und sich durch Bildung und sozialen Status vom Rest der Bevölkerung unterscheidenden Lehrer: »Für uns waren die Lehrer Eindringlinge. Im Grunde hat man ihnen mißtraut. Was würde aus der gesamten Ordnung werden, wenn die Knechte gescheiter wären als die Bauern? Wozu mußten die Söhne zur Schule gehen, warteten nicht Land, Holz, Haus und Tier, daß die Nachkommen alt genug wurden, um die Arbeit weiterzuführen? « (82) Ähnliche Äußerungen finden sich auch zu den arbeitslosen Stadtbewohnern, die in der Zwischenkriegszeit auf das Land kamen: »’Wie Heuschreckenschwärme brachen die Handwerksburschen herein und verlangten Most und Brot’« (87- 88), und: »’Die Menschenplage währte mehrere Jahre und ohne Unterbrechung, so daß sie gar nicht mehr wegzudenken war.’« (88) Eine besondere Form der Setzung von Differenz zeigt sich in einem Othering, das sich auf die jugoslawischen Nachbarn bezieht und das sich sprachlich in der Verwendung der Wörter »drüben« für Jugoslawien und »herüben« für Österreich manifestiert (vgl. 86). 18 Eine analoge verbale Spatialisierung von Differenz beschreibt Gerhard Roth übrigens in dem 1981 erschienenen Foto-Text-Band Grenzland, in dem es über Obergreith, das reale Vorbild des literarischen Dorfes, heißt: »Die in der Ebene Wohnenden sind für die Obergreither ’die unten’, während sie sich selbst nicht ohne Stolz als ’wir heroben’ bezeichnen. Tatsächlich liegt zwischen den Erhebungen der kleinen Berge und der Ebene so etwas wie eine imaginäre Grenze.« 19 In seiner Soziologie des Raumes schreibt Georg Simmel zur Problematik der Grenze: Während diese Linie ‡die Grenze; Anm. G. L.™ nur die Verschiedenheit der beiden Verhältnisse: zwischen den Elementen einer Sphäre untereinander und zwischen diesen und den Elementen einer anderen - markiert, wird sie zu einer lebendigen Energie, die jene aneinanderdrängt und sie nicht aus ihrer Einheit herausläßt und sich wie eine physische Gewalt, die nach beiden Seiten hin Repulsionen ausstrahlt, zwischen beide schiebt. 20 Die doppelte, reale und imaginäre, Grenze spielt also eine entscheidende Rolle für die Bindungskraft des Dorfkollektivs. Die reale Grenze zum Königreich Jugoslawien spielte aber auch noch eine andere Rolle, die sich aus der Wirtschaftskrise ergab. Anfang der 1930er Jahre war diese Grenze noch nicht vollständig 18 Diese Bezeichnungen werden übrigens nach wie vor verwendet, nachlesbar in: Elisabeth Schober: Hinüberschauen und Wegsehen. Grenzdiskurse und Erinnerungen anlässlich der EU-Erweiterung 2004 an der südoststeirisch/ nordslowenischen Grenze (= Wissenschaftliche Schriftenreihe des Pavelhauses 10), Graz 2006. 19 Gerhard Roth: Grenzland/ On the Borderline. Ein dokumentarisches Protokoll/ A documentary record. Übers. v. Stuart Gilbert u. Isabel G. Hüttner, Wien 1981, S. 7. 20 Georg Simmel: Soziologie des Raumes. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Bd. 1 (= Georg Simmel. Gesamtausgabe 7. Hg. v. Otthein Rammstedt). Hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/ Main 1995, S. 132-183, hier S. 141. BH 10 Book.indb 162 22.8.2008 22: 10: 29 »Von Politik aber verstanden wir nichts.« 163 gefestigt, sondern noch in einem, nach Simmel, »status nascens« 21 befangen, das ursprünglich vorhandene kulturelle und ökonomische Netz war noch nicht so vollständig gerissen, wie Karl Schlögel das für das Jalta-Europa nach 1945 annimmt, 22 der Staat auch noch nicht in der Lage, sein Territorium vollständig zu überwachen. Diese Voraussetzungen führten zu einer von der Tante beschriebenen Praxis des »border crossings«: »’Da es uns von Jahr zu Jahr schlechter ging, entschlossen sich viele zum Viehschmuggel. Wir kauften >drüben< ‡hier findet sich eine Fußnote mit der Erklärung: »In Jugoslawien«; G. L.™ das Vieh und brachten es in der Nacht >herüber<.’« (86) Die, trotz der von der Tante betonten Armut in Österreich, niedrigeren Preise in Jugoslawien ermöglichten den Schmugglern einen gewinnbringenden Verkauf in Österreich. 23 Geschmuggelt worden seien Rinder und Pferde. Für letztere wurde ein besonderer, die Überschreitung der Grenze gleichzeitig über die Spur belegender, andererseits aber durch das Vorwärtsgehen im Rückwärtsgehen die Trennlinie destabilisierender Trick angewandt: »’‡Wir™ haben ‡...™ die Hufe verkehrt beschlagen, damit die uns verfolgenden Finanzer in die Irre geführt wurden und nicht wußten, ob sie die Spuren eines Pferdes vor sich hatten, das von herüben nach drüben oder von drüben nach herüben kam.’« (87) Diese Überschreitung der Grenze ist, nach der von Michel de Certeau in Kunst des Handelns ausgeführten Theorie, ein Beispiel für Taktiken der Dorfbevölkerung, die Strategien des Staates, die staatlichen »Netze der Überwachung« 24 zu umgehen. Es geht aus der Erzählung der Tante nicht hervor, ob der beschriebene Viehschmuggel noch in der Zeit der 1. Republik oder während des Austrofaschismus vonstatten ging, die Methoden der »Finanzer« gegenüber gefassten Schmugglern lassen sich aber als Anspielung auf Zweiteres lesen. So berichtet die Tante, dass »’die Finanzer ‡einen™ Gefaßten so übel zugerichtet hatten, daß sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verschwollen und die Hände zu Fleischklumpen geworden waren (die bewegungslos auf seinen Oberschenkeln lagen, wie erschlagene Tiere).’« (87) Aber das Zugehörigkeitsgefühl zum Dorfkollektiv scheint in dieser Zeit noch stärker zu sein als die Furcht vor den Macht-Strategien des Staates, folgt man der Tante, die erzählt, sie habe der Bitte des Gefolterten entsprochen und in der Nacht geschmuggelte Pferde entgegengenommen, da es ihr »’nicht gleichgültig war, einen Freund den Finanzern ausgeliefert zu sehen’« (87). 21 Ebenda, S. 143. 22 Vgl. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (= FTB 16718), Frankfurt/ Main ²2007, S. 28. 23 Vgl. zur jugoslawisch-steirischen Grenze in der Zwischenkriegszeit: »Die Grenze, die einen Schnitt ins wirtschaftliche und soziale Leben bedeutete ‡…™, bot nur einen Vorteil im ökonomischen Bereich: die Preisunterschiede. Beim Erzählen der Geschichten über diese Zeit beschreiben Informanten lebhaft jene Tätigkeiten, die die Grenze des Erlaubten überschritten - das Schmuggeln.« ‡Blatten. Ein Dorf an der Grenze (= »Kuckuck« - Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde. Sonderband 2/ 1992), Hg. v. Johannes Moser u. Elisabeth Katschnig-Fasch, Graz 1992, S. 72.™ 24 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. A. d. Frz. v. Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 186. BH 10 Book.indb 163 22.8.2008 22: 10: 29 164 Gerald Lind Während weder die Grenzziehung von 1919, noch die Februarunruhen und die Umwandlung Österreichs in einen faschistischen Staat 1934 in der Lebensnarration der Tante angesprochen werden, findet in Bezug auf den Nationalsozialismus ein Übergang vom privaten in den öffentlichen Diskurs statt. In ihrem Aufsatz Geschichtsphilosophische Ansätze in Gerhard Roths »Landläufiger Tod« bezeichnet Monika Kraus in Anlehnung an Michel Foucault Staat, Dorf und Natur als die drei den Roman bestimmenden Machtdispositive und bezeichnet Dorf und Staat als »Mikro- und Makromacht«. 25 Folgt man dieser These, so liest sich der Einleitungskommentar der Tante zu ihrer Erzählung der Zeit des Nationalsozialismus als Beschreibung des Verhältnisses dieser beiden Machtdispositive: »Von Politik aber verstanden wir nichts. Wir verstanden weder etwas von der Monarchie noch von der Republik oder vom Nationalsozialismus. Insgeheim verachteten wir die Mächtigen, obwohl wir uns nach außenhin stets der Obrigkeit fügten und uns bemühten, ihr Wohlwollen zu gewinnen. Wir vertraten immer die Ansichten, die in der Luft lagen.« (91) Die Tante konstruiert hier eine Kontinuität im Umgang der Dorfbevölkerung mit staatlicher Macht, um die für ihre individuelle Identitätsformation essentielle kollektive Dorfidentität nicht zu destabilisieren. Tatsächlich aber zeigt sich in den Erinnerungen der Tante, dass die Überschreibung der Mikro-Herrschaftsstrukturen des Dorfes durch die Makro-Herrschaftsstrukturen des NS-Staates die Frage von Loyalität, Zugehörigkeit, Identität in einer ganz anderen Qualität stellte, als dies bei der Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit der Fall war, die das dominante Machtdispositiv für die Lebenspraxis der Tante, das Dorf, nicht wesentlich verändert hatte. Das zeigt sich deutlich am Fall einer Frau, die gegen den »Anschluss« gestimmt hatte und auf deren Stallwand daraufhin »’>Dieses Schwein wählt nein< geschmiert’« (91) wurde. Die mehrmaligen Versuche, diese Worte zu entfernen, scheitern, denn immer wieder werden sie an andere Stellen des Hofes (Haustür, Geräteschuppen, Tenne) geschrieben - und zwar von »jemand andere‡m™« (91). Es sind also mehrere Personen in diese Aktion involviert, deren Identität von der Tante aber auch nicht gegenüber dem schweigenden Lindner preisgegeben wird. Schließlich »’ließ die Bäuerin den Satz endlich stehen, bis der Krieg zu Ende war. Und bald kümmerten auch wir uns nicht mehr darum.’« (91) Laut Neumann ist die ‡z™entrale Herausforderung, die sich dem rückblickenden Ich stellt, ‡...™ die sinnstiftende Überbrückung der zeitlichen und damit auch kognitiv-emotionalen Diskrepanz, d. h. die plausibilisierende Anbindung seiner Vergangenheit an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs. 26 25 Monika Kraus: Geschichtsphilosophische Ansätze in »Landläufiger Tod« von Gerhard Roth. In: Walter Buchebner Literaturprojekt: Literatur in Graz seit 1960 - das Forum Stadtpark (= Walter-Buchebner-Literaturprojekt 2), Wien - Köln 1989, S. 83-93, hier S. 85. 26 Zit. Anm. 3, Neumann, Literatur, S. 166. BH 10 Book.indb 164 22.8.2008 22: 10: 29 »Von Politik aber verstanden wir nichts.« 165 Die Schwierigkeit für die Tante bei der Narrativierung der nationalsozialistischen Vergangenheit ist es also, ihr damaliges Selbst mit dem aktuellen Selbst in einen Sinnzusammenhang zu bringen, vor allem, da eine teilweise Inkompatibilität zwischen ihren individuellen Erinnerungen, den hegemonialen Diskursen des kollektiven Dorfgedächtnisses, also ihrer sozialen Gruppe, und dem Gedächtnis »des politischen Kollektivs der Nation« 27 besteht. Das führt zu Formulierungen wie: »’Und schließlich glaubten wir Gedanken wiederzuerkennen, die wir uns schon längst gedacht hatten. Plötzlich kamen sie zum Vorschein, ohne daß jemand widersprechen durfte.’« (92) Franz Lindner ist in seinen Kommentaren zu den Ausführungen der Tante widersprüchlich, zum Teil affirmativ, zum Teil dekonstruktiv. So betont er einerseits die Beliebigkeit politischer Einstellungen im Kontext der These vom Unpolitischsein der Dorfbewohner: »Es sind fremde Wörter und Sätze, die wir dann sprechen. Und nur dadurch, daß wir diese fremden Ideen, diese fremden Witze und Gedankengänge immer und immer wieder bei jeder Gelegenheit wiederholen, werden sie die unseren ...« (91) Andererseits insinuiert er aber eine obrigkeitshörige soziale Tiefenstruktur wie in der Fußnote zur Bemerkung der Tante, sie sei, wie alle, dem Bund Deutscher Mädel beigetreten: »Wir bewundern es, wenn mit unerbitterlicher Hartnäckigkeit die Ordnung aufrechterhalten wird; verbietet man uns den Mund, so haben wir insgeheim Achtung vor dem Unterdrücker.« (92) Das nationalsozialistische Machtdispositiv zog die Netze der Überwachung enger als der Austrofaschismus: »’Wer etwas Abfälliges über den Nationalsozialismus sagte, wurde verhaftet und bis Kriegsende eingesperrt. So wurden wir vorsichtiger, schweigsamer und mißtrauischer.’« (96) Zwar berichtet die Tante von subversiven Taktiken - »’In der Nacht schlachteten wir das Vieh für den eigenen Bedarf in unseren Ställen und vergruben das Fleisch’« (96) -, das Regelwerk des Dorfkollektivs verlor aber zunehmend an Wirkungsmacht, was die Tante, wie schon am Beispiel der »Anschluss«-Gegnerin erkennbar, nur unter der Prämisse thematisiert, dass die Instabilität ihrer Gruppe nicht von der Vergangenheit in die Gegenwart fortgeschrieben wird, also eine destabilisierende Kontinuität entsteht: »Ein Kriegsgefangener hatte unseren Pfarrer darauf aufmerksam gemacht, daß es in der Gemeinde einen ’Spion’ gegen ihn gab - ich will Dir nicht sagen, um wen es sich handelt (falls Du es jedoch weißt, behalte es für dich, denn es ist schon lange her) -, und da der Pfarrer ein gescheiter Mann war, hat er sich in die Politik nicht eingemischt.« (96) Da der verbale Informationsaustausch in den Hintergrund rückte, erfolgte Kommunikation über ein anderes Zeichensystem, über »’Bewegungen, Gesten und Laute’« (97), »’‡b™ald schenkten wir dem Verhalten der anderen eine immer größere Aufmerksamkeit, um aus ihm zu lesen’« (97). Die schützende Funktion des 27 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C. H. Beck 2006, S. 23. BH 10 Book.indb 165 22.8.2008 22: 10: 29 166 Gerald Lind Dorfkollektivs wurde von der Makromacht invertiert, wobei diese Erfahrung der Diskontinuität für die Tante eine emotionale Belastung darstellt: »Da wir uns alle seit unserer Kindheit kannten«, fährt sie plötzlich heftig ‡Hervorh. G. L.™ fort, »da wir unsere Gesichtszüge, die Eigenart unserer Bewegungen kannten, da auch schon die vorgebliche Unbeteiligtheit für uns verräterisch ist, unterhielten wir uns, obwohl wir uns voreinander versteckten.« (98) Diskontinuität in Bezug auf die von der Tante narrativ vollzogene Konstruktion eines beständigen, homogenen sozialen Raumes des Dorfes wird über willfährige, denunziatorische Nazi-Spitzel ebenso lesbar wie durch jene, die sich dem Nationalsozialismus, wie die Tito-Partisanen, aktiv widersetzten - weshalb über die Partisanen ebenso wie über den Spion in der Erzählgegenwart nicht gesprochen werden soll: »’Manche der Ortsbewohner schlossen sich den Partisanen aus Überzeugung an, manche, da sie Deserteure waren, manche aber auch um des Vorteils willen. (Du wirst festgestellt haben, daß wir nicht darüber sprechen.)’« (99) Auch bereits im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Stereotype gegenüber den Menschen von »drüben«, also dem Fremden, Differenten, Anderen, spielten für die Position gegenüber den Partisanen eine Rolle: »’Die meisten Partisanen kamen noch dazu von >drüben<, daher ist es uns zusammen mit dem allgemeinen Mißtrauen doppelt schwergefallen, in ihnen eine Hilfe zu sehen.’« (99) Der selbst nationalsozialistisch vorbelastete Carl Schmitt schreibt in seiner 1963 erschienenen Theorie des Partisanen, »daß in einem vom Feinde militärisch besetzten und von Partisanen durchsetzten Gebiet keineswegs nur der Partisan riskant lebt. In dem allgemeinen Sinne von Unsicherheit und Gefahr steht die ganze Bevölkerung des Gebietes unter einem großen Risiko.« 28 Dies ist auch die Perspektive der Tante: »’Wir haben später den Partisanen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn sie brachten uns, auch wenn sie es nicht wollten, in neue Schwierigkeiten.’« (99) Und Lindner ergänzt in einer Fußnote diese Aussage, indem er sie mit der Gegenwart der Basiserzählung verknüpft und so die Kontinuität des Partisanen-Diskurses bestätigt: »Noch heute ist ’Partisan’ bei uns ein Schimpfwort, während so mancher ’ehemalige’ Nationalsozialist mit seiner Gesinnung prahlt.« (99) Der Partisan arbeitet, laut Schmitt, in »Heimlichkeit und Dunkel ‡...™, auf die er ehrlicherweise nicht verzichten kann, ohne den Raum der Irregularität zu verlieren, das heißt: ohne aufzuhören, Partisan zu sein.« 29 Deshalb war laut Tante »’unsere Wirklichkeit in eine Tages- und eine Nachtwirklichkeit gespalten. Bei Tag taten wir so, als fügten wir uns den Nationalsozialisten, nachts fügten wir uns den Partisanen’« (99). Bei der Erzählung von den Partisanen wird ein Subtext mitgeliefert, der einerseits auf in der breiten Bevölkerung gefürchtete Gebietsansprüche Titos in der Südsteiermark verweist, andererseits das ärmliche Aussehen der Partisanen, das mit ihrem »irregulären« 28 Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 4 1995, S. 33. 29 Ebenda, S. 42. BH 10 Book.indb 166 22.8.2008 22: 10: 29 »Von Politik aber verstanden wir nichts.« 167 Kampf zu tun hat, mit einem negativ konnotierten, stereotypisierten Bild des »Jugoslawen« verknüpft: »’Nach Kriegsende lagerten die von >drüben< um die Kirche. Ein Teil hatte (es war noch nicht warm), keine Schuhe, die meisten trugen Uniformen, nur manche hatten Gewehre.’« (100) Die Teilnahme von Mitgliedern des Dorfkollektivs am Widerstand der Partisanen gegen die nationalsozialistische Herrschaft macht die Konstruiertheit der Wir-Identität besonders sichtbar. Vittoria Borsò schreibt in ihrem Aufsatz Grenzen, Schwellen und andere Orte unter Berufung auf Derridas Konzept der »différance« und Homi Bhabhas Hybriditätsbegriff: Angesichts der nicht hintergehbaren Heterogenität erscheint die Vorstellung der Homogenität im Inneren als eine Abstraktion, die Praktiken der Gewalt nach sich zieht, im Versuch, das Heterogene auszustoßen. Eine solche Vorstellung ist auch eine gefährliche Fiktion, denn die Unterdrückung der Übergänge zwischen Innen und Außen kann nur Gewaltakte hervorrufen. 30 Der durch die Partisanen offenbar gewordenen »différance«, der Verunmöglichung einer klaren Trennung in Fremdes und Eigenes, und der daraus abgeleiteten Hybridität der Dorfgemeinschaft begegnete das (fiktive) Kollektiv laut Tante mit einer - durchgängiges Motiv des gesamten Zyklus - Politik des Schweigens: »Bei uns spricht niemand von dieser Zeit. Einerseits leben noch ehemalige Nationalsozialisten, andererseits noch ehemalige Partisanen. Und da wir auf engstem Raum leben, tun wir voreinander so, als wüßten wir nichts. Und da weiter jeder von nichts wissen will, glauben wir uns gegenseitig aus eigennützigen Gründen unsere Ahnungslosigkeit. (Wir tauschen seit jeher unsere Ahnungslosigkeit aus.)« (100) Tatsächlich aber ist auch die Rede vom Schweigen eine Partizipation an einem hegemonialen Diskurs, der die von Borsò angesprochene Gewaltanwendung gegenüber dem Anderen ausblenden soll. Das thematisiert die schon zitierte Aussage der Tante: »’Wir haben später den Partisanen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen’« (99), vor allem aber die in Landläufiger Tod enthaltene Erzählung »Gesucht und Gefunden« (354-361). In diesem Text wird eine Serie von gewaltsamen Toden in der Nachkriegszeit beschrieben, die Personen betrifft, die in die von der Tante in »Auf dem Schneeberg« en passant erwähnten und in »Das Ende eines Parteigängers« (322-324) geschilderten Ermordung des nationalsozialistischen Bürgermeisters durch Partisanen zu Kriegsende involviert waren. Wobei das Schweigen, zumindest im Kontext von »Kriegserlebnissen« und der Selbstdarstellung als Opfer, aber, trotz anderslautender Aussage der Tante, nur als einseitiges verstanden werden sollte, wie Gerhard Roth in Grenzland ausführt: »‡W™ährend Mitglieder des Kameradschaftsbundes offen von ihren Erleb- 30 Vittoria Borsò: Grenzen, Schwellen und andere Orte. »... La geographie doit bien être au coeur de ce dont je m’occupe«. In: Kulturelle Topographien (= M & P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung: Kulturwissenschaften). Hg. v. Vittoria Borsò u. Reinhold Görling, Stuttgart 2004, S. 13-41, hier S. 22. BH 10 Book.indb 167 22.8.2008 22: 10: 29 168 Gerald Lind nissen berichten, wagt niemand zuzugeben, daß er Partisan gewesen sei. ‡...™Bei Nachforschungen stößt man auf eine Mauer des Schweigens.« 31 Die aus verschiedenen Perspektiven erfolgende Bearbeitung der Partisanenthematik in Landläufiger Tod, auf die in diesem Aufsatz nur ansatzweise eingegangen werden konnte, kann nicht zuletzt auch als Teil des Programms des gesamten Zyklus Die Archive des Schweigens gelesen werden: nämlich essentialistische Identitätszuschreibungen zu hinterfragen und Stellung zu beziehen gegenüber den von Verdrängen und Verschweigen geprägten hegemonialen Vergangenheitsdiskursen im Österreich der 1980er Jahre, und nicht, wovon Lindners Tante nach ihrer titelgebenden Wanderung auf den Gipfel des Schneeberges träumt, »’über dem Schauen alles ‡zu™ vergessen.’« (106) 31 Zit. Anm. 19, Roth, Grenzland, S. 37-38. BH 10 Book.indb 168 22.8.2008 22: 10: 29 M ARIJAN B OBINAC (Z AGREB ) Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb Zum Versuch einer Vereinnahmung des österreichischen Klassikers im Ustascha-Staat Eines der wichtigsten Ziele, die sich die nationalsozialistische Kulturpolitik in Österreich nach dem Anschluss 1938 zur Aufgabe machte, war - wie Evelyn Deutsch-Schreiner gezeigt hat 1 - die Vereinnahmung Franz Grillparzers als eines der Eckpfeiler der Österreich-Ideologie. Die Methode, nach der man den österreichischen Nationaldichter im Kampf gegen das kulturelle und damit auch das politische Österreichertum einsetzen wollte, war bis dahin schon längst erprobt: Das Werk Grillparzers wurde nämlich als eine Art Bauchladen behandelt, aus dem genommen und verwendet wurde, was Goebbels’ Propagandaapparat gerade brauchte. Für die äußerst widersprüchliche Rezeptionsgeschichte des Wiener Dichters, deren Formen in der Vergangenheit von der Hochstilisierung zum österreichischen Nationalklassiker bis zur Herabwürdigung zu einem ‚k.u.k- Schwarzgelben’ reichten, wurde damit ein neues, in vielerlei Hinsicht merkwürdiges Kapitel eröffnet, welches - wie noch zu zeigen sein wird - Auswirkungen auch in Kroatien hatte. Die Bemühungen der NS-Propaganda um den Dichter intensivierten sich insbesondere mit der nahenden 150. Wiederkehr seines Geburtstags, aus deren Anlass im Januar 1941 eine groß angelegte Grillparzer-Woche in Wien veranstaltet wurde. Bei diesem Jubiläum haben die Nazis nicht nur die im Dritten Reich übliche Praxis verfolgt, »einen Künstler mit dem NS-Gedankengut zu verknüpfen und über ihn die Bevölkerung auf die Politik Nazideutschlands einzuschwören«. 2 Darüber hinaus musste die Wiener Veranstaltung, die vom »Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« mit beträchtlichen Mitteln gefördert wurde, auch eine andere Aufgabe erfüllen: In der neuen, von NS-Propagandaexperten verordneten Interpretation des Dichters und seines Werks, die - wie gesagt - die bestehende Verbindung von Grillparzer und Österreich delegitimieren sollte, wurde er als »Künder der deutschen Nation« hingestellt, der zeit seines Lebens unter dem »österreichischen Separatismus« gelitten und ein »Großdeutsches Reich« herbeigesehnt hätte. Grillparzer fungierte als Integrationsfigur, über die die Bevölkerung der nunmehrigen »Ostmark« emotional an das »Dritte Reich« gebunden werden sollte, um eine neue Identität 1 Deutsch-Schreiner, Evelyn: Die Österreicher und ihr Grillparzer. In: Hilde Haider-Pregler - Evelyn Deutsch- Schreiner (Hg.): Stichwort Grillparzer, Wien - Köln - Weimar 1994, S. 181-194 (im Weiteren zitiert als Deutsch-Schreiner). 2 Ebenda, S. 181. BH 10 Book.indb 169 22.8.2008 22: 10: 29 170 Marijan Bobinac als »süddeutscher Stamm« innerhalb Großdeutschlands zu bekommen. Die Bestrebungen der »Ostmärker«, nach dem Verlust ihrer politischen Eigenständigkeit sich in Berufung auf Grillparzer wenigstens eine kulturelle Sonderstellung zu sichern, sollten unterbunden werden. 3 Diese Richtlinien der Nazi-Propaganda machen sich sowohl am Spielplan der Grillparzer-Woche wie auch an der Inszenierungsweise der gezeigten Stücke bemerkbar. So wurden jene Werke des Wiener Autors aufgeführt, die »für den Österreich-Gedanken ungefährlich waren«: 4 Die Ahnfrau, Des Meeres und der Liebe Wellen, Ein treuer Diener seines Herrn und Libussa. König Ottokars Glück und Ende, das neben Ein Bruderzwist in Habsburg das bedeutendste Werk aus dem österreichischen Themenkreis des Dichters ist, durfte in Wien nicht gespielt werden; dafür brachte es aber das Linzer Theater, wo der Schwerpunkt auf der Verknüpfung Grillparzers mit dem »Ahnengau des Führers« lag: »Die Betonung, daß Grillparzers Vorfahren und Adolf Hitler aus demselben Landstrich kamen, sollte eine enge gefühlsmäßige Bindung an den ’Führer’ begünstigen.« 5 Da das Österreich-Thema bei der Grillparzer-Woche völlig herausgestrichen wurde, konnte sich die NS-Propaganda umso mehr auf die ideologische Ausrichtung der Stücke konzentrieren. Die Trilogie Das goldene Vließ, insbesondere ihr dritter Teil Medea, wurde so als »Rassentragödie« interpretiert, in der der »Herrenmensch« Jason der »dämonischen Barbarin« Medea entgegengesetzt werde. 6 Ein treuer Diener seines Herrn wurde wiederum, wie die für die Grillparzer-Woche einstudierte Inszenierung des Deutschen Volkstheaters zeigt, auf die »Verherrlichung der ‚Mannestreue um jeden Preis’« reduziert, wobei der Hauptheld Bancban »als idealer Staatsbürger des Dritten Reichs« gezeigt wurde. Gespielt wurde »im Stil einer germanischen Volkssage«, mit »gemessene‡n™, schwere‡n™ Bewegungen« und mit »große‡r™, pathetische‡r™ Gestik«, das Bühnenbild war »düster und monumental« und erinnerte »an deutsche mittelalterliche Wehrburgen«. 7 Der große kulturpolitische Aufwand, mit dem die Grillparzer-Feiern in der Ostmark betrieben wurden, ließ in den gleichgeschalteten Medien zweifellos auch die Frage nach ihrer Resonanz im benachbarten Ausland entstehen. Dass man über die Nichtbeachtung des Jubiläums in Kroatien besonders irritiert war, zeigt ein Artikel der Grazer Zeitung Tagespost vom 22. Januar 1941, den die Zagreber deutschsprachige Tageszeitung Morgenblatt zwei Tage später kommentarlos nachdruckte. »Während zum 125. Geburtstag Franz Grillparzers die ’Medea’ im Agramer Nationaltheater aufgeführt worden war«, moniert die Grazer Tageszeitung, »ist der 150. Geburtstag des größten deutschen Dichters nach Goethe und 3 Ebenda. 4 Ebenda. 5 Ebenda, S. 182. 6 Ebenda, S. 187. 7 Ebenda, S. 182 f. BH 10 Book.indb 170 22.8.2008 22: 10: 29 Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb 171 Schiller in der Hauptstadt Kroatiens, das der deutschen Kultur so viel verdankt, unbeachtet geblieben.« 8 Dass das Grillparzer-Jubiläum des Kriegsjahres 1916 unter völlig anderen Bedingungen verlief, dass die damalige kroatische Kulturpolitik des bedeutendsten Klassikers des gemeinsamen Vielvölkerstaates mit der Wiederaufnahme einer - übrigens durchaus gelungenen - Medea-Inszenierung gedachte und dass die kroatischen Theaterleute nach dem Zerfall der Monarchie, v. a. im Einklang mit den kulturpolitischen Prioritäten des neuen südslawischen Staates, einen großen Bogen um Grillparzer machten, erwähnt der anonyme Verfasser des Aufsatzes in der Tagespost nicht. Wie er sich eine würdige Begehung des Grillparzer-Jubiläums vorstellen könnte, zeigt sein Hinweis auf die Neuinterpretation des Dichters im nationalsozialistischen Sinne, mit dem er Grillparzers Medea auf die Behandlung des ’Rassenproblems’ reduziert. Ende Januar 1941 konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die kroatische Kulturelite des Grillparzer-Jubiläums nachträglich - und zwar mit großem Pomp und in einem völlig anderen ideologischen Rahmen - gedenken wird. Nur fünf Monate später haben nämlich Kulturfunktionäre des inzwischen begründeten Unabhängigen Staates Kroatien als den ersten öffentlichen Festakt, mit dem das Ustascha-Regime seine Orientierung an den kulturpolitischen Richtlinien des Dritten Reiches unter Beweis stellen wollte, eben eine große Grillparzer- Feier veranstaltet, die nicht nur Auskunft über die Rezeption des Dichters gibt, sondern darüber hinaus auch auf die Strategien der neuen Machthaber bei der Reglementierung des kollektiven Gedächtnisses hinweist. Im Folgenden soll eingehender auf diese Gedächtnisfeier eingegangen sowie deren kulturpolitische Voraussetzungen beleuchtet werden. Die knappen Angaben, die bisher zur Rezeption Grillparzers in Kroatien gemacht wurden, lassen auf ein gespanntes, ja ambivalentes Verhältnis zum österreichischen Klassiker, darüber hinaus aber auch zum deutschsprachigen Dramenrepertoire überhaupt schließen. In der Tat - bereits seit 1860, dem Jahre, in dem die traditionsreichen Vorstellungen deutschsprachiger Schauspielertruppen eingestellt und der exklusiv kroatischsprachige Spielplan im Zagreber Theater eingeführt wurde, wurden der Leitung der neuen Nationalbühne Vorwürfe wegen eines angeblich unverhältnismäßig hohen Anteils an übersetzten deutschsprachigen Stücken gemacht. Insbesondere wurde dabei die Vorliebe der Theaterleitung für leicht spielbare und publikumswirksame deutschsprachige Unterhaltungsstücke, v. a. für die Produkte der Wiener Vorstadtdramatiker wie Nestroy kritisiert. 9 Nachdem es am Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhun- 8 Grillparzer und Kroatien, Morgenblatt, 24. 1. 1941. Über die Grillparzerwoche in Wien berichtete allerdings die Zagreber Tageszeitung Obzor schon am 17. Januar 1941. Unter Berufung auf die Presseagentur DNB schreibt das Blatt, die Feiern werden »unter Schirmherrschaft des Statthalters Baldur von Schirach« stattfinden. Der festlichen Aufführung der Ahnfrau im Burgtheater am Tag davor sollen »zahlreiche führende Persönlichkeiten aus der Partei, dem Staatsapparat und Militär« beigewohnt haben. 9 Vgl. Bobinac, Marijan: Wir sind keine Verehrer der Wiener Posse. Zur Rolle der Wiener Volkstheatertexte in den Anfängen des Kroatischen Nationaltheaters. In: Ders. (Hg.): Porträts und Konstellationen 1 (= Zagreber Germanistische Beiträge, Beiheft 6), Zagreb 2001, S. 19-53. Zum deutschsprachigen Repertoire des BH 10 Book.indb 171 22.8.2008 22: 10: 29 172 Marijan Bobinac derts zum Generationswechsel an der Spitze der Zagreber Bühne kam und der Streit um die Wiener Posse allmählich in Vergessenheit geriet, begannen sich seit dem Anfang der siebziger Jahre Unstimmigkeiten über den Status Franz Grillparzers im kroatischen Theater zu artikulieren. Dabei ging es allerdings um keine öffentlich ausgetragenen Polemiken, in denen Befürworter bzw. Gegner des Wiener Dichters ihre Positionen klar zum Vorschein gebracht hätten. Im Gegenteil: Für Gegner, zu denen auch einige prominente kroatische Intellektuelle zählten, galt Grillparzer als ein Dramatiker zweiten oder dritten Ranges und darüber hinaus auch als ein österreichischer Zentralist, der die schwierige Lage kleinerer Nationen der Donaumonarchie völlig ignoriert hätte. Dieser Betrachtungsweise, die die - allerdings einseitig interpretierte - politische Relevanz des Grillparzer’schen Werks in den Vordergrund rückte, konnte man noch davor bei Tschechen und Ungarn begegnen, jenen Völkern des Habsburger Reiches also, aus deren Nationalgeschichte der Wiener Dichter Stoffe für seine Bühnenwerke nahm. 10 Die Unstimmigkeiten und Widersprüche, die sich in Grillparzers Verhältnis zu nichtdeutschen Völkern der Monarchie bemerkbar machen, sind in der Unschlüssigkeit des Dichters zu suchen, wie man auf die auseinanderstrebenden Tendenzen bei Ungarn, Tschechen und anderen Nationen reagieren sollte. Grillparzer selber plädierte für »ein erwünschtes Zusammenwachsen dieser Völker mit historischen Argumenten, die ein notwendiges Zusammengehen mit Beispielen aus der Vergangenheit demonstrieren sollten«. 11 Statt auf eine freundliche Aufnahme, die - so die Erwartung Grillparzers - das Nachdenken über die gemeinsame jahrhundertlange Geschichte und eine friedliche Konfliktlösung bewegen könnte, stießen die Werke aus dem österreichischen Themenkreis bei Ungarn und Tschechen eher auf Missstimmung und Unverständnis. So erstaunt es nicht, dass sich die neojosephinischen Ideen Grillparzers, die die Aufrechterhaltung einer reformierten, übernationalen Monarchie, allerdings mit der führenden Rolle des deutschsprachigen Teiles vorsahen, mit den zentrifugalen nationalstaatlichen Ideen anderssprachiger Völker nicht versöhnen ließen. Den politisch inspirierten Grillparzer-Interpretationen, die in Kroatien aus verschiedenen ideologischen Lagern kamen und sich auch im 20. Jahrhundert hartnäckig aufrechterhalten konnten, haben die Befürworter des Wiener Dichters einige bedeutende Inszenierungen seiner Dramen im Zagreber Theater, allerdings nur in der Zeit bis 1918, entgegensetzen können. Dass sich aber die Intendanten trotzdem von Argumenten der Grillparzer-Gegner beeindrucken lie- Kroatischen Nationaltheaters vgl.: Milka Car: Unheimliche Nachbarschaften. Der österreichische Einfluß auf die Entwicklung des kroatischen Theaters 1840-1918. In: Wolfgang Müller-Funk u. a. (Hg.): Kakanien revisited, Tübingen - Basel 2002, S. 211-221. 10 Vgl. Hyr{lová, Kveˇta: Grillparzer und Böhmen. Versuch einer Neubewertung. In: Bernard Denscher - Walter Obermaier (Hg.): Grillparzer oder Die Wirklichkeit der Wirklichkeit, Wien 1991, S. 90-95; Antal Mádl: Grillparzer in Ungarn. In: Denscher - Obermaier (Hg.): Grillparzer oder Die Wirklichkeit der Wirklichkeit, Wien 1991, S. 96-104. 11 Zit. Anm. 10, Mádl, Grillparzer in Ungarn, S. 96. BH 10 Book.indb 172 22.8.2008 22: 10: 29 Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb 173 ßen, sieht man daran, dass sie auf den Spielplan ausschließlich Stücke aus dem griechisch-antiken Themenkreis setzten und andere, namentlich die so genannten Herrscherdramen, die auf Stoffen aus der Geschichte Österreichs und seiner Kronländer beruhen, nie zur Aufführung brachten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden auf kroatischen Bühnen keine Dramen Grillparzers gespielt, ein Umstand, der zweifellos auch mit der veränderten politischen Lage nach der Gründung des südslawischen Königreichs zusammenhing. In den Kultureliten, deren Abneigung gegen die kulturelle Dominanz der Deutschösterreicher und Magyaren nun einen Höhepunkt erreichte, setzte sich offensichtlich die Auffassung durch, dass es für einen Dramatiker, den man, wenn nicht für Apologeten, so doch für klassischen Dichter Alt-Österreichs hielt, keinen Platz auf kroatischen Spielplänen geben sollte. Einen entsprechenden Beschluss hat selbstverständlich keine Instanz getroffen; dass es aber einen stillschweigenden Konsens in dieser Sache gegeben hat, ist freilich nicht zu übersehen. Obwohl viele kroatische Theaterleute immer noch gut über Grillparzer informiert waren, wurde die Pflege seines Werkes in Kroatien nach 1918 ausschließlich der deutschsprachigen Publizistik, die allerdings nur bis 1945 existierte, und der Germanistik überlassen. (Hervorzuheben wäre dabei, dass Zdenko [kreb, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein modernes Germanistikstudium in Zagreb aufgebaut hat, als Grillparzer-Forscher internationale Anerkennung fand.) 12 Die deutschsprachige Tageszeitung Morgenblatt, ein liberal orientiertes Organ mit langer Tradition, brachte schon Mitte Januar 1941 eine ausführliche Würdigung des Wiener Dichters aus Anlass seines 150. Geburtstags, 13 ein Umstand, der die Vorwürfe der Grazer Tagespost, in Kroatien habe man das Grillparzer-Jubiläum verschwiegen, einigermaßen korrigiert. Liest man jedoch den Artikel im Morgenblatt genauer, so wird ein Tonfall vernehmbar, der sich von jenem in früheren Würdigungen des Dichters unterscheidet. Die veränderte Schreibweise, die auch die Lektüre zahlreicher anderer Aufsätze in der zeitgenössischen Zagreber Presse verrät, steht zweifellos im Zusammenhang mit der gespannten politischen Lage wenige Wochen vor dem gemeinsamen deutsch-italienischen Übergriff auf das Königreich Jugoslawien und der Installierung eines faschistischen Regimes in Zagreb. Kroatische Zeitungen, die früher kritisch über den Faschismus geschrieben haben, begnügen sich nun mit kommentarloser Berichterstattung über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Obwohl der Grillparzer-Artikel des Morgenblatts keineswegs nach den Richtlinien der NS-Propaganda verfasst ist, wird darin der österreichische Hintergrund des Jubilars und seines Schaffens 12 Über einige Aspekte der Grillparzer-Rezeption in Kroatien vgl. auch: [kreb, Zdenko: Grillparzer in Jugoslawien in unserem Jahrhundert. In: Grillparzer-Festschrift der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1972, S. 181-191; Gli{ovi}, Du{an: Ein untreuer Nachahmer seines Vorbildes. In: Haider-Pregler, Hilde - Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): »Stichwort Grillparzer«, Wien - Köln - Weimar 1994, S. 133-139; Dragutin Horvat: Der Fall Grillparzer. In: Ders.: Österreichische Literatur in Kroatien, Zagreb 2000, S. 22-30. 13 A. H.: Franz Grillparzer zu seinem 150. Geburtstag, Morgenblatt, 14. 1. 1941. BH 10 Book.indb 173 22.8.2008 22: 10: 29 174 Marijan Bobinac trotzdem völlig ausgespart. Ohne auch nur irgendwie auf die politische Funktionalisierung der Klassiker im Dritten Reich einzugehen, stimmt der Verfasser zum Schluss seines Aufsatzes in den Ton einer substanzlosen Grillparzer-Verehrung ein: »So werden denn auch diese Woche von den deutschen Bühnen Grillparzers Verse erklingen und die gequälte Menschheit aus den Niederungen des alltäglichen Lebens in höhere, lichtere Sphären führen.« Denn: »Die Nachwelt hat die Verfehlungen seiner ‡d. h. Grillparzers™ Zeitgenossen gutgemacht. Sie hat den Vergessenen wieder ans Licht des Tages gebracht und ihm einen gebührenden Platz unter den Großen der deutschen Literatur gegeben. Der 150. Geburtstag umstrahlt den Dichter mit hellem Sonnenglanz.« 14 Auch im Begleittext, der Grillparzers Verhältnis zu Kroatien und Kroaten zum Thema hat, wird nicht daran gerüttelt, dass der Jubilar zum Kanon der Weltliteratur gehört. Vermerkt wird allerdings, dass in seinen Dramen »Tschechen und Oesterreicher, Deutsche und Franzosen, Spanier und Engländer, Ungarn und Griechen ‡…™ zu Wort ‡kommen™, niemals ein Kroate«. Dies verwundert aber nicht, setzt der Verfasser des Beitrags fort, da Grillparzer »den Bestrebungen der slawischen Völker der Donaumonarchie stets fremd, ja abgeneigt gegenübergestanden ‡ist™. Er war, wie zahlreiche seiner Epigramme erkennen lassen, österreichischer Zentralist und hat gegen den großen tschechischen Historiker Palacky in einem sehr temperamentvollen Aufsatz (1849) den Vorwurf der ’Slawomanie’ erhoben.« 15 Die alten, häufig erhobenen Vorwürfe, wie sie früher von nationalliberalen Intellektuellen wie Franjo Markovi} oder später von marxistisch orientierten Intellektuellen wie Miroslav Krle`a gegen Grillparzer erhoben wurden, werden jedoch hier nicht weiter entfaltet. Zum Schluss weist der Verfasser auf zwei Stellen hin, an denen der Wiener Dichter für die Kroaten das Wort ergriffen habe: In einer Abhandlung aus dem Jahre 1840 soll er auf die Versuche der Ungarn aufmerksam gemacht haben, den Slawen die magyarische Sprache aufdringen zu wollen, und neun Jahre später, als dem Banus Jela~i} als Ehrengeschenk der Armee ein silberner Schild überbracht wurde, habe er ein längeres Gedicht unter dem Titel Dem Banus zu der Gabe geschrieben. Indem Grillparzer den Mann, »dem keiner sich vergleicht«, als dem »Stamme treu« bezeichnete, der ihn geboren hatte, so habe er - glaubt der Verfasser des Aufsatzes - »in seinem Banus auch das kroatische Volk geehrt«. 16 Dieses Gelegenheitsgedicht wird - wovon noch die Rede sein wird - eine wichtige Rolle auch bei der Zagreber Würdigung Grillparzers im Frühjahr 1941 spielen. Der große propagandistische Stellenwert des Wiener Dichters in der Ostmark muss auch bei Entscheidung der Ustascha-Propaganda maßgebend gewesen sein, die erste große kulturpolitische Veranstaltung, die die Verbundenheit des neuen Kroatien mit dem Nazi-Deutschland bekunden sollte, gerade Grillparzer 14 Ebenda. 15 J. A. K.: Grillparzer und Kroatien, Morgenblatt, 14. 1. 1941. 16 Ebenda. BH 10 Book.indb 174 22.8.2008 22: 10: 29 Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb 175 zu widmen. Eine bestimmte Rolle wird dabei sicherlich auch der bittere Nachgeschmack gespielt haben, den die Vorwürfe aus der Ostmark wegen der Nichtbeachtung des Jubiläums in Kroatien hinterlassen haben. Mit dem nachgeholten Fest wollten sich die neuen Kulturträger auch von alten Eliten distanzieren, die - wie die gleichgeschaltete Presse des Ustascha-Staates mehrmals betonte - »bei den früheren anglophilen, unter jüdischem Einfluß stehenden Machthabern anzustoßen fürchtete‡n™«. 17 Doch bei der Zagreber Grillparzer-Feier ging es vordergründig nicht nur darum, »ein schweres Versäumnis der früher im kroatischen Kulturleben führenden Männer wett‡zu™mach‡en™«. 18 Dass die mediale Kampagne auch einen Beitrag zur Begründung einer neuen kollektiven Identität der Kroaten leisten sollte, sieht man an der Auswahl der Ideologeme, mit denen man die Wiederbelebung Grillparzers in Kroatien erzielen wollte, Ideologeme, die v. a. völkischen und biologistischen Ursprungs waren. Gerade diese Werte - wie die Bemühungen der Ustascha-Propaganda um Grillparzer zeigen - sollten bei der Neukonstitution der kroatischen Identität eine zentrale Rolle spielen. Der erste längere Aufsatz zum Grillparzer-Jubiläum, in dem zugleich ein »Grillparzerjahr in Kroatien« angekündigt wurde, erschien bereits Mitte Mai 1941, 19 nur wenige Wochen nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und der Ausrufung des Unabhängigen Staates Kroatien. Über den Charakter des unter Hitlers und Mussolinis Auspizien entstandenen Staates konnte schon damals kein Zweifel bestehen: Die sowieso defizitären demokratischen Institute des Königreichs Jugoslawien, das seit dem Ende der zwanziger Jahre autoritär regiert wurde, hat die Ustascha-Bewegung sofort ausgeschaltet und im gleichen Zuge ein totalitäres faschistisches Regime nach dem Führerprinzip eingeführt. Wie treu sie dabei dem Vorbild des Dritten Reiches folgte, sieht man auch daran, dass zu ihren ersten Maßnahmen die Verabschiedung von Rassengesetzen sowie die massive Durchführung von Repressalien gegen Juden, Serben, Roma und politische Gegner unter Kroaten gehörten. Die neue Presselandschaft, die auf den Trümmern der alten entstanden ist und völlig in den Dienst der neuen Machthaber gesetzt wurde, war auf ihren Feuilletonseiten nicht nur um die Förderung und Vermittlung von deutsch-kroatischen Kulturbeziehungen bemüht, sondern folgte - wie der Fall Grillparzer zeigt - auch den Vorgaben der kulturpolitischen Propaganda des Goebbels’schen Ministeriums. In den meisten Texten, die anlässlich des Grillparzer-Jubiläums in der Zagreber Presse veröffentlicht bzw. als Reden bei der Morgenfeier zu Ehren des Dichters im Zagreber Nationaltheater am 22. Juni 1941 gehalten wurden, treten nämlich die Hauptakzente der nationalsozialistischen Grillparzer-Interpretation mit aller Deutlichkeit ans Licht. 17 Doch noch Grillparzerfeier in Agram, Deutsche Zeitung in Kroatien, 15. 5. 1941. 18 A. S. ‡Antun Sedlar™: Die Grillparzerfeier unter dem Ehrenschutz des Doglavnik Dr. Budak, Deutsche Zeitung in Kroatien, 18. 6. 1941. 19 A. S. ‡Antun Sedlar™: Grillparzers Gedicht »Dem Banus«. Ein Beitrag zum Grillparzerjahr in Kroatien, Deutsche Zeitung in Kroatien, 16. 5. 1941. BH 10 Book.indb 175 22.8.2008 22: 10: 29 176 Marijan Bobinac Tonangebend war dabei ein junger Germanist namens Antun Sedlar (1914-? ), der damalige Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zagreb. (Es ist nicht zu übersehen, dass sich Zdenko [kreb, der schon 1931 seine Grillparzer- Dissertation verteidigt hatte und in der ersten Hälfte der vierziger Jahre als Honorarlehrer an der Zagreber Germanistik tätig war, mit keinem Beitrag an der Würdigung des Dichters unter der Schirmherrschaft der Ustascha beteiligte.) Aus Sedlars Feder stammt auch der oben genannte erste Artikel, der als eine Art Auftakt zu den geplanten Grillparzer-Festivitäten in der Deutschen Zeitung in Kroatien, einem gleichgeschalteten deutschsprachigen Tagesblatt, erschienen ist. Die Ausführungen des Verfassers, der seine Begeisterung über die neuen Verhältnisse in Kroatien keineswegs verheimlicht, konzentrieren sich hauptsächlich auf zwei Aspekte: Auf der einen Seite sucht er ein der Nazi-Propaganda angeglichenes Grillparzer-Bild zu entwerfen, auf der anderen ist er wiederum um eine, den Vorgaben der Ustascha-Propaganda entsprechende Deutung des Gelegenheitsgedichts über den Banus Jela~i} bemüht. Die neuen Ansätze werden gleich zu Beginn des Beitrags herausgestrichen: Franz Grillparzer wird in diesem seinen Jubiläumsjahr, wie so mancher Große im ewigen Reiche des Geistes bei ähnlicher Gelegenheit, in vieler Hinsicht aufs neue entdeckt und unerwartet neu und zum brennenden Tagesgeschehen beziehungsreich erlebt. Der Träger des Reichsgedankens, den er als betont politischer Dichter bei jeder Gelegenheit unterstreicht und feiert, der Dramatiker der Rassentragik erscheint uns jünger und zur Führung berufener als je. 20 Mit keinem Worte wird im Aufsatz das Habsburger Reich erwähnt, für dessen Aufrechterhaltung Grillparzer plädierte und für dessen Rettung Jela~i} ins Feld zog; stattdessen werden der Dichter und der von ihm besungene Feldherr als Verfechter eines nicht genauer bezeichneten »Reiches im europaumfassenden Sinne« evoziert, eines Reiches, an dessen »Hofzaun« Jela~i} gestanden und auch 1848 »in entscheidender Stunde für Ruhe und Ordnung im südosteuropäischen Raum rettend im Kampfe erschienen« wäre. Wenn Sedlar in Grillparzers Huldigungsgedicht v. a. »die Gedanken über die Aufgaben der Führer der einzelnen Teile des Reiches im Reichsganzen« hervorhebt, so schwingen darin sicherlich auch Andeutungen mit, die sich auf die vermeintliche Schlüsselrolle Kroatiens als einer regionalen Macht unter der Schirmherrschaft des Deutschen Reiches, einem wichtigen Anliegen der Ustascha, beziehen. Zwischen den Zeilen wird ebenso suggeriert, dass eine ähnliche Rolle wie Jela~i}, mit dessen Person sich im kollektiven Gedächtnis der Kroaten seit Jahrzehnten die Hoffnung auf nationale Emanzipation verknüpfte, dem neuen kroatischen Führer Ante Paveli} zuteil werden sollte. In einer weiteren Würdigung des Dichters sucht Sedlar seiner nationalsozialistisch inspirierten Grillparzer-Interpretation einige weitere Akzente hinzuzufü- 20 Ebenda. BH 10 Book.indb 176 22.8.2008 22: 10: 29 Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb 177 gen. Auch hier kommt die Distanz zu den beiden älteren Deutungen des Dichters und seines Werkes unmissverständlich zur Sprache - zu jener österreichfreundlichen wie auch zu jener antihabsburgischen Interpretation, die Grillparzer seine angeblich slawenfeindlichen Ansichten verübelte. Dass von dieser letzteren übrigens nicht mehr die Rede sein durfte, geht schon aus einem der Grundsätze der Rassenlehre der Ustascha-Bewegung hervor, wonach die slawische Herkunft der Kroaten strikt abgelehnt und deren ethnische Individualität und Exklusivität betont wird. Die Aktualität Grillparzers und die Argumente für dessen »Wiedergeburt« sucht Sedlar auch hier in einigen wichtigen Elementen der nationalsozialistischen Ideologie auszuloten: in der Reichsidee (Grillparzer als »Künder eines Reiches im europaumfassenden Sinne«), in der Idee des Führers und seiner gehorsamen Gefolgschaft (die These sucht er mit Libussas Traum von »einer neuen Harmonie in der Gleichberechtigung der Gemeinschaft unter einer kundigen Führerschaft« zu bekräftigen), in der Idee der Herrenrasse (Grillparzer als »Dichter der Rassentragik, der in der Trilogie Das goldene Vließ erbarmungslos auf die Folgen der Rassenunterschiede hinweist«). 21 Der Methode der Nazi-Propaganda folgend geht Sedlar hier so weit, dass er Grillparzer »in seinen augenscheinlich dichterisch zarten, fürwahr aber mit dichterischem Erkennen und Erleben gestärkten Händen den Banner der neuen Wahrheit wieder halten« 22 sieht. Es wird wohl kein Zufall gewesen sein, dass bei der Grillparzerfeier, die im Großen Haus des Kroatischen Staatstheaters am Erscheinungstag von Sedlars Aufsatz, am 22. Juni 1941, stattgefunden hat, gerade Der Gastfreund, der erste Teil der Trilogie Das goldene Vließ, gegeben wurde. Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die nationalsozialistische Germanistik am Beispiel des Konflikts zwischen Griechen und Kolchern, der in diesem Werk zum Vorschein kommt, eine Vorwegnahme der faschistischen Rassentheorie festzumachen glaubte. Wie hoch die neue kroatische Kulturpolitik die Morgenfeier, die vom Kroatischen Staatstheater und von der Zagreber Deutschen Akademie veranstaltet wurde, einschätzte, zeigt auch der Umstand, dass sich am Begleitprogramm führende kroatische Künstler jener Zeit beteiligt haben. Der dramatische Teil des festlichen Programms wurde so von der Zagreber Schauspielschule unter der Leitung Branko Gavellas, des bedeutendsten kroatischen Theaterregisseurs des 20. Jahrhunderts, bestritten, während für die musikalische Umrahmung der Feier der größte kroatische Dirigent Lovro Mata~i} an der Spitze des Opernorchesters sorgte. 23 Auch die höchste politische Schirmherrschaft blieb nicht aus: Den Eh- 21 Sedlar, Antun: Franz Grillparzer. Uz 150-godi{njicu njegova rodjenja, Hrvatski narod, 22.6.1941. Dieses wie auch andere Zitate aus dem Kroatischen wurden vom Vf. ins Deutsche übersetzt. 22 Ebenda. 