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Wie Kinder Sprachen lernen

2008
978-3-7720-5306-1
A. Francke Verlag 
Rosemarie Tracy

Offensichtlich ist Spracherwerb ein Kinderspiel! In einem Alter, in dem wir Kinder nicht unbeaufsichtigt eine Straße überqueren lassen würden, erschließen sie sich zielstrebig die Strukturen ihrer Erstsprachen. Wie wir mittlerweile wissen, gilt dies nicht nur für den Erwerb einer Sprache, denn Kinder können von Anfang an mit mehr als einer Sprache aufwachsen. Auch der frühe Erwerb einer zeitversetzt hinzutretenden Zweitsprache ist ohne Risiko für die Entwicklung des Kindes möglich. Diese Kompetenzen gilt es zu nutzen, vor allem auch für die frühe Zweitsprachförderung von Kindern aus Einwandererfamilien, denen ohne ausreichende Sprachkenntnisse Bildungs- und Berufschancen verwehrt bleiben. Dieses Buch bietet anhand vieler Beispiele einen verständlichen Überblick über den Spracherwerb und schildert die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Unterstützung frühkindlicher Mehrsprachigkeit. Verdeutlicht wird auch, welche sprachlichen Bereiche für Zweitsprachlerner problematisch bleiben, wenn angemessene Unterstützung fehlt. Der Text enthält eine Anleitung für die gezielte Beobachtung von Kindern und eine Fülle von Anregungen für die Förderung. Darüber hinaus weckt er Interesse an Sprache im Allgemeinen und fördert den Spaß an der eigenen Sprachkompetenz. "Das Buch bietet neben seiner gut verständlichen Information zum Spracherwerb zahlreiche Beispiele für eine erfolgreiche Unterstützung frühkindlicher Mehrsprachigkeit ... Rosemarie Tracy räumt auf mit Mythen und falschen oder längst überholten Wahrheiten zum kindlichen Sprachoder Mehrspracherwerb ... "Wie Kinder Sprachen lernen" ist ein Buch, das mit Leichtigkeit die meisten Lern- und Prüfungsmaterialien in der aktuellen Erzieherausbildung ersetzen könnte." Eva Hammes-Di Bernardo in Kita aktuell "Das ist überhaupt die herausragende Eigenheit dieses Buches, die es von anderen, vergleichbaren auf dem Markt abhebt: Tracy nimmt eine kompromisslos anwendungsbezogene Perspektive ein, selbst noch die Darstellung des Grammatikerwerbs im Deutschen - vielleicht die bislang gelungenste allgemeinverständliche Abhandlung dieses komplexen Themas - erweist sich, vom Ende des Buches her gelesen, als strikt zielführend ... Dieses Buch sei allen interessierten Laien, der von Tracy favorisierten Zielgruppe, wärmstens empfohlen." Prof. Dr. Jürgen Dittmann in den Freiburger Universitätsblättern

Rosemarie Tracy Wie Kinder Sprachen lernen Und wie wir sie dabei unterstützen können 2. Auflage Wie Kinder Sprachen lernen © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Rosemarie Tracy Wie Kinder Sprachen lernen Und wie wir sie dabei unterstützen können 2., überarbeitete Auflage © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Prof. Dr. Rosemarie Tracy ist Inhaberin des Lehrstuhls für Anglistische Linguistik an der Universität Mannheim. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Titelbild und rechtes Bild der Umschlagrückseite: Susanne Kühn, Projekt „Sprache macht stark! “ Linkes Bild der Umschlagrückseite: Joachim Werkmeister, Projekt „Sprache macht stark! “ Der Abdruck dieser Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Stadtverwaltung Ludwigshafen am Rhein. Bildnachweis Rick Jesse mit freundlicher Genehmigung von „Florida Today“ S. 39 Christine Schmidt/ P IXELIO S. 72 Christopher Tracy S. 19, 85, 132, 149, 168, 187, 202 Rosemarie Tracy S. 37 2., überarbeitete Auflage 2008 1. Auflage 2007 © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Fotosatz Hack, Dusslingen Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck: Gulde Druck, Tübingen Bindung: Nädele, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8306-8 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Kapitel 1 Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zur aktuellen Problemlage: Unterförderung ist Unterforderung . . . . . 4 Theorie muss sein! Sprachwissenschaftliche und spracherwerbstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Weitere Voraussetzungen: Nachdenken über eigene Einstellungen und eigenes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zielgruppe und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 2 Sprachwissenschaftliche Grundlagen: Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Was Sie in diesem Kapitel erwartet: Fachspracherwerb . . . . . . . . . . . 15 Wichtige Unterscheidungen und eine einfache Frage: Gibt es Sprache(n)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Intuitives sprachliches Wissen und was das Ganze mit dem Paketepacken zu tun hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Wortnetze im Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Sprache als Regelsystem: ein erster Selbstversuch . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Architektur deutscher Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Ein kurzer Blick über den Zaun: Sprachen im Vergleich . . . . . . . . . . . 42 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Kapitel 3 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Ein Gedankenexperiment zum Einstieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Mehrsprachigkeit im Kreuzfeuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. VI Inhalt Code-mixing als Fertigkeit oder: Wer die Sprachwahl hat, hat nicht die Qual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Vorteile und Nachteile der Mehrsprachigkeit: Ist diese Frage überhaupt von Belang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Zum Ausklang ein kleiner Vorgeschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Kapitel 4 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen. . . 64 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Spracherwerb zwischen Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Erwerbsaufgabe: Sätze aufräumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Turbulenzen: Übergangslösungen und individuelle Lernerstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Besonders clevere Übergangslösungen: Joker im Einsatz . . . . . . . . . . 91 Erwerbsaufgaben über den frühen Erwerb hinaus . . . . . . . . . . . . . . . 97 Spezifische Spracherwerbsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kapitel 5 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? . . . 102 Einstieg und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Kaum vergleichbare Ausgangslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter? . . . . . . . 113 Strategien der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ein Ausflug in die Theorie: Warum fasziniert uns der doppelte Erstspracherwerb? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Kapitel 6 Deutsch als Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Einstieg und ein nicht leichter Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Deutsch als frühe Zweitsprache oder: Schneller geht’s kaum! . . . . . . . 134 Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder mit Russisch, Türkisch und Arabisch als Erstsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Sprachen gehen zur Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Inhalt VII Kapitel 7 Alle in einem Boot? Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Also, wie lernen Kinder denn nun Sprachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Ist die Förderung der Sprachkompetenz im Deutschen Sache der Eltern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Warum ist eine frühe Unterstützung des Erwerbs der Zweitsprache besonders sinnvoll? 10 wichtige Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Standards der frühen Förderung: Warum Ganzheitlichkeit ein systematisches, regelmäßiges und intensives Sprachangebot nicht überflüssig machen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Sprachförderung und sprachliche Bildung beginnen im eigenen Kopf 164 Innenperspektive eines Förderprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Kapitel 8 Mit Kindern reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Eine kleine Zeitreise und ein Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . 169 Erinnerung an die vielen Ebenen bzw. Schichten des Sprachpakets . . 172 Ein großer Trost: Wir haben perfekte Verbündete! . . . . . . . . . . . . . . . 175 Kinder sind sehr kooperationsbereit, auch in der Sprachwahl . . . . . . 176 Dialoge mit Kindern: Hinhören und gut hinschauen . . . . . . . . . . . . . 178 Wenn der Input Irrtümer provoziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Kommunikation ist einfach und macht Spaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Vom Hinhören und miteinander Reden zur Förderung . . . . . . . . . . . 186 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Kapitel 9 Sprachförderung als Herausforderung für alle: Anregungen für die Umsetzung von Fördermaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 190 Von unserem intuitiven Wissen über Sprache zur systematischen und gezielten Förderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Wortschatzerwerb in der Zweitsprache: Schatzkarte nicht vergessen! 193 Allgemeine Anregungen zum Wortschatz und eine Erinnerung an Schnittstellen zu anderen Erwerbsaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Aufbau von Syntax und Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. VIII Inhalt Kapitel 10 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung. . . . . . . . . . . 203 A. Theoretische Grundlagen zur Ermittlung des sprachlichen Entwicklungsstands und Anregungen für die Förderung . . . . . . 203 B. Auswertungsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vorwort Dieses Buch ist das Ergebnis eines Experiments oder vielleicht sogar eine Art von Hochseilakt. Es ist der Versuch, eine Brücke zwischen Wissenschaft, insbesondere der Sprachwissenschaft, und dem pädagogischen Alltag und Auftrag von Bildungseinrichtungen zu schlagen. Davon, dass dies nicht nur möglich ist, sondern auch von den in der Praxis Tätigen gewünscht wird, haben mich im Laufe der letzten Jahre viele Menschen überzeugt, mit denen ich in Praxisprojekten zusammenarbeiten konnte oder mit denen ich bei Weiterbildungsveranstaltungen und Tagungen zusammentraf. Ich habe dieses Buch insbesondere für Leser und Leserinnen geschrieben, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Kinder und Jugendliche in unserem Bildungssystem vor allem deswegen scheitern, weil wir einiges noch nicht verstanden haben bzw. weil wir das, was wir bereits als sinnvoll erkannt haben, nur sehr zögerlich und halbherzig umsetzen. Dies liegt aber nicht nur an den Bedingungen im Alltag, z. B. an großen Klassen oder Kindergruppen in den Kitas und an der personellen Unterausstattung. Hinzu kommt, dass es auf vielen Ebenen des Bildungssystems am Wissen über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit sowie überhaupt an einer analytischen Auseinandersetzung mit Sprache fehlt. Dieses Buch soll dazu beitragen, diese Lücke allmählich zu füllen. Zur Beruhigung sei vorausgeschickt, dass ein analytischer Blick auf Sprache in hohem Maße unterhaltsam und spannend sein kann! Und wer erst einmal erkannt hat, dass viele vermeintliche „Fehler“ eines Lerners aus theoretischem Blickwinkel folgerichtig und sinnvoll erscheinen, wird vielleicht sogar nach einer stärkeren Dosis Theorie verlangen! Beim Verfassen dieses Buches habe ich nicht nur an erwachsene Leserinnen und Leser gedacht, denen die in diesem Text enthaltene Information helfen sollte, ihre eigene sprachliche Kompetenz bewusster bei der Sprachförderung oder auch im Sprachunterricht einzusetzen. Ich hatte vor allem die vielen Kinder im Blick, die wir seit Jahren dank des hohen Engagements unserer Studierenden (und unserer Sponsoren) fördern können; insbesondere denke ich an ein Kind, das ich nicht einmal persönlich kenne. Als eine unserer Studentinnen sich vor drei Jahren zu Beginn eines Projekts der Stiftung Mercator eine halbe Stunde mit einem 10-jährigen Mädchen an einen Tisch setzte und sich mit ihm unterhielt, sagte dieses Kind am Ende: „So lang hat noch nie jemand mit mir gesprochen.“ Damals waren wir allesamt erschüttert … und zunächst sprachlos. Kindern wie diesem möchte ich dieses Buch widmen. Über dieses ernste Anliegen hinaus hat es mir Spaß gemacht, mich einmal an einer ganz anderen Textsorte zu versuchen, als ich es mir in üblichen sprach- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. X Vorwort wissenschaftlichen Werken erlauben könnte. Ich konnte mir die Freiheit nehmen, manchmal durch direkte Ansprache meiner Leserinnen und Leser (Ja, ich meine SIE! ) ein echtes Gespräch zu simulieren. Sie werden auch sehen, dass ich nicht vor weit hergeholten oder provokativen Vergleichen zurückschrecke, wenn es darum geht, hartnäckige Mythen über Sprache und Mehrsprachigkeit zu entlarven. Falls Ihnen der eine oder andere Versuch einer humoristischen Einlage allzu abenteuerlich erscheint, bitte ich nur darum, dies nicht der sprachwissenschaftlichen Zunft insgesamt anzulasten. Ich habe den Text nur mit tatkräftiger Unterstützung von vielen Seiten fertig stellen können. Ira Gawlitzek-Maiwald, Dieter Thoma, Petra Schellenberger und Christiane Koch haben es mir ermöglicht, in den letzten Wochen manche administrative Aufgabe zu delegieren, und meine ExamenskandidatInnen haben es mir nachgesehen, dass die Klausurkorrektur nur langsam vorankam. Viele hilfreiche Anregungen und Verbesserungsvorschläge für das Buch kamen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Forschungs- und Kontaktstelle Mehrsprachigkeit und der Projekte LiSe-DaZ und „Sprache macht stark! “. Ich nenne hier stellvertretend nur diejenigen, die besonders „akut“ betroffen waren, nicht zuletzt deshalb, weil sie mir Verpflichtungen abgenommen haben, wie beispielsweise die Betreuung eines Praxisseminars oder die Teilnahme an diversen „Runden Tischen“: Vytautas Lemke, Maren Krempin, Kerstin Mehler, Tatjana Spaerke, Ramona Wenzel. Meinen Kolleginnen Elsa Lattey in Tübingen und Petra Schulz in Frankfurt danke ich für die stets gut gelaunte Bereitschaft, einzelne Kapitel zu lesen und zu kommentieren. Den Endspurt insgesamt und die Glossarerstellung hätte ich ohne das kritische Mitdenken und die akribische Einarbeitung von Änderungen von Andrea Scheinert und Doris Stolberg niemals geschafft. Christopher Tracy verdanke ich die Zeichnungen, die manchen Zusammenhang treffender ausdrücken als das, was ich in Worte kleiden konnte. Bei Susanne Kühn, Pädagogische Fachberatung im Projekt „Sprache macht stark! “, bedanke ich mich für einige der Photos auf dem Buchumschlag, deren Nutzung mir der Projektträger, die Stadt Ludwigshafen, gestattet hat. Schließlich gebührt mein Dank den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Verlags für die gute Zusammenarbeit und ihr außergewöhnliches Engagement, um das Unmögliche doch noch möglich zu machen; insbesondere danke ich Jürgen Freudl für seine hervorragenden Verbesserungsvorschläge und seine nimmermüden Verweise auf Lawrence of Arabia in der Betreffzeile seiner Mails: We have no time to lose! Mannheim, den 25. 9. 2007 Rosemarie Tracy © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vorwort zur zweiten Auflage Die Mitteilung des Verlags, dass die Erstausgabe meines Buches bereits knapp acht Monate nach ihrem Erscheinen vergriffen war, löste auf meiner Seite eine ganze Reihe unterschiedlicher Reaktionen aus. In erster Linie war da natürlich Freude über viele positive Rückmeldungen, die mich im Laufe dieses Jahres erreichten, und zwar sowohl von sprachwissenschaftlichen Laien als auch von FachkollegInnen. Dieses Feedback bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass es in der Tat möglich war, den im Vorwort der Erstausgabe als „Brückenschlag“ bzw. als „Gratwanderung“ zwischen Wissenschaft und Praxis bezeichneten Schritt zu vollziehen. Die Rückmeldung vieler Leser und Leserinnen, dass die Lektüre Spaß machte und dass man spüren konnte, wie viel Vergnügen ich selbst (meistens jedenfalls! ) beim Schreiben hatte, motivierte mich zur raschen Überarbeitung. Ich war natürlich auch erleichtert über die Gelegenheit, so schnell nach dem Ersterscheinen des Buches verbliebene Unklarheiten zu beheben, stilistische Unebenheiten zu bereinigen und einige Literaturangaben zu ergänzen. Themen wie Spracherwerb, Diagnostik und Sprachförderung sind nach wie vor hoch aktuell, wie die nicht abbrechende Serie einschlägiger Tagungen und das unlängst ausgeschriebene Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unterstreichen. Wie wir sicher alle erfreut zur Kenntnis genommen haben - ich denke hier an eine Rede der Bundeskanzlerin in diesem Sommer -, befinden wir uns bereits auf dem Weg zu einer „Bildungsrepublik“. Allerdings: Bis wir dort ankommen, ist noch eine Menge zu tun. Im Bereich der sprachlichen Bildung müssten u. a. eben jene Schritte vollzogen werden, die ich in diesem Buch anspreche bzw. beharrlich anmahne. Ich würde mir jedenfalls sehr wünschen, dass unsere gemeinsame Bildungsreise in die Zukunft weniger fiktiv bleibt als die Fantasiereisen, zu denen ich Sie in diesem Buch hin und wieder einlade. Für die stressfreie Erstellung der Neuauflage danke ich den MitarbeiterInnen des Verlags (insbesondere Jürgen Freudl) sowie Anja Ehinger für das Aufspüren von Tippfehlern und inhaltliche Anregungen. Sebastian Frank, Katharina Hein und Nina Spiri danke ich für die Unterstützung beim letzten Korrekturdurchgang. Mannheim, den 21. 7. 2008 Rosemarie Tracy © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 1 Einleitung und Überblick In diesem Buch gibt es wahrscheinlich außer einigen umgangssprachlichen Floskeln - wie beispielsweise mein „Und das ist nicht einmal alles! “ weiter unten - keinen Satz, den Sie schon einmal Wort für Wort genau so gelesen oder gehört haben. Dennoch wird es Ihnen keine Schwierigkeit bereiten, den Text zu verstehen. Offensichtlich wissen und können wir nach erfolgreichem Spracherwerb mehr als das, was wir bisher erlebt haben. Mit der Sprache verhält es sich in dieser Hinsicht wie mit dem Rechnen: Wenn Sie erst einmal die Regeln beherrschen, können Sie beliebige Zahlen multiplizieren, auch wenn es bei den meisten von uns ab einer bestimmten Größe der Zahlen nur noch mit Papier und Bleistift geht. Und das ist nicht einmal alles! Denn sofern Deutsch Ihre Erstsprache oder eine Ihrer Erstsprachen ist, konnten Sie bereits im Alter von zweieinhalb bis vier Jahren Sätze konstruieren, die denen ähneln, die von mir in diesem Text verfasst wurden. Die folgenden Beispiele zeigen dies. 1 (1) Valle 2; 3 Das leg ich jetzt dahin, bis der Bauer mit seinem Bagger fertig is. Weil der Bagger in den Stall gebaggert werden will. 2; 4 Warum kann dann sein, dass ich rausfall? (2) Julia 3; 2 über einen Hund. Wenn der Leo auf mein Bett geht, verbitte ich ihn das. (3) Adam 5; 2 Als ich noch ein ein als ich noch vier war, hab ich sogar noch gekratzt. 1 Da in diesem Buch sehr viele Beispiele diskutiert werden, die ich hin und wieder auch miteinander vergleichen möchte bzw. auf die ich im Text immer wieder Bezug nehme, folge ich einer in sprachwissenschaftlichen Texten üblichen Tradition und nummeriere die Beispiele. Der Nummerierung folgen dann der Name der Person, von der das Beispiel stammt, und eine Altersangabe, z. B. Valle 3; 6. Das bedeutet, dass Valle die zitierte Äußerung im Alter von 3 Jahren und 6 Monaten produzierte. Um die Lesbarkeit der Beispiele zu erhöhen, habe ich Satzzeichen, z. B. Kommata und Punkte, eingefügt, obwohl es sich um gesprochene Äußerungen handelt. Viele Merkmale der gesprochenen (Kinder-)Sprache wurden allerdings beibehalten, daher die Schreibung is anstatt ist, hinleng für hinlegen. In späteren Kapiteln werden für die Darstellung der Beispiele zusätzliche Festlegungen nötig, die ich dann an Ort und Stelle erläutere. Verbitte anstatt verbiete, und ihn statt ihm in (2) sind Originalton, keine Tippfehler meinerseits! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 2 Einleitung und Überblick Nach einem flüssigen Start in (3) zögert Adam auf einmal, wie wir an der Wiederholung von ein erkennen, und bricht seinen Satz vollständig ab, was ich durch den senkrechten Strich gekennzeichnet habe. Wahrscheinlich wollte er zuerst so etwas sagen wie Als ich noch ein Baby war oder Als ich noch ein kleiner Junge war. Offensichtlich ist ihm beim Sprechen eingefallen, dass es noch eine bessere, vielleicht präzisere, Möglichkeit gibt, sich auszudrücken, was ihm dann auch prompt in einer von Anfang bis Ende flüssigen Äußerung gelingt. Diese Beispiele belegen das, was man in der Sprachwissenschaft unter Kreativität versteht, nämlich die Fähigkeit, eine im Prinzip unendliche Menge von Äußerungen zu verstehen und zu produzieren. Adam zeigt uns auch sehr klar, dass er gleichzeitig an mehr als einem Satz „basteln“ kann. Die sprachlichen Fähigkeiten, die sich hinter all dem verbergen, werden mich das ganze Buch über beschäftigen und Sie, wie ich hoffe, zunehmend für das Thema „Sprache“ begeistern. Für den Fall, dass Sie sich nun fragen: Ja, aber wer sind diese Kinder? Was für einen Bildungshintergrund haben die Eltern? , liefere ich Ihnen gleich noch Beispiele von zwei kleinen Mädchen mit Russisch und Türkisch als Erstsprachen, die im Alter von etwa drei Jahren zum ersten Mal mit dem Deutschen in Kontakt kamen und deren Eltern weder einen Hochschulabschluss haben noch (bis auf einen Vater) über nennenswerte Deutschkenntnisse verfügen. In beiden Fällen ist die Erstsprache daher auch die Familiensprache. (4) Ronja 3; 9 (Erstsprache Russisch) Warte doch mal, wenn ich hab fertig gemal. (5) Tea 4; 11 (Erstsprache Türkisch) erklärt die Regeln eines Kartenspiels. Wer dies gleiche hier hat, muss dies hinleng. Du musst dann Karte ziehn, wenn du dies gewürfelt hast. Sprachliche Strukturen dieser Art, die viele Kinder schon produzieren, bevor sie drei Jahre alt sind (vgl. das Alter von Valle im ersten Beispiel), weisen bereits die wichtigste Eigenschaft von Sätzen natürlicher Sprachen auf. Sie sind nämlich potentiell unendlich, und zwar nicht nur deshalb, weil man immer ein weiteres Wort oder neue Wortgruppen einfügen könnte, wie in Sandra hat sich eine neue Handtasche gekauft; eine neue, blaue Handtasche; eine neue, blaue, spottbillige Handtasche; eine neue, blaue, spottbillige, aber überflüssige, wenngleich zweifellos sehr modische Handtasche gekauft. Sätze sind auch dadurch (potentiell) unendlich, weil man sie endlos miteinander verketten und in einen Satz immer wieder weitere Sätze „einbetten“ kann. Diese Entdeckung haben die Kinder, deren Beispiele ich hier ausgewählt habe, bereits gemacht, auch wenn das geäußerte Ergebnis nicht unbedingt von Anfang an alle Feinheiten der deutschen Grammatik berücksichtigt. In (4) würden wir beispielsweise sagen: Warte doch mal, bis ich fertig gemalt hab’. Aber erinnern wir uns daran, dass Ronja zu dem Zeitpunkt, zu dem © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einleitung und Überblick 3 sie (4) äußert, noch nicht einmal ein Jahr Kontakt mit der deutschen Sprache hatte! Über diese und andere Kinder werden Sie im Verlaufe dieses Buches mehr erfahren. Sie werden dabei sicher auch manches lesen, was Ihren Alltagserwartungen widerspricht: von Kindern und Müttern, die nicht in der gleichen Sprache miteinander sprechen; über Kinder, die Sprachmischungen produzieren, obgleich ihre Eltern es nicht tun; von Kindern, die sich in sprachlicher Hinsicht „konservativer“ verhalten als ihre Mütter und Väter, weil sie nicht mischen, obgleich die Eltern in ihrer Gegenwart mehrere Sprachen sprechen. Sie werden nach der Lektüre vielleicht auch Ihr eigenes sprachliches Verhalten stärker überdenken und sich mehr als früher über eigene Versprecher und Formulierungsschwierigkeiten in allen Ihren Sprachen amüsieren. Möglicherweise macht Ihnen das Buch ja auch Lust auf das Lernen weiterer Sprachen! Damit täten Sie nicht nur etwas Gutes für Ihr Gehirn. Sie könnten auch noch einmal bewusst am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man schon Experte oder Expertin mindestens einer Sprache ist und auch sonst viel weiß, sich aber in einer neuen Sprache noch nicht so mitteilen kann, wie man eigentlich möchte. Welche kommunikativen Kompetenzen und welches Feingefühl würden Sie sich in so einem Fall von Ihren Gesprächspartnern und -partnerinnen wünschen? Der Spracherwerb gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten Errungenschaften der frühen Kindheit, und er ist im Normalfall sehr robust, d. h. resistent gegenüber vielen möglichen Störfaktoren. Von daher ist es kein Wunder, dass die Frage, wie es Kinder überall auf der Welt schaffen, sich innerhalb weniger Jahre auf ähnliche Weise und sehr systematisch ein so komplexes System wie die menschliche Sprache anzueignen, die Wissenschaft seit vielen Jahrzehnten fasziniert. Wenn ich hier nur ein einziges Ziel nennen dürfte, das mit diesem Buch erreicht werden soll, dann wäre es dies, etwas von eben dieser Faszination zu vermitteln. Diesem einleitenden Kapitel fällt die Aufgabe zu, in die Thematik des Buches einzuführen. Was liegt näher, als zunächst an dem offenkundigen Widerspruch zwischen meinem optimistischen Einstieg - meiner Betonung früher sprachlicher Kompetenzen - und aktuellen Debatten über die sprachlichen Probleme und Defizite von ein- und mehrsprachigen Kindern anzuknüpfen. Nach einigen Bemerkungen zur Dringlichkeit des Handlungsbedarfs werde ich drei Punkte ansprechen, die meiner Ansicht nach produktiven Problemlösungen immer noch im Wege stehen: Lücken im allgemeinen Wissen über Sprache und Spracherwerb, problematische Einstellungen zur Mehrsprachigkeit und ungeeignete Kommunikationspraktiken. Mit den ersten beiden Punkten setze ich mich das ganze Buch hindurch immer wieder auseinander. Möglichkeiten einer Optimierung der Kommunikation mit Kindern werden in den letzten Kapiteln eingehender behandelt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 4 Einleitung und Überblick Zur aktuellen Problemlage: Unter för derung ist Unter for derung Seit längerer Zeit ist Sprache in mehr als einem Sinn „in aller Munde“. Im letzten Jahr verging kaum ein Monat ohne eine Tagung zum Thema Mehrsprachigkeit. Fast täglich wird in den Medien darüber berichtet, wie schlecht es um die sprachlichen Kompetenzen von Schülern und Schülerinnen zu Beginn oder am Ende ihrer Schulzeit steht, wie vielversprechend frühes Sprachenlernen ist (vgl. die Welt am Sonntag vom 8. 7. 07) oder wie wichtig sprachliche Kompetenzen für eine erfolgreiche Integration und Bildungskarriere sind. Zur Zeit werden auch Vor- und Nachteile muttersprachlichen Unterrichts diskutiert (vgl. Rhein-Neckar- Zeitung vom 25./ 26. 8. 2007; „Streitfall Mehrsprachigkeit“, Deutschlandfunk, 8. 8. 2007). In Talkshows geht es immer mal wieder darum, ob „Sprachverbote“ dazu beitragen können, sprachliche Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, allerdings, wie mir scheint, meistens ohne Vertreter und Vertreterinnen aus den Sprachwissenschaften. Internationale Studien wie PISA und IGLU haben uns aufgeschreckt und den engen Zusammenhang zwischen der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen beim Verstehen von Texten und Lösen von Aufgaben aufgezeigt. Man kann diesen Studien nur dankbar sein: In der Öffentlichkeit und in der Politik wurde mit einem Schlag zur Kenntnis genommen, was sich in vorschulischen Einrichtungen, Schulen und Ausbildungsbetrieben schon längst abzeichnete und die pädagogische Praxis und die Eltern gleichermaßen beunruhigte: Wenn in Brennpunktgebieten 90 bis 100 % der Kinder einer Grundschulklasse einem altersgemäßen Unterricht in deutscher Sprache nicht folgen können, viele SchülerInnen die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, der Anteil von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien in weiterführenden Schulen gering ist und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht sind, dann haben wir auf sämtlichen Ebenen des Bildungssystems und in allen gesellschaftlichen Bereichen ein Problem. In einem Abschlussbericht, der im Frühsommer 2007 von einer der Arbeitsgruppen des „Nationalen Integrationsplans“ der Bundesregierung erstellt wurde (Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 23. 4. 2007), kann man nachlesen, dass in der Bundesrepublik mittlerweile jedes dritte Kind unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund hat; in Großstädten wie Ludwigshafen sind es bereits etwa 60 % der zur Zeit geborenen Kinder. Es ist wichtig, schnell zu handeln, damit diese Kinder nicht zu den Verlierern und Verliererinnen einer Politik werden, die viel zu langsam zur Kenntnis nimmt, dass sich auch angeborene Talente (wie die Fähigkeit, Sprachen zu erwerben) ohne kompetente Sprachvorbilder und genügend Gelegenheit, deutsche Äußerungen zu hören, nicht entfalten können. Spracherwerb vollzieht sich nicht telepathisch! Den differenzierten Wortschatz und die Grammatikkenntnisse, die Kinder bei Schulbeginn benötigen, können sie sich nicht in Gesprächen mit Personen aneignen, die das Deutsche selbst nicht © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprachwissenschaftliche und spracherwerbstheoretische Grundlagen 5 beherrschen. Es ist daher nicht nur sinnvoll, sondern zwingend erforderlich, möglichst früh in eine systematische sprachliche Förderung zu investieren, weil dies langfristig die effektivste Lösung und die kostengünstigste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Die Situation von Kindern und Jugendlichen jedes Alters innerhalb unserer Bildungssysteme bedarf also dringend der Verbesserung, aber die ist nicht zum Nulltarif zu haben. Die ersten, die schon vor mehreren Jahren nicht nur den dringenden Handlungsbedarf erkannt, sondern auch tatsächlich gehandelt haben, waren Stiftungen, die auf breiter Basis Initiativen ergriffen und erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt haben (vgl. dazu die Internetseiten am Kapitelende). Inzwischen ist Sprachförderung auf allen Ebenen zu einem wichtigen politischen Thema avanciert. Viele Städte und Träger haben Förderkonzepte umgesetzt (vgl. Jampert et al. 2007²), die mancherorts auch wissenschaftlich begleitet werden. Bundesweit laufen Bestrebungen, flächendeckend Instrumente zur Sprachstandsdiagnostik einzusetzen (vgl. Ehlich et al. 2004, Kany & Schöler 2007). Trotz vieler Aktivitäten und positiver Entwicklungen bleiben in diesem Moment noch viele Fragen unbeantwortet. Weiß man denn in der pädagogischen Praxis schon genug über Sprache und über Mehrsprachigkeit, um zu entscheiden, wann, wie intensiv und wie überhaupt gefördert werden sollte? Oder anders formuliert: Hat die Wissenschaft schon die Erkenntnisse an die Praxis weitergegeben, die nötig sind, um die Sprachförderung an den individuellen Fähigkeiten von Kindern auszurichten? Dass Kinder bisher „unterfördert“ waren bzw. dass viele noch immer nicht ausreichend gefördert werden, wissen wir. Wie können wir sicherstellen, dass wohlgemeinte Maßnahmen sie nicht unterfordern, unter anderem deswegen, weil man immer noch zuwenig über ihre Sprachbegabung, ihr „natürliches Curriculum“ (ihren eigenen Lehrplan) und ihre metasprachlichen Fähigkeiten zur Kenntnis genommen hat? Mit „metasprachlichen Fähigkeiten“ ist gemeint, dass Kinder in der Lage sind, über Sprache(n) und Sprachverwendung nachzudenken und eigene Äußerungen zu „reparieren“ (vgl. Adam in (3)). Hier setzt das Buch an. Es ist bestrebt, Grundlagenwissen zu vermitteln, mit dem sich Förderkräfte oder andere Verantwortliche sachkundig und bewusst für eine Umsetzung von unterstützenden Maßnahmen entscheiden können. Theorie muss sein! Sprachwissenschaftliche und spracherwerbstheoretische Grundlagen Für jede einzelne Person, die sich für die Sprachförderung fit machen möchte, besteht daher ein erster wichtiger Schritt darin, sich klar zu machen, worum es sich bei „Sprache“ eigentlich handelt und wie Kinder sich Sprachen unter verschiedenen Erwerbsbedingungen aneignen. Glücklicherweise ist die Fähigkeit, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 6 Einleitung und Überblick Sprache(n) zu lernen, Teil unserer genetischen Veranlagung! Das erleichtert uns auch die Förderung einer Zweitsprache, sofern wir früh damit anfangen können. Das Gehirn des Menschen ist in der frühen Kindheit bestens darauf eingestellt, auf allen Ebenen der Sprache Muster zu entdecken und Regeln zu bilden. Dazu bedarf es im Kleinkindalter keines Trainings oder Unterrichts, wohl aber eines regelmäßigen, variationsreichen und zugleich sehr spezifischen Sprachangebots. Das heißt, um es etwas salopper zu formulieren: Kinder verhalten sich wie besonders kluge Detektive. Sie brauchen uns als „Informanten“, die ihnen wichtige und interessante Indizien liefern. Den eigentlichen Fall lösen sie dann aber alleine! Wenn ansonsten normal entwickelte Kinder eine Erstsprache bis zum Einschulungsalter nicht altersgemäß beherrschen oder wenn sich bei Zweitsprachlernern im Vorschulalter erhebliche Probleme abzeichnen, so liegen drei Erklärungen nahe: (a) Die Kinder gehören möglicherweise zu den 6 bis 8 % aller Kinder eines Jahrgangs, die eine spezifische Spracherwerbsstörung aufweisen (Grimm 2000b). Wenn diese Kinder mehrsprachig sind, sollte diese Störung in beiden Sprachen auftreten (Rothweiler 2007a). (b) Sie haben zu wenig Erwerbsgelegenheit; ihnen fehlt in quantitativer und/ oder qualitativer Hinsicht der sogenannte „Input“, das Sprachangebot. (c) Sie haben vielleicht prinzipiell Zugang zu einer Sprache, d. h. Gelegenheit, die Sprache zu hören, aber sie hat zu wenig Alltagsbezug für sie, möglicherweise deswegen, weil sie nur von einzelnen Personen und vielleicht nur in bestimmten Situationen verwendet wird. Natürlich kommt auch eine Kombination dieser drei Möglichkeiten in Frage. Die Lösung für (a) liegt in einer logopädischen Therapie, ohne dass es notwendig wäre, auf ein mehrsprachiges Aufwachsen zu verzichten (vgl. Paradis et al. 2003). Im Fall von (b) und/ oder (c) muss man unbedingt das Sprachangebot qualitativ und quantitativ verbessern und sich überlegen, wie man den „Verkehrswert“ einer Sprache erhöhen kann. Kinder, dies zeigt der folgende Exkurs, machen sich nämlich eine Menge Gedanken darüber, wer wohl warum welche Sprache(n) spricht oder benötigt. Exkurs 1 Vor Jahren erzählte mir eine Studentin, die für ein Jahr zum Studium nach Tübingen gekommen war, Folgendes: Sie lebte als Kind mit ihren Eltern und ihrer Großmutter auf Hawaii. Ihre Großmutter stammte aus Japan und sprach nur Japanisch. Ihre Eltern sprachen Japanisch und Englisch; sie selbst sprach nur Englisch, verstand aber auch Japanisch. Als sie etwa sieben Jahre alt war, ging sie zu ihrem Vater und fragte: Wann fängt Japanisch an? Da er zuerst nicht verstand, was sie meinte, wiederholte © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprachwissenschaftliche und spracherwerbstheoretische Grundlagen 7 sie ihre Frage etwas präziser: Wann fange ich an, Japanisch zu sprechen? Sie hatte ganz richtig beobachtet, dass das Japanischsprechen mit dem Alter zusammenhing, und sie erwartete, dass sie irgendwann nach dem Erreichen eines bestimmten Alters, auf einmal wie durch ein Wunder in der Lage wäre, wie ihre Oma Japanisch zu sprechen. Exkurs 2 Malte, ein kleiner Junge, von dem wir im Rahmen eines Forschungsprojekts einige Jahre lang regelmäßig Tonbandaufnahmen gemacht haben, wuchs mit Englisch und Deutsch auf. Sein Vater sprach mit ihm Deutsch, seine Mutter vorwiegend, aber nicht ausschließlich, Englisch. Er selbst verstand Englisch hervorragend, sprach aber nur Deutsch. Auch unsere Projektmitarbeiterin, eine Studentin aus England, konnte ihn nicht dazu bewegen, Englisch zu sprechen. Eine typische Unterhaltung zwischen ihm und seiner Mutter verlief daher folgendermaßen: Mutter über ein Spielzeug, an dem ein Teil fehlte: That has been missing for a long time. Malte 3; 6 Da fehlt überhaupt nichts. Wir entdeckten schließlich zufällig, dass er bereit war, Englisch zu sprechen, wenn er bei Rollenspielen für eine weibliche Puppe sprechen sollte. Er war der Ansicht, dass nur Frauen Englisch sprechen! Was also muss man tun, um das individuelle Sprachangebot zu verbessern und um Kinder von der Alltagsrelevanz einer Sprache zu überzeugen? Dieses Buch unternimmt den Versuch, diese Fragen zu beantworten. Dafür aber müssen wir zunächst einen theoretischen Orientierungsrahmen entwickeln, der uns Kriterien bzw. Maßstäbe, an die Hand gibt, um den jeweiligen Entwicklungsstand und die Kompetenzen von Kindern einschätzen zu können. Das heißt, wir müssen im eigenen Kopf etwas konstruieren, was der Philosoph Sir Karl Popper (1979: 344) einmal sehr poetisch als „horizon of expectation“ (Erwartungshorizont) bezeichnet hat. Dazu gehören auch Einsichten in das eigene sprachliche Wissen und das Überdenken des eigenen sprachlichen Verhaltens. Sprachförderung beginnt also mit dem Wissen der Fördernden über die wichtigsten Merkmale der zu erwerbenden Sprache (hier auch als „Zielsprache“ bezeichnet) und über die systematische und kreative Art und Weise, in der sich Kinder Sprache aneignen. Nur wer erkennen kann, welche Meilensteine des Spracherwerbs ein Kind bereits gemeistert hat, kann dieses Kind individuell da „abholen“, wo es steht. Dieses Wissen bildet auch die Voraussetzung für eine gezielte und effektive Integration der Sprachförderung in den Kommunikationsalltag von Bildungseinrichtungen. Im baden-württembergischen Orientierungsplan können wir lesen, dass zu den Aufgaben von Frühpädagogen und -pädagoginnen die „Wahrnehmung, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 8 Einleitung und Überblick Beobachtung und regelmäßige Dokumentation des Entwicklungsstandes bzw. der Entwicklungsfortschritte jedes Kindes“ (2007: 47) gehört. Das klingt sehr anspruchsvoll und ist es auch. Daher muss man fragen, inwieweit die mit dieser Verantwortung betrauten Personen bereits über den Erwartungshorizont verfügen, den sie brauchen, um diese Aufgaben wahrzunehmen. Ob ein Kind einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat, lässt sich leider für den Bereich der Sprache nicht so einfach entscheiden wie etwa die Frage, ob es auf einem Bein hüpfen oder Kopffüßler zeichnen kann. Es ist nicht möglich, aufgrund einzelner Äußerungen zuverlässige Schlüsse über Sprachfähigkeiten von Kindern zu ziehen. Wie sollte man also vorgehen, und auf welche Verhaltensmerkmale kann man sich stützen? Sicher ist, dass man sprachliches Wissen nicht „ins Blaue“ hinein, also ohne eine gewisse theoretische Basis erkennen kann, zumal dieses Wissen an sich auch nicht wirklich „beobachtbar“ ist. Es steckt ja im Kinderkopf! Wer die Entwicklung mehrsprachiger Kinder beurteilen will, sollte auch einiges über den einsprachigen Erwerb - man nennt diesen Erwerb auch monolingual - wissen, idealerweise in beiden Sprachen. Dies ist in der Realität oft nicht möglich, weil es zu vielen Sprachen keine Studien gibt, die man heranziehen könnte. Ein Beispiel bezüglich zweier uns eher vertrauter Sprachen, Deutsch und Englisch, kann verdeutlichen, warum diese Information im Prinzip wünschenswert wäre. Betrachten wir dazu folgende Sätze, die von Kindern produziert wurden. (6) I eat sometimes candy. (Menyuk 1969: 82) (7) Papa auch geht arbeiten (Tracy 1991: 4) (8) Was für noise it makes? (Tracy 1996: 81) Wenn Sie gefragt würden, welche dieser Äußerungen Einflüsse des Deutschen oder Englischen aufweisen, würden Sie sicher sagen: „Natürlich alle! “ Der Satz in (6) klingt nicht englisch, da candy unmittelbar nach dem Verb, dem „Tätigkeitswort“, stehen müsste, nicht aber am Ende. Eine wörtliche Übersetzung ins Deutsche wäre hingegen in Ordnung: Ich esse manchmal Süßigkeiten. Bei der für deutsche Ohren abweichenden Äußerung in (7) verhält es sich umgekehrt, denn hier wäre eine wortwörtliche Übersetzung ins Englische möglich. In Wirklichkeit liegt lediglich beim letzten Beispiel ein Einfluss durch eine zweite Sprache vor, denn nur Was für noise it makes stammt von einem zweisprachigen, also bilingualen, Kind. (6) und (7) wurden von einsprachigen Kindern produziert. Interessanterweise handelt es sich bei (8) um eine Struktur, wie wir sie ebenfalls von monolingualen Kindern beider Sprachen kennen. Kinder mit Englisch als Erstsprache sagen What I can do? anstatt What can I do? , wie es die englische Grammatik verlangt. Viele Kinder mit Deutsch als Erstsprache produzieren Was die Mama macht? , mit dem Verb am Ende. Hannah, das bilinguale Kind, dem ich Beispiel (8) verdanke, hätte also vermutlich den gleichen Satz, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Nachdenken über eigene Einstellungen und eigenes Verhalten 9 nur eben ohne die deutsch-englische Wortmischung, von sich gegeben, wenn sie nur mit Deutsch oder nur mit Englisch aufgewachsen wäre. Glücklicherweise musste sie sich nicht auf eine Sprache beschränken! Wir sehen jedenfalls anhand dieses Beispiels, wie leicht es ist, sich aufgrund einer zufälligen Beobachtung von Äußerungen wie in (8) dazu verleiten zu lassen, der Mehrsprachigkeit die „Schuld“ für scheinbar auffälliges oder abweichendes Verhalten zuzuschreiben. Wenn man nicht weiß, dass Strukturen wie die in (6)-(8) auch für bestimmte Entwicklungsphasen des monolingualen Erwerbs völlig normal sind, kann man solchen Fehlinterpretationen sicher nur schwer widerstehen. Weitere Voraussetzungen: Nachdenken über eigene Einstellungen und eigenes Verhalten Unsere Einstellung gegenüber der Mehrsprachigkeit wird sehr stark vom Prestige der beteiligten Sprachen und ihrer Sprecher geprägt. Wir finden es gut, wenn Kinder von Anfang an traditionelle Bildungssprachen, z. B. Englisch und Französisch, lernen, fürchten aber eher eine Überforderung oder denken an vergeudete Zeit, wenn es sich um Sprachen handelt, von denen wir vielleicht noch nie etwas gehört haben und die in unserem Schulsystem oder auf dem Arbeitsmarkt (noch! ) keine Relevanz haben und daher keine Wertschätzung erfahren (vgl. dazu Gogolin 1994). Kinder, die mit drei Jahren in deutsche Kindertagesstätten kommen, sind (im Normalfall) ExpertInnen in mindestens einer Sprache. Wie kann man ihnen zu verstehen geben, dass man ihr Expertentum zu schätzen weiß? Kann man mit kleinen Kindern denn auch schon über Sprache sprechen? Einige Ideen dazu werde ich in diesem Buch anhand von konkreten Beispielen diskutieren. Schließlich geht es bei menschlicher Kommunikation auch um die Herstellung und Pflege von Beziehungen. Wir alle sprechen lieber mit Menschen, die gerne mit uns kommunizieren, die uns nicht für dumm halten, nur weil wir nichts sagen, und die nicht jedes von uns geäußerte Wort auf die Goldwaage legen. Um Kindern zu helfen, sich Sprachen anzueignen, sollten wir hinter uns lassen, was der Sprachwissenschaftler Wolfgang Klein (2000) sehr treffend als „Rotstiftperspektive“ bezeichnet hat: die Fixierung auf das, was alles an einer Lerneräußerung nicht stimmt. Besonderes Anliegen meines Buches ist es, auf einen Perspektivwechsel hinzuwirken, damit diese Defizitorientierung endgültig überwunden werden kann. Ich würde mir wünschen, dass Sie künftig Gläser als halbvoll sehen, wo andere sie immer noch als halbleer wahrnehmen! Kleinkinder eignen sich Sprachen beiläufig an. Sie benötigen interessierte, interessante und sensible Gesprächspartner, keinen Drill, keine identischen Wiederholungen, Korrekturen oder Aufforderungen, in ganzen Sätzen zu sprechen. Indem sie sich auf Inhalte konzentrieren, springt die Form ganz einfach mit ins © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 10 Einleitung und Überblick Boot! Dennoch müssen wir natürlich dafür sorgen, dass die formalen Aspekte der zu lernenden Sprache in der Umgebung verfügbar sind. Wie kann man das im Rahmen natürlicher und anregender Gespräche erreichen? Ein wichtiges Anliegen meinerseits ist es zu zeigen (vor allem in den letzten Kapiteln), dass sich systematische, strukturierte Förderung und an den individuellen Interessen und emotionalen Bedürfnissen von Kindern anknüpfende Gespräche nicht ausschließen. Das Verwenden von Sprache bedeutet immer - wie ich in Kapitel 2 zeigen werde -, vieles gleichzeitig zu tun. Dies ist ein großer Vorteil, den wir hervorragend für die Förderung nutzen können. Es ist aber nicht nur interessant und (gelegentlich) unterhaltsam, über das eigene Sprachverhalten nachzudenken. Für die Sprachförderung ist es eine notwendige Voraussetzung, u. a. um zu erkennen, ob man Kindern genug Gelegenheit gibt, sich in ein Gespräch einzubringen, oder ob man von den Kindern verstanden wird. In manchen Fällen wird diese Reflexion dazu führen, den eigenen Kommunikationsstil zu ändern, was letztlich sogar über die Fördersituation hinaus vorteilhaft sein könnte! Wie wir alle wünschen sich Kinder sprachlich kooperative GesprächspartnerInnen, die elementare Regeln der Höflichkeit beachten. Mit etwas Übung sollte es Erwachsenen eigentlich wunderbar gelingen, sich Kindern (oder anderen Gesprächspartnern) gegenüber an der Produktion von Äußerungen wie Kummsch du aa, du Schlooftablett? (übersetzt: „Kommst du auch, du Schlaftablette? “, gehört vor fünf Jahren in einer Kita) zu hindern. Zielgruppe und Aufbau Das Buch „Wie Kinder Sprachen lernen“ wendet sich speziell an ErzieherInnen, LehrerInnen, LogopädInnen und weitere Personen, die aus beruflichen Gründen (Kinderärzte, Tagesmütter etc.) Interesse am Spracherwerb haben und sich mit den begrifflichen Voraussetzungen der Sprachförderung auseinandersetzen. Ich habe aber auch an Eltern und andere Leser und Leserinnen gedacht, die etwas mehr darüber erfahren möchten, wie kreativ und clever Kinder mit den Herausforderungen durch eine oder mehrere Umgebungssprachen umgehen. Ihnen allen hoffe ich zeigen zu können, dass wir im Prinzip, wenn die Bedingungen stimmen (und dazu rechne ich auch die emotionale Qualität der Interaktion, des Umgangs miteinander), keine Angst davor haben müssen, Kinder mit einer mehrsprachigen Alltagswelt zu überfordern. Da ich mich vorrangig mit dem frühen Spracherwerb bis zum Schulalter beschäftige, bleiben einige andere spannende Themen weitgehend ausgeblendet. Der frühe Fremdsprachenerwerb in der Schule oder das gleichzeitige Heranführen an mehrere Schriftsprachen werden nur am Rande erwähnt. Ich habe mich darum bemüht, den Text verständlich zu gestalten und unnötigen Fachjargon zu vermeiden. Literaturhinweise wurden auf ein Minimum © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Zielgruppe und Aufbau 11 beschränkt, aber einige Empfehlungen für eine vertiefende Beschäftigung mit unserem Thema finden sich am Ende jedes Kapitels. Die wichtigsten Begriffe werden in einem abschließenden Glossar erläutert. In Kapitel 2 treffen Sie zunächst auf diejenigen sprachwissenschaftlichen Grundlagen, deren Verständnis für alle späteren Kapitel wichtig ist. In diesem Kapitel lässt sich ein erhöhtes Fachwort-Aufkommen daher nicht vermeiden. Sind Sie da aber durch, geht es anschließend - wie im Straßenverkehr nach einem Stau - um so flüssiger. Zwei- oder mehrsprachige Leser und Leserinnen werden sich, so meine Erwartung, hoffentlich in Kapitel 3 wiederfinden, in dem das Thema Mehrsprachigkeit aufgegriffen wird. Dabei wird es zunächst vorrangig um das Verhalten von Erwachsenen und um Mehrsprachigkeit schlechthin gehen. Das Kapitel sollte Sie aber schon etwas neugierig darauf machen, wie Kinder mit der Koexistenz und Konkurrenz mehrerer Sprachen im eigenen Kopf und in ihrer Umgebung umgehen. Die Kapitel 4 bis 6 beleuchten den Spracherwerb unter verschiedenen Erwerbsbedingungen: der einsprachige (monolinguale), der bilingual simultane („doppelte“) Erstspracherwerb und der frühe, sukzessive Zweitspracherwerb werden anhand vieler Beispiele und Einzelfallstudien vorgestellt. Dabei kann ich mich im Fall des Erstspracherwerbs (sowohl in seiner monolingualen als auch seiner bilingualen Ausprägung) auf Jahrzehnte internationaler Forschung stützen. Auch wenn im Vergleich dazu die Erforschung des frühen Zweitspracherwerbs - damit meine ich einen Beginn im Alter von 3 bis 4 Jahren - immer noch in den Kinderschuhen steckt, kann man laufenden Forschungsprojekten doch bereits einschlägige Erkenntnisse entnehmen: Alles deutet darauf hin, dass Zweitsprachlerner und -lernerinnen, die im Alter von 3 bis 4 Jahren zum ersten Mal in intensiven und regelmäßigen Kontakt mit dem Deutschen (oder einer anderen weiteren Sprache) kommen, in zentralen Erwerbsbereichen noch wie Erstsprachlerner- und -lernerinnen vorgehen können. Dies unterstreicht einmal mehr, wie sinnvoll es ist, möglichst früh mit gut durchdachter und systematischer Förderung zu beginnen. Kapitel 7 zieht aus den zuvor besprochenen Erkenntnissen erste strategische und praktische Konsequenzen und fragt nach institutionellen Rahmenbedingungen für die Förderung. Dieses Kapitel greift auch die Frage auf, wie und unter welchen Voraussetzungen man Fördermaßnahmen einführen kann. Dabei gehe ich auf eigene Erfahrungen im Umgang mit unseren Praxisprojekten ein. Allein aus Effektivitätsgründen sollte Sprachförderung zur Querschnittsaufgabe unserer Bildungsinstitutionen werden. Fördermaßnahmen müssen von einem ganzen Team gewollt und getragen werden, egal, ob in der Kita oder in der Schule. Sprache ist schließlich an allem beteiligt, und es wäre wenig klug, auf mögliche Synergieeffekte zu verzichten. Dies schließt auch die Notwendigkeit mit ein, die Eltern als Partner zu gewinnen. Den Familien der geförderten Kinder sollte glaubhaft vermittelt werden können, dass die Mehrsprachigkeit ihrer Kinder nicht nur übergangsweise toleriert, sondern nach Möglichkeit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 12 Einleitung und Überblick aktiv unterstützt wird und, ganz im Sinne des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen, auch dauerhaft erwünscht ist. Kapitel 8 widmet sich dem Thema Kommunikation mit Kindern. Dabei gehe ich auf Merkmale der Interaktion ein, die man auch in der Förderung nutzen kann. Im Grunde geht es mir in diesem Kapitel darum, allen an der Sprachförderung Beteiligten Mut zu machen. Sie sollten sich wie „normale Menschen“ verhalten und - idealerweise - mit viel eigenem Spaß mit Kindern sprechen. Kapitel 9 unterbreitet konkrete Anregungen für die Förderung und Kapitel 10 präsentiert eine Orientierungshilfe für die Beobachtung kindlicher Spontansprache. Der Epilog fasst einige grundlegende Überlegungen zusammen. In den einzelnen Kapiteln finden sich immer wieder Einschübe, die mit Gedankenexperiment oder Exkurs überschrieben sind. Bei ersteren handelt es sich manchmal um kurze, nicht ganz ernst zu nehmende „Einlagen“, damit Sie leichter über etwas mühsamere Passagen hinweg kommen. Ab und zu aber geht es um echte Anregungen, u. a. für Spiele und Aufgaben, die Sie gemeinsam mit Freunden und Kindern angehen können. Da, wo ich befürchte, dass Sie Freundschaften überstrapazieren könnten und wo Sie sich sicherheitshalber tatsächlich auf ein Gedankenexperiment beschränken sollten, habe ich einen Hinweis auf mögliche „Nebenwirkungen“ angebracht. Sofern die Herkunft der Beispiele im Text nicht ausdrücklich erwähnt wird, entstammen die zitierten Beispiele eigener Forschung, unter anderem Projekten, die ich im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Spracherwerb“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in den Jahren 1989-1994 durchführen konnte, sowie einem Projekt, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg in den Jahren 2003-2005 finanziert wurde und das ich zusammen mit Erika Kaltenbacher, Universität Heidelberg, geleitet habe. Die meisten der Daten Erwachsener aus dem Mehrsprachigkeitskapitel (Kapitel 3) wurden in einem DFG-Projekt erhoben, das ich gemeinsam mit Elsa Lattey, Universität Tübingen, durchgeführt habe und das sich mit der Sprachwahl und insbesondere mit Sprachmischungen erwachsener EmigrantInnen in den USA beschäftigt. In das Kapitel zum frühen Zweitspracherwerb (Kapitel 6) gehen auch einzelne Beispiele aus laufenden Forschungsarbeiten und aktuellen Praxisprojekten ein. Dazu gehören vor allem das gemeinsam mit Petra Schulz, Universität Frankfurt, geleitete Projekt „Linguistische Sprachstandserhebung - Deutsch als Zweitsprache (LiSe-DaZ)“, das im Auftrag der Landesstiftung Baden-Württemberg im Rahmen ihres Programms „Sag’ mal was! “ - Sprachförderung für Vorschulkinder“ entwickelt wurde, das von der BASF finanziell unterstützte Ludwigshafener Projekt „Sprache macht stark! “ sowie Projekte der Freudenberg-Stiftung, der Heinrich-Vetter-Stiftung und der Stiftung Mercator. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Abschließende Überlegungen 13 Abschließende Überlegungen Ich hatte Ihnen aus guten Gründen vorenthalten, dass Adam, den ich in (3) zitiert habe, von Geburt an mit zwei Sprachen aufgewachsen ist, also einen „doppelten Erstspracherwerb“ durchlaufen hat. Hätte ich Ihnen das gleich gesagt, wären Sie vielleicht auf die Idee gekommen, sein Satzabbruch hätte etwas mit Sprachverwirrung zu tun! Tatsächlich werden Sie in den folgenden Kapiteln auch Äußerungen finden, in denen Sprachmischungen auftreten und spontan korrigiert werden, wie in dem folgenden, ebenfalls von Adam stammenden Beispiel (9). Hier drängt sich das deutsche „isst“ in einen ansonsten englischen Satz, eine Beeinflussung, die von Adam bemerkt und sofort repariert wird. Offenkundig passt dieses Eindringen nicht zu dem Standard, an dem Adam seine eigenen Sätze misst. Man beachte allerdings, dass Adam zu diesem Zeitpunkt das englische Verb noch nicht mit der zielsprachlich geforderten Endung -s (wie in eats) versieht. (9) Adam 5; 5 beschreibt, was diverse Dinosaurier fressen. That’s because a drometrodon isst eat meat. Wenn es mir gelingen sollte, Ihnen im Verlaufe Ihrer Lektüre einen Eindruck davon zu vermitteln, welche sprachlichen Fähigkeiten von Kindern sich uns dank solcher Äußerungen erschließen, und zwar sowohl durch die Fehlleistung als auch durch die (Selbst-)Korrektur, ist der wichtigste Schritt hin zu dem von mir erwünschten radikalen Perspektivwechsel von der Defizitwahrnehmung zu einer Kompetenzorientierung schon getan. In diesem Buch wird das Thema Variation eine wichtige Rolle spielen. Daher erlaube ich mir, anstatt einer Verwendung männlicher Formen (Lehrer, Lerner) beide Geschlechter zu nennen, dies aber in unterschiedlicher Form (Lerner und Lernerinnen, LernerInnen, PädagogInnen etc.). Information zum Thema Sprachförderung Landesstiftung Baden-Württemberg: Projekt „Sag’ mal was - Sprachförderung für Vorschulkinder“, www.sagmalwas-bw.de, www.landesstiftung-bw.de Stiftung Ravensburger Verlag, www.stiftung.ravensburger.de Hertie Stiftung: Projekt „Deutsch & PC“, www.ghst.de Stiftung Mercator: Projekt Förderunterricht, www.mercator-foerderunterricht.de Heinrich-Vetter-Stiftung: Projekt „Sprachförderung an Grundschulen“ (lokales Projekt in Mannheim),www.heinrich-vetter-stiftung.de Stiftung Freudenberg, www.freudenbergstiftung.de Robert Bosch Stiftung, www.bosch-stiftung.de © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 14 Einleitung und Überblick FÖRMIG (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, BLK- Programm unter der Leitung der Universität Hamburg), www.blk-foermig.uni-hamburg.de Datenbank ProKita des DJI: Übersicht über Praxisforschung und Modellprojekte, http: / / www.dji.de/ cgi-bin/ projekte/ output.php? projekt=200 Rucksack, http: / / www.raa.de/ rucksack.html Deutsch für den Schulstart (Universität Heidelberg), www.deutsch-für-den-schulstart.de Kon-Lab (Dr. Zvi Penner), www.kon-lab.com KIKUS: Sprachförderung Deutsch im Vor- und Grundschulalter, http: / / www.kikusmuenchen.de/ index.php? id=100 Sprache macht stark! , www.offensive-bildung.de © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 2 Sprachwissenschaftliche Grundlagen: Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Was Sie in diesem Kapitel erwartet: Fachspracherwerb Eine Situation, wie wir sie alle kennen: Wir gehen zum Bäcker, um Brötchen zu kaufen. Während wir warten, bis wir an der Reihe sind, schweift unser Blick über Regale und Körbe voller frischer Backwaren. Wir studieren die handbeschrifteten Schildchen, die uns verraten, welche Brötchensorten zur Auswahl stehen: Sovital-, Wellness-, Jogging-, Baguette-, Kaiserbrötchen, Krustis, Bürlis; dann Bezeichnungen, die uns klarere Hinweise auf Zutaten geben, wie Körner-, Walnuss-, Kartoffel-, Kürbiskern- Sonnenblumen-, Sesam-, Mohn-, Dinkel-, Roggen-, Rosinen-, Zwiebel-, Schinken-, Bärlauchbrötchen, oder auf besondere Verwendungszwecke (Partybrötchen) oder die etwas über den Herstellungsprozess verraten (Holzofen- und Laugenbrötchen). Wir bemerken, dass einige Kunden in der Schlange vor uns mit ihrer Wahl leicht überfordert sind. Verständlich, denn die Namensschildchen stehen nicht immer vor der dazugehörigen Brötchensorte. Eine Kundin behilft sich durch Hinzeigen und Beschreiben (Ich hätte gerne zwei von den Dunklen da ganz links im rechten Korb! ). Jetzt haben Sie wahrscheinlich Hunger und fragen sich, was Brötchen mit dem Spracherwerb und den sprachwissenschaftlichen Grundlagen zu tun haben, die ich Ihnen in diesem Kapitel näher bringen möchte. Schlimmstenfalls ziehen an Ihrem Erwartungshorizont bereits dunkle Vorahnungen herauf: trockene Brötchen, trockene Theorie? Nun, zunächst wollte ich mit einem Beispiel aus einem Alltagsbereich beginnen, der uns ständig mit neuen Entwicklungen überrascht und der uns daher auch immer wieder dazu anregt, unseren Wortschatz zu erweitern. Brötchenbezeichnungen gehören übrigens in die Wortklasse der Substantive, der „Hauptwörter“, einer offenen, beliebig erweiterbaren Klasse. Das heißt, in sprachlicher Hinsicht wird die Kreativität unserer Bäckereien also nie an eine Grenze stoßen! In gewisser Weise lässt sich die Spracherwerbsaufgabe eines Kindes mit dem Besuch beim Bäcker vergleichen: Auf der einen Seite (gewissermaßen im Brotkorb oder auf den Regalen) befindet sich die Welt, also Dinge, über die man reden möchte. Aber wie kann man entdecken, welche Bezeichnung, welches Wort, zu © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 16 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? einem bestimmten Ding passt? Denken Sie nur an die beweglichen Schildchen! Und wir Erwachsene haben es bei unserem Fantasiebesuch beim Bäcker ja noch einfach, denn wenigstens waren die Wörter schon fein säuberlich (wenngleich nicht notwendigerweise gut leserlich) „portioniert“, d. h. von einander getrennt. Kinder hingegen müssen am Anfang erst einmal entdecken, wie man den Schallstrom, der ihr Trommelfell erreicht, in verschiedene Wörter unterteilt. Ich zitiere in diesem Zusammenhang nochmals die Mannheimer Kundin von oben: Schhättgernzweevondedunkledoganzlinksimreschtekorb! Die Erwerbsaufgabe eines Kindes besteht daher einerseits im Zerlegen des Wortschwalls, andererseits im Zuordnen von Dingen zu abstrakten Kategorien (Also: Welche Brötchen gehören überhaupt zu einer Sorte? Oder welche Lebewesen gehören zum Konzept „Fisch“? ) sowie in der Verknüpfung von beidem: von Lautfolgen und Konzepten (Welche Bezeichnung passt zu einer Brötchensorte, zu einer Fischart? ). Wir können unseren Vergleich mit dem Bäckereibesuch aber noch etwas auf die Spitze treiben, denn eine ähnliche Herausforderung erwartet Sie selbst in diesem Kapitel auch, und damit komme ich zu einem weiteren Grund für meine einleitende Geschichte. Sie erinnern sich aus Ihrer Schulzeit sicher noch an einige Fachbegriffe, die Sie für eine Auseinandersetzung mit Sprache und die Klassifikation von Wörtern und Sätzen (gewissermaßen den Brotwaren im Bäckerladen) nutzen können: Hauptwörter (bzw. Substantive), Verben (Bezeichnungen für Handlungen oder Ereignisse wie rennen, vertrösten, oder für Zustände wie wissen, kränkeln, sich freuen, sein), Adjektive bzw. Eigenschaftswörter (groß, trocken), Artikel (oder „Begleiter“: der, die, das, ein …) und andere. Wie Substantive gehören Verben und Adjektive zu den offenen, erweiterbaren Klassen, was wir nutzen, wenn wir Wörter anderer Sprachen ausleihen (z. B. crashen, booten, mailen). Andere Wortklassen, wie beispielsweise Artikel oder Fragewörter (wer, wie, was, warum …) sind nicht beliebig erweiterbar, daher spricht man hier von geschlossenen Klassen. Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dass uns insbesondere der Erwerb geschlossener Klassen wichtige Hinweise auf den Sprachstand eines Kindes liefert. Die bunte Mischung von Brötchen im Laden lässt sich mit etwas gutem Willen mit den Sätzen vergleichen, die wir in Kürze gemeinsam näher betrachten werden. Bei der Gelegenheit werde ich mein Bestes tun, um Ihnen möglichst beiläufig zusätzliches fachsprachliches Werkzeug an die Hand zu geben. D. h.: Sie sollten am Ende in der Lage sein, Wörter in Wortklassen (gewissermaßen unsere Körbe) zu sortieren, sie mit Schildern (üblichen wissenschaftlichen Bezeichnungen für Wortklassen wie Artikel oder Verben) zu versehen sowie jene Satzglieder zu erkennen, die besonders wichtige Aufgaben im Satz erfüllen, wie Subjekt oder Objekt. Sie werden erleichtert feststellen, dass uns Sätze nicht in Form eines Sammelsuriums von Wörtern begegnen, sondern dass sie hoch strukturiert, also bestens vorsortiert, sind. Dies gilt übrigens schon für die ersten Verbindungen von Wörtern, die Kinder im Alter von etwa eineinhalb Jahren von sich geben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Was Sie in diesem Kapitel erwartet: Fachspracherwerb 17 Keine Angst! Es erwartet Sie keine umfassende Beschreibung des Deutschen, wie sie im Duden oder in anderen Grammatiken zu finden wäre, die ich am Ende des Kapitels anführe. Die meisten Fachausdrücke werden im Glossar im Anhang zu diesem Buch noch einmal erläutert. Und wer weiß, vielleicht entdecken Sie ja dabei, dass ein wissenschaftliches Herangehen an Sprache und das Nachdenken über die eigene sprachliche Kompetenz, das dabei auch nicht zu kurz kommen soll, Spaß macht! Gedankenexperiment Die Förderkräfte Gisa und Esther treffen sich mit Ihnen, um sich über den Entwicklungsstand des fünfjährigen Muhannads, der seit fast zwei Jahren in Ihrer Kindertagesstätte ist, auszutauschen, weil Sie von nun an die Förderung übernehmen sollen. Gisa liest aus ihren Notizen vor: Muhannad sagt: „Ich will ähm äh will die Mantel und meine Schuhe anziehn. Die Schuhe sind ganz dreckig, von Schnee ganz dreckig und nass. Ich soll nicht ich ich weiß, dass ich nicht äh äh mit so dreckige Schuhe durch Kita laufen soll. Zuhause tu ich das auch nicht. Da zieh ich ähm meine Schuhe an die Tür aus, damit das Boden nicht schmutzig wird. Machst du das auch so bei deine bei deine äh da wo wo du wohnst? “ Am Dienstag sagt er beim Malen: „Warum äh malst du das mit mit die rote Farbe? Ich mal ma meinen Haus blau, mit ein gelben Fenster …“ etc. Esther: Muhannad beherrscht Haupt- und Nebensätze; Verbstellung und Flexion sind zielsprachlich. Er unterscheidet Nominativ und Akkusativ, nur mit dem Dativ hat er noch Probleme, aber das sehen wir auch bei den einsprachigen Kindern gleichen Alters. Auch das Genus ist noch nicht ok. In allen Bereichen des Kita-Alltags ist sein Wortschatz gut. Ich habe auch den Eindruck, dass er alle Fragen gut versteht, weil er immer angemessen antwortet. Von welcher der beiden ließen Sie sich am liebsten einweihen? Ich würde wetten, dass Sie am Ende dieses Kapitels, spätestens jedoch Ende des 4. Kapitels, Esther den Vorzug geben würden, auch wenn Sie in diesem Moment vielleicht noch den Eindruck haben, dass sie eine Ihnen unbekannte Sprache spricht, zumal ich die von Esther verwendeten Fachausdrücke (Flexion, Genus etc.) an dieser Stelle auch noch nicht erläutert habe. Esther antwortet jedenfalls in einer recht präzisen Metasprache - einer Sprache, mit der man über Sprache reden kann - und sie nennt genau jene Beobachtungen, die für die Einschätzung des Sprachstands von Muhannad relevant sind und die es Ihnen ermöglichen, Ihre Förderaufgabe systematisch anzugehen. Dazu mehr in Kapitel 7. Gisa gibt eine ungefilterte Liste von Äußerungen wieder, und wir wissen nicht einmal, ob die Verzögerungssignale äh, ähm und diverse Wortwiederholungen von Muhannad stammen oder Gisas Schwierigkeiten widerspiegeln, ihre Notizen zu entziffern. Wüssten Sie aufgrund dieser Darstellung, wo Sie mit der Förderung ansetzen könnten? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 18 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Wie jedes andere Spezial- oder Interessensgebiet erfordert die professionelle Beschäftigung mit Sprache Übung im Einsatz einer wissenschaftlichen Terminologie, eines Inventars an Fachbegriffen. Kein Zahnarzt könnte auf präzise, unmissverständliche Bezeichnungen für Teile des Gebisses oder benötigte Instrumente und Behandlungsschritte verzichten, kein Automechaniker auf die terminologische Differenzierung von Autoteilen, Werkzeugen oder Handgriffen. Hinter der Fachterminologie steht dann im besten Fall natürlich auch noch das Fachwissen über typische und atypische (und daher zu behandelnde) Funktionsweisen. Exkurs Stellen Sie sich vor, Sie säßen - natürlich ganz entspannt - bei Ihrem Zahnarzt im Behandlungssessel, im Hintergrund läuft sanfte Musik. Allmählich dringen Fetzen eines Gesprächs zwischen Arzt und einer Angestellten in Ihr Bewusstsein: Arzt: Mischen Sie mir bitte ein wenig von dem Zeugs in der roten Schale mit etwas von dem grauen Pulver in dem Glas da hinten im obersten Regal! Angest.: Graues Pulver? Ich würde es eher weiß nennen. Arzt: Nicht das Weiße, da muss noch was Graues sein. Angest.: Na ja, o.k., ich denke, ich hab’s. Wieviel brauchen Sie? Arzt: Na, so zwischen einer Prise und einem Teelöffel, aber auf keinen Fall mehr! Kurz danach: Arzt: Jetzt bräuchte ich mal bitte das spitzeste Dingsbums von rechts in der zweiten Reihe von unten! Angest. (sucht): Das lange Ding mit den zwei spitzen Enden oder das Ding mit der einen Spitze? Arzt: Das mit der einen Spitze, und dann bräuchte ich noch das Ding, das wie ein Schraubenzieher aussieht. Ich würde spätestens in diesem Moment, den Behandlungsstuhl fluchtartig verlassen („Oh, oh, ich hab’ meine Vorlesung völlig vergessen, wie dumm von mir! Ich muss sofort los, tut mir unendlich leid. Ich melde mich! “). Die gute Nachricht - und dies unterscheidet die Sprache von anderen Bereichen - ist, dass wir einige der für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache benötigten Konzepte an sich schon verfügbar haben, auch wenn uns im Moment das Bewusstsein und die Fachbegriffe dafür noch fehlen sollten. Schließlich handelt es sich um Kenntnisse, die wir uns selbst beim Spracherwerb beiläufig, d. h. ohne unsere Aufmerksamkeit darauf richten zu müssen, angeeignet und als unbewusstes, implizites Wissen gespeichert haben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Unterscheidungen und eine einfache Frage: Gibt es Sprache(n)? 