23 Vgl. das Programm der Morgenfeier in: Stjepan Tropsch: Franz Grillparzer. Sonderdruck, Zagreb 1941 (der Sonderdruck enthält auch einen Grillparzer-Aufsatz des Zagreber Germanistikprofessors Tropsch in deutscher und kroatischer Fassung). BH 10 Book.indb 177 22.8.2008 22: 10: 29 178 Marijan Bobinac renschutz der Grillparzerfeier, wie Sedlar in der Deutschen Zeitung in Kroatien ankündigte, übernahm der engste Mitarbeiter des Ustascha-Führers Paveli}, nämlich Unterrichtsminister Mile Budak, der bis 1941 v. a. als Autor einer Reihe von Blut- und Boden-Erzählwerken und als einer der führenden rechtsextremistischen Politiker bekannt war. Mit der »würdig gestalteten Morgenfeier«, wie Sedlar zwei Tage später in der Deutschen Zeitung berichtete, habe »das kulturelle Agram und mit ihm die kroatische Öffentlichkeit das Andenken des größten Dichters der deutschen Ostmark« geehrt (und damit offenbar auch jenes ’schwere Versäumnis’ der früheren kroatischen Kulturelite ausgeglichen): »Vor einem festlich gestimmten Publikum, in dem die Spitzen des gesamten geistigen Lebens Kroatiens vertreten waren, sprachen das Wort des Forschers, die gewaltige Tonsprache Beethovens und schließlich das von sich selbst zeugende Wort des Dichters von der Größe und geistigen Macht des Gefeierten.« 24 In seiner Ansprache wies der Leiter der Deutschen Akademie in Zagreb Alois König darauf hin, dass bei der »Vertiefung der kulturellen Beziehungen zwischen dem neuen Kroatien und dem Reich gerade die Jugend durch Aufführung eines Grillparzerstückes das Wort führen dürfe, und sprach dann den Wunsch aus, daß auch in Zukunft die Jugend beider Völker sich immer wieder aufs neue im geistigen Reiche ihrer Helden, Dichter und Denker finden möge«. 25 Für den Höhepunkt der Morgenfeier sorgte die deutsche Seite: Die Festrede hielt nämlich der bekannte Münchner Germanistikprofessor Herbert Cysarz, der als NSDAP-Mitglied häufig in kulturpolitische Missionen ins Ausland ging und dabei als Repräsentant und Kämpfer für das ’neue Großdeutschland’ auftrat. 26 Wie Sedlar in seinem Bericht notiert, habe Cysarz »in wunderbarer rednerischer Gestaltung von edelster Begeisterung getragen ‡…™ den Dichter ‡gefeiert™ und ‡…™ sein Wesen und Wirken mit dem Lichte eines tiefsten zeitgemäßen Erlebens« beleuchtet. Welche Momente im Grillparzer’schen Schaffen vom nationalsozialistisch gesinnten Germanisten, dessen Worte laut Sedlar »unvergeßlichen Eindruck« hinterließen, herausgestrichen wurden, kann man in der kroatischen Übersetzung des prompt in der Zeitschrift Hrvatska revija erschienenen Vortrags nachlesen. Unheimlich wirken schon die einführenden Zeilen des Textes, in de- 24 A. S. ‡Antun Sedlar™: Dem Gedächtnis Franz Grillparzers. Die Morgenfeier im Grossen Haus des Kroatischen Staatstheaters, Deutsche Zeitung in Kroatien, 24. 6. 1941. 25 Solche und ähnliche Wünsche nach einer Vertiefung der angeblich stark vernachlässigten deutschkroatischen Kulturbeziehungen wurden in der Zeit nach der Machtergreifung durch die Ustascha häufig geäußert: Der neue Intendant des Zagreber Nationaltheaters Du{an @anko hat so in einem Gespräch für die Deutsche Zeitung in Kroatien hervorgehoben, dass »das klassische Repertoire neu aufgebaut« werden sollte, wobei - wie er hinzufügte - schon »besondere Beauftragte ‡…™ daran ‡arbeiten™, daß das bisher vollkommen vernachlässigte neue deutsche Drama zu voller Geltung komme. Die Beziehungen zum deutschen Theater sollen überhaupt allseits vertieft werden.« (Deutsche Zeitung in Kroatien, 8. 5. 1941) 26 Der v. a. als Barockforscher geschätzte Cysarz konnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in sein Lehramt zurückkehren. Zu Cysarz vgl.: Bonk, Magdalena: Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität am Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, Berlin 1995, S. 290-321. BH 10 Book.indb 178 22.8.2008 22: 10: 29 Die Grillparzer-Feier 1941 in Zagreb 179 nen der Münchner Professor die Aufgaben des nicht näher bestimmten Kollektivs evoziert: »In diesen Tagen, als wir, die weder etwas besitzen noch besitzen wollen, nicht um Besitz, sondern um die Freiheit unserer Entwicklung kämpfen, als wir endlich und für immer die Möglichkeit unserer Entwicklung sichern wollen, kann uns etwas nicht begeistern, was nicht in sich und immer einen neuen Beginn enthält.« 27 Obwohl der Sudetendeutsche Cysarz, der in Wien studierte und seine akademische Laufbahn in Prag begann, Grillparzers Werk und Lebensumstände genau kennen musste, reiht er sich mit seinem Aufsatz nahtlos in die Kampagne der NS-Propaganda. Indem er nämlich Grillparzer zugleich als einen Autor betrachtet, der entschieden mit dem Provinzialismus abrechnete und sich für die einheitliche deutsche Literatur, so auch für die deutsche staatliche Einheit einsetzte, verlässt er den Boden der Literaturgeschichte und geht in eine aktuell-politische Tirade über. Die Voraussetzung für die Verwirklichung »internationaler Aufgaben« des Reiches - so Cysarz - sei die nationalstaatliche Einheit Deutschlands; denn das Deutsche Reich werde »der zukünftigen europäischen Völkerordnung seine geistigen und vollziehenden Kräfte zur Verfügung stellen« und dabei »mit jungen Nationen, die nach dem gleichen Ziele streben«, eng zusammenarbeiten. Mit ’jungen Nationen’ spielt er offensichtlich auch auf das faschistische Kroatien an, welches als einer der Verbündeten Hitler-Deutschlands für die Herstellung der ’neuen Ordnung’ kämpfen sollte. Und damit kommt Cysarz auch zur Rechtfertigung des Krieges, der gerade am Tage der Zagreber Grillparzerfeier mit dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion weiter eskalierte: »Für beides, für jene Einheit und für diese Völkerordnung, wird auch dieser Krieg geführt. Und beides«, setzt der Germanistikprofessor fort, »vertreten und für beides kämpfen seit immer auch diese großen Vertreter unserer Dichtung, wofür wir ihnen heute dankbar sind.« 28 Grillparzer selbst - so Cysarz - soll am Ende seines Lebens all das, »was er bis dahin im alten Österreich suchte und nicht fand, auf Großdeutschland« übertragen haben, eine Aufgabe, die natürlich auch für Kroatien aktuell sei: Die Aufgabe Deutschlands bestehe nämlich darin, »in der Gemeinschaft mit allen, die im gleichen Maße verantwortlich sind, für die Ordnung in Mitteleuropa zu sorgen, das in seinen breiteren Grenzen auch den Osten und Südosten umfasst, die Ordnung zwischen den Völkern aufzubauen ‡…™«. Und an dieser Neuordnung Europas, der Cysarz unter Berufung auf die Verse aus dem Jela~i}-Gedicht Grillparzers - »dem Stamme treu, der ihn gebar« - auch einen poetischen Schleier zu verleihen sucht, werden nur diejenigen teilhaben, die »aus ihren Wurzeln heraus ohne Hindernisse das entwickeln, was allen als Rettung dienen wird«. Daraus geht für den Münchner Germanisten eindeutig hervor, dass »jene Idee Alt-Österreichs, die in sich eine Lebenskraft besaß, auf das Großdeutsche Reich übergan- 27 Cysarz, Herbert: Pjesnik staroga Be~a, Hrvatska revija, 9/ 1941, S. 451-456, hier S. 451. 28 Ebenda, S. 454. BH 10 Book.indb 179 22.8.2008 22: 10: 30 180 Marijan Bobinac gen ist; jetzt übt unser Reich jene Pflicht aus, die dem Doppeladler schon seit langem entgangen ist; und dies ist die Pflicht, das Recht auf Leben und Freiheit jeden Volkes zu schützen ‡…™.« 29 Die pompöse ‚Morgenfeier’, die vordergründig der Dichtkunst gewidmet war, wurde so zum Politikum. Was sie an den Tag legte, ging nicht über assoziative, aneinander gereihte, in sich widersprüchliche Aspekte einer Neudeutung Grillparzers bei Cysarz und seinem Epigonen Sedlar hinaus. Die Erinnerung an Grillparzer, wie hier zu zeigen versucht wurde, war aufs Engste mit den Bemühungen der Ustascha-Bewegung um die Stiftung und Stabilisierung einer neuen, im völkischen Sinne begründeten kroatischen Nationalidentität verbunden. Für eine Wiedererweckung des Interesses für Grillparzer im kroatischen Theater, die die Veranstalter für ihr primäres Anliegen erklärt haben, wurde nichts getan. Weder in den nächsten vier Jahren noch danach wurden die Dramen des österreichischen Dichters auf kroatische Bühnen gebracht. Angesichts der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Grillparzer’schen Werks, die das humanistische Gedankengut des Dichters völlig aushöhlte, wäre ein anderes Ergebnis der Zagreber Feier am 22. Juni 1941 auch nicht zu erwarten. Der Tag, an dem man in Zagreb Grillparzer im faschistischen Gewande zu reaktualisieren suchte, ging allerdings durch ein anderes Ereignis in die kroatische Geschichte ein. Im 50 Kilometer entfernten Sisak wurde nämlich am gleichen Tage die erste kroatische Partisaneneinheit von einer lokalen Kommunistengruppe gegründet. Wenige Wochen danach entflammte sich ein breiter Volksaufstand gegen den Ustascha-Staat. Der Umstand jedoch, dass die massive, kommunistisch dominierte Widerstandsbewegung nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs die Macht an sich riss und ein autoritäres Regime in Kroatien und Jugoslawien proklamierte, eröffnete ein weiteres Kapitel im Prozess, der seinen Ausgangspunkt in der Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit hatte und sich nun unter einem veränderten Vorzeichen fortsetzte. 29 Ebenda, S. 455. BH 10 Book.indb 180 22.8.2008 22: 10: 30 IV. KRIEG UND FRIEDEN IM SPIEGEL DER POSTJUGOSLAWISCHEN UND DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR VOR UND NACH 1989 BH 10 Book.indb 181 22.8.2008 22: 10: 30 BH 10 Book.indb 182 22.8.2008 22: 10: 30 R IKARD P UH (Z AGREB ) Faust auf Faust Goethes Drama als kroatisches Politikum 1942-1952 »Die Kunst steht über dem Klassenkampf und den sozialen Nöten. Das Schauspiel, das gute, große, menschliche, ist etwas für sich, wie die Gerechtigkeit! « 1 So deklamiert in Slobodan [najders Kroatischem Faust (1981) die Figur des strebsamen Journalisten @anko im Gespräch mit der Figur des Schauspielers Afri}. Der rüde Verkehr mit den hier erwähnten Begriffen ’Kunst’ und ’Gerechtigkeit’, vor allem seitens der politischen Öffentlichkeit in der jüngeren Geschichte Europas, wurde in Kroatien bis heute nur selten ansprechend thematisiert. So sind dann die Kontroversen, welche die Aufführungen von [najders Stück seit 1982 stets begleiten und die sich vor allem am Thema der Vergangenheitsbewältigung entfachen, nicht gänzlich unerklärlich. Dieses umstrittene Drama, das vom Umgang mit der Theaterkunst handelt, trägt ja nicht aus rein abstrakten Gründen seinen Titel. Das fiktionale Phantastische mit dem Dokumentarischen verbindend, geht es auf wahre Begebenheiten aus der neueren kroatischen Kulturhistorie ein, welche die Entwicklung der nationalen Identität in zwei wichtigen Epochen des vergangenen Jahrhunderts - zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und in der frühen Nachkriegsperiode - gravierend mitgeprägt haben: 1942 erfuhr nämlich der erste Teil von Goethes Faust, auf die harsche Anweisung von oberen Instanzen hin, in der Zukunft vornehmlich Stücke heimischer Autoren und die Klassiker der Weltliteratur zu inszenieren, seine kroatischsprachige Erstaufführung. Zwei Wochen nach der Vorstellung in Osijek, wo das eigentlich nur schwer inszenierbare Stück vor seinem baldigen Verschwinden aus dem Spielplan prunklos und ohne größeren Widerhall kurzzeitig präsentiert wurde, nahm man diese »deutscheste und gewaltigste Dichtung« 2 Goethes auch in der Hauptstadt des Ustascha-Staates ins Theaterprogramm und gab sie im größten Haus des Landes mit viel Erfolg Saisonen übergreifend bis zum Kriegsende. 3 Doch kurioserweise war der erste deutsche Text, welcher nach dem Zweiten Weltkrieg im Kroatischen Nationaltheater in Zagreb dem Publikum vorge- 1 Slobodan [najder: Der kroatische Faust. Hrvatski Faust. Deutsch von Irena Vrkljan und Benno Meyer- Wehlack, Theater heute, 6/ 1987, S. 31-45, hier S. 31. Anmerkung: Diese Literaturangabe meint die erste deutsche Übersetzung des ursprünglich in der kroatischen Sprache verfassten Dramas von Slobodan [najder (Slobodan [najder: Hrvatski Faust, Zagreb 1981). In der deutschsprachigen Version, die am Wiener Burgtheater aufgeführt wurde, fehlt diese hier zitierte Stelle, wohl aus rein dramaturgischen Gründen. 2 Goethes Faust auf der Agramer Bühne, Deutsche Zeitung in Kroatien, 2. 4. 1942, S. 5. 3 In deutscher Sprache wurde von Goethe in Zagreb davor schon gespielt: 1826 Clavigo, 1832 Faust, 1850 Egmont, 1858 angeblich Faust (Angaben darüber fehlen jedoch). In kroatischer Sprache folgten dann: 1864, 1895/ 96 und 1938 Egmont, 1870 und 1875 Clavigo sowie 1911 Götz. 1928 gastierte das Wiener Burgtheater mit Iphigenie auf Tauris (vgl. Josip Bobek: Goethe und die Agramer Bühne, Deutsche Zeitung in Kroatien, 4. 1. 1942, S. 6-7). BH 10 Book.indb 183 22.8.2008 22: 10: 30 184 Rikard Puh stellt wurde, dann wieder Faust! In der prekären weltpolitischen Lage der Mitte des 20. Jahrhunderts wollten Länder, die dem aggressiven deutschen Nationalsozialismus positiv gesinnt waren, diese ihre Freundschaft auch durch die kulturelle Annäherung und die Förderung des deutschen Kulturguts beweisen. So schlug sich die kroatische Pseudostaatskonstruktion Nezavisna Dr`ava Hrvatska während des Zweiten Weltkriegs auf die Seite des damaligen Dritten Reiches, wohingegen das föderative Jugoslawien, innerhalb dessen Grenzen Kroatien nach 1945 zur Teilrepublik wurde, zunächst das antifaschistische, und somit direkt das antideutsche, Element betonte. Am Anfang der 1950er Jahre näherte sich das kommunistische Staatsgebilde allerdings, nach der gelungenen Abkehr vom ehemaligen östlichen Verbündeten, der Sowjetunion, politisch und kulturell dem ehemaligen Feind aus dem Westen wieder an. Das Theater wurde dabei immer zu tagespolitischen Zwecken benutzt. Es wurde durch die Repertoirewahl und die quasi dirigierte Meinung des Feuilletons versucht, auf das Publikum so einzuwirken, dass es das Deutsche entweder akzeptiert oder ablehnt, wie es die Politik gerade vorgab. Eine Darstellung auf einer großen Bühne vor einem breiten Publikum und ein intimeres, eher einer Lesung gleichendes Rezitativ können natürlich nicht bis in die letzte Konsequenz hinein verglichen werden: Das öffentliche Interesse ist bei beiden zu unterschiedlich, rezitativisch fehlen szenische und einige dramatischen Elemente, welche die Theaterinszenierung tragen, usw. An den beiden Theaterereignissen der Jahre 1942 und 1952 sollen hier aber primär die Verknüpfungen zwischen Kunst und Politik aufgezeigt werden, die sich in diesen Zusammenhängen mannigfaltig äußerten. Faust ist, als so genannter »Klassiker«, vor allem ein wichtiges Stück Weltsowie ein relevantes Stück deutscher Nationalliteratur, wobei der Charakter dieses Dramas durch die Form der Aufführung weder unterdrückt noch irgendwie verändert wird. Als die beiden Aufführungen Mitte des vergangenen Jahrhunderts herum in Zagreb stattfanden, nahm man in Goethes Tragödie vornehmlich gerade diese ihre Eigenschaften wahr. Interessanterweise wurde also in Kroatien das nationale Bewusstsein durch den von der Politik gelenkten Umgang der heimischen Kultur mit einem Vorzeigewerk der deutschen Kultur mitgestaltet. Goethes Faust feierte seine kroatischsprachige Erstaufführung in Zagreb am 31. März 1942, zehn Tage vor dem ersten Jahrestag des Unabhängigen Staates Kroatien. 4 Im gleichgeschalteten kroatischen Zeitungswesen wurde dieses Werk als das »bekannteste ‡...™ in Westeuropa, das psychologische Großdrama«, 5 als 4 Die Regie führte Tito Strozzi, der Gustaf Gründgens gleich auch Mephistopheles spielte, während die Titelfigur von Vjeko Afri} und die Gretchenrolle von Bo`ena Kraljeva, beide damals aufstrebende und bekannte Namen, besetzt wurde. Später kam es jedoch zu wesentlichen Umbesetzungen, so dass als Faust noch Strozzi selbst und der aus Osijek kommende Amand Alliger, als Margarete zusätzlich noch Vlasta Dryak und als Mephisto Ante [oljak und Janko Raku{a auftraten. Im Programm des damals zum Kroatischen Staatstheater umbenannten Nationaltheaters hielt sich diese Faust-Fassung bis zum 3. März 1944. 5 J. W. Goethe. Faust, Nedjelja, 12. 4. 1942, S. 7. Diese und weitere aus kroatischsprachigen Zeitungsartikeln zitierten Stellen wurden hier ins Deutsche übertragen von R. P. BH 10 Book.indb 184 22.8.2008 22: 10: 30 Faust auf Faust 185 das »größte dichterische Werk des deutschen Volkes« 6 oder als das »neben der Gotik größte Denkmal des deutschen Schöpfergeistes« 7 gerühmt. Im Dichter sah man »das stärkste Genie von westlicher Prägung« 8 und in der Hauptfigur »das Symbol des modernen Experimentators, den nimmersatten, unermüdlichen Wahrheitssuchenden«, 9 der gegen einen »Verführer, Rationalisten und ’unbewussten Säer des Guten’« 10 antreten muss. Zwar sprachen einige wenige Journalisten solche sozialpolitisch anmutenden Einordnungen an, doch der Großteil der Kritik bemühte sich um die Hervorhebung des Deutschen in diesem Drama und um die Abstrahierung aller sozial- oder gesellschaftskritischen Ansätze, die man in Fausts Streben hätte erkennen können. Es sollte herausgestellt werden, dass im Vordergrund lediglich die »Tragödie eines Mannes in seiner Unfähigkeit, die eigene Seele zu beruhigen und zu besänftigen« steht, da diese »durch den vom Trieb gesteuerten Wunsch nach Erkenntnis der letzten Wahrheit und des Sinnes eigenen und allen Seins zerrissen« werde. 11 Die Inszenierung war pompös und aufwendig. Zur Anwendung kam sogar die lange Zeit unbenutzte Drehbühne, was die Kosten für die Technik auf 200 000 Kuna hochschraubte. Die Spieldauer betrug vier Stunden; besonders beachtet wurde die Musik, und zum Ensemble des Dramas gesellte man auch die Mitglieder des Balletts und des Opernchors, mit deren Hilfe die Walpurgisnachtszene mit ekstatischen Tanzeinlagen angereichert wurde. Hrvatski narod wies darauf hin, dass die Regie auf »starker Betonung der dramatisch-theatralischen Effekte« insistierte und hob dabei einige Bilder besonders hervor, in welchen angeblich »die tiefe Philosophie der ausgesprochenen Worte« besonders gut verstanden worden sei. 12 Damit wurde ein Kritikpunkt angeschnitten, der sich durch fast alle Kommentare zog - das Verhältnis zwischen dem Gesprochenen und den szenischen Effekten. Häufig wurde dieser Faust-Fassung nämlich vorgeworfen, zu stark die äußeren Details zum Nachteil des Textes unterstrichen zu haben. Das Bühnenbild von Vladimir @edrinski empfand man entweder als »zu romantisch« 13 oder als »überfüllt und zu bunt geraten«. 14 Weniger kritisch eingestellt, beschrieb man es als »bunt und lebhaft« 15 oder »vom Gedanklich-Symbolischen aus ‡...™ gestaltet«. 16 Im Großen und Ganzen kann man zusammenfassen, dass die Inszenierung sehr operettenhaft und mit viel Prunk organisiert wurde. 6 Branimir Livadi}: Kazali{te, Hrvatska revija, 5/ 1942, S. 277-279, hier S. 278. 7 S. ‡Stjepan™ Kre{i}: Kazali{te. Faust, Knji`evni tjednik, 10. 4. 1942, S. 7. 8 Hinko Wolf: Faust, Hrvatski narod, 3. 4. 1942, S. 2. 9 Tito Strozzi: Goetheov Faust. Prevodilac i redatelj o djelu, predstavi i prijevodu, Hrvatska pozornica, 28/ 1941-42, S. 1-2. 10 Ebenda. 11 Zit. Anm. 6, Livadi}, Kazali{te, hier S. 278. 12 Zit. Anm. 8, Wolf, Faust. 13 Vgl. Vladimir Kova~i}: Goetheov Faust, Nova Hrvatska, 3. 4. 1942, S. 7. 14 Zit. Anm. 7, Kre{i}, Kazali{te. 15 Drago Rubin: Hrvatsko dr`avno kazali{te u Zagrebu. Nove dramske izvedbe, Nastavni vjesnik, 5/ 1941-42, S. 381-386. 16 Antun Sedlar: Die erste kroatische Aufführung des Faust, Neue Ordnung, 19. 4. 1942, S. 16. BH 10 Book.indb 185 22.8.2008 22: 10: 30 186 Rikard Puh Im Opernhaften siedelten manche Berichte auch die Verkörperung des Mephistopheles durch Tito Strozzi an. Elegant und zynisch, einem Kavalier gleich, aber dämonisch - das sind Adjektive, die seinen Spielstil zu umschreiben versuchten. Den größten Erfolg feierte in diesem Drama jedoch Bo`ena Kraljeva, die sich ausnahmslos bester Kommentare erfreuen konnte: »Wunderschöne Erscheinung und exzellentes Schauspielen ‡...™ bis zum Maximum« 17 sei hier exemplarisch erwähnt. Die Beurteilung von Vjekoslav Afri}s Faust hingegen war nicht so eindeutig. Einige Kritiker fanden ihn sehr gut, während andere bei ihm die Dualität der faustischen, mit der Erkenntnis kämpfenden Natur vermissten, was sie aber nicht dazu bewegen konnte, seine Darstellung konsequent als mangelhaft zu bewerten. Nach seinem vorläufigen Abschied von Zagreb 1942 stellte sich dann erst Monate später Amand Alliger als ein entsprechend guter Nachfolger heraus, was wohl für die eher schwer zu ersetzende Qualität Afri}s spricht. Regie, Personal und Szene wurden in der Presse aber fast überall weniger beachtet als die oben angeführten interpretatorischen Ansätze und bewertende Aussagen über den Text. Insgesamt handelte es sich um ein in jedem Segment höchst problematisches Projekt, welches nach allgemeinem Konsens mit bestem Erfolg gemeistert wurde; man betonte u. a. die »europäisches Niveau« 18 erreichende Leistung des Ensembles. Erich Röthel erkannte in der Inszenierung sogar »volksstückhafte Eindringlichkeit« gleichzeitig verbunden mit dem »großen Theater ‡...™, in dessen Bereich sich die Grenzen zwischen Schauspiel und Oper oder gar Operette zu verwischen drohen«. 19 Faust wurde wegen der »bildhaften Beweglichkeit der Szenen«, der fantastischen Darbietungen und Szenographie in einem einflussreichen Magazin mehr als eine »Theatersensation« beschrieben und weniger »als ein streng künstlerisches Aufzeigen des Dichterwerks in seiner Schönheit und der Größe seiner Idee«. 20 Lediglich die klerikale Zeitung Kr{}anska {kola fand an dieser »szenischen Attraktion« Details auszusetzen. 21 Das mag zuerst vielleicht unerwartet erscheinen, sollte aber als ein genügend plastischer Beweis gelten, dass zwischen den eher kulturpolitischen Gründen der Inszenierung und der künstlerischen Gestaltung des Faust-Stoffes in Zagreb doch nicht völlig ohne Reflexion ein Gleichheitszeichen zu setzen ist. Die Meinung des katholischen Blattes war nämlich, »dass der Zuschauer aus der dramatischen Fassung T. Strozzis nicht den wahren Sinn von Goethes ’Faust’ erkennen konnte«. Janko Raku{as Mephistopheles hätte darin »mit einem besonderen Akzent und zusätzlich gestikulierend« einen Gold in die eigene Taschen packenden Pfarrer auslachen wollen, und die »erschütternden und rührenden Worte Margarethes, des verführten Mädchens«, wären wegen des übertrieben lauten Orchesters nur 17 Zit. Anm. 7, Kre{i}, Kazali{te. 18 Vgl. N. ‡Nikolaj Ivanovi~™ Fedorov: Faust u 4 dijela (22 slike) od J. W. Goethea, Spremnost, 5. 4. 1942, S. 10. 19 Erich Röthel: Agramer Theater. Goethe, Deutsche Zeitung in Kroatien, 4. 1. 1944, S. 4. 20 Zit. Anm. 6, Livadi}, Kazali{te, hier S. 278. 21 Vladimir Dumbovi}: Kazali{te. Goetheov Faust (Izvedbe od 1942. do 1943.), Kr{}anska {kola, 3-4/ 1944, S. 61-62. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Artikel. BH 10 Book.indb 186 22.8.2008 22: 10: 30 Faust auf Faust 187 schlecht hörbar gewesen. Generell fand man hier, dass alles, was Goethe zum Lob der Kirche in das Stück packte, akustisch unverständlich blieb. Deshalb wurde auf die erzieherische Funktion des Theaters hingewiesen und im typischen Jargon der katholischen Kirche deklamiert: »Zu sehr haben wir die ewigen Werte ‡gemeint sind die diskutablen Abstraktheiten ’Liebe’, ’Güte’, ’Wahrheit’, R. P.™ nieder gerissen. Wir sehen, was ihren Trümmern entwächst. Reißen wir sie nicht nieder, bauen wir sie auf! « Die Aufführungen von Faust 1 in Osijek und Zagreb sind für den Kulturtransfer zwischen dem deutsprachigen Raum und Kroatien aber auch aus literaturübersetzerischen Gründen von Bedeutung: 1942 wurde dieses Meisterwerk zum ersten Mal in voller Länge in kroatischer Sprache präsentiert. Nach zahlreichen Versuchen bis in die 1940er Jahre hinein schaffte nämlich erst Tito Strozzi die Übertragung ins Kroatische vollständig. 22 Diese erste, provisorische Fassung nach der Version von Gustaf Gründgens war allerdings vornehmlich für das Sprechen im Theater geeignet. Ihr literarischer Wert war zweifelhaft, obwohl sich der Übersetzer an die deutsche Metrik und die Reimschemata des Originals hielt. Wegen des zu starren Festhaltens daran kam es zu Unstimmigkeiten, falschen Betonungen, trivialen Reimen und komischen Stellen, weshalb ein Teil der Presse solches oberflächliche Vorgehen kritisierte. Strozzi erwiderte in Interviews, dass er wisse, nicht hohe Literatur geschaffen zu haben. Sein Ziel sei lediglich gewesen, »den Ansprüchen des einfachen Theatersprechens« zu genügen. 23 Die endgültig offizielle, mehrere Male verarbeitete kroatische Fassung der beiden Faust-Teile von ihm wurde dann viele Jahrzehnte später gedruckt. Die Öffentlichkeit des Unabhängigen Staates Kroatien reagierte auf den ersten kroatischsprachigen Faust mit großer Resonanz. Die Feuilletonjournalisten haben sich zwar größtenteils bemüht, auf offensichtlichste Vulgärdemagogie der nationalsozialistischen und faschistischen Propaganda zu verzichten, doch sie verstanden es, mit subtileren Mitteln mit der Tagespolitik überein zu stimmen. Methodisch lassen sich dabei drei Arten der Berichterstattung ausmachen: a) Apotheose der weltliterarischen Rolle Goethes und des faustischen Charakters der Hauptfigur; b) Implikationen, dass die deutsche Kultur eine befolgenswerte sei, die man sich - durch die Nachahmung ihrer Theaterprogramme u. Ä. - zum engsten Freunde machen sollte; und c) Lamentieren über die Schlechtigkeit der (damals) gegenwärtigen Weltsituation, welche starke, klassische Kunstwerke erfordere, um die Leute dazu zu bewegen, etwas gegen den Krieg zu unternehmen, sich zu den ’hohen Werten des Humanismus’ zu bekennen o. ä. Die Verherrlichung von Goethe und seinem Geniestreich wurde oben schon beschrieben. Artikel aus der Deutschen Zeitung in Kroatien und aus der Zagreber Neuen Ordnung geben wiederum Beispiele für die übermäßige Betonung der 22 Mit dem Übersetzen des Stücks hatten sich so namhafte Dichter wie Antun Mihanovi}, Dimitrija Demeter, Hugo Badali}, Iso Velikanovi}, Vladimir Nazor und Milutin Nehajev beschäftigt. 23 Zit. Anm. 9, Strozzi, hier S. 2. BH 10 Book.indb 187 22.8.2008 22: 10: 30 188 Rikard Puh deutsch-kroatischen Freundschaft ab. So hieß es im zuerst genannten Blatt, das Bemühen um die kroatische Inszenierung des Faust-Dramas sei »dankenswert«, da dieses Mittler »zwischen zwei Völkern und deren Gedankenwelten« sei. 24 In der zweiten Zeitung wurde die Hoffnung ausgesprochen, jetzt eine neue Tradition in Zagreb eingeleitet zu sehen - die des Fausts -, welche der von Wagners Parsifal gleichen sollte. 25 Diese Oper war in der kroatischen Hauptstadt nämlich immer ausverkauft gewesen, und es wird wohl kein Zufall gewesen sein, dass das Feuilleton eben eines der nationalsozialistischen Lieblinge zum Vergleich heranzog. Das klang gänzlich im Sinne des Ausspruchs, Faust sei Goethes »deutscheste« Dichtung, wodurch einer Nationalbestimmung in Superlativ der unwiderlegbare Wert des Positiven beigemessen wurde. Der dritte Weg, der Aufnahme Fausts ins Theaterrepertoire während des Zweiten Weltkriegs Wichtigkeit zuzusprechen, ging über seinen Charakter eines dramatischen Klassikers. Am Humanismus orientierte und für die Weltkultur bedeutende Werke wurden nämlich auch im Ustascha-Staat als nützlich für die Gleichschaltung angesehen, da durch ihre überzeitliche Thematik alle Kritik am Bestehenden abgestumpft werden konnte. Bekanntermaßen kann man durch geschicktes Inszenieren den Erziehungs- und Erkenntniswert eines solchen Werks sogar ins Paradoxe umkehren. Aus der Kritik kann Unterhaltung werden, der konkrete Missstand in der Gesellschaft oder in zwischenmenschlichen Beziehungen kann in einen abstrakten verdreht oder hinter einen abstrakten versteckt werden. So ist es seit jeher bis in die heutige Zeit hinein ein Leichtes für die Propagandamaschinerie - unabhängig von der politischen Farbe -, durch die Präsentation der klassischen, hohen Kunst die Schuld für verschiedene Fehlentwicklungen wie den Krieg indirekt entweder dem transzendentalen Unglück und unerklärlichen Pechstränen oder den ’Anderen’, dem Gegner, unterzuschieben. Die Aufführung von Faust passte dem faschistischen Kroatien also als ein Beitrag zur oberflächlich betrachtet positiven Kulturpflege, um sich als Verteidiger der guten Werte aufzuspielen. In diesen Kontext gehört der schon angeführte hochtrabende Ausruf aus dem Blatt Kr{}anska {kola. 26 Die Wochenzeitschrift Nedjelja bemerkte ebenfalls, dass die Vorstellung zur rechten Zeit angesetzt wurde, da die Welt gerade »in die Fragen der Realität und der Ekstase, des Sinnes und des Inhalts, der Bedeutung und des Ziels« hineintauchte. 27 Und selbst der Regisseur Strozzi sprach in einem Interview die antimodernistischen Grundsätze nach, indem er über die »Geburtswehen der neuen Welt« ‡! ™ diskutierte und die Inszenierung schließlich 24 Zit. Anm. 19, Röthel. Man beachte dabei, dass hier nicht von den Kulturen oder Literaturen die Rede war, sondern von einem eine viel tiefere Beziehung betreffenden und Bedeutung tragenden Begriff - dem Volk. 25 Vgl. Anm. 16, Sedlar. 26 S. S. 5. 27 Zit. Anm. 5, Faust. BH 10 Book.indb 188 22.8.2008 22: 10: 30 Faust auf Faust 189 mit einbezog: »Möge uns also auch dieses Unterfangen einer von unseren ersten Kulturinstitutionen auf den Weg zum Aufbau des neuen Lebens leiten! « 28 Obwohl die breitere Presseöffentlichkeit die Ideologeme nationalsozialistisch-faschistischer Rhetorik in den Einzelkritiken der Aufführung von Faust größtenteils zu umgehen wusste und sich eher in solche subtileren, häufig mehrdeutig interpretierbaren Syntagmen flüchtete, und obgleich der Zagreber Faust von 1942 seitens klerikaler Blätter seiner nicht genügend pro-katholischen Umsetzung auf der Bühne wegen gerügt wurde - es besteht kein Zweifel an seinem propagandistischen Charakter. Seit dem 22. April 1941 regierte als Intendant des Kroatischen Nationaltheaters zu Zagreb Du{an @anko. Er, ein äußerst gebildeter Intellektueller, Hochschulprofessor und anerkannter Theaterkritiker (schrieb für Hrvatska smotra und Hrvatski narod), hatte sich schon als nationalistisch orientierter Publizist hervorgetan und vertrat nun die extremsten Positionen der Partei des Poglavnik Ante Paveli}. Als ein im literarischen Ausdruck begabter Mann schrieb @anko auch als Intendant viel und ließ alle paar Monate Verlautbarungen drucken. So setzte er sich in einer solchen lautstark dafür ein, zum Kulturengagement lediglich die »gläubig ergebenen und von den Ustascha-Prinzipien durchdrungenen« Menschen zuzulassen. 29 Öffentlich angekündigt war sogar seine Idee, in seinem Haus alle Beschäftigten vor die Entscheidung zu stellen, zwischen der Hingabe an die »Revolution des Poglavnik« und dem Verlust des Arbeitsplatzes zu wählen, um aus dem Theater einen »rein kroatischen und ethischen künstlerischen Organismus« 30 zu schaffen. Im ersten Jahr seiner Intendanz führte das Kroatische Staatstheater Zagreb dann sechs Premieren deutscher und zwei italienischer Stücke auf. Unter den ersteren befanden sich auch die damals im Dritten Reich von Gustaf Gründgens inszenierten Kirschen für Rom von Hans Hömberg und Faust, sowie die Klassiker Iphigenie auf Tauris und Die Räuber. 31 Kennzeichnend ist aber @ankos Feststellung, dass das größte »künstlerische und nationale« Ereignis der Saison die Uraufführung des dramatisierten Romans Herdfeuer (Ognji{te) von Mile Budak, einem Minister in der Regierung Paveli}, gewesen sei. Dies entspricht auch seinem 1943 in der Zeitschrift Hrvatski krugoval veröffentlichtem Versuch einer Geschichte des Zagreber Theaters, wobei es ihm beim Auflisten großer kroatischer Theaterleute und Autoren vor allem auf Angriffe gegen serbische Funktionäre ankam, denen er die alleinige Schuld an allen das Zagreber Schauspiel betreffenden Übeln der jüngsten Vergangenheit gab. 32 28 Zit. Anm. 9, Strozzi, hier S. 1. 29 Hinko Vuk ‡Hinko Wolf™: Profesor D. @anko. Novi intendant Hrvatskog dr`avnog kazali{ta, Hrvatski `enski list, 8/ 1941, S. 8. 30 Du{an @anko: Izjava novog intendanta prof. Du{ana @anka, Hrvatska pozornica, 35/ 1941, S. 1-2. 31 Von den klassischen Dramen deutscher Autoren wird unter seiner Intendanz noch Lessings Minna von Barnhelm gespielt werden, unter seinem Nachfolger Solja~i} bis zum Untergang des Unabhängigen Staates Kroatien dann noch Hauptmanns College Crampton und Schillers Kabale und Liebe. 32 Vgl. Du{an @anko: @ivot Hrvatskog dr`avnog kazali{ta, Hrvatski krugoval, 33/ 1943, S. 6 u. 12. BH 10 Book.indb 189 22.8.2008 22: 10: 30 190 Rikard Puh @anko war ein extremer Nationalist, der sich in seinen Repertoireplänen aber auch klerikal gab. In der Beschreibung des dramatischen Jahrgangs 1941-42 33 entwarf er nämlich eine Theorie des »Glaubensdramas« (»drama vjere«): Der »revolutionäre Mensch« sei mit dem neuen Lebensverständnis, welches von Begriffen bestimmt werde wie »Gott, Heimat, Familie, Ordnung, Humanität, Ritterlichkeit, Opfer, Verantwortlichkeit und Gewissen« schon unter den »alten Menschen« da. Weil es ihn aber »zur Regelmäßigkeit, zum geistigen Gleichgewicht und zur Prinzipiensicherheit« ziehe, verlange er nach dem »Glaubensdrama«, räsonierte @anko. Zu dieser Form des Dramas zählte er dann aber so gut wie alle 1941-42 in Zagreb aufgeführten Werke auf: Herdfeuer, Die Räuber und Faust genauso wie die Komödien ohne höheren Anspruch. Ein Theaterprogramm, welches sich auf Klassiker und heimische Autoren stützen und auf Experimente völlig verzichten müsste, wurde allerdings auch vom damaligen Feuilleton immer lauter gefordert. Sehr aggressiv ging dabei Mato Han`ekovi} vom Blatt Gospodarstvo vor. 34 Ähnlich wie der Feuilletonist von Katoli~ki list, der mit dem spanischen Philosophen Ortega y Gasset argumentierte, dass man in der Kunst nicht der immer beschränkter werdenden Masse nachgeben sollte, 35 stellte er die in jedem Totalitarismus beliebte Haltung, dass das Theater primär eine Erziehungsanstalt zu sein habe, in den Vordergrund. Mit solchen oberflächlichen, populärwissenschaftlich angehauchten Zeitungsartikeln stellte die Presse des Unabhängigen Staates Kroatien eine Dramentheorie zusammen, die für das wichtige Staatstheater @ankos beinahe schon verpflichtend wurde. Hielt man sich in den Einzelkritiken eines Stückes, wie bei Faust oben schon gesehen, noch mit dem dogmatischen Vokabular zurück, so gab man in diesem Pseudotheoretisieren die Zügel der Selbstkontrolle aus der Hand. Offen formulierte Propaganda und NS-Ideologeme wurden der Leserschaft ohne jegliche Zurückhaltung aufgezwungen, sogar in Zusammenhängen, in welchen man gewisse Begrifflichkeiten kaum erwarten würde. So kam im Theaterkontext auch die Idee der unbedingten Notwendigkeit einer unnachlässigen Autorität vor. Der Dramatiker und Publizist Ahmed Muradbegovi} philosophierte über die Wichtigkeit der dramatischen Institution und brachte in einem eine halbe Zeitungsseite langen Artikel Begriffe ’Nation’ und ’Rasse’ mit dem japanischen und kroatischen Schauspiel in Verbindung: Man solle nicht vor seinem nationalen und rassischen Charakter fliehen - »Kehren wir ganz zu uns selbst! Wir sind ein gesundes Volk! « stand es einem Pamphlet gleich auf alltäglichem Zeitungspapier mit aller Drastik. 36 Das Theater sollte in diesem Augenblick einer der stärksten kulturellen Hebel sein, wie zu Propagandazwecken, so auch zur Staatspräsen- 33 Du{an @anko: U prvoj godini, Hrvatska pozornica, 29-30/ 1942, S. 1-3, hier S. 2. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Artikel. 34 Vgl. Mato Han`ekovi}: Osvrt na kazali{no godi{te 1942-43, Gospodarstvo, 168/ 1943, S. 6, und ders.: Pred novim kazali{nim godi{tem. Idejna zna~ajka dramske proizvodnje, Gospodarstvo 192/ 1943, S. 6. 35 S. Kr~mar: Pitanje kazali{ta za masu, Katoli~ki list, 21. 1. 1943, S. 32-33. 36 Ahmed Muradbegovi}: Uloga i zna~enje kazali{ta, Osvit, 10. 4. 1943, S. 7. BH 10 Book.indb 190 22.8.2008 22: 10: 30 Faust auf Faust 191 tation nach außen. Dem idealen Schauspieler kam dabei die Verantwortung zu, nicht nur für sich persönlich aufzutreten, sondern auch, angeblich nach den Grundgedanken des Deutschen Nationaltheaters, sich als einen »Vertreter der Nation« zu verstehen. 37 Doch im konkreten Falle sah der Umgang mit der Personallage etwas pragmatischer aus. Das Ensemble in Zagreb war nämlich national und ideologisch ziemlich gemischt: Bela Krle`a, auch in der Faust-Inszenierung dabei, war beispielsweise eine Serbin, der schon erwähnte Afri} ein Kommunist. Als er am 22. April 1942 dann über Nacht mit wenigen Kollegen Zagreb verließ, um sich den Partisanentruppen anzuschließen, reagierte die Propagandamaschinerie mit der Unterschlagung von Informationen. Bei der Bewertung schauspielerischer Leistungen in der Aufführung von Goethes Drama 1942 herrschte unter den Kritikern gerade bei derjenigen Afri}s die größte Uneinigkeit. Seine Fähigkeiten als Faust-Darsteller galten als umstritten, doch es blieb immer offen, ob sein Können oder seine politische Einstellung das Kriterium war. Nach seiner Nacht-und-Nebel-Aktion berichtete man dann zwar von Veränderungen im Ensemble und kritisierte den Ersatz Afri}s, machte aber über seinen Weggang keine Angaben. Die gleichgeschaltete Presse schrieb weder über die Motive seiner Flucht, noch über die Richtung seines Wegs. Stattdessen lobte Hinko Wolf die Theaterleitung und ihre »positive« Absicht, dem Publikum »verschiedene schauspielerische Verständnisse« einer Rolle zu präsentieren. 38 Die Existenz kommunistischer Theatertruppen wurde vollkommen verschwiegen und es dauerte bis nach dem Zweiten Weltkrieg, um auch in der Zagreber Öffentlichkeit offiziell von ihnen zu erfahren. Im Theaterhaus aber war schon seit dem Sommer 1941 ein aus einigen Schauspielern und anderen Angestellten bestehender Rat der Roten Hilfe (Odbor crvene pomo}i) am Werke, aus welchem sich dann die Gruppe der 1942 zu den Widerständlern Übergelaufenen herausbildete. Von den im Faust mitwirkenden Künstlern verließen das damalige Zagreb aus politischen Gründen, neben Afri}, auch der Altmayer-Darsteller Josip Ruti} und der Wagner-Interpret Salko Repak. Sie wurden zum Kern von Kazali{te narodnog oslobo|enja (Volksbefreiungstheater), welches durch das Spielen von Texten jugoslawischer und russischer Autoren sowie das Verfolgen der ästhetischen Konzepte von unter anderem Piscator, Mejerhold und Brecht klar und deutlich seinen Antifaschismus hervorkehrte. Nach dem Untergang des Faschismus erlebten diese Theatertruppen ihre wohlwollende Evaluierung und wurden zum Nukleus des »neuen« kroatischen Theaters erhoben. Der 1945 veränderte politische Rahmen rief auch im Feuilleton und im Zagreber Theaterleben einen Paradigmenwechsel hervor. Das Verhalten der Mehrheit im größten Schauspielhaus Kroatiens zwischen 1941 und 1945 wurde als »völlig passiv« entlarvt, die Leistungen als »pseudokulturell« eingestuft und die Leitung als »heimische Ausgeburten« bezeichnet. 39 Gedacht wurde nun auch der von 37 Vgl. Alfred Dahlmann: Erziehung des Schauspielers, Deutsche Zeitung in Kroatien, 4. 12. 1942, S. 5. 38 Hinko Wolf: Uspjeh Amanda Alligera u Faustu, Hrvatski narod, 1. 7. 1942, S. 2. 39 Vgl. Du{ko Roksandi}: Uloga i zna~enje Hrvatskog narodnog kazali{ta u dru{tvenom i kulturnom `ivotu BH 10 Book.indb 191 22.8.2008 22: 10: 30 192 Rikard Puh den Milizen des Ustascha-Staates in Zagreb umgebrachten Künstler, zu welchen auch der Mephistopheles-Darsteller Janko Raku{a gehörte, und es durfte von den Misshandlungen gesprochen werden, welchen Kulturschaffende wie der am Faust-Projekt teilnehmende Dubravko Duj{in ihrer Ansichten wegen monate- und jahrelang unterworfen waren. Die kroatische Presse war während des Paveli}-Regimes über diese Abscheulichkeiten stillschweigend hinwegangen. Nach dem Krieg hielt man sich im neuen Staat Jugoslawien mit Aufführungen von Stücken deutschsprachiger Autoren stark zurück. In den Vordergrund rückten in Zagreb, wo das Partisanentheater mit dem Ensemble des HNK im Juli 1945 fusioniert wurde, jetzt Stücke russischer und inländischer Autoren, die links orientiert, aber nicht zu avantgardistisch, oder zur traditionsreichen Klassik zu zählen waren, sowie »unterhaltsamere« weltliterarische Klassiker (Molière, Goldoni etc.). Zwar führte man in anderen kroatischen Städten schon in den ersten Nachkriegsjahren Werke von Autoren aus dem deutschsprachigen Gebiet auf, doch bis 1949 handelte es sich dabei um weniger wichtige Bühnen und gerade mal um Schillers Kabale und Liebe, Paul Schureks Straßenmusik und um die Zwangseinquartierung des Duos Franz Arnold/ Ernst Bach, welche zugleich das erste in Kroatien nach 1945 inszenierte deutsche Drama war. 40 In Zagreb wurde erst 1949 wieder ein deutscher Autor berücksichtigt; in Zagreba~ko dramsko kazali{te erschienen am 26. Juni 1949 Die Gewehre der Frau Carrar Bertolt Brechts im Programm. Das am populären Repertoire orientierte Haus Komedija zeigte daraufhin ab dem 13. Januar 1951 vierzehn Vorstellungen von Johann Nepomuk Nestroys Der Zerrissene. Doch auf einen renommierten Klassiker der tragischen Dramenliteratur im Spielplan des Kroatischen Nationaltheaters in Zagreb musste das Publikum bis zum 28. Januar 1952 warten - dann präsentierte man wieder Faust. 41 Es handelte sich dabei um eine rezitativische Interpretation beider Teile der Tragödiendichtung Goethes vonseiten der Gesellschaft der dramatischen Künstler (Dru{tvo dramskih umjetnika), welche anders als die pompöse Aufführung aus dem Jahr 1942 vom Feuilleton in ziemlich bescheidenem Maße wahrgenommen wurde. 42 »Die erste Vorstellung erfreute sich einer großen Publikumsteilnahme«, na{ih naroda. In: Hrvatsko narodno kazali{te - zbornik o stogodi{njici 1860-1960. Hg. v. Du{ko Roksandi} und Slavko Batu{i}, Zagreb 1960, S. 17-52. 40 In Bjelovar gab man die Zwangseinquartierung ab dem 3. Februar 1946. Kabale und Liebe feierte Premiere am 20. April 1946 in Zadar, am 29. Dezember 1946 in Rijeka, am 12. Februar 1947 in Split und am 25. Oktober 1947 in Vara`din. Straßenmusik kam am 20. April 1946 in Dubrovnik, am 18. Mai 1946 in Bjelovar, am 1. Juni 1946 in Split und am 8. Juni 1946 in [ibenik auf die Bühne. Später kam die Tragödie von Schiller am 17. März 1951 auch in Bjelovar aufs Repertoire, während in Osijek ab dem 15. April 1951 zudem seine Räuber gespielt wurden. Schureks Stück konnte man ab dem 7. Mai 1951 auch in Karlovac sehen. Vgl. Repertoar hrvatskih kazali{ta. 1840-1860-1980. Zusammengestellt u. hg. v. Branko He}imovi}. 2 Bde., Zagreb 1990; Repertoar hrvatskih kazali{ta. Bd. 3. Zusammengestellt u. hg. v. Branko He}imovi}, Zagreb 2002. 41 Als Regisseur trat wieder Tito Strozzi auf, während von den Akteuren der letztmaligen Aufführung des gleichen Stücks auch diesmal Bo`ena Kraljeva, Amand Aliger, Bela Krle`a und Strozzi selbst aktiv teilnahmen. 42 Dazu zählten überwiegend die Ensemblemitglieder des größten kroatischen Schauspielhauses, welche Raum für vernachlässigte Werke schaffen wollten - neben Faust sollten im gleichen Format noch Texte von Tolstoj (Der lebende Leichnahm), Ibsen (Peer Gynt), Shakespeare (Hamlet) und des Duos Milan Ogrizovi}/ Andrija Mil~inovi} (Der Fluch) vorgestellt werden. BH 10 Book.indb 192 22.8.2008 22: 10: 30 Faust auf Faust 193 stand beispielsweise in einem Zagreber Theaterblatt als einziger Kommentar. 43 Sehr ausführlich berichtete allerdings die Studentenzeitschrift Studentski list. Hier ging man vor allem auf die gewählte Form des Rezitativs ein, wobei Faust »eines der größten dramenpoetischen Werke der Weltliteratur« genannt wurde, das »relativ wenige Aussichten« hätte, in baldiger Zukunft »normal« szenisch aufgeführt zu werden. 44 Bei der rezitativischen Realisation bemängelte der Kritiker, dass die Lesung in einigen Punkten noch zu sehr zum Schauspielerischen hin neigte, was die Konzentration der Zuhörer gestört hätte. In diesen Kontext gehörte auch die Kritik an der Übersetzung Strozzis, wie man sie schon zehn Jahre zuvor hatte hören können - die unpassende Einsilbigkeit und die (daraus folgende) häufige Banalität der Reime sowie unschöne Akzentuierungen wurden hier jedoch nur kurz angeschnitten. Der »Experimentalcharakter« dieses Faust- Versuchs wurde nicht als negativ ausgelegt, da es sich angeblich zeigte, dass sich die Schauspieler einer solchen Herausforderung erfolgreich stellen konnten und »die Zuhörer, bzw. Zuschauer, an solchen Vorführungen interessiert sind und sie schätzen«. 45 Diese erste Rückkehr eines Stücks von Johann Wolfgang Goethe ins Zagreber Theaterrepertoire nach dem Zweiten Weltkrieg fand zwar als eher nebensächliches Rezitativ statt, doch sie war kennzeichnend für die weitere Entwicklung der kulturellen Beziehungen zwischen Kroatien und dem deutschsprachigen Raum. Einerseits wollte man in der Hauptstadt der damaligen jugoslawischen Teilrepublik damit wohl prüfen, wie die deutsche Literatur nach den Wirrnissen der jüngsten Vergangenheit in der Öffentlichkeit aufgenommen wird. Es sollte dadurch Annäherung an ein Land geübt werden, das allen seinen geschichtlichen Irrtümern zum Trotz wieder aufgewertet wurde. Politisch waren die Weichen dafür schon gestellt: 1948 kündigte die kommunistische Führung Jugoslawiens ihr Bündnis mit der Sowjetunion auf und bewegte sich in der Folgezeit immer mehr zu westlichen Mächten hin, was 1951 in der Unterzeichnung von Militärhilfeverträgen mit den USA und der anschließenden Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland seine konkrete Form bekam. Dass auch im Bereich der Kultur dem Westen nachgeeifert werden sollte, zeigte sich dann spätestens 1952, als sich Miroslav Krle`a als bedeutende Persönlichkeit der kroatischen und gesamtjugoslawischen Literaturszene in seiner Rede auf einem Schriftstellerkongress in Ljubljana gegen den sozialistischen Realismus aussprach. Unter anderem auch durch die Wiederaufnahme von Faust wurde das Kroatische Nationaltheater HNK in Zagreb also wieder einmal zum wichtigen kulturpolitischen Element und Goethes Drama zu seinem relevanten Werkzeug. Eine wichtige Stütze für das Rezitativ gab auch das gleichzeitige Projekt der Wiederaufführung von Richard Wagners Lohengrin. Diese Oper wurde seit dem 43 Recitativne interpretacije dramskih djela, Kazali{ne vijesti, 6/ 1951-52, S. 15. 44 S.: Recitativna izvedba »Fausta«, Studentski list, 8. 3. 1952, S. 5. 45 Ebenda. BH 10 Book.indb 193 22.8.2008 22: 10: 30 194 Rikard Puh 24. Januar 1952 wieder gespielt und avancierte zum größten Publikumsschlager. Der öffentliche Aufwand, der 1942 noch der Faust-Premiere galt, wurde nun diesem Werk zuteil. Die Presse erinnerte daran, dass eben dieser Titel die erste Arbeit Wagners war, die eine Aufführung in Zagreb feiern konnte - im Jahre 1893 - und wies auf seine Popularität im Kroatien der Jahrhundertwende hin. Für diese Inszenierung wurde dem Theaterensemble in allen Segmenten Erfolg bescheinigt: Sie galt als ein »sehr positiver Beitrag in der Nachkriegszeit«. 46 Doch Lohengrin wurde vornehmlich für seine musikalische Seite gerühmt und wurde zum Spektakel für die breite Masse. Zur Annäherung an die deutsche Kultur durch die Mittel des Theaters war der wieder in Erinnerung gerufene Faust in seiner rezitativischen Form weitaus richtungsweisender. Aus dem Dramenangebot am Kroatischen Nationaltheater der folgenden Jahre ist nämlich herauslesbar, dass erst auf dieses Ereignis hin die deutschsprachige Dramatik in Zagreb wieder verstärkt aufgeführt wurde: 1956 gab man Goethes Egmont neu und 1957 Brechts Kaukasischen Kreidekreis, auf welchen 1958 auch Die Ausnahme und die Regel, 1959 Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame usw. folgten. Die Zagreber Faust-Version von 1952 entstand in einer Zeit des kulturpolitischen Aufbruchs: Das Kroatische Nationaltheater in Zagreb, seit September 1949 mit dem Literaten Marijan Matkovi} an der Spitze, sollte eine kreative und vitale Kraft in der Gestaltung der Kulturpolitik werden und sich so autonom, wie dieses in einem Staat unmittelbar nach dem Weltkrieg nur möglich war, von allen Vorgaben absetzen, bzw. an die Höhepunkte der Zwischenkriegszeit anschließen. Diese Ziele sollten jedoch paradoxerweise von einem Teil der auch im Unabhängigen Staat Kroatien Aktiven angegangen werden. Besonders brisant und exemplarisch erscheint in diesem Zusammenhang der Lebensweg Tito Strozzis, dessen Schicksal mit dem Fausts in Kroatien zusammenfällt und sich für die kurze Analyse der Propagandamechanismen und -paradigmen im kulturellen Zagreb zwischen 1942 und 1952 bestens anbietet. 47 Im Unabhängigen Staat Kroatien noch als ein Regisseur »von europäischer Bedeutung, Format und Rang« 48 angesehen, erlebte dieser vielseitige Theatermann - er war Regisseur, Schauspieler, Dramenautor, eifriger Übersetzer und Pädagoge - mit dem Machtwechsel 1945 die tiefsten Punkte seiner Karriere. Obwohl er mit seinem Verhalten angeblich zweimal gegen die Vorgehensweise der Ustascha-Leitung gehandelt hatte - bei einer diskriminierenden Selektierung der Schauspieler in die katholischen und die »falschgläubigen« stellte er sich auf die Seite der Minderheit und bei einem Besuch des Poglavnik Paveli} versagte er diesem angeblich den Hitlergruß -, war er für die neue Theaterfüh- 46 F. Pomykalo: Osvrt na novu izvedbu Wagnerova »Lohengrina« na pozornici zagreba~ke opere, Narodni list, 29. 1. 1952, S. 2. 47 Über ausführliche Darstellung zu seinem Leben und Werk vgl. Ana Lederer: Redatelj Tito Strozzi, Zagreb 2003. Etwas subjektiver gezeichnet, aber dennoch informativ, ist der Zugang zur Person Strozzis aus der Feder seiner Witwe in Eliza Gerner: Tito Strozzi. Svjetla i sjene jednoga gluma~kog puta, Zagreb 2004. 48 N. ‡Nikolaj Ivanovi~™ F‡edorov™: Tito Strozzi. 25 godina umjetni~kog rada, Pokret 44/ 1944, S. 9. BH 10 Book.indb 194 22.8.2008 22: 10: 30 Faust auf Faust 195 rung umstritten. Trotz der anfänglich fortschrittlichen Ansätze als Dramaturg hatte Strozzi im faschistischen Kroatien eher mit einer den politischen Richtlinien angepassten Repertoirewahl Erfolg gehabt, welche sich auf Klassiker, unterhaltsame Salonstücke und patriotisch-nationalistisch angehauchte Werke gestützt hatte. Nach dem Krieg musste er sich deshalb vor dem Ehrengericht der kommunistischen Theaterschaffenden verantworten. Diese Instanz wurde nämlich erstellt, um im neuen Staate Jugoslawien auch im Theaterleben einen völligen Neuanfang zu machen. Es sollte Fehlverhalten aus der Vergangenheit - vor allem bei denjenigen, die unter den Ustascha gearbeitet hatten und jetzt in Kroatien blieben - angesprochen, problematisiert und bestraft werden. Strozzi wurden drei Punkte zum Verhängnis: die Inszenierung einer Dramenversion des Romans Herdfeuer vom Ustascha-Minister Mile Budak 1941, sein eigenes, 1944 aufgeführtes, patriotisches Geschichtsdrama Tomislav und die wohl eher auf Missverständnissen beruhende Tatsache, dass er am Abend der hinterhältigen Tötung seines Kollegen Janko Raku{a im Februar 1945 ein feierliches Essen gab. Zur Strafe für diese - aus der Sicht der neuen Staatsleitung - politischen Fehltritte, worunter sich auch rein private, auf möglichen Fehldeutungen beruhende und keinesfalls eindeutig feststellbare Missgeschicke befanden, wurden ihm sechs Monate Arbeitsverbot auferlegt. Hierin offenbarte sich die Willkür der Vorgehensweise der neuen kulturpolitischen Leitung. Als man dann schon kurze Zeit später feststellen musste, dass an guten Regisseuren extremer Mangel herrschte, wurde ihm mit der Verringerung seiner Strafzeit auf vier Monate über Nacht Gnade erteilt. Sofort durfte er Opern inszenieren und seit Ende 1945 wieder Dramen. Doch schon 1949 musste er sich einem von oben erteilten Dekret fügen und Zagreb in Richtung Provinz nach Rijeka verlassen. Unter neuen gesellschaftlichen Vorzeichen saß ihm nämlich ständig seine Herkunft im Nacken - er entstammte einer reichen Familie, die viele Künstler hervorbrachte und in der Nachkriegsordnung zur Bourgeoisie zählte. Die Formel für seine vollständige Wiedereingliederung in das Zagreber Theaterleben konnte also lediglich über die Kritikerfloskel, dass in seinem Schauspielund/ oder Regiestil die »gesellschaftliche und Klassenbedingtheit« stark genug betont sei, geschehen, wie es dann 1952 in einer Tageszeitung hieß. 49 Zwar hatte Strozzi schon nach 1945 künstlerisch ansprechende Leistungen erbracht, sowohl als Schauspieler als auch als Regisseur, doch beim Aufbau einer neuen, sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft war dies nicht genug, um sich als wichtige Persönlichkeit zu profilieren. Nach der Saison 1949-50 befand er sich dann aber wieder in Zagreb, zurückgeholt und mit vielen Freiheiten in kreativ-künstlerischer Hinsicht versehen von einem Intendanten ohne jeglichen Vergangenheitsmakel. Hätte sich die Feuilletonpropaganda der damals noch jungen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien strengstens an ihre Vorur- 49 Allerdings nicht für das Faust-Rezitativ, sondern für das Stück Utvara (Erscheinung). Vgl. Dr. Drago Rubin: Tito Strozzi u tridesetgodi{njem umjetni~kom radu, Narodni list, 8. 2. 1952, S. 4. BH 10 Book.indb 195 22.8.2008 22: 10: 30 196 Rikard Puh teile, rigorose Kritik und strikte Moral gehalten, so wäre die Rückkehr der Klassiker Goethe und Wagner sowie Tito Strozzis im Kroatischen Nationaltheater in Zagreb sicherlich schwerer vonstatten gegangen. Nach Faust und Lohengrin brachte Strozzi dann 1956 auch Egmont auf die Bühne, was die ersten Erfolge der deutschen Dramatik in Kroatien nach 1945 abrundete. Die Stücke deutschsprachiger Autoren wurden nun jedenfalls nicht mehr nur und ausschließlich als unumgängliches Propagandamaterial für oder gegen Deutschland betrachtet. Somit wurde Faust in den Folgejahren nur noch einmal zum Anstoß für Kontroversen und das indirekt. 1981 schrieb Slobodan [najder sein oben schon erwähntes Geschichtsdrama Kroatischer Faust, dessen wichtige Inszenierungen (1982 in Split und Belgrad, 1983 in Vara`din, 1987 in Mühlheim sowie 1993 in Wien) allesamt von heftigen Polemiken begleitet wurden. Die Fabel, welche die Rahmenproblematik der Zagreber Faust-Aufführung von 1942 und die Lage in Kroatien während des Zweiten Weltkriegs betrifft, wirft hier zwar die Frage auf, ob die kroatische Kultur unterschwellig immer faschistisch sei, aber zudem hebt sie das Faustische des Künstlerschicksals hervor: Der Faust-Darsteller Afri}, zunächst ein hedonistischer Bonvivant, dann aber ein aus humanistischen Gründen auf Seiten der Partisanen kämpfender Idealist, geht seiner Natur wegen zugrunde. Als empfindlicher Intellektueller findet er sich in den Kriegs- und Nachkriegsgräueln nur schwer zurecht. So wird ihm im vorletzten Bild vom leitenden Partisanenkommissar das von ihm zu gestaltende Theaterprogramm aufgezwungen. Lapidar werden dem aus dem Ustascha-Zagreb Geflohenen und auf Siegerseite aus dem Krieg nach Hause Zurückkehrenden sowjetische Einakter in die Hände gedrückt und die nächste Faust-Aufführung befohlen: »Du bist ein proletarischer Schauspieler und du wirst spielen! « 50 In einem solchen Kontext kann der Doppelcharakter der Kunst, die Welt abzubilden und damit gleichzeitig etwas zu bewegen, leicht ins Groteske gewendet werden. Statt autonom nach abstrakten Gehalten zu greifen, wird sie bloß für bestimmte Zwecke benutzt, so dass nicht die Politik zur Kunstsache, sondern die Kunst zum Politikum wird. Und dann werden die Rezeption und Biographisches der Akteure womöglich wichtiger als das Drama selbst. 50 Slobodan [najder: Kroatischer Faust. Stück in drei Teilen. Burgtheater Wien. Programmbuch Nr. 117, Wien 1993, hier S. 96. Anmerkung: Dieser Satz stammt aus der angegebenen Bühnenfassung des Werks und ist in anderen Versionen des Stücks (vgl. Anm. 1) in dieser Form nicht vorhanden. BH 10 Book.indb 196 22.8.2008 22: 10: 30 U LRICH D RONSKE (Z AGREB ) Identität und Exil Zu Dinah Nelkens Erzählung U {umu, in den Wald, zu den Partisanen Sicher ist: Exilliteratur ereignet sich unter den Bedingungen eines extremen Identitätsverlusts: Verlust der gewohnten Umgebung, Verlust des Alltags, Verlust der Heimat, Verlust des Freundeskreises, Verlust der Sprache, Verlust der eingespielten Produktions- und Reproduktionsbedingungen, Verlust der vertrauten sozialen Institutionen und Mechanismen, Verlust der Wirksamkeit tradierter kultureller Muster. In allem sieht sich das schreibende Subjekt aus dem Zentrum an die Peripherie, aus dem Vertrauten ins Unvertraute, aus dem Innen ins Außen versetzt, begegnet es sich selbst als Fremdem in einem fremden kulturellen Kontext. Von daher kann es nicht wundern, dass eine von der Exil-, Flucht- und Verfolgungserfahrung selbst inspirierte Literatur 1 wie etwa Anna Seghers’ Transit oder der hier besprochene Text U {umu, in den Wald, zu den Partisanen 2 von Dinah Nelken mit oszillierenden Subjektmodellen oder Identitätskonstrukten zu tun hat, mit Subjekten also, deren Status in einem hohen Maße ungesichert ist, ja deren Nichtidentität gerade den Schreibprozess zu beherrschen bzw. zu motivieren scheint. Wir wissen, dass Anna Seghers’ Roman Transit durch seine politischen Dimensionen hindurch auf der inhaltlichen Ebene auch ein Text über die unauflösliche Verknüpfung von Begehren und Verfehlung ist, also über eine unmögliche (Liebes-)Beziehung oder gar über die Unmöglichkeit einer (Liebes-)Beziehung, die letztlich auf Verwechslung, Verschiebung, Vertauschung basiert, auf der Nichtwahrnehmung des Anderen, auf dessen Ver- oder Austauschung, auf seiner Verdoppelung im Spiel von An- und Abwesenheit der Identitäten und ihrer Namen, ein Text folglich, der an der Unmöglichkeit der hier gestalteten (Geschlechter-)Beziehung die Exilsituation als unmögliche Beziehungsform, damit »die Identitätssuche der aller Orientierung beraubten Exilierten« 3 paradigmatisch thematisiert und so vielleicht aus einer extremen Konstellation heraus einen Beitrag zum Zusammenhang von Identität und Verkennung leistet. Dinah Nelkens kurzer, im Jahre 1943 verfasster Prosatext mit dem Titel U {umu, in den Wald, zu den Partisanen handelt von dem gefährdeten Aufenthalt einer aus Deutschland stammenden Exiliertengruppe auf der von italienischen 1 Auf die Tatsache, dass die Exilliteratur eher selten vom Leben im Exil selbst handelt, weist Hans Gerd Rötzer in seiner Geschichte der deutschen Literatur hin. Siehe: Hans Gerd Rötzner: Geschichte der deutschen Literatur. Epochen - Autoren - Werke, Bamberg 1992, S. 375. 2 Dinah Nelken: U {umu, in den Wald, zu den Partisanen. In: Dieselbe: Die ganze Zeit meines Lebens. Geschichten - Gedichte - Berichte, Berlin 1977, S. 65-82. Im Folgenden abgekürzt durch: Nelken 1977. 3 Werner Roggausch: Das Exilwerk von Anna Seghers 1933-1939. Volksfront und antifaschistische Literatur, München 1979, S. 8. BH 10 Book.indb 197 22.8.2008 22: 10: 30 198 Ulrich Dronske Truppen besetzten Insel Kor~ula und ist dabei allein auf Subjektdiffusion konzentriert, also auf ein Spiel von Identität und Nicht-Identität, auf Anerkennung und Verkennung innerhalb des engen, abgeschlossenen Kreises der sich im Exil Befindenden. Da er den wenigsten bekannt sein dürfte, soll sein Inhalt hier kurz wiedergegeben werden. Zunächst aber ein paar Worte zur Autorin. Dinah Nelken wurde am 16. Mai 1900 in Berlin geboren, wo sie am 14. Januar 1989 verstarb. In den zwanziger Jahren publizierte sie Kurzgeschichten und Artikel in Berliner Zeitungen, schrieb dann Texte für ihr 1927 gegründetes politisch-literarisches Kabarett »Die Unmöglichen« und verfasste später Novellen, Romane, Filmstoffe und Drehbücher. 1936 ging sie zusammen mit ihrem späteren Mann aufgrund ihrer konsequent antifaschistischen Haltung freiwillig nach Wien ins Exil, nach dem Anschluss Österreichs dann weiter auf die dalmatinische Insel Kor~ula, um sich dann vor den deutschen Nationalsozialisten ab 1943 in Italien zu verstecken. 1950 kehrt sie mit ihrem Mann nach Westberlin zurück, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Als ihr wichtigstes Werk gilt der im Jahre 1954 verfasste Roman Spring über deinen Schatten, spring (1962 Neufassung unter dem Titel Geständnis einer Leidenschaft), 4 der wie die hier zu behandelnde Geschichte eine Verarbeitung der dalmatinischen Exilerfahrungen beinhaltet. Der Text spielt in Split, handelt allerdings nicht vom Leben im Exil, sondern von der Liebe zwischen einer serbischen Partisanin und einem kroatischen Journalisten, der sich im Verlauf der Geschichte von einem zynischen bürgerlichen Intellektuellen zu einem entschiedenen Anhänger der Partisanen wandelt. Der Text U {umu, in den Wald, zu den Partisanen spielt hingegen unmittelbar im Exilantenmilieu. Genauer gesagt reduziert sich der Kreis der Exilierten auf einen engen, um eine Person erweiterten Familienkreis, der kontrolliert von den italienischen Besatzern keinen relevanten, jedenfalls kaum einen erzählten Kontakt zur Außenwelt besitzt, also in einer deutlichen Abschottung von der heimischen Bevölkerung für sich lebt. Hauptakteure der stark autobiographisch gehaltenen Erzählung sind die Ich-Erzählerin, ihr Bruder Poldi und ihr Mann Heinrich, zu denen sich ein aus Zagreb stammender kroatischer Intellektueller namens Stari} in Abwesenheit des Bruders und diesen in vielerlei Hinsicht ersetzend hinzugesellt. Der Bruder hat sich vor der Ankunft des Kroaten illegal nach Split aufgemacht, um von dort aus zu den Partisanen vorzudringen, denen er sich anzuschließen gedenkt. Dies wollte er eigentlich gemeinsam mit Stari} tun, der allerdings einen Tag zu spät kommt und nun die Stelle des von ihm Verpassten einnehmen muss, nachdem er sich bei einer Hausdurchsuchung seitens einer Gruppe italienischer Soldaten aus der benachbarten Festung gezwungenermaßen als der ohne Erlaubnis abwesende Bruder ausgegeben hat und dies nun jeden Tag regelmäßig aufs Neue vor dem italienischen Kommandanten, der die drei bei der Hausdurchsuchung zum allmorgendlichen Rapport zu sich einbe- 4 Dinah Nelken: Geständnis einer Leidenschaft, Berlin 71976. Im Folgenden abgekürzt durch: Nelken 1976. BH 10 Book.indb 198 22.8.2008 22: 10: 31 Identität und Exil 199 stellt hat, zu tun gezwungen ist. Als nach der Rückkehr des mit seinem Vorhaben gescheiterten Bruders die auf vier Personen angewachsene Gruppe aufzufliegen droht, verlässt Stari} das Haus. Einen Tag später wird der sie Tag für Tag einbestellende italienische Kommandant bei einem Partisanenüberfall zusammen mit fünfzehn anderen italienischen Soldaten getötet. Der auf den deutschstämmigen familiären Kern zusammengeschrumpfte Kreis der Exilanten bleibt folglich dank des erfolgreichen Partisanenangriffs auch weiterhin unbehelligt. So weit die Handlung des Textes, die zwischen Intensität und Konfusion, Kohärenz und Kontingenz schwankt. Dabei gelingt es der Autorin nicht, inneres und äußeres Geschehen sinnvoll zu integrieren. Es gibt eine offensichtliche Nachlässigkeit auf der Ebene der Handlungsmotivation, also deutliche Defizite im Bereich der Integration der äußeren Abläufe. Dies betrifft insbesondere die Figur Stari}’s. Weder seine Ankunft noch sein Abschied ist sinnvoll motiviert, alle Überlegungen, die die existentiellen Risiken der hier vollzogenen Handlungen reflektierten, spielen keine Rolle. Diese Handlungssequenzen besitzen Plausibilität allein auf der psychodynamischen Ebene des Textes. 5 Schon daran zeigt sich, dass die Hauptaufmerksamkeit des Textes nicht auf den Handlungsgang, die Handlungsfolgen, den vordergründig dramatischen Aspekt der existentiell bedrohten Exilierten konzentriert ist. Vielmehr interessiert das durch die italienischen Besatzungstruppen in Gang gesetzte und aufrecht erhaltene Bedrohungs- und Verfolgungsszenario eher im Hinblick auf die dadurch ermöglichten Effekte auf die Gruppe der Exilierten - auf das Spiel mit Vertauschung und Verwechslung, mit Identitätsverlust und Identitätsverschiebung. Was aber geschieht in dem weitgehend auf den Innenraum des Hauses auf Kor~ula beschränkten Inneren des Textes? Wir begegnen hier vier Personen, die eng miteinander verwoben sind: - durch Blutsverwandtschaft (Erzählerin und Poldi als Geschwisterpaar); - durch Heirat (Erzählerin und Heinrich als Ehepaar); - durch die gemeinsame Exilsituation (Erzählerin, Heinrich, Poldi und Stari} als Exilierte auf Kor~ula); - durch ein fast schon frei zwischen diesen Personen fluktuierendes Gefühls- oder Liebespotenzial mit der Erzählerin als Zentrum, also durch Liebesbeziehungen zwischen (Ehe-)Mann und (Ehe-)Frau, zwischen Schwester und Bru- 5 Die Ankunft von Stari} in dem alten Haus auf Kor~ula wird nur ganz vage begründet, sie hat eine kaum motivierte Selbstverständlichkeit, so als ob der persönlich Unbekannte ein alter Vertrauter wäre, und auch das Verschwinden Stari}’s am Ende des Textes wird in gewisser Weise wie selbstverständlich hingenommen, obwohl dadurch die Gefahr für die zurückgebliebenen Drei sich deutlich erhöht. Schließlich hat sich der Zagreber Exilant vor dem italienischen Offizier seit vierzehn Tagen als Poldi ausgegeben, die Anwesenheit des richtigen Poldis am nächsten Morgen hätte ein noch lebender »Tenente« also bemerken und entsprechend sanktionieren müssen. Dass dies zumindest für Heinrich den sicheren Tod hätte bedeuten können, macht der Text unmissverständlich deutlich. Stari}’s Verbleiben im Haus böte also immerhin die geringe Chance, dass er weiterhin das allmorgendliche Verwechslungsspiel mitspielt, während der zurückgekehrte Poldi sich hätte versteckt halten können, um so das Überleben der Exilantengruppe zu sichern. BH 10 Book.indb 199 22.8.2008 22: 10: 31 200 Ulrich Dronske der, zwischen Frau und Geliebtem (Stari}) und - eher platonisch - zwischen Mann und Geliebtem (Stari}). Es entfaltet sich folglich bei dieser nach der Sperrstunde stattfindenden hermetischen Einschließung und Überwachung im dalmatinischen Haus eine deutlich intensivierte Intimität, in der ein auf alle sich richtendes Begehren gleichsam implodiert. Thema des Textes ist somit vor allem Identität und Liebe bzw. Identitätsverlust und Inzest. Dabei bildet das inzestuöse Begehren 6 der Ich-Erzählerin zum eigenen Bruder das implodierende Zentrum des Beziehungsdramas. Als verbotenes Begehren muss es verdrängt bzw. verschoben werden. Der Bruder ist deshalb durch einen anderen, hier durch Stari}, zu ersetzen: Dieser tut dies auf der realen Ebene schon deshalb, weil er als Freund/ Bekannter des Bruders auftritt, also mit dem liiert ist, den er ersetzen wird. Er tut dies zudem, indem er als Dritter im Haus den fehlenden Poldi vertritt und dessen Rolle gegenüber dem italienischen Oberleutnant allmorgendlich einnimmt. »Ich war du, vierzehn Tage lang ‡...™ und morgen müssen wir diesen Idioten ‡gemeint sind die Italiener™ da drüben beibringen, daß ich du oder wir beide du sind« (Nelken 1977, 77), so begrüßt Stari} den von seiner erfolglosen Fahrt nach Split zurückkehrenden Poldi. Damit fungiert Stari} auf der Handlungsebene des Textes als Poldi - mit allen äußerlichen Konsequenzen: Er haust wie dieser im Bootsschuppen und trägt dabei »Poldis gelbe‡n™ Bademantel« (Nelken 1977, 77). Aber Stari} selbst weist auf eine andere Stellvertretung hin, wenn er behauptet, dass der Tenente »mit dem transzendentalen Unterbewusstsein im Archaischen seines Blutes« spüre, »dass da bei uns ein Geheimnis ist, ein doppeltes Sein, eine zweite Existenz ...« (Nelken 1977, 74). Er deutet damit an, dass es über den Vorgang der bloßen Vertretung des einen durch den anderen eine tiefere Dimension in diesem Ersetzungsverhältnis gibt. Dies verweist auf die Ebene des Begehrens. Sie ist die eigentliche Ebene, auf der Stellvertretung, Ersetzung, Austausch stattfindet, und die sich in den realen Ersetzungsprozessen gleichsam verdoppelt sieht. Und sie wird direkt zu Beginn durch einen Dialog zwischen der Erzählerin und Poldi eröffnet, in dem der Bruder seine Rivalität zum Schwager akzentuiert: Als die Schwester wegen Poldis Absichten, zu den Partisanen zu gehen, meint, sie habe Angst, erwidert der Bruder: »’Um Heinrich’, sagte er, ’um den geht es dir doch. ‡...™ Und ich, was bin ich? Der kleine Bruder, den du behütest und beschützt und bewahrst. Wofür eigentlich? ’« (Nelken 1977, 65) Dieses vom Bruder kritisierte eher mütterliche Verhältnis der großen Schwester zum kleinen Bruder wird hier schon unterlaufen und seltsam intensiviert, wenn die Erzählerin auf die Frage nach dem Wofür sich selber antwortet: »Für mich, wollte ich sagen« (Nelken 1977, 65), um zu ergänzen: »Wie ist es möglich, daß einem einer ans Herz wächst, ins Herz hinein, immer tiefer, je mehr man ihn sich rauszureißen sucht? « (Nelken 1977, 65) Das, was sich hier nur andeutet, wird über die verschobene Beziehung zu 6 Zum Thema Inzest in Literatur und Film siehe Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart, Köln - Weimar - Wien 2003. BH 10 Book.indb 200 22.8.2008 22: 10: 31 Identität und Exil 201 Stari} erzählbar: »Vielleicht auch - und hier verwirren sich mir Herz und Sinne aus Angst, ja, aus Angst vor der Wahrheit - vielleicht auch, daß ich an der Brust des Fremden den immer geliebten, immer versagten Bruder umarmte.« (Nelken 1977, 75) Aber auch der Ehemann kann durch die verschobene und aufgeschobene Beziehung seiner Frau zu Stari} deren latentes Begehren nach dem Bruder erstmals offen artikulieren. Nachdem die Erzählerin auf der realen Ebene die Namen verwechselt hat - »Er heißt Stari}, nicht Poldi. Du hast sie nur verwechselt, wie der Oberleutnant da drüben« (Nelken 1977, 79), so Heinrich zu seiner Frau -, thematisiert er deren inzestuöses Begehren, indem er seinen Wunsch ausdrückt, zwischen Stari} und seiner Frau wäre etwas gewesen. »Denn dann wärs gewesen und vorbei, und du hättest ihn gehabt, nicht Stari}, nein, Poldi. Denn um Poldi gings ja immer, dein Leben lang - unser Leben lang.« (Nelken 1977, 80) 7 Aber damit sind die libidinösen Möglichkeiten Stari}’s noch nicht erschöpft, denn für die Erzählerin steht wenigstens vor der Enthüllung ihrer inzestuösen Neigungen fest, dass Stari} ihren Mann »ja wohl liebte, tiefer als mich« (Nelken 1977, 77). Immerhin erscheint er gleichermaßen als dessen Ebenbild - er teilt mit ihm ein »Reich gemeinsamer Erlebnisse« (Nelken 1977, 78) und Stari} und Heinrich »schienen sich ähnlich« (Nelken 1977, 68) - wie als dessen Gegenbild, insofern der realistische Heinrich die »Traumwelt« (Nelken 1977, 67) des Zagreber Exilanten mit »spöttischen Entgegnungen« (Nelken 1977, 67) bedenkt. Egal, ob diese Identifikation des Fremden mit dem eigenen Mann und die Verwendung des Begriffs Liebe zur Charakterisierung ihrer Beziehung eine Verleugnung des eigenen inzestuösen Begehrens sind oder nicht, auf Stari} konzentrieren sich die libidinösen Energien und Wünsche. So wundert es nicht, dass er Schriftsteller ist und als solcher in seinen Traumwelten das Unbewusste repräsentiert und bei den Beteiligten, wenigstens aber bei der Erzählerin, das Unbewusste mobilisiert: Da ist die Rede von der »unermesslichen Weite inneren Lebens«, von »Traum und Begierde, ungewußte‡n™ Wünsche‡n™, ungewußte‡n™ Sehnsüchte‡n™, ungewußte‡m™ Haß und ach, wieviel mehr ungewußte‡r™ Liebe« (Nelken 1977, 67). Stari} fungiert so als Gegenbild zur objektiven Lage der Exilierten, als Gegenentwurf zu einer vom bloßen Überlebenskampf bestimmten Existenz, denn - so die Erzählerin - es ist die Frage, ob »Liebe und Haß überhaupt in jenen Tagen etwas galten gegenüber einer Wirklichkeit, in der es immer um Leben und Tod ging« (Nelken 1977, 67). Und so nimmt es nicht wunder, dass Stari} im Moment seiner existentiellen Bedrohung primär die Bedrohung seiner Iden- 7 Inzest ist auch ein - unterschwelliges - Thema in Dinah Nelkens durch das Exil in Dalmatien inspirierten Roman Geständnis einer Leidenschaft, in dem die Hauptfigur immer wieder Ähnlichkeiten zwischen seiner serbischen Geliebten und seiner von ihm eher verachteten Schwester thematisiert und so auch in diesem Falle eine verschobene Realisierung des inzestuösen Verlangens nahe legt. Sätze wie: »Sie ‡die serbische Geliebte, U. D.™ wurde rot, wie Ljuba manchmal errötete, und plötzlich wußte ich, daß meine Schwester ihr ähnelt« (Nelken 1976, 33) oder: »Jedesmal empfing ich sie ‡die serbische Geliebte, U. D.™ wie eine Fremde, bis ich sie im lichten Bewußtsein des Glückes ‡...™ erkannte als mein Fleisch und Blut« (Nelken 1976, 60) zeigen diese inzestuöse Dimension der Liebesbeziehung zur serbischen Partisanin. Aber dieser später verfasste Roman thematisiert nicht wie der aus der Exilzeit auf Kor~ula stammende Text U {umu, in den Wald, zu den Partisanen offen die libidinöse Verstrickung zwischen Bruder und Schwester. BH 10 Book.indb 201 22.8.2008 22: 10: 31 202 Ulrich Dronske tität im Gewebe der die Personen vermischenden Gefühle realisiert, wenn er seine Beziehung zur Ich-Erzählerin wie folgt resümiert: »’Das ist es nämlich, es war nichts, ich war nichts! Niemand also, kein Mensch, kein Wesen, kein Sein! Nur ein Ersatz! ’« (Nelken 1977, 80), um das Haus der exilierten Deutschen auf Kor~ula mit den Worten zu verlassen: »Ich werde mich schon finden. Irgendwo.« (Nelken 1977, 81) Wir sehen folglich, wie durch die inzestuöse Konstellation die Subjekte in diesem Text ihre Abgrenzung verlieren, einander ähnlich werden, ineinander übergehen, sich ineinander verschieben, den anderen ersetzen und dabei zum anderen werden. Wir sehen zudem, dass das (verschobene) Zentrum dieser Entgrenzungen Stari} bildet, der ohne eigene Identität den Bruder vertritt, und dabei in sich den Ehemann und als Künstler, als Schriftsteller zugleich die Erzählerin spiegelt. Wir sehen, wie die hermetische Ein- und Abschließung der Exilierten die Gefühlswelt der Ein- und Ausgeschlossenen mobilisiert, deren Handlungsunfähigkeit in der gesellschaftlichen Sphäre folglich einhergeht mit der entschiedenen Freisetzung ihrer Emotionen bis hin zur offenen Thematisierung auch der inzestuösen Regungen der Frau in ihrem Begehren nach dem den Bruder ersetzenden kroatischen Schriftsteller. Wir sehen, wie dies die Logik des Handlungsgangs zerrüttet, wie die Motivierung der Handlungsfolge sich von den äußeren auf innere Notwendigkeiten verschiebt, wie das Kalkül mit existentiellen Risiken zugunsten eines Kalküls mit emotionalen Befindlichkeiten aufgegeben wird, wie die Bedrohung des Lebens hinter die Bedrohung der eigenen Identität zurücktritt, wie der Verlust der Identität die Gefahren fürs eigene Leben überblendet. Dem stehen Anfang und Ende der Erzählung entgegen. Sie fungieren gleichsam als fixer Rahmen für den sich auflösenden Innenraum des Erzählprozesses. Jenseits der changierenden Identitätskonstellationen konstituieren die Textanfang und -ende bestimmende dalmatinische Macchia, die Gewehre der Fischer und die Handlungen der Kommunisten einen klar benennbaren Anfang und ein klar definiertes Ende - die unwegsame, steinige Landschaft als (Ausgangs-)Ort der bewaffneten Befreiung oder als Grabstätte, als Außenraum und äußeres Geschehen, die den intimen Innenraum deutlich umgrenzen und in denen es jenseits aller intimen Verstrickungen um »leben, kämpfen, sterben« (Nelken 1977, 80) geht. Die Partisanen fungieren angesichts der implodierenden Intimität als Deus ex machina. Ihr erfolgreicher Angriff auf die italienischen Besatzungstruppen mit der Tötung des Tenente rettet die Exilierten aus ihrer lebensgefährlichen Situation und besiegelt endgültig die Verschiebung des inzestuösen Verlangens vom Bruder auf Stari}, sodass die Erzählung mit der folgenden Aufforderung an den kroatischen Geliebten enden darf: »‡...™ suche mich. Und rufe mich mit meinem Namen - du weißt ihn ja.« (Nelken 1977, 82) Die Partisanen ermöglichen so eine Lösung der existentiellen wie der libidinösen Probleme, die aus der implodierenden Innerlichkeit des (erweiterten) Familienkreises heraus nicht möglich gewesen wäre. Am Ende ist so das physische Überleben und die Befrei- BH 10 Book.indb 202 22.8.2008 22: 10: 31 Identität und Exil 203 ung des Begehrens aus der inzestuösen Falle möglich: Wir sehen ein Ich und ein Du, die nicht mehr Bruder und Schwester sind, und die sich beim Namen, d. h. als Identitäten kennen. Die radikale Abwesenheit des Anderen 8 aber fixiert das Begehren am vermissten Abwesenden und lässt es so zwischen Suche und Er- Wartung endlos zirkulieren. Fassen wir zusammen: Dinah Nelkens Text ist sicherlich keine literarische Großtat, dafür sind nicht nur die Schwächen im Bereich der Handlungsführung zu deutlich. Auch die Ausgestaltung der Beziehungen ist problematisch, sie gewinnen eine plötzliche Intensität, die aus den beschriebenen Begegnungen nicht abzuleiten ist und sich darüber hinaus mit einem übertriebenen Pathos in der sprachlichen Gestaltung liiert. Zudem ist die auf Unbewusstes und Traum reduzierte Figur eines am Rande des Ich-Verlusts sich bewegenden Künstlers wenig originell. Dennoch erscheint der Text deshalb nicht einfach nur als uninteressant oder trivial. Er ist zum einen eines der wenigen literarischen Zeugnisse über das Exil in den italienisch besetzten Teilen des heutigen Kroatiens, zum andern artikuliert er entschieden die Krise des Subjekts unter den Bedingungen des Exils. Wie in Anna Seghers’ Transit die Probleme der Identität, der Anerkennung, des Begehrens durch die existentielle Bedrohung der exilierten Subjekte hindurch sich ins Zentrum des Textes schieben, so begegnen wir hier einer seltsam von Blutschande und Ehebruch grundierten Dreibzw. Vierecksbeziehung, in der jenseits des Politischen die Gefühle der sich selber fragwürdig werdenden Subjekte eine bizarre Eigendynamik entfalten. Am Rande des Todes brechen in einem fremden gesellschaftlichen Raum in dem Maße die verdrängten Schichten der auf sich selbst verwiesenen Subjekte auf, wie diesen ein wirksames Handeln in der sozialen Sphäre unmöglich gemacht wird. Insofern zeigen solche Texte - auch der von Dinah Nelken -, dass die Exilsituation den ohnehin prekären Status der Subjekte gleichsam radikalisiert, weil die der Identität vorausgesetzten vertrauten gesellschaftlichen Institutionen und sozialen Mechanismen verloren gegangen sind. Diese Rückwendung nach innen gilt im Exil wenigstens dann, wenn den Exilierten der Weg zur politischen Aktion, der Weg in den Widerstand, der Weg in den Wald zu den Partisanen versperrt bleibt. 8 Der Text legt nahe, dass Stari} tot »in der steinigen Erde unter den Olivenbäumen« (Nelken 1977, 82) der Macchia liegt. BH 10 Book.indb 203 22.8.2008 22: 10: 31 BH 10 Book.indb 204 22.8.2008 22: 10: 31 S VJETLAN L ACKO V IDULI } (Z AGREB ) Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort Zur Wirkung der Handke-Kontroverse in Serbien seit 1991 Im nordwestlichen Teil des südosteuropäischen Raumes ist seit den späten 1980er Jahren bekanntlich eine umfassende Transformation im Gange, die mit der Stabilisierung neuer politischer Grenzen keineswegs abgeschlossen ist. Ein Aspekt des Wandels ist auch die diskursive Re-Konstruktion dieser Region, erkennbar nicht zuletzt an der Unmöglichkeit ihrer sachlich-distanzierten Benennung: Bereits Begriffe wie ’Ex-Jugoslawien’ oder ’neue Staaten’, ’Sezessionskrieg’ oder ’Auflösungsprozess’ markieren unterschiedliche historische Blickrichtungen und politische Standpunkte. Die ideologische und institutionelle Desintegration eines multiethnischen Staates, die darauf folgenden sog. jugoslawischen Erbfolgekriege sowie der Wechsel des politischen, des wirtschaftlichen und des Wertesystems haben auch zu Wandlungen im Bereich der regionalen kollektiven Identitäten und der sie konstituierenden Erinnerungskulturen geführt. 1 Diese regionalen Prozesse stehen einerseits im Wechselverhältnis zueinander, andererseits im Austausch mit der politischen bis diskursiven Rekonstruktion des postjugoslawischen Raumes in internationaler, fremdkultureller Perspektive. Ein Sonderfall der Beziehung zwischen dem regionalen und dem auswärtigen Beitrag zur Rekonstruktion des besagten Raumes ist die Kontroverse um Peter Handkes Engagement im Jugoslawien-Konflikt. Das wissenschaftliche Interesse an dieser Kontroverse folgte bisher text- und werkanalytischen, poetologischen, medienanalytischen und tiefenpsychologischen Fragestellungen, die sich aus Struktur, Aussagegehalt, Intention und persönlicher Motivation von Handkes literarischen und publizistischen Interventionen ergeben. Angesichts der Aktualität der Kontroverse verwundert es nicht, dass die diesbezügliche Handke- Forschung auch selbst einen Beitrag zur Kontroverse liefert, 2 unter anderem 1 Zur Komplexität dieser Prozesse (am Beispiel Kroatiens) vgl. Gehrmann 2005 und Lacko Viduli} 2007b. Allgemein zum Staatszerfall und den Kriegen in Jugoslawien: Popov 1996 und Mel~i} 2007. Die Quellenangaben in diesem Beitrag beziehen sich jeweils auf das Literaturverzeichnis. 2 Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die Ende 2007 erschienene Monographie von Hans Höller, der das affirmative und kohärente (und in dieser Hinsicht überaus gelungene) Porträt des lebenden Klassikers auch angesichts der Jugoslawien-Kontroverse aufrecht zu erhalten sucht - indem die Positionen der Handke’schen Jugoslawien-Texte von 1996 ausführlich dargestellt und ohne Abstriche gegen die bekannten Vorwürfe in Schutz genommen werden (sogar unter Berufung auf ein Urteil des Haager Tribunals im Srebrenica-Prozess von 2007), während die weiteren Stationen des Engagements (zur NATO-Intervention, zum Haager Tribunal und Milo{evi}, zur Kosovo-Frage) keine Erwähnung finden. Vgl. Höller 2007, bes. S. 110-119 u. 147f. BH 10 Book.indb 205 22.8.2008 22: 10: 31 206 Svjetlan Lacko Viduli} deshalb, weil der Zugriff auf einen wissenschaftlich gesicherten Konsens zum Jugoslawien-Konflikt noch nicht möglich ist. 3 Während die vor allem im deutschsprachigen Raum und im Rahmen der dortigen Zusammenhänge geführten Debatten um Handkes Engagement und seine Kritik an der Rolle der Medien, an der Balkan-Politik sowie am wirtschaftlichen und politischen System der »Westwelt« 4 von der Forschung beachtet und in den oben genannten Ansätzen aufgegriffen worden sind, ist bisher nicht systematisch auf die Auswirkungen der Kontroverse in jener Region eingegangen worden, in der der Gegenstand von Handkes Engagement und sein vorgebliches Zielpublikum 5 verortet sind. 6 Dabei ist die komplexe Verschachtelung von Kriegsgeschehen, ihrer medialen Vermittlung bzw. Konstruktion, der Kritik dieser medialen Konstruktion durch Handke, der Kritik der Handke’schen Kritik in den internationalen Reaktionen sowie schließlich der völlig divergenten Aufnahme und Vereinnahmung Handkes bzw. der Handke-Debatte in den nunmehr getrennten Medienräumen der ehemaligen Teilrepubliken sicherlich ein einmaliger Fall des multiplen Kulturtransfers. Die regionale Auswirkung der Kontroverse besteht in ihrem Einfluss auf die dortigen Umbruchsprozesse, vor allem auf das Kräftespiel der sich konstituierenden postjugoslawischen Erinnerungsgemeinschaften, deren Grenzen sowohl zwischen, als auch innerhalb der Gesellschaften in den neu etablierten Staaten verlaufen. Der Handke-Komplex ist zu einem wichtigen Topos im lokalen Krieg der politischen Positionen und Erinnerungsparadigmen geworden - vor allem in Serbien. Voraussetzungen und Korpus Zu den Voraussetzungen einer Untersuchung des Handke-Komplexes in diesem Zusammenhang zählt selbstverständlich der Einblick in den lokalen (erinnerungs)politischen Kontext. Kommt nun der Untersuchende selbst aus einem der lokalen Milieus, 7 sieht er sich mit spezifischen Schwierigkeiten und Herausforderungen methodischer Art konfrontiert. In der Bemühung um wissenschaftliche Distanz und Redlichkeit ist laufend den Effekten einer ’ethnifizierten Erinnerung’, 8 einer affektiven Besetzung des Gegenstandes sowie einer asymmetrischen Wissenslage entgegen zu arbeiten. Aus dieser Konstellation 3 Zur Auseinandersetzung vgl. exemplarisch Mel~i} 2007, Kapitel 32. 4 Handke 1998, S. 10. 5 »Mein Buch ’Gerechtigkeit für Serbien’ ist nicht für deutsche oder österreichische Leser geschrieben worden, sondern für das kroatische, serbische, muslimische und slowenische Lesepublikum ‡...™.« Handke im Gespräch mit Sonja [~eki}-Simi}, Nacional, 22. 3. 1996 (diese und alle folgenden Übers. aus dem Kroatischen und Serbischen: S. L. V.). 6 Die einzigen wissenschaftlichen Beiträge zum Thema sind m. W. Toma 2007 und Lacko Viduli} 2007a. 7 Der Autor dieser Studie kommt aus einer deutsch-kroatischen Familie in Kroatien, deren Distanz zum jugoslawischen Regime sich mütterlicherseits aus einer diffusen institutionsfeindlichen Position, väterlicherseits eher aus einer national-patriotischen Quelle speiste, die dem Autor allerdings erst nach Ausbruch des Krieges 1991 erkennbar wurde. 8 Vgl. Corkalo u. a. 2004, S. 149 u. 157. BH 10 Book.indb 206 22.8.2008 22: 10: 31 Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort 207 ergibt sich die Notwendigkeit einer besonders behutsamen Herangehensweise in der Untersuchung zum Handke-Komplex in Serbien. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich daher auf eine erste Sichtung der Quellen und erste Hypothesenbildungen, während die textnahe Aufarbeitung und Interpretation erst nach weiteren Vorarbeiten unternommen werden kann. Im Hinblick auf das Ausmaß und die mediale Streuung der lokalen Funktionalisierung des Handke-Komplexes in Serbien erscheint es ratsam, die Untersuchung nicht auf einzelne Medien oder Textsorten zu beschränken. Die vorläufige und sicherlich nicht lückenlose Bibliographie, auf die sich die Untersuchung stützt (die hier jedoch aus Platzgründen allerdings nicht aufgenommen werden kann) bezieht sich auf den Berichtzeitraum Januar 1991 - Juni 2007 und umfasst folgende Bereiche: 1. die literarische Rezeption im engeren Sinne, d. h. in serbischer Sprache erschienene Primärtexte von Handke, 2. die Handke-Inszenierungen in serbischen Theatern, 3. Bezüge zu Handke in literarischen Texten serbischer Autoren, 4. journalistische und 5. wissenschaftliche Beiträge. Zu berücksichtigen wären auf jeden Fall auch die TV-Genres (Meldungen, Reportagen, Interviews), die eine zentrale Rolle in der Breitenwirkung von Handkes Texten, Stellungnahmen und Aktionen bzw. ihrer politischen Instrumentalisierung gespielt haben. Die berücksichtigten 120 9 Beiträge aus der Tagespresse, 10 der Wochen-, Zweiwochen- und Monatspresse 11 sowie aus der Kulturpresse 12 entsprechen folgenden Kriterien: 1. verfasst von serbischen Autoren im In- oder Ausland, 2. als Erstpublikation oder als Übersetzung in Serbien erschienen, 3. expliziter oder impliziter Kommentar zur Handke-Kontroverse. In der Regel nicht aufgenommen wurden kommentarlose Meldungen, kommentarlose Wiedergaben ausländischer Reaktionen auf Handke, kommentarlos übernommene Handke-Interviews sowie Rezensionen ohne Bezug zur Kontroverse. 13 Die Vollständigkeit der Bibliographie ist vor allem im Bereich der Presse-Beiträge nicht gewährleistet, da die Bestände der benutzten Archive 14 Lücken aufweisen, eine systematische Recherche (in den einzelnen Medien selbst) hingegen nicht durchgeführt werden konnte. 9 1991: 1, 1992: 3, 1994: 0, 1995: 2, 1996: 41, 1997: 3, 1998: 2, 1999: 7, 2000: 2, 2001: 1, 2002: 1, 2003: 3, 2004: 3, 2005: 7, 2006: 39, 2007: 5. 10 Politika, Politika ekspres, Borba, Na{a borba, Novosti, Ve~ernje novosti, Blic, Glas javnosti, Dnevni telegraf, Danas, Kurir. 11 NIN, Duga, Vreme, Nedeljni telegraf, Profil, Evropa. Drei einschläge Beiträge zu Handke in Republika (1996) konnte ich leider noch nicht einsehen. 12 Knji`evne novine, Knji`evna re~, Knji`evni list, Ludus. 13 Eine Ausnahme von dem dritten genannten Kriterium wurde gelegentlich dann gemacht, 1. wenn die auffällige Verweigerung eines Kommentars einem impliziten Kommentar gleich kommt oder 2. wenn eine aussagekräftige Beschneidung bzw. eine strategische Platzierung eines übernommenen Textes (in Korrespondenz mit dem Tagesgeschehen in Serbien oder den Kriegsgebieten) vorliegt. 14 Das Pressearchiv der Tageszeitung Politika für den Zeitraum 1991-2002 sowie Ebart/ Medijska dokumentacija für die Zeit seit ihrer Gründung 2003. BH 10 Book.indb 207 22.8.2008 22: 10: 31 208 Svjetlan Lacko Viduli} Von der lokalen Instrumentalisierung zur lokalen Kontroverse Handkes erster einschlägiger Beitrag zur Jugoslawien-Frage, der Essay Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), stieß in den Medien-Reaktionen in Slowenien und Kroatien auf Entrüstung und wurde in Kroatien gar mit der symbolischen Vertreibung des österreichischen Autors aus dem ’Funktionsgedächtnis’ der literarischen Öffentlichkeit bestraft, leitete in Serbien hingegen eine umfassende Handke-Renaissance ein. Zum Topos im öffentlichen Diskurs in Serbien wurde Handke allerdings erst im Zuge der europaweiten Kontroverse um seinen Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996). Handkes Aufenthalt in Belgrad Mitte Mai 1996, bei dem eine Buchvorstellung in der überfüllten Nationalbibliothek und ein Handke-Abend im ausverkauften Jugoslovensko dramsko pozori{te, einem der zwei größten Theaterhäusern Belgrads, als offiziöse Handke-Ehrung inszeniert und von den regimetreuen Medien entsprechend aufarbeitet wurden, 15 geriet zum ersten Höhepunkt in der umfassenden Instrumentalisierung des Autors, seiner Texte und Aussagen sowie der internationalen Kontroverse. Auf die pragmatischen und diskursiven Mechanismen der facettenreichen patriotisch-nationalistischen Vereinnahmung des Handke-Komplexes kann hier nur andeutungsweise eingegangen werden. Eine umfassende Analyse müsste die einzelnen Medien des Komplexes (Handkes literarische und diskursive Texte, die internationale Debatte, Handkes Stellungnahmen und Auftritte, den Handke-Diskurs in Serbien) einerseits in methodischer Hinsicht differenzieren, andererseits, in wirkungsgeschichtlicher Perspektive, in ihrem Zusammenspiel beobachten. Unter den gegebenen Umständen einer autoritären Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft mit einer entsprechenden Verfilzung von Politik, Medien und intellektueller Elite erwiesen sich Handkes - an sich schon ambivalenten - Bemühungen um eine Trennung von Literatur und öffentlichem Diskurs sowie um die Distanz zur offiziellen Politik in Serbien 16 als illusionär bzw. als ebenso manipulierbar. In der Rekonstruktion der lokalen Wirkungsgeschichte Handkes ist die Belgrader Inszenierung vom Mai 1996 insofern richtungweisend für die weitere Entwicklung, als es bei diesem Anlass zu einer öffentlichen Überlagerung des literarischen durch den politischen Diskurs gekommen war. Die einleitende, immerhin fachkundige Vorstellung des Schriftstellers Peter Handke durch den Germanisten Slobodan Gruba~i} (den damaligen und heutigen Dekan der Belgrader Philologischen Fakultät) endete mit dem Fazit, das Werk Handkes sei geprägt von produktiven Herausforderungen, die niemals auf »einfache Alternativen« 15 Vgl. hierzu auch den Rückblick von Seyr 2006. 16 Mit dem Erscheinen von Die morawische Nacht scheint die Trennung im literarischen Bereich bekräftigt, mit der expliziten Unterstützung des rechtsradikalen serbischen Präsidentschaftskandidaten T. Nikoli} scheint die Distanzierung im öffentlichen Bereich jedoch nochmals aufgegeben worden sein (beides im Januar 2008). BH 10 Book.indb 208 22.8.2008 22: 10: 31 Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort 209 hinausliefen. Der offiziöse Rahmen dieser Vorstellung jedoch, und vollends die anschließende Rede des Schriftstellers Milorad Pavi}, ebnete den Weg für »einfache Alternativen« der Rezeption, indem Handkes Reiseschilderung als sein Eintritt in die Riege der großen Freunde des kleinen serbischen Volkes (Grimm, Goethe, Hugo, Tolstoj) gefeiert wurde. 17 Im Zuge der massiven patriotischen Vereinnahmung des Handke-Komplexes wurde sein Urheber, in Kroatien verpönt und verrissen als mediokrer Skandal- Autor, in Serbien in den regierungsnahen Medien 18 als lebender Klassiker von weltliterarischem Rang und Beinahe-Nobelpreisträger gehandelt und zum großen Denker und einsamen Kämpfer an Serbiens Seite stilisiert. Einmal als Muster der Handke-Rezeption etabliert, gewährleistete das mediale Konstrukt die entsprechende Funktionalisierung aller weiteren Aussagen von oder zu Handke. Nicht nur die Reiseberichte von 1996 wurden auszugsweise prompt zugänglich gemacht, ausführlich besprochen und anschließend in Buchform veröffentlicht, 19 und nicht nur die Interviews des ’Serben-Freundes’ erreichten flächendeckend das Publikum, sondern auch die internationale Debatte wurde extensiv und keineswegs selektiv wiedergegeben, wobei die vehemente internationale Kritik an Handke in dem gegebenen lokalen Kontext eine spezifische Wirkung entfaltete: Je heftiger die Attacken, desto tauglicher waren sie als Beleg für die internationale Verschwörung gegen Serbien und seine Fürsprecher. Außerdem sind dem serbischen Publikum in Buchform rund 140 meist ausländische Reaktionen auf Handke (1996-2006) 20 sowie eine Blütenlese mit Ausschnitten aus ca. 30 Handke-Interviews (1996-2000) 21 zur Verfügung gestellt worden, die bei ihrer Erscheinung z. T. wiederum zu Blütenlesen in der Tagespresse angeregt haben. 22 Die Konzeption, die Aufmachung, die Inszenierung (vor allem der Publikation von 2000, verbunden mit einer Preisverleihung an Handke) sowie die von angesehenen Akademiemitgliedern 23 verfassten Einleitungen sprechen Bände. Die vielseitige Einsatz- und Anschlussfähigkeit im Sinne der politischen und erinnerungspolitischen Funktionalisierung des Topos Handke soll durch zwei 17 Vgl. Nenad Stefanovi}: Smatrajte me za svoj san, Duga, 25. 5. 1996. 18 Zur Mediensituation vgl. Mati} 2004. 19 Anders als Seyr 2006 behauptet, hatte das Belgrader Publikum vor dem Mai 1996 sehr wohl die Gelegenheit, die Winterliche Reise zu lesen: Im Februar waren Auszüge in mehreren Zeitungen und die ganze Übersetzung im NIN als Vorabdruck erschienen. Der Raubdruck war m. W. bereits im April in Podgorica erschienen, die rechtmäßige Buchpublikation folgte m. W. zur Jahresmitte in Pri{tina. 20 @ivota Ivanovi} (Hg.): Handke i njegovi kriti~ari. Polemika o pravdi za Srbiju ‡Handke und seine Kritiker. Polemik über die Gerechtigkeit für Serbien™. Vorwort von Ljubomir Tadi}, Beograd 1996. - @ivota Ivanovi} (Hg.): Treba li spaliti Handkea. Peter Handke i njegovi kriti~ari ‡Soll Handke verbrannt werden. Peter Handke und seine Kritiker™, Beograd 2006. 21 Peter Handke: Putovanje sa dugotrajnim dejstvom ‡Reise mit nachhaltiger Wirkung™. Texte ausgewählt und hg. von @ivota Ivanovi}. Vorwort vom Akademie-Mitglied Dejan Pavlov Kreculj. Fotos von Tomas Dajhman ‡Thomas Deichmann™, Beograd 2000. 22 Dosje: Handke je u~inio ne{to u`asno - rekao je istinu ‡Dossier: Handke hat etwas Entsetzliches getan - die Wahrheit gesagt; neun Folgen™, Borba, 11.-20.6.1996. 23 Einer davon ist der zum Nationalideologen gewandelte neomarxistische Philosoph der Praxis-Gruppe Ljubomir Tadi}, derzeit bekannt als Vater des amtierenden Staatspräsidenten. BH 10 Book.indb 209 22.8.2008 22: 10: 31 210 Svjetlan Lacko Viduli} Beispiele illustriert werden. Stichproben legen den Schluss nahe, dass Reiseberichte, Interviews und Reaktionen aufgrund der expliziten politischen Stellungnahmen bisweilen als direkter, die Politik des Regimes flankierender Kommentar der tagespolitischen Ereignisse eingesetzt wurden; prekäre bzw. nicht funktionalisierbare Stellen konnten gestrichen werden. 24 Eine ausführliche Analyse müsste in diesem Sinne auch die kommentarlos übernommenen Interviews und internationalen Reaktionen berücksichtigen und ihre mediale wie tagespolitische Platzierung beleuchten. Ein andersartiger Höhepunkt der Funktionalisierung ist ein politisches Pamphlet von 1996, in dem ein arrivierter Schriftsteller, dem Erinnerungsmilieu der Opfer des kroatischen Ustascha-Regimes im Zweiten Weltkrieg zugehörig, seine These von der aktuellen Verschwörung des heutigen Post-Hitler-Deutschland gegen Serbien durch seitenlange Ausschnitte aus der Winterlichen Reise zu belegen trachtet. 25 Eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit Werk und Wirkung des ’Serbenfreundes’ war unter den gegebenen Umständen kaum möglich. Die wenigen kritischen Stimmen gehörten zum oppositionellen, ’anderen Serbien’, das nur im Ausland eine breitere Resonanz finden konnte (Bora ]osi}, Svetlana Slap{ak); im Inland scheint kritische Distanz allenfalls im medialen Abseits und in Formen des beredten Schweigens zu erkennen gewesen sein. Auch in den literarischen und philologischen Bezugnahmen auf den öffentlich vereinnahmten Autor fällt der Gegensatz von enthusiastischer Aufnahme und demonstrativem Schweigen auf: dem Serbien-Besucher gewidmete Gedichte auf der einen, 26 die Ignorierung des politischen Handke zugunsten des Literaten auf der anderen Seite; 27 die Erhebung Handkes zum ’jugoslawischen Autor’ 28 auf der einen, die weitgehende Zurückhaltung der akademischen Germanistik auf der anderen Seite. Im Fahrtwasser der politischen Instrumentalisierung erlebte auch die literarische Handke-Rezeption eine Renaissance - zumindest auf den ersten Blick. Außer den breit rezipierten Reiseberichten und Essays mit Bezug zu Jugoslawien (die nur zu wenigen, aber im Gegensatz zu Kroatien immerhin vorhandenen Analysen als literarische Texte anregten) erschienen weitere Prosa- und Dramentexte in Neu- oder Erstübersetzungen. Diese schafften nicht immer den 24 So scheint die mehrfache - teils um Handkes Kommentar zu Belgrader Demonstrationen und zur Rolle der bosnischen Serben gekürzte - Veröffentlichung des Gaudemar-Interviews aus Libération von 1997 (Politika, 12. 4. 1997; Politika, 23. 4. 1997; Politika ekspres ‡? ™, 29. 6. 1997) eng mit innenpolitischen Auseinandersetzungen verknüpft gewesen zu sein. 25 Radomir Smiljani}: Peter Handke ili nema~ko-srpska rapsodija. Prosa quasi una politica ‡Peter Handke oder die deutsch-serbische Rhapsodie™, Beograd ‡1996™. 