19 Eine Aufgabe dieses Kapitels wird es daher sein, Ihnen Ihr bereits vorhandenes Wissen bewusster zu machen. Ich beginne mit einer Klärung relevanter Begriffe und zeige, wie vielseitig unser sprachliches Wissen ist. Wir werden für eine Weile so tun, als ob Äußerungen wie Pakete wären, die aus unterschiedlichen Schichten bestehen. Danach erläutere ich die wichtigsten Merkmale deutscher Sätze, weil wir diese Information in den Kapiteln über den Spracherwerb brauchen, um die Erwerbsfortschritte von Kindern zu erkennen. Am Ende des Kapitels werde ich auch sehr kurz auf Kontraste zwischen Sprachen eingehen. Wichtige Unterscheidungen und eine einfache Frage: Gibt es Sprache(n)? Wir reden gerne über Sprache, als ob es sich dabei um ein klar umrissenes Objekt (ein Brötchen? ) handelte, das man von vorangegangenen Generationen in Empfang nimmt und von dem jeder Muttersprachler die gleiche Version abbekommt. An dieser Vorstellung stimmt nichts. Das Wort „Sprache“ verweist auf etwas sehr Abstraktes, das nur auf einer konzeptuellen Ebene, also nur als gedachtes Objekt, existiert. Dieses abstrakte Objekt können wir nicht direkt beobachten, vererben oder - eben wie ein Brötchen - erwerben. Sprachen können Kindern auch nicht von ihren Bezugspersonen häppchenweise serviert werden. Ein Löffelchen Adjektive für Mama, mach bitte den Mund auf. So läuft das nicht. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 20 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Alles Reden über lebende Sprachen oder ihren Verfall darf daher nicht wörtlich genommen werden. Da Sprachen keine konkreten, belebten Dinge sind, können sie nicht wie Organismen gedeihen oder sterben. Was hingegen sehr wirklich ist, sind individuelle sprachliche Wissens- oder Kenntnissysteme, u. a. das, was wir in den Sprachwissenschaften als Grammatik bezeichnen. „Sprache“ ist für uns also nur ein bequemer Deckmantel, unter dem unterschiedliche und weitgehend implizite (unbewusste) Kompetenzen und Regelsysteme zusammengefasst werden. Dieses Wissen können wir nicht direkt beobachten - es ist ja im Kopf gut verborgen -, aber wir können versuchen, es indirekt anhand des Sprachverhaltens oder mit Hilfe von experimentellen Verfahren zu erschließen. Dieses Sprachwissen werde ich im Folgenden auch als sprachliche Erkenntnisse, als sprachliche Kenntnissysteme oder als Kompetenz bezeichnen. Dabei ist Wissen von Tun oder Anwendung des Wissens zu unterscheiden. Denken wir auch hier an unsere eigene Erfahrung mit momentanen Problemen des Zugriffs auf bestimmte Bereiche unseres Wissens: Uns fallen hin und wieder (manchmal mit peinlichen Konsequenzen! ) Eigennamen nicht ein, wir haben das Gefühl, ein gesuchtes Wort „liegt uns auf der Zunge“, aber wir finden es nicht, oder wir versprechen uns, wie in den folgenden Beispielen. (1) stammt von einem Jungen, der von einem Kartenspiel berichtet, (2) wurde während eines wissenschaftlichen Vortrags produziert. (1) Chris 8; 0 Ich hab hochhaus gewonnen, äh, [LACHEN] haushoch gewonnen. (2) […] interindividuelle Unterschiede im Verhalten und Verleben, äh, Erleben (3) (über einen Hund) Keine Angst, der ist ganz harmlich. (friedlich/ harmlos) In (1) wurden die beiden Silben von haushoch miteinander vertauscht, wobei das Ergebnis wieder ein deutsches Wort ist (Hochhaus). In (2) wird der Anlaut von Verhalten auf Erleben übertragen; Fachleute sprechen hier von Reiteration. Auch hier ist das Ergebnis wieder eine schon bestehende Wortform (vgl. Er sieht ziemlich verlebt aus. Wo haben Sie diese Jahre verlebt? ). In (3) verschmelzen zwei bedeutungsähnliche Wörter (friedlich und harmlos). Das Vorhandensein von Sprachkenntnissen, die Kompetenz, ist also eine Sache, die reibungslose Verwendung dieses Sprachwissens, die so genannte Performanz, eine andere. Unsere Sprachverwendung unterliegt vielen Zufälligkeiten. Müdigkeit, eine Mittelohrentzündung, Alkohol, Ablenkung oder schlicht Desinteresse können die Sprachwahrnehmung und die Sprachproduktion beeinträchtigen. Deshalb ist es auch nicht immer einfach, bei Lernern und Lernerinnen zwischen dem jeweiligen Kenntnisstand und momentanen Fehlleistungen zu unterscheiden. Betrachten wir dazu ein konkretes Beispiel aus Tracy (1991). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Unterscheidungen und eine einfache Frage: Gibt es Sprache(n)? 21 (4) Julia 2; 8 Wart mal, Frau Tracy, bis ich fertig mim Pinkeln bis. (anstatt bin) Hat Julia noch Probleme mit der Übereinstimmung des Verbs (genauer: der Verbflexion oder -beugung)? Weiß Julia nicht, dass sie beim Auftreten von ich die Verbform bin, also ein Verb der 1. Person Einzahl, wählen muss? Da für Julia eine umfangreiche Äußerungsmenge vorliegt (vgl. Tracy 1991), kann man diese Frage beantworten. In einer Gesamtmenge von über 150 Verben ließen sich bei ihr keine wirklichen Abweichungen feststellen. Wir können also davon ausgehen, dass es sich bei (4) um einen Versprecher, nicht um fehlendes Wissen, handelt. Julias Versprecher wurde wahrscheinlich dadurch hervorgerufen, dass das Wort bis, eine so genannte Konjunktion, zufällig identisch ist mit einer Form des Verbs sein, nämlich bis(t). Ich werde in diesem Buch (vor allem in Kapitel 3 und 5) näher auf Wörter eingehen, die von ihrer Bedeutung her nichts gemeinsam haben, die sich aber wegen ihrer Ähnlichkeit (wie bist und bis) gegenseitig „aktivieren“, d. h. einander „aufrufen“, und zwar bei SprecherInnen jeden Alters. Fehlleistungen sind nicht an gesprochene Sprache gebunden, wie das folgende Beispiel zeigt. Dabei handelt es sich um eine absolute Glanzleistung, da sie es auf die Titelseite einer deutschen Fernsehzeitschrift schaffte. Sweatheart - Paradebeispiel für eine sprachliche Fehlleistung © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 22 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Anstatt des englischen sweet (wörtlich: süß) im eigentlich angestrebten Wort Sweetheart (am besten übersetzt mit Liebling, Schatz) erscheint hier irrtümlicherweise sweat (dt. Schweiß, schwitzen), wie in Sweatshirt. Es handelt sich bei Sweatheart (wörtlich „Schweißherz“) um das Gegenstück einer Reiteration, nämlich um eine Antizipation, eine Vorwegnahme der in heart vertretenen Buchstabenfolge „ea“. Mit diesem Titelblatt hätte man vielleicht Meg Ryans Sinn für Humor gut testen können! Ist es nicht bemerkenswert, wie schnell SprecherInnen, Kinder wie Erwachsene, merken können, dass etwas an einer eigenen Äußerung nicht stimmt? Anhand des Lachens in (1) sieht man, dass manche Versprecher bewusst erkannt werden. Egal, ob uns unsere Umwelt verbessert oder nicht: Offenkundig sind wir auch alleine in der Lage, strenge Maßstäbe an unsere Äußerungen anzulegen. Wir beobachten uns gewissermaßen selbst beim Sprechen und fragen uns kritisch: Wollte/ Sollte ich das jetzt eigentlich so sagen? Wir überprüfen also den Inhalt und die Form unserer Äußerungen und „reparieren“ oftmals umgehend, was wir als abweichend und fehlerhaft wahrnehmen. Interessanterweise sagen uns als Wissenschaftlern Satzabbrüche, Verzögerungen (äh, ähm) und Korrekturen nicht nur viel darüber, was momentan schief läuft. Sie erlauben uns auch einen Blick auf das implizite, unbewusste Sprachwissen eines Sprechers/ einer Sprecherin. Gedankenexperiment Mit etwas Übung kann man sich gut für die Wahrnehmung von Versprechern sensibilisieren. Der langweiligste Vortrag wird auf einmal spannend, wenn man versucht, die Versprecher der Redenden herauszuhören. Hinweise für eine Zuordnung von Versprechern zu bestimmten Klassen, z. B. Antizipationen oder Verschmelzungen, finden Sie in den Büchern von Helen Leuninger, die ich unter den Leseempfehlungen angeführt habe. Wenn Sie erst einmal damit begonnen haben, Fehlleistungen zu sammeln, werden Sie merken, dass bei den meisten Versprechern weniger (Sigmund) Freud als vielmehr unser grammatisches Wissen und vor allem unser Wortschatz die Hand im Spiel hat. Wenn Sie Ihre Freunde behalten wollen, sollten Sie allerdings besser nicht jeden Versprecher lachend kommentieren (Ha,ha, das war mal wieder klasse, muss ich gleich meiner Sammlung deiner Versprecher einverleiben! ). Am besten beginnen Sie mit der Selbstbeobachtung. Das ist ebenfalls unterhaltsam (und dient der Bescheidenheit)! Wenn sprachliches Wissen nicht direkt zugänglich ist, wie können wir dann - abgesehen von Selbstkorrekturen - überhaupt jemals etwas darüber erfahren, was eine Person weiß? Zum einen können wir natürlich aufgrund der Systematik von Äußerungen auf zugrunde liegende Kompetenzen schließen. Wir können aber auch gezielte Tests durchführen, z. B. indem wir untersuchen, wie Personen verschiedenen Alters Sätze verstehen und beurteilen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Intuitives sprachliches Wissen 23 Intuitives sprachliches Wissen und was das Ganze mit dem Paketepacken zu tun hat Betrachten wir zunächst wieder einige Beispiele: (5) Im Restaurant, Ober zum Gast: Tut mir leid, aber der Schweinebraten ist gestrichen. Gast zum Ober: In welcher Farbe? (6) Alte Männer und Frauen verließen das Boot. In (5) entsteht der Witz durch die Mehrdeutigkeit eines Wortes, denn gestrichen kann sowohl im Sinne von „von der Liste streichen/ entfernen“ und als gleichbedeutend mit „anmalen/ anstreichen“ interpretiert werden, auch wenn im vorgegebenen Rahmen (ein Restaurantbesuch) die zweite Option (anstreichen/ malen) nicht zum Erwartungshorizont gehört. Witze leben von solchen Überraschungseffekten! In (6) haben wir es mit struktureller Mehrdeutigkeit zu tun, denn das Adjektiv alt kann entweder nur zum Substantiv Männer oder zur gesamten Verknüpfung Männer und Frauen gehören. Diese beiden Interpretationsmöglichkeiten können wir durch Klammern symbolisieren, ähnlich wie wir in der Mathematik durch Klammerung anzeigen, in welcher Reihenfolge gerechnet werden soll. Ohne Klammern würden wir der Regel folgen: Punktrechnung geht vor Strichrechnung, was unserer Lösung in (7)(b) entspricht. (8) zeigt die beiden Interpretationen, die für Beispiel (6) möglich sind. (7)(a) 2 · (3 - 1) = 4 (b) (2 · 3) - 1 = 5 (8)(a) (alte (Männer und Frauen) = alte Männer und alte Frauen (b) ((alte Männer) und (Frauen)) = alte Männer und Frauen unbestimmten Alters In längeren Texten fallen Mehrdeutigkeiten nicht immer auf, weil der restliche Kontext hilft, die Strukturen eindeutig zu machen. Wenn man einzelne Sätze aber aus dem Zusammenhang herauslöst, erkennt man die Mehrdeutigkeit schnell, und manchmal sind sogar mehr als zwei Interpretationen möglich, wie bei dem Satz El Greco malte den Kardinal ohne Brille (Wer hat keine Brille, El Greco oder sein Modell? Gab es zwei Kardinäle, und er erwischte den Falschen, nämlich den ohne Brille anstatt des Brillenträgers? ). Niemand hat sich, als wir klein waren, die Mühe machen müssen, uns das Erkennen von Mehrdeutigkeit beizubringen. Es handelt sich um eine Fähigkeit, die sich ganz von selbst, sozusagen gratis einstellt. Gleiches gilt für andere © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 24 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Urteile, die wir abgeben können, nämlich für unsere intuitive Fähigkeit, Sätze und Wörter als gleichbedeutend einzuschätzen. Die Beispiele (9)-(10) zeigen Sätze gleichen Inhalts, also Paraphrasen, obwohl sie sich in ihrer äußeren Form unterscheiden. (9) (a) Max hat dem Kind zum Geburtstag ein Buch geschenkt. (b) Ein Buch hat Max dem Kind zum Geburtstag geschenkt. (c) Zum Geburtstag hat Max dem Kind ein Buch geschenkt. (10) (a) Der Mann verstarb letzte Woche. (b) Der Typ guckt sich seit letzter Woche die Radieschen von unten an. Wir erkennen spontan, dass es sich bei allen Sätzen von (9) um eine Beschreibung des gleichen Ereignisses handelt, auch wenn wir den Eindruck haben, dass − nicht zuletzt abhängig von der Betonung − unterschiedliche Aspekte hervorgehoben wurden. In allen Fällen wissen wir: Jemand (Max) gibt jemandem (dem Kind) etwas (ein Buch) zu einem bestimmten Zeitpunkt (zum Geburtstag). Auch in (10) geht es auf einer Ebene um inhaltliche Identität, d. h. um das gleiche Ereignis: Jemand ist eine Woche zuvor verstorben. Allerdings teilt uns die nicht gerade neutrale Ausdrucksweise in (10)(b) auch eine Menge über die Einstellung des Sprechers/ der Sprecherin zu „dem Typen“ mit: Er/ sie scheint nicht gerade zu trauern! Die Fähigkeit, Paraphrasen zu bilden, lässt sich im Spracherwerb früh nachweisen, wie die folgenden Beispiele von einem kleinen Mädchen, Stephanie, zeigen, das zu diesem Zeitpunkt keine zwei Jahre alt war. (11) Erw. Was macht der Papa? Stephanie 1; 11 Der sikt. Erw. Der macht was? S. Der sikt. Der macht Sik. Erkennen Sie, was Stephanie meint? Das Verb siken wurde von dem später in der gleichen Episode auftauchenden Wort Sik abgeleitet. Sik seinerseits entspricht unserem Musik, d. h. muSIK, dessen erste Silbe unbetont ist und daher ausgelassen wird. Als Reaktion auf das anfängliche Nichtverstehen ihrer Gesprächspartnerin formuliert Stephanie als Paraphrase: Der macht sik. In der nächsten Episode will Stephanie ihren Vater dazu bewegen, aus Kissen eine Brücke zu bauen, die sie vorher kaputt gemacht hatte. (12) Stephanie 1; 10 Da Brücke neu machen. Papa machen. Ein Brücke machen. Jetzt wieder neu Papa machen. Brücke Papa wieder neu machen. Das Papa wieder neu machen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Intuitives sprachliches Wissen 25 Stephanie verfügt also bereits über ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten, den gleichen Inhalt mitzuteilen. In (11) versucht sie, ihrer Gesprächspartnerin (mir) auf die Sprünge zu helfen. In (12) bemüht sie sich, ihren Vater dazu zu bewegen, ihrem Wunsch zu folgen - zwei nahe liegende Gründe für Selbstparaphrasen. Unsere Fähigkeit, Sätze und Wörter zu beurteilen, beschränkt sich nicht auf Mehrdeutigkeiten (Wann gibt es mehr als eine Interpretation für eine Form? ) und Paraphrasen (Wann bedeuten unterschiedliche Formen das Gleiche? ). Wir können Sätze noch nach anderen Kriterien beurteilen, zum Beispiel danach, ob sie unseren impliziten „Standards“ entsprechen, d. h. ob wir sie für „wohlgeformt“ - eine im Deutschen etwas altmodisch klingende Übersetzung des englischen wellformed - halten. Dies werde ich anhand einer Reihe von Beispielen erläutern. Zunächst möchte ich Sie allerdings bitten, sich Äußerungen oder Sätze wie Pakete vorzustellen, die zwischen GesprächspartnerInnen hin- und herwechseln, in etwa so wie in der folgenden Grafik. Ein Sternchen (*) deutet an, dass das Wort oder ein Satz unserer Intuition nach im Deutschen nicht möglich, also nicht wohlgeformt ist. • Phonologie • Prosodie • Semantik • Syntax • Morphologie • Pragmatik *ftuk, *gplotr HAse *Der blaue Ball ist rot *Der Goldfisch schrieb einen Brief *Hänschen klein … Ärgernis, *Selignis Du oder Sie? Das Sprachpaket - eine geballte Ladung Information Jedes (Satz-)Paket besteht aus mehreren Schichten, und jede Schicht enthält bestimmte Bausteine und Regeln für ihre Kombination. Rechts neben dem Paket finden sich Beispiele, die ich im Folgenden diskutieren werde. Phonologie (Lautstruktur und Prosodie) Aufgrund Ihrer Kenntnis der deutschen Lautstruktur können Sie spontan sagen, dass Lautkombinationen wie *ftuk oder *gplotr keine zulässigen Wörter des Deutschen sind. Und auch wenn Sie sich vielleicht - bis jetzt - noch nie Gedanken über melodische und rhythmische Eigenschaften deutscher Wörter und Sätze gemacht haben, also über das, was Fachleute Prosodie nennen, so wissen Sie ohne nachzudenken, dass in dem deutschen Wort Hase, wie in den meisten zweisilbigen deutschen Wörtern, auf eine betonte eine unbetonte Silbe © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 26 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? folgt, hier symbolisiert durch die Schreibung HAse. Unser phonologisches Wissen hilft uns zu entscheiden, welche Lautkombinationen, Wort- und Satzrhythmen im Deutschen überhaupt „erlaubt“ sind. Wir erkennen sofort, dass es das Fantasiewort Tenden, das uns in späteren Abschnitten dieses Kapitels nochmals begegnen wird, durchaus geben könnte, es ist nur zufällig noch nicht Teil des in Ihrem Kopf gespeicherten Wortschatzes. Semantik (Satzbedeutung) Das Beispiel der nächsten Schicht unseres Pakets, *Der blaue Ball ist rot, enthält für jeden, der die Wortbedeutung von rot und blau kennt, einen Widerspruch. Aufgrund unserer Kenntnis der Bedeutung von rot und blau wissen wir, dass wir eigentlich nicht „in echt“ behaupten könnten, dass ein blauer Ball rot ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man diesen Satz nicht äußern oder nicht auf irgendeine Weise interpretieren könnte. Man stelle sich beispielsweise folgende Situation vor: (13) Max Holst du bitte mal den blauen Ball aus der Garage? Moritz Ok, mach ich. Moritz geht in die Garage, findet keinen blauen Ball, aber einen roten und nimmt ihn mit. Er überreicht ihn Max mit einem Augenzwinkern und den Worten: Der blaue Ball war rot. Was in dieser Episode von Moritz nicht ausdrücklich gesagt wird, aber gemeint ist, lässt sich in etwa wie folgt ausdrücken: Was du als blauen Ball in Erinnerung hast, ist in Wirklichkeit ein roter Ball. Eine ähnliche Szene spielt sich in (14) ab. (14) Hänsel Guck mal, ein Hund. Gretel (schaut genauer hin, lacht) Und gleich macht er miau. Dein Hund ist eine Katze! Durch die (eigentlich) unmögliche Aussage Dein Hund ist eine Katze! berichtigt Gretel Hänsels Irrtum auf humorvolle Art und Weise. Wir können nicht nur offensichtliche Widersprüche erkennen, sondern sind auch in der Lage, Sätze in anderer Hinsicht als mehr oder weniger absonderlich zu beurteilen. Zu dieser Einschätzung kämen wir beispielsweise bei dem Satz in (15). (15) Der Goldfisch schrieb einen Brief. Was stimmt hier nicht? Das Problem liegt in der Verbindung zwischen dem Verb schreiben und einem Goldfisch als Schreiberling. Schreiben kann man eigentlich © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Intuitives sprachliches Wissen 27 nur verwenden, wenn der/ die Schreibende ein Mensch ist und noch dazu jemand, der einen Stift halten oder eine Tastatur bedienen kann, die Schriftsprache beherrscht und weiß, was ein Brief ist. Exkurs Ich habe vor vielen Jahren, als es noch Schreibmaschinen gab, die fünfjährige Katja gefragt, was sie davon hält, wenn ich sage: Die Schreibmaschine schreibt einen Brief an ihren Freund. Ich zitiere ihr Urteil: Hehehe, eine Schreibmaschine kann doch nicht schreiben, die hat ja keine Hände. Und Freunde hat sie auch nicht, aber sie ist sehr beliebt. Wichtiger Bestandteil des Konzepts „schreiben“ ist offensichtlich, dass man dies mit Händen tut. Als unbelebtes Objekt kann eine Schreibmaschine zwar keine Freunde haben, aber, wie Katja hier hervorhebt, sie kann sich dennoch großer Beliebtheit erfreuen. Auf der Ebene der Satzsemantik beurteilen wir, wie gut die Bedeutungen einzelner Wörter zusammenpassen. Dabei spielen Verben eine ganz besonders wichtige Rolle, wie ich in einem Abschnitt über unseren Wortschatz noch einmal verdeutlichen werde. Syntax (Satzbau, Kombination von Satzgliedern zu Sätzen) Gehen wir nun zur nächsten Schicht des Pakets über, zur Syntax und zu unseren Intuitionen über Sätze. Testen Sie Ihr Sprachgefühl einmal anhand des Liedanfangs von Hänschen klein. Um des Reimes Willen (Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein) verletzen wir die Regel, dass im Deutschen das Eigenschaftswort (Adjektiv) vor dem Substantiv stehen sollte (wie in der kleine Hans). Auch wenn wir dieses Lied häufig singen, kämen wir sicher nicht auf die Idee, die Wortfolge Substantiv-Adjektiv in unsere normalen Äußerungen zu übernehmen und zu einem Verkäufer zu sagen: Ich hätte gerne einen Apfel großen grünen (bzw. ein Brötchen dunkles), es sei denn, Ihre Erstsprache wäre Spanisch oder eine andere Sprache, in der Adjektive dem Substantiv folgen. Wir akzeptieren solche Abweichungen lediglich in besonderen Genres (Textarten), z. B. Gedichten und Liedern (man denke an Röslein rot). Wer die deutsche Grammatik gemeistert hat, erkennt sofort, dass die Sätze in (16) die Regeln der Wortstellung verletzen. Interessant ist übrigens, dass (a)-(c) ganz typisch für Abweichungen sind, die erwachsene Zweitsprachlerner des Deutschen produzieren. (16) (a) *Dann der geht ins Haus. (b) *Dann bin ich gegangen mit meinen Freunden ins Haus. (c) *Ich weiss, dass er hat einen Apfel gegessen. (d) *Auf habe ich den Apfel gegessen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 28 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Gedankenexperiment Überlegen Sie doch bitte schon einmal, worin genau diese Sätze von „normalen“ deutschen Sätzen abweichen. Gegen Ende des Kapitels können Sie dann Ihren jetzigen Eindruck mit dem vergleichen, was Ihnen später, nach Lektüre des Kapitels, auffällt. Haben Sie übrigens bemerkt, dass uns die syntaktischen Abweichungen in (16) in keinster Weise daran hindern, diese Sätze zu interpretieren? Wir verstehen recht gut, was gemeint ist, auch wenn wir zugleich „knallhart“ erkennen, dass unsere (eigene) Grammatik solche Strukturen im Grunde nicht erlaubt. Für den Fall, dass Sie schon neugierig darauf sind zu erfahren, wie und wann Kinder die Syntax eigener Äußerungen korrigieren, führe ich hier schon einmal ein Beispiel an. In (17) handelt es sich um die Korrektur eines Versprechers - offensichtlich auch aus der Sicht des Kindes! (17) Mirko 2; 3 Zeigt in einem Bilderbuch auf eine Krankenhausszene. Die sagt da Krankenschwester? Erw. Wie bitte? Mirko Da sagt die Krankenschwester? In der ersten Äußerung vertauscht Mirko zwei Elemente (die/ da), ein Versprecher, der nach der Rückfrage der Gesprächspartnerin sofort von ihm repariert wird. Selbstkorrekturen dieser Art und Umformulierungen werden uns in den Kapiteln über den kindlichen Spracherwerb noch häufiger begegnen. Morphologie (Wortbildung und Flexion) Die Morphologie regelt den Aufbau von Wörtern, unter anderem die Anpassung der Wortformen an ihre Umgebung im Satz. Auch wenn wir im Normalfall nicht erklären könnten warum, wissen wir, dass es Ärgernis, nicht Ärgerkeit, Ärgerheit oder Ärgertum heißt; dass Seligkeit wohlgeformt ist, nicht aber Selignis. Die morphologische Schicht zeichnet sich im Deutschen durch ein hohes Maß an Komplexität aus. Man denke beispielsweise an die Pluralbildung (Mehrzahlbildung), z. B. Mutter/ Mütter, Hase/ Hasen, Wagen/ Wagen, Radio/ Radios, Topf/ Töpfe, um nur einige Möglichkeiten zu nennen, und an die Notwendigkeit, jedes Substantiv in eine von drei Genus- oder Geschlechtskategorien zu sortieren (männlich, weiblich oder sächlich). Auch hier bietet sich wieder der Vergleich mit den Brötchen an, die man in verschiedene Körbe verteilen soll. Obwohl wir uns im Großen und Ganzen bezüglich des Genus einig wären, gibt es Spielraum für dialektale Unterschiede. So könnten Sie als Schwabe oder Schwäbin durch das Tunnel zum Bäcker fahren und sich danach den Butter auf die Seele schmieren (s. dazu den Exkurs auf der nächsten Seite). Aber schon © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Intuitives sprachliches Wissen 29 von Ihren Nachbarn können Sie sich hinsichtlich des Genus in einigen Fällen unterscheiden. Was sagt Ihnen beispielsweise Ihr Sprachgefühl bezüglich des Genus von Joghurt (der/ das? ), Mail (das/ die? ), Bonbon (der/ das? ), Trampel (der/ das/ die), Python (der/ die)? Exkurs Erläuternd sollte ich hinzufügen, dass man sich in Baden-Württemberg beim Bäcker tatsächlich Seelen kaufen kann: eine Art schwäbisches Baguette-Brötchen. Den Wunsch nach der Seele äußert man dann in der Bäckerei in etwa so: Hätte Se mir ä Sääle? Gedankenexperiment (1) Welches Genus (Geschlecht) haben folgende Substantive: Topf, Pflanze, Regal? Ja, es ist der/ ein Topf, die/ eine Pflanze, das/ ein Regal. Bilden Sie nun mit den oben genannten Wörtern Wortverbindungen (Komposita) wie Topfpflanze, Pflanzentopf, Topfpflanzenregal, Topfpflanzenverkäufer, Pflanzentopfverkäufer, Hauspflanze, Topfpflanzenverkäuferschulung, Hauspflanzentopfverkäuferweiterbildungsseminar etc. und entscheiden Sie, welches Genus in jedem Fall das Richtige wäre. (2) Können Sie die morphologische Regel, der Sie dabei gefolgt sind, formulieren? Wahrscheinlich ja. Dies vermute ich mal aufgrund meiner Erfahrung mit einer Veranstaltung im Rahmen der Mannheimer „Kinderuni“, bei der die 6bis 12-jährigen anwesenden Kinder kaum nachdenken mussten, bevor sie (natürlich in anderen Worten) antworteten: Das letzte Wort innerhalb des Kompositums entscheidet, welches Genus das Ganze erhält. Bei der Zuordnung von Artikeln zu Substantiven können wir nur gewissen Daumenregeln folgen: So sind die meisten zweisilbigen Hauptwörter, die auf einem unbetonten -e enden, weiblich bzw. feminin (Pflanze, Tatze, Fliege, Seife, Nase …), aber eben nicht alle (Hase, Junge). Die meisten Einsilber mit mehreren Konsonanten (Mitlauten) am Wortende sind maskulin, also männlich (Topf, Knopf, Zopf …), aber halt nicht alle (Luft, Sucht …). Außerdem kann man manchmal der Regel des natürlichen Genus folgen (der Junge, der Vater, die Mutter, die Tante, aber: das Weib, das Mädchen …). Im Gegensatz zu diesen intuitiv von uns beherrschten, oft kaum dem Bewusstsein zugänglichen Zuordnungen finden wir in (2) unseres Gedankenexperiments tatsächlich eine Regel, wie wir sie uns kaum eleganter wünschen könnten. Immer wieder besteht die Erwerbsaufgabe eines Lerners/ einer Lernerin darin zu entscheiden, was sich durch eine allgemeine Regel erfassen lässt und was als einzelne Formen, als „Ausnahmen“, im mentalen Lexikon, unserem Wortschatz, zu speichern ist. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 30 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Exkurs Wie sieht es mit Ihrer Intuition aus bei fragen: du frägst/ fragst? Welche Vergangenheitsform von backen gehört zu Ihrem Repertoire: buk, backte? Vielleicht benutzen Sie ja beides, je nach Alter, Dialekt, Formalität des Kontexts und Medium (schriftlich, mündlich). Auch an dieser Stelle möchte ich wieder einige Beispiele für die frühen morphologischen Kompetenzen von Kindern anführen, vgl. (18)-(19). (18) Hannah 2; 4 Ich bine ein Doktor. (19) Chris 4; 5 Unten erknalle ich dich aber. (beim Cowboyspiel, zu einem Freund) Hannah weiß bereits, dass Verben, die mit ich in Person und Zahl übereinstimmen (man sagt hier: kongruieren), im Normalfall auf -e enden (wie in ich sehe/ kaufe/ renne). In (18) wendet sie diese Regel auch da an, wo sie nicht benötigt wird, weil bin schon deutlich macht, dass es sich um eine Form der 1. Person Singular (Einzahl) handelt. Zu diesem Zeitpunkt sagt sie auch ich kanne. In (19) vermuten wir aufgrund des Kontextes - es ist Fasching und Chris hält eine Spielzeugpistole in der Hand -, dass der Junge erknallen analog zu erschießen gebildet hat. In (20) handelt es sich um eine Selbstkorrektur. Julia beginnt zunächst mit einer Form, dasa, die sie monatelang als ganzheitliche Formel verwendet hat, z. B. in Äußerungen wie dasa/ dase Haus/ Ball/ Kinan (= Kinder)/ Leute etc.). „Ganzheitlich“ heißt, dass Julia dasa anfangs als ein Wort in ihrem Lexikon gespeichert hat. (20) Julia 2; 4 beim Bilderbetrachten, sie deutet auf eine Vogelscheuche. Dasa Schava … Da isi Vogelscheuch. In (20) nimmt Julia gleich zwei Verbesserungen vor: Sie knackt die Formel (d. h. dasa wird zu da isi), und sie ersetzt ihr „Babywort“ Schava durch die Erwachsenenform Vogelscheuche. Diese Selbstkorrektur ist übrigens keine Ausnahme, denn es finden sich ähnliche Sequenzen im gleichen Korpus, d. h. in weiteren Äußerungen des gleichen Aufnahmezeitpunkts, und die Reihenfolge alte Form vor neuer Form ist immer die gleiche. Auch daraus können wir schließen, dass es sich aus Sicht des Kindes nicht lediglich um eine beliebige Folge von Alternativen handelt. Was also lernen wir aus Paraphrasen und Selbstkorrekturen von Kindern? Paraphrasen zeigen, welche Äußerungen aus Sicht der Kinder Identisches ausdrücken. Gleichzeitig steckt im Einsatz von Paraphrasen auch schon beeindruckende kommunikative Kompetenz. Kinder wissen früh, dass sie durch Umformulierungen ihren Hörern das Verstehen erleichtern können. Selbst- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Intuitives sprachliches Wissen 31 korrekturen (spontan oder durch Rückfragen ausgelöst) erlauben uns Rückschlüsse darauf, welche Eigenschaften ihrer Äußerungen die Kinder selbst für mangelhaft halten. Pragmatik (Kontextangemessenheit, Gebrauchsbedingungen) Zusätzlich zu allem Wissen über Formen und Inhalte von Wörtern und Sätzen verfügen wir über recht genaue Intuitionen bezüglich einer angemessenen Sprachverwendung. Im Deutschen nutzen wir dieses Wissen beispielsweise bei der Wahl von Anredeformen. Ob es angemessen ist, jemanden zu duzen oder zu siezen, hängt u. a. vom Alter der GesprächspartnerInnen, von ihrem relativen Status, von ihrem Bekanntheitsgrad und von Gruppenkonventionen ab (Mitgliedschaft in Sportvereinen o. ä.). Die Pragmatik regelt auch, wie höflich das Paket beim Sprecherwechsel hin und her wandert, wie direkt oder indirekt wir etwas formulieren und ob ein Thema überhaupt angesprochen werden darf. Gedankenexperiment (nur mit Vorsicht wirklich auszuprobieren! ) (1) Sie sitzen mit flüchtigen Bekannten in einem Hotel am Frühstückstisch und hätten gerne das Salz, das ihr Nachbar zur Rechten gerade benutzt hat. Was sagen Sie? Dürfte ich Sie/ Dich bitten, mir das Salz zu geben? Kann ich (bitte) mal das Salz haben? Ich greif mal eben über Sie/ Dich weg und schnapp mir das Salz. Salz, bitte! Her mit dem Salz! Lassen Sie/ Lass mal das Salz rüberwachsen! Haben Sie das Salz gekauft? Brauchen Sie/ brauchst Du (etwa) das ganze Salz? Brauchen Sie/ Brauchst Du das Salz (etwa) noch lange? Sie sehen, warum ich hier tatsächlich nur ein Gedankenexperiment empfehlen würde! Achten Sie auch mal darauf, dass die beiden letzten Varianten nochmals unverschämter wirken, wenn man das kleine Wörtchen etwa einfügt. (2) Pronomen sind Wörter einer geschlossenen Klasse, die ein Substantiv ersetzen können (ich, du, er, sie, es, dieses, jenes …). Es ist sehr interessant und auch unterhaltsam, darauf zu achten, wie wir insbesondere Pronomen der 1. Person Plural (wir, uns) verwenden. Denken Sie an einen Arztbesuch. Sollten Sie vom Arzt gefragt werden: Wie geht es uns denn heute? , könnten Sie es mit folgender Antwort versuchen: Mir nicht so toll, deshalb bin ich hier. Über Sie habe ich mir allerdings heute noch keine Gedanken gemacht, ehrlich gesagt. Ich nehme nicht an, dass Sie daraufhin den Arzt wechseln müssten! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 32 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Zu unserer pragmatischen Kompetenz gehört auch das Wissen, welche Sprechhandlungen (Fragen, Versprechen, Befehle, auch als Sprechakte bezeichnet) wann angemessen sind und wer überhaupt dazu berechtigt ist, bestimmte Äußerungen zu tätigen, z. B. zwei Leute zu Mann und Frau zu erklären, jemanden zu einer Haftstrafe zu verurteilen, eine Sitzung zu eröffnen oder zu schließen oder jemanden zu taufen. Für diese Sprechakte braucht man eine besondere Legitimation, wenn man nicht für verrückt erklärt werden will! Auf den Philosophen Paul Grice (1975) geht die Annahme zurück, dass sich Gesprächspartner in der Regel kooperativ verhalten und bestimmte Maximen, Regeln des miteinander Kommunizierens, befolgen. Demnach bemüht man sich in einer Unterhaltung normalerweise darum, auf Fragen mit relevanter Information zu antworten, nicht zu viel und nicht zu wenig zu sagen und nicht zu lügen. Dies ist mindestens eine vernünftige Grundannahme. Ich werde im letzten Kapitel wieder darauf zurückkommen, wenn ich näher auf Möglichkeiten kooperativen Verhaltens in Gesprächen mit Kindern eingehe. Gedankenexperiment (bzw. ein echt gutes Spiel) (1) Dieses Spiel kann man auch mit einer größeren Gruppe gut spielen. Eine Person, nennen wir sie Martin, verlässt den Raum. Danach erklären Sie den anderen die Spielregeln: Wenn Martin den Raum wieder betritt, wird er aufgefordert, jedem Anwesenden eine Frage zu stellen. Person 1 sagt irgendetwas, beantwortet aber auf keinen Fall Martins Frage, verletzt also das Kooperationsprinzip. Dann stellt Martin Person 2 eine Frage. Person 2 beantwortet die Frage, die zuvor an Person 1 gestellt wurde. Martin (immer verwirrter! ) wendet sich mit einer Frage an Person 3, welche die an Person 2 gerichtete Frage beantwortet und so weiter. Das Spiel endet, wenn Martin herausgefunden hat, was gespielt wird. Wenn man eine größere Gruppe hat, kann man auch zwei Leute nach draußen schicken, die dann nacheinander versuchen sollen, dem seltsamen (nämlich unkooperativen! ) kommunikativen Verhalten der Gruppe auf die Schliche zu kommen. Bevor Sie das Spiel spielen lassen, sollten Sie sicher sein, dass Ihre (vermeintlich naiven) Mitspieler dieses Buch nicht gelesen haben. (2) Sie sind beim Abendessen und das Telefon klingelt. Sie nehmen ab und sagen, nachdem sich der Anrufer, ein entfernter Bekannter, zu erkennen gegeben hat: (a) Ich kann jetzt nicht sprechen. Rufen Sie bitte später nochmal an. (b) Kann ich später zurückrufen? Wir essen nämlich gerade. (c) Kann ich Sie in 17 Minuten zurückrufen? Ich esse gerade eine Möhre, meine Frau einen Hühnerflügel und mein zweijähriger Sohn ein Fischstäbchen. Warum würden Sie sich kaum für (c) entscheiden? Option (b), mit dem Angebot des Rückrufs, wäre sicher die höflichste Variante. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wortnetze im Kopf 33 Um diesen Abschnitt abzuschließen: Sätze sind vielschichtige Objekte. Ich habe versucht, dies mit Hilfe des Bilds eines „Sprachpakets“ zu verdeutlichen. Als vorläufige Erkenntnis können wir also festhalten, dass Äußerungen „von Natur aus“ komplex sind. Besonders wichtig ist, dass wir gerade dank der Beteiligung vieler Sprachebenen immer mehr als eine Aufgabe gleichzeitig erledigen können. Äußerungen transportieren Inhalte (sagen beispielsweise etwas über die Welt und über unsere Einstellung zu dieser Welt - denken Sie an den Typen, der sich die Radieschen von unten anschaut! ), und zugleich senden wir wichtige Signale an unsere Gesprächspartner(innen). Durch unsere Art, mit ihnen zu sprechen, teilen wir ihnen mit, was wir von ihnen halten, ob wir gerne mit ihnen kommunizieren und uns ihnen nah oder fern fühlen. Dieser Aspekt wird uns gleich im nächsten Kapitel, in dem es um Mehrsprachigkeit geht, aber auch in Kapitel 8 noch einmal ausgiebiger beschäftigen. In einem nächsten Schritt schauen wir uns nun zunächst einmal einen Bereich des Sprachwissens an, der gewissermaßens „quer“ zu den bisher aufgeführten Ebenen liegt bzw. Ausschnitte des Wissens aller genannten Ebenen auf sich vereint. Dabei handelt es sich um unseren Wortschatz, um das mentale Lexikon. Wortnetze im Kopf Der Umfang des menschlichen Lexikons ist beachtlich und umfasst (je nachdem, wie man Einheiten zählt und wen man untersucht) zwischen 50.000 und 150.000 Wörter. Der aktive Wortschatz (Wörter, die wir tatsächlich verwenden) ist am unteren Ende anzusiedeln und wird vom passiven Wortschatz (Wörter, die wir verstehen, aber nicht verwenden) um viele zehntausend Wörter übertroffen. Anders als die Regeln, welche die Eigenschaften der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ebenen festlegen, ist der Umfang des Lexikons abhängig vom Bildungsniveau und von den Gelegenheiten, bestimmte Wörter zu hören und - später - zu lesen. Unser aller Lexikon enthält auch im Erwachsenensystem viele fertige und daher sehr nützliche Versatzstücke (Wie geht’s? , Grüß Gott! ) und fest stehende Wendungen (jemandem auf der Nase herumtanzen, die Radieschen von unten ansehen, keinen Bock haben, einen Bock schießen), deren Bedeutung sich nicht aus der Summe der Bedeutungen der einzelnen Wörter erschließen lässt. Wörter sind oft mit Münzen verglichen worden (vgl. Aitchison 1987: Kap. 17), mit der Bedeutung auf der einen, der Form auf der anderen Seite. Bedeutungen können wir uns wie „Bündel“ von Informationen vorstellen. Diese Bündel beinhalten aber immer nur einen kleinen Teil von dem, was wir insgesamt an Kenntnissen gespeichert haben. Unser Alltagswissen über Hunde umfasst beispielsweise wesentlich mehr als das, was wir für die Bedeutungsseite der Münze und für eine angemessene Verwendung des Wortes Hund benötigen. Unser sogenanntes „enzyklopädisches“ Wissen (Weltwissen) über Hunde schließt eine Menge frag- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 34 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? würdiger und nützlicher Details ein („Hunde, die bellen, beißen nicht! “; Hunden sollte man nicht in die Augen starren, sich ihnen nicht von hinten nähern, fremde Hunde sollte man nicht streicheln etc.). An der Schnittstelle zwischen der Grundbedeutung eines Wortes (man sagt auch: lexikalischer Grundbedeutung) und Weltwissen tummeln sich oft persönlich gefärbte Assoziationen. Ob Sie bei der Erwähnung von Hund zuerst an bissig denken, an kuscheliges Fell, Zecken oder an Picco, einen ganz besonderen vierbeinigen Freund Ihrer Kindheit, hängt von Ihrer individuellen Erfahrung ab. Wie man sich anhand von Hund gut klarmachen kann, ist die Beziehung zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung (einem Konzept) oder seinen möglichen Referenten (im Fall von Hund wären dies die Hunde auf der Welt) arbiträr: Es gibt keinen Grund dafür, warum ein und dasselbe Objekt/ Wesen im Deutschen Hund und im Französischen chien heißen sollte. Auch Adjektive sind durch mannigfache Bedeutungsrelationen eng miteinander verbunden. Manche lassen sich auf einer Skala einordnen, die graduelle Unterschiede zulässt, wie bei winzig, klein, groß, riesig (Wäre für Sie klitzeklein eigentlich kleiner als winzig oder eher gleichbedeutend? ). Bei anderen sind die Gegensätze absolut, wie bei wahr/ falsch, lebendig/ tot. Von daher überrascht es auch nicht, wenn Wörter, deren Bedeutungen sich auf eine gemeinsame Dimension beziehen lassen (z. B. auf eine horizontale Achse im Fall von rechts und links oder auf eine vertikale Achse bei unter, auf, über), gerne in Versprechern auftauchen (Jetzt bitte liäh, rechts abbiegen! ). Schuld ist die gute Vernetzung von Wörtern in unserem Lexikon! Nicht alle Wörter verweisen auf Dinge und Ereignisse in der Welt. Denken Sie nur an Wörter wie ja, nein, doch, aber, weil, bloß, selbst - oder an das Wörtchen etwa in meinem letzten Gedankenexperiment -, deren Bedeutung man nicht durch Zeigen eines Objekts oder Vorführen einer Handlung klarstellen kann. Wir können nicht sagen: Schau mal, ein AUCH! Und was für ein niedliches BLOSS/ JEDOCH! und damit auf etwas verweisen, was auch, bloss etc. in der Welt entspricht. Diese Wörter beziehen sich auf vorher Gesagtes, auf Texte oder auf Meinungen, die nicht einmal explizit geäußert werden müssen. Eine konkrete Entsprechung in der Welt fehlt natürlich auch für abstrakte Begriffe wie Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Liebe und natürlich Sprache. Hinzu kommen Wörter, bei denen sich der Bezug zur Realität ständig ändern kann, wie im Fall von Wörtern, Pronomen, die auf Sprecher- und Hörerrollen verweisen (ich, du, wir, ihr). In einer Gruppe von mehreren Leuten kann jeder, sofern er/ sie das Wort ergreift, „ich“ oder (wenn angesprochen) „du“ sein. Denken Sie daran, wie oft Sie am Telefon sagen: Ich bin’s! , im Vertrauen darauf, dass man Ihre Stimme auf Anhieb erkennt, oder wie oft man sich fragt, wo sich jemand befindet, der sagt oder mailt: Bin noch hier., oder wie lange man warten soll, wenn man an einer Bürotür (ohne Zeitangabe) liest: Bin in einer halben Stunde wieder da. Anhand solcher Interpretationsprobleme sehen wir, wie wichtig es ist, unsere Äußerungen zeitlich, räumlich und hinsichtlich der Identität von Sprechern und Hörern zu „verankern.“ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wortnetze im Kopf 35 Überlegen wir auch kurz, was die Grammatik eines Lerners leisten muss, dem in seiner Umgebungssprache so unterschiedliche Wortformen wie gebe, gibst, gibt, geben, gegeben oder bin, bist, ist, sind, seid, gewesen, war, wäre etc. begegnen. Wie im Fall einer Paraphrase (d. h. Ausdrücken/ Sätzen gleicher Bedeutung, aber unterschiedlicher Form) muss es eine Grammatik schaffen, verschiedene Formen auf ein gemeinsames, abstraktes Grundwort - Fachleute sagen dazu Lexem - zu beziehen. Welche konkrete Form eines Verb-Lexems dann in einen Satz Einzug hält, entscheidet unsere Grammatik mit Hilfe der Wortumgebung: bin kann nur auftauchen, wenn es zugleich ich gibt, d. h. ein Subjekt der 1. Person Einzahl, bist nur im Fall eines Subjekts der 2. Person Singular etc. Unter allen mit dem Lexikon verbundenen Herausforderungen stellt das Austüfteln von Verbbedeutungen eine besonders anspruchsvolle Erwerbsaufgabe dar. Stellen Sie sich eine Szene auf einem Markt vor: Peter kauft Apfelsinen bei Max. Oder verkauft Max Peter Apfelsinen? Beide Verben beziehen sich auf die gleiche Szene, nur die Perspektive ist eine andere. Gleiches gilt für andere Verbpaare wie kommen und gehen, geben und nehmen. Verben sind überhaupt bemerkenswert, weil sie im Grunde schon eine ganze Geschichte in unseren Köpfen hervorrufen. Nehmen Sie beliebige Verben, z. B. lächeln, anlächeln, belächeln, und überlegen Sie, welche unmittelbaren „Mitspieler“ und welche Requisiten auf einer Bühne benötigt würden. lächeln ein (auf Dauer langweiliges) Theaterstück mit einer/ einem oder mehreren (lächelnden) Handelnden, die nichts miteinander zu tun haben müssen; anlächeln mindestens zwei Personen werden gebraucht: ein/ eine Handelnde(r) sowie ein oder mehrere Adressaten des Lächelns; belächeln mindestens zwei Personen (Handelnde und Adressaten des Lächelns) oder (mindestens) eine lächelnde Person und ein Sachverhalt, den man belächeln kann. Wir unterstellen eventuell von vornherein eine gewisse Arroganz seitens des/ der Lächelnden. Wenn wir an Verben wie geben, schenken, schreiben, bringen oder andere denken, können wir uns schnell klarmachen, dass im Grunde immer wieder die gleiche Sorte von „Mitspielern“ oder Rollen benötigt wird, beispielsweise ein Handelnder, ein Empfänger, der von der Handlung profitiert, sowie ein Objekt, das den Besitzer wechselt, manchmal Instrumente, mit deren Hilfe man etwas bewerkstelligt (vgl. Max öffnete die Tür mit einem Schlüssel.). Ein Verb zu kennen, heißt also zu wissen, welche Art von Mitspieler an dem Ereignis oder Zustand, den das Verb bezeichnet, mitwirken muss. Sätze wie *Peter schenkt oder *Hänsel verspricht werden daher von Sprechern/ Hörern des Deutschen als abweichend, da unvollständig, erkannt. Übrigens: Indem man diese Fragmente mit einer steigenden Satzmelodie produziert, kann man Kinder dazu bewegen, offen gelassene Lücken zu füllen, vgl. Bsp. 23 auf S. 122 und Kapitel 8. Auch so kann man untersuchen, wie weit sie beim Spracherwerb schon gekommen sind. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 36 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Wir werden in späteren Kapiteln, vor allem bei der Frage, wie man den Wortschatzerwerb unterstützen kann, auf einige dieser Aspekte zurückkommen. In diesem Moment mag es reichen, sich unser lexikalisches Wissen wie ein gigantisches Netz vorzustellen, in dem die einzelnen Knotenpunkte (die Wörter) sowohl infolge formaler als auch inhaltlicher, d. h. semantisch-konzeptueller Nähe miteinander verbunden sind. Gedankenexperiment Diese Vernetzung lässt sich anhand einer einfachen Aufgabe, einem so genannten Assoziationstest, nachweisen. Suchen Sie sich eine Reihe von Wörtern unterschiedlicher Wortklassen (z. B. laut, Katze, groß, reden, alt, Fluss etc.). Lesen Sie einer Gruppe von Freunden diese Wörter nacheinander (mit kurzen Pausen) vor und bitten Sie Ihre Zuhörer, nach jedem von Ihnen genannten Wort das Wort aufzuschreiben, das ihnen als erstes einfällt. Sie werden feststellen, dass es eine sehr systematische Beziehung zwischen Ihrer Wortvorgabe und der Reaktion gibt. Wenn Sie groß sagen, schreiben die meisten klein; auf alt folgt jung, auf leise wird gern mit laut reagiert. Was passiert, wenn Sie sagen: Hund, reden, Haus? Probieren Sie es einfach einmal aus. Sie können sich auch mehrere Wörter nennen lassen. Jean Aitchisons (1987) sowohl in Deutsch als auch in Englisch erschienenes Buch über das mentale Lexikon liefert einen sehr guten Überblick über die erwartbaren Assoziationen. Was hat dies alles mit dem Spracherwerb zu tun, abgesehen davon, dass das Erlernen des Wortschatzes natürlich eine beachtliche Leistung darstellt? Zunächst ist festzuhalten, dass die Suche nach systematischen Zusammenhängen zwischen Wörtern sehr früh belegt ist. Das folgende Beispiel zeigt, welche Möglichkeit ein 2-jähriges Kind für sich gefunden hat, um zwei von der Bedeutung her verwandte Wörter - im Erwachsenenlexikon ist Pilz die Oberkategorie von Champignon - herzustellen. (21) Julia 2; 4 rollt Knete zwischen ihren Händen. Ich mach ein Champilzion. In (22) unterhalten sich ein Vater und sein fünfjähriger Sohn Mark-Philip über eine Geschichte, die sie Tage zuvor gemeinsam gelesen haben. (Dieses Beispiel verdanke ich Ira Gawlitzek.) (22) Vater Was machen Jim Knopf und der Lokomotivführer in der Wüste? M.