26 ^aslav \or|evi}: ^etiri pesme velikom hoda~u Peteru Handkeu ‡Vier Gedichte an den großen Wanderer Peter Handke™, Itaka, Nr. 1, Jg. 2/ 1996-97, S. 105-107. 27 Mihajlo Panti}: [ta ~itam i {ta mi se doga|a. Li~ni azbu~nik pisaca ‡Was ich lese und was ich erlebe. Persönliches Wörterbuch der Autoren™, Vr{ac 1998, S. 159-161. 28 Zoran Konstantinovi}: Trajanje Petera Handkea ‡Die Dauer des Peter Handke™ ‡Nachwort™. In: Peter Handke: Pesma za trajanje/ Gedicht an die Dauer ‡zweisprachig™, Beograd 1996, S. 61-63. Es geht hierbei um eine Neuauflage von Konstantinovi}s These von 1986. BH 10 Book.indb 210 22.8.2008 22: 10: 31 Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort 211 Schritt vom Vorabdruck oder Zeitschriftenpublikation zur Buchform bzw. Inszenierung: Das kulturpolitische und öffentliche Interesse an Handkes nicht unmittelbar instrumentalisierbaren Werken war verständlicherweise nicht viel größer als vor dem politischen Umbruch. Im Bereich des Theaters dürfte das Kräftespiel literarischer und kultur- (politischer) Interessen allerdings komplex sein und müsste im Einzelfall überprüft werden. Plausiblen Darstellungen zufolge 29 ist das Scheitern der Inszenierungen von Die Fahrt im Einbaum und Die Stunde da wir nichts voneinander wussten im Belgrader Nationaltheater, die 1999 bzw. 2005 in Angriff genommen worden waren, nicht auf politische, sondern auf organisatorische Gründe zurückzuführen, wobei das Handke-Image und sein politischer Kontext besonders 2005 sicherlich eine Rolle spielten. 30 Von den engen Bezügen zwischen politischem und literarischem Feld zeugt eine Reihe von fünf Handke-Inszenierungen, mit der im August 1999 im Beisein des Autors das Internationale Kunstzentrum KPGT eröffnet wurde. Der angesehene Regisseur Ljubi{a Risti}, Leiter des Unternehmens und Erneuerer dieses bedeutenden gesamtjugoslawischen avantgardistischen Theaterprojekts aus den 1980er Jahren, stand Ende der 1990er als Führungskader der an der Regierung beteiligten, ideologisch von Milo{evi}s Gattin Mirjana Markovi} betreuten Vereinigten Jugoslawischen Linken (JUL) auf der schwarzen Liste der europäischen Behörden und war somit mit Reise- und Aufführungsverbot im Ausland belegt. 31 Die von Risti} inszenierte Publikumsbeschimpfung scheint bei internen kulturpolitischen Machtkämpfen von dieser Konstellation jedoch profitiert zu haben. 32 Handkes Engagement im Zuge der NATO-Angriffe 1999 und der verstärkte Bedarf nach Vorzeigefreunden zu Zwecken der patriotischen Mobilisierung führte zu einem weiteren Höhepunkt in der Instrumentalisierung des Handke-Komplexes. Sehr bald jedoch, nach dem Machtwechsel von 2000 und dem Beginn einer schwierigen Demokratisierung und Pluralisierung der politischen Szene, des öffentlichen Lebens und der Medienlandschaft in Serbien, änderten sich auch die Voraussetzungen der Handke-Rezeption. In den Einstellungen zu Handke wird fortan die Polarisierung der politischen Szene ablesbar. Die Distanz der kritischen Gegenöffentlichkeit gegenüber dem - journalistisch nach wie vor brisanten und daher eifrig kolportierten - Handke-Komplex machte sich zunächst in der Häufung distanzierter, d. h. weitgehend kommentarloser Berichte und Zusammenfassungen bemerkbar; allmählich jedoch, ganz besonders aber seit den Eklats um den Milo{evi}-Besuch 2005 sowie das Milo{evi}-Begräbnis und die Aberkennung des Heine-Preises 2006, häuften sich kritische Stellungnahmen. Inzwischen ist auch in Serbien eine heftige Kontroverse um Peter Handke ausgebrochen, in der sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber stehen. Ver- 29 Jovan ]irilov, Neboj{a Bradi}, Zoran Hamovi}: Srpski intelektualci o slu~aju Handke, Evropa, 18. 5. 2006. 30 Zu dieser These vgl. Katarina Rohringer Ve{ovi}: Napukli svet, Vreme, 22. 6. 2006. 31 Vgl. hierzu Ruetten 2000. 32 Vgl. Glumci »vre|ali« publiku, Glas javnosti. Internet izdanje, 5. 4. 2000. BH 10 Book.indb 211 22.8.2008 22: 10: 31 212 Svjetlan Lacko Viduli} treter des nationalen Kurses führen den apologetischen Diskurs unbeirrt weiter; die Palette der Genres umfasst Leserbriefe dankbarer Verehrer, Straßenbenennungs- und Denkmalinitiativen, 33 vor allem jedoch mehr oder weniger differenzierte Analysen der aktuellen Ereignisse um Handke aus vorgeblich serbisch-patriotischer Perspektive. Auf der anderen Seite stehen Vertreter einer kritischen Gegenöffentlichkeit, die mit Handkes lokalen Verehrern und Manipulatoren sowie mit Handke selbst abrechnen (die Theaterautorin Biljana Srbljanovi} auch in direkter Konfrontation) und dabei zu einer argumentativen und genremäßigen Öffnung und Pluralisierung des Diskurses beitragen. Obwohl in anderen Zusammenhängen verortet, finden die seriösen Beiträge zur lokalen Kontroverse in Serbien nun auch verstärkten Anschluss an die internationale Debatte - etwa in dem mehrfach erhobenen Vorwurf von Biljana Srbljanovi} gegen die stereotype, der politischen Differenzierung der serbischen Gesellschaft nicht Rechnung tragende Darstellung des umstrittenen Autors als ’pro-serbisch’. Fazit Der Einblick in die Zeugnisse zur Handke-Rezeption in Serbien lässt vorläufige Schlüsse über die Auswirkung des Handke-Komplexes auf die Umbruchsprozesse in der Region zu. Fasst man vor allem die Wandlungen der kollektiven Identitäts- und Erinnerungsparadigmen ins Auge, die mit der konfliktreichen Rekonstruktion der politischen Gegebenheiten einher gingen, so ist von einer enorm polarisierten und polarisierenden Wirkung des Handke-Komplexes zu sprechen. Ein Vergleich zwischen den Reaktionen in Kroatien 34 und Serbien mag dies vor Augen führen. In Handkes Texten und öffentlichen Stellungnahmen wird eine gesamtjugoslawische Erinnerungskultur evoziert, wird eine ’pro-serbische’ Interpretation von Krieg und Staatszerfall vertreten und werden konstitutive Aspekte der in Kroatien seit den 1990er Jahren dominierenden Erinnerungskultur (Jugoslawien als Völkergefängnis, der Krieg als Verteidigungs- und Heimatkrieg, die Stätten serbischer Kriegsverbrechen als nationale Erinnerungsorte) in Frage gestellt. Handkes Programm kollidierte auf groteske Weise sowohl mit der empirischen Kriegserfahrung in Kroatien, als auch mit der Mythomotorik (J. Assmann) der nationalstaatlichen Emanzipation. Folglich wurde dieses als indiskutabel empfundene Programm ausschließlich zum Objekt einer massiven rhetorischen Abrechnung, mit der auf breiter politischer Front ein seltener Konsens in Bezug auf 33 R. Smiljani}, Autor jenes oben erwähnten Höhepunkts der Handke-Funktionalisierung, unterbreitete im Namen der von ihm gegründeten Akademie Ivo Andri} der serbischen Regierung den Vorschlag zur Errichtung eines »Triptychons in Kupfer« für Harold Pinter, Peter Handke und Patrick Besson im Foyer des Serbischen Schriftstellerverbandes, mit der Aufschrift: »Sie lieben das serbische Volk, Nachfolger von Victor Hugo und Goethe«, sowie zur Errichtung einer Handke-Büste gegenüber der deutschen Botschaft in Belgrad, mit der Aufschrift: »Peter Handke und Gerechtigkeit für Serbien.« Vgl. Slavica Jovanovi}: Akademija »Ivo Andri}« - orden za Besona, Pintera i Handkea, Glas Javnosti, 26. 4. 2007. 34 Vgl. hierzu Lacko Viduli} 2007a. BH 10 Book.indb 212 22.8.2008 22: 10: 31 Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort 213 die jüngste politische Geschichte demonstriert werden konnte. Die Öffnung und Pluralisierung der Diskurse in Kroatien nach der sog. ’zweiten Transformation’ im Jahr 2000 führte zu einer differenzierteren Auseinandersetzung auch mit dem Handke-Komplex, änderte aber nichts an der einstimmigen Ablehnung seiner politischen Aussagen und Implikationen. Führte die Handke-Rezeption in Kroatien, aufgrund des geschlossenen Widerspruchs, zur indirekten Stabilisierung der dominierenden Paradigmen kollektiver Identität und kollektiver Erinnerung, so führte die Rezeption in Serbien, aufgrund der scheinbar restlosen Übereinstimmung von Handkes Thesen mit der offiziellen Doktrin, zur direkten Stabilisierung der entsprechenden Paradigmen. Das politische Potential des massiv instrumentalisierten Handke-Komplexes liegt auf der Hand: »Durch Handke erfuhr der durchschnittliche, aber nationalistisch erweckte Bürger in Serbien eine Zustimmung, die ihm ein gutes Gewissen schuf für die eigene stillschweigende Bejahung der Kriege, die Milo{evi} in seinem Namen geführt hatte.« 35 In einer umfassenden Analyse des Komplexes müsste den - scheinbaren und tatsächlichen - Übereinstimmungen mit der offiziellen Doktrin sowie ihrer erinnerungskulturellen und poetologischen Motivation bei Handke im Einzelnen nachgegangen werden. Zu berücksichtigen wären etwa die Parallelen und Differenzen zwischen Handkes (der Perspektive der westeuropäischen Linken und dem eigenen privatmythologischen Entwurf verpflichteten) Jugoslawismus auf der einen und der instrumentellen Jugoslawien-Rhetorik der serbischen Führung auf der anderen Seite; desgleichen die Überschneidungen zwischen Handkes Serbien-Bild auf der einen und der serbischen Mythomotorik auf der anderen Seite, einschließlich der Belebung antiwestlicher und modernisierungsfeindlicher politischer Traditionen in Serbien. Die andauernde bzw. periodisch aufgefrischte internationale Kontroverse um einen Autor, der mit einmaliger Konsequenz auf seinen politischen Positionen beharrte, ließ den Handke-Komplex nach Anbruch des Tauwetters im Jahr 2000 zwischen die Fronten der politischen Lager bzw. der entsprechenden Erinnerungsgemeinschaften in Serbien geraten und wurde zum Topos in der schwierigen Auseinandersetzung um Vergangenheit und Zukunftsperspektive des Landes. Der gleiche Name, der in bestimmten Milieus zur Symbolfigur im Behauptungskampf der Serben und damit gleichsam zum denkmalwürdigen ’Erinnerungsort’ avanciert ist, wird am anderen Ende des politischen Spektrums zu den Hindernissen auf Serbiens Weg aus dem »Loch der Vergangenheit« 36 gezählt. Ob die Rolle des Schriftstellers Peter Handke bei der Entstehung und den regionalen Auswirkungen des Handke-Komplexes als moralische Katastrophe, als ’Stigma der Größe’ 37 oder als Beitrag zur Völkerverständigung verstanden werden muss, ist in der internationalen Debatte bekanntlich umstritten. 35 Toma 2007, S. 123. 36 Mel~i} 2007, S. 548. 37 »Wer Schuld und Irrtum nicht als Stigmata (im Grenzfall sogar Stimulantien) der Größe erkennt, sollte sich nicht mit wirklichen Dichtern und Denkern beschäftigen, sondern nur mit den richtigen.« Strauß 2006. BH 10 Book.indb 213 22.8.2008 22: 10: 31 214 Svjetlan Lacko Viduli} Literatur Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Corkalo, Dinka u. a.: Neighbors again? Intercommunity relations after ethnic cleansing. In: Eric Stover, Harvey M. Weinstein (Hgg.): My Neighbor - My Enemy. Justice and Community in the Aftermath of Mass Atrocity, Cambridge 2004, S. 143-161. Deichmann, Thomas (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien - Peter Handke, Frankfurt/ M. 1999. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005. Gehrmann, Siegfried: Erinnerte Zukunft. Aspekte nationaler Erinnerungsarbeit in einer postnationalen Konstellation. Das Beispiel Kroatien. In: Alfons Kenkmann, Hasko Zimmer (Hg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen 2005, S. 193-203. Handke, Peter: Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Jo`e Horvat. Übersetzung und Redaktion Klaus Detlef Olof, Klagenfurt - Salzburg 1993. Handke, Peter: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt a. M. 1998 ‡Erstdruck: 1991, 1996™. Handke, Peter: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt a. M. 1999. Handke, Peter: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien- Durchquerungen im Krieg, März und April 1999, Frankfurt a. M. 2000. Handke, Peter: Rund um das Große Tribunal, Frankfurt a. M. 2003. Handke, Peter: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milo{evi}, Frankfurt a. M. 2006. Höller, Hans: Peter Handke, Reinbek bei Hamburg 2007. Lacko Viduli}, Svjetlan: Imaginierte Gemeinschaft. Peter Handkes jugoslawische »Befriedungsschriften« und ihre Rezeption in Kroatien. 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Ruetten, Ursula: Zwischen allen Stühlen ‡Gespräch mit Borka Pavi~evi} und Ljubi{a Risti}™, Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, 30. 6. 2000 (Nr. 27), www.freitag. de/ 2000/ 27/ 00271501.htm (Februar 2008). BH 10 Book.indb 214 22.8.2008 22: 10: 31 Vergangenheitsfalle und Erinnerungsort 215 Seyr, Veronika: Ein Dichter auf »Privatreise«, Der Standard, 9. 6. 2006. Strauß, Botho: Was bleibt von Handke? F.A.Z., 1. 6. 2006. Toma, Savica: Peter Handkes Gerechtigkeit für Serbien. Über das Verhältnis von Text und Kontext in der Interpretation. In: Germanistentreffen Deutschland - Süd-Ost-Europa. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bonn 2007, S. 109-126. Weninger, Robert: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, München 2004. Zülch, Tilman (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wahrheit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien, Göttingen 1996. BH 10 Book.indb 215 22.8.2008 22: 10: 31 BH 10 Book.indb 216 22.8.2008 22: 10: 31 G ORAN L OVRI } (Z ADAR ) Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens Zeichen der Unsicherheit oder geteilte Erzählerpersönlichkeit? Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens 1 dreht sich inhaltlich um Christian Allmayer, einen österreichischen Reporter, der seit Beginn des Jugoslawien- Krieges aus der Kriegsregion berichtet und im Sommer 1999 im Kosovo umkommt. Allmayer ist aber eigentlich der Dreh- und Angelpunkt, um den sich die Schicksale der anderen Haupt- und Nebenfiguren, sowie verschiedene Aspekte der Handlung drehen. Sein sich in der Romanvergangenheit befindliches Schicksal dient zwar als Beweggrund der Handlung, doch im Roman stehen eigentlich die individuellen Einstellungen und gegenseitigen Beziehungen der Charaktere in der Romangegenwart im Mittelpunkt. Der Begriff Erzähler hat in Gstreins Roman eine zusätzliche Bedeutung, da er sich nicht nur auf den fiktiven und anonymen Ich-Erzähler bezieht, sondern auch auf die Figuren, die sich ihre Ansichten über zentrale Aspekte der Handlung gegenseitig mitteilen. Damit steht in diesem Roman das Erzählen selbst im Mittelpunkt, was bedeutet, dass in ihm die Möglichkeit der objektiven Wahrnehmung und literarischen Bearbeitung des Krieges in Ex-Jugoslawien erprobt wird. In seiner Arbeit zu diesem Roman fasst Daniel Kruzel den Inhalt und die zentralen Aspekte folgendermaßen zusammen: Ist es möglich, einem Krieg, der durch den Zustand des Chaos geprägt ist, durch die Homogenität eines Romans zu begegnen? Gstrein hat sich dem verweigert und eine bewusst offene Form gewählt, die inhaltlich durch zahlreiche Aporien gekennzeichnet ist. Kein einheitliches Bild dieser historischen Ereignisse wird konstruiert, sondern vielmehr dekonstruiert. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Konstellation der beteiligten Personen, die sich größtenteils in Gesprächssituationen befinden. Allmayer, ein Journalist, wird im Kosovo ermordet. Sein vermeintlicher Freund Paul fühlt sich dazu berufen, einen Roman über ihn zu schreiben. Dieses Vorhaben misslingt und er bringt sich in einem Zagreber Hotelzimmer um. Der Ich-Erzähler, mit dem Paul kurz vor Allmayers Tod Bekanntschaft geschlossen hat, ist es, der von dieser Romangenese berichtet. Von zentraler Bedeutung für die Handlung ist ein Interview Allmayers mit dem damaligen Kriegsherrn Slavko, den Paul für Allmayers Tod verantwortlich macht. Dieses wird zur Aporie, die das Romankonzept Pauls unmöglich erscheinen lässt. 2 1 Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens, Frankfurt am Main 2003. - Im weiteren Text wird mit der Abkürzung HDT zitiert. 2 Daniel Kruzel: Schreiben über den Krieg. Literarische Verfahrensweisen in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens. Magisterarbeit. Universität Paderborn. Fakultät für Kulturwissenschaften, 8/ 2004. - Im weiteren Text wird mit der Abkürzung »Kruzel« zitiert. BH 10 Book.indb 217 22.8.2008 22: 10: 31 218 Goran Lovri} Mit diesem im Jahre 2003 erschienenen Roman hat Gstrein eine Debatte in den Feuilletons über die Möglichkeit der literarischen Verarbeitung von Fakten ausgelöst. Ausgangspunkt war die Widmung zu Beginn des Romans: »Zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963-1999), über dessen Leben und Tod ich zu wenig weiß, als daß ich davon erzählen könnte.« (HDT, S. 7) Gstrein nahm offensichtlich das Schicksal des Stern-Journalisten, den er persönlich kannte, zum Anlass, ein Buch darüber zu schreiben, wie man literarisch und journalistisch über Krieg schreiben bzw. nicht schreiben kann und darf, doch er betonte auch immer wieder, dass es sich um eine fiktionale Geschichte handelt. Seine Motivation und die Suche nach Distanz erläutert Gstrein in einem Interview mit Christine Mach: Das gezielte Suchen nach der einen Wahrheit ist gerade das Problematische. Die Wahrheit ist nicht, wie immer gesagt wird, das erste Opfer des Krieges, im Gegenteil: Es sind eher konkurrierende, unvereinbare Wahrheiten, die am Anfang stehen. Da schadet es nicht, Distanz zu schaffen, und die Sprache bietet genug Möglichkeiten. Kriegsberichterstatter sind sehr nahe am Geschehen. Dabei können sich Schablonen wiederholen, die die Literatur hinterfragen kann. 3 Gstrein versucht diese Distanz zu realen Personen und ihren Schicksalen bereits in der Widmung herzustellen, um sich so Freiraum für allgemeine Äußerungen zu schaffen. Aus der Widmung hätte eigentlich klar sein sollen, dass trotz zahlreicher Parallelen im Roman nicht die reale Lebensgeschichte Grüners dargestellt wird. Doch diese Meinung teilten nicht alle Rezensenten, die sich mit dem Roman befassten. Die offenbar auch für Gstrein einschneidendste Kritik kam von Iris Radisch, 4 die in ihrer Rezension die indirekte Erzählperspektive im Roman bemängelt, denn es werde über einen toten Journalisten aus der vermittelten Perspektive von Beobachtern zweiter und dritter Hand geschrieben. Es ist für sie die Geschichte »über einen toten Freund, der die Geschichte seines toten Freundes schreiben will und daran scheitert«. Das Spiel mit den Erzählformen wirke bei einem so ernsten Thema ausweichend und banal, weil »kein Satz wirklich zählt«. Gleichzeitig werde aber das Leben des realen, »ungemein sympathischen Kollegen« verunglimpft, seine Lebensgefährtin attackiert und der Krieg auf dem Balkan verniedlicht. Radisch betont die komplizierte Erzählstruktur des Romans und beschreibt sie als »altkakanische‡...™ Umständlichkeit«, in der ein »Erzähler X erzählt, was Erzähler Y vom Zeugen Z gehört haben will«. Andere Rezensenten wie z. B. Gerrit Bartels 5 betonen hingegen die positiven Seiten des vermittelten Erzählens bzw. die unterschiedlichen Erzählperspektiven im Roman, die zeigen, wie sehr Gstrein daran gelegen sei, »Distanz aufzubauen zu den Grausamkeiten des Krieges, wie er bewusst versucht, Klischees zu vermeiden, wie er den Wörtern misstraut und ihrer Fähigkeit, den Krieg angemessen zu beschreiben«. Das ist für ihn eine »Kritik an der routinierten Kriegs- 3 Norbert Gstrein und Christine Mach: Vom Nachdenken über den Krieg, Tiroler Tageszeitung, 10. 9. 2003, S. 15. 4 Iris Radisch: Tonlos und banal, Die Zeit 1, 22. 12. 2003, S. 46. 5 Gerrit Bartels: Die Dauerfälscher, Die Tageszeitung, 9. 8. 2003, S. 13. BH 10 Book.indb 218 22.8.2008 22: 10: 31 Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens 219 berichterstattung« und »Kritik an Kollegen von Gstrein wie eben Peter Handke oder Juli Zeh«. Diese beiden Rezensionen stehen beispielhaft für andere, die größtenteils eine dieser beiden entgegen gesetzten Positionen vertreten. Die zentralen Punkte, die in allen diesen Kommentaren hervorgehoben werden, sind die komplexe Erzählweise und - damit in Verbindung - die Benutzung und die Rolle der faktualen Elemente im Werk, aufgrund derer Gstreins Roman den in diesem Kontext zweifelhaften Ruf eines Schlüsselromans erlangte. Erzählperspektive Die vermittelte Erzählperspektive nimmt im Roman Das Handwerk des Tötens die zentrale Rolle ein, denn auf ihr gründet sich die Distanz des Erzählers zum Erzählten. Kruzel hat in seiner Arbeit das Erzählen zwar angesprochen, aber nicht alle Aspekte untersucht, da es nicht das zentrale Thema seiner Untersuchung war. Außerdem erschien Gstreins zweites mit dem Roman verbundenes Buch Wem gehört eine Geschichte? kurz vor der Fertigstellung seiner Arbeit, so dass Kruzel es nur im Resümee erwähnen konnte. Er zeigt aber die Komplexität des Erzählens und erwähnt Missverständnisse, die dadurch beim unachtsamen Lesen entstehen können, am Beispiel zweier Rezensionen in namhaften deutschen Zeitungen, in denen der zum Zeitpunkt des Erzählens schon verstorbene Allmayer als anonymer Ich-Erzähler benannt wird, während einige andere Rezensenten die Beziehungen der Figuren untereinander nicht richtig durchschauen (Kruzel, S. 20). Das bestätigt die Notwendigkeit einer genaueren narratologischen Analyse des Romans, um Gstreins komplexes Erzählverfahren richtig deuten zu können. Für Gstrein steht, wie schon gesagt, im Roman die Erforschung der Möglichkeit einer journalistischen und literarischen Auseinandersetzung mit dem Krieg im Mittelpunkt. Zwei unterschiedliche Ansätze werden dargestellt am Beispiel von zwei zentralen Figuren im Roman - einer ist der namenlose Ich-Erzähler und der andere sein Freund und Kollege Paul. Beide sind zu gleicher Zeit Charaktere, die aktiv an der Handlung teilnehmen und in ihren ausführlichen Gesprächen auch metanarrative Aspekte ansprechen. Gerade aufgrund ihrer langen Dialoge, die insbesondere in den ersten beiden Kapiteln vorherrschen und an Selbstgespräche erinnern, könnte man in narratologischer Hinsicht den Ich-Erzähler und Paul als eine geteilte Erzählerpersönlichkeit deuten, d. h. den Ich-Erzähler als Vertreter der analytisch-hermeneutischen Schreibweise, der die Wahrheit suchen und objektiv erschließen will, und Paul als Vertreter des engagierten literarisch-subjektiven Ansatzes, der von Anfang an - wie sich später zeigen soll - unrealistische Erwartungen gegenüber seinem Projekt bzw. Allmayer hegt. Beide Erzählansätze vermischen sich im Roman auf die Art, dass sich das Erzählen des Ich-Erzählers auf der Relativierung und Dekonstruktion von Pauls Erzählen gründet, womit Pauls Ansichten mittelbar und subjektiv gefiltert wie- BH 10 Book.indb 219 22.8.2008 22: 10: 31 220 Goran Lovri} dergegeben werden, was eine objektive Einsicht in seine wirklichen Gedanken und Absichten unmöglich macht. Gerade die Begriffe Dekonstruktion und Hermeneutik stellen eine geeignete Grundlage für die Analyse der beiden zentralen Charaktere und ihrer Erzählperspektiven im Roman dar. Man könnte im weitesten Sinne sogar die Diskussionen der beiden mit der Debatte zwischen Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer in den 80-er Jahren vergleichen, in der es ebenfalls um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Theorien ging. Diese beiden Aspekte werden auch von Daniel Kruzel erwähnt, der davon ausgeht, dass Gstrein eben durch dekonstruktivistische Erzähltechniken eine Ästhetisierung und eine einseitigsubjektive Darstellung des Krieges vermeiden möchte und betont in diesem Zusammenhang die vermittelte Erzählperspektive im Roman: Die Methode der Dekonstruktion von Krieg und der Literatur über diesen ist in dem vorliegenden Roman eng mit der Erzählstruktur verbunden, womit jegliche Homogenisierung vermieden wird. Es kann eher von einem offenen Text gesprochen werden, der viele Geschichten enthält und auf viele verweist, wodurch eine geschlossene Struktur unmöglich gemacht wird. (Kruzel, S. 11) Demnach ist die Grundlage für eine objektive Darstellung des Krieges die Vermeidung jeglicher Ideologisierung der Sprache und damit auch der Literatur, was Gstrein mit der vermittelten Erzählperspektive erreichen will. Die Dekonstruktion des Erzählten findet bereits im Roman selbst, also auf fiktionaler Ebene, statt. Der Ich- Erzähler, als zentrale Erzählinstanz im Roman, ist als solcher nicht allwissend und kann auch keinen Einblick in alle Ereignisse und Schauplätze haben. Sein Erzählen gründet sich deshalb zum großen Teil auf dem, was er von anderen Figuren im Roman erfährt, die dasselbe wiederum häufig von anderen Figuren gehört haben und auf ihre Art subjektiv deuten. So entsteht die Distanz, die eigentlich ein objektives Erzählen ermöglichen sollte, was aber dennoch nicht der Fall ist, denn alles Erzählte ist subjektiv und wird in letzter Linie vom Ich-Erzähler, der in seiner Erzählweise alles andere als objektiv ist, reflektiert und wiedergegeben. Die folgende Tabelle zeigt typische vermittelte Erzählsituationen im Roman: Wer erzählt wem in Das Handwerk des Tötens? I. Kapitel Ich-Erzähler (Blockcharakterisierung Pauls) Paul → Ich-Erzähler Helena, Allmayer → Paul → Ich-Erzähler Allmayer → Paul → Ich-Erzähler II. Kapitel Lilly → Paul → Ich-Erzähler Witwe aus Zagreb → Allmayer → Pauls Frau → Paul → Ich-Erzähler III. Kapitel Paul → Helena → Ich-Erzähler BH 10 Book.indb 220 22.8.2008 22: 10: 31 Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens 221 Allmayer → Isabella → Paul/ Ich-Erzähler IV. Kapitel Paul → Ich-Erzähler Paul → Helena → Ich-Erzähler Helenas Eltern und Großmutter → Ich-Erzähler Waldner, Slavko → Ich-Erzähler V. Kapitel Allmayer → Lilly → Ich-Erzähler Slavko → Allmayer → Schreyvogel → Paul → Helena → Ich-Erzähler Am Ende jedes Erzählstrangs befindet sich der Ich-Erzähler, der dem Leser schließlich seine Version der Ereignisse mitteilt, die er zumeist von Paul und seiner Freundin Helena erfahren hat. Diese drei Figuren bilden ein Dreieck und stehen im Mittelpunkt sowohl der Handlung als auch des Erzählens. Sie sind auch die einzigen, die im narratologischen Sinne - da sie Handlungsträger sind - als Charaktere dargestellt werden und im Laufe der Handlung eine gewisse positive oder negative Entwicklung durchmachen. Die anderen Figuren, unter denen es mehrere weibliche gibt, sind hingegen nur Informationsgeber und nehmen in der Handlung meistens nur eine vermittelnde Rolle zu vergangenen Ereignissen ein. Die folgende Tabelle zeigt den Informationsfluss im Roman und die Rolle der drei erwähnten Charaktere als zentrale narrative Achse, von denen der Ich-Erzähler und Paul direkt mit der Geschichte um Allmayer in Verbindung stehen und Informationen darüber sammeln, während Helena gewissermaßen als Muse zwischen den beiden steht und zumeist nur an Handlungen in der Romangegenwart teilnimmt. Paul, der in den ersten drei Kapiteln den Mittelpunkt der Gegenwartshandlung darstellt, versucht als Erzähler seines nie geschriebenen Romans die Wirklichkeit auf seine Art zu verstehen und zu deuten. Seine Recherchen und Gespräche mit Zeugen zielen darauf ab, ein endgültiges und klares Bild der Ereignisse um Waldner, Slavko, Lilly, Isabella, Helenas Familie Ich Erzähler Paul Helena Allmayer Schreyvogel, Pauls Frau, Lilly, Isabella Lilly, Witwe, Slavko BH 10 Book.indb 221 22.8.2008 22: 10: 32 222 Goran Lovri} Allmayer darzustellen. Er versucht, einen Sinn zu finden, doch es gibt zu viele Widersprüche und für ihn unerwartete Wendungen, denn das vermeintliche Opfer Allmayer entpuppt sich schließlich als womöglich Schuldiger bzw. Täter, weshalb Paul, der ihn stets für das Opfer hielt, in seinem Vorhaben scheitert. Die Realität lässt sich also nicht so einfach und reibungslos fiktionalisieren und es ist daher nur logisch, dass es zu seinem künstlerischen und menschlichen Zusammenbruch kommt. Zentral für Paul als Erzähler ist eben das Verhältnis zwischen Fiktion und Fakten. Der Ich-Erzähler sagt über ihn wiederholt, dass »er die beiden Ebenen vermischt« (HDT, S. 40 und 369) und sich schließlich von der Wirklichkeit völlig entfremdet. Pauls Kunst- und Lebenseinstellung ist hermeneutisch, weil er in allem und überall einen Sinn sucht und von der Darstellbarkeit und so auch Literarisierung der Welt überzeugt ist (»’Wenn du genau hinschaust, ist alles nur eine Frage der Behauptung’«, HDT, S. 17) Seine schriftstellerische Tätigkeit, zu der es allerdings nicht kommt und die eigentlich nur aus Recherchen besteht, bestimmt seine ganze Wahrnehmung. Daher auch seine Eigenschaft, Romanszenen in der Wirklichkeit zu erproben, sei es im Gespräch mit dem Ich-Erzähler (HDT, S. 153), sei es in seinen Vorstellungen, wie das fiktionalisierte Schicksal von Helena aussehen könnte (HDT, S. 374). Seine Freundin Helena ist nach Pauls eigener Aussage diejenige, die in Verbindung mit seinem Schreiben mit beiden Ebenen, also der realen und der fiktionalen, in Bezug steht; sie ist für ihn der »erste Verbindungsoffizier zu seiner Romanwirklichkeit« (HDT, S. 39). Anders gesagt ist Helena diejenige, die ihm nicht nur reale Informationen liefert und ihn auf seinen Reisen begleitet, sondern sie ist für ihn eine künstlerische Muse (wie er sie auch selber genannt hat - HDT, S. 378). Gegen Ende des Romans entfremdet er sich immer mehr von der Außenwelt, trennt sich von Helena und versucht verzweifelt aufgrund der gesammelten Materialien und Informationen sein Buch zu schreiben, woran er aber scheitert. Gleichzeitig nähert sich Helena dem Ich-Erzähler an und inspiriert ihn zum Schreiben. Er ist es dann auch, der Pauls Pläne verwirklicht und nicht nur Allmayers, sondern auch Pauls Geschichte erzählt, während Helena für Paul nach ihrer Trennung tatsächlich zum »Todesengel« (HDT, S. 12) geworden zu sein scheint. Das heißt aber auch, dass sich Pauls Poetik aufgrund der Handlung nur teilweise definieren lässt, da sie in der subjektiven Reflexion und so auch Dekonstruktion des Ich-Erzählers, sowie aufgrund seiner persönlichen Notizen wiedergegeben wird. Zwei Konzepte sind, wie Kruzel betont, in Pauls Poetik klar erkennbar: »Die Geschichte soll von der Wirklichkeit geschrieben werden, während gleichzeitig im Roman alles erlaubt ist, da es sich um eine fiktionale Gattung handelt.« (Kruzel, S. 53). In diesem Konzept ist auch die Stimme des Autors erkennbar, denn das entspricht Gstreins mehrfach in Interviews und Reaktionen ausgesagter Poetik, was wiederum die These bestätigt, dass Paul die eine Hälfte der zentralen Erzählinstanz darstellt, und so auch ein Alter Ego des Autors ist. BH 10 Book.indb 222 22.8.2008 22: 10: 32 Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens 223 Die zweite Hälfte dieser geteilten Erzählinstanz ist der Ich-Erzähler, der von Anfang an Paul und seinem Vorhaben skeptisch und distanziert gegenübersteht. Er fühlt sich Paul überlegen, versucht gleichzeitig aber auch die unangreifbare Position des distanzierten und intellektuell integren Beobachters einzunehmen. Das versucht er dadurch zu erreichen, dass er Pauls Aussagen objektiv analysiert, doch dabei tritt seine Ironie und Voreingenommenheit immer mehr zum Vorschein. Seine Ansichten werden so zwar häufig durch die Handlung und die Figuren bestätigt, doch der Leser erfährt auch das nur aus seiner Perspektive. Der Leser muss sich deshalb die Frage stellen, warum der Ich-Erzähler Paul überhaupt folgt und so fasziniert von ihm ist, wenn er ihm doch so skeptisch gegenübersteht. Im Laufe der Handlung wird der Ich-Erzähler immer suspekter und erzählerisch unglaubwürdiger, denn es zeigt sich sein immer größeres Interesse an Helena. Nimmt der Erzähler aus purer Freundschaft an Pauls Leben teil oder begleitet er nur wegen Helena den »Freund« auf seinen Reisen durch Kroatien und Bosnien? Ist er als Erzähler wirklich glaubwürdig? Richard Kämmerlings drückt mögliche Zweifel folgendermaßen aus: »Während Paul sich einen Plot ausgedacht hatte, der Helena auf einer Reise im Kosovo etwas zustoßen lassen sollte, könnte sich ja sein Konkurrent genau das Gegenteil, eben den Tod Pauls nur ausgedacht haben, um die Geschichte zu runden«. 6 Wegen seiner ausgewiesenen Ironie und emotionalen Involviertheit ist der Ich-Erzähler also ein typischer unverlässlicher bzw. »offener« Erzähler, der von Zeit zu Zeit emotionale, subjektive und sogar metanarrative Äußerungen macht. Er lässt in seinen Roman alle Gespräche mit Paul und anderen Beteiligten einfließen, weil er sich, im Unterschied zu Paul, offenbar bewusst ist, dass es keine homogene Aussage und allgemein gültige Wahrheit geben kann. Sein Roman wird so zu einem vielschichtigen und multiperspektivischen Gefüge ohne endgültige und dem Rezipienten vorgegebene Bedeutung, wodurch er einen typisch dekonstruktivistischen Text darstellt. Dennoch, trotz der Vielzahl der Stimmen, entsteht kein wirklich dialogischer Text (nach Bachtin), denn diese Stimmen werden vom Ich-Erzähler auf seine Art gefiltert und wiedergegeben. Man könnte die Frage stellen, ob Paul als vermeintlicher Hermeneutiker, wenn er denn seinen Roman geschrieben hätte, auch so viel unterschiedliche Meinungen »zugelassen« hätte. Die Antwort auf diese Frage ist aber bereits in der Tatsache, dass er seine Version des Romans nicht geschrieben hat und an der Unmöglichkeit der eindeutigen Wahrheitsfindung schließlich zu Grunde gegangen ist, gegeben. In dieser Hinsicht könnte man den Ich-Erzähler als wahres Alter Ego des Autors bezeichnen, der das Konzept eines engagierten Romans über den Krieg aufgegeben hat, während das von Paul verkörperte Konzept wegen seiner persönlichen Voreingenommenheit wortwörtlich auf der Strecke geblieben ist. Im 6 Richard Kämerlings: Jede Schrift bleibt immer nur ein Manöver, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 8. 2003, S. 42. BH 10 Book.indb 223 22.8.2008 22: 10: 32 224 Goran Lovri} ein Jahr später veröffentlichten Essay Wem gehört eine Geschichte? 7 erwähnt Gstrein selbst die erzählerisch sehr enge Verbindung des Ich-Erzählers und Pauls am Beispiel ihres Gesprächs, in dem der Erzähler Paul warnt: »Ein Toter macht noch keinen Roman« (HDT, S. 38), und betont: »Damit ist er sein personifiziertes Über-Ich, das sein Tun und Treiben kritisch betrachtet, genauso wie er selbst unter Vorbehalt stellt, was er über das Objekt seiner Aufmerksamkeit herausfindet oder herauszufinden glaubt ‡...™« (WGG, S. 22). Beide Erzählinstanzen sind also subjektiv, doch schließlich überlebt (im wahrsten Sinne des Wortes) der seiner Subjektivität bewusste Ich-Erzähler, der sich deshalb die Mühe gibt, andere Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Dieser Ich-Erzähler selbst ist narratologisch relativ einfach gestrickt. Er ist nach Stanzels Terminologie zugleich ein »erzählendes Ich« und ein »erlebendes Ich«, was seine narratologische Beschränktheit begründet. Da er aber als »erzählendes Ich« in aufbauenden Rückwendungen (Analepsen) erzählt, holt er in nachträglichen Darstellungen aufgrund eigener Erfahrungen und der Aussagen anderer Figuren übersprungene Vorgänge nach, was die Ereignisse um Allmayer, aber auch um Paul, in einen verständlichen Zusammenhang einfügt, obwohl Unklarheiten bis zum Ende erhalten bleiben. Seine Erzählerstimme bleibt durch den ganzen Roman führend, aber er zitiert nicht, sondern er referiert oder erzählt die Personenrede. Die grammatischen Verschiebungen und der Konjunktiv bewirken und zeigen einerseits seine Distanziertheit, während sie andererseits Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen beim Leser hervorrufen. Die Erzählperspektive kann als mehrstimmig bezeichnet werden, da sie unterschiedliche Quellen mit einschließt und zum Großteil aus Dialogen besteht. Sie kann so als Genese zweier Romane gesehen werden: eines fragmentarischen Pauls, der nie geschrieben wurde, und desjenigen des Ich-Erzählers, der sich zum Großteil auf Pauls mündlichen Aussagen gründet. Da unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, die alle ihre eigene Geschichte bzw. einen Teil derselben erzählen, sind es unterschiedliche Erzählperspektiven, die dann unter der des Ich-Erzählers vereint werden. Bei einer derartigen Vielzahl von Erzählerstimmen ist es fraglich, ob eine korrekte Wiedergabe der Gespräche überhaupt möglich ist. Dadurch wird, trotz des nur einen Erzählers, eine einheitliche Wahrnehmung verhindert, denn er stützt sich auf die Aussagen anderer, die er dann auf seine Art kommentiert. Die erzählte Geschichte wird damit doppelt gebrochen und die vermeintliche Realität, die der Ich-Erzähler darstellt, mindestens durch eine Figur gefiltert wiedergegeben. Diese Art des Erzählens ist eine Reflexion auf Gstreins Aussage über seinen eigenen Erkenntnisstand, wenn er in einem Interview betont, dass er selber über die Ereignisse im Krieg alles nur aus zweiter oder dritter Hand wisse. 8 7 Norbert Gstrein: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt am Main 2004. - Im weiteren Text wird mit der Abkürzung WGG zitiert. 8 Julia Encke, Norbert Gstrein und Ijoma Mangold: Ich werde bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit beklommen. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Norbert Gstrein über Jugoslawien, Peter Handke und den Schreibtisch als gefährlichen Ort, Süddeutsche Zeitung, 28. 4. 2004, S. 14. BH 10 Book.indb 224 22.8.2008 22: 10: 32 Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens 225 Wie schon gesagt, wird die Erzählperspektive häufig mit faktualen Elementen im Roman verbunden und durch sie gedeutet, weshalb auch dieser Aspekt analysiert wird. Fiktionale und faktuale Elemente Den literarischen Höhepunkt der Debatte über fiktionale und faktuale Elemente im Roman, sowie Gstreins Antwort auf Anschuldigungen der Pietätlosigkeit stellt das Buch Wem gehört eine Geschichte? dar, in dem Gstrein zu den Kommentaren und Vorwürfen direkt Stellung bezieht. Darin möchte er das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion offen legen und die Ansichten widerlegen, er habe das reale tragische Schicksal seines Bekannten Grüner im Roman HDT auf unzulässige Weise mit fiktionalen Elementen vermischt und ihn mit der dubiosen Figur Allmayers gleichgesetzt. Wenn man die narratologischen und allgemein-literarischen Aspekte des Romans Das Handwerk des Tötens untersucht, ist es unumgänglich, auch diesen Text in Betracht zu ziehen. Dort nennt Gstrein auch seine literarischen Vorbilder, die ihm beim Schreiben dieser Reaktion auf negative Rezensionen des Romans angeregt haben: Ich gebe zu, die Vorbilder, was das Verhältnis der beiden Bücher zueinander betrifft, waren groß, vielleicht unangemessen groß oder gar größenwahnsinnig gewählt. Neben Danilo Ki{ und seinem Erzählband Ein Grabmal für Boris Davidowitsch sowie der damit korrespondierenden Anatomiestunde hatte ich den Roman eines Schicksallosen im Auge, und wie Imre Kertész die nicht gerade freundliche Aufnahme seines Werkes im Ungarn der siebziger Jahre in seinem späteren Roman Fiasko beschrieben hat. (WGG, S. 50) Außerdem erwähnt er einen Aufsatz von Imre Kertész mit dem Titel Wem gehört Auschwitz? , in dem dieser das vermeintliche geistige Eigentumsrecht der Überlebenden des Holocaust anprangert und darauf hinweist, dass auch die nachkommenden Generationen das Recht und die Pflicht haben, sich darüber Gedanken zu machen (WGG, S. 54). Die ähnlichen Titel beider Texte sind demzufolge nicht zufällig, denn »Auschwitz« bedeutet bei Kertész die »Geschichte von Auschwitz«, genauso wie »Geschichte« in Gstreins Essay konkret als »Geschichte eines Kriegsreporters« gedeutet werden kann. Und das ist ja eines der zentralen Anliegen Gstreins in WGG, wo er die negativen Kommentare auf seinen Roman damit erklärt, dass er mit seiner angeblichen Beschreibung von Grüners Leben und Ableben in das Gebiet Grüner nahe stehender Autorinnen eingedrungen ist, und auf seinem Recht beharrt, doch über dieses Thema zu schreiben. Damit sind die literarischen Vorbilder klar benannt, doch gleichzeitig ist es bemerkenswert, dass sich Gstrein auf fiktionale Werke der erwähnten Autoren, die als Reaktion auf die negative Rezeption ihrer Vorgänger verfasst wurden, beruft. Hier stellt sich nämlich die Frage, zu welcher Gattung dann Wem gehört eine Geschichte? gehört, denn auf dem Umschlag und im inneren des Buches BH 10 Book.indb 225 22.8.2008 22: 10: 32 226 Goran Lovri} gibt es keine Gattungsangaben. Auf dem Begleitblatt zur hier zitierten Ausgabe wird das Werk zwar »Essay und autobiographische Erzählung« genannt, aber das schließt eine teilweise Fiktionalisierung nicht ganz aus. Eine nahe liegende Antwort wäre, dass es sich auch hier um ein Spiel mit dem Leser handelt, worauf auch die Widmung im Buch anspielen könnte. Gstrein beruft sich in WGG zuerst auf die dem Roman schon in der Widmung zu Grunde liegende Distanziertheit und wundert sich darüber, »wie ausgerechnet einem Schreibverfahren, das die Konstruiertheit aller Realität betont, unterstellt werden kann, nichts als eine platte und damit selbstverständlich unzulängliche Abbildung der Wirklichkeit zu liefern« (WGG, S. 10). Doch der wichtigste Grund für diese »Missverständnisse« in der Interpretation faktualer Elemente ist eben diese Widmung im Roman. Obwohl sich Gstrein mit ihr von möglichen Anschuldigungen der Überschreitung der Realitätsgrenze wohl distanzieren wollte, steht eine literarische Widmung an sich schon an der Grenze zwischen der faktualen und der fiktionalen Welt, d. h. sie kann und soll auch als Hinweis auf den Stoff, der als Grundlage der Fiktionalisierung dient, verstanden werden. Bezeichnend ist auch, dass es im Roman noch eine zweite in kroatischer Sprache verfasste Widmung gibt, die sich ebenfalls auf die außerliterarische Wirklichkeit bezieht und die lautet »i za Suzanu« (übersetzt: »auch für Suzana«). Wendelin Schmidt- Dengler ist der Ansicht, dass diese Widmung wohl »kryptisch und privat wirken« 9 soll, was auch Gstrein später in WGG bestätigt und Suzana als seine kroatische Freundin erwähnt. Damit legt er aber eine weitere Fährte in die fiktionale Welt, denn die Romanfigur Helena, die in enger Beziehung zum namenlosen Ich-Erzähler steht, ist auch kroatischer Abstammung. Außerdem, wenn die erste Widmung im Roman an Gabriel Grüner bezeichnend für den Stoff und Inhalt des Textes ist, dann kann auch diese zweite Widmung mit dem Inhalt verbunden werden (nicht nur Helena = Suzana, sondern folglich auch Ich-Erzähler = Gstrein). Damit läuft man zwar Gefahr, einen literaturwissenschaftlichen Fauxpas zu begehen und den Autor und den Erzähler zu verwechseln, aber diese »Verwechslungsgefahr« ist in diesem Falle offensichtlich vom Autor bewusst inszeniert worden. Das bestätigt auch die Tatsache, das es auch in Wem gehört eine Geschichte? eine Widmung gibt, die dort aber lautet »für Helena« (WGG, S. 8), also für eine fiktionale Figur im Roman. Dieses Spiel mit den Widmungen (einerseits Widmung für eine reale Person im fiktionalen Text und andererseits für eine fiktionale Person in einem der Deutung dieses fiktionalen Textes dienenden faktualen Text) kann als symptomatisch für Gstreins Poetik verstanden werden, d. h. sie bezieht sich nicht nur auf den Roman HDT, sondern auch auf WGG bzw. beide miteinander verbundene Werke. Eine ähnliche Brücke zwischen der faktualen und fiktionalen Welt bzw. zwischen dem Ich-Erzähler und sich als Autor baut Gstrein auch in den letzten Sät- 9 Wendelin Schmidt-Dengler: Schluss mit dem Erzählen, Literaturen, 11/ 2003, S. 57-59, hier S. 58. BH 10 Book.indb 226 22.8.2008 22: 10: 32 Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens 227 zen des Romans auf, wenn er Pauls Abschiedsschreiben und die daraus folgende Motivation des Ich-Erzählers beschreibt: Er war in seinem Zagreber Hotelzimmer aufgefunden worden, Schlaftabletten und kein Abschiedsbrief, keine Papiere außer einem einzelnen Blatt mit dem Satz Ich werde nicht mehr schreiben und darunter Cesare Pavese, Das Handwerk des Lebens, keine Spur von seinem Roman ‡...™. Wahrscheinlich lag sie mit ihrer Vermutung richtig, er habe alles vernichtet, und als ich das hörte, spielte es auf einmal keine Rolle mehr, wie weit ich mich von dem Gedanken entfernt hatte, selbst etwas über Allmayer zu machen, und ich dachte, ich muß es an seiner Stelle versuchen, bin es ihm schuldig, endlich richtig anzufangen, ihm und seinem Ende. (HDT, S. 381) Gstrein verbindet auch hier die Kommunikationsebenen, indem er aus der fiktionalen Welt heraus eine Andeutung zur faktualen Welt bzw. zum endgültigen Titel des Romans macht, der sich offenbar auf Paveses Tagebücher bezieht. Damit verbindet er logischerweise auch den Ich-Erzähler, der das Schreiben Pauls persönlich gelesen hat, mit dem auf dem Umschlag genannten Autor, der dem Roman den Titel gegeben hat. Diese literarische Verfahrensweise, wenn ein auf dem Umschlag genannter Erzähler zusammen mit den Figuren an der Handlung teilnimmt, stellt nach Genette eine Grenzüberschreitung zwischen der extra- und intradiegetischen Ebene und somit eine Art der narrativen Metalepse dar. Gleichzeitig beschreibt Gstrein in WGG detailliert, wie und wo er für den Roman recherchiert hat, was auch dem landeskundlich und geschichtlich weniger informierten Leser ermöglicht, faktuale Elemente im Roman zu erkennen. Damit legt er gleichzeitig auch die Hintergründe der Entstehung des Romans offen, was häufig entscheidend für die Einordnung eines Textes als fiktional oder faktual ist. Auf diese Weise spielt Gstrein ein doppeltes Spiel mit dem Leser, denn vorgeblich betont er die fiktionale Seite des Romans, aber andererseits zeigt er, wie sehr er sich auf realen Ereignissen gründet. Abgesehen davon gibt es auch zahlreiche inhaltliche Parallelen in beiden Texten, so dass beim Lesen von WGG häufig der Eindruck entsteht, dass man den Roman HDT ein zweites Mal liest, diesmal aber mit Namen realer Personen aus der faktualen Welt. Das bezieht sich ebenfalls auf Lokalitäten in der BRD und Kroatien, sowie auf Zeitangaben, die sich mit dem Romangeschehen überschneiden. Doch, am deutlichsten offenbart Gstrein seine Poetik und literarischen Vorbilder, wenn er sich in WGG auf die Poetik des »Dokumentarisch-Imaginären, seiner faction-fiction« (WGG, S. 84) von Danilo Ki{ bzw. Jorge Luis Borges beruft: Dabei werden faktische und fiktive Dokumente so verwendet, daß am Ende nicht mehr, zumal nicht auf den ersten Blick, zu unterscheiden ist, welche welche sind, und diese Unterscheidung keine Rolle mehr spielt. Es ist der doppelt paradoxe Versuch, der Literatur mit ihren eigenen Mitteln zu entkommen und genau dadurch mitten in ihrem neu zu definierendem Zentrum zu landen, in dem »die literarischen (psychologischen) Fakten ... vom ’historischen’ Material gestützt ‡werden™, die historischen vom - literarischen«, wie es in der Anatomiestunde heißt. (WGG, S. 84) BH 10 Book.indb 227 22.8.2008 22: 10: 32 228 Goran Lovri} Dieses Zitat stellt einen Schlüssel nicht nur zum Roman HDT dar, denn Gstrein setzt sich hier, wie er selber betont, »gegen ein schieres Diktat des Faktischen als auch gegen eine Abgehobenheit und Unverbindlichkeit der Literatur« (WGG, S. 84) ein. Diese Vermischung der Erzählebenen bzw. bewusste Herstellung einer Verbindung zwischen der faktualen und der fiktionalen Welt in beiden Werken Gstreins kann anhand einer narratologischen Tabelle dargestellt werden: Kommunikationsebenen im Roman Das Handwerk des Tötens und im Essay Wem gehört eine Geschichte? Autor → Leser (Gstrein → Leser) Wem gehört eine Geschichte? Erzähler → Leser (namenloser Erzähler → Leser) Das Handwerk des Tötens Figur → Figur (Paul, andere → Erzähler) Handlungsebene des Romans Ebene der fiktionalen Vermittlung Ebene der nichtfiktionalen Kommunikation Die inneren zwei Ebenen sind textinterne bzw. fiktionale Kommunikationsebenen und beziehen sich auf den Roman HDT, die äußere ist die nichtfiktionale Ebene im Essay WGG. Diese in der Literatur zumeist voneinander getrennten Ebenen werden hier aufgrund der inhaltlichen Verbundenheit und zahlreichen Überschneidungen des Romans und des Essays (Personen, Orte, Ereignisse) häufig überschritten. Aber auch innerhalb des Romans selbst werden, wie schon gesagt, faktuale und fiktionale Elemente vermischt, und es sind Ähnlichkeiten mit realen Personen (Grüner, Autoren und Personen aus dem literarischen Umfeld) zu erkennen, und man kann die Handlung im Roman zeitlich genau datieren. BH 10 Book.indb 228 22.8.2008 22: 10: 32 Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens 229 Da sich der Erzähler aber auch als unverlässlicher Erzähler (er kommentiert subjektiv, ironisch und selbstsicher) und als dilettantischer Erzähler-Autor (er schreibt sein erstes Buch) zu erkennen gibt, könnte man hier auch den Begriff des »impliziten Autors« verwenden, der am besten, wenn überhaupt, bei unverlässlichen Erzählern angewandt werden kann. Diese bisweilen abstrakte erzählerische »Pufferinstanz« zwischen dem namenlosen Erzähler und dem Autor, die den moralischen und emotionalen Wert der dargestellten Handlung umfasst und dafür »verantwortlich« ist, könnte auch den realen Autor von seiner »Schuld« der emotionslosen Darstellung realer Ereignisse entlasten. Man sollte dabei aber immer im Auge behalten, dass auch der implizite Autor anderer Meinung als der reale Autor sein kann (aber nicht sein muss! ). Resümee Ist es also möglich, Kriege in Ex-Jugoslawien durch die Homogenität eines Romans darzustellen? Die Methode der Dekonstruktion von Krieg und der Literatur über diesen ist in dem vorliegenden Roman eng mit der diffusen Erzählstruktur verbunden, weshalb die Antwort eher negativ ist. Es kann hier nämlich von einem vom Ich-Erzähler verfassten offenen und deutungslosen Text gesprochen werden, der viele individuelle und teils widersprüchliche Geschichten enthält, wodurch eine geschlossene und eindeutige Struktur unmöglich gemacht wird. Die einzelnen Figuren als Erzähler sind subjektiv und nicht homogen in ihren Kommentaren, d. h. es wird ständig die gleiche Geschichte wiederholt, aber immer von einem anderen Standpunkt aus, was Gérard Genette 10 eine »repetitive‡...™ Erzählung« bzw. »multiple Fokalisation« nennt. Ein solches Ereignis, das mehrmals und unterschiedlich erzählt wird, ist in seiner Darstellung aber nicht eindeutig und bleibt somit aporetisch. Mit dieser Technik vermeidet es auch Gstrein eine bestimmte Position einzunehmen, und auch aus seiner geäußerten Poetik ist ersichtlich, dass es ein wichtiger Beweggrund seines Erzählens ist, dass er in seinen Werken »nicht Stellung beziehen muß«. 11 Er will demnach in seinen Werken keine Nähe zum gewählten Gegenstand erzeugen, sondern Distanz, um so die Objektivität wahren zu können. Deshalb kann man den Roman Handwerk des Tötens nicht, wie Daniel Kruzel es tut, als »’Schmarotzertum’ eines Dekonstruktivisten, der ohne bereits vorhandene Texte nicht auskommt« (Kruzel, S. 81) bezeichnen, weil er angeblich Grüners Schicksal als Motiv nimmt (das bis dahin aber auch nicht schriftlich verfasst war) und Einzelheiten aus seinen Zeitungsartikeln und Kriegsberichten in seinen Roman benutzt, denn Intertextualität ist eine überaus legitime und häufige literarische Technik. 10 Gérard Genette: Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch. In: Gérard Genette: Die Erzählung, München 1994, S. 11-192, hier S. 83. 11 Norbert Gstrein: Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema, Frankfurt am Main 2003, S. 7. BH 10 Book.indb 229 22.8.2008 22: 10: 32 230 Goran Lovri} Die vermittelte Erzählweise ist also keine Unsicherheit des Erzählens, sondern eine beabsichtigte Polyphonie, die es dem Leser ermöglichen soll, sich selbständig eine Meinung zu bilden und die Wahrheit zu entdecken, wenn es denn im Kontext der Kriegshandlungen, wie Gstrein selber betont, so etwas überhaupt gibt: Das Problem einer nur ungenau bekannten Realität stellt sich im Krieg geradezu zwangsläufig, weil man es mit verfeindeten Parteien zu tun hat, die jeweils ihre Version der Geschichte erzählen, und wenn immer wieder zu lesen ist, das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit, so lässt das außer acht, dass häufig davor schon mit der Wahrheit etwas anderes passiert. Es ist die Suche nach der einen Wahrheit und der unverrückbare Glaube, sie gefunden zu haben, der oft genug am Anfang steht ‡...™. 12 Soll man den Autor deshalb als politisch unengagiert und sein Erzählen als banal bezeichnen, oder sollte man seine Distanziertheit vielleicht doch positiv bewerten, zumal das Beispiel Peter Handkes ein anderes Extrem darstellt und als solches offenbar Schule gemacht hat? Gstreins distanzierte Erzählperspektive steht für einen Autor, der sich trotz offensichtlicher positiver Bindungen zu Kroatien in seinem Roman nicht zu subjektiven Bemerkungen hinreißen ließ. Dafür thematisiert er am Beispiel der beiden zentralen Charaktere und ihrer unterschiedlichen Erzählkonzepte wohl nicht nur seine eigenen Selbstzweifel und Dilemmas bei der Bearbeitung eines ihm nahe liegenden Themas, sondern auch die oftmals mehr als peinlichen »Ausrutscher« seiner Kollegen. 12 Norbert Gstrein: Was macht ein Mensch, der kein Soldat ist, im Krieg? Versuch einer Annäherung an Sheerness. Dankesrede bei der Entgegennahme des Uwe Johnson Preises 2003, Süddeutsche Zeitung, 2. 12. 2003, S. 14. BH 10 Book.indb 230 22.8.2008 22: 10: 32 A LMA K ALINSKI (Z AGREB ) Zwischen Europa und Balkan Das Spiel mit Auto- und Heterostereotypen über Kroaten und Kroatien in Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens In der vorliegenden Arbeit sollen die im Roman Das Handwerk des Tötens vermittelten Bilder von Kroatien und Kroaten wie auch die Spezifik ihrer narrativen Präsentation erörtert werden. Anschließend wird versucht, die Funktionen dieser Bilder im Text und den ideologisch-kritischen Hintergrund des Romans zu beleuchten. Es wird gezeigt, dass im Romantext permanent ein subtiles Dekonstruktionsspiel mit Auto- und Heterostereotypen über Kroatien am Werk ist, und dass dadurch ein Erkenntnisrelativismus erreicht wird, der im Zusammenhang mit der impliziten Kritik des Autors an der gesamten abendländischen Kultur und Zivilisation zu verstehen ist. Es handelt sich dabei um auto- und heteropoetisch hergestellte Stereotype 1 über Kroatien, d. h. um Kroatien-Bilder, die einerseits von Kroaten selbst, andererseits von Nicht-Kroaten stammen und die einen wesentlichen Bestandteil der nationalen und kulturellen Identitätsbildung der Kroaten sowohl in der Heimat als auch in der Emigration darstellen. Klischees und Stereotype wohnen der menschlichen Kommunikation schlechthin inne. Die schematisierten, schablonisierten, verallgemeinernden, auf Vorurteilen und einer typisierenden Logik basierenden Bilder dienen im täglichen Kommunikationsbereich als Erkenntnishilfe und Orientierungspunkt für das eigene Handeln. Ihr Wahrheitsgehalt wird erst durch konkrete, individuell gemachte Erfahrungen bestätigt oder widerlegt. In der von Gstrein entworfenen Romanwirklichkeit erweisen sie sich als Denk-, Handlungsund/ oder Erzählmuster, die die personalen Identitäten der Romanfiguren mitgestalten und mitbestimmen, sie in spezifischen Figurenkonstellationen einem (Selbst-)Reflexions- und Transformationsprozess aussetzen und zugleich als Faktoren eines interkulturellen Dialogs wirksam sind. Die innere Logik dieses Spiels mit Stereotypen ist durch ein dauerhaftes Spannungs- und Wechselverhältnis von Allgemeinem und Besonderem, von Typischem und Individuellem, von Personalem und Überpersonalem, von Eigenem und Fremdem gekennzeichnet, dessen Ausformungen und Wirkungen an narrativ inszenierten Identitäten der Romanfiguren illustriert werden. Somit ist eine besondere Dialektik am Werk, deren logisches Gesetz die »Entweder-oder«- Funktion bloß auf der Thesenebene voraussetzt, sich aber tatsächlich als Koexis- 1 Vgl. Dubravka Orai} Toli} - Erno” Kulcsár Szabó (Hg.): Kulturni stereotipi. Koncepti identiteta u srednjoeuropskim knji`evnostima, Zagreb 2006. BH 10 Book.indb 231 22.8.2008 22: 10: 32 232 Alma Kalinski tenz unterschiedlicher, sogar disparater Möglichkeiten erweist: Anders gesagt, stereotype Vorstellungen werden auf der Begriffsebene als etwas Vorgefundenes, und zwar als binäre Oppositionen innerhalb eines Dualsystems vorgeführt, während sie auf der narrativen Gesamtebene eine Vielzahl gleichgestellter Möglichkeiten (Situationen, Identitätssplittern usw.) zustande bringen, durch die der Konstruktionsprozess von Stereotypen in Frage gestellt und stereotype Inhalte dekonstruiert werden. Zwei Romanfiguren kroatischer Herkunft, die schöne, junge Helena und der kroatische Kriegsherr Slavko, fungieren dabei als wesentliche Referenzpunkte der fragmentarisch erzählten, ineinander verflochtenen Geschichten, aus denen die narrativen Identitäten der anderen Figuren zusammengesetzt sind. Als Brennpunkte oder semantische Knoten im Textnetz, um die herum und in denen sich das ambivalente, konstruktiv-destruktive, identitätsstiftende und -revidierende Potenzial der Kulturstereotypie vereinigt, erweisen sich die Figuren als wesentliche Handlungs- und Strukturmomente des Romans wie auch als Mittel der Gstrein’schen Sprach-, Kultur- und Zivilisationskritik. Um Helena herum, die in Deutschland aufgewachsen ist und dort lebt, sind die männlichen Hauptfiguren gruppiert: Paul, Allmayer und der anonyme Ich- Erzähler. Ihre Identitäten werden in der gegenseitigen Spiegelkonstellation hinterfragt und ergänzt. Ulrich Dronske bemerkt, dass es sich dabei um drei einsame Männer handelt, um drei Journalisten mit einer Affinität fürs Literarische, mit dem gemeinsamen Wunsch, sich einst aus den Niederungen des Zeitungsschreiberlings in die Höhen wahren Schriftstellertums hinaufschrauben zu können, drei Männer mit einem verqueren Verhältnis zu Frauen und mit einem gemeinsamen Begehren für dieselben Frauen. 2 Helena ist Objekt männlichen Begehrens, der Stilisierung oder aber der Geringschätzung als Ausdruck männlicher Domination, wobei gerade die Auto- und Heterostereotype über Kroatien und Kroaten eine wichtige Rolle spielen und den Erkenntnisprozess von Helena wie auch den der männlichen Romanfiguren prägen. Helenas Freund Paul, ein professionell und privat resignierter Mann, ist von der Idee besessen, einen Roman über das Leben und den Tod von Christian Allmayer, einem Freund und Kollegen von ihm, seinem Tiroler Landsmann, zu schreiben, welcher während seiner journalistischen Tätigkeit im Kosovo ermordet wurde. In seine fieberhafte Suche nach dem Romanplot bezieht Paul allmählich Helena und den Ich-Erzähler ein. Der Roman in Entstehung bleibt jedoch bis zum Romanende nur eine Stoffsammlung, die zugleich die Handlung des Romans Das Handwerk des Tötens ausmacht. Beim Andrang der Fiktion zu seiner prosaischen Lebenswirklichkeit bricht Paul zusammen und begeht Selbstmord, während Helena, die inzwischen ebenfalls einen personalen Transforma- 2 Ulrich Dronske: Slika Hrvata u knji`evnosti njema~koga govornog podru~ja. In: Zit. Anm. 1, Orai} Toli} - Kulcsár Szabó, Kulturni stereotipi, S. 127-145, hier S. 141. BH 10 Book.indb 232 22.8.2008 22: 10: 32 Zwischen Europa und Balkan 233 tionsprozess durchmacht und sich von Paul emanzipiert, eine Liebesbeziehung mit dem Ich-Erzähler eingeht. Dieser wiederum entscheidet, den von Paul nie verfassten Roman über Allmayer selbst zu schreiben. Aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit wird Helena von Paul zum »ersten Verbindungsoffizier«, zu seiner »Romanwirklichkeit« 3 stilisiert. Ihre Herkunft fungiert als Ausgangspunkt für die Herstellung einer »zwingende‡n™ Kette von Ursache und Wirkung« 4 zwischen ihrem Leben und seiner Beschäftigung mit dem Balkan, schließlich zwischen ihr selbst und Allmayers tragischem Schicksal. 5 Pauls ambivalente Haltung zu seiner viel jüngeren kroatischen Partnerin offenbart sich als Stilisierung des besetzten libidinösen Objektes, als eine fatalistische Auffassung ihrer Liebesbeziehung und als ironischer, erniedrigender Umgang mit ihr wie mit »einer Figur in einem Spiel«. 6 Dafür scheinen mehrere Faktoren ausschlaggebend zu sein: Pauls eigene Charakterzüge (»ein Schwätzer«, 7 ein Phantast, den »das Spekulierenkönnen, das Erfinden und Verwerfen von Varianten« 8 und »die Freiheiten beim Erzählen« 9 mit Begeisterung erfüllen), eine gescheiterte Eheerfahrung, ein verqueres, in seiner Tiroler Heimat aufgesogenes Beziehungsmuster zwischen Mann und Frau sowie die vom ermordeten Allmayer teilweise übernommene Identifizierung des Kroatentums mit dem Faschismus (Ustaschismus) und dessen misogyne, stereotype Vorstellung von Helena als einer dummen, politisch uninteressierten Modepuppe, als »einer Frau, die aus einer ganz anderen Welt war«. 10 Die Gestalt Helenas wird mehrmals aus der Perspektive von Allmayer und Paul auf die stereotype Kategorie der ethnisch-nationalen Verallgemeinerung abstrahiert bzw. auf eine Metonymie zurückgeführt: Sie steht ebenso für das sozialistische Jugoslawien wie für Kroaten als ein Kriegsvolk, weiterhin für die slawische Völkergruppe und damit für den Balkan schlechthin. Pauls fatalistische Auffassung seiner Beziehung mit Helena (»wenn schon nicht füreinander geschaffen, so doch schicksalhaft verstrickt«), 11 die in der wiederholt formulierten Stilisierung der Kroatin zu seinem »Todesengel« 12 kulminiert, ist damit auch vor dem Hintergrund der überpersonal, d. h. kulturhistorisch relevanten Implikationen der erwähnten Heterostereotype zu verstehen. Zieht man nämlich die Tatsache in Betracht, dass Paul als Hauptfigur am Romanende Selbstmord begeht, und der Autor wollte, dass der Erzähler eine solche Situation entwirft, dass dies gerade im Zimmer des Zagreber Hotels Palace passiert, dann drängt sich die 3 Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. Roman, Frankfurt a. M. 2003, S. 39. 4 Ebenda, S. 38. 5 Vgl. ebenda, S. 40. 6 Ebenda, S. 25. 7 Ebenda, S. 11. 8 Ebenda, S. 46. 9 Ebenda, S. 46. 10 Ebenda, S. 51. 11 Ebenda, S. 15. 12 Ebenda, S. 12, 172. BH 10 Book.indb 233 22.8.2008 22: 10: 32 234 Alma Kalinski Frage auf, ob dabei jenes Kroatische in einem breiteren Kontext bzw. aufgrund mehrerer, auf unterschiedlichen Romanebenen simultan wirkender Elemente in Zusammenhang mit dem für Europa Schicksalhaften, ja sogar Verhängnisvollen zu bringen ist. Anders gesagt, abgesehen von den angeführten, heterostereotyp geprägten Deutungsmöglichkeiten der Identität von Helena, ist es unmöglich, die Verbindung des semantischen Feldes des Todes mit der balkanisch-kroatischen Komponente und seine fast leitmotivische Wiederholung auch außerhalb der Liebesbeziehung zwischen Paul und Helena nicht zu bemerken. Dieses Feld erstreckt sich symbolisch, jenseits seiner geographisch und historisch konkretisierten Wirklichkeit, bis zur scheinbar stabilen europäischen Festung und droht, sie zu vernichten. Helena selbst ist sich als Tochter kroatischer Einwanderer in Deutschland seit der frühen Kindheit ihrer ’eingeklemmten’ Identitätsposition bewusst. Aus ihrer Selbstthematisierung lässt sich schließen, dass sie in einer Kluft zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen dem Kroatentum ihrer Eltern (für die sie sich in Deutschland als Kind geschämt hat) und dem sie umgebenden Deutschtum als ihrem eigenen Identifikationsmuster ’stecken geblieben’ ist. Es geht um die identitätsbildende Erkenntnis des Herkunftsunterschieds, der zugleich als sprachlich-kulturelle Differenz die authentischen Mitglieder einer Gemeinschaft von Außenseitern und ein homogenes ’Wir’ von Fremdlingen trennt. Das ambivalente Verhältnis von Helena zu ihren kroatischen Wurzeln als Teil ihrer personalen Identität kommt ebenfalls im Kontext ihrer Erinnerungen an die im Hinterland von Zadar, im Hause ihrer Eltern, verbrachten Ferien zum Ausdruck. Auch da geht es um eine Form symbolischer Ausschließung aus der ersehnten soziokulturellen Gemeinschaft, diesmal aufgrund der ihr von kroatischen Kindern im Kriegsspiel zwischen Deutschen und Partisanen aufgezwungenen deutschen Identität mit der heterostereotypen Feindesrolle bzw. mit dem pejorativen Etikett »{vabo fa{ista«. 13 Das offenkundige Spannungsverhältnis von identitätsstiftenden Komponenten lässt hier deutlich erkennen, dass Helena selbst eine hybride kulturelle Identität repräsentiert: Sie ist das Europäische und das Kroatische wie auch das Balkanische und einst Sozialistisch-Jugoslawische zugleich, obwohl sie diese Bezeichnungen lange Zeit als fremde Last auf sich selbst empfindet und nach ihrer wahren Identität sucht. Weder das Europäische noch das Kroatische resultieren bei ihr aus ihrer freien Wahl, sondern sie unterstreichen die Tatsache ihres bloßen Eingeboren- oder Geworfenseins in das vorgefundene, vorgegebene soziale Sein. Die personale Entwicklung von Helena beginnt erst im Moment, in dem sie die faktische Unfreiheit von akzidentalen, durch die Geburt absorbierten oder ererbten Gegebenheiten erkennt und akzeptiert, womit zugleich unter dem Einfluss des in Kroatien ausgebrochenen Krieges ihre bisherige Identität allmählich wesentliche Veränderungen erfährt. 13 Ebenda, S. 200. BH 10 Book.indb 234 22.8.2008 22: 10: 32 Zwischen Europa und Balkan 235 Einerseits ändert sich Helenas Beziehung zu ihrem damaligen deutschen Ehemann. Die semantische Wende, die mit der Aufnahme zweier kroatischer Vettern in die Wohnung ihres Gatten in Hamburg auftritt und die bei Helena ein neues Selbstverständnis entfaltet, entlarvt die destruktive Wirkung der bis dahin von ihr als positiv angesehenen Variablen ihres gegenseitigen, kulturell hybriden Verhältnisses. In den gönnerhaften Manieren ihres Mannes erkennt Helena in der neu entstandenen Situation einen heuchlerischen Ausdruck männlicher und kultureller Domination über sich selbst und ihre Familienangehörigen, die da »wie bedürftige Verwandte« 14 behandelt werden. Andererseits bzw. parallel dazu ändert sie auch die Beziehung zu ihren Eltern und zur nationalen Komponente ihrer Identität. Die Erkenntnis von ihrer Unterwürfigkeit gegenüber ihrem deutschen Mann wird später, in einem mentalitätsgeschichtlichen Kontext, narrativ funktionalisiert, wenn Helena ihre Familiengeschichte, den Zweiten Weltkrieg, die kroatische und deutsche Opferökonomie im Heimatort ihres Vaters sowie die touristische Rückkehr der ersten Deutschen an die jugoslawische Küste thematisiert. In ihrem Autostereotyp über die selbstverschuldete Dienstboten- und Lakaienmentalität der Kroaten gegenüber den Deutschen und Österreichern ist eine pessimistisch-fatalistische Geschichtsauffassung enthalten, die zugleich von den nicht-kroatischen Romanfiguren dem Balkanraum zugeschrieben wird. Es geht dabei um eine grundsätzliche Zuweisbarkeit des kroatischen und balkanischen Menschen zu demselben Mentalitätstypus, der durch Unterwürfigsein, Fatalismus und Geschichtspessimismus gekennzeichnet ist. Die auto- und heterostereotype Vorstellung von der kroatisch-balkanischen Mentalität wie auch das frauenfeindliche Stereotyp von Paul und Allmayer über Helena als Frau »aus einer ganz anderen«, nicht europäischen, kulturell minderwertigen Welt werden zwar durch die Erzählerkommentare relativiert und schließlich durch den Erkenntnisprozess von Helena und Paul widerlegt. In diesem Zusammenhang muss immerhin die Frage gestellt werden: Was war die Absicht des Erzählers, als er Helena als Tochter von kroatischen Eltern aus dem Hinterland von Zadar (und nicht aus einer anderen kroatischen Region) entworfen hat? Aus der kroatischen Leserperspektive betrachtet, wurden Helena und ihre Familie auf diese Weise mittelbar zu Vertretern eines Teils Kroatiens und einer bestimmten Mentalität, die sich durch ihre Spezifika in vielem nicht nur von Europa, sondern auch von den anderen Gebieten Kroatiens unterscheiden. Die Funktion dieses Toponyms mit seinen dünn bewohnten, verödeten Landschaften wird verständlicher, wenn man die ihm im kroatischen nationalen und kulturellen Bewusstsein traditionell zugeschriebenen Bedeutungen bzw. stereotypen Vorstellungen heranzieht. Die Gegend des dalmatinischen Hinterlandes wird im kroatischen Autostereotyp mit Steinboden, Kahlheit, Kargheit, Armut, Provinz und Isolation, daher auch mit der Auswanderung und dem Gastarbeitertum ihrer Bewohner verbunden. Analog dazu spricht man von einer typischen 14 Ebenda, S. 187. BH 10 Book.indb 235 22.8.2008 22: 10: 32 236 Alma Kalinski ’Karstmentalität’, die durch folgende Begriffe gekennzeichnet ist: Patriarchat, Traditionalismus, Katholizismus, Konservativismus, rechte Position auf der politischen Szene Kroatiens und deklarierte Heimatliebe, die von einem positiv aufgefassten Nationalismus bis hin zur offenen antiserbischen Haltung reicht. In Gstreins Roman haben die Karstlandschaften und das weit verbreitete Auto- und Heterostereotyp über die entsprechende Mentalität eine mehrfach kritisch-produktive Funktion: Durch die hybride kulturelle Identität von Helena und den narrativen Rückgriff auf die Österreichische und Österreichisch-Ungarische Monarchie als gemeinsamen Topos des kroatischen und (mittel-)europäischen kollektiven Gedächtnisses werden einerseits der Europa- und der Balkanraum in einen breiteren politischen und kulturhistorischen Zusammenhang gebracht. Andererseits wird durch diese diachron ermittelte Verschränkung der beiden historischen Räume und ihrer Traditionen die Möglichkeit mitgegeben, die gegenwärtige Entwicklung der Räume zu umreißen und damit die Nichtigkeit der vorherrschenden Auto- und Heterostereotype über Europa und Nicht-Europa vor dem Hintergrund der Anteilnahme der beiden Räume an gleichartigen Globalisierungstrends auf dem weltweiten Kapitalmarkt bloßzulegen. Die Bedeutung der kroatischen Karstregion, aus der Helenas Eltern stammen und die durch das Hinterland von Zadar genauso repräsentiert wird wie durch die im Roman geschilderte Stadt Knin, lässt sich im Zusammenhang mit dem Grenzebegriff auffassen, der im Roman mehrfach ironisiert wird und auf diese Weise ebenfalls dazu dient, die vorgefundenen stereotypen Kulturkonstrukte zu dekonstruieren. Die herangezogene Geschichte der kroatischen Einöde ist prägnant in der Bemerkung des Erzählers enthalten, dass nicht weit nördlich davon die ehemalige österreichische Militärgrenze verlaufen war, mit ihrem traurigen Mythos von den treuesten Untergebenen und tapfersten Kämpfern der gesamten Monarchie, der Kordon von befestigten Anlagen und Wachhäusern gegen die Türken, der zur Zeit seiner größten Ausdehnung von der adriatischen Küste über Slawonien und das Banat bis Siebenbürgen gereicht hatte. 15 Im kroatischen und europäischen kollektiven Gedächtnis sowie im überlieferten Kulturstereotyp hat dieser Raum die Bedeutung der Grenze zwischen zwei Welten: Er trennt Europa vom Balkan, die christliche, gottgefällige Welt von der heidnischen oder gottlosen, zusammen mit all jenen spezifischen Merkmalen, in denen sich ihre kulturellen Differenzen offenbaren. Es liegt auf der Hand, dass da nur von einer imaginären, irrealen Grenze die Rede ist, deren Grenzcharakter weder zu fruchtbaren Formen einer dynamischen kulturellen Mitarbeit noch zur wirtschaftlichen Prosperität durch Verkehr und Handel führte, sondern dass es vielmehr um ein »Durchgangslager und isoliertes Rückzugsgebiet« 16 geht, dessen einzige historisch relevante Funktion offensichtlich darin bestand, mili- 15 Ebenda, S. 286. 16 Ebenda, S. 286. BH 10 Book.indb 236 22.8.2008 22: 10: 32 Zwischen Europa und Balkan 237 tärisch, d. h. mit Waffengewalt, die Realität dieser irrealen Grenze aufrechtzuerhalten. Das Stereotyp über die Menschen von der Grenze zwischen zwei Welten, damit auch jenes von Helena als »einer Frau, die aus einer ganz anderen Welt war«, 17 wird jedoch sowohl durch Helenas als auch durch Pauls Entwicklungsbzw. Erkenntnisprozess widerlegt. Während sich die ursprünglich unterwürfige und unsichere Helena zu einer selbstbewussten, selbstsicheren Frau entwickelt, sieht Paul während seines Aufenthalts im dalmatinischen Hinterland und in der nahe gelegenen Herzegowina die Parallelität von Identitätsmustern zwischen dem Eigenen (Tirol) und dem Fremden (Kroatien/ Balkan) ein, da sich die beiden als bäuerlich-katholisch, patriarchal geprägte Milieus erweisen. Paul selbst ist es, der damit die Nichtigkeit des europäischen und des eigenen Kulturstereotyps über Kroatien als Grenze zwischen Europa und Nicht-Europa erkennt und deshalb auch das stereotype Dozieren eines deutschen Pfarrers, »dass hier ‡im herzegowinischen Marienerscheinungsort Me|ugorje, A. K.™ der Limes verlaufe, seit Jahrhunderten das Ende der gottgefälligen Welt«, 18 als dummes Geschwätz verwirft. Das im Roman durchgeführte Spiel mit Auto- und Heterostereotypen über die kroatischen Städte Split, Vukovar, Dubrovnik und Knin als Repräsentanten vergangener und gegenwärtiger soziokultureller Phänomene ist ebenfalls als Kritik an Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion zu verstehen. Die vom Krieg devastierte ostkroatische Stadt Vukovar, die die Kriegsschrecken schlechthin symbolisiert, wird aus der Erzählperspektive eines Nicht-Kroaten im Kontext der von Kroatien medienhaft unterstützten, diskursiv selbststilisierenden Traditionserfindung grotesk mit der zur »Perle der Adria« 19 stilisierten Stadt Dubrovnik kontrastiert, um auch diesmal die Unhaltbarkeit der Autostereotype über Kroatien zu unterstreichen. Während Dubrovnik aus der Sicht der Kroaten für touristisches Paradies nach europäischen, ja weltweiten Maßstäben steht, repräsentieren die erwähnten Städte und das dalmatinische Hinterland in der fremden Perspektive Kroatien als ein zurückgebliebenes, provinzlerisches Land, als die Vormauer Europas: Vukovar (»ein unbekanntes Provinznest«, 20 in dem während des Krieges »ein Menschenleben weniger wert war als ein paar alte Mauern in Dubrovnik«), 21 Knin (»der schrecklichste Ort auf dem ganzen Balkan«), 22 Split (»ein verkommener Etappenort, in dem sich Soldaten mit leichten Damen vergnügten, ‡...™ um später, als der Krieg vorbei war, ein totes Nest daraus zu machen«). 23 Ein solcher Erzählakt, der die stereotypen Selbst- und Fremdbilder über Kroatien inszeniert, indem er sie zitiert oder paraphrasiert, um sie daraufhin zu unterminieren, geht jedoch tendenziell über die ethnisch-nationale Identitätskomponente hinaus 17 Ebenda, S. 51. 18 Ebenda, S. 368. 19 Ebenda, S. 259. 20 Ebenda, S. 131. 21 Ebenda, S. 259. 22 Ebenda, S. 285. 23 Ebenda, S. 289. BH 10 Book.indb 237 22.8.2008 22: 10: 32 238 Alma Kalinski und wird zu einer tiefgründigen Kultur- und Zivilisationskritik erweitert. Damit, vor allem mit der Kritik an Medien und ihrer Vermittlungsrolle bei der Gestaltung eines öffentlichen Bewusstseins, scheint auf eine global verquere, auf fragwürdigen, verworrenen Werten gründende Perzeption von Problemen und ihrer Lösung sowie auf eine globale, übernational charakteristische Fehlentwicklung hingewiesen zu werden. Es drängt sich dabei die Frage auf, welche Werte überhaupt noch die kulturelle Identität des heutigen Europas definieren sollen, und ob man dadurch die deklarierte europäisch-humanistische Position verlässt, indem man etwa auf einen der höchsten Werte, nämlich auf die Erhaltung des menschlichen Lebens (in Vukovar), zugunsten eines anderen, nämlich des global erkennbaren, global befruchtbaren Kapitals (z. B. des Kulturerbes von Dubrovnik) verzichtet. In diesem Sinne ist auch die ironische, im Kommentar über Split (»das sich auch noch etwas darauf einbildete, Fußballer und Schönheitsköniginnen in die halbe Welt zu exportieren«) 24 enthaltene Anspielung auf die Teilnahme Kroatiens an aktuellen, unvermeidbaren Trends auf dem Weltkapitalmarkt als allgemeine Kritik am ideologischen Hintergrund des Globalisierungsprozesses zu verstehen, der vom Bündnis zwischen Ideologie und Kapital diktiert wird und der in gleichem Maße den Europa- und den Balkanraum, ihre Städte wie auch Provinzen, ergriffen hat. Das Leitmotiv der kroatischen Karstlandschaften und jenes der Stille lassen sich daher nicht nur in direkter Verbindung mit dem Kroatienbzw. dem Balkanraum, sondern auch auf einer höheren Ebene, im Kontext der Betrachtungen über Kultur und Zivilisation, deuten. Der Karst stellt nämlich die von der Zivilisation immer noch ungezähmte Natur (Einöde, Kahlheit) dar. Er ist ein Ort der Leere und daher ein Ort der Freiheit - von Menschen, Bedeutungen, vom Kampf um Bedeutungen, Symbole, Stereotype. Die Naturbilder in journalistischen Kriegsberichten, deren additiv-iterative Präsentationsweise von Kriegsverbrechen im Leserbewusstsein des Erzählers paradoxerweise den Schein der Normalität wieder herstellt, scheinen die einzigen Stellen zu sein, die fähig sind, beim Erzähler eine Vorstellung von konkreten Schrecken auszulösen. Somit scheint die Natur in Gstreins Roman die einzige Form des Lebens zu sein, die imstande ist, das menschliche Übel in sich aufzunehmen und gleichzeitig frei zu sein, ihre von zivilisatorischen Katastrophen berührte, aber unveränderte Substanz zu bewahren, mit dem Leben fortzusetzen, als hätte es den Krieg gar nicht gegeben. Die im Roman immer wieder präsentierte Kluft zwischen Natur und Zivilisation, zwischen Freiheit und Unfreiheit, wie auch das in der Episode mit Allmayer und dem kroatischen Finsterling Slavko gestaltete Spannungsverhältnis zwischen konstruktiven und destruktiven Kräften der menschlichen Natur, verweist auf die faktische Unmöglichkeit, die ambivalenten Eigenschaften des Menschen miteinander zu versöhnen, deren historischen Ausdruck einerseits die Kultur, andererseits der Krieg darstellt. 24 Ebenda. BH 10 Book.indb 238 22.8.2008 22: 10: 32 Zwischen Europa und Balkan 239 Die Funktion des Leitmotivs der Stille erschöpft sich ebenfalls nicht in der bloßen Atmosphärizität. Die Stille als Lautlosigkeit oder akustische Leere signalisiert im Roman die bevorstehende Katastrophe wie auch die transformative Kraft einer Erkenntnis und ist mit Angst, Ungewissheit, Ernsthaftigkeit und Rückkehr zu sich selbst verbunden. Die Stille, von der der Mensch (z. B. Allmayer auf dem Kampfgebiet) wie von einem »regelrechten Vakuum« 25 angesogen wird, bleibt dauerhaft in sein Gedächtnis hineingeschrieben. Sie stellt eine Art akustischer und Erkenntnisgrenze zwischen zwei Modalitäten der Wirklichkeit dar, Irritation und Anzeichen für eine traumatische Erfahrung, die ins Bewusstsein überführt und nachträglich, als Gedächtnis-Inhalt, in die selbstreflexiv gebildete Identität integriert wird. Die zweite strukturell wichtige kroatische Romangestalt ist der erwähnte Kriegsherr und Zyniker Slavko, mit dem Allmayer Ende 1991 unweit der kroatisch-serbischen Front ein Interview geführt hat, und den Paul für Allmayers Tod verantwortlich macht. Dass er nicht als typischer Kroate, sondern als ein gebrochenes Individuum dargestellt ist, bestätigen seine Charakterzüge und seine Verhaltensweise in dem und nach dem Krieg. Demzufolge repräsentiert er nicht ein Kriegsvolk, das sich selbst als eine Schicksalsgemeinschaft versteht und von dessen Selbstbild das narrativ vermittelte Syntagma ’Gott und die Kroaten’ als Ausdruck verdächtiger traditioneller Symbiose von Kirche und Politik zeugt. Parallel dazu ermöglicht aber der Romantext selbst, eben jenes Allgemeine an der Gestalt des kroatischen Soldaten als Allegorie des Bösen, d. h. des Vernichtungstriebes im Menschen aufzufassen. Es geht um den Todes-, Aggressions- oder Destruktionstrieb, den, wie bekannt, Sigmund Freud für eine der wesentlichen Quellen unseres Unbehagens in der Kultur hielt. 26 Auf einem Foto aus der Kriegszeit, das dem Interview von Allmayer beigelegt wird, sieht Slavko aus »wie eine Erinnerung daran, dass das Handwerk des Tötens ein Jahrtausende altes Geschäft war« 27 bzw. »wie der Vertreter eines angesehnen Berufszweigs mit seinem wichtigsten Werkzeug«. 28 Die Überzeugung, dass die Kultur das Böse im Menschen ausrotten kann, hat Freud bereits in der Schrift Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) zu den Illusionen der Aufklärung gerechnet. 29 Die Selbsttäuschung oder die Tragik der modernen Kultur besteht nach Freud ja gerade darin, dass sie den Urmenschen, der den aggressiven Teil unserer Triebstruktur verkörpert und sich nach dem Grundsatz des ’Handwerks’ des Tötens (ohne Schuldgefühle) richtet, bloß verdrängt hat und deshalb ein angemessenes Selbstbild nicht finden kann. 25 Ebenda, S. 232f. 26 Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a. M. 21974, S. 40f. 27 Zit. Anm. 3, Gstrein, Handwerk, S. 70. 28 Ebenda, S. 306. 29 Vgl. Anm. 26, Freud, Studienausgabe, S. 191-270, insbesondere S. 240ff. BH 10 Book.indb 239 22.8.2008 22: 10: 32 240 Alma Kalinski Das Spiel mit Kulturstereotypen, durch das ununterbrochen eine Spannungs- und Wechselbeziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Typischen und dem Individuellen narrativ inszeniert wird, wird in erster Linie an der Beziehung zwischen Slavko und Allmayer, mittelbar auch zwischen Slavko und Paul, sichtbar. Obwohl oder gerade weil Allmayer und Paul als komplexe, mehrdimensionale Figuren, als Individuen mit ambivalenten Eigenschaften dargestellt sind, illustrieren sie zugleich die ambivalente Haltung Europas gegenüber dem Balkanraum. Es ist die Haltung eines Besserwissers und eines kulturell überlegenen Beobachters von Balkankonflikten. Eine solche Haltung hat Allmayer zwar in seinen Interviews bekämpft, 30 jedoch hat er sie selbst gelebt. Im Interview mit Slavko sind in der Tat weder Hochmut noch Ausschließlichkeit zu spüren, die der Erzähler beispielsweise dem zur Übertreibung geneigten Paul wegen seiner aggressiv gefärbten Verurteilung des europäisch-christlichen Balkanstereotyps verübelt. Die von Allmayer an Slavko unumwunden gestellte Frage (»Wie ist es, jemanden umzubringen? «) 31 lässt sich jedoch nicht nur als Ausdruck journalistischer Neugier, sondern auch im umrissenen Kontext der modernen Kultur und des sie ständig bedrohenden Urmenschen verstehen. Slavko ist ein Vertreter des ältesten Handwerks, des Handwerks des Tötens, nicht deswegen, weil er aus Kroatien oder vom Balkan stammt, sondern weil er ein Mensch ist. Der dominante »unberechenbare Finsterling« 32 repräsentiert damit wohl oder übel nicht nur den ’finsteren’ Balkan, wo die Katastrophen aus fremder Sicht als »etwas Naturgegebenes« 33 genommen werden sollen, sondern auch einen Typus von Menschen, den ’Urmenschen’ oder jenen destruktiven, aggressiven Teil der menschlichen Natur, den die Kultur seit je zu kultivieren oder zu beseitigen versucht, in Wirklichkeit aber nur zu verdrängen vermag, indem sie ihn z. B. an den Rand (an den Limes oder an die Grenze) wegschiebt. Es scheint daher, als ob da, in der Interviewszene, das in seinem Selbstverständnis geistig, intellektuell und moralisch überlegene und in Allmayer teilweise personifizierte Europa in der eigenen Prüfung durchgefallen wäre. Als Prüfung erweist sich nämlich das überhebliche »Frage-und-Antwort-Spiel« in eigener Regie, dank dem Allmayer »weithin bekannt« 34 wurde und das sich doch der Kontrolle entzieht, als ihm Slavko ein Gewehr in die Hand drückt, damit er selbst seine eigene Frage beantwortet. Der Text lässt zwar Zweifel daran bestehen, ob es tatsächlich Allmayer war, der auf Slavkos verführerischen Vorschlag einen serbischen Gefangenen getötet hat. Eine solche Erzählstrategie, die auf Textaussagen mit dem logischen Status der Unentscheidbarkeit basiert, macht aber gerade den ideellen und ästhetischen Reiz des Romantextes aus. Allmayers spätere Stilisierung des 30 Vgl. Gstrein, S. 60. 31 Ebenda, S. 346. 32 Vgl. ebenda, S. 64. 33 Ebenda, S. 33. 34 Ebenda, S. 64. BH 10 Book.indb 240 22.8.2008 22: 10: 32 Zwischen Europa und Balkan 241 Interviews zu »eine‡r™ schöne‡n™ Geschichte«, 35 seine Angst ums eigene Leben, das Schuldgefühl wegen des von Slavkos Leuten ermordeten Dolmetschers und wegen des Eingetauchtseins in schmutzige Spiele um Leben und Tod mit dem kroatischen Entertainer (wie es später auf der Visitenkarte von Slavko steht) sowie der Selbstmord von Paul in einem Zagreber Hotel lassen gewissermaßen die Begegnung mit dem Finsterling Slavko (einer balkanischen Version des ’Urmenschen’) als eine Art Selbsttor oder symbolische Enthauptung des Europäers (als Inbegriff der Kultur) erscheinen. Noch dazu liest man im Kontext der Begegnung zwischen Paul, Helena, dem Erzähler und Slavko in Slavonski Brod, dass sich Slavko bzw. sein Nachkriegserscheinungsbild durch gar nichts »von den Kerlen ‡unterschied™, die am Nachbartisch saßen und auf den Fluss hinausschauten. Unerkannt hätte er alles und jeder sein können«, 36 was auch seine Gestalt - wenn auch im negativen Sinne - als eine ambivalente Mischung aus Besonderem und Allgemeinem erscheinen lässt und eher auf das Problem der ’Banalität des Bösen’ hinweist als auf ein typisches Merkmal eines Volkes oder einer Nation. Durch das Spiel mit Kroatien-, Balkan- und Europastereotypen wird im Roman von Norbert Gstrein immer wieder auf die Verfehltheit und Schädlichkeit unserer Konstrukte für uns selbst, aber auch auf das Paradox hingewiesen, darauf nämlich, dass der Mensch als ’animal rationale’ zu einer unwiderstehlichen Konstruktion von Fiktionen neigt und gerade dadurch sein bloßes naturgegebenes Sein überwindet. Damit schafft er zwar komplexe symbolische Ordnungen (die Kultur), aber er bleibt auch weiterhin in der Falle seiner ambivalenten Triebstruktur, d. h. in einem dauerhaft aporetischen Spannungsverhältnis zwischen dem Lebens- und dem Todestrieb. Abschließend lässt sich auch die Frage stellen, ob nicht im Hintergrund von Gstreins impliziter Kritik am Globalisierungsprozess sowie an der bestehenden Kluft zwischen technischen Entwicklungsmöglichkeiten und dem moralischen Bewusstsein der Menschheit eigentlich eine antimodernistische, antizivilisatorische Position steht, wenn nicht lediglich eine kritische Reflexion der kulturellen Selbst- und Fremdbilder, deren Produktion statt auf Übertreibung (im Positiven wie auch im Negativen) mehr auf Bescheidenheit und Bezähmung bedacht sein sollen. Die Geschichte vom Jugoslawien-Krieg und seinen Opfern wird im Roman Das Handwerk des Tötens als eine grundsätzlich unerzählbare (und uns trotzdem überzeugend erzählte) Geschichte präsentiert. Als problematisch, nicht authentisch, erkenntnistheoretisch und axiologisch fragwürdig (weil von Anfang an verquer und konstruiert) zeigen sich nicht nur Inhalte, die im Kommunikationsprozess ver- und übermittelt werden, sondern auch unsere Denk-, Wahrnehmungs- und Sprachmechanismen selbst als elementare Voraussetzungen der menschlichen Expression und Identität. Die Gstrein’sche Skepsis 37 gegenüber 35 Ebenda, S. 358. 36 Ebenda, S. 312f. 37 Vgl. Norbert Gstrein: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens, Frankfurt a. M. 2004; vgl. Axel Helbig: Der obszöne Blick. Zwi- BH 10 Book.indb 241 22.8.2008 22: 10: 33 242 Alma Kalinski einem Denken in Bildern (vor allem gegenüber Stereotypen und einem mythisierenden und mythomanischen Sprachgestus) wie auch gegenüber der Sprache als wichtigstem und zugleich unzuverlässigem Verständigungsinstrument wird auf der erzähltechnischen Ebene als Distanz sowohl zum Erzählten als auch zu einem auf Wahrheit, Authentizität, Objektivität und Ganzheitlichkeit ausgerichteten Erzählen ausgedrückt. Es ist ein Erzählen, das ’ex negativo’ entfaltet und als solches bereits im Motto angekündigt wird: Da wird in erster Linie demonstriert, dass man und warum man einer Sache (narrativ) nicht gerecht werden kann, darüber hinaus warum auch das Konzept eines gerechten, d. h. eines moralischen Erzählens, nicht ganz unproblematisch ist: Vergangenes, Tatsächliches, Wahres, grundsätzlich all das, was man üblicherweise als Wirklichkeit annimmt und wofür und wogegen man mit Gewalt und symbolischer Macht kämpft, wird bereits bei der bloßen Wahrnehmung des Erkenntnissubjekts durch die Fiktionalität umgestaltet, verschoben, entstellt. Jegliche Rekonstruktion der individuellen und/ oder kollektiven Vergangenheit - und diese verläuft immer im Medium des Erzählens - enthüllt sich somit als Konstruktion einer Geschichte (eines Identitätssplitters, eines Wirklichkeitsfragments, einer mehrfach multiplizierten Fiktion), die im Akt des Erinnerns, des Erzählens und sonstigen Vermittelns wiederum mehrfach zu einer neuen Wirklichkeit transformiert und damit von einem eindeutig und objektiv definierbaren Referenzpunkt progressiv entfernt wird. Anders gesagt, es gibt kein zuverlässiges und authentisches Erzählen, in das die Wirklichkeit, auch jene der kroatisch-jugoslawischen Zeitgeschichte, adäquat überführt werden könnte. Hervorgehoben wird vielmehr »die Irrealität des realen Registers« 38 schlechthin. Durch komplexe literarische Verfahren (durch Konfrontation unterschiedlicher, narrativ vorgeführter und dann durch Reflexionen, Kommentare und Entwicklungsprozesse der Romanfiguren dekonstruierter Kulturstereotype, durch Konfrontation, Verkettung und Verflechtung unterschiedlicher Erzählperspektiven, Zeitebenen und Darstellungsweisen, insbesondere durch ein akzentuiert distanzierendes Berichten aus zweiter, dritter, gar vierter Hand) werden zweifellos eine polyphone Romanstruktur und ein Erkenntnisrelativismus realisiert. Der Erkenntnisrelativismus, mit dem der Roman von Gstrein durchtränkt ist, mündet jedoch keineswegs in den moralischen Relativismus, sondern korrespondiert vielmehr mit der Intention des Autors, den Leser zur permanenten Hinterfragung von eingebürgerten, stabil gewordenen, weit verbreiteten Vor- und Einstellungen zur Kultur und zu den eigenen Erzähl-, Denk- und Identitätsmustern anzuspornen. Eine solche Position ist tatsächlich unbehaglich und unangenehm, da sie neben negativen auch positive stereotype Bilder von sich und dem Anderen widerlegt. Sie warnt damit vor einem dem Denken und der Kommunikation inhärenten Hang zum Rutschen ins Klischeeschen Fakten und Fiktion. Gespräch mit Norbert Gstrein am 16. Januar 2005. In: Kurt Bartsch - Gerhard Fuchs (Hg.): Norbert Gstrein, Graz 2006, S. 9-29. 38 Zit. Anm. 2, Dronske, Slika Hrvata, S. 139. BH 10 Book.indb 242 22.8.2008 22: 10: 33 Zwischen Europa und Balkan 243 hafte und Stereotype und erfordert zugleich die Anstrengung, sich und den Anderen im Zustand permanenter geistiger Wachsamkeit zu halten. Im Hinblick auf die Auto- und Heterostereotype über Kroatien und Kroaten lässt sich zusammenfassend sagen, dass sowohl ihre Inhalte als auch ihre Übermittlungsweisen im Roman sehr nuanciert präsentiert und schließlich auf mehreren Ebenen dekonstruiert werden. Sie dienen dabei aber nicht nur dazu, die gefestigten national-kulturellen Selbst- und Fremdbilder als verquere Vorstellungen tiefgründig in Frage zu stellen, sondern sie lassen sich ebenfalls aufgrund einer dauerhaften, an den Romanfiguren abzulesenden Wechselwirkung zwischen Allgemeinem und Besonderem, Typischem und Individuellem, Historischem und Transhistorischem als Mittel einer umfassenden Kultur- und Zivilisationskritik des Romanautors verstehen. BH 10 Book.indb 243 22.8.2008 22: 10: 33 BH 10 Book.indb 244 22.8.2008 22: 10: 33 D ANIELA F INZI (W IEN ) Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird Wie der Soldat das Grammofon repariert von Sa{a Stani{i} In seinem Text Was von Auschwitz bleibt schreibt Giorgio Agamben von einem Fußballspiel, das in Auschwitz zwischen der SS und dem Sonderkommando stattgefunden haben soll. Dem einen, so Agamben, würde dieses Spiel als »kurze Pause der Menschlichkeit inmitten des unendlichen Grauens«, dem anderen jedoch - und das ist auch die Ansicht Agambens - als »das eigentliche Grauen« erscheinen. 1 Von einem Fußballspiel inmitten des Grauens des Krieges schreibt auch Sa{a Stani{i} in seinem viel gelobten Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert. 2 In einem in sich geschlossenen Kapitel treten Serben und Territorialverteidiger während eines Waffenstillstandes auf den Bergen um Sarajevo gegeneinander an. Ist die Wirkungsmacht des Komplexes Auschwitz für die deutsche Perspektive auf die kriegerische Auflösung Jugoslawiens auch unbestritten, so sollte mit dem Verweis auf Agamben doch nicht Auschwitz als Vergleichsfolie bemüht, sondern vielmehr die Frage der Repräsentierbarkeit des Lagers bzw. des Krieges gestellt werden. Agambens Verweis auf die möglichen unterschiedlichen Ansichtsweisen ein und desselben Geschehens nimmt schließlich auch einen Grundzug des Textes von Stani{i} vorweg: In diesem spürt sein achtbis vierzehnjähriger Protagonist Aleks selbst noch innerhalb der grauenvollsten Umstände Menschlichkeit auf. »Der Krieg trägt Kittelschürze«, 3 wurde der Blick des kindlichen Erzählers als ein verharmlosender auch kritisiert. Die verschiedenen im Roman zur Anwendung gebrachten Strategien, den Krieg in Bosnien zu erinnern und zu erzählen, stehen denn auch im Blickfeld meiner Ausführungen: gewissermaßen der Versuch, meine hermeneutische Frage - der Wunsch, den Roman und seine Wirkung zu verstehen - kulturwissenschaftlich zu beantworten. Ausgehend davon, dass der Text mit seinem kulturellen und politischen Kontext verwoben ist, spielt die Kategorie der Referenz, des Außenweltbezugs eine wichtige Rolle. Gleichzeitig gilt es, meine Erwartungshaltung und damit einhergehende Bedeutungszuschreibung mitzureflektieren: Mein theoretischer Ansatz fußt nicht allein auf einer ’erinnerungskulturell’ ausgerichteten Literaturwissenschaft, sondern macht auch Anleihen bei der Rezeptionsästhetik und konstruktivistischen Literaturtheorie. 1 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/ Main 2003, S. 23. 2 Sa{a Stani{i}: Wie der Soldat das Grammofon repariert, München 2006. Die Seitenangaben in Klammer beziehen sich auf diese Ausgabe. 3 Iris Radisch: Der Krieg trägt Kittelschürze. Sa{a Stani{i} schreibt seinen ersten Roman über den Bosnienkrieg und stolpert über die Poesie des Kindlichen, Die Zeit, 5. 10. 2006. BH 10 Book.indb 245 22.8.2008 22: 10: 33 246 Daniela Finzi Nach Auskunft der Presseabteilung des Münchner Verlages Luchterhand wurden bis September 2007 etwa 25.000 Exemplare des im Herbst 2006 verlegten und noch vor seinem Erscheinen auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis gesetzten Debütromans von Sa{a Stani{i} verkauft. Die Taschenbuchausgabe ist für 2008 geplant. Der Roman, der in zwanzig Sprachen übersetzt wird und zu dem es außerdem ein Hörbuch gibt, wurde breit besprochen und vom Gros der Kritiker äußerst wohlwollend aufgenommen. Für Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kroatien und Montenegro hat der Verlag Buybook aus Sarajevo die Rechte erworben. Diese erfolgreiche Zwischenbilanz des »literarischen Aufsteiger [ s ] des Jahres« und »Popstar‡s™ unter den jungen Erzählern«, 4 der als Vierzehnjähriger mit seiner Familie nach Deutschland flüchtete, mag auf den ersten Blick insofern überraschen, als die postjugoslawischen Kriege 1991-1999 längst von anderen internationalen Krisenherden abgelöst wurden und andere Länder und Literaturen in das Blickfeld der deutschsprachigen Verlage und Leser gerückt sind. Stani{i} erzähle die Geschichte »eines Krieges, der fast vergessen scheint«, 5 resümiert ein Rezensent. Der Schwerpunkt mit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens hat sich in den Bereich der Erinnerungspolitik verlagert. Als ’fiction of memory’, die das »Zusammenspiel von Erinnerung und Identität in ihrer individuellen oder kollektiven Dimension« 6 inszeniert, kann schließlich auch Stani{i}s Werk mit seinem Nexus von Erinnern und Erzählen gelesen werden. Das gezielte Übertreten und Verwischen der Grenzen zwischen Faktizität und Fiktionalität, das als eines ihrer besonderen Merkmale angeführt wird, 7 verbindet ihn mit der so genannten deutschsprachigen interkulturellen Literatur. Der für den deutschsprachigen Leser ungewohnte Blick auf die eigene Heimat und Alltagswirklichkeit, die einen Teil des Interesses für Migrantenliteratur ausmacht, trennt Stani{i} indes von dieser, erfährt der Leser seines Romans doch nur wenig über Deutschland und das Leben des Protagonisten in der neuen Heimat. Die Faszination des Romans, so meine Vermutung, speist sich vielmehr aus seiner Suggestionskraft des vermeintlich Echten und des Erlebnisses. 8 Die Erwartungen von Kriegsals auch Balkanromantikern in Bezug auf Gewalt und die - mit Susan Sontag - »Leiden anderer ‡...™« 9 einerseits, auf Fremdheit und Ursprünglichkeit andererseits werden im Leseprozess erfüllt: ein Vorgang der ’Re-Ereignung’ 4 Jennifer Wilton: Das Lächeln des Landes, Die Welt, 25. 11. 2006. 5 Volker Weidermann: Ich bin Jugoslawien, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1. 10. 2006. 6 Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven (= Medien und kulturelle Erinnerung 2). Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning, Berlin 2005, S. 149-178, hier S. 164. 7 Vgl. dazu Myriam Geiser: Die Fiktion der Identität. Literatur der Postmigration in Deutschland und in Frankreich. In: Text und Wahrheit. Ergebnisse der interdisziplinären Tagung »Fakten und Fiktionen« der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, 28.-30. November 2002. Hg. v. Katja Bär (u. a.), Frankfurt/ Main 2004, S. 101-111, hier S. 102. 8 Vgl. zu diesem Thema Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung, München 2006. 9 In ihrem Essay über Kriegsfotografie fragt Susan Sontag angesichts »einer Kultur, in der der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsumanreiz und einer bedeutenden ökonomischen Ressource geworden ist«, nach der Wirkung von Bildern des Schreckens. (Susan Sontag: Das Leider anderer betrachten, Frankfurt/ Main 2005, S. 30.) BH 10 Book.indb 246 22.8.2008 22: 10: 33 Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird ... 247 von Kommunikation in der Lektüre. 10 Ob diese beiden Reize des Ereignishaften und des vermeintlich Authentischen zusammen- und weitergeführt werden zu einer Lesart, die den Balkan als mythischen Kriegsschauplatz restauriert, hängt von der konkreten Erwartungshaltung des jeweiligen Lesers ab. 11 Weniger als affirmative Ausreizung von »Kusturica-Aroma‡...™«, 12 sondern vielmehr als augenzwinkerndes Spiel mit romantischen Balkanbildern und »Balkanismen« (Maria Todorova), die die Wahrnehmung des ehemaligen Jugoslawiens und seiner Kriege der 1990er Jahre verzerrt haben, sind meiner Meinung nach die burlesken Geschichten der bosnischen Kindheit zu verstehen. Figuren wie die 150 Jahre alten Urgroßeltern des Erzählers Aleks aus dem Dorf Veletovo sind mit solcherart phantastischen Zügen versehen, dass Überhöhung und Unwahrscheinlichkeit den Veletovo-Anekdoten immer schon eingeschrieben sind. Eine weitere entscheidende Rolle in Stani{i}s Rezeption spielt nicht zuletzt »der Autor als wirkliches Individuum«, 13 dessen Durchbruch schließlich auch ein Beispiel gelungener Integration und ein Erfolgskapitel deutscher Migrationspolitik darstellt: Auf smarte und sympathische Weise ist Sa{a Stani{i} bislang mit dem medialen Interesse zurechtgekommen. Dass kaum eine Besprechung auf die biografischen Stationen des Autors verzichtet, liegt dabei vermutlich nicht allein an dem Bestreben, einer vermeintlichen Minderheitenliteratur ethnischer Differenz durch Verweis auf die Biografie des Autors kulturellen Mehrwert zu verleihen, als an dem Umstand, dass es zwischen der Geschichte von Aleksandar Krsmanovi} und Sa{a Stani{i} deutliche Parallelen gibt: »Vorkrieg, das Erleben mancher Dinge dort, Krieg, Flucht und Weiterflucht der Eltern und die versuchte Rückkehr.« 14 Das Wissen darum, so meine Ansicht, beeinflusst den Lektürevorgang nachhaltiger als eine durch die Gattungsandeutung Roman signalisierte Realitätsentlastung des Fiktionalen. Erst durch die Interaktion mit dem jeweiligen Leser, dessen Rezeptionshaltung »immer schon so vielfältig durch Konven- 10 Vgl. zum Vorgang der Re-Ereignung von Kommunikation in der Lektüre Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2006, S. 126. 11 Vgl. zu dieser Lesart und Erwartungshaltung Judith Veichtlbauer: Das innere Ausland - Der Balkan als Hinterhof Europas. In: Pulverfass Balkan. Mythos oder Realität (= Schriftenreihe der Elias-Canetti-Gesellschaft 3). Hg. v. Penka Angelova, St. Ingbert 2001, S. 125-150. 12 Katrin Schuster: Was wiegt ein Spinnenleben? Nominiert für den Buchpreis: der Newcomer Sa{a Stani{i} mit seinem Kriegsroman, Berliner Zeitung, 28. 9. 2006. Vgl. zur medialen Präsenz des Balkanraumes »als eine‡r™ gelebte‡n™ Form des Theaters des Absurden auf einem mystischen Territorium oder des brodelnden Chaos, das seit Jahrhunderten Ungeheuer gebiert« und die durch Emir Kusturicas Filme unterstützte Rezeption des Balkans »als eines von der Multikulturalität und der Simultaneität anachronistischer Ansätze in der Politik und dem gesellschaftlichen Leben geprägten Raumes« Mirjana Stan~i}: Der Balkankrieg in den deutschen Medien - Seine Wahrnehmung in der Süddeutschen Zeitung, bei Peter Handke und in den Übersetzungen der exjugoslawischen Frauenliteratur. In: Krieg in den Medien (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 27). Hg. v. Heinz-Peter Preußer, Amsterdam - New York 2005, S. 203-226, hier S. 209. 13 Giorgio Agamben: Der Autor als Geste. In: Ders.: Profanierungen, Frankfurt/ Main 2005, S. 57-69, hier S. 58. 14 Vgl. Stani{i} im Interview mit Tobias Hierl in: Buchwelt 109, Februar/ März 2007. BH 10 Book.indb 247 22.8.2008 22: 10: 33 248 Daniela Finzi tion, Erziehung, Bildungsgang, Medien, Erfahrung, individuelle Voraussetzung etc. vorpräpariert« 15 ist, wird der Text komplettiert und konkretisiert. Wie der Soldat das Grammofon repariert ist die Geschichte des Jungen Aleksandar - auch Aleks genannt -, der kurz nach dem Ausbruch des Krieges in Vi{egrad an der Drina im April 1992 mit seinem serbischen Vater, seiner muslimischen Mutter und seiner Großmutter mütterlicherseits nach Deutschland flüchtet. Vor allem aufgrund ihrer Lage an der Verbindungsstraße von Belgrad nach Sarajevo und des in der Nähe gelegenen Wasserkraftwerkes war die Stadt Vi{egrad in strategischer Hinsicht bedeutend. Der Beschuss Vi{egrads durch serbische Milizen begann am 6. April 1992, eine Woche später nahm das U`ice- Korps der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) die Stadt ein, was Aleks folgendermaßen kommentiert: Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose, fuhren vorbei. Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. (110) Mit dem Ziel der ethnischen Säuberung ergriffen nach dem Abzug des JVA- Korps Mitte Mai paramilitärische Milizen, die örtliche Polizei und serbische Bewohner, die die Amtsgewalt in der Gemeinde übernommen hatten, die Macht. 16 Aleks gelingt mit seiner Familie noch im April die Flucht. Seinem Freund Zoran kommt im Roman die Aufgabe zu, das zu dokumentieren, was Aleks zu erleben erspart bleibt: die Stadt ist voller Flüchtlinge, die Drina wird zum Totenbett. Keine von Peter Handke in seinem Reisebericht Winterliche Reise angeprangerte »(Fern-)Sehbeteiligung«, 17 sondern die telefonische Auskunft eines Augenzeugen vermittelt Aleks die Herrschaft des Hasses, die nach all den »Jahren der Nachbarschaft und der Brüderlichkeit und der Einheit« (147) in Vi{egrad nun das Sagen habe. Dieser Telefonmonolog, den der Andri}-Kenner möglicherweise als, wie Stephen Greenblatt sagen würde, »Verhandlung« mit dessen Novelle Brief aus dem Jahre 1920 18 liest, suggeriert, dass es sich bei Zorans Hass um eine Konsequenz des Krieges handelt. 15 Matthias Prangel: Das Geschäft mit der Wahrheit. Zu einer zentralen Kategorie der Rezeption von Kriegsromanen der Weimarer Republik. In: Ideologie und Literatur(wissenschaft) (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 71). Hg. v. Jos Hoogeveen u. Hans Würzner, Amsterdam 1986, S.47-78, hier S. 54. 16 Vgl. http: / / www.un.org/ icty/ indictment/ english/ vas-ii000125e.htm, Zugriff v. 30. 1. 2008 17 Vgl. Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. In: Ders.: Abschied des Träumers. Winterliche Reise. Sommerlicher Nachtrag, Frankfurt am Main 1998, S. 33-162, hier S. 56. Zu bedenken bleibt, dass Augenzeugen vor Irrtum nicht gefeit sind und dass das Unmittelbare - sofern es dieses denn gibt - nicht automatisch näher an der Wirklichkeit oder Wahrheit ist; vgl. dazu Heinz-Peter Preußer: Perzeption und Urteilsvermögen. Eine Einleitung zu Krieg in den Medien. In: Zit. Anm. 12, ders., Krieg Medien, S. 9-34, hier S. 21: »Dass man in der Regel nur durch Medien Zugang zu Kriegsgeschehen erlange (deutend oder informativ), ist also noch keine Theorie, sondern eine Binsenweisheit. Immer wird ein Bild der Wirklichkeit konstruiert, wenngleich mit unterschiedlichen Aussageimpulsen.« 18 In seiner Erzählung Brief aus dem Jahre 1920 erhält der Ich-Erzähler einen Brief von Max Löwenfeld, einem Freund aus der Schulzeit in Sarajevo, in dem dieser seine Auffassung von Bosnien als dem »Land des Hasses« darlegt, eines »eingeborenen, unbewußten, endemischen Ha‡sses™.« Vgl. Ivo Andri}: Brief aus dem BH 10 Book.indb 248 22.8.2008 22: 10: 33 Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird ... 249 Ich hasse die Soldaten. Ich hasse die Volksarmee. Ich hasse die Weißen Adler. Ich hasse die Grünen Barette. ‡...™ und ich hasse meine Augen, weil sie nicht genau erkennen können, wer die Leute sind, die in die Tiefe gestoßen werden und im Wasser erschossen werden, vielleicht sogar schon im Flug. Andere werden gleich auf der Brücke getötet, und am nächsten Morgen knien die Frauen dort und schrubben das Blut ab. ‡...™ Du hast mir einmal erzählt, dass du mit der Drina gesprochen hast. Spinner. Ich frage mich, was sie jetzt erzählen würde, wenn sie es wirklich könnte. Was würde sie schmecken, wenn sie einen Geschmack hätte? Wie schmeckt so eine Leiche? Kann auch ein Fluss hassen, was meinst du? Mein Hass ist endlos, Aleksandar. Auch wenn ich die Augen schließe, ist alles da. (147) Stani{i}s Roman, der kurz vor dem Tod des Großvaters Slavko Ende August 1991 einsetzt, erzählt über weite Strecken aus der Perspektive eines zehnbis elfjährigen Kindes. Mit dem Tod des Großvaters verliert Aleks die Instanz, die in seiner Familie für ein gleichermaßen leidenschaftliches wie kritisches Tito-Kommunistentum steht. Großvater und Enkelsohn hatten sich gegenseitig ein Versprechen abgenommen: »niemals aufhören zu erzählen« (32). Schon auf den ersten Seiten kündigt sich ein poetisches Paradigma an, bei dem das Wiederfinden vom Erfinden begleitet, zum Teil auch substituiert wird. Passagen des vollständigen Ineinanderübergehens von Erzähler-Ich und Figuren-Ich, die die Illusion eines gleichzeitigen Erlebens und Erzählens erzeugen, charakterisieren den ersten, in Bosnien angesiedelten Teil. Mit der Flucht nach Deutschland verliert das Erzählen seine Unmittelbarkeit; an die Stelle der lebendigen Anekdoten treten Briefe an das Mädchen Asija, das Aleks im Hochhauskeller während des Beschusses von Vi{egrad kennen gelernt hatte. Nach dem Friedensabkommen von Dayton im Dezember 1995 - »Mein Vater sagte: Witze über Dayton braucht man nicht zu machen, Dayton ist der größte Witz. Ein Friedensabkommen, das die ethnische Säuberung politisch akkreditiert« (149 f.) - verschwindet Aleks für über drei Jahre von der Bildfläche, bis er einen weiteren Brief oder, besser, eine Flaschenpost an Asijas unbekannte Adresse schickt. Seinem Opa Slavko ist der dann folgende Roman im Roman »Als alles gut war« gewidmet. Er umfasst aus der Perspektive eines achtbis zehnjährigen Kindes geschriebene Texte und endet unmittelbar vor dem Tod des Großvaters. Das letzte Drittel des Romans spielt im Jahre 2002 und setzt mit den Versuchen des inzwischen erwachsen gewordenen Aleksandars an, die »Stille ‡s™einer letzten zehn Jahre« (298) aufzubrechen. Der nun einsetzende Aufarbeitungsprozess der traumatischen Vergangenheit ist, so eine von Struktur und Inhalt des Textes begünstigte Lesart, einem latent schlechten Gewissen geschuldet: die rechtzeitige Flucht und sein ’richtiger’ serbischer Name im Allgemeinen, der überstürzte Aufbruch aus Vi{egrad und das versäumte Abschied- oder gar Mitnehmen von Asija im Besonderen. Asija gehört zu jenen Kindern, mit denen Aleks während der Belagerung durch die JVA Krieg Jahre 1920. In: Ders.: Die verschlossene Tür. Erzählungen, München - Wien 2003, S. 161-178, hier S. 172 u. 174. »Die Brücke hielt« (111), zitiert Stani{i} an anderer Stelle Andri}s berühmten Roman Brücke über die Drina. Mit seinen Inhaltszusammenfassungen vor den Kapiteln wiederum verweist Stani{i} auf literarische Vorbilder wie Cervantes oder Grimmelshausen. BH 10 Book.indb 249 22.8.2008 22: 10: 33 250 Daniela Finzi spielte: eine von Stani{i} für das erste Kriegskapitel raffiniert eingebaute »Parallelaktion« (Robert Musil), die, indem sie den Fokus vom Draußen der belagerten Stadt auf das Drinnen des Hochhauskellers verlagert, das eigentlich Abwesende anwesend macht. In Aleks’ Kriegsspiel gelten noch Regeln und Abkommen, gibt es Verstecke, in denen man sich in Sicherheit wähnen kann. Damals im Keller war es Aleks gelungen, das muslimische Mädchen zu schützen, den serbischen Soldaten gegenüber als seine Schwester Katarina ausgebend: Vielleicht bringen mich, hebt Asija plötzlich ihren Kopf von meinen Händen und ruft unter noch mehr Tränen, vielleicht bringen mich die Soldaten zu Mama und Papa, wenn ich ihnen meinen Namen sage, hörst du? Vielleicht ist es jetzt für mich gut, falsch zu heißen, hörst du? (115) Dass seine muslimische Mutter »die Waffe, die sie suchen« (133), war, hatte Aleks erst beim Anblick serbischer Soldaten an der Grenze nach Serbien realisiert und daraufhin versprochen, »das Erinnern in den nächsten zehn Jahren einzustellen« (133). Kurz vor Ablauf dieser zehnjährigen Frist will sich Aleks dem Vergangenen, Versäumten und Verdrängten stellen - »ALEKSANDAR KRS- MANOVIC WO WARST DU? « (219) -, und versucht sich im Wiederfinden von Erinnerungsfragmenten: »Ich stelle das Datum um zehn Jahre zurück. ‡...™ Gleich blitzt es, und ich werde 1,53 m groß sein.« (214) Die vergangenen Ereignisse, die zum Teil bereits aus der Perspektive des Kindes im ersten Teil erzählt wurden, werden um verdrängte Erinnerungen ergänzt und mit dem Wissen um das, was passieren wird, nacherzählt, nachgelebt: »’7: 43 Montag, 6. April 1992’ ‡...™ Wir fahren zur Oma, das Hochhaus hat einen großen Keller. Die erste Granate dröhnt im großen Keller eng und poliert. Ich werde denken: eng und poliert.« (216) Erinnerungssplitter durchkreuzen die Passagen aus der Erzählgegenwart des Textes: die Verteidigung des Hochhauses, die Belagerung durch die Soldaten, die Drina, die zum Totenbett der Hingerichteten wurde, die in den Keller und das Treppenhaus eingezogenen Flüchtlinge, darunter Asija mit ihrem bald von einem Granatsplitter tödlich getroffenen Onkel Ibrahim: Wir sind die Letzten aus unserem Dorf ‡...™. Unsere Häuser gibt es nicht mehr. Ich erzähle euch alles, damit ihr wisst, mit wem wir es zu tun haben, aber erst will ich schlafen. Und dann ‡...™ will ich mich rasieren, der Bart ist mir voll Erinnerung an die schlimmste Nacht. ‡...™ Wie schwer wiegen Erinnerungen in einem Bart? « (220 f.) Aleksandars Oszillieren zwischen dem Jetzt des Erinnerungsabrufes und dem Damals des Erlebens veranschaulicht, dass Erinnerungen - darauf hat bereits Maurice Halbwachs hingewiesen - stets gegenwartsgebundene Rekonstruktionen des Vergangenen sind. Neben ihrem identitätsstiftenden Potential enthält Erinnerung ebenso identitätszersetzendes: die unternommene Anbindung seiner Vergangenheit an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs bzw. Lebenssituation erweist sich für Aleks als zentrale Herausforderung. Die Gegenstände, Personen, Ortsangaben etc., an die er sich erinnert, systematisiert BH 10 Book.indb 250 22.8.2008 22: 10: 33 Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird ... 251 er in Listen, nachts recherchiert er stundenlang im Internet. Der Rückgriff auf das elektronische Gedächtnis der Netzwelt liefert freilich nicht mehr als Kürzel von Kürzeln und führt ihm das Fehlen eines Wissens, das - von Peter Handke mit dem Prädikat »tatsächlich« versehen - »allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann«, 19 umso augenscheinlicher vor. Als Aleks den Computer, nachdem dieser abgestürzt ist, wieder hochfährt, erscheint das Hintergrund- Foto von der Brücke in Vi{egrad: »aber nicht einmal das Foto habe ich selbst geschossen« (217). Das Wissen um die Fehlbarkeit von Erinnerung und die Gewissensbisse ob der überstürzten Flucht lassen ihn folgenden Beschluss fassen: »Ich will die Vergangenheitsschablonen nachzeichnen. Im Schlafzimmer meiner Großmutter liegt ein Karton mit neunundneunzig unfertigen Bildern. Ich fahre nach Hause und male jedes einzelne zu Ende.« (221). In Sarajevo begibt sich Aleks zunächst auf die Suche nach Asija. In Vi{egrad dann trifft er zufällig auf der Straße den Polizisten Pokor: Das Gerücht, dass Pokor aufgestiegen war - vom gemütlichen Polizisten zum Anführer gewalttätiger Freischärler -, gelangte damals sogar zu uns nach Deutschland. Man gab Pokor den Spitznamen Herr Pokolj und Herr Gemetzel soll seinen Männern mehrfach den Befehl erteilt haben, seinem Namen alle Ehre zu machen. (282) Die Figur Pokor kann von jenen Lesern, die über hinreichende Kenntnisse der UN-Anklageschrift gegen die drei Hauptverantwortlichen der Verbrechen in Vi{egrad verfügen, als Polizist Sredoje Luki} entschlüsselt werden. Doch nicht der Umstand, dass die Figur einer Prüfung auf Realitätsgehalt standhielte, sondern Stani{i}s knappe Beschreibung von Aleksandars Scham während dieses kurzen Gesprächs mit Pokor, in dem er seine Mutter leugnet, zeichnet diese Passage aus: »Ich habe Listen gemacht, aber das ist nicht der Punkt.« (284) Dem vorgeblich naiven Erzählblick stehen eine komplexe Konstruktion subtil verknüpfter Binnengeschichten, wechselnde Erzählperspektiven und Formenvielfalt gegenüber: Brief, Gedicht, Aufsatz, Vorwort, Protokoll und Miniatur. Multiperspektivisch angelegt, kann der Leser die geschilderte Welt auch aus anderen Augen betrachten: so hält Aleksandars Mutter einen längeren Monolog, so erzählt sein Vi{egrader Freund Zoran als Kind und als junger Erwachsener in der Ich-Perspektive. In direkter autonomer Figurenrede treten Zorans Vater und ein jüdischer Rabbi, der sich an den Winter 1941 erinnert, in einem gemeinsamen Kapitel auf. Pervers zärtlich - das brutale Setting sieht Zusammentreibung und Ermordung von Nichtserben vor - erinnert sich in einem kurzen Kapitel ein serbischer Soldat an seine geliebte »schönste Zigeunerin« Emina (131). Oma Katarina schreibt Briefe nach Deutschland; die auf einen Zettel notierten Wünsche der stummen Großmutter Fatima finden Eingang in den Roman. Radovan Bunda, früher gern gesehener Gast bei den Festen von Aleksandars Urgroßeltern in Veletovo und mittlerweile der Kategorie ’Kriegsgewinnler’ zugehörig, erzählt 19 Vgl. Anm. 17, Handke, Reise, S. 56. BH 10 Book.indb 251 22.8.2008 22: 10: 33 252 Daniela Finzi bei Aleks’ Besuch in Vi{egrad von der Auslöschung seines serbischen Dorfes und seinem Rachezug. Der Gestus, unterschiedlichen Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen Raum zu geben, bewirkt auf formaler Ebene eine mosaikartige Form und innerhalb der Synthesis des Heterogenen eine Perspektivierung des Geschehens. Jener Leser, der sich vom Roman Stani{i}s verbindliche Aussagen über die Urheberschaft des Krieges und Schuldzuweisungen erwartet, mag mit der energischen Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit schwer zu Rande kommen. Aleksandars Kinderaugen nehmen die Individualität eines jeden auch noch so sehr im Namen eines Kollektivs oder Prinzips handelnden Menschen wahr, statten einen jeden mit einem Vertrauensvorschuss aus. Als Kind muss Aleks die Erfahrungen und Erlebnisse, die im Nachhinein als Vorboten des Krieges (miss)verstanden werden können, gerade nicht als solche begreifen und deuten. »Wann Krieg beginnt, das kann man wissen«, heißt es in Christa Wolfs Kassandra, »aber wann beginnt der Vorkrieg«? 20 In Aleks’ Vi{egrad wird dieser Vorkrieg als merkwürdiges Lied, als Gespräch auf dem Schulhof, als eine erste Beschimpfung narrativiert: »Dann brach der Krieg aus, und niemand nannte ihn Krieg. Das, sagte man. Oder Scheiße. Oder Gleichvorbei.« (258). Doch ebenso wenig wird mit dem erwachsenen Erzähler versucht, auf die verschiedenen Erklärungsmodelle zu rekurrieren bzw. in das Geschehen nachträglich zu intervenieren, indem ihm ein Deutungsschema - beispielsweise ein ethnisch dominiertes Narrativ - aufgeprägt wird. Ethnische Zugehörigkeit wird allenfalls über Namen oder über die Kategorisierung in ’Richtig-’ bzw. ’Falsch-Heißen’ signalisiert. Für die Repräsentation des Krieges - des ’Gleichvorbei’, das doch so lange andauern wird - bringt Stani{i} unterschiedliche Strategien zur Anwendung. Da gibt es zum einen die erfundenen Geschichten, die eine mögliche Realität des Krieges zur Sprache bringen, ohne den Krieg als solchen zu schildern. Auf diese Weise begegnet Stani{i} der Herausforderung der Kriegsdarstellung: mit Worten eine Welt zu umfassen, die außerhalb der Vorstellung liegt. »Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus« 21 - Nietzsches Warnung spielt darauf an, dass, sobald die Extremerfahrung Krieg sprachlich eingeholt wird, sie Teil eines symbolischen Sinnsystems und darin aufgehoben wird. Wird wiederum Krieg als nicht in Sinn fassbar bezeichnet, »entledigt man sich letztlich auch einer Wertung für ‡ihn; DF™ und der Verantwortung, eine Wiederholung zu verhindern.« 22 Das eingangs erwähnte Fußballspiel, das territoriale gegen serbische Truppenteile während einer Waffenstillstandspause auf einer Lichtung auf dem Igman auf Leben und Tod austragen, ist eine nicht unmögliche, doch eindeutig 20 Christa Wolf: Kassandra. Erzählung, München 2000, S. 80. 21 Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. In: Ders.: Werke. Kritische Ausgabe. 6. Abteilung, 3. Band. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin - New York 1973, S. 49-158, hier S. 122. 22 Rainer Emig: Augen/ Zeugen. Kriegserlebnis, Bild, Metapher, Legende. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung: Das Bild des »modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film Bd. 1. Hg. v. Thomas F. Schneider, Osnabrück 1999, S. 15-24, hier S. 18. BH 10 Book.indb 252 22.8.2008 22: 10: 33 Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird ... 253 erfundene Geschichte. In diesem heterodiegetisch erzählten Kapitel mit dem Titel bzw. der Zusammenfassung »Was hinter Gottes Füßen gespielt wird, wofür sich Kiko die Zigarette aufhebt, wo Hollywood liegt und wie Mikimaus zu antworten lernt« (234) werden im Zuge der Vorstellung der serbischen Spieler verschiedene Gründe für ihren jeweiligen Eintritt in den Krieg angeführt: Ob der Wunsch, den im Kroatien-Krieg gefallenen Bruder zu rächen, dem abgelegenen Elternhaus zu entkommen oder aber mit dem Trinken aufzuhören - der Text legt durchwegs persönliche Gründe, die aus den individuellen Lebensgeschichten und der psychologischen Verfassung der jungen Männer und nicht aus politischen und ökonomischen Entwicklungen resultieren, nahe. 23 Für den Leser dieser zwischen Kriegskontext, Irrwitz und Magie changierenden Schilderung einer Konfrontation zweier aus den involvierten Parteien formierten Mannschaften im Krieg, für den Leser der Parabel auf den Zusammenprall zweier verschiedener Prinzipien - Individualität und Kollektivität - gilt, was Walter Benjamin für den Leser der Erzählungen Nikolai Lesskows notiert hat: »Es ist ihm freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht, und damit erreicht das Erzählte eine Schwingungsbreite, die der Information fehlt.« 24 Zum anderen ist der Roman, insbesondere der zweite Teil, da sich der junge Mann Aleks an die traumatischen Erlebnisse in Vi{egrad 1992 erinnert, durchsetzt von Vi{egrader Straßen, Orts- und Hotelnamen. »Ich habe Listen gemacht« - so lautet der Titel dieses Vi{egrad-Kapitels, und so lautet die zu Beginn jeder neuen Episode nahezu litaneiartig beschworene Anrufung eines ’Abschließenwollens’. Aber auch Miki, sein Onkel väterlicherseits, der zu Beginn des Buches von der Jugoslawischen Volksarmee eingezogen wird, hat »Listen gemacht« (307), und nimmt Aleks bei ihrem Zusammentreffen »zu einem Haus in der Pionirska Straße« mit, »zum Hotel Bikavac, das kein Hotel mehr ist«, zum »Hotel Vilina Vlas« (306), das heute wieder als Spa-Hotel Touristen aus aller Welt empfängt. Stani{i} bzw. der Narrator Aleks erklärt nicht, wofür diese Straßen-, Orts- und Hotelangaben stehen. 25 Nichtsdestotrotz - oder vielleicht auch gerade deshalb - wird vermutlich auch jenem Leser, dem die verschiedenen Anspielungen nicht geläufig sind, bewusst, dass die erratischen Eigennamen auf konkrete Geschehnisse des Krieges in Bosnien verweisen, auf »Tatsachen, die so wirklich sind, dass verglichen damit nichts mehr wahr ist«. 26 Der an Stani{i} gerichtete Vorwurf der »Verzauberung des Schreckens mit den Mitteln der Sprache« 27 und 23 Diese für manchen Leser problematische Aussparung favorisiert nichtsdestoweniger keine Lesart einer balkanspezifischen Psychologie, auf die westliche, auch wissenschaftliche Erklärungsversuche oft zurückgreifen. Vgl. dazu Natalija Ba{i}: Kampfsoldaten im ehemaligen Jugoslawien. Legitimationen des Kämpfens und des Tötens. In: Gender, Identität und kriegerischer Konflikt. Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien. Hg. v. Ruth Seifert, Münster 2004, S. 89-111. 24 Walter Benjamin: Der Erzähler. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Ausgew. v. Siegfried Unseld, Frankfurt/ Main 1977, S. 385-412, hier S. 391. 25 Vgl. die kurze Anspielung auf das Hotel Bikavac (149) sowie zum Haus in der Pionirska-Straße Aleks’ Bemerkung am Telefon zur Großmutter (218). 26 Vgl. Anm. 1, Agamben, Auschwitz, S. 8. 27 Vgl. Anton Thuswaldner: Die neuen Namen, Volltext, 6/ 2006 (Dezember/ Januar). BH 10 Book.indb 253 22.8.2008 22: 10: 33 254 Daniela Finzi der »Entrücktheit des Krieges« 28 sagt meiner Ansicht nach weniger über den Roman aus als über seinen Rezensenten: über die Erwartungshaltung, was den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens und seine Repräsentation in fiktionaler Literatur angeht; über eine mangelnde Bereitschaft, sich auf den Text und dessen Verfahren, den unhintergehbaren Kontext hinter der mit Fantasie und Liebe zum Detail erzählten Geschichte des Aleksandar Krsmanovi} aufzurufen, einzulassen. Es genügt schließlich, die verschiedenen Eigennamen in die gängigen Internetsuchmaschinen einzugeben, die Seiten des Internationalen Gerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) zu öffnen, um sich über die Den Haager Anklageschrift gegen Sredoje Luki} alias Pokor, Milan Luki} und Mitar Vasiljevi} u. a. wegen Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu informieren. Wurden die beiden Hotels zu Gefangenen- und Vergewaltigungslagern während des Frühlings und Sommers 1992 umfunktioniert, steht die Pionirska Straße für ein Mitte Juni 1992 verübtes Massaker, bei dem etwa 65 muslimische Frauen, Kinder und alte Männer in ein Haus ebendieser Straße eingeschlossen und verbrannt wurden. Die Namen von 58 Opfern sind im Annex A der Anklageschrift mit Case No. IT-98-32- I aufgelistet: »Among those killed in the house burning on Pioneer Street, referred to in Counts 3-6, were«: in alphabetischer Reihenfolge werden 58 Namen und Altersangaben verzeichnet, von »1. Ajanovi}, Mula, about 75 years old« bis »58. Vila, Jasmina, about 20 years old«. 29 Im Laufe des Romans von Stani{i} ist man an unterschiedlichen Stellen der Aufzählung als Stilmittel begegnet: in den Aneinanderreihungen, so könnte man meinen, sucht Aleksandar Zuflucht, wenn zu viel auf ihn einstürmt, in Momenten der Erfahrung von Überforderung. Diese ihre tröstliche Wirkung hat sie nach Lektüre der Auflistung der 58 verbrannten Menschen in der Pionirska Straße unwiederbringlich verloren. 28 Vgl. Anm. 3, Radisch, Kittelschürze. 29 http: / / www.un.org/ icty/ indictment/ english/ vas-ii000125e.htm, Zugriff v. 27. 9. 2007. BH 10 Book.indb 254 22.8.2008 22: 10: 33 M ILKA C AR (Z AGREB ) Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre Die Romane von Alenka Mirkovi}, Dubravka Ugre{i} und Da{a Drndi} Wenn Dokument und Prosa bzw. Roman im gleichen Kontext erscheinen, eröffnet die Verknüpfung der faktualen Elemente mit dem traditionellen Anspruch auf Fiktionalität der Romangattung eine Reihe interessanter gattungstypologischer Fragen. Es ist vor allem der Drang nach Authentizität als Versuch einer Annäherung an die Wirklichkeit, der als Auslöser für den Einsatz der dokumentarischen Methode im Kriegsroman anzusehen ist. Mit den schrecklichen Auswirkungen des Krieges in Kroatien vom Anfang der 90er Jahre (der in Kroatien offiziell als »Vaterländischer Krieg« - »Domovinski rat« bezeichnet wird) 1 konfrontiert, wollen Autoren auf diese drängende »Herausforderung der Wirklichkeit« 2 eine Antwort geben. Diese Reaktion der Autoren auf ihre unmittelbare Wirklichkeit markiert eine entscheidende Zäsur in der Entwicklung der zeitgenössischen kroatischen Literatur, wie Kre{imir Nemec in seiner wegweisenden Geschichte des kroatischen Romans feststellt. Für die im Zeitraum von 1991 bis 1999 entstandenen Romane hat sich in der kroatischen Literaturwissenschaft die Bezeichnung Kriegsroman 3 eingebürgert, denn gerade die außerliterarische Kriegswirklichkeit fungiert als Schlüssel, der uns Möglichkeiten gibt, die explosionsartige Zunahme dokumentarischer Formen in der kroatischen Prosa der 90er Jahre zu deuten. Der Krieg als der entscheidende außerliterarische Faktor bewirkte die Öffnung hin zu nichtliterarischen Formen - wir haben es mit einer diktatorisch dominanten Kriegs-Wirklichkeit zu tun, die die Aufnahme von Mischgenres in die ’hohe Literatur’ und zugleich die ausgeprägte Neigung zu dokumentarischen Mischformen begünstigte. Im Zusammenhang damit sei zuerst festgestellt, dass in der postjugoslawischen Kriegsprosa eine Fülle von Texten mit dokumentarischem Anspruch zu verzeichnen ist. 4 Aus dieser vielfach festgestellten Tatsache 5 leiten sich 1 Vgl. dazu Andrea Zlatar: Tekst, tijelo, trauma. Ogledi o suvremenoj `enskoj knji`evnosti, Zagreb 2004, S. 21f. 2 Kre{imir Nemec: Povijest hrvatskog romana od 1945. do 2000. godine, Zagreb 2003, S. 413. 3 So auch die Behandlung dieser Thematik in der Zeitschrift Kolo (Zagreb), 3/ 1998, S. 514-555. 4 Einen Überblick über die Produktion von Texten über Krieg findet man in: Grozdana Cvitan: Od ~izama do petka. (D)opisi rata, Zagreb 2002. 5 Vgl. dazu: Andrea Zlatar: Tekst, tijelo, trauma. Ogledi o suvremenoj `enskoj knji`evnosti, Zagreb 2004; Dubravka Orai} Toli}: Mu{ka moderna i `enska postmoderna. Ro|enje virtualne kulture, Zagreb 2005, insbesondere das Kapitel über zeitgenössische kroatische Prosa unter dem Titel Die Herausforderung der Wirklichkeit, S. 180-206; Vlaho Bogi{i} (Hg.): Dokumentarnost u suvremenoj hrvatskoj knji`evnosti, Dubrovnik, 5/ 1995, S. 7-109. BH 10 Book.indb 255 22.8.2008 22: 10: 33 256 Milka Car zwei grundlegende Ansätze für die vorliegende Arbeit ab. Zum einen die Einschränkung, dass aus der Vielfalt dokumentarischer Texte, der Memoiren und geschichtspolitischen Berichte ausschließlich jene Prosatexte herangezogen werden, die sich als Romane deklarieren, also ihren Anspruch auf Fiktion trotz des Einsatzes dokumentarischen Materials nicht aufgegeben haben. Die grundlegende Ambivalenz der Dokumentarliteratur geht aus ihrer Gebundenheit an das Faktische hervor. Jedoch werden die Fakten durch literarische Mittel, durch Zuordnung zu einer bestimmten Gattung oder durch Bearbeitung von Seiten des Autors manipuliert und fiktionalisiert. Zum anderen soll im engen Zusammenhang mit der grundsätzlichen Fiktionalität der Roman-Gattung gerade der Frage nachgegangen werden, mit welcher Absicht dokumentarische Textteile in fiktive Passagen und Elemente hineinmontiert werden, oder genauer: Welche dokumentarische Methode wird verwendet, damit der Einzelne Einblick in die Auswirkungen des Kriegsgeschehens erhält und sich die Kriegswirklichkeit auch im Romanaufbau niederschlägt, sodass auf diese Weise im Roman ein »Rahmen für die Wirklichkeit« (Orai} Toli}) gegeben ist. In dem so skizzierten Arbeitsvorhaben ist das Korpus der zu untersuchenden Werke im doppelten Sinne begrenzt, so dass als exemplarisch für dieses Vorhaben drei Romane im Hinblick auf ihre dokumentarische Struktur hinterfragt werden. Es handelt sich zum einen um den Roman 91,6 MHz Glasom protiv topova (91,6 MHz Mit der Stimme gegen Kanonen, 1997) von Alenka Mirkovi}, der nach der Typologie von Andrea Zlatar 6 der zweiten Phase der kroatischen Kriegsprosa der 90er Jahre zuzurechnen ist, in der die »fiktionalen Erzählmodelle« erst noch zu entwickeln waren und die von einer starken Tendenz zu »autobiographischen Formen« und »Memoiren-Diskurs« gekennzeichnet ist. 7 In dieser Phase wird Wirklichkeit »in statu nascendi« 8 dargestellt - so beschreibt auch Alenka Mirkovi} als Reflektorfigur ihre eigenen Erfahrungen in Ich-Form. Zugleich legitimieren die unmittelbaren eigenen Erlebnisse, getragen vom festen »Glauben an die Möglichkeit der Repräsentanz der authentischen Wahrheit«, 9 das Erzählen als Zeugnis dieser bewegten Zeit. Im Anschluss daran werden der später entstandene Roman Canzone di guerra. Nove davorije (1998) von Da{a Drndi} und der später rezipierte Roman Muzej bezuvjetne predaje 10 (Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, 1997) von Dubravka Ugre{i} analysiert. Der Zeitpunkt der Entstehung und die damit verbundene Typologisierung der Romane ist im Hinblick auf die verwendete 6 Andrea Zlatar: Knji`evno vrijeme - sada{njost, Re~ (Beograd), Nr. 61/ 7, März 2001, S. 169-173, hier S. 172. 7 Ebenda. 8 Dubravka Orai} Toli}: Mu{ka moderna i `enska postmoderna. Ro|enje virtualne kulture, Zagreb 2005, S. 184. 9 Ebenda, S. 192. 10 Dieser Roman ist zuerst in Amsterdam unter dem Titel Museum van onvoorwaardelijike overgave im Jahre 1997 erschienen. In dieser Arbeit wird die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1998 benutzt. Die kroatische Ausgabe ist als Teil der gesammelten Werke von Dubravka Ugre{i} von Konzor (Zagreb) und Samizdat B 92 (Belgrad) im Jahre 2002 verlegt worden. BH 10 Book.indb 256 22.8.2008 22: 10: 33 Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre 257 dokumentarische Methode in vielerlei Hinsicht relevant, denn die beiden letztgenannten Romane entsprechen nach Zlatar jener Entwicklungsphase, die durch die endgültige Vorherrschaft der Fiktion gekennzeichnet ist. Die zentrale Poetik dieser Phase wird von Orai} Toli} als Postdokumentarismus bezeichnet, es handelt sich dabei um die »Dispersion der Faktographie in Material für unterschiedliche Manipulationen mit den Tatsachen«. 11 Anhand dieser Typologie wird folgende Hypothese aufgestellt: Es ist nachzuweisen, dass der Einsatz dokumentarischen Materials in der früheren Phase, die hier mit dem Roman von Alenka Mirkovi} repräsentiert ist, die Aufgabe hat, als ein authentisches Zeugnis der (Kriegs-)Wirklichkeit zu dienen, während in den Romanen von Ugre{i} und Drndi} die Dokumente eine differenziertere Aufgabe im postmodernistischen Programm der Ironisierung und der Parodie von Realität bzw. ihrer »Re-Konstruktion von Wirklichkeit« haben. Damit wären die beiden letzten Romane der postmodernen Literatur zuzurechnen, während der Roman von Mirkovi} in die Rubrik »testimoniale Literatur« 12 (testimonial literature) einzuordnen ist. I. Der Roman 91,6 MHz Glasom protiv topova (91,6 MHz Mit der Stimme gegen Kanonen) befolgt die Poetik der »unerfundenen Wirklichkeit« und wird als »Roman der Wahrheit« 13 angesehen. Sogar der Titel des Romans betont die referentielle Gebundenheit an die Wirklichkeit - die Autorin selbst war nach der Einkesselung von Vukovar als Reporterin beim lokalen Sender Radio Vukovar tätig und kämpfte buchstäblich mit dem Einsatz ihrer eigenen Stimme und ihres eigenen Lebens gegen die feindlichen Kanonen. Deshalb ist es gerade die präzise abgebildete Kriegsrealität in der belagerten Stadt Vukovar, die hier als dokumentarisch angesehen werden kann - die »unhintergehbare Faktizität des Realen« 14 wohnt diesem Text inne. Fiktiv ist in diesem Roman nur die Unvorstellbarkeit der Grausamkeit, die diese Stadt tatsächlich erlebt hat - diese Grausamkeit und das Leiden der Gebliebenen bleiben für »all jene, die nicht in dieser Zeit und in dieser Stadt waren, für immer fiction«. 15 Die Konfrontation zwischen Realität und Fiktion entwickelt im Fall von Vukovar eine besondere Dialektik - das Wirkliche erweist sich in seiner unerwarteten Grausamkeit als unglaubwürdig und übersteigt damit jegliche Form von Erfindung. Zugleich entspringt gerade dieser Dialektik zwischen Realität und Fiktion, zwischen Innen und Außen, zwischen 11 Orai} Toli} 2005, S. 207 (Dieses und andere kroatische Zitate wurden ins Deutsche - wenn nicht anders vermerkt - von M.C. übersetzt). 12 Zit. Anm. 6, Zlatar, Tekst, S. 163ff. 13 Zit. Anm. 3, Nemec, Povijest, S. 413. 14 Winfried Fluck: Die »Amerikanisierung« der Geschichte im New Historicism. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism, Tübingen - Basel 2001, S. 229-250, hier S. 229. 15 Grozdana Cvitan: Glasom protiv topova - zapisom protiv zaborava. In: Zit. Anm. 5, Cvitan, Od ~izama do petka, S. 41-48, hier S. 46 f. BH 10 Book.indb 257 22.8.2008 22: 10: 33 258 Milka Car dem nachträglichen Wissen und einer fast voyeuristischen Teilnahme direkt am Schauplatz des Geschehens die typisch romaneske Spannung. Wirklichkeit und Fiktion tauschen ihre Rollen und bedürfen aus diesem Grund eines Augenzeugens, der den Außenstehenden für die Wahrhaftigkeit der Wirklichkeit bürgen kann. Die interne Fokalisierung im Roman leitet sich aus ihrer doppelt begrenzten Sicht einer Augenzeugin in einer Situation fast vollständiger Isolation ab. Andrea Zlatar betont in diesem Kontext, dass der Text den Arbeitstitel Eine Geschichte von innen trug. Somit ist die hier verwendete dokumentarische Methode eine aus der eigenen Erfahrung hervorgegangene Arbeitsweise, denn sie hat das Beschriebene »mit eigenen Augen gesehen« 16 und legt mit ihrem Roman Zeugnis davon ab. Die dokumentarische Methode von Alenka Mirkovi} lässt sich als existentielle dokumentarische Methode bezeichnen - die autodiegetische Erzählerin fingiert als Zeugin zuerst im Leben und danach auch im Roman. Gerade aus ihrer existentiellen Verankerung in der beschriebenen Situation geht die Authentizität des Erzählten hervor: »‡...™ uns allen war gemeinsam, dass der Tag unserer Feuertaufe jener Tag war, an dem wir aufgehört hatten, unsere Arbeit einfach auszuüben, und begonnen hatten, sie zu leben«. 17 Dabei macht die Reflektorfigur mit dem bewussten Einsatz einfacher Stilmittel aus einer großen Geschichte eine kleine, warme menschliche Geschichte, »aus der Sicht eines Mädchens aus Nachbarschaft« beschreibt sie »naiv, ehrlich und unmittelbar« vor allem ihre eigene »Angst«. 18 Nichtsdestotrotz war ihr Beharren auf dem authentischen Diskurs - dem dienen z. B. präzise lokale und temporale Bezeichnungen sowie das Insistieren auf den authentischen Namen aller beteiligten Figuren - ein Stein des Anstoßes bei der Rezeption von 91,6 MHz Glasom protiv topova. Ihr Werk wird oft in die Spalte der nicht-fiktionalen Literatur eingeordnet, auch Kre{imir Nemec entzieht ihm den Roman-Status und bezeichnet ihr Werk als »erschütternde romancierte tagebuchartige Chronik der Belagerung und des Falls Vukovars«. 19 Hier wird der Text von Alenka Mirkovi} jedoch als Roman betrachtet, bei dem gerade der Einsatz des dokumentarischen Materials mit seiner existentiellen Verankerung für die Definition des Genres entscheidend ist. Die zeitgenössische narratologische Theorie betont den engen Konnex der Wirklichkeit mit der menschlichen Erfahrung. In ihrem narratologischen Ansatz koppelt Monika Fludernik die Narration von der herkömmlichen Bindung an den Plot ab: Ihrer kognitiven Theorie zufolge ist für die Zuordnung von Texten zur Narration primär die Übertragung der essentiellen Erfahrungshaftigkeit (experientiality) maßgebend. Nach Fludernik ist für das Erzählen typisch, dass menschliche Erfahrungen gerade »in Erzählungen berichtet und 16 Julijana Matanovi}: Zakon velikih brojeva (ili o prozi nastaloj u danima rata), Dubrovnik, 5/ 1995, S. 43-51, hier S. 43. 17 Alenka Mirkovi}: 91,6 MHz - Glasom protiv topova, Zagreb 1997, S. 131. 18 Gordana Crnkovi}: Nered egzistencije, nered `anrova, Kolo (Zagreb), 3/ 1998, S. 514-518, hier S. 517. 19 Zit. Anm. 2, Nemec, Povijest, S. 414. BH 10 Book.indb 258 22.8.2008 22: 10: 33 Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre 259 gleichzeitig evaluiert« 20 werden. Fluderniks Schlüsselbegriff der experientiality/ Erfahrungshaftigkeit wird als die »quasi mimetische Evokation lebensweltlicher Erfahrung« verstanden, womit die Frage nach der Bedeutung der »Narrativität für die Auffassung und Darstellung von Wirklichkeit in den Mittelpunkt« 21 rückt. Gerade die Lebenserfahrung der autodiegetischen Erzählerin bildet den Kern des Romans 91,6 MHz Mit der Stimme gegen Kanonen, denn hier wird vor allem die individuell erlebte Wirklichkeit in einer auswegslosen Situation geschildert. Von dieser dezidiert individuellen Sicht auf das Geschehen zeugen die letzten Sätze im Roman: »Es war vorbei. Für mich ist der Krieg zu Ende, und ich habe ihn verloren.« 22 ‡Hervorh. von M. C.™ Gerade die Bezeugung von Erfahrungshaftigkeit im Text ist das primäre Anliegen der Autorin, die damit zwei Ziele verfolgt: zum einen die ’therapeutische’ Wirkung der Reinigung nach einem traumatischen Erlebnis sowohl auf der kollektiven als auch auf der individuellen Ebene, zum anderen die Betonung der appellativen Funktion ihres individuellen Berichts. Die Bindung an die Wirklichkeit ist eine Bindung an individuell erlebte Realität, auch wenn sie kollektives Leiden umfasst. Insofern ist ihre dokumentarische Methode als »Anlass, ‡...™ Bedingung und ‡...™ Wirkung« 23 des Textes anzusehen, denn mit ihrer referentiellen Anlehnung an die (Kriegs-)Realität bindet sie alle Beteiligten in den literarischen Kommunikationsprozess ein. So nimmt die autodiegetische Erzählerin mit ihrem subjektiv gefärbtem Bericht aus Vukovar doch teil am »symbolische‡n™ Prozess, mit dem das gesellschaftlich Imaginäre - Nation, Kultur oder Gemeinschaft - zum Subjekt des Diskurses und zum Objekt der psychischen Identifikation wird«. 24 Am Romanaufbau ist J. L. Hermans Schema der Aufarbeitung von Traumata ablesbar: Wird in den ersten Kapiteln in einer längeren narrativen Analepse die »Reihe ihres Lebens« 25 re-kreiert, indem eigene menschliche Verhältnisse, persönliche Ideale und Sorgen, aber auch das Klima in Vukovar unmittelbar vor Ausbruch des Krieges skizziert werden, folgt in den folgenden chronologisch gegliederten Kapiteln die »Rekonstruktion der Tatsachen« auf der dokumentarischen Ebene. Im rein dokumentarischen Verfahren wäre es vorstellbar, die Transkripte ihrer Radio-Meldungen in den Roman zu montieren, doch würden die Stimmen der Anderen ihre eigene Stimme ersetzen und ihr nicht erlauben, die Geschichte ihrer persönlichen Angst in Konfrontation mit Terror zu erzählen. Erst im narratologisch strukturierten Rahmen einer Handlung kann die autodiegetische 20 Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, S. 122 f. 21 Vera und Ansgar Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen - transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Vera und Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 1-23, hier S. 6. 22 Zit. Anm. 17, Mirkovi}, 91,6 MHz, S. 295. 23 Dean Duda: O razmje{taju dokumentarnosti u pripovjednoj komunikaciji (^orak, Pavli~i}), Dubrovnik, 5/ 1995, S. 35-42, hier S. 37. 24 Homi Bhabha: DisemiNacija - vrijeme, pripovijest i margine moderne nacije. In: Vladimir Biti (Hg.): Politika i etika pripovijedanja, Zagreb 2002, S. 157-191, hier S. 173. 25 Judith Lewis Herman: Trauma i oporavak, Zagreb 1996, S. 206ff. BH 10 Book.indb 259 22.8.2008 22: 10: 33 260 Milka Car Erzählerin aus den »Fragmenten der Vergangenheit ‡...™ eine diskursive Einheit« 26 machen. Renata Jambre{i} Kirin, die Zeugnisse vom Heimatkrieg und Flüchtlingserfahrungen in ihrer Dissertation analysiert, bezeichnet solche Zeugnisse als Träger einer »privilegierten Repräsentanz«, 27 da sie zu Marksteinen im kollektiven Bewusstsein der Nation werden. Indem die autodiegetische Erzählerin ihr persönliches Zeugnis von einem historisch markierten Geschehen in der neueren kroatischen Geschichte ablegt, übernimmt sie zugleich die »gesellschaftlich und moralisch verpflichtende Rolle«, 28 die nach Shoshana Felmann 29 allem Zeugnisablegen innewohnt: »Zeugnisablegen bedeutet nicht nur einfach erzählen, sondern auch sich verpflichten, sich durch Erzählen verpflichten, denn durch diese spezifische Tat wird Verantwortung für die Wahrheit von etwas übernommen, für etwas, das per definitionem das Persönliche übersteigt, weil es allgemeinen Wert und Folgen hat«. 30 In der Terminologie der Gedächtnistheorie von J. Assmann hat ihre Geschichte vom Fall Vukovars eine fundierende Funktion, 31 denn sie birgt starke gemeinschaftsstiftende und orientierende Kraft. Ihre dokumentarische Methode ist also eine existentiell verankerte testimoniale Methode, die auf Aufzeichnung und Einordnung der erlebten traumatischen Kriegserlebnisse basiert und damit auf eine starke Interaktion mit den Rezipienten angewiesen ist. Ihr Zeugnis von der Kriegswirklichkeit in Vukovar ist in seiner dokumentarisch verbürgten Authentizität beides - emphatischer Protest und offener Dialog mit der eigenen individuellen und kollektiven Vergangenheit. II. Ist im Roman von Mirkovi} der Glaube an die Möglichkeit der Repräsentanz einer authentischen Wahrheit noch vorhanden, wird gerade diese Möglichkeit in den Romanen von Ugre{i} und Drndi} in Frage gestellt. Dass sich auch hier das Problem der Wirklichkeit als literarischer Schwerpunkt im kroatischen Roman der 90er Jahre stellt, ist an der Stellung der Dokumente in beiden Romanen abzulesen. In beiden Fällen wird eine Fülle an dokumentarischem Material geboten, das die Aufgabe hat, die Wirklichkeit als eine konstruierte, interpretierbare und polysemantische darzustellen. Im Roman von Alenka Mirkovi} befindet sich die autodiegetische Erzählerin inmitten des Kriegsgeschehens und erzählt 26 Linda Hutcheon: Postmodernisti~ki prikaz. In: Vladimir Biti (Hg.): Politika i etika pripovijedanja, Zagreb 2002, S. 33-61, hier S. 55 f. 27 Renata Jambre{i} Kirin: Svjedo~enja o Domovinskom ratu i izbjegli{tvu. Knji`evnoteorijski i kulturnoantropolo{ki aspekti, Diss., Zagreb 1999. 28 Ebenda, S. 27. 29 Shosana Felmann/ Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis and History, New York - London 1992. 30 Zit. nach: Andrea Zlatar: Svjedo~iti za povijest, 15 dana. ^asopis za umjetnost i kulturu (Zagreb), 1/ 2005, S. 14-16, hier S. 14. 31 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 79. BH 10 Book.indb 260 22.8.2008 22: 10: 33 Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre 261 retrospektiv und dokumentarisch faktengetreu ihre bezeugte Geschichte aus Vukovar. Im Gegensatz dazu liefern in beiden letztgenannten Romanen die indirekten Auswirkungen des Krieges und die damit verbundenen Erfahrungen der Emigration eine Folie für die Hinterfragung der eigenen Identität. Dubravka Ugre{i} schreibt ihren Roman in der unmittelbaren Nachkriegsituation, als es zu einer umfassenden Dispersion ihrer Erfahrung kommt. Die Wandlung der äußeren sozial-politischen Situation erlebt sie als die totale Erosion der ihr bis dahin bekannten Realität: »Dieses Buch habe ich im Moment geschrieben, als sich mir alle Wörter zerstreut haben.« 32 Den Ausgangspunkt ihrer Poetik bildet die Einsicht aus dem Jahre 1992, als sie, nach ihrer Rückkehr nach Zagreb mit der Kriegswirklichkeit konfrontiert, feststellt: Die »Wirklichkeit existiert nicht mehr«. 33 Somit ist auch der Unterschied zwischen fiktiven und faktualen Elementen aufgehoben und die Welt kann nur als eine ’zerstreute, zersplitterte’ dargestellt werden. Zugleich wird die Kategorie der Identität zu einer fiktiven Kategorie, die nur dazu dient, die Vergangenheit zu hinterfragen. Dieses Ziel wird mit dem Einsatz von Dokumenten erreicht, denen die Funktion zugemessen wird, aus greifbaren Fragmenten Wirklichkeit zu rekonstruieren. So ist auch Ugre{i}s Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation 34 eine Sammlung von Fragmenten zersplitterter Realität, ein Projekt der Re-Konstruktion auf der Ebene von Vergangenheit und Gegenwart. Dem Leser wird die Aufgabe übertragen, aus dem Angebot der Realitätspartikeln ein Bedeutungsnetz zu erstellen und die verloren gegangene ’konnektive Struktur’ 35 der Gesellschaft zu rekonstruieren. Jan Assmann definiert in seiner Studie den Begriff der konnektiven Struktur als eine soziale und temporale zentripetale Kraft, die einen »gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum« bildet und »Vertrauen und Orientierung« stiftet. Im Vorwort des Romans mit der Aufzählung der Gegenstände aus dem Bauch eines tot aufgefundenen See-Elefanten ist eine Anweisung für die Lektüre dieses Romans vorhanden - der Leser soll sich auf die Suche nach Spuren im Text begeben und selbst Zusammenhänge zwischen scheinbar inkohärenten Fragmenten suchen: »Wer meint, sie stünden in keinem logischen Zusammenhang, möge sich gedulden; die Zusammenhänge werden sich allmählich von selbst ergeben.« 36 Auf diese Weise entsteht eine Dynamik des Textes, die ihrem Prinzip der direkten Montage der Tatsachen entspricht und dabei auch den »unruhigen und dynamischen« 37 Zustand des Exils widerspiegelt. 32 Dubravka Ugre{i}: Ameri~ki fikcionar, Zagreb 1993, S. 9 (hervorgeh. v. M. C.). 33 Ebenda, S. 14 f. 34 Dubravka Ugre{i}: Das Museum der bedingungslosen Kapitulation. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak, Frankfurt am Main 1998. 35 Zit. Anm. 31, Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 16. 36 Ugre{i} 2002, S. 13. 37 Dubravka Ugre{i}: Kulturni intervju, 29. 4. 2004, Igor Ru`i} http: / / www.radio101.hr/ ? section=1&page =2&item=10451 ‡zuletzt eingesehen am: 25. 9. 2007™. BH 10 Book.indb 261 22.8.2008 22: 10: 33 262 Milka Car Deshalb ist ihre dokumentarische Methode als Ding-Dokumentarismus zu bezeichnen, denn sowohl in ihren essayistischen Texten, die den Verfall Jugoslawiens thematisieren, als auch in ihren Romanen klammert sich die Erzählerin an präfabrizierte und objektiv gegebene Dinge als Zeugen der Vergangenheit. Die real vorhandenen Sachen wie Fotografien, Auszüge aus einem Tagebuch, detailliert beschriebene Ortschaften und Briefe treten an die Stelle der abhanden gekommenen Wirklichkeit. Es geht nämlich in diesen Geschichten um die unbewusste »Archivierung ’zufälliger’ Biographien, Fotos, Gegenstände, mit denen wir uns hartnäckig umgeben«. 38 Der Charakter der Fiktionalität bekommt durch die empirisch nachweisbaren Tatsachen eine zusätzliche Dimension: Er soll nämlich aus einer expliziten metafiktionalen Position den Status der Wirklichkeit hinterfragen. Es sei grundlegendes Anliegen der metafiktionalen Darstellungsweise »simultaneously to create a fiction and to make a statement about the creation of that fiction«. 39 Die real vorhandenen Sachen werden zu den Bürgen einer postmodernen Identitätssuche. Dies deckt sich mit dem postmodernen Programm einer umfassenden Textualität 40 von Wirklichkeit. In diesem Kontext sei an Foucaults Feststellung über die prinzipielle Zeichenabhängigkeit der Realität erinnert: »Die Beziehung zu den Texten ist von gleicher Natur wie die Beziehung zu den Dingen; hier wie da nimmt man Zeichen auf.« 41 Auch der Exil-Zustand der Reflektorfigur wird im Rahmen dieser verdinglichten dokumentarischen Methode gedeutet: Den Koffer benutze ich nicht als übliche Metapher für den Begriff Exil. Der Koffer ist nämlich meine einzige Realität. Nicht einmal die vielen Stempel in meinem Paß können mich von der Realität meines Wanderdaseins überzeugen. Ja, der Koffer ist mein einziger fixer Punkt. Alles andere träume ich, oder es träumt mich, was schon gleichgültig ist. 42 Auch der Titel des Romans geht von einer faktographischen Ebene aus, denn die Autorin übernimmt den Namen eines real vorhandenen Museums in Karlshorst, im ehemaligen Ost-Berlin, und bleibt auch auf diese Weise auf dem ’Boden der Tatsachen’. Diese oft collageartige Aufzählung der Fragmente aus der Vergangenheit der autodiegetischen Erzählerin hat die Aufgabe, das Trauma des Exils darzustellen. Die Überprüfung der Wirklichkeit und des kulturellen Systems kommt in Beschreibungen der Alltäglichkeit des Exils zum Ausdruck - die Exilanten werden als lebende museale Exemplare betrachtet, 43 die verbliebenen 38 Zit. Anm. 34, Ugre{i}, Museum, S. 180 f. 39 Patricia Waugh: Metafiction, London - New York 1984, S. 6. 40 Die Textualität der Wirklichkeit wird im Sinne von New Historicism verstanden, als »These, daß wir erstens keinen Zugang zu einer vollen und authentischen Vergangenheit haben ‡...™, die nicht über die überlebenden textuellen Spuren der betreffenden Gesellschaft vermittelt wäre« und »daß zweitens diese textuellen Spuren selber weiteren textuellen Vermittlungen unterworfen werden, wenn man sie als ’Dokumente’ liest« (Louis Montrose: Die Renaissance behaupten. Die Poetik und Politik der Kultur. In: Moritz Baßler ‡Hg.™: New Historicism, Tübingen - Basel 2001, S. 60-93, hier S. 67). 41 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, S. 65. 42 Ugre{i} 2002, S. 252. 43 Eine der Figuren im Roman sagt: »Wir alle sind nur wandelnde Museumsstücke.« (Ugre{i} 2002, S. 297) BH 10 Book.indb 262 22.8.2008 22: 10: 33 Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre 263 Zeugen einer vergangenen Zeit. Mit dem Thema Exil ist auch das Thema der Rekonvaleszenz eng verbunden - die Autorin sieht den Krieg und seine Folgen als »eine Art Krankheit«. 44 Insofern ist ihre Methode auch therapeutisch und dient der Verarbeitung des Traumas - eines persönlichen und kollektiven Traumas des Abschieds von einer infolge der rasanten politischen Entwicklungen museal gewordenen Kultur. 45 In ihrem essayistischen Band Die Kultur der Lüge 46 nennt sie die Nachfolgestaaten Jugoslawiens »museal, zitathaft«, 47 denn sie werden aus Zitaten und Fragmenten aus der Vergangenheit gebildet. Ihr Roman ist in diesem Sinne als ein entgegen gesetztes Projekt anzusehen - tendieren die neu gegründeten Staaten dem Vergessen 48 der neueren Vergangenheit, sammelt die autodiegetische Erzählerin ihre nostalgisch gefärbten Erinnerungen in zahlreichen narrativen Analepsen. Die Funktion der Erinnerungen im Roman ist nach Jan Assmann kontrapräsentisch, denn sie sollen die Gegenwart relativieren und »das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, an den Rand Gedrängte« 49 betonen. Die plurale nomadische Identität der Reflektorfigur akzeptiert nicht eine »Wahrheit«, sondern begibt sich auf die Suche nach »vielfältigen Wahrheiten«, 50 die im kommunikativen Gedächtnis einer Gesellschaft vorhanden sein sollen. Gattungstypologisch betrachtet, bedeutet dies die Akzentuierung der »Metaebene der biographischen Selbstreferentialität«, 51 denn hinterfragt werden die Grenzen und Möglichkeiten der traditionellen Biographie. Zugleich kommt, durch die Montage des dokumentarischen Materials, der für die zeitgenössischen Zustände typische »Nexus von Indifferenz, Pluralisierung, Partikularisierung und ideologischen Reaktionen« 52 im Roman zum Tragen. III. Da{a Drndi} versucht überhaupt nicht ihren dokumentarischen Stoff zu tarnen. Ganz im Gegenteil dazu betont sie ihr dokumentarisches Anliegen durch den gezielten und bewussten Einsatz ihrer explizit dokumentarischen Methode. Davon zeugen z. B. die Fußnoten im Roman, die Angabe der Quellen und eine direkte Montage des dokumentarisch verbürgten Materials. Die Montage im Roman 44 Zit. Anm. 37, Ugre{i}, Intervju. 45 »Ich habe meine Heimat verloren. Ich konnte mich weder mit dem Verlust versöhnen, noch mit der Tatsache, dass ich die gleiche, aber doch eine andere bekommen habe.« (Ugre{i} 2002, S. 185 f.) 46 Dubravka Ugre{i}: Kultura la`i. Antipoliti~ki eseji, Zagreb - Beograd 2002 (dt. Die Kultur der Lüge, Frankfurt am Main 1995). 47 Die Kultur der Lüge, S. 128. 48 »Der Terror des Erinnerns soll die (angeblich unterbrochene) Kontinuität der nationalen Identität wiederherstellen, der Terror des Vergessens soll die ’jugoslawische’ Identität und jede Möglichkeit ihrer Erinnerung austilgen.« (Die Kultur der Lüge 1995, S. 123) 49 Zit. Anm. 31, Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 79. 50 Zit. Anm. 46, Ugre{i}, Kultura, S. 115. 51 Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. In: Christian v. Zimmermann (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970, Tübingen 2000, S. 15-36, hier 23. 52 Peter V. Zima: Moderne - Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen - Basel 1997, S. 26. BH 10 Book.indb 263 22.8.2008 22: 10: 34 264 Milka Car Canzone di guerra wird nicht als ein technisches Verfahren angesehen, sondern als eine grundlegende ästhetische Kategorie, die auf die Dialektik der Erkenntnis aus ist und damit einen aktiven Rezipienten voraussetzt, der hergestellte Zusammenhänge nachvollziehen kann. So ist ihre dokumentarische Methode als reine oder explizite dokumentarische Methode zu bezeichnen, die ihre echte Ausprägung in der kroatischen Literatur gerade bei Da{a Drndi} gefunden hat. Ihr Roman ist als heterogene Collage aus Dialogen, enzyklopädischen Zitaten und Reflexionen komponiert und ist dadurch als eine postmoderne hybride Gattung konzipiert. Ähnlich wie in den beiden besprochenen Romanen, ist im Roman von Drndi} das persönliche Schicksal der Reflektorfigur eng mit zeitgenössischer sozial-politischer Wirklichkeit verbunden. Dies unterstreicht schon der Titel des Romans Canzone di guerra - es ist eine persönliche Sicht auf den Krieg in Form einer postmodernen Kanzone als metatextuelles Spiel. Der Untertitel Nove davorije spielt ironisch auf die in der kroatischen romantischen illyrischen Erweckungsbewegung beliebte Gedichtform des patriotischen Liedes an. Der tief greifende Bruch der kollektiven Identität in der Transitionsperiode wird mit der nationalen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts verglichen. Infolge der Kriegsentwicklungen nach dem Zerfall Jugoslawiens wird die bekannte feministische These von Privatem als Politischem zur Realität - es gibt keinen Rückzug aus der kriegerischen Wirklichkeit und ihren Auswirkungen. Die Erfahrung des Krieges bildet somit das Leitmotiv des Romans. Seine Implikationen werden sowohl in seiner geschichtlichen als auch in seiner gegenwärtigen Dimension hinterfragt. Retrospektiv und fragmentarisch werden verschiedene Exil-Stationen der Reflektorfigur Tea Radan und ihrer Tochter Sara in Belgrad, Toronto und Rijeka dargestellt. Auch die im Roman direkt zitierten privaten Briefe sind nicht nur als ein Teil der Familiensaga zu lesen, sondern fungieren zugleich als Zeugen kollektiver Vergangenheit. Es wird der Brief vom Vater der autodiegetischen Erzählerin an Tito 53 zitiert - das Eigentümliche daran ist, dass aus zeitlicher Distanz der Adressat und der Sender des Briefes den gleichen Status bekommen. Sie sind als Zeugen einer Vergangenheit präsent, die infolge turbulenter sozial-politischer Entwicklungen ihre repräsentative Funktion eingebüßt hat und jetzt nur noch als Anekdote eines individuellen Lebenslaufes fungiert. Deshalb kann ihr Roman als postmoderne historiographische Fiktion (Hutcheon) gelesen werden, denn die dargestellte Vergangenheit hat die Aufgabe, das tradierte Verständnis von Geschichte und Kultur zu hinterfragen. Sogar die Biographie der fiktiven Figur Konrad Ko{e erweist sich als ein Lackmus für die Beschreibung sozial-politischer Begebenheiten im 20. Jahrhundert. Die Liebesgeschichte beider Figuren wird zum Anlass für die Erkundung seiner jüdischen Familiengeschichte und die Beschreibung der Route der antifaschistischen Bewegung in Zagreb im Zweiten Weltkrieg. 53 Da{a Drndi}: Canzone di guerra. Nove davorije, Zagreb 1998, S. 41. BH 10 Book.indb 264 22.8.2008 22: 10: 34 Dokumentarismus im kroatischen Kriegsroman der 90er Jahre 265 Die dokumentarische Methode ist hier zu einer umfassenden diskursiven Praxis geworden, die der Erzählerin die Ironisierung des Geschehens ermöglicht. Dazu dient die Montage der Dokumente im zweiten Kapitel des Romans Eine kleine unvollendete Geschichte, in dem die Exilanten-Geschichten mit dem enzyklopädisch verfassten Text über Schweinezucht konterkariert werden. Die Autorin verfährt wie homo ludens und montiert heterogene dokumentarische Textteile miteinander, um die Einsicht in die Relativität der Begriffe von Geschichte und Wirklichkeit zu betonen. Durch die ständige Hinterfragung der historiographischen Tatsachen räumt sie mit der überlieferten Illusion von einer historisch-wissenschaftlichen Objektivität der Tatsachen auf. Es ist die Einsicht in die prinzipielle Relativität jeglicher Wirklichkeit, die hier gerade durch dokumentarische Quellen repräsentiert wird. Mit ihrem Konzept der Textualisierung historischer Fragmente wird der Glaube an die Objektivität relativiert und die Frage nach der Konstrukthaftigkeit 54 der Geschichte erhoben. Dabei wird zugleich ihre autobiographische Strategie relativiert, und das individuelle Schicksal von Tea Radan erweist sich im Roman als paradigmatisches Exil-Schicksal am Ende des 20. Jahrhunderts. Auch in diesem Fall zeigt sich die Geschichte als unfassbar, direkt von der jeweiligen Ideologie abhängig und letztlich fiktiv: »Alle hatten ihre Version der Geschichte. Diejenigen, die überlebt haben.« 55 Dieses Kapitel erweist sich als der eigentliche Kern des Romans, in welchem durch die Verflechtung der Exil-Erlebnisse auf der Gegenwartsebene mit den dokumentierten Quellen aus der Vergangenheit ihre Wechselbeziehungen hervorgehoben werden. In einer narrativen Analepse untersucht die Reflektorfigur die Geschichte vom KZ Theresienstadt. In diesem metahistoriographischen Umgang mit dokumentierten Quellen zeigt sich das 20. Jahrhundert als ein Kaleidoskop der Kriege. Die direkte Montage der Dokumente im Roman hat die Aufgabe, die Perspektivengebundenheit von Geschichte und Gegenwart zu unterstreichen. Dadurch erweist sich der Roman von Drndi} in seiner dokumentarischen Grundstruktur als ein exemplarischer Fall von collageartigem multiperspektivischem Erzählen, in dem mehrere Textsorten die postmoderne Einsicht von der parallelen Existenz unterschiedlicher Wertvorstellungen zum Ausdruck bringen. * In der Analyse der dokumentarischen Methode im kroatischen Roman der 90er Jahre hat sich erwiesen, dass die analysierten Romane durch ihre dokumenta- 54 »Das Reale existiert nicht außerhalb der Geschichtsschreibung, sondern entsteht in deren Schreiben, es wird vom Diskurs mitgeschaffen. Das Vergangene wird in der historiographischen Erzählung inszeniert.« Michael de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. In: Daniel Fulda/ Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin 2002, S. 69-80, hier S. 69. 55 Ebenda, S. 79. BH 10 Book.indb 265 22.8.2008 22: 10: 34 266 Milka Car rischen Stoffe mit der Wirklichkeit korrespondieren, sei es im Modus einer testimonial-appellativen Literatur oder im Modus der postmodernen diskursiven Hinterfragung der Wirklichkeit. Die Dokumente stellen einen direkten referentiellen Bezug zu der Welt »außerhalb des Erzählten« her und sind als Zeugen einer narrativen Suche nach Wahrheit anzusehen. In einer Zeit als die Begriffe ’Traum’ und ’Trauma’ 56 in Kroatien gefährlich nahe standen, sind Dokumente im Roman Ausdruck einer individuellen Suche nach dem verloren gegangenen Wirklichkeitsbezug und der Wahrheit in dieser Wirklichkeit. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich in allen montierten Dokumenten um eine »vermittelte Referenz« 57 handelt, in deren Rahmen die prinzipielle Mehrdeutigkeit der Literatur auch auf den dokumentarischen Stoff übertragen wird. 56 »Die Kriegsherren lieben das Wort Traum und seine Ableitungen. Sie haben keine eigenen Träume, sie verwirklichen die tausendjährigen Träume ihrer Völker. Träumen die Völker wirklich? Ja, sagen die Menschen, davon haben wir tausend Jahre geträumt. Unser Traum ist Wirklichkeit geworden.« (Ugre{i} 1995, S. 243) 57 Rainer Baasner: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Berlin 1996, S. 14. BH 10 Book.indb 266 22.8.2008 22: 10: 34 S LAVIJA K ABI } (Z ADAR ) Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft Vom Verlust der Heimat in der Prosa von Dubravka Ugre{i} und Monika Maron Das Grab war bereit. Man ließ den Sarg hinab, breitete die Fahne über ihn - und Franz Xaver Morstin grüßte zum letzten Mal mit dem Säbel den Kaiser. Da erhob sich ein Schluchzen in der Menge, als hätte man jetzt erst den Kaiser Franz Joseph begraben, die alte Monarchie und die alte Heimat. Die drei Geistlichen beteten. Also begrub man den alten Kaiser zum zweitenmal im Dorfe Lopatyny, im ehemaligen Galizien. 1 In der zitierten Stelle aus der Erzählung Die Büste des Kaisers von Joseph Roth nimmt Graf Franz Xaver Morstin in den 1920er-Jahren Abschied von seinem Kaiser, seinem Vaterland, seiner Heimat und der bunten Welt der bereits untergegangenen kaiser- und königlichen Monarchie. In seinem Testament bestimmt er, man möge ihn nicht in der Familiengruft bestatten, sondern neben dem Grab, in dem Kaiser Franz Joseph liegt, die Büste des Kaisers. 2 Im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts verabschiedete man sich von den Welten und Staaten, die laut festlichen Beschwörungen ihrer herrschenden Gremien noch Hunderte von Jahren dauern sollten, friedlich und sanft bei den Einen - im Zeichen des ’schönsten Irrtums in der deutschen Geschichte’ -, blutig und gewaltsam bei den Anderen - auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Nach dem Mauerfall von 1989 erfolgte ein Jahr später das offizielle ’Zusammenwachsen’ von zwei gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich ungleichen Teilen (der BRD und der Länder der ehemaligen DDR). Zur selben Zeit zerfiel von 1991 bis 1995 in einigen aufeinander folgenden Kriegen der multinationale, multikonfessionelle und multikulturelle Staat Jugoslawien: Es entstanden Nationalstaaten, die die Mehrheit mit Begeisterung willkommen geheißen hat, während die anderen, auch infolge der Politik der ’ethnischen Säuberung’, einen langen Strom von Flüchtlingen, Verbannten und Heimatlosen gebildet haben und so ihre bisherigen Vaterländer, ihre Heimat verlassen haben, verlassen mussten oder sie als solche nicht mehr akzeptieren konnten und wollten. In diesem Beitrag wird mein Augenmerk auf einige Werke zweier Autorinnen gerichtet und zwar die der (kroatischen) 3 Erzählerin, Essayistin und Literatur- 1 Joseph Roth: Die Büste des Kaisers. In: Österreichische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Alois Brandstetter, München 1987, S. 151-174, hier S. 173. 2 Ebenda, S. 174. 3 Petra Rehder: Dubravka Ugre{i}. In: Metzler Autorinnen Lexikon. Herausgegeben von Ute Hechtfischer, Renate Hof, Inge Stephan und Flora Veit-Wild, Stuttgart - Weimar 1998, S. 543-544, hier S. 544: »U. braucht BH 10 Book.indb 267 22.8.2008 22: 10: 34 268 Slavija Kabi} wissenschaftlerin Dubravka Ugre{i} und ihrer deutschen Schriftstellerkollegin Monika Maron, deren Biografien sich in manchen Punkten auf gewisse Art und Weise überschneiden, vor allem aber wegen der Tatsache, dass manche ihrer Arbeiten, die nach dem Zerfall der Staaten, die für sie auch Vaterland und Heimat waren, entstanden, einen ähnlichen Themenkomplex behandelten. Die ältere, Monika Maron, wurde am 3. Juni 1941 in Berlin geboren. 1951 wechselte sie den Wohnsitz von Westnach Ostberlin. Jedes Literaturlexikon hebt die Tatsachen hervor, dass sie die Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron (1955-1963) ist, dass sie nach dem Abitur als Fräserin in einem Industriebetrieb arbeitete, danach Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte studierte und mehrere Jahre als Reporterin arbeitete. 4 In den späten Siebzigerjahren, zwischen Oktober 1976 und Mai 1978 hat Maron unter dem Decknamen »Mitsu« konspirativ für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR ’gearbeitet’. Sie hatte sich bereit erklärt, Informationen über Bürger der Bundesrepublik zu liefern, um im Gegenzug ein Visum für Westberlin zu erhalten. Maron brach die Zusammenarbeit mit der Stasi ab und wurde später selbst zu deren »operativem Vorgang«, Akte »Wildsau«. 5 Bereits Anfang der 80er-Jahre begann sich Monika Maron mit dem Thema des (DDR-)Alltags bzw. der Ausweglosigkeit in der Gesellschaft zu beschäftigen. Ihr Erzählband Das Mißverständnis aus dem Jahre 1982 könnte »als eines der wichtigsten Beispiele für die literarische Darstellung von Sinnverlust zu DDR- Zeiten« 6 gelten. In der Erzählung Das Mißverständnis treffen eine Frau und ein Mann aufeinander, deren Alltag als total sinnentleert dargestellt wird, wobei die Frau diese Erfahrung zu ihrer eigenen macht; der Mann dagegen versucht, sich darüber hinwegzutäuschen und Sinn dort zu suchen, wo es schon lange keinen mehr gibt - oder vielleicht nicht gab. 7 Das Leben dieser namenlosen ’Helden’ »wird bestimmt von Gleichgültigkeit und unendlicher Langeweile in einem Staat, in dem sogar das Sinnloseste reglementiert wird, nämlich das gegenseitige Töten«. 8 1986 enstand Marons Roman Die Überläuferin, dessen Hautpmerkmal eigentlich die Suche nach einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit ist: Die Hauptfigur, die Kunstwissenschaftlerin Rosalind Polkowski, deren Beine gelähmt sind, entwickelt in der Phantasie, »in einer Folge diese Freiheit; Einengungen ideologischer, literaturtheoretischer oder nationaler Art mag sie nicht, weder die Etikettierungen ’feministisch’ oder ’postmodernistisch’ noch die Einordnung als ’kroatische Autorin’. Ihren kulturellen Hintergrund nennt sie ’euro-amerikanisch’, sie ist Teil der ex-jugoslawischen Diaspora.« 4 Eckhard Franke: Monika Maron. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Stand 1. 8. 1995. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, München 1995, S. 1. - Vgl. dazu Maria Kublitz-Kramer: Monika Maron. In: Metzler Autorinnen Lexikon. Herausgegeben von Ute Hechtfischer, Renate Hof, Inge Stephan und Flora Veit-Wild, Stuttgart - Weimar 1998, S. 336-338, hier S. 336 f.; Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 2 1997, S. 314. 5 Zit. Anm. 4, Franke, Maron, S. 1. 6 Astrid Herhoffer: »... und heimatlos sind wir doch alle«. Sinnverlust und Sinnstiftung in älterer und neuerer ostdeutscher Literatur, German Life and Letters, April 1997, 50: 2, S. 155-164, hier S. 159. 7 Ebenda, S. 159. 8 Ebenda, S. 159. BH 10 Book.indb 268 22.8.2008 22: 10: 34 Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft 269 von Träumen und Erinnerungswegen ein surrealistisches Panorama ihrer Herkunft, ihrer menschlichen Bindungen, ihrer Ängste und Sehnsüchte«. 9 Ausgestattet mit einem Dreijahresvisum verließ Monika Maron im Juni 1988 die Deutsche Demokratische Republik und lebte bis 1992 in Hamburg. Aber noch vor Ablauf ihres Visums gab es ihre Heimat, die DDR, nicht mehr. »In einer Reihe von Aufsätzen, Essays und Vorträgen ‡...™ kommentierte sie pointiert und engagiert die politischen Zeitläufe und gab Auskunft über ihre eigene Haltung zu der sich rasant wandelnden DDR, zur deutschen Vereinigung und zu den Gründen für ihren Weggang 1988.« 10 In der Zeit des Umbruchs erschien 1991 Marons Roman Stille Zeile sechs, in dem sie Rosalind Polkowski (aus dem Roman Die Überläuferin) noch einmal als Protagonistin auftreten ließ und in welchem der Grundkonflikt in ihren Texten - »die Suche nach der eigenen, unverfälschten Identität inmitten einer engen, gesellschaftlichen Realität« 11 - bestätigt wurde, wovon auch ihr im Jahre 2002 veröffentlichter Roman Endmoränen 12 handelte. Die Themen Heimat- und Sinnverlust, Identitätsverlust, der Kult des Vergessens und die Kultur der Lüge, Jugo-Nostalgie (Sehnsucht nach dem ehemaligen Jugoslawien) und Ostalgie (Sehnsucht nach der ehemaligen DDR) nehmen einen sehr wichtigen Platz sowohl in den postjugoslawischen Literaturen (in der kroatischen, in der bosnischen Literatur) als auch bei den Autoren/ Autorinnen aus der ehemaligen DDR ein. Der reale, physische und mentale Verlust der Heimat (und der Sprache) führte zur literarischen Darstellung des Themas Heimat, Heimatverlust und Heimatlosigkeit: Einige Literaturwissenschaftler kamen zu der Feststellung, dass »in der Literatur, die nach 1989 im Osten Deutschlands produziert wurde, die Häufung des Wortes Heimat« 13 auffällt. Es handelte sich dabei um unterschiedliche Vorstellungen von Heimat und Heimatverlust, da jeder Autor »die HEIMAT in jeweils anderen Zusammenhängen darstellt und damit zugleich deutlich macht, daß die literarische Darstellung eines so mehrdeutigen Konzeptes die Ambiguität seiner Interpretation mit sich bringt«. 14 In Marons Endmoränen zieht die etwa fünfzigjährige Johanna von Berlin nach Basekow, in eine nordöstliche Endmoränenlandschaft. Ihr Mann Achim bleibt in Berlin zurück. Den Beginn des Herbstes deutet sie in letzter Zeit als eine Art Erleichterung: Sie ist sich bewusst, dass die Hälfte ihres Lebens vor dreizehn Jahren abgeschlossen wurde, gerade zum Zeitpunkt der historischen Umbruchsereignisse. In der Zeit danach hat sie keine Lust mehr, das eigentliche Leben zu beginnen. Sie versucht ihren eigenen biografischen Standpunkt zu bestimmen und arbeitet gleichzeitig an der Biografie der Wilhelmine Enke, der Geliebten des 9 Zit. Anm. 4, Kublitz-Kramer, Maron, S. 337. 10 Zit. Anm. 4, Franke, Maron, S. 7. - Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 433. 11 Zit. Anm. 4, Kublitz-Kramer, Maron, S. 337. 12 Monika Maron: Endmoränen. Roman, Frankfurt/ Main 2004. - In der Folge als: (E, Seitenangabe). 13 Zit. Anm. 6, Herhoffer, Sinnverlust, S. 155. 14 Ebenda. BH 10 Book.indb 269 22.8.2008 22: 10: 34 270 Slavija Kabi} preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. (vgl. E, 36-40). In ihrem ’ehemaligen’, DDR-Leben versteckte Johanna als Biografien-Schreiberin geheime Botschaften in Vor- und Nachworten und in überliefernswerten Biografien und lehnte sich somit gegen den Staat auf: »Es war schon wichtig, einfach nur gegen den Staat zu sein, mehr mußte man gar nicht tun, um wichtig zu sein.« (E, 57) Jetzt ist ihre Tätigkeit »über Nacht eine ganz überflüssige Fähigkeit geworden« (E, 56), aber sie setzt sie nach der Wende fort und kann es auch heute nicht lassen, ihren Lesern hie und da unerwünschte Wahrheiten zu vermitteln (E, 41). Da sie sich außerdem von ihrem Mann vernachlässigt und nicht mehr begehrenswert fühlt, ist ihre Beschäftigung mit der Biografie einer tragischen, leidgeprüften, aber doch sehr glücklichen Frau verständlich, da sie sich mit ihr identifizieren möchte: Zeit ihres Lebens war Wilhelmine Enke ihrem geliebten Mann eine Vertraute, eine Geliebte, eine Trösterin. Johanna, die »über die zufälligen und schicksalhaften Fügungen in fremden Biografien« (E, 43) genug wusste, wirft sich vor, dass sie »nicht auf die Idee kam, [ ihre ] eigene neu zu erfinden oder wenigstens auf ein anderes Gleis zu lenken« (E, 43-44). Für sie ist Wilhelmines Lebenslauf als geistige Nahrung wichtiger als der Umgang mit der lebensklugen Freundin Elli oder der erfolgreichen Malerin Katharina Winter, die den jungen Russen Igor als Galeristen anstellt und zum Geliebten hat. »Igor war wirklich ein arroganter Russe, und mir gefielen arrogante Russen nicht« (E, 77), schreibt Johanna. In der Handlung steht er einerseits als ironische Symbolfigur für die überkommenen deutsch-sowjetischen Freundschaften, andererseits gehört er den russischen Neureichen an. 15 Igor, der »in Moskau eine Galerie für moderne westeuropäische Kunst zu eröffnen« (E, 74) plant und in Berlin »eine Galerie für moderne russische Malerei« (E, 74) betreibt, ist die zentrale männliche Gestalt in der Gegenwartshandlung. Auch seine Biografie steht exemplarisch für die historischen Weltverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg: »Als Sohn eines Diplomaten hatte er einen Teil seiner Kindheit in Deutschland verbracht. Im idyllischen Bonn am Rhein ‡...™.« (E, 74) Deswegen verwundert es nicht, wenn er - als ’Vertreter’ der Siegermächte - diese Aussage nicht scheut: »Die deutschen Männer, sagte Igor, haben keinen Sex-Appeal, darum sind sie entweder Schwächlinge oder potentielle Faschisten.« (E, 75) Johanna »identifiziert erfreut das Motiv der Erinnerung an eine DDR-kritische Liebe zur deutschen Romantik und empfindet vieles - unter anderem die Erkenntnis, dass eine gewisse Generation in Ost und West sich gleichermaßen müde und ironisch mit dem Altern herumschlägt«. 16 Im Roman, der von den 15 »Die Russen dringen nach Westberlin vor, eröffnen Geschäfte in der Kantstraße und zelebrieren samstags im Restaurant des KaDeWe den brunch mit Champagner und Kaviar. Osten und Westen fließen ineinander, alle lernen ein neues ABC. Und alle Trümmer werden am Ende von gleichgültigem Gras bedeckt sein.« - Dubravka Ugre{i}: Die Kultur der Lüge. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak, Frankfurt/ Main 1995, S. 302. - In der Folge als: (KLd, Seitenangabe). 16 Rezensionsnotiz, Die Zeit, 5. 5. 2002. - Vgl. Maron: »Allein die Behauptung, daß für ihn ‡Achim, S. K.™nichts auf der Welt wichtiger sei, als daß Kleist den ’Prinz von Homburg’ im Herbst und nicht im Sommer beendet hat, war ein Akt des Widerstands und gab ihm das Gefühl geistiger Unabhängigkeit.« (E, 86) BH 10 Book.indb 270 22.8.2008 22: 10: 34 Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft 271 Rezensenten als »ein eindringliches, bewegendes, stilistisch virtuoses Buch«, 17 als ein »kluges Alterswerk, eine Alterselegie« 18 bewertet wurde, steht die Suche eines Ich nach der eigenen, unverfälschten Identität inmitten einer engen, gesellschaftlichen Realität als Grundkonflikt. Johanna denkt oft an die DDR-Zeit zurück, aber auch wenn sie diese Vergangenheit oft mit Spott und Hohn, ja mit Ressentiment herabwürdigt, weiß sie, dass sie Teil »der intellektuellen Elite von gestern« 19 war und dass sie damit auch sich selbst kritisiert. Im jetzigen »märkischen Exil« kreisen ihre Gedanken um den Tod der früheren Bekannten Irene, um den früheren Geliebten Christian P. und um ihre Familie, weswegen sich ein kultur-geschichtlicher Vergleich zwischen Ost und West im Zeitraum zwischen 1949 und 1990 von selbst aufdrängt: ‡...™ weil die den slawischen Sprachen zugehörigen Länder als einzige nicht dem staatlichen Reiseverbot unterlagen. (E, 10) Wir dachten, du wärst in den Westen gegangen. (E, 14) ‡...™ weil das Grab der Gräfin Lichtenau 1961 in den Todesstreifen zwischen Ost- und West-Berlin einplaniert worden war ‡...™ (E, 39) Aber alle lohnenden Aktionen, die uns einfielen - Sitzblockade auf der Transitautobahn nach Hamburg, unflätige Zwischenrufe von der Besuchergalerie der Volkskammer, subversive Unterweisungen von Schulklassen ‡...™ (E, 29) Und als das Wunder wirklich geschah, zwar nicht durch eine Naturkatastrophe, sondern das einer Naturkatastrophe gleichkommende, unvorhersehbare Wechselspiel außen- und innenpolitischer Ereignisse, war ich außer mir vor Glück, auch weil ich niemals mehr Botschaften in Biografien würde verstecken müssen. (E, 41) ‡...™ als unser ganzes Leben sich geändert hatte und auch wir in die Toskana fahren durften ‡...™ (E, 21) ‡...™ fragte ich mich, warum mir die Zweifel an der Sinnhaftigkeit meiner Arbeit nicht früher, sondern erst jetzt gekommen waren. Vielleicht lag ja auch das am Alter, an diesem demütigenden und wehrlosen Zustand des Altwerdens ‡...™ (E, 37) Heute kommt es mir vor, als hätte ich damals immer darauf gewartet, daß mein eigentliches Leben eines Tages noch beginnt. (E, 55) Johannas Geschichten über ihre Freunde und Bekannten aus Ost und West stellten den Versuch der Inventur von Lebensläufen der Menschen von Gestern dar, die sich in der Nachwendezeit mit der Transitionsrealität auf unterschiedliche Weisen arrangiert haben. Obwohl das Wort Heimat im Text nur einmal vorkommt, 20 ist der Roman eine stille Auseinandersetzung der alternden, einsamen 17 Der Klappentext im Roman Endmoränen: Rezension in: Frankfurter Neue Presse. 18 Rezensionsnotiz, Die Zeit, 5.9.2002. 19 Rezension von Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 25. 9. 2002. 20 Das Wort »Heimat« spricht der Russe Igor, als er über seine Landsmännin, eine russische Patriotin erzählt. (E, 190) BH 10 Book.indb 271 22.8.2008 22: 10: 34 272 Slavija Kabi} und desillusionierten Frau mit der Zeit und den Lebensmöglichkeiten, die im neuen Staat immer unbarmherziger und knapper werden. Wegen der Art, wie sie über ihr Intim- und Gefühlsleben reflektiert, aber auch über das anderer Protagonisten, könnten sie einer »gewissen Generation Intellektueller in der Post- DDR« angehören, die eine verquere Art von »DDR-Nostalgie« 21 verkörpern. Johannas Jugend liegt in der DDR-Zeit zurück, die Nachwende wird einer Ödnis gleich, wovon der Handlungsort - die Endmoränenlandschaft 22 - deutlich genug spricht: »‡...™ daß für uns bald diese öde lange Restzeit beginnt, zwanzig oder dreißig Jahre Restzeit, in der wir nur noch als Zielgruppe von Verkäufern aller Branchen und als katastrophaler Kostenfaktor für die Krankenkassen wichtig sind und sonst von skandalöser Unwichtigkeit ‡...™« (E, 55-56). Als sie nach einer mit Igor verbrachten Nacht - ein Beweis dafür, dass sie doch noch eine begehrenswerte Frau ist! - zu Achim nach Berlin zurückkehrt, holt sie einen streunenden Hund heim: »Ein wunderlicher Anfang, dachte ich.« (E, 253) Die um acht Jahre jüngere Dubravka Ugre{i} (geb. 27. März 1949 in Kutina) »stammt aus Slawonien, eine jener kroatischen Landschaften, wo auch eine serbische Minderheit lebt und sich die Probleme des neuen kroatischen Nationalstaats schon früh abzeichnen«. 23 Nach dem Studium der Komparatistik und der Russischen Philologie (1968) arbeitete Ugre{i} bis 1991 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Literaturtheorie, war eine erfolgreiche Kinderbuchautorin, verfasste von Kritik und Publikum geschätzte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Romane. 24 Aber im Sommer 1991 zerfällt Jugoslawien, der Krieg bricht aus. U. fährt von einer Einladung in Amsterdam nicht nach Zagreb zurück, sondern gleich in die USA, wo sie im Frühjahr 1992 eine Gastdozentur wahrnimmt. ‡...™ Zurück in ihrer Heimat (1992) fühlt sie sich fremd: Sie gehört zu jenen Intellektuellen, die ihre jugoslawische Identität nicht einfach gegen nationalstaatlichen Patriotismus austauschen können. ‡...™ 1993 hat U. Kroatien den Rücken gekehrt, ihre Stellung an der Universität aufgegeben. Sie lebt 1994 eine Zeitlang auf Einladung des DAAD in Berlin, dann wieder in Amsterdam, wo sie eine Gastdozentur erhält. 25 In der 1995 zuerst in niederländischer Sprache erschienenen Essay- und Glossensammlung Die Kultur der Lüge 26 - »die antipolitischen Essays« war der Untertitel der ersten kroatischen Ausgabe (1996) -, las man von Ugre{i}s »Reaktion 21 Rezension von Martin Krumholz, Neue Zürcher Zeitung, 5. 9. 2002. 22 Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Berlin - München - Wien 1975, S. 2553: »Moräne« ist »Gesteinschutt, der von Gletscherablagerungen stammt«; ebenda, S. 1105: Eine »Endmoräne« ist eine „locker aufgeschichtete, von Gletschern mitgeführte und bei deren Abschmelzen am Eisrand abgelagerte Schuttmasse«. 23 Zit. Anm. 3, Rehder, Ugre{i}, S. 543. 24 Vgl. ebenda. 25 Ebenda, S. 543-544. 26 In diesem Beitrag wird aus zwei Ausgaben zitiert: Dubravka Ugre{i}: Kultura la`i. Antipoliti~ki eseji, Zagreb 2 1999. - in der Folge als: (KLh, Seitenangabe) - und zit. Anm. 15, Ugre{i}, Kultur der Lüge = KLd. Anmerkung: Die niederländische und die deutsche Ausgabe des Buches erschienen 1995, die erste kroatische Ausgabe 1996. BH 10 Book.indb 272 22.8.2008 22: 10: 34 Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft 273 auf den Zerfall Jugoslawiens, auf den unseligen Krieg in Kroatien wie in Bosnien«. 27 Die einen bewunderten die „Essays von äußerster Schärfe, die mit Ironie, Sarkasmus, Satire anprangern - und analysieren -, was in Ex-Jugoslawien geschieht: Aggression gegen die eigenen ’Brüder’«. 28 Sie priesen Ugre{i}s »kämpferischen Protest«, mit dem sie »unverblümt, zornig, sarkastisch ‡...™ auf den kroatischen und serbischen Nationalfaschismus ‡zeigte™, auf Propagandalügen, ‡...™ den geistigen Verrat ihrer Schriftstellerkollegen, Geschichtsklitterung und kollektive Amnesie«. 29 Die Andersdenkenden sahen in ihrem Verlassen Kroatiens und der Kriegsregion (1993), in ihrer inzwischen erfolgreichen publizistischen und schriftstellerischen Tätigkeit im Ausland - und nachdem auch Die Kultur der Lüge (zuerst) im Ausland veröffentlicht wurde - nochmals eine Landesverräterin, Denunziantin und »Hexe«, wovon in den kroatischen Zeitungen und einigen Literaturzeitschriften ausgiebig berichtet wurde, während die Autorin in den Medien von Neuem einer Hetz-Jagd ausgesetzt war. 30 Das auf den Seiten der Kultur der Lüge sich zu Wort meldende Ich ist ein lebendiges und schreiendes, ein ironisch-sarkastisches und emotional tief verletztes, melancholisches Ich, in dem sich Dubravka Ugre{i}s reale Position als kroatische Universitätsdozentin, Schriftstellerin und die Bewohnerin Zagrebs nach 1990 erkennen lässt. Dieses autobiografische Ich, das sich zum selbstbestimmten Exil verurteilt hat, lehnt sich - in den größtenteils zwischen 1991 und 1994 geschriebenen Essays - in der grausamen Kriegszeit gegen die Kultur des Todes, gegen das unbestrafte Verbrechen und den Hass auf, die sie in der medialen Hasssprache, aber auch unter ihren (ehemaligen) Nachbarn, Bekannten, Freunden oder Kollegen aufspürt, weil: In Kriegszeiten drängen neben der Kultur des Todes Formen des parallelen Lebens wie holographische Grimassen unaufhaltsam an die Oberfläche. ‡...™ Zeiten großer Wahrheiten sind gewöhnlich von der allgegenwärtigen Kultur der Lüge tief durchdrungen. Die kleinen Völker auf dem Balkan haben offenbar schon vor langem ihre Kultur der Lüge geschaffen und eingemeindet, und sie pflegen sie weiter. ‡...™ Die Lüge ist eine Form unseres Patriotismus und eine Bestätigung unserer angeborenen Intelligenz. (KLd, 104; Kursiv im Text) 31 27 Aus dem Klappentext in der deutschen Ausgabe des Buches, s. Anm. 15. 28 Ebenda. 29 Zit. Anm. 3, Rehder, Ugre{i}, S. 544. 30 Vgl. dazu Karlheinz Rossbacher: Heimat und Fremde bei Dubravka Ugre{i}, Zagreber Germanistische Beiträge, Zagreb, Beiheft 9/ 2006, S. 275-287, hier S. 276, 279; Svjetlan Lacko Viduli}: Sonderposten im jugoslawischen Erinnerungskrieg. Zur Exil-Prosa von Dubravka Ugre{i}, S. 1-6, hier S. 5. In: http: / / www. kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ Svidulic3.pdf (15.10.2007); vgl. auch den Klappentext der hier zitierten 2. Auflage des Buches auf Kroatisch mit den Kritiken zum Buch und über die Autorin selbst. - Vgl. dazu das Kapitel Der Volksfeind/ Sekvenca prva - Narodni neprijatelj, in: KLd, 144-148 bzw. KLh, 125-128; vgl. Slobodan Prosperov Novak: Dubravka Ugre{i} - majstor knji`evne parodije. In: Povijest hrvatske knji`evnosti. Bd. 4. Suvremena knji`evna republika, Split 2004, S. 105-109, hier S. 108. 31 Vgl. KLh, Zitat im Kursiv: Worte des serbischen Schriftstellers und des jugoslawischen Präsidenten Dobrica ]osi}. S. 82-83. BH 10 Book.indb 273 22.8.2008 22: 10: 34 274 Slavija Kabi} »Nur« die kleine ahnungslose Zigeunerin - eine zur steten Wanderschaft Verdammte - lügt nicht, wenn sie in einem Restaurant in Antwerpen, von der Ich-Erzählerin nach der Herkunft gefragt, als Antwort hartnäckig ihre Wahrheit über die Heimat wiederholt, die von einer parallelen Lebensform und von dem Zwang zeugt, sich an einer Identität festklammern zu müssen, auch wenn sie für sie sinnlos (geworden) ist: Woher bist du, fragte ich. Ich bin Jugoslawin, Zigeunerin, antwortete die Kleine. Jugoslawien gibt es nicht mehr, sagte ich. Du mußt doch irgendwoher sein, vielleicht aus Mazedonien? Ich bin Jugoslawin, Zigeunerin, beharrte die Kleine. Die über Europa verstreuten jugoslawischen Zigeuner sind heute offenbar die letzten Jugoslawen, und die übrigen Ex-Jugoslawen wurden inzwischen zu Obdachlosen, Exilanten, Flüchtlingen, Heimatlosen, Ausgestoßenen, neuen Nomaden, mit einem Wort - Zigeunern. (KLd, 18) 32 Zu diesen »übrigen Ex-Jugoslawen« zählt die Ich-Erzählerin auch sich selbst, sie ist »eine Post-Jugoslawin, eine Zigeunerin« (KLd, 18), die der zerfallenen jugoslawischen Welt nachtrauert, sodass ihre Umgebung ihr oft vorwirft, sie »sei ein Jugo-Nostalgiker, ein Jugo-Zombie. Sie irren sich, sie wissen gar nicht, wie sehr. Denn Nostalgie schließt Erinnern ein, aber ich habe ja alles vergessen. Eher stimmt wohl das mit dem Jugo-Zombie. Das Alte habe ich vergessen, das Neue nicht gelernt.« (KLd, 157; Kursiv im Text) 33 Nicht nur in dem als Kultur der Lüge überschriebenen Unterkapitel, dem ein Zitat aus Milan Kunderas Buch vom Lachen und Vergessen (KLd, 103) vorangestellt ist, ruft die Autorin in traurig-melancholisch, gelegentlich humorvoll klingenden Geschichten das kollektive Gedächtnis der Völker und nationalen Minderheiten des ehemaligen Jugoslawien ins Leben. Den Verlust dieses geistigkulturellen multinationalen Erinnerungsgutes, das in »diesen furchtbaren Kriegszeiten« (KLd, 103) von den »Erbauern des neuen Staates, den neuen Herren des Vergessens« (KLd, 158) verdrängt, verleugnet oder verboten war, diese Früchte der kollektiven (Zwangs-)Amnesie - aus heutiger Sicht sonderbare Totgeburten - setzt die Schriftstellerin mit dem Heimatverlust gleich. Auch in der harmlosen »Quiz-Frage« der Erzählerin an ihren Hausmeister verbirgt sich ein Stück (vergessener und verdrängter) kollektiver Erinnerung und der heutige Leser, der mit solchem Wissen aufgewachsen war, weiß z. B. dass der Name des Tieres, eines Schäferhundes, in den historischen Grund- und Mittelschullehrbüchern stand und man ihn in der Prüfung wissen sollte. Da auch das Erwähnen von bzw. die Erinnerung an den (jugoslawischen) Volksbefreiungskampf im Zweiten Weltkrieg verdrängt wurde, zögert die Sprecherin eine Weile, bevor sie das Wort sagt: »Jura«, frage ich meinen Klempner, nachdem ich aus meiner permanenten Amnesie erwacht bin, »wie hieß noch Titos Hund, der ihm im ... Volksbefreiungskampf das Leben gerettet hat? « - »Marx! « kommt es wie auf den Knopfdruck. Und plötzlich 32 Vgl. KLh, 19. 33 Vgl. KLh, 134. BH 10 Book.indb 274 22.8.2008 22: 10: 34 Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft 275 geht es mir besser. Nicht weil mir an Tito und seinem Hund gelegen war, überhaupt nicht. Der Hund hieß nämlich Lux! (KLd, 158) 34 Am Ende der 2. kroatischen Ausgabe steht das Kapitel Recycle Bin »für diejenigen Leser, denen die Stellungnahme der Autorin, auch nachdem sie das Buch gelesen haben, nicht klar ist« (KLh, 289), sodass sie einige Begriffe noch einmal erklärt. 35 Ihre in diesen faktualen Kurztexten luzid zusammengefasste Exil- und Heimaterfahrung wird in jedem von ihnen ironisch pointiert, so auch in dem Stichwort Domoljublje (Vaterlandsliebe/ Heimatliebe), als die Autorin beteuert, sie habe keine Liebe für die Heimat bzw. für das Vaterland, da »Heimat« (= »domovina«; Anführungszeichen im Text, S. K.) Synonym für den Staat ist und ihr die »Heimat« nach Laune derjenigen von oben genommen oder gegeben wird. Deswegen empfindet sie jede aufgezwungene Liebe, auch jene für die Heimat als eine tief perverse (KLh, 290). 36 In ihren nächsten zwei Romanen befindet sich das weibliche, stark autobiografisch gefärbte, exilierte Ich weit von seiner Heimat, auf der Suche nach seinen Wurzeln und der verlorenen Heimat. 1997 erschien Ugre{i}s Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, 37 zuerst auf Holländisch (1997) und mit fünfjähriger Verspätung (2002) in kroatischer Sprache. 38 Darin beschreibt sie die Topographie ihrer Flucht (München - Lissabon - New York - Berlin) und webt einen Teppich der Erinnerung. 39 Die Autorin widmet das Werk ihrer Mutter Veta Ugre{i} (»Mojoj majci, Veti Ugre{i}« - die Widmung steht nicht in deutscher Übersetzung), einer Bulgarin, also einer Fremden, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verlassen hat, um in Kroatien/ Jugoslawien mit dem geliebten Mann ein gemeinsames Leben anzufangen. 40 Mit dem Roman hat Ugre{i} ein Denkmal einer unübersehbaren Armee von Exilanten im letzten Jahrhundert errichtet und die Jüngsten, aus den Balkanländern Stammenden, zu einem Sammelpunkt gebracht: in das heute vereinigte Berlin, in das historische Museum der bedingungslosen Kapitulation, einen Ort, in dem der NS-Staat 1945 kapituliert hat, in einen Teil Berlins (Ost-Berlin), das es offiziell nicht mehr gibt, wenn die Ich-Erzählerin neue Fremde um sich versammelt sieht und eine Begegnung zwischen dem Osten und dem Westen vor dem Hintergrund der Kriege 34 Vgl. KLh, 134. 35 KLh, 289-294. Diese Begriffe sind: Heimat/ Vaterland (domovina), Identität (identitet), Vaterlandsliebe/ Heimatliebe (domoljublje), Nationalismus (nacionalizam), Faschismus (fa{izam), Kommunismus (komunizam), Nationalgeschichte (nacionalna povijest), Sprache (jezik), Der Schriftsteller eines Volkes (pisac jednog naroda), Das Volk eines Schriftstellers (narod jednog pisca), Exil (egzil) und Die Hexe (vje{tica). 36 Vgl. Anm. 30, Rossbacher, Heimat und Fremde, S. 278. 37 Dubravka Ugre{i}: Das Museum der bedingungslosen Kapitulation. Roman. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak, Frankfurt/ Main 2000. - In der Folge als: (Md, Seitenangabe). 38 Dubravka Ugre{i}: Muzej bezuvjetne predaje, Zagreb - Beograd 2002. - In der Folge als: (Mh, Seitenangabe). 39 Der Klappentext in deutscher Buchausgabe: Rezension von Iris Radisch, Die Zeit. 40 Vgl. Teofil Pan~i}: Fircanje Teksta (i Sveta). In: Ders.: Famoznih 400 kilometara. Eseji i kritike iz bescarinske zone, Zagreb 2007, S. 45-48. Pan~i} hebt besonders die Teile des Buches hervor, die über die Mutter der Schriftstellerin erzählen wie auch über ihr Verhältnis zu der Tochter, die Exkurse über die Einsamkeit - nicht nur jene der Exilanten - und über die Liebe, die »kälter als der Tod« (Fassbinder) ist. BH 10 Book.indb 275 22.8.2008 22: 10: 34 276 Slavija Kabi} auf dem Balkan schildert. Im Roman, so Slobodan P. Novak, erzählt Ugre{i} ihr eigenes Schicksal, aber auch die Schicksale anderer Emigranten-Intellektuellen im zeitgenössischen Europa. In sechs Kapiteln, die die moderne Entwurzelung dieser Menschen thematisieren, stellt sich die Autorin eine obsessive Frage, auf die sie eine Antwort im Exil zu finden meint. Diese Frage ist sogleich der Titel des letzten Kapitels: Wo bin ich? 41 Novak hält aber den Romananfang, in dem beschrieben wird, was im Magen des See-Elefanten Roland im Berliner Zoologischen Garten gefunden wurde, der acht Tage nach der Errichtung der Berliner Mauer, am 21. August 1961 verendet war, für »brillant«. 42 Die ausgestellten Gegenstände zeugen von der Banalität der Fragmente, die nach dem Untergang aller Ideologien bleiben und die, letztendlich, nur eine Sammlung von Banalitäten sind, 43 wie auch die entwurzelten Menschen in der fremden Stadt sich selbst für »tot«, für »Museumsstücke« erklären: Berlin ist eine museale Stadt. ‡...™ In den Berliner Bussen sieht man die ältesten Frauen der Welt. Sie sterben nicht, weil sie schon einmal gestorben sind. »Wir alle sind hier Museumsstücke«, sagt Zoran. 44 Im Jahre 2004, dreizehn Jahre nach Kriegsbeginn im ehemaligen Jugoslawien, erschien Ugre{i}s Roman Ministarstvo boli zuerst auf Kroatisch, 45 ein Jahr später folgte die deutsche Ausgabe unter dem Titel Das Ministerium der Schmerzen. 46 »Alles in diesem Roman ist frei erfunden: die Erzählerin, ihre Geschichte, die Situation, die Personen. Sogar der Ort der Handlung, Amsterdam, ist nicht allzu realistisch. D. U.« (MS, 5) - schreibt die Autorin am Romananfang, aber auch in diesem aus Fakten und Fiktionen gewobenen Text lässt sich ihre Biografie und ihre Exilerfahrung erkennen. Die Ich-Erzählerin Tanja Luci}, eine junge Literaturlehrerin, verlässt ihre Heimat und wird an der Amsterdamer Universität als Dozentin für serbokroatische (servo-kroatisch) Literatur angestellt. Ihre Ausgangssituation ist die einer heimat- und sprachlos Gewordenen: »Hier, wo ich mich, vom Holländischen umgeben, auf Englisch verständige, erlebe ich meine Muttersprache häufig als fremd.« (MS, 12) Mit ihren Studenten, die aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien stammen, wagt sie ein »jugonostalgisches« Experiment: Gemeinsam mit ihnen (Igor, Mario, Boban, Uro{, Laki, Ana, Meliha, Darko, Ante, Nevena) »sammelt« sie Erinnerungen an den jugoslawischen Alltag, an Kindheit, Sprache, Elternhaus, Schule, Lektüre, Tanzunterricht, Ferienerlebnisse, Einkaufs- und Schmuggelreisen nach Triest. Sie, die infolge des Krieges 41 Zit. Anm. 30, Novak, Ugre{i}, S. 109. Novak führt als Titel des letzten Kapitels die Worte »Tko sam ja? « (»Wer bin ich? «), was falsch ist. Der Titel im 7. Kapitel lautet sowohl in der deutschen (Md, 275: Wo bin ich? ) als auch in der kroatischen Ausgabe (Mh, 279: Wo bin ich? ) gleich und ist auf Deutsch geschrieben. 42 Ebenda. 43 Ebenda. 44 Dubravka Ugre{i}: Das Ministerium der Schmerzen. Roman. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak und Mirjana und Klaus Wittmann, Berlin 2007, S 277. - In der Folge als: (MS, Seitenangabe). Vgl. auch: Dubravka Ugre{i}: Ministarstvo boli, Zagreb 2004, S. 281. - In der Folge als: (MB, Seitenangabe). 45 Zit. Anm. 44, Ugre{i}, Ministarstvo. 46 Zit. Anm. 44, Ugre{i}, Ministerium. BH 10 Book.indb 276 22.8.2008 22: 10: 34 Das Ministerium der Schmerzen in der Endmoränenlandschaft 277 verbannt und vertrieben wurden, werden in der Fremde zu sonderbaren, ex-territorialen Versuchskaninchen verwandelt, die ihre einstige glückliche Vergangenheit durch Geschichte, Gespräch und Aufsatz in ihrer Muttersprache (BKS: Bosnisch-Kroatisch-Serbisch) rekonstruieren sollen, aber auch ihre dunklen Geheimnisse preisgeben werden. Tanja will sie dazu bringen, eine mühsame Trauer- und Erinnerungsarbeit zu leisten, damit sie sich, paradoxerweise, von der Last der jüngsten Vergangenheit befreien und womöglich ihre neuen Biografien erfinden. 47 Mit dieser Suche nach dem Verlorenen und durch den Krieg Getöteten knüpft dieses Werk an den Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation an. Im Ministerium der Schmerzen müssen die Studenten ihre kaputten jungen Leben wieder rekapitulieren, nach dem verlorenen Madelaine-Kuchen suchen (süße Erinnerung an die Zeit des Glückes sind im Roman die Bajaderen-Pralinen) und noch einmal müssen sie vor der Erkenntnis kapitulieren, dass sich durch das schriftliche und mündliche Bekenntnis-Verfahren wenig geändert hat; dass nichts geändert werden kann; dass die psychotherapeutischen Übungen ihrer Professorin wenige Früchte geerntet haben. Die Erinnerungen werden von den Studenten oft ironisiert, banalisiert, parodiert. Gordana Crnkovi} stellt fest, dass manche wichtige Themen im Roman fast unberücksichtigt geblieben sind wie beispielsweise das Missverständnis zwischen der Person, die denkt und das Denken nötig hat (die Lehrerin Tanja Luci}) und ihrer Studenten, die absolute Pragmatiker sind, die es leicht haben wollen und ihre Lehrerin am Ende auch verraten. 48 So kann ein »Duell« zwischen der Lehrerin und den Studenten kein anderes Ende haben als dieses: »Entschuldigen Sie, drugarica, aber ich scheiß auf eine Sprache, in der es heißt, ‚mein Kind schläft wie abgeschlachtet‘. In allen anderen Sprachen schlafen die Kinder ’wie Engelchen’ ...« »Darum ist auch der Krieg ausgebrochen ...« »Wie meinen Sie das? « »Einer, dessen Kind wie abgeschlachtet schläft, greift schnell zum Messer! « (MS, 95) Der Romantitel ist zweideutig: Das Ministerium der Schmerzen ist eine sadomasochistische (S/ M-)Ladenkette, die mit ihren Accessoires ihren Klienten sexuellen Genuss bietet (für diese Kette jobben die Romanhelden von Zeit zu Zeit), aber das eigentliche Ministerium der Schmerzen ist die kafkaeske staatliche Instanz, die ihre ’Klienten’/ Untertanen der Sprache, der Heimat, des Lebens beraubt hat. Am schmerzlichsten liest man am Romanende eine Auflistung von etwa hundert sprichwörtlichen Verwünschungen - als melancholisches Ab- 47 Vgl.: »Ich habe Dutzende solcher Geschichten gehört. Der Krieg war für viele ein Verlust, aber auch ein guter Grund, das alte Leben abzuschütteln und ein neues anzufangen. Der Krieg hat wirklich das Leben der Menschen verändert. Selbst Irrenhaus, Gefängnis und Gerichtsaaal wurden zu normalen Varianten.« (MS, 15) 48 Gordana Crnkovi}: Dubravka Ugre{i}. Nikog nema doma, Feral Tribune, 3. 2. 2006, S. 36. BH 10 Book.indb 277 22.8.2008 22: 10: 34 278 Slavija Kabi} schiednehmen von der BKS-Sprache (durch Mazedonisch ergänzt) und einer sehr ähnlichen ’Weltanschauung’, als Erinnerung an das ’Gemeingut’ der Völker im ehemaligen Jugoslawien: Proklet da si i ovoga i onoga sveta. - Verdammt sollst du sein im Diesseits und im Jenseits. Belog dana da ne vidi{. - Nie mehr sollst du den hellen Tag sehen. Aj da bi volcite te izele na nekoja raskrsnica. - Sollen dich die Wölfe auf einer Wegkreuzung zerfleischen. (MB, 303; MS, 284) Folgende Verwünschung ist allen Völkern im ehemaligen Jugoslawien gemeinsam, es handelt sich nur um dialektale Unterschiede: Sjeme ti se zatrlo. Sime ti se zatrlo. Seme ti se zatrlo. - Deine Lenden sollen verdorren. (MB, 303; MS, 284) Dem mazedonischen Sprichwortgut gehören folgende zwei Verwünschungen an, mit denen der »sprichwörtliche« Teil von Das Ministerium der Schmerzen schließt und eine dunkle Botschaft in die Welt sendet. Tuginata da ti bide mila. - Die Fremde soll dein Heim sein. (306; 286) Tam koski da ostavi{ ... - Dort sollen deine Knochen vermodern ... (306; 286) Symbolik steckt vermutlich auch im letzten Satz. Die Ich-Erzählerin schreibt ihre Geschichte in den Niederlanden, im Staat, wo sich auch das Haager Tribunal befindet, das sie auch besucht hat. Aber: »Die Horizontalen der holländischen Landschaft sind wie ein gutes altes Löschpapier. Sie saugen alles auf ...« (MS, 286) BH 10 Book.indb 278 22.8.2008 22: 10: 34 I VANA P ERICA (Z AGREB ) Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift Dubravka Ugre{i}s Museum der bedingungslosen Kapitulation 1. Musealisierung der Erinnerung Zurückgezogen in ihr vereinsamtes Reich des Wortes hat Dubravka Ugre{i} den Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation 1 geschrieben, der mit dem essayistischen Werk der Autorin thematisch und motivisch eng verbunden ist. Im Unterschied zur früheren Prosa, die eindeutig apolitisch war, hat sie in ihren in den Neunzigern entstandenen Werken das Private mit dem Öffentlichen, das Persönliche mit dem Politischen dermaßen verflochten, dass ihre Veröffentlichungen noch immer Diskussionen auslösen. Ugre{i} hat nämlich den Versuch einer persönlichen Geschichtsschreibung unternommen, die sich den öffentlichen Staatsdiskursen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien entgegen stellte. Da der vorliegende Aufsatz weder angreifen noch rechtfertigen will, wird hier lediglich versucht, den Erinnerungsmechanismen und -praktiken objektiv auf den Grund zu gehen. Dies bezieht sich auf die Geschichtsperspektive des Romans und auf die Deutung des Romans als eines Knotenpunkts der kroatischen und deutschen, aber auch der russischen Literatur. Ausgehend davon, dass bereits der Romantitel auf eine bestimmte historische Stätte und Institution, ein »Museum« hinweist (das heutige Deutsch-Russische Museum), sollten hier die Probleme der Erinnerung im Zusammenhang mit ihren topographischen Bedingungen untersucht werden bzw. in Bezug auf die in Berlin vorfindbaren »Exponate« der Vergangenheit, die den Mechanismus der Erinnerung in Gang setzen, beleuchtet werden. Deshalb wird hier von einer Topologie im Sinne von Poetologie ausgegangen, die dem Raum entwächst und mit ihm eng verbunden ist. In ihrem Buch über Ingeborg Bachmann bestimmt Sigrid Weigel die Topographie als die Signaturen der Orte, ‡...™ die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen. Dabei kann die Vergangenheit in der Gegenwart in Orten nur dann zur Darstellung kommen, wenn diese als Gedächtnisschauplätze, über die Einschreibung von Dauerspuren, zur Schrift geworden sind. Das kann sich auf konkrete Landschaften, Gebäude, Räume und geographische Orte beziehen ebenso wie auf mythische und literarische Schauplätze. 2 1 Dubravka Ugre{i}: Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Frankfurt am Main 1998. 2 Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, München 2003, S. 352. BH 10 Book.indb 279 22.8.2008 22: 10: 34 280 Ivana Perica Das heikle Verhältnis zwischen Fiktion und Faktion ist seit eh und je eines der Grundprobleme der Literatur, und im Genre der Autobiographie, die über das Persönliche hinaus auch historisch beglaubigt zu sein versucht, scheint dieses Verhältnis noch komplexer zu sein. Das Problem der selektiven und daher konstruierenden Erinnerung wird nämlich zum Hauptthema des Romans. Bei der Beschäftigung mit der autobiographischen Prosa Ugre{i}s ist es einleuchtend, die Unterscheidung zwischen Gedächtnis (ars) und Erinnerung (vis) einzuführen, die Aleida Assmann im Buch Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses 3 ausgearbeitet hat. Die persönliche und subjektive Erinnerung kommt nämlich dem absoluten und objektiven Gedächtnis entgegen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich bekanntlich ein Wandel zu Gunsten der Erinnerung vollzogen. Das neu durchgesetzte Paradigma, das das Marginale/ Parergonale/ Abseitsstehende in der Gesellschaft aufgewertet hat (also das Fragmentarische gegenüber dem Einheitlichen und Vollständigen, das Uneindeutige gegenüber dem Klaren, die Verlogenheit gegenüber der unhinterfragbaren Wahrheit, das Individuelle gegenüber dem Kollektiven und das Zerstreute gegenüber dem Konzentrierten), hat auch in das Museum Eingang gefunden. Mit anderen Worten, die tief greifenden Veränderungen in Philosophie, Kunst und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts haben auch die moderne Auffassung des Museums beeinflusst. Während einerseits die Exponate in der postmodernen Zeit durch das vermarktete und massenhafte Stürmen in die Museen unsichtbar und der Kunstgenuss oberflächlich geworden sind, 4 lässt sich andererseits eine Verlegung der Ausstellungsformen jenseits der üblichen Museumsgebäude und Institutionen konstatieren. Bei Ugre{i} wird das Museum in die Privatsphäre verlegt und in anscheinend marginale Ausstellungsformen umgewandelt: in die persönlichen Erinnerungsbruchstücke, in den Fluxus, die Müllkunst (im Roman tritt z. B. Müllkünstler Ilja Kabakow auf) oder auf den Flohmarkt. 5 Die Musealisierung der Erinnerung des erzählenden Ich findet zur Zeit des großen staatlichen Wandels statt, d. h. zur Zeit der blutigen Auflösung Jugoslawiens, und in den Jahren unmittelbar danach. Ugre{i} befindet sich noch heute 3 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. 4 »The planned obsolescence of consumer society found its counterpoint in a relentless museummania. The museum’s role as site of an elitist conservation, a bastion of tradition and high culture gave way to the museum as mass medium, as a site of spectacular mise-en-scène and operatic exuberance.« Andreas Huyssen: Escape From Amnesia. In: Ders.: Twilight Memories. Marking time in a culture of amnesia, New York - London 1995, S. 13-35, hier S. 14. 5 In Kultur der Lüge (Frankfurt a. M. 1995) zitiert Ugre{i} Andreas Huyssen: »Indeed, a museal sensibility seems to be occupying ever larger chunks of everyday culture and experience. If you think of the historicizing restoration of old urban centers, whole museum villages and landscapes, the boom of flea markets, retro fashions, and nostalgia waves, the obsessive self-musealization per video recorder, memoir writing and confessional literature, and if you add to that the electronic totalization of the world on data banks, then the museum can indeed no longer be described as a single institution with stable and well-drawn boundaries. The museum in this broad amorphous sense has become a key paradigm of contemporary cultural activities.« (Zit. Anm. 4, Huyssen, Escape, S. 14) BH 10 Book.indb 280 22.8.2008 22: 10: 34 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 281 in einem, wie sie es betont, freiwilligen Exil 6 und ihr literarisches Subjekt empfindet die Umbruchszeit nicht als Wende, sondern als Ende. 7 Von dieser Position aus erscheint die Auflösung Jugoslawiens als ein Rückfall in die Entropie: Der Rückgriff nach den Kindheitserinnerungen wäre demnach ein Versuch der Zusammensetzung des gespaltenen Ich, ein Aufstand gegen die voranschreitende »Ent-Ichung«. 8 So wie Rilkes Malte Laurids Brigge versucht, mittels eines Rückgriffs auf die Kindheitserinnerungen sich selbst zusammenzufassen und somit die Auflösung des eigenen Ich aufzuheben, muss auch Ugre{i} einen Versuch der persönlichen Geschichtsschreibung unternehmen und zugleich ein stabiles, homogenes historisches Ich hinzudichten. Denn die »GESCHICHTE ist hysterisch: sie nimmt erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet - und um sie zu betrachten, muß man davon ausgeschlossen sein«. 9 2. Topographie Berlins Die Trauer, so wie sie Freud definiert, »ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.« 10 Aber bei manchen Personen entfaltet sich diese Trauer als eine Melancholie, die Freud bekanntermaßen als eine »krankhafte Disposition« 11 bestimmt und nach dem topographischen Modell ihren Ursprung in der Verdichtung des Traumas und seiner Verschiebung auf ein anderes Objekt findet. In dem Roman ist demnach das zersplitterte Jugoslawien als Besetzungsobjekt des erfahrenden Ich zu deuten: Den Verlust nicht überwunden zu haben, internalisierte es die Auflösung des Landes. Das Ich ist in Bruchstücke zerfallen und folglich sein Text in Fragmente. In einem ihrer Essays deutet Ugre{i} die Nostalgie psychoanalytisch-topographisch. Das, was die Nostalgie anstachelt, sei genauso kompliziert wie die Topographie unseres Gedächtnisses: Das, was die Nostalgie anstachelt, dieser Stich eines unklaren Empfindens, ist gleich so kompliziert wie die Topographie unseres Gedächtnisses. Eben wie die 6 »Exil« ist bei Ugre{i} allerdings eine ziemlich fragwürdige Kategorie, wenn man berücksichtigt, dass die Autorin freiwillig ins Ausland gegangen ist. »Emigration« wäre eine passendere Bezeichnung, aber da die Autorin auf dem »Exil« besteht, wird es hier beibehalten. 7 Dieses Sprachspiel stammt auch von Huyssen: »What for some became the long desired Wende, turned for others into an often apocalyptic fascination with das Ende ‡...™« (Andreas Huyssen: Memories of Utopia. In: Ders.: Twilight Memories. Marking time in a culture of amnesia, New York - London 1995, S. 85-101, hier S. 87). 8 »‡...™ but the very thesis of disintegration of self, of Ent-ichung, actually presupposes a stable self, a structured ego, a personality in the sense of bourgeois culture and ego psychology that could then show symptoms of disintegration under the impact of the experience of the modern city« (Andreas Huyssen: Paris/ Childhood. The Fragmented Body in Rilke’s Notebooks of Malte Laurids Brigge. In: Ders.: Twilight Memories. Marking time in a culture of amnesia, New York - London 1995, S. 105-126, hier S. 108). 9 Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1985, S. 75. 10 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewussten. Hg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt a. M. 1975, S. 197. 11 Ebenda. BH 10 Book.indb 281 22.8.2008 22: 10: 34 282 Ivana Perica Mechanismen des Traums, wo die onirische Berührung mit einem unbedeutenden und harmlosen Gegenstand eine durchaus ungünstige Emotion hervorrufen kann, so sind auch die Mechanismen der Nostalgie unvorhersehbar und schwer lesbar. Die Nostalgie unterliegt keiner Kontrolle, sie ist eine subversive Energie unseres Gehirns. Die Nostalgie arbeitet mit Fragmenten, Gerüchen, Berührungen, Klängen, Melodien, Farben, ihr Gebiet ist Abwesenheit, sie ist ein kapriziöser Korrektor des sich adaptierenden Gedächtnisses. 12 Über das psychoanalytische Verständnis des Topographie-Begriffs hinaus kann man diesen auch auf das ortsverbundene Gedächtnis anwenden. Ein solches Verständnis findet man bereits in Ciceros berühmtem Satz „Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt“. Cicero hat nämlich Topographie als ein mnemotechnisches Mittel zur erleichterten Einprägung der Inhalte verwendet. Bei ihm wie bei seinem mnemotechnischen Vorgänger Simonides, der bekanntlich die starke Abhängigkeit der Erinnerung bzw. des Wortes vom Bilde hervorgehoben hatte, bemerkt man leicht die Bedingtheit des Gedächtnisses (der psychischen Vorgänge) durch seine räumliche Basis. 13 Bei Ingeborg Bachmann stellt Berlin 14 »denjenigen Schauplatz dar, auf dem das Subjekt auf den historischen Prätext der eigenen Krankheitsbilder zu stoßen vermag - sofern es die Symptome zu entziffern versteht«. 15 Für Bachmanns Werk ist die sog. topographische Poetologie kennzeichnend. Sie kommt insbesondere in den Erzählungen Drei Wege zum See und Sterben für Berlin zum Ausdruck, in zahlreichen Gedichten (z. B. Böhmen liegt am Meer), weiterhin in Bachmanns Berlin-Essay Ein Ort für Zufälle, aber auch in Malina, wo die Ungargasse symbolisch zu einer körpereigenen Koordinate aufgeladen wird. Diese Symptome weiß auch Ugre{i} zu entziffern, wenn sie den Spuren der ehemaligen Exilanten nachgeht, und wenn sie gleichzeitig eine Exilantentopographie aufstellt: Mit den anderen Exilanten teilt sie den unheimlichen Raum der funktionalen Äquivalenz. Sie alle sind nämlich Exponate in einem neuartigen, sich ewig verändernden und mäandrierenden Museum der unbedingten Kapitulation vor den eigenen Erinnerungen: »Berlin ist eine museale Stadt. In den Berliner Bussen sieht man die ältesten Frauen der Welt. Sie sterben nicht, weil sie schon einmal gestorben sind. ’Wir sind alle hier Museumsstücke’, sagt Zoran.« 16 Die traumatische Erfahrung der Vergangenheit, die in Berlin erneut durchlebt und re-komponiert (collagiert) wird, versucht das erlebende (erfahrende) bzw. erzählende Ich 17 mit der schriftstellerischen Tätigkeit zu bewältigen, indem es 12 Dubravka Ugre{i}: Kultura la`i, Zagreb 1996 ‡dt. Kultur der Lüge, Frankfurt a. M. 1995™, S. 288 (Meine Übersetzung, da dieses Zitat in der deutschen Ausgabe nicht vorhanden ist, I.P.). 13 Vgl. Anm. 3, Assmann, Erinnerungsräume, S. 298. 14 Bachmanns Berlin-Aufenthalt dauerte von April 1963 bis Ende 1965. 15 Zit. Anm. 2, Weigel, Bachmann, S. 376. 16 Zit. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 277. 17 Die Unterscheidung dazwischen erläutert Vladimir Biti in: Ders.: Doba svjedo~enja - tvorba identiteta u suvremenoj hrvatskoj prozi ‡Zeit des Zeugens - Identitätsbildung in der gegenwärtigen kroatischen Prosa™, Zagreb 2005, S. 27-29, hier 29. Biti weist auf die Notwendigkeit hin, das klassische Erzählmodell Franz Stanzels nach der Distinktion Walter Benjamins umzuformulieren: Ausgehend von der grundlegenden BH 10 Book.indb 282 22.8.2008 22: 10: 34 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 283 die Stadt als das Bild der eigenen Krankheit liest. So wie für Bachmann die Topographie Berlins als ein »Symptomkörper der deutschen Geschichte« 18 lesbar ist, vereint auch Ugre{i} das geschichtliche Gedächtnis, das aus diesem »historischen Symptomschauplatz« 19 hervorquillt, mit dem auseinander gefallenen Bild Jugoslawiens, das ihr Roman-Ich als die eigene Krankheit und Müdigkeit 20 in sich aufgenommen hat: Ich bin in Berlin, gejagt von zwei Alpträumen, auf die ich die Fäden meines Lebens wickele wie auf große Spulen. Der eine heißt HEIMAT, die ich nicht mehr habe, und der andere MAUER, die in meinem verlorenen Vaterland in die Höhe wächst. In Berlin steige ich oft auf unsichtbare Beobachtungstürme und drohe mit der Faust gen Süden. In Alpträumen baue ich ein Haus, das immer wieder einstürzt. Ich habe auch die Fibel von Christa/ Janek bei mir. Das Deutsche geht mir nicht von der Hand. In meinem zeitweiligen Berliner Domizil wiege ich mich oft mit dem Satz Gute Nacht... in den Schlaf. Ich flüstere auch die Fortsetzung mit den Engeln. Das ist alles. Was ich bisher kann. 21 So wie die menschliche Psyche vielschichtig und undarstellbar ist, ermöglicht auch Ugre{i}s Berlin keine einfache Darstellungsperspektive. Das Bild dieser Stadt ist uneinheitlich, unbeständig, und wie die Lithographie Relativität 22 (1953) von M. C. Escher kommt es eher einem Labyrinth als einem Stadtplan nahe. Ugre{i}s topographisches Okular bildet einen Irrgarten von persönlichen Knoten in geschichtlichen Verflechtungen: Die Dinge in Berlin gehen die verschiedensten Beziehungen ein. Berlin ist ein See- Elefant, der zu viele unverdauliche Gegenstände geschluckt hat. Darum muß man vorsichtig durch die Straßen gehen. Gedankenlos tritt der Passant auf jemandes Dach, auf jemandes Grab. Der Asphalt ist nur ein dünnes Häutchen über mensch- Unterscheidung zwischen Erlebnis und Erfahrung (Benjamin) soll das erlebende Ich in das erfahrende Ich umbenannt werden. Denn das Erlebnis bezeichnet ein vollkommenes Erliegen dem Trauma, wobei die Erfahrung schon eine Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Trauma einbezieht. Im Zustand des Erlebens könne man nicht erzählen, während aus der Position der Erfahrung das Erzählen schon möglich sei, da die Episode, d. h. das, was wiedergegeben werden will, schon abgeschlossen sei. Diese Unterscheidung erleichtert einigermaßen das narratologische Bild des Museums. Hier werden zwei erzählte Zeiten miteinander verwoben: Auf die Zeit der Kindheit und des Lebens im ehemaligen Heimatland (erzählte Zeit’) wird aus der Position der Emigration zurückgegriffen, über die auch berichtet wird (erzählte Zeit’’). Während die erzählte Zeit’ in sich schon abgeschlossen ist (retrospektive Romanteile, die weiter Mamas Tagebuch umfassen, das eine weitere Erzählebene öffnet), deckt sich die erzählte Zeit’’ mit der erzählenden Zeit (Introspektion des erzählenden Ich während seines Berlin-Aufenthaltes). Was über den Alltag in Berlin berichtet wird, ist tagebuchartig und fragmentarisch verfasst. Die Fragmentiertheit des Ich ist an seiner Schreibweise erkennbar. Im Unterschied zu kleinen Geschichten, die sich mit vergangenen Ereignissen beschäftigen oder auseinandersetzen, und die chronologisch (aber auch mit vielen Elementen der Phantastik) aufgebaut sind, sind die Eindrücke von Berlin hauptsächlich andeutungsweise, d. h. ohne Möglichkeit eines Überblicks wiedergegeben. Es wird in Fragmenten erzählt, das Subjekt fühlt sich verloren. So kann man schlussfolgern, dass sich das erzählende Ich in Berlin noch im Zustand des Erlebnisses befindet. 18 Zit. Anm. 2, Weigel, Bachmann, S. 381. 19 Ebenda, S. 378. 20 Vgl. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 9-20 (Kap. Ich bin müde). 21 Ebenda, S. 181. 22 Douglas R. Hofstadter: Gödel - Escher - Bach, München 1991, S. 107. BH 10 Book.indb 283 22.8.2008 22: 10: 35 284 Ivana Perica lichen Gebeinen. Gelbe Sterne, schwarze Hakenkreuze, rote Hämmer und Sicheln knacken unter den Füßen des empfindsameren Spaziergängers wie Maikäfer. 23 Berlin ist eine Mutantenstadt. Es hat sein westliches und sein östliches Gesicht: Manchmal offenbart sich das westliche im östlichen und das östliche im westlichen Berlin. Auf dem Gesicht Berlins überlagern sich die holographischen Bilder anderer Städte. 24 Doch ist es schwer, Berlin zu beschreiben, notierte Viktor Schklowski. »Weil es in Berlin mehr Dinge gibt, die es nicht gibt, als solche, die es gibt«, sagt Bojana. »Weil Berlin ein non-place ist«, sagt Richard. 25 Insofern entpuppt sich Berlin als ein topographisches Medium der Erinnerung in zweifacher Bedeutung: Die Stadt ist ein Pfad zum Nachholen der historisch dislozierten Orte (die - so wie sie einst waren - auf den Karten der aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen Staaten nicht mehr zu finden sind), aber auch ein Medium, das das in der Stadt bereits lokalisierte Gedächtnis (deutsche Vergangenheit) hervorkommen lässt. 26 Berlin als Symbol der deutschen Teilungsgeschichte wird also mit der Teilungssymbolik des aufgelösten Landes angereichert. Anders als New York und Amsterdam wird Berlin zum Symbol und Konvergenzpunkt unterschiedlichster Exilgeschichten, wobei das Bild des Exilanten als des Außenseiters zu einem abstrakten Bild des Intellektuellen bzw. des Künstlers gesteigert wird: »Obwohl sie statistisch und als Zeugen nicht ins Gewicht fallen, sind Schriftsteller (Maler, Musiker, Filmkünstler u. a.) Migranten, die auf der kulturellen Weltkarte ihre Fingerabdrücke hinterlassen.« 27 In Berlin, diesem »einzigartigen Erinnerungsdepot«, 28 schlendert also Ugre{i}s zurückschauendes Subjekt umher und enthüllt sich als die postmoderne Variante des modernen Flâneurs, dessen beliebter Spazierraum nach Paris eben das moderne Berlin gewesen ist. 3. Die Schwellenkundige Im Unterschied zu Paris, wo seit Baudelaire der Flâneur im Sinne von Dandy eine besondere literarisch-gesellschaftliche Funktion verkörperte, blieb der Flâneur wegen der typischen Berliner Berufshetze und sogar wegen der unpassenden Architektur in Berlin 29 lange der auffällig Andere und daher stigmati- 23 Zit. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 207. 24 Ebenda, S. 138. 25 Ebenda, S. 277. 26 Vgl. Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen genetivus objectivus (Gedächtnis an die Orte) und genetivus subjectivus (das in den Orten selbst lokalisierte Gedächtnis), die sie als zwei suggestive Deutungsmöglichkeiten des Syntagmas »das Gedächtnis der Orte« sieht. In: Zit. Anm. 3, Assmann, Erinnerungsräume, S. 298. 27 Dubravka Ugre{i}: Lesen verboten, Frankfurt a. M. 2002, S. 127. 28 Bogdan Bogdanovi}: Die Stadt und der Tod. Zit. nach: zit. Anm. 3, Assmann, Erinnerungsräume, S. 334. 29 »Leute, die nur zu ihrem Vergnügen leben, wie dies in Paris und in Wien so vielfach der Fall ist oder war, fehlen in Berlin fast vollständig.« Eugen Szatmari: Was nicht in Baedecker steht. Zit. nach: Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg 1999, S. 296. Dieser Tatbestand wird sich später ändern, wenn Franz Hessel und Walter Benjamin als legitimierte Flâneurs auftreten. BH 10 Book.indb 284 22.8.2008 22: 10: 35 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 285 siert. 30 Er war zumindest verdächtig, denn er hielt sich am Rande der vorwärts treibenden bürgerlichen Gesellschaft, beobachtete sie mit seinem analytischen Blick und fand darin ästhetischen Genuss. Wenn man Ugre{i}s Berlin mit dem modernen Berlin um 1900 vergleicht, nimmt man als tertium comparationis nicht mehr die Teilungsgeschichte dieser Stadt, sondern jene literarischen und topographischen Veränderungen, die mit der fortgeschrittenen Modernisierung eingetreten sind. Es handelt sich um ein künstlerisch-gesellschaftliches Paradigma, das im modernen Berlin begründet wurde. In seiner Berliner Chronik, so Sigrid Weigel, ersetzt Walter Benjamin eine archäologische Darstellung der Geschichte durch ein Labyrinth-Bild. Ein »genealogisches Bild, das an herkunftsbezogene Darstellungen erinnert« wird in »ein Modell von Gedächtnisspuren, von Bahnungen und ihren Verflechtungen« verschoben. »Damit wird die ’Berliner Chronik’ noch einmal als derjenige Text lesbar, in dem die Spuren der Umwandlung von einem räumlich-topographischen in einen schrift-topographischen Gedächtnis-Schauplatz am deutlichsten zu erkennen sind.« 31 Am besten lässt sich diesbezüglich eine Analogie zwischen dem modernen Flâneur und der postmodernen Emigrantin über Walter Benjamins Auffassung des Schwellenkundigen herstellen, denn der Schwellenkundige ist nicht nur der Flanierende, Umherirrende - er ist einer, der verbotene, verborgene Schwellen überschreitet und die kausal ausgerichtete Zeitstruktur untergräbt: Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wieder flutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen ’Sinn’ kein Spalt mehr übrigblieb. 32 Die Schwelle bedeutet bei Benjamin Vielfältiges: Beginnend mit jener Schwelle aus der Berliner Chronik, die die Grenze zum Raum der Prostituierten markierte und die den Jungen Benjamin im wohlbehüteten, vertrauten Raum der Familie bewahrte, befindet sich die Schwelle auch auf der Grenze zwischen der Gegenwart des erinnernden modernen Subjekts und seiner Vergangenheit und führt wiederum in die Kindheit (das ist die Schreibposition des Autors der Berliner Chronik). In diesem Zusammenhang bedeutet die sog. Schwellenkunde die epochenmäßige Auseinandersetzung mit der vergangenen Zeit des achtzehnten Jahrhunderts und lässt die betont historische Ausrichtung der Moderne bzw. ihr historisches Bewusstsein durchblicken. Benjamins Interesse gilt also der Ver- 30 Vgl. Anm. 29, Neumeyer, Flaneur, S. 144-210 (Kap. Berlin um 1900 - Erschwerte Flanerie), hier S. 153. 31 Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a. M. 1997, S. 47. 32 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: W. B. Gesammelte Schriften II/ 1. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, S. 295-310, hier S. 296. BH 10 Book.indb 285 22.8.2008 22: 10: 35 286 Ivana Perica gangenheit, die auf einem neuen, alternativen Weg nachzuholen ist: Sein Berlin ist nämlich eine mit Spuren der Geschichte aufgeladene Stadt. Der Spur-Begriff versteht sich dabei als ein gewisser Widerpart des viel verheißenden Aura-Begriffs. Nimmt man die Aura für die »einmalige Erscheinung einer Ferne« 33 - so nah das sein mag, was sie hervorruft - hieße die Spur das Gegenteil davon: »Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ.« 34 Obwohl er behauptet, dass das Bewusstsein ein Schauplatz der aufgequollenen Erinnerungen sei, bzw. dass das Gedächtnis »das Medium des Erlebten ‡ist™ wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen«, 35 wird das Erinnern als ein aktiver Prozess gedeutet. Weigel behauptet, dass der Unterschied zwischen Aura im Sinne von »von ihr bemächtigt werden« und Spur im Sinne von »der Sache habhaft werden«, nicht als ein eindeutiger Gegensatz von Passivität und Aktivität beschrieben werden könne, aber der Vorgang des Habhaftwerdens, der sich auf die Spur bezieht, erfordere eine gewisse Anstrengung - »die Anstrengung um Lesbarkeit«. 36 Die Suche nach den Spuren der Geschichte bezieht nämlich mehr als eine Suche nach der auratischen Vergangenheit des Individuums mit ein. Verfolgt man die Spuren, dann ist man »der Seele weniger als den Dingen auf der Spur«, 37 d. h. man geht aus der persönlichen Sphäre in die Sphäre der kollektiven Geschichte der kleinen, banalen Dinge über. Hier vollzieht sich also der erwähnte Wandel in Benjamins historischer Auffassung: Tritt in Benjamins »Urgeschichte der Moderne« die Entzifferung der Dinge, der Produkte einer kollektiven bzw. historischen Herstellung, an die Stelle der Traumdeutung, der Entzifferung der individuellen Bilderschrift des Traums, dann transformiert er das Verfahren der Psychoanalyse in die Kulturgeschichte. 38 Diese Überführung einer genealogischen und archäologischen Geschichtsdeutung in ein Geschichtsverständnis, das auf psychoanalytischen Prämissen der Spuren beruht, ist von großer Bedeutung auch für die Analyse des Romandiskurses. Einerseits ist die Aura ein Leitmotiv des Romans, wenngleich in ihrer postmodernen, verkitschten und ironisierten Variante. Die Vergangenheit bemächtigt sich der Erzählerstimme und quillt hervor. Ein längeres Zitat kann das Wirken der Aura veranschaulichen: Auf meinem Schreibtisch steht das vergilbte Foto dreier badenden Frauen. Ich weiß nicht viel über das Foto, nur, daß es zu Beginn des Jahrhunderts am Flüßchen Pakra aufgenommen wurde, in der Nähe des Ortes, wo ich geboren bin und meine Kindheit verbrachte. 33 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1963, S. 18. 34 Zit. Anm. 31, Weigel, Ähnlichkeit, S. 42. 35 Walter Benjamin: Berliner Chronik. In: W. B. Gesammelte Schriften VI. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1985, S. 465-519, hier S. 486. 36 Ebenda. 37 Zit. Anm. 31, Weigel, Ähnlichkeit, S. 42. 38 Ebenda. BH 10 Book.indb 286 22.8.2008 22: 10: 35 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 287 Dieses Foto trage ich immer mit mir herum wie eine Reliquie, deren wahre Bedeutung ich nicht kenne. Die gelbliche Oberfläche zieht meine Aufmerksamkeit magisch an. Manchmal starre ich darauf und denke an nichts. Manchmal vertiefe ich mich in die Gesichter der drei badenden Frauen, die mir entgegenblicken, als könnte ich ein Geheimnis entdecken, einen Riß, einen verborgenen Durchgang, durch den ich in einen anderen Raum gleiten könnte. Ich vergleiche die Haltung ihrer Arme: bei allen sind sie gebogen wie Flügel. Der Wasserspiegel offenbart, was die Badeanzüge zu verbergen versuchen: das Abbild einer entblößten Brust. In der rechten Ecke drei Flaschenkürbisse: ein altmodischer Schwimmgürtel. Die Frauen stehen bis zur Taille im Wasser. Um sie schwebt ein träumerischer Dunst voller gedämpften Lichts. Sie scheinen auf etwas zu warten. Aus irgendeinem Grund bin ich sicher, daß sie nicht auf das Klicken eines Fotoapparats warten. 39 Das Museum der bedingungslosen Kapitulation ist von einer Photographie umrahmt, die drei der Erzählerin unbekannte Frauen in einem Fluss in der Nähe ihrer Heimatstadt abbildet. Die Aura der Unwissenheit wohnt diesem Photo inne, und es ist zugleich das einzige Dokument, das der Erzählerin von ihrem Heimatort übrig geblieben ist. Andererseits durchwühlt das erzählende Ich die eigenen Erinnerungen (z. B. dokumentarische, tagebuchartige Notizen ihrer Mama) und beschwört den Schrecken der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies als einen Gegensatz zur idyllischen Vorzeit seiner Kindheit und den universitären beruflichen Erfahrungen herauf. Die Suche nach den Spuren entpuppt sich als die Suche nach einer Heimat, die es nicht mehr gibt, und diese Suche bewirkt eine literarische Stundung des Vergangenen und performative Belebung des toten Körpers in seinen metonymischen, entfernten Gliedern, in Vexierbildern der Stadt mit einer (ähnlichen? ) Spaltungsgeschichte. Der Erzählmodus des Romans besteht also nicht nur im zwangsläufigen Verfallen der Aura, sondern auch in einer aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Einzelne Romanteile sind beispielsweise in der Form des Schlüsselromans verfasst. Wenn man den Roman nach dem Interpretationsschüssel dieses Spur-Begriffs liest, dann wird Das Museum eine Art Zeugenschrift. Die Kategorie des Auf-der-Spur-Seins, die der Psychoanalyse entnommen wurde, wird auf das Gebiet der persönlichen kulturellen Geschichtsschreibung übertragen - so sehr die Bezeichnungen »persönlich« und »kulturell« auch inkompatibel sind. Man darf natürlich nicht vergessen, dass dieser Roman und vielmehr die »antipolitischen« Essays der Autorin auch eine politische Stellungnahme bedeuteten und die Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur durchbrochen, problematisiert und de-kon-struiert haben. Wenngleich das emigrierte weibliche Ich dieses Romans mit dem modernen Flâneur nicht leicht auf den gemeinsamen Nenner gebracht werden kann, wurde oben ein Versuch unternommen, über den/ die Schwellenkundige(n) auf die Analogie zwischen beiden Positionen 40 hinzuweisen, und hiernach sollen diese 39 Zit. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 218. 40 Gemeint ist natürlich die Position des Flâneurs/ der Emigrantin/ der Exilierten im Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Umgebung. BH 10 Book.indb 287 22.8.2008 22: 10: 35 288 Ivana Perica Positionen in Bezug auf die zwischen Moderne und Postmoderne aufgetretenen Gesellschaftsveränderungen untersucht werden. Wenn Harald Neumeyer Flanieren als »ein vom Zufall bestimmtes Gehen« 41 bestimmt, diese Tätigkeit aber keinesfalls als „intentionslos“ deutet, dann versteht er unter dem Flâneur ausschließlich einen Mann. Seine (und nicht ihre) Flânerie ereignet sich in einem offenen Raum und ist von einer Schaulust geprägt, die - wie oben ausgeführt - die heimlichen Schwellen der Stadt überschreitet. Neumeyers Blickpunkt richtet sich ausschließlich auf (selbstständige! ) männliche Vertreter dessen, was man die Kultur der Moderne nennt, und umfasst die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zwischenkriegszeit. Wie Neumeyer zeigt, war damals zielloses Herumirren, Analysieren der Passanten und Überschreiten der Schwellen nur dem Mann zugänglich. Das Tun und Treiben der Frau bezog sich ausnahmslos auf ihr Heim und ihren Herd, während jegliches Aufhalten auf der Straße, dem keine Zweckrationalität (Einkauf, Spaziergang mit Kindern, Begleitung eines Mannes) zu entnehmen war - verdächtig war. Im Freiraum der Straße war der Mann also Flâneur und die Frau Prostituierte. Deshalb lehnen manche Wissenschaftler die Möglichkeit der Existenz einer modernen Flâneuse ab - in der damaligen Ordnung der Diskurse konnte eine weibliche Person eine solche Stellung nie einnehmen. 42 Eine interessante Analyse des postmodernen Wandels in Bezug auf die Besetzungsmöglichkeiten unterschiedlicher Posten einer Stadt bietet Chris Jenks: 43 Der männliche Blick hat die Kulturerzeugnisse und die Tradition der Modernität geprägt. Indem er die weibliche Perspektive ausgeschlossen hat, hat er die Frauen systematisch beiseite geschoben, was man an der geschlechtlichen Ungleichheit der Beobachtungspraxis symbolisch verfolgen kann. Die Frauen betrachten nicht, sie werden betrachtet. 44 Die Auffassungen, welche Eigenschaften des Flâneurs als typisch anzusehen sind, änderten sich von Zeit zu Zeit und von Theoretiker zu Theoretiker. Jenks betont, dass selbst der Begriff Flâneur manchmal zum gleitenden Signifikanten wird. Der Flâneur gehört nicht ausschließlich der Moderne, und es wäre fehl am Platz, ihn kurzerhand als einen Geck mit zu viel Freizeit zu verstehen. 45 Es handelt sich nicht um eine essentialistisch und materialistisch verstandene konkrete Wahrheit oder um ein gesellschaftliches Phänomen. Beim Flâneur handelt es sich um eine alternative Vision, und zwar um eine etwas optimistischere als die Auffassung, die auf einer Gleichung von Macht und Wissen beruht. Der 41 Vgl. Anm. 29, Neumeyer, Flaneur, S. 11. 42 Den Hinweis auf die Flâneuse und auf die unten angeführte Literatur verdanke ich Andrea Zlatar. Einen interessanten und aufschlussreichen Aufsatz über die Topographie in Werken von Da{a Drndi} findet man in ihrem Buch: Tekst, tijelo, trauma - ogledi o suvremenoj `enskoj knji`evnosti ‡Text, Leib, Trauma - Aufsätze zur gegenwärtigen Frauenliteratur™, Zagreb 2004. 43 Chris Jenks: Gledajte kamo hodate. Povijest i djelatnost flâneura. In: Ders. (Hg.): Vizualna kultura, Zagreb 2002 ‡Originalausgabe: Visual Culture, London 1995™, S. 203-228, hier S. 214. 44 Ebenda (meine Übersetzung). 45 Ebenda, S. 212. BH 10 Book.indb 288 22.8.2008 22: 10: 35 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 289 Flâneur stellt nämlich eine Alternative dar, die zur Zeit des Aufkommens des Warenhauses der immer stärker werdenden Beschleunigung der Gesellschaft entgegenstand. Er war derjenige, der nicht mitmachte. In seiner postmodernen Variante aber, erläutert Jenks, musste der Flâneur seine Außenseiterposition aufgeben und sich der Masse anschließen. Der Schock des Warenhauses und des Simulacrum ist vorbei: Jetzt gilt es, kritisch an die produzierten Dinge heranzugehen und die Produkte, Repliken und Simulakren kritisch zu überprüfen. Die Rettung des Flâneurs sieht Jenks also nicht mehr in der Negation, sondern in einer reflektierten Aufnahme und in der wachsamen Ironie. Er macht seine Bemerkungen in Bezug auf die postmoderne konsumeristische Gesellschaft. Diesen Gesellschaftsaspekt findet man bei Ugre{i} in ihrer Aufnahme trivialer Produkte und Symbole. In Berlin betrachtet sich die Erzählerin wie in einer Schneekugel. Wenn sie auf ihre Mama zurückblickt, sieht sie sie wieder unter einer Glasglocke, in der Schneekugel: Ich betrachte Mama in der Kugel, und mir scheint, als wären sie alle ihr wahres Wesen, als wäre sie mit ihnen, mit Tess, Maureen, Carrie, Ava, Anna, Emma, Bette real und unwirklich zugleich. ‡...™ Ich drehe die Kugel um, und plötzlich tut mir Mama leid, die so klein und eingesperrt ist, sie muß schrecklich einsam sein und frieren... Ich nehme die Kugel in die Hand wie einen Apfel, hebe sie an den Mund und wärme sie mit meinem Atem. Mama verschwindet im Nebel. 46 Die Schneekugel ist beispielsweise eine Erfindung der postmodernen Massenproduktion, aber eigentlich ist dieses Fetischprodukt eine Aufnahme und Aufarbeitung der modernen Engelsymbolik. Die auratischen modernen Engel (in der Glaskugel, auf der Straße, auf der Photographie mit drei unbekannten Schwimmerinnen, in Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin usw.) und ihre herabgesetzte postmoderne Variante - Hühner, befinden sich in einem Zwischenraum. Hühner haben Flügel, können aber nicht fliegen. Ihr Flug ist immer zum Scheitern verurteilt: - Nicht baumeln, fliegen! Du bist ein Engel! ... - Ich kann nicht fliegen mit den Dingern! ... - Ist mit Flügeln einfacher als ohne. - Aber nicht mit diesen Hühnerfedern! - Qu’est-ce qu’elle a dit là? - Ces ailes de poulet, je crois que ça la gene. - Courage, imagine que tu es une colombe! 47 Die Kunst - »eine Tätigkeit, die mit der Überwindung der Schwerkraft zu tun hat, aber nicht mit dem Fliegen« 48 - ist jener Zwischenraum, jene Schwelle, auf der Ugre{i}s herumirrendes Subjekt inne hält. Es tritt in die verbotene Sphäre, in 46 Zit. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 116. 47 Wim Wenders u. Peter Handke: Der Himmel über Berlin. Ein Filmbuch von Wim Wenders und Peter Handke, Frankfurt a. M. 1987, S. 94. 48 Zit. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 116. BH 10 Book.indb 289 22.8.2008 22: 10: 35 290 Ivana Perica der seine Hybris vorlaut wird. In diesem Moment bemächtigt sich die Frau der Außenseiterposition, ihr Blick wird analytisch und ihr Diskurs essayistisch. Es handelt sich offensichtlich um eine Stellung, die ihr nicht ohne Widersprüche gebilligt werden kann. Wird der moderne Flâneur hier zur postmodernen Flâneuse? Auf die Frage, wie man diese Stellung endgültig nennen könnte, wird noch im letzten Teil dieses Aufsatzes kurz eingegangen. 4. Montage als zitiertes Verfahren Mit den einführenden Worten wurde auf Ugre{i}s Herabsetzung des modernen Museums als einer repräsentativen Institution und auf ihre Aufwertung der persönlichen Geschichte hingewiesen. Auf ähnliche Art und Weise, wie die Autorin mit dem Museum, der Stadt und der groß geschriebenen Geschichte umgeht, wird im Museum der bedingungslosen Kapitulation auch die Photographie in meine Photographie umgewandelt. Es ist nicht mehr die offenbare und unwiderlegbare Wahrheit, die sich dem Betrachter aufzwingt, sondern es ist der Blick des Betrachters (spectators) 49 selbst, der im Augenblick des Anschauens der Photographie seine persönliche Wahrheit erschafft. Die Photographie ist somit nicht das Medium, das wiedergibt, es ist vielmehr das Medium, das dem photographierten Objekt etwas stiehlt. Das noematische Wesen der Photographie wird, so wie es Barthes in der Hellen Kammer entwirft, untergraben, indem die Photographie (im Sinne von »es-ist-so-gewesen«) in meine Photographie umgewandelt wird. Im Unterschied zum studium, das ernstes Beschäftigen mit dem Stoff voraussetzt, ist das punctum einfach ein Detail - oder »das, was mich besticht«. Was Barthes als eine individuelle Beobachtungsweise der Details an der Photographie aufwertet (punctum vs. studium), wird bei Ugre{i} zu einer ganzen Lesart der Welt (der Geschichte, der Literatur, des Romans): 50 Bevor ich hierher kam, verbrachte ich ein paar Tage in einem Haus an der Adriaküste. ‡...™ Im Meer sah ich drei nicht mehr junge Schwimmerinnen. Sie hielten sich dicht am Ufer in einem kleinen Kreis, als säßen sie an einem runden Kaffeetisch. ‡...™ Mit ausgebreiteten Armen patschten sie ins Wasser, jetzt glichen ihre Stimmen dem Krächzen von Vögeln, als wetteiferten sie in der Lautstärke, und auch der Regen wurde immer verrückter, kräftiger und wärmer. Zwischen Balkon und Meer erhob sich ein nebliger, nasser, salziger Vorhang. Er sog mit einem Mal alle Geräusche auf, und in einer blitzenden Stille sah man das majestätische Flattern dreier Flügelpaare. 49 »Der spectator, das sind wir alle, die wir in den Zeitungen, Büchern, Alben und Archiven Photos durchsehen. Und was photographiert wird, ist Zielscheibe, Referent, eine Art kleines Götzenbild, vom Gegenstand abgesondertes eidolon, das ich das spectrum der PHOTOGRAPHIE nennen möchte, weil dieses Wort durch seine Wurzel eine Beziehung zum ’Spektakel’ bewahrt und ihm überdies den etwas unheimlichen Beigeschmack gibt, der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr des Toten.« (Zit. Anm. 9, Barthes, Kammer, S. 17) 50 Ebenda, S. 52. BH 10 Book.indb 290 22.8.2008 22: 10: 35 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 291 Mit einem inneren ’Klick’ knipste ich dieses Bild, obwohl ich nicht weiß, warum. 51 Im Museum der bedingungslosen Kapitulation vergleicht die Erzählerin die Mechanismen ihrer Erinnerung und Empfindung mit der Funktionsweise eines Photoapparats: Das Foto reduziert die unendliche und unbeherrschbare Welt auf ein Viereck. Das Foto ist unser Maß der Welt. Das Foto ist auch Erinnerung. Das Gedächtnis reduziert die Welt auf Vierecke. Das Ordnen der Vierecke in einem Album ist Autobiographie. 52 Als ich 1986 über die Dielenbretter eines finsteren, staubigen Dachbodens in das helle Atelier des Moskauer Malers Ilja Kabakow gelangte, machte ich innerlich einen Knicks. 53 In meinem inneren Album existiert aus Gründen, die nur das launische Gedächtnis kennt, das Bild von Frau Bina, der Italienerin (Sie sind Italiener, sagte Mama, und mir war nicht klar, was das bedeutete). 54 Ausgehend also von einer »Symmetrie zwischen Photo und Erinnerung« 55 kann man sagen, dass sich die sog. punctuale Poetik der Photographie 56 auf den Roman im Ganzen erstreckt. Das Punctum heißt eigentlich ein Detail, oder das, was von vornherein dazu bestimmt ist, dem Ganzen einen Sinn zu verleihen: »Offenbar ist die ganze Geschichte durch ein Detail bestimmt ‡...™«. Die punctuale Poetik folgt also dem Prinzip »Gott im Detail«. Die Einverleibung einer Photographie in den Erzählkörper des Romans ist allerdings ein zitiertes Verfahren: Ugre{i} übernimmt diese Montagetechnik von den Avantgardisten, Dadaisten und Surrealisten. In der russischen Literatur nach 1917 wurde z. B. die Montage als Merkmal eines neuen Stils eingeführt und zur Herabsetzung der traditionellen Hierarchie der Literaturgenres verwendet. So ist man »aus der Epoche der Novelle und des Romans ‡...™ zur Epoche der Kurzgeschichte und der Monographie« 57 gekommen. Die Literatur entwickelte sich »jenseits der Literatur«. 58 Man kombinierte Autorentext mit Zeitungsausschnitten, Photographien u. a. Die Montagetechnik zieht sich außerdem durch das ganze literarische Werk Ugre{i}s hindurch: Wie sie das schon in ihrer frühen Prosa gemacht hatte (Poza za prozu, 1978 - Pose für die Prosa; Forsiranje romana-reke, 1988 - Der goldene Finger), komponiert sie auch im Museum der bedingungslosen Kapitulation verschiedene Genres und Motivik unterschiedlichster Provenienz. Neben der 51 Zit. Anm. 1, Ugre{i}, Museum, S. 15. 52 Ebenda, S. 42. 53 Ebenda, S. 49. 54 Ebenda, S. 99. 55 Ebenda, S. 107. 56 Ebenda, S. 272. 57 Aleksandar Flaker und Dubravka Ugre{i} (Hg.): Pojmovnik ruske avangarde, Zagreb 1984, S. 87 (meine Übersetzung). 58 Ebenda. BH 10 Book.indb 291 22.8.2008 22: 10: 35 292 Ivana Perica angesprochenen Kombination von Literaturtexten und Texten anderer Medien bindet Ugre{i} zahlreiche Zitatarten in ihr literarisches Geflecht ein, von Genre- und Stilzitaten über eine autoreflexive Metatextualität und Autozitaten bis zu Faktozitaten. 59 Dadurch, dass die Autorin viele Zitate anbringt, aber auch alludierte isomediale Referenzen herstellt, gestaltet sich der analysierte Roman als »ein großes literarisches Thema voller Zitate«. 60 Diese Schreibtechnik ergebe sich aus dem eigentlichen Thema des Exils, denn das Exil ist zugleich »Stil und Erzählstrategie. Ein gebrochenes Leben kann nämlich nur in Fragmenten erzählt werden (Rilke), und ’einzelne Genres und Stile können im Exil nicht praktiziert werden’.« 61 Die Außenseiterposition kann Ugre{i} keinesfalls abgesprochen werden. Wie oben angedeutet, ist es aber fraglich, inwieweit Ugre{i}s Außenseiterposition tatsächlich als Exil gewertet werden kann. Ugre{i} weist selbst darauf hin, dass sie »weder Emigrant noch Flüchtling noch politischer Asylant« 62 sei. Obwohl sie es also bestreitet, eine Exilantin zu sein, ist ihre Literatur vom Exilthema durchsetzt. Die Autoren, die sie im Roman zitiert - V. [klovskij, J. Brodski, M. Kundera, D. Ki{, Gy. Konrád ... - hat sie sich als ihre Wahlverwandten ausgewählt, und mit ihnen ein alternatives postmodernes Museum aufgestellt. Ugre{i} und ihre Auserwählten sind Museumsstücke, die sich mit ihrer Geschichte funktional (d. h. in bestimmten Kontexten) ineinander fügen und miteinander nach Motivauswahl und Erfahrung 63 übereinstimmen. Inwieweit ihre Geschichte mit den Geschichten ihrer Auserwählten tatsächlich verwandt ist, d. h. inwieweit diese (Lebens- und Literatur-)Geschichten in der Tat zu demselben Korpus gehören, ist letztendlich unwichtig. Denn die Literatur vermittelt keine Wahrheiten, sie stilisiert sie nur. Diese Stilisierung als Exilantin, als »Migrantin, die auf der kulturellen Weltkarte ihre Fingerabdrücke hinterlassen« hat 64 kann ohne den Baudrillard’schen Rahmen der Simulakren nicht betrachtet werden, was keinesfalls den literarischen Wert des Romans beeinträchtigt. Ugre{i}s Selffashioning als Exilantin wäre vielmehr ein terminologischer Kniff, eine Larve, die man aufsetzt, um sich (jetzt im Bourdieu’schen Sinne) auf dem Büchermarkt durchzusetzen. Die essentialistische Frage, ob Ugre{i}s Roman-Ich und das schreibende Ich, das sich hinter ihren antipolitischen Essays verbirgt, nun eine Exilantin, Schriftstellerin oder auch Flâneuse wäre, musste oben demnach mit einer Analyse der Verbindungen mit ihren Wahlverwandten vervollständigt werden, damit ihre Position auf dem literarischen Feld, und nicht ausschließlich die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen berücksichtigt werde. Die Einordnungen, die nach der Formel »sie-ist-das-(ge- 59 Vgl. Dagmar Burkhart: Ludistische Texte. Zur postmodernen Intertextualität in Dubravka Ugre{i}’ »[tefica Cvek u raljama `ivota« und in »Forsiranje romana reke«. In: Diskurs der Schwelle. Aspekte der kroatischen Gegenwartsliteratur. Hg. v. Dagmar Burkhart und Vladimir Biti, Frankfurt a. M. 1996. 60 Zit. Anm. 27, Ugre{i}, Lesen, S. 128. 61 Ebenda. 62 Ebenda, S. 130. 63 Erfahrung wieder im Gegensatz zu Erlebnis. Vgl. Anm. 17. 64 Zit. Anm. 27, Ugre{i}, Lesen, S. 127. BH 10 Book.indb 292 22.8.2008 22: 10: 35 Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift 293 wesen)« 65 aufgestellt werden, muss man nämlich in Fragestellungen überführen, die den Praktiken nachgehen, die eine solche Erfahrungsgemeinschaft (wie die der Exilanten) überhaupt ermöglichen und aufrechterhalten: Welche Praktiken, literarische Kunstgriffe machen ein Subjekt zum Exilanten? Gibt es überhaupt einen Exilanten/ eine Exilantin an sich? Und wie können diese Praktiken von einem eventuellen Musterbeispiel des Exilanten abgetrennt, instrumentalisiert und subvertiert werden? Das schriftstellerische, literarische Selffashioning ist kein Argument, das Ugre{i} vorgeworfen werden könnte - denn sie hat auch diese Tatsache (d. h. die eigene Position in der neueren Literaturgeschichte und auf dem heutigen ‡West-™Markt) autoironisch, überheblich hinterfragt und somit jegliche Kritik von vornherein untergraben. 65 Vgl. Anm. 50. BH 10 Book.indb 293 22.8.2008 22: 10: 35