-P. Die machen jetzt eine Papa-Aktion. Gemeint ist - hätten Sie es erraten? - eine Fata Morgana! Aufgrund phonologischer Ähnlichkeit assoziiert Mark-Philip Fata mit Vater, und Vater wiederum ist © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprache als Regelsystem: ein erster Selbstversuch 37 aufgrund seiner Bedeutung eng mit Papa verbunden. Weiterhin steckt in Morgana die Lautsequenz organ, eine Form, die Mark-Philip vermutlich bereits kennt und mit organisieren in Verbindung bringt. Organisieren wiederum lässt sich durch eine Aktion durchführen/ machen paraphrasieren. Das Ergebnis des Ganzen ist dann die Papa-Aktion. Lernerdaten zeigen uns auch, dass lexikalische Vernetzung nicht an Sprachgrenzen haltmacht. Dies findet manchmal seinen Niederschlag in recht anspruchsvollen Formen bilingualen „Querdenkens“ wie im Fall des 6-jährigen Chris, der mit Deutsch und Englisch aufwächst und eines Tages verkündet, man könne anstatt Thank you very much! doch auch Thank you very Dreck! sagen. Das Assoziationsnetz, das dieses Wortspiel ermöglicht, lässt sich wie folgt nachvollziehen: Zunächst einmal ruft das englische Wort much das gleich ausgesprochene deutsche Wort Matsch hervor. Dann „aktiviert“ das deutsche Wort Matsch seinerseits innerhalb des deutschen Vokabulars ein von der Bedeutung her sehr ähnliches Wort, nämlich Dreck. Schließlich wird Dreck in die ursprüngliche Formel: Thank you very ___! integriert. Ähnliche bilinguale Wortspiele finden wir auch in anderen Kontexten, z. B. in Werbeanzeigen. Das folgende Photo zeigt, wie eine Tübinger Bäckerei mit sprachübergreifenden Elementen spielt. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis zum einleitenden Thema! Zweisprachiges Wortspiel einer Bäckerei in Tübingen Sprache als Regelsystem: ein erster Selbstversuch Auch ohne detaillierte Kenntnis der Bedeutung einzelner Wörter und ohne Weltwissen im Hinterkopf sind wir in der Lage, Satzbedeutungen bis zu einem gewissen Grad aus Satzstrukturen zu erschließen. Dabei leistet unsere Grammatik ganze Arbeit. Dies lässt sich anhand des folgenden Beispiels demonstrieren. (23) Der gloke Baler frohlte die morsigen Tenden. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 38 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Alle Wörter in diesem Kunstsatz sind mögliche deutsche Wörter, auch wenn es sie (bis zu diesem Moment! ) noch nicht alle als Einträge in Ihrem Lexikon gibt. Darüber hinaus sagen uns die Morphologie und die Syntax, mit welchen Wortklassen wir es in diesem Satz zu tun haben könnten. Wir erkennen der/ die als bestimmte Artikel und nehmen an, dass der gloke Baler und die morsigen Tenden jeweils zusammengehörende Wortgruppen sind, die aus Artikel, Adjektiv und Substantiv bestehen, Experten nennen so etwas Nominalphrasen, weil man anstatt von Substantiv auch Nomen sagen kann. Auch bei anderen Elementen schließen wir aus der Kombination von Form und Position, um welche Wortklassen es sich handeln könnte. Insbesondere stützen wir uns auf morphologische Struktursignale -e in gloke, -ig und -en in morsigen, -er bei Baler, -t- und -e bei frohlte, -en oder -n bei Tenden. Gerade bei Tenden könnten wir uns freilich irren. Warum sollte es sich nicht um eine Form handeln, die einen so genannten Nullplural aufweist, wie der Wagen/ die Wagen also der Tenden, die Tenden? Was immer frohlbedeuten mag, wir würden aufgrund von -tannehmen, dass es auf ein Ereignis in der Vergangenheit verweist. Wir würden weiter vermuten, dass es sich bei frohlen um ein Ereignis handelt, in dem der Baler als Handelnder eine wichtige Rolle spielt; die Tenden scheinen von der Handlung in irgendeiner Weise betroffen zu sein. Schließen Sie aber nicht zu schnell, dass der Baler den Tenden etwas Böses antut, denn frohlen könnte schließlich auch „beschenken“ bedeuten. Bei dieser Gelegenheit soll noch eine für das weitere Buch wichtige begriffliche Unterscheidung eingeführt werden: Verbformen, die mit dem Subjekt in Person und Numerus (Einzahl, Mehrzahl) übereinstimmen und Zeitmerkmale (etwa Gegenwart, Vergangenheit) tragen, werden als finit bezeichnet. Es heißt eben korrekt: Der Baler frohlte und Die Wölfe heulten. Den Gegensatz bilden die sog. infiniten oder nicht-finiten Formen, hierzu zählt die Grundform des Verbs, hier: frohlen, oder das sog. Partizip (gefrohlt). Ungeachtet unserer Spekulation über die Bedeutung des Satzes ist es uns ein Leichtes, folgende neue, nie gehörte Strukturen abzuleiten: (24) (a) Der Baler ist glok. Die Tenden sind morsig. (b) Baler frohlen Tenden. (c) Frohlen Baler nur morsige Tenden? (d) Tenden sind frohlbar, werden gefrohlt. (e) Der Tenden frohlende Baler … Eine Grammatik ist also eine Art „Maschine im Kopf“, mit deren Hilfe wir neue Strukturformate aus alten ableiten können. Die Grammatik natürlicher Sprachen ermöglicht es vor allem, wie wir bereits in meiner Einleitung gesehen haben, „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch“ zu machen (v. Humboldt (1836/ 1960: CXXII)). Wie das im Fall des Baler-Satzes aussehen könnte, zeigt folgender Versuch: © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Die Architektur deutscher Sätze 39 (25) Der Baler, der meines Erachtens glok war, frohlte zwei Tenden, die bereits einen ziemlich morsigen Eindruck machten, weil sie die ganze Frohlerei ziemlich leid waren, obwohl sie im Prinzip nichts gegen ungloke Baler gehabt hätten, wenn … An der Tatsache, dass insbesondere „verschachtelte“ Sätze vom Zuhörer (einschließlich des Sprechers! ) schließlich nicht mehr verarbeitet werden können, ist die Grammatik selbst unschuldig. Sie stellt lediglich die Möglichkeit zur Konstruktion einer „unendlichen Geschichte“ zur Verfügung. Was wir dann damit machen, ist eine andere Sache. Die Architektur deutscher Sätze Nach diesem Einstieg über geheimnisvolle Charaktere wie gloke Baler und morsige Tenden sind wir bestens gewappnet für unseren nächsten Fall. Dazu betrachten wir zunächst folgende kleine Geschichte. (26) Der Frosch saß unter einem Seerosenblatt. Seit Tagen hatte er keine einzige Fliege gefangen. Was sollte er nur machen? Ich gebe die Hoffnung nicht auf! , dachte er schließlich. Eine Prinzessin küsse ich nur im Notfall, wenn es keine Alternative mehr gibt. Unsere Aufgabe besteht darin, diese Sätze zu analysieren bzw. sie „aufzuräumen“. Wie gehen wir am besten vor? Dazu zunächst der hilfreiche Tipp eines Dozenten (H. Dörr), der seit vielen Jahren in Heidelberg Deutschkurse für Studierende aus dem Ausland erteilt und ihnen am Anfang eines Kurses beibringt, wie man auf Deutsch zählt, nämlich: „Eins, Verbzweit, drei, vier …“. Als zweiten Tipp gebe ich Ihnen als Leitidee folgendes Bild mit auf den Weg: Punktlandung auf V2 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 40 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Damit sind wir nun auch für den Ernstfall, den sprachwissenschaftlichen Blickwinkel, gut gerüstet. Wir bedienen uns hierzu eines topologischen Schemas (von griech. Topos, Ort), wie wir es auch im Duden ( 7 2005) vorfinden. Dieses Schema erlaubt es, einzelne Satzteile verschiedenen Feldern zuzuordnen (vgl. das Vorfeld und das Mittelfeld in (27)) und orientiert sich an den Verben. Das Deutsche ist, wie schon die Zählempfehlung „Eins, Verbzweit, drei, vier …“ zeigt, eine Sprache, bei der im Hauptsatz das Verb an der zweiten Position im Satz auftritt. Man sagt daher auch, Deutsch sei eine Verbzweit-Sprache (V2-Sprache). (27) Ein topologisches Modell deutscher Sätze SATZKLAMMER Vorfeld V2 finit Mittelfeld VE a. Der Frosch saß unter einem Seerosenblatt b. Seit Tagen hatte er keine einzige Fliege gefangen c. Was sollte er nur machen? d. Ich gebe die Hoffnung nicht auf e. dachte er schließlich f. Eine Prinzessin küsse ich nur im Notfall g. wenn es keine Alternative mehr gibt Die „Vorfeld“-Position kann durch das Subjekt (Der Frosch, er, ich, es) oder andere Elemente (seit Tagen, was, eine Prinzessin) besetzt werden. Alle nicht-finiten Verbbestandteile (Partizipien wie gefangen, Infinitive wie machen, aufgeben, Partikeln wie auf) stehen im Hauptsatz am Ende des Satzes, in der rechten Satzklammer. Werden Sätze, wie beispielsweise in (g) durch eine Konjunktion (wenn) eingeleitet, so erscheint das finite Verb am Satzende in der Position der rechten Satzklammer. Das Deutsche weist bezüglich der Verbstellung in Haupt- und Nebensatz eine asymmetrische Struktur auf - für Lerner eine Herausforderung besonderer Art, wie wir sehen werden. Die genannten Sachverhalte lassen sich wie folgt zusammenfassen, wobei (28)(a) den typischen Hauptsatz, (b) den typischen Nebensatz abbildet. (28) (a) Vorfeld V2[+finit] … Mittelfeld ……… VE [-finit] (Nachfeld) (b) Konj./ Rel. ……………………… VE [+finit] (Nachfeld) SATZKLAMMER © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Die Architektur deutscher Sätze 41 Unsere mentale Grammatik regelt also nicht nur, wo etwas auftreten muss, wie die Verben im Satz, sondern auch, unter welchen Bedingungen wo etwas fehlen darf, wie beispielsweise ein Element im Vorfeld. So ist es durchaus möglich, auf eine Frage wie: Soll ich Dir meinen Harry Potter leihen? mit Kenn ich schon zu antworten, d. h. das Vorfeld kann in diesem Fall leer bleiben. Ich habe bisher auf grammatische Feinheiten verzichtet, die das überschaubare Bild deutscher Sätze verkompliziert hätten. Diese Feinheiten betreffen u. a. die Verteilung von Kasusformen, also der verschiedenen Fälle (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ), sowie einen Bereich, den ich schon kurz angerissen hatte, nämlich die Kennzeichnung von Genus (maskulin, feminin, neutrum) und Numerus (Einzahl/ Mehrzahl). Es ist insofern gerechtfertigt, alle drei (Kasus, Genus, Numerus) in einem Atemzug zu nennen, weil sie im Deutschen auf recht komplexe Art miteinander zusammenhängen. Es sind die gleichen Wortklassen (Artikel, Mengenausdrücke wie jede, alle, Adjektive und Substantive), an denen Kasus (nur in wenigen Fällen am Substantiv selbst), Genus und Numerus „markiert“ werden. So muss es beispielsweise im Deutschen heißen: ein kleines grünes Auto (Artikel, Adjektive und Substantiv signalisieren: Nominativ Singular eines sächlichen Hauptworts), steht aber der bestimmte Artikel, lautet die richtige Form: das kleine grüne Auto, im Genitiv Singular liest sich das dann so: eines/ des kleinen grünen Autos etc. Ausschlaggebend für die Kasusmarkierung, und hier zeigt sich der enge Zusammenhang mit der gesamten syntaktischen Struktur, sind spezifische „Aufgaben“ (Funktionen) von Satzgliedern: Subjekte erscheinen im Nominativ, direkte Objekte von Verben typischerweise im Akkusativ und indirekte Objekte typischerweise im Dativ, also: Sie (Subjekt) gibt ihm (indirektes Objekt) einen Korb (direktes Objekt). „Typischerweise“ heißt nichts anderes, als dass einzelne Verben davon abweichen können: Das Verb vertrauen erfordert ein direktes Objekt im Dativ (ich [NOM] vertraue ihm/ ihr/ ihnen [D AT ] ), beschuldigen weist dem indirekten Objekt den Genitiv zu (Er beschuldigt ihn [A KK ] der/ einer Tat [G EN ] ). Versprechen und geben hingegen verhalten sich prototypisch: Das direkte Objekt erscheint im Akkusativ, das indirekte Objekt im Dativ: ich [NOM] verspreche/ gebe ihm [D AT ] einen Apfel [A KK ] . Die Ähnlichkeit von Formen wie ein/ einen/ einem, ihn/ ihm lässt uns allerdings befürchten, dass der Erwerbsprozess nicht ganz einfach ist. Vor allem unter eingeschränkten Inputmöglichkeiten - wie dies gerade beim Zweitspracherwerb häufig der Fall ist, weil Gelegenheiten fehlen, mehr Deutsch zu hören, sollte sich das Problem mangelnder Unterscheidbarkeit verzögernd auswirken. Der Kasus an sich lässt sich jedenfalls wunderbar in das von mir zuvor entworfene Bild des Verbs als „Geschichtenerzähler“ integrieren: Die Menge der Mitspieler/ Rollen, die ein jedes Verb mit sich bringt - ich erinnere an den Handelnden, den Empfänger usw. - muss nämlich nicht nur auf der Bühne (d. h. im Satz) mit Positionen versorgt werden. Die Rollen/ Mitspieler müssen auch mit bestimmten „Requisiten“ ausgestattet werden: eben mit dem Kasus! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 42 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Interessant ist übrigens, dass, ebenso wie jede Rolle nur einmal vergeben werden kann, so auch nur jeder Kasus genau einmal verteilt werden darf! Es gibt nur ganz wenige Ausnahmen, z. B. Sätze mit dem Verb sein: Ich bin ein Frosch (zweimal Nominativ), Dein Kleid will mich was lehren (zweimal Akkusativ). Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass Präpositionen ebenfalls Kasus verteilen können. Präposition bedeutet „Vorangestelltes“: Es handelt sich hier also um ein Wort, das vor einem anderen, in der Regel einem Substantiv steht, wie etwa zu, an, auf. So schreiben oder senden wir zwar einem Freund [D AT ] einen Brief [A KK ] , aber einen Brief [A KK ] an einen Freund [A KK ] . Ich schaue sie an, aber ich schaue zu ihr. Der Akkusativ stimmt mit einer dynamischen, direktionalen Lesart überein (auf den Tisch springen, unter die Decke kriechen), während der Dativ mit einer statischen Interpretation einhergeht. Bei auf dem Tisch (herum)springen und unter der Decke (herum)kriechen findet zwar auch Bewegung statt, aber man befindet sich bereits am Ort des Geschehens, nämlich unter der Decke oder auf dem Tisch. Bevor Sie unter dem Tisch liegen, sich eine Decke über den Kopf ziehen oder gar das Buch in die Ecke pfeffern, ist es nun an der Zeit, diese Diskussion abzubrechen und einen kurzen Blick über den Zaun zu werfen. Ein kurzer Blick über den Zaun: Sprachen im Vergleich Weltweit existieren in etwa 4.000 bis 6.000 Sprachen, die sich mindestens oberflächlich erheblich voneinander unterscheiden. Dennoch: Sobald man mit einer geeigneten theoretischen „Brille“ ausgestattet ist, erkennt man viele Gemeinsamkeiten. Diese Einsicht hat SprachwissenschaftlerInnen dazu bewogen, sprachliche Universalien anzunehmen, gewissermaßen eine Art „Formatvorlage“ für natürliche Sprachen, die wir unserer Veranlagung verdanken. Aber auch da, wo sich erhebliche Unterschiede zwischen Sprachen zeigen, sind diese systematisch und fallen in bestimmte Klassen. Auf der Ebene der Phonologie unterscheiden sich Sprachen darin, welche Silben im Wort betont werden, ob sie offene und/ oder geschlossene Silben erlauben und welche Lautkombinationen sie zulassen. Zu den morphologischen Unterschieden gehören z. B. andere Arten der Kasuszuweisung. Im Türkischen und Russischen wird der Kasus beispielsweise am Substantiv selbst gekennzeichnet, da es keine Artikel gibt; im heutigen Englisch findet man nur noch bei den Pronomen die Unterscheidung von Kasusformen (I, me). Wenn wir die Flexion von Verben vergleichen, sehen wir auch, dass einige Sprachen einen sehr großen Formenreichtum aufweisen, z. B. das Italienische und das Spanische, während das Englische nur noch über ein einziges Verb verfügt, das im Singular für jede Person eine entsprechende Form aufweist, nämlich be mit am, are, is. Ansonsten bleibt nur noch das -s der 3. Person Singular Präsens (der Gegenwart), wie im Fall runs, jumps. Auch © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Ein kurzer Blick über den Zaun: Sprachen im Vergleich 43 hinsichtlich der Genus- und Pluralmarkierung unterscheiden sich Sprachen erheblich: Der deutschen Vielfalt bei der Kennzeichnung der Mehrzahl stehen im Englischen eigentlich nur drei Optionen gegenüber, vgl. die Aussprache in hats, mails, houses sowie einige unregelmäßige Formen (mice, women, oxen). Im Französischen haben wir ein relativ transparentes, am Wortauslaut orientiertes Genus-System, das von Kindern früh gemeistert wird. Sprachen können es ihren Lernern leichter oder schwerer machen, bestimmte grammatische Konzepte zu entdecken und die dazugehörige Formenvielfalt in den Griff zu bekommen. Auf der Ebene der Semantik kann man vergleichen, wie unterschiedlich Sprachen Konzepte lexikalisieren, d. h. durch einzelne Lexeme ausdrücken. Im Englischen wird beispielsweise oft gleich mit dem Verb viel Information über die Art der Bewegung mitgeliefert: skip etwa bedeutet abwechselnd auf einem Bein hüpfen. Diese Bedeutung kann im Deutschen nicht durch ein einziges Wort wiedergegeben werden. Umgekehrt verhält es sich bei Verben wie setzen, stellen, legen im Deutschen, die gegenüber dem englischen put/ place präzisere Angaben über die Art der Positionierung eines Gegenstands machen, vgl. Stell das auf den Tisch/ Leg das auf den Tisch. Auf der Ebene der Syntax finden wir schließlich Unterschiede, die auch für uns in den folgenden Kapiteln immer wieder wichtig werden: unterschiedliche Wortstellungsmuster oder die Nichtverfügbarkeit von bestimmten Wortklassen. Auf diese Unterschiede werde ich anhand entsprechender Beispiele aus der Kindersprache eingehen. Schließlich und endlich dürfen wir auch auf der pragmatischen Ebene erhebliche Unterschiede erwarten: Direktheit und Indirektheit, Höflichkeitsverhalten etc., alles Bereiche, die aus interkultureller Perspektive sehr interessant sind und über deren Erwerb man noch relativ wenig weiß. Ich werde später (Kapitel 5) anhand kindlicher Mischäußerungen zeigen, dass Kinder eine Menge über Gebrauchsbedingungen und angemessenes Sprachverhalten wissen. Gedankenexperiment (ein gutes Spiel! ) Besorgen Sie sich Bauklötze und bilden Sie zwei Teilmengen mit jeweils gleichen Klötzen. Setzen Sie zwei Leute (Max und Moritz) einander gegenüber an einen Tisch, verhindern Sie aber Sichtkontakt durch eine Trennwand/ ein Brett oder einen Karton. Geben Sie sowohl Max als auch Moritz einen Bauklotzstapel. Einer von beiden übernimmt die Aufgabe, mit den Klötzen etwas zu bauen und dem Anderen Anweisungen zu geben, was er nachbauen soll. Achten Sie auf mögliche Missverständnisse, Paraphrasen und auf die Gestik! Obwohl sich die Spieler nicht sehen können, werden manche lebhaft gestikulieren. Erlauben Sie den Mitspielern, bei neuen Runden die Rollen zu tauschen. So kann jeder mal in die Rolle desjenigen schlüpfen, der die Anweisungen produzieren oder befolgen muss. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 44 Was wird eigentlich erworben beim Spracherwerb? Zu den wichtigsten Fragen, die sich angesichts von Sprachkontrasten stellen lassen, gehören sicher die folgenden: Macht es eigentlich einen Unterschied für den Erwerbsprozess (Verlauf, Geschwindigkeit etc.), welche Sprache ein Kind als Erstsprache erwirbt? Gibt es für uns überhaupt Möglichkeiten herauszufinden, welches Sprachsystem schwerer zu „knacken“ ist als andere? In Kapitel 5 werde ich diese Fragen bejahen. Und welche Rolle könnte der Kontrast zwischen Sprachen beim doppelten Erstspracherwerb oder beim Zweitspracherwerb spielen? Fazit Sprachen beinhalten mehr als Kommunikation, und wir kommunizieren auch nicht nur durch sprachliche Zeichen. Von daher stimmt es natürlich, wenn Watzlawick et al. (1996: 53) betonen, dass man eigentlich nicht nicht kommunizieren kann. Kleidung, Auftreten, Gestik, Mimik informieren andere über uns und unsere Stimmung und Einstellung. Im Falle des Schweigens eines Gesprächspartners ist keine Antwort in der Regel auch eine Antwort. Wann immer wir sprechen oder zuhören, sehen wir uns gezwungen, viele Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen bzw., um ein Bild von Aitchison aufzugreifen, mit unterschiedlicher Information zu „jonglieren“ (1987, Kap. 15). Wir sprechen über die Welt oder unsere Gedanken, drücken damit aber gleichzeitig auch etwas über unsere eigenen Einstellungen und Befindlichkeiten aus und vollziehen noch dazu einen Sprechakt, der beim Hörer Reaktionen hervorruft - idealerweise die von uns gewünschten. Warum ist dieser Gesichtspunkt der Vielschichtigkeit sprachlicher Äußerungen und der vielen Aufgaben, die wir gleichzeitig „erledigen“, wenn wir miteinander sprechen, so wichtig und auch so besonders vielversprechend? Dies bedeutet doch, dass wir durch unsere Art des Kommunizierens Kindern noch weitaus mehr mit auf den Weg geben können als nur die Hinweise, die sie für die Konstruktion grammatischer Kenntnissysteme und eine Erweiterung ihres Weltwissens benötigen. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, dass Förderkräfte über die skizzierten theoretischen Grundlagen und ein solides methodisches Repertoire hinaus noch etwas mitbringen, was wahrscheinlich nicht einmal gelernt werden kann: eine positive Einstellung, die Fähigkeit, ein Glas als „halbvoll“ zu erkennen, wo es andere nur als „halbleer“ empfinden, sowie Spaß an Kommunikation. Weiterführende Literatur Als garantiert unterhaltsame Lektüre empfehlen sich die beiden Bücher über Versprecher von Leuninger (1996, 1998). Zum Nachschlagen von Hintergrundwissen zur Grammatik des Deutschen empfehle ich den Duden (2005 7 ) sowie die Grammatik von Eisenberg (1994 3 ). Eine gute Einführung in linguistische Denkweisen findet sich in Meibauer et © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fazit 45 al. (2007 2 ), unter anderem auch ein Kapitel über Spracherwerb. Die gleichen Autoren haben z. T. auch an dem Band von Steinbach et al. (2007) mitgewirkt, der unterschiedliche Schnittstellen zwischen Linguistik und Nachbarwissenschaften aufzeigt. In dem Buch finden sich auch Kapitel zur Mehrsprachigkeit, zur Gebärdensprache und zum Thema Variation. Über diverse sprachwissenschaftliche Themenbereiche informiert der sehr gut verständliche Band von Achilles/ Pighin (2008). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 3 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit So life was very we-wir sagn „bunt“, ne? Leipziger Allerlei, that’s what it was. Toni (81 Jahre) Ein Gedankenexperiment zum Einstieg Stellen Sie sich vor, wir hätten mehr als einen Mund! Dann könnten wir nicht nur mit uns selbst ein Duett anstimmen, uns auf einem Blasinstrument begleiten oder uns selbst ins Wort fallen. Wir könnten auch zeitgleich zwei unserer gerade geplanten Äußerungen produzieren, von denen wir im wirklichen Leben alle außer einer unterdrücken müssen. Dass es manchmal mit der Unterdrückung nicht ganz klappt, haben wir an den in Kapitel 2 angeführten Versprechern gesehen (z. B. bei Verschmelzungen von Wörtern wie friedlich und harmlos zu harmlich), bei denen es Teile zweier Kandidaten gleichzeitig ins Ziel, d. h. in ein einziges Wort, schaffen. Wenn man sich nun Äußerungen bilingualer Sprecher anschaut, in denen Merkmale mindestens zweier Sprachen gleichzeitig produziert werden, wie in den folgenden Beispielen, sieht man, dass die Vorstellung eines zeitgleichen Auftretens mehrerer „Stimmen“ eines einzigen Sprechers vielleicht gar nicht so abwegig ist. In jedem Fall schwingt eine zweite Sprache mit, und das Ganze sagt uns auch etwas Zusätzliches, nämlich mindestens so etwas wie Dieser Sprecher/ diese Sprecherin ist mehrsprachig. Ich habe mich bemüht, in den Beispielen die deutschen und englischen Anteile durch die Schriftart kenntlich zu machen. Aber gleich bei (1) werden Sie merken, dass es gar nicht immer möglich ist, klar zu sagen, was aus welcher Sprache stammt. (1) Für heaven’s Willen! (2) springling (spring/ Frühling, aus Aitchison 1987: 206) (3) I was hoffing, äh, hoffing, äh, hoping … (4) Man ist nicht integratiert, wenn … © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Ein Gedankenexperiment zum Einstieg 47 (5) Adam 5; 2 und seine erwachsene Gesprächspartnerin tun so, als ob sie Dinosaurier wären; sie probieren verschiedene Nahrungsmittel aus. Erw. Hey, dinosaur, have you ever tried this horrible yellow thing? Adam Hm, I found that but I I see of it’s … if … of … ob das schmeckt. Die ersten vier Beispiele stammen von bilingualen Erwachsenen. In (1) handelt es sich um eine Verschmelzung von zwei Ausrufen: des deutschen Um Himmels Willen! und seiner englischen Entsprechung For heaven’s sake! In (2) kam es zu einer Verschmelzung des deutschen Worts Frühling und des gleichbedeutenden englischen spring. In (3) produziert die Sprecherin in einem englischen Satz anstatt hoping zunächst das sehr ähnliche deutsche Verb hoffen, das allerdings mit der englischen Endung -ing versorgt wird. Die Sprecherin bemerkt diese unbeabsichtigte Ersetzung und repariert sie in zwei Anläufen. Beispiel (4) stammt aus einem schriftlichen Text und vermischt dt. integriert und engl. integrated. In (5) bekommt der 5-jährige bilinguale Adam den Wettbewerb von dt. ob und engl. if zu spüren. Es kommt zu einem Kompromiss: der Verschmelzung von ob und if zu of, was Adam dann in mehreren Versuchen korrigiert. Die Selbstkorrekturen in (3) und (5) zeigen, was im letzten Kapitel bereits angesprochen wurde: ein beständiges Überwachen unserer eigenen Äußerungen, ohne dass wir diese Überprüfung im Detail bewusst steuern müssten. Nun, da wir nur einen Mund haben, können wir die Hypothese bezüglich des Duetts oder einer Gleichzeitigkeit von Gesang und Flöte nicht überprüfen. Eine „mehrstimmige“ Produktion von Elementen zweier Sprachen ist aber durchaus möglich, wie diese Beispiele zeigen. Im letzten Kapitel habe ich das Bild des Jonglierens aufgegriffen, das Jean Aitchison 1987 in ihrem Buch über das mentale Lexikon benutzt, um zu erläutern, mit wie vielen inhaltlichen und formalen Aspekten wir zur gleichen Zeit hantieren, wenn wir sprechen und anderen zuhören. Hinzu kommt, dass wir uns, wenn wir sprechen, selbst hören und uns auch kontrollieren, bevor es überhaupt etwas zu hören gibt. Sie haben sicher selbst schon an sich beobachten können, dass Sie einen Versprecher oder einen Faux-pas, eine Ungeschicklichkeit anderer Art (z. B. Du anstatt Sie oder umgekehrt) noch rechtzeitig vor der Artikulation ausbremsen konnten. Es ist also durchaus kein Widerspruch anzunehmen, dass es weitgehend unbewusste Kontrollprozesse gibt. Denken Sie daran, dass Sie auch beim Fahrradfahren oder allein beim normalen Gehen die Balance halten und Ihre Bewegungsabläufe kontrollieren können, ohne dass Sie dies bewusst steuern müssten. Als Sprachwissenschaftler(in) kann man Mehrsprachigkeit aus vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachten (vgl. dazu Myers-Scotton 2006, Romaine 1995). Aus einem soziolinguistischen Blickwinkel fragt man beispielsweise nach den sozialen Bedingungen, unter denen Menschen mehrsprachig werden und zu welchen kommunikativen Zwecken sie ihre Sprachen einsetzen. Aus psycholinguistischer Perspektive interessiert man sich insbesondere für den allmählichen Aufbau sprachlicher Wissenssysteme, dafür, wie viele unterschied- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 48 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit liche Lexika existieren, und man untersucht die Produktions- und Verstehensprozesse (die Performanz) in Echtzeit. Aus wissenschaftlichem Blickwinkel erweist es sich dabei als gar nicht so einfach festzustellen, wo beispielsweise in einer gemischten Äußerung die eine Sprache aufhört und die andere anfängt, denn nicht immer sind die Übergänge, d. h. die genauen Stellen des Sprachwechsels im Satz, klar identifizierbar. Je ähnlicher die Sprachen, desto gravierender ist dieses Problem, wie man sich anhand der folgenden Beispiele (6) und (7) gut verdeutlichen kann. (6) stammt von einem Kind, (7) von einer 81-jährigen Emigrantin in Amerika. (6) She’s in Tasche. (über eine weibliche Puppe) (7) Scheinbar die Mutter wasn’t a good housekeeper. In (6) fragt man sich, ob der Wechsel vom Englischen ins Deutsche vor oder nach der Präposition in erfolgt. Die Präposition in ist hinsichtlich ihrer „Heimat“ neutral, da sie beiden Sprachen angehören könnte. Aber es gibt noch weitere Möglichkeiten, „She’s in Tasche“ zu analysieren, da sich auch das englische is und das deutsche ist in der Kindersprache kaum unterscheiden lassen. Auch das zweite Beispiel, (7), ist interessant. Von der Wortwahl her scheint der Wechsel nach Mutter zu erfolgen, d. h. erst dann erscheint englisches Vokabular. Aber beachten Sie einmal die Syntax! Da stimmt es mit der Wortstellung schon beim zweiten Wort nicht mehr, denn im Deutschen müsste hier, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, ein Verb stehen. Das Bild des Jonglierens erfasst also doch nicht so recht, was sich beim Sprachkontakt im Kopf alles ereignet. Geeigneter ist vielleicht die Vorstellung von einem Staffellauf. Mit etwas Fantasie könnten wir uns vorstellen, dass jede Sprache und vielleicht auch jede Ebene (oder Schicht) unseres Sprachpakets eigene „Läufer“ ins Rennen schickt. Im Fall von (7) war die Syntax des Englischen schneller als der englische Wortschatz! In diesem Kapitel geht es mir darum, jenseits allen Wunschdenkens und aller Vorurteile ein möglichst realistisches Bild bilingualer Kompetenzen zu entwerfen. Im ersten Teil werde ich versuchen, hartnäckige Missverständnisse über das Verhalten bilingualer Menschen im Allgemeinen auszuräumen, und danach meinen Blick vor allem auf die Form und die Funktion gemischter Äußerungen richten. Gerade diejenigen unter Ihnen, die im Alltag mit mehr als einer Sprache umgehen, sollten selbst ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Gegen Ende des Kapitels komme ich auf das Verhalten bilingualer Kinder zu sprechen, das uns in späteren Kapiteln ausgiebiger beschäftigen wird. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Mehrsprachigkeit im Kreuzfeuer 49 Mehrsprachigkeit im Kreuzfeuer Was können wir letztlich aus Belegen wie (1)-(5) schließen? Etwa doch, dass diejenigen recht haben, die wie der deutsche Sprachwissenschaftler Weisgerber vor den negativen Folgen der Mehrsprachigkeit warnen? Dazu zählen seiner Ansicht nach „[…] Aufwand von Zeit und Kraft auf Kosten anderer Arbeit, Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen, Unsicherheit des Ausdrucks, Sprachmengerei, Armut des lebendigen Wortschatzes, Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachigen“ (1966: 77). Zunächst einmal ist anzumerken, dass die gegenseitige Beeinflussung der beteiligten Sprachen perfekt zu dem passt, was wir über Sprachproduktion und Versprecher im Allgemeinen, also auch bei einsprachigen SprecherInnen wissen (vgl. dazu auch die Literaturempfehlungen). Mehrsprachige können für besondere kommunikative Effekte lediglich ein breiteres Repertoire nutzen. Bevor ich näher auf dieses Potential eingehe, erscheint es geboten, einige gängige Missverständnisse und Mythen über Mehrsprachigkeit aus dem Weg zu räumen. Mehrsprachigkeit ist kein Ausnahmezustand Mehrsprachigkeit ist weder ein unnatürlicher geistiger Zustand für das Individuum noch eine Ausnahme. Ganz im Gegenteil! Demographisch betrachtet befinden sich die Einsprachigen in der Minderheit (vgl. Romaine 1995, Myers- Scotton 2006), sofern es sie überhaupt gibt! Denken Sie an die Dialekte, die Sie verstehen oder sogar sprechen, an die unterschiedlichen Varianten einer Sprache − Sprachwissenschaftler sprechen hier von „Varietäten“ −, die Sie in Abhängigkeit von der Situation, von Ihren GesprächspartnerInnen oder Lust und Laune verwenden. Berücksichtigt man, dass wir alle in der Regel über mehrere regionale und soziale Varietäten unserer Erstsprachen, einschließlich unterschiedlicher Stile, verfügen, kommt man schnell zu dem Schluss, dass der monolinguale Mensch, der eine einzige, von den Einflüssen anderer Sprachen abgeschottete Sprache bis zur Perfektion beherrscht, eine Illusion ist. Es gibt diesen Menschen nicht, und auch unsere Gesellschaften sind längst „quersprachig“ (List & List 2001), d. h. sie nutzen mannigfache sprachliche Ressourcen und keineswegs ein einziges, in sich schlüssiges System. Nichtsdestotrotz werde ich im Folgenden einfach so tun, als ob man monolinguale und bilinguale Menschen fast so klar voneinander unterscheiden könnte wie die Brötchen, von denen im letzten Kapitel die Rede war. Und auch da war es ja schon hinreichend schwierig! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 50 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit Gedankenexperiment Sie befinden sich in einem Mehr-Sterne-Restaurant und studieren die Speisekarte. Im Angebot sind folgende Optionen: Marinierter Lachs an Ratatouille-Salat Entenbrust an Schupfnudeln mit Trauben-Cassis-Sauce Gemüsesalat an Balsamico-Honigsauce Wolfsbarsch in Weißweinsauce an Dicken Bohnen Putenbrust an Waldmeister-Hollandaise mit grünem Spargel Was denken Sie, wenn Sie sich hier den Gebrauch der Präposition „an“ anschauen? (a) Der Koch (oder wer immer das Menu zusammengestellt hat) soll erst mal richtig Deutsch lernen! (b) Der Koch will sich nicht integrieren. (c) Sie erwarten, dass Koch und Ober auch außerhalb des Restaurant-Kontexts Dinge sagen wie Setz dir die Mütze an den Kopf! Leg mal die Äpfel an die Waage! (d) Es handelt sich wohl um eine Art von Fachsprache oder Register, in dem die Präposition an so etwas bedeutet wie auf, mit, in. Klingt zwar seltsam, aber wenn dies in einem edlen Restaurant nun mal so ist, kann ich damit leben. Hauptsache, es schmeckt! Genau! Wer ist mehrsprachig? Nur ein Mensch, der beide Sprachen von Geburt an erworben hat oder sie perfekt beherrscht? Wir können unser Leben lang Sprachen lernen, auch wenn es uns mit zunehmendem Alter schwerer fällt, uns sämtliche Ebenen eines neuen Sprachpakets so zu erschließen, dass wir nicht als Nicht-Muttersprachler oder als „Fremde“ auffallen. Besonders hinsichtlich der Phonologie/ Prosodie werden wir wahrscheinlich nie wie ein Muttersprachler klingen. Aber das steht weder unserer Integrationsfähigkeit noch unserer Fähigkeit zu kommunizieren im Weg. Außerdem: Welche Aussprachevariante einer Sprache sollte es denn sein? Denken Sie allein an die deutschen Dialekte und an eigene Schwierigkeiten, jemanden aus anderen Dialektgebieten zu verstehen. Würden wir einem Neuseeländer, einem Amerikaner aus Tennessee oder einem Studenten aus Glasgow einen Vorwurf machen, weil sie ein anderes Englisch sprechen als die Queen? Unterschiedliche Erwerbstypen (Erstspracherwerb, doppelter Erstspracherwerb, früher Zweitspracherwerb, Erwerb im Erwachsenenalter etc.) lassen sich zunächst mit Hilfe des Lebensalters unterscheiden. Der Erfolg, d. h. das Ergebnis des Spracherwerbsprozesses, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Denn auch wenn ein Kind von Anfang an beide Sprachen in seiner Umgebung hört, so ist das keine Garantie dafür, dass es diese Sprachen sein Leben lang beibehalten und ausbauen wird. Dies hängt auch von der Gelegenheit ab, eine Sprache © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Mehrsprachigkeit im Kreuzfeuer 51 aktiv und dauerhaft zu verwenden. Wenn sich die Lebensumstände ändern - und Migration, Emigration oder auch Adoption sind hier wichtige Faktoren -, verändern sich oftmals die Verwendungsgelegenheiten und -häufigkeiten. Dies hat Konsequenzen für die Schnelligkeit, mit der man auf das mentale Lexikon der wenig oder nur eingeschränkt genutzten Sprache zugreifen kann. Nach längerem Sprachkontakt zwischen dem Deutschen und einer Sprache mit anderen Eigenschaften ist es auch wahrscheinlich, dass grammatische Unterscheidungen, z. B. die Differenzierung von Akkusativ und Dativ, allmählich aufgegeben werden. Beispiele für einen solchen individuellen Sprachwandel und -verlust (in der Forschung spricht man hier von Attrition) werde ich später anführen. Menschen dürfen als mehrsprachig gelten, wenn sie zwei (oder mehr) sprachliche Wissenssysteme so weit erworben haben, dass sie mit monolingualen SprecherInnen in beiden Sprachen problemlos kommunizieren können. Gut ausgebildete ZweitsprachlernerInnen des Deutschen können einen eher bildungsfernen deutschen Muttersprachler in punkto Wortschatz und Stilsicherheit durchaus übertreffen, auch wenn man an ihrer Aussprache sofort erkennt, dass Deutsch nicht ihre Erstsprache ist. In diesem Zusammenhang werden üblicherweise Persönlichkeiten wie Joseph Conrad (Erstsprache Polnisch), dessen Werke zur englischen Weltliteratur gehören, oder - hinsichtlich der Aussprache leichter zu überprüfen - Henry Kissinger genannt (vgl. die Diskussion in Bialystok und Hakuta 1994). Nach meiner Definition ist man also auch dann mehrsprachig, wenn sich die beiden Sprachen (oder noch mehr! ) nicht in jeder Hinsicht völlig „die Waage halten“. Im Übrigen erweist sich auch bei denjenigen, die von Geburt an mit zwei (oder mehr) Sprachen aufwachsen, häufig eine als dominant, d. h. sie wird subjektiv als „stärker“ empfunden und vielleicht auch lieber verwendet. Die Dominanz einer Sprache kann sich im Laufe des Lebens mit den Lebensumständen verändern (vgl. Grosjean 1982, Myers-Scotton 2006, Romaine 1995). Es ist unrealistisch zu erwarten, dass sich ein bilingualer Mensch in allen seinen Sprachen mit beliebigen Gesprächspartnern voller Begeisterung über alle möglichen Themen gleichermaßen flüssig und rhetorisch gewandt unterhalten kann oder unterhalten will. Antwortet Ihnen ein Kind beispielsweise nur auf Spanisch, obwohl Sie ihm wiederholt gesagt haben, dass es mit Ihnen auch Englisch sprechen kann, denken Sie wahrscheinlich sofort, dass es mit seinem Englisch „nicht weit her sein kann“. Aber vielleicht spricht es Englisch nur mit dem Vater, nur an bestimmten Orten oder am liebsten dann, wenn es um Dinosaurier geht. Wenn sich ein einsprachiges Kind bei bestimmten Themen wortkarg verhält, würde man es eher für schüchtern, schlecht gelaunt, desinteressiert oder unhöflich halten, anstatt gleich an fehlende Sprachkompetenz zu denken. Halten wir bei der Gelegenheit schon einmal fest, dass wir gerne bereit sind, bei Ein- und Mehrsprachigen unterschiedliche Messlatten anzulegen und was immer an Kenntnissen fehlen könnte oder als abweichend auffällt, der mehrsprachigen Lebenssituation anzulasten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 52 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit Mehrsprachigkeit heißt auch Arbeitsteilung Der amerikanische Soziolinguist J. Fishman (1965) hat vor vielen Jahren in seiner Studie „[…] who speaks what language to whom and when“ fünf relevante Domänen benannt (Bildung, Familie, Kirche, Freundschaften, Arbeitsplatz), die eine Rolle bei der Wahl von sprachlichen Varietäten spielen, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei den Sprechern um mehrsprachige oder einsprachige Personen handelt. In unterschiedlichen Redesituationen sind andere Inhalte, rhetorische Mittel, Höflichkeitsbekundungen, Stile und Register gefragt. Bei bilingualen Personen, die im Laufe eines Tages Gelegenheit haben, in verschiedenen Sprachen zu kommunizieren, ist das auch nicht viel komplizierter. Wer in Kanada zuhause Spanisch spricht, bedient sich am Arbeitsplatz möglicherweise ausschließlich des Französischen und des Englischen. Mit einer Person ähnlichen sprachlichen Hintergrunds, mit der man am Arbeitsplatz nur Französisch spricht, redet man beim Glas Wein am Abend vielleicht eher Spanisch. Eine Arbeitsteiligkeit der Sprachen kann dazu führen, dass man in der einen Sprache in Bezug auf einen ganz bestimmten Themenbereich einen wesentlich umfangreicheren Wortschatz hat als in der anderen. Gedankenexperiment Nehmen Sie ein Blatt Papier, zeichnen Sie für sich selbst in die Mitte einen Punkt (oder eine Figur) und überlegen Sie, mit wem Sie heute schon gesprochen haben. Zeichnen Sie für jeden Kontakt einen weiteren Punkt, den Sie mit dem ersten Knotenpunkt (also Ihrer Person) verbinden. Auf diese Art und Weise entsteht ein Netz mit Ihnen im Zentrum. Notieren Sie auf den Verbindungslinien, über welche Themen und in welchen Sprachen/ Dialekten und sonstigen Varietäten Sie heute/ diese Woche mit bestimmten Personen gesprochen haben. Überlegen Sie auch, ob Sie schon einmal in einer von Ihnen in einer bestimmten Situation eher unerwarteten Sprache angesprochen wurden. Ist man nur dann wirklich mehrsprachig, wenn man sich wie zwei monolinguale Personen verhält, deren Sprachen nichts miteinander zu tun haben? Seltsamerweise wird von Mehrsprachigen immer wieder erwartet, dass sie sich so verhalten, als ob sie eigentlich doch (nur) monolingual wären. Sie sollen also entweder nur in der einen oder ausschließlich in der anderen Sprache reden. Aber ist das nicht eine geradezu absurde Erwartung? In etwa so, als ob man im Ernst sagen würde: Tun wir so, als ob wir vieles nicht wüssten! Die monolinguale Haltung, die meiner Frage zugrunde liegt, steht natürlich insbesondere dem Mischen von Sprachen kritisch gegenüber. Aber warum sollten sich mehrsprachige Menschen, wenn sie zusammentreffen, nur zweier brav getrennter Codes bedienen, wenn ihnen allen ein wesentlich umfangreicheres Repertoire zur Verfügung steht? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Mehrsprachigkeit im Kreuzfeuer 53 In vielen mehrsprachigen Gemeinschaften ist das Mischen fester Bestandteil der normalen Alltagskommunikation (vgl. Myers-Scotton 2006). Es kann sogar gut sein, dass man mit dem Versuch, nur bei einer Sprache zu bleiben, unangenehm auffiele, z. B. als jemand, der sich von den anderen und seinen eigenen Wurzeln distanzieren will. Dies bedeutet nicht, dass die Angehörigen dieser Gruppe in einer anderen Situation nicht auch ganz anders, nämlich in nur einer Sprache reden könnten. Keim (2007) hat kommunikative Praktiken in deutsch-türkischen Jugendgruppen untersucht und gezeigt, wie systematisch Sprachwechsel „funktionalisiert“ werden, um sich mit anderen Sprechern zu solidarisieren, sich abzugrenzen und eigene Diskussionsbeiträge zu strukturieren, ein Punkt, auf den ich im nächsten Abschnitt anhand eigener Daten zurückkomme. Die Kommentare über Sprachverhalten, die Keim in einer Mädchengruppe, den „Powergirls“, erheben konnte, zeigten, dass sie bewusst eine hybride, „gemischte“ Identität für sich beanspruchen und sich von rein deutschen und rein türkischen Kontexten abgrenzen. Man vergleiche dazu folgende Äußerung der jungen Frau Fu (aus Keim 2007: 208, vgl. auch Keim & Tracy 2007). Ich übernehme hier die ursprüngliche Notationskonvention von Keim, wobei * für kurze Pausen steht. (8) isch könnte nie einen Mann lieben wenn er meine Sprache nischt kann * die Mischsprache * einen Türken nich und auch keinen Deutschen * isch könnte nie zu einem sagen * ich liebe dich * das klingt so hart * aber seni seviyorum (= ich liebe dich) klingt schön. Ein wichtiges Motiv für das Mischen von Sprachen besteht in der Bekundung von Solidarität mit einer Gruppe. Der Sprachwechsel an sich hat also einen gewissen Mehrwert an sozialer Bedeutung und trägt dazu bei, eine eigene soziale Identität zu konstruieren und auszuhandeln (vgl. auch Auer 1998, Hinnenkamp & Meng 2005). Das Aushandeln der sozialen Identität spielt auch eine Rolle bei Sprechern und Sprecherinnen, die in ihrer Jugend aus Deutschland in die USA ausgewandert sind und seit mittlerweile etwa 40 bis 60 Jahren im englischsprachigen Raum leben. Als Einwanderer standen sie in ihrem neuen Heimatland vor der Notwendigkeit, ihre soziale und kulturelle Identität neu zu definieren. Einerseits waren und sind sie weiterhin Mitglieder ihrer Ursprungskultur, andererseits nehmen sie nun aktiv an der Kultur ihrer neuen Heimat teil. Durch ihre Zweisprachigkeit können sie diese doppelte kulturelle Identität gut zum Ausdruck bringen. In den folgenden Abschnitten wird gezeigt, wie virtuos bilinguale Menschen ihre sprachlichen Fertigkeiten einsetzen können. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 54 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit Code-mixing als Fertigkeit oder: Wer die Sprachwahl hat, hat nicht die Qual Betrachten wir dazu einige Beispiele, die von der 81-jährigen Deutschamerikanerin Toni stammen, die im Alter von 19 Jahren mit ihren Eltern und einer fünf Jahre jüngeren Schwester von Bayern aus in die USA auswanderte. Ihr verdanke ich auch das Zitat, das ich auf der ersten Seite dieses Kapitels angeführt hatte. In diesem Zitat, das ich hier noch einmal wiederhole, äußert sie sich über ihr Leben. (9) So life was very we-wir sagn „bunt“, ne? Leipziger Allerlei, that’s what it was. Hier beginnt sie mit einem englischen Satz und tritt dann gewissermaßen auf der Suche nach einer guten Beschreibung ihres Lebens aus dieser angefangenen Geschichte heraus. Nachdem sie einen guten Vergleich gefunden hat (Leipziger Allerlei), geht sie wieder ins Englische zurück. Auch im nächsten Beispiel geht es wieder um ihr Leben. (10) Des is grad, wie wenn’s an uns vorbeigegangen wär, so, you know, like a movie nearly. Toni beginnt mit einem deutschen Satz, der die Schnelligkeit, mit der das Leben verläuft, zum Inhalt hat, und sie wechselt dann zu einem Vergleich mit dem Sehen eines Films ins Englische. Sie tut dies nicht, weil sie nicht auf Deutsch sagen könnte: fast so wie ein Film. Sie fragen, woher ich da so sicher sein kann? Nun, ganz einfach deshalb, weil wir an anderer Stelle im gleichen Interview das deutsche Gegenstück für movie (Film, Spielfilm) vorgefunden haben! In (11) wechselt Toni die Sprache an einem Punkt, an dem sie erläuternde Hintergrundinformation für ihre Zuhörerinnen liefert. Sie erklärt, wer die Person ist, von der sie gerade spricht (Elsa Maxwell). (11) … and -ähm es war so schön da, und nebn dene hot die Elsa Maxwell gwohnt, she was a gossip woman, you know … Im folgenden Beispiel wechselt sie jeweils am Anfang und Ende eines Zitats. (12) Dann hat sei Frau zu mir gesagt, why are you leaving us now? Da sog i, because I would like to laugh once in a while, und dann hat s’ gsagt, well I’m here too an’ ich leb noch, hot s’ gmoant. Na hab ich gsagt, well, gee, … Interessant an diesem letzten Beispiel ist, dass Toni von einer Unterhaltung berichtet, die mehr als 60 Jahre zuvor in deutscher Sprache stattfand. Sie nutzt hier virtuos ihre beiden Sprachen, um ihre Geschichte zu strukturieren, und es ist ein Zufall, dass die Zitate auf Englisch sind und Gliederungssignale (wer was sagt, meint) in der anderen. Es könnte genauso gut umgekehrt sein. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Code-mixing als Fertigkeit oder: Wer die Sprachwahl hat, hat nicht die Qual 55 Allein diese wenigen Beispiele zeigen, dass bilinguale Menschen auch dann nicht in einem Sprachchaos versinken, wenn in einer Situation und sogar in einem Satz beide Sprachen verwendet werden. Aber können wir wirklich sicher sein, dass bilinguale Menschen nicht einfach nur deswegen mischen, weil ihnen die Ausdrucksmittel in einer ihrer Sprachen fehlen? Dieser Frage sind wir in einem Forschungsprojekt mit erwachsenen deutschen Emigranten und Emigrantinnen in den USA nachgegangen, an dem auch Toni mitwirkte (vgl. Lattey & Tracy 2005, Tracy & Stolberg 2008). Im Rahmen dieses Projekts haben wir mehrere Jahre lang immer wieder mit den gleichen Personen intensive Gespräche geführt und wiederholt die gleichen Themen angeschnitten. Dabei konnten wir auch eine Reihe von Variablen systematisch verändern: die Sprache der Gesprächspartner (Deutsch, Englisch, beides), die Vertrautheit der Gesprächspartner, die Aufnahmesituationen (zuhause, bei Freunden, bei der Autofahrt; Telefongespräche und Unterhaltungen von Angesicht zu Angesicht). Im Folgenden führe ich eine längere Erzählung von Toni an, die den natürlichen und flüssigen Übergang zwischen ihren Sprachen erkennen lässt und auch sonst einen guten Eindruck von der Souveränität vermittelt, mit der Toni ihre sprachlichen Ressourcen im Griff hat. Wie Sie sicher schon gemerkt haben, handelt es sich bei der Erstsprache von Toni um das Bairische. (13) … Und dann hot mei Doktor der war von Hamburg, Doktor Lage, he was nice and I liked him very much, der hot zu mir gsogt, Toni, du hast a deutsche Figur. Na sog i ja, und wie is die? No hot er gsogt, wenn der Kaiser zu Pferd war, hot er groß ausgschaugt und wenn er runterkomme is vom Pferd, dann war nix mehr von eam da. Because he had short legs, like me, you know? A long torso and very short legs. Do hob i gsagt und dann war ich in New York, dann hat der Doktor Kessler zu mir gsagt, du musst 25 Pfund verliern. Because wenn’s du im Macy’s bist und hast e großes Paket und du musst zum Grand Central musst es hieschleppn, dann musst dich plagen. Und so muss sich dein Herz plagen, hat er gsagt, du musst 25 Pfund verliern, na hab i zu eam gsagt, jetzt möcht i wissen, in what country I would be right. In Deutschland hob i hier nix ghabt [deutet auf ihre Brust] und do war i z’dünn und in Amerika bin i z’dick, und, sog i, tell me about a country where I would be just right and I go. [Toni und ihre Gesprächspartnerinnen lachen] … Zu mir sogn alle, die im d-die im deutschen Club, die Frauen, ah, ich möcht so gern a paar Pfund verliern, do sog i, du möchtst mehr wrinkles ham im Gsicht, ha? Because wennst them verlierst, dann (…), da is mer besser ab, wenn mer älter is, wenn mer a paar Pfund extra hat. Diesem Ausschnitt können Sie auch entnehmen, was für eine lebendige und humorvolle Geschichtenerzählerin Toni ist und wie souverän sie von einer Sprache in die andere wechselt und dabei auch den Dialekt (Bairisch) nicht zu kurz kommen lässt. Wir haben im Rahmen des Projekts nachweisen kön- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 56 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit nen, dass die englischen Textteile (mit Ausnahme von kurzen Einschüben wie you know und well) völlig aus Tonis Redebeiträgen verschwinden, wenn ihre Gesprächspartner kein Englisch verstehen. Ebenso umgekehrt: Wenn Toni mit monolingualen englischsprachigen Personen redet, z. B. mit ihrem Schwiegersohn oder ihren Enkelkindern oder Nachbarn, finden sich keinerlei Anzeichen des Deutschen. Sie hat ihre Sprachwahl also sehr gut unter Kontrolle. In dem Text in (13) habe ich übrigens einige Fragmente durch Fettdruck hervorgehoben, denen man ansehen kann, wo das Englische auf eine subtile Art Tonis Deutsch beeinflusst: An Stelle von Pfunde verlieren würde man im Deutschen sagen ein paar Pfund/ Kilo abnehmen, und hinter da is mer besser ab in der letzten Zeile verbirgt sich eine wörtliche Übersetzung von engl. better off. Auf Deutsch würde man hier sagen: besser dran. An solchen Kleinigkeiten erkennt man dann Bereiche, in denen ihre muttersprachliche Deutschkompetenz sich langsam auf englische Strukturen zubewegt. In der Sprachkontaktforschung würde man dies als Konvergenz bezeichnen. Sprachmischungen beschränken sich nicht auf mündliche Unterhaltungen. Da wir in unserem Forschungsprojekt auch schriftliche Daten erhoben haben, können wir zeigen, dass sich Ähnliches auch in umgangssprachlich gehaltenen Briefen findet. Die folgende Passage stammt aus einem Brief einer Deutschamerikanerin an Verwandte in Deutschland, die selbst lange Zeit in den USA gelebt hatten. Die Verfasserin konnte also gute Englischkenntnisse voraussetzen. Der Brief liegt in handschriftlicher Form vor. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, habe ich ihn abgetippt und englische Anteile oder vom englischen beeinflusste Teile kursiv markiert. Abkürzungen und Abweichungen entsprechen dem Original. (14) Wie lange d. Post nun nimmt! Ob da wohl unser „Blizzard“ dran schould ist? […] Schaufelte fest v. d. Garage aus, aber nicht ganz for, man muss vorne b. Briefkasten die Car stehen lassen, rum fahren kann man noch nicht. Der Weg geht nur bis zur vord. Türe. […] Ich hatte ja Jungens gefragt. Die sagten nein, es wäre zu much, wie don’t know where to put it! Die Verfasserin des Briefs beschreibt die durch einen Blizzard verursachten Schneemassen, die sie weggeschaufelt hat − sie war damals schon Mitte 70! − und die sie auch für die Verspätung der Post verantwortlich macht (Wie lange die Post nun nimmt! ). Es gelang ihr, einen Teil ihrer Garageneinfahrt frei zu schaufeln. Sie fragte zwei Jungen aus der Nachbarschaft, ob sie ihr helfen könnten, erhielt aber die Antwort, dass es zuviel Schnee gebe und sie (die Jungen) nicht wüssten, wohin man ihn schaufeln sollte. Der Brief enthält eine ganze Reihe orthografischer Einflüsse durch das Englische (schould für Schuld, for für vor), die im Gespräch unbemerkt geblieben wären. Besonders spannend ist aber auch, dass die Verfasserin in der letzten Zeile das deutsche Wort wie, statt des englischen we verwendet. Aber eigentlich sollte uns das nicht mehr überraschen: we und wie haben zwar auf der Ebene © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Code-mixing als Fertigkeit oder: Wer die Sprachwahl hat, hat nicht die Qual 57 der Bedeutung nichts miteinander zu tun, wohl aber auf der Ebene der Phonologie. Wir erkennen also wieder einmal sehr gut, wie eng formal ähnliche Elemente auch über Sprachen hinweg vernetzt sein können. Diese Passage zeigt auch, dass sich unter dem Einfluss des Englischen die Verwendungsweise von nehmen verändert hat. Im Deutschen müsste man eher sagen: Wie lang die Post nun braucht! / Wie lang das/ es dauert, bis die Post kommt! Während die zuletzt in (14) angeführten Mischungen durch Beeinflussungen zustande kamen, die der Eigenkontrolle der Schreiberin entgangen sind - man nennt so etwas Interferenz -, finden wir bei anderen Sprechern/ Schreibern einen sehr bewussten und spielerischen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Sprachen. Die folgende Mischung von Französisch, Englisch und Deutsch fand sich auf dem transatlantischen Fax eines Ehepaars an einen Freund in den USA, der als Professor sowohl in Deutschland als auch in Frankreich unterrichtet und jedes Jahr einige Zeit in Europa verbringt. Der Text wurde unterhalb der Kopie des Faxes noch einmal abgetippt. Bewusste Sprachmischung (15) Bonjour, our lieber Darril, Malheureusement, since our last conversation am Telefon it must have become encore beaucoup plus froid chez toi! ? Ici on a eu de la neige lourde hier, à Lausanne les écoles sont fermées parce que les routes et chemins sont couverts de branches tombées. Trotzdem geht es Dir hoffentlich gut, don’t catch a cold before going to Deutschland. (Übersetzung: Seit unserem letzten Telefonat muss es bei Dir leider noch viel kälter geworden sein! ? Hier hat es gestern mächtig geschneit, in Lausanne sind die Schulen geschlossen, weil die Straßen und Wege voller abgebrochener Äste sind. Trotzdem geht es Dir hoffentlich gut, erkälte Dich nicht, bevor Du nach Deutschland fährst.) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 58 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit Gedankenexperiment Die folgende Abbildung zeigt eine Geburtstagskarte, die von einer unserer deutschamerikanischen Informandinnen geschrieben wurde. Fällt Ihnen an dem Text irgendetwas auf, das wie ein deutsch-englisches Kontaktphänomen aussieht? Ein kleiner Tipp: Die Verfasserin ist Kunstmalerin! Die Lösung finden Sie auf S. 63. Englisch-deutsche Geburtstagskarte Sprachen können es ihren SprecherInnen leichter oder schwerer machen, einen glatten Übergang von der einen zur anderen zu bewerkstelligen. Der australische Linguist Michael Clyne (1987) hat gezeigt, dass parallele Strukturen und mehrdeutige Elemente wie in er is(t) krank, he is sick „Grauzonen“ darstellen und sich besonders für einen Wechsel anbieten, der sich fast spurlos vollzieht. Interessant ist übrigens, dass Sprachwechsel nicht zu häufigerem Zögern und Abbrüchen führt - ganz im Gegenteil! Wenn alle sprachlichen Ressourcen genutzt und praktisch alle „Register gezogen“ werden können, finden sich weniger Verzögerungen wie äh, ähm oder ungefüllte Pausen als in einsprachigen Redebeiträgen. Dies bedeutet, dass der Sprachwechsel dazu beiträgt, den Fluss eines Redebeitrags aufrecht zu erhalten. Unter der Bedingung des langjährigen Sprachkontakts verändern sich allerdings auch, wie bereits oben erwähnt, die Erstsprachen. Dies erkennt man bei © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vorteile und Nachteile der Mehrsprachigkeit 59 den DeutschamerikanerInnen in unserem Projekt beispielsweise an der Verwendung von wenn an Stelle von als bzw. bairisch wie, vgl. (16). (16) and I went to school in Switzerland because they invited me, äh, years ago, you know. Wenn ich zwölf Jahr alt war, bin ich wieder nach Deutschland zurück in die Schul. Mehrsprachigkeit erweitert den Spielraum der Möglichkeiten, um einen Sachverhalt auszudrücken. Variation (sowohl zwischen Dialekt und Standardsprache als auch zwischen verschiedenen Sprachen) schafft neue Wahlmöglichkeiten und begünstigt damit zugleich Sprachwandel. Es wäre geradezu unrealistisch zu erwarten, dass sich Sprachen unter Migrationsbedingungen nicht verändern. Dies lässt sich gut an den Migrantensprachen Europas zeigen. Aus Sicht der Betroffenen wird dieser Wandel verständlicherweise manchmal als Verlust oder als eigenes Versagen empfunden. Junge Eltern mit Migrationshintergrund sind nicht selten der Ansicht, dass sie selbst ihren Kindern kein gutes Sprachvorbild bieten können. Aber obgleich sie vielleicht nicht mehr das Türkische der Türkei sprechen, bedeutet dies nicht, dass sie kein ausreichend komplexes System entwickelt haben, um ihren Kindern angemessenen Input bieten zu können. Die Eltern beherrschen dann ein Türkisch, das sich durch den Kontakt mit verschiedenen europäischen Sprachen gewandelt hat, so wie sich das Deutsche der von uns untersuchten EmigrantInnen in den USA verändert hat. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist dies ein ganz normaler und unvermeidlicher Prozess. Vorteile und Nachteile der Mehrsprachigkeit: Ist diese Frage überhaupt von Belang? Für die Mehrheit aller Menschen ist die Frage nach den Vor- oder Nachteilen der Mehrsprachigkeit in der Tat unwichtig. Das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Sprachen in ihren Gesellschaften ist schlicht eine Realität und ein natürlicher Bestandteil ihres kommunikativen Alltags (vgl. dazu Myers-Scotton 2006). Auch für uns ist in den letzten Jahrzehnten Mehr- oder Quersprachigkeit zur Realität geworden - wir haben es nur noch nicht so recht gemerkt (vgl. List & List 2001). Nachteilig ist nicht Mehrsprachigkeit an sich, sondern der Erklärungs- und Rechtfertigungszwang, mit dem sich mehrsprachige Menschen immer wieder konfrontiert sehen, z. B. dann, wenn sie ihre familiäre Sprachpolitik verteidigen müssen (vgl. Kapitel 5) oder weil man bei ihnen - anders als bei sogenannten Monolingualen - dazu neigt, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Ein echter Nachteil ist es sicher auch, dass wir uns noch immer schwer damit tun, das Kindern in die Wiege gelegte Talent zum mehrsprachigen Spracherwerb ange- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 60 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit messen zu fördern. Dies ist aber kein Problem, das in Folge der Mehrsprachigkeit entsteht, sondern eher durch ihre Verhinderung. Wie bereits eingangs gesagt: Kinder sind nicht nur unterfördert, sondern auch unterfordert! Kommen wir noch einmal auf die soeben beschriebenen Sprachmischungen zurück. Wir haben gesehen, dass auch bei intensivem Wechsel kein Chaos entsteht. Vielmehr verläuft die gleichzeitige Nutzung beider Sprachen im Grunde ziemlich kooperativ! Vor allem behält das eigene Kontrollsystem dabei recht gut den Überblick. In der Tat scheint es so zu sein, dass die größere Wachsamkeit sich selbst gegenüber sowie das Bewusstsein, mehrere Sprachen zur Verfügung zu haben, sich langfristig positiv auf die Verarbeitungsleistung des Gehirns auswirken. Neuere Forschung (Bialystok et al. 2004) mit bilingualen Testpersonen im Alter ab 60 Jahren deutet jedenfalls darauf hin, dass sich im Alter als Konsequenz der Notwendigkeit, die eine Sprache zugunsten einer anderen zu unterdrücken, positive Effekte ergeben. Während normalerweise die Fähigkeit, unwichtige und im Moment nicht benötigte Information zu unterdrücken, mit zunehmendem Alter nachlässt, scheint laut Bialystok et al. das Gehirn bei jenen Menschen langsamer zu altern, die regelmäßig mehr als eine Sprache benutzen. In den durchgeführten Experimenten zeichneten sich jedenfalls die älteren Mehrsprachigen gegenüber gleichaltrigen Monolingualen durch kürzere Reaktionszeiten und bessere Leistungen des Kurzzeitgedächtnisses aus. Gedankenexperiment Einen Test („Simon test“), mit dem Sie selbst Ihre Reaktionszeiten testen und sich dann mit den Ergebnissen von Bialystok et al. vergleichen können, finden Sie unter http: / / users.fmg.uva.nl/ wvandenwildenberg/ task.html (auf Englisch). Es ist seit langem bekannt - einige Beispiele folgen in Kapitel 6 -, dass bilinguale Kinder besonders früh sogenannte metasprachliche Kompetenzen entwickeln (vgl. dazu die Literatur am Ende). Der Grund liegt auf der Hand: Sie erfahren von Anfang an, dass ein und derselbe Gegenstand mit ganz unterschiedlichen Bezeichnungen belegt werden kann: statt Baum könnte es auch tree oder arbre heißen. Dank aktueller neurowissenschaftlicher Forschung beginnen wir allmählich auch zu verstehen, warum sich frühe Mehrsprachigkeit positiv auf den Erwerb weiterer Sprachen auswirken könnte (vgl. Nitsch 2007). Dieser kognitive Mehrwert der Mehrsprachigkeit - der Mehrwert an Wissen und Flexibilität - ist eine Sache, der „Marktwert“ einer bestimmten Sprache oder einer Sprachenkombination leider eine andere. Letzteres hängt, wie bereits einleitend betont, vom gesellschaftlichen Prestige der jeweiligen Sprecher sowie davon ab, ob eine Sprache innerhalb eines Bildungssystems in irgendeiner Weise „zählt“. Gibt es z. B. ein Fach, in dem eine bestimmte sprachliche Kompetenz honoriert wird? Ist die Beherrschung einer bestimmten Sprache ein Vorteil auf dem Arbeitsmarkt? Kann man mit bestimmten Sprachkenntnissen bei © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vorteile und Nachteile der Mehrsprachigkeit 61 der Zulassung zu einem Studiengang „punkten“? (vgl. Fürstenau und Gogolin 2001). All diese Faktoren tragen letztlich dazu bei, die Lernmotivation von Kindern und Jugendlichen zu erhalten, die eigentlich durch frühe familiäre Mehrsprachigkeit schon in den Genuss des kognitiven Mehrwerts gekommen sind. Exkurs 1 Eine italienische Familie (Vincente und Paola R., zwei Kinder) aus Ravenna lebt seit 20 Jahren in Deutschland und hat mittlerweile ein eigenes kleines Restaurant. Alle haben einen deutschen Pass. Die Tochter war zum Zeitpunkt der Einwanderung zehn Jahre alt und hat mittlerweile in Deutschland studiert. Sie hat ihren Eltern bereits als Kind mit Formalitäten geholfen. Der Sohn ist fünf Jahre jünger und arbeitet auch im Restaurant. Beide Kinder sprechen akzentfrei deutsch und italienisch, aber ihr Italienisch ist die schwächere Sprache, vor allem aufgrund von Wortschatzlücken. Die Eltern können sich passabel auf Deutsch verständigen, obwohl ihre Wortstellung oft ungrammatisch und ihre Aussprache sehr stark vom Italienischen beeinflusst ist, was bei ihren Kindern (und den Gästen) oft Belustigung hervorruft. Gäste sagen zu Vincente, dass er gut die Rolle des Italieners in der Fernsehserie Unser Charly übernehmen könnte. Vincente und Paola lachen auch über sich selbst, vor allem dann, wenn sie merken, dass ihnen beiden manchmal ein italienisches Wort nicht mehr schnell genug einfällt. Sie fühlen sich gut integriert und haben keine Angst davor, dass ihre Enkel sie einmal nicht verstehen könnten. Paola: Isch machen Pizza du lernen ein bissle Italienisch. Naturalmente! Einfach! Exkurs 2 Marco L., jetzt so um die Fünfzig, hat eine Praxis für Allgemeinmedizin in einer deutschen Kleinstadt. Er ist in Südtirol mit Deutsch und Italienisch aufgewachsen und hat einen italienischen Pass. Er arbeitete nach seinem Studium als junger Arzt an einem deutschen Krankenhaus und verfasste zahlreiche Berichte, die von seinen Chefs (Oberarzt und Chefarzt) nie beanstandet wurden … bis zu dem Moment, in dem der Oberarzt erfuhr, dass Marco zweisprachig aufgewachsen war. Von dem Moment an wurden seine Berichte vom Oberarzt besonders unter die Lupe genommen und häufiger kritisiert. Zwei erfolgreiche Biografien, die auch nachdenklich machen sollten: Sie zeigen im Fall von Paola und Vincente, dass man auch ohne Meistern der deutschen Grammatik in Deutschland beruflich erfolgreich sein und sich wohl fühlen kann. Im Fall von Marco sieht man, dass auch völlig einwandfreie sprachliche Kompetenzen von der Umwelt in Frage gestellt werden, wenn auf einmal das mehrsprachige Aufwachsen oder die Existenz eines zweiten Passes bekannt werden. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 62 Mehrsprachigkeit, Mehrstimmigkeit Gedankenexperiment Stellen Sie sich vor, Sie nähmen an einem Experiment teil, für das Leute gesucht wurden, die Französisch und Spanisch verstehen. Da dies bei Ihnen der Fall ist, haben Sie sich zur Teilnahme gemeldet. Man sagt Ihnen, dass es in dem Experiment darum geht, die Persönlichkeiten von SprecherInnen anhand kurzer spanischer und französischer Tonbandaufzeichnungen zu beurteilen. Sie sollen zum Beispiel auf einer Skala angeben, ob Sie die Personen, die Sie hören, für sympathisch, humorvoll, intelligent, ehrlich, führungsstark etc. halten. Nur, was man Ihnen nicht sagt, ist, dass die SprecherInnen bilingual sind und Sie somit jede Person auf Spanisch und auf Französisch hören. Es kann also sein, dass Sie insgesamt die SpanischsprecherInnen für vertrauenswürdiger, intelligenter etc. gehalten haben als die Französischsprecher, obgleich es sich immer um die gleichen Personen gehandelt hat. Experimente dieser Art, mit denen man die Einstellung gegenüber sozialen Gruppen und Sprachen untersuchen kann, finden Sie in Grosjean (1982) und Romaine (1995) unter dem Stichwort „matched-guise“ beschrieben. Zum Ausklang ein kleiner Vorgeschmack Nachdem ich auf den vergangenen Seiten sehr viel über das Verhalten von Erwachsenen gesagt und dabei den kreativen Umgang mit vorhandenen mehrsprachigen Ressourcen illustriert habe, möchte ich abschließend einen ersten Blick auf das sprachliche Verhalten von Kindern richten und andeuten, womit wir uns später eingehender beschäftigen werden. Wie früh sind Kinder denn in der Lage, voneinander getrennte Sprach-Systeme mit all ihren Ebenen aufzubauen und sie in der Performanz, beim Reden, zu kontrollieren? Das folgende Beispiel (17) unterstreicht jedenfalls, dass Kinder früh in der Lage sind, den Sprachwechsel als stilistisches Mittel einzusetzen und die in der Kapitelüberschrift angedeutete Wirkung von Mehrstimmigkeit zu erzeugen. In dieser Episode spielt das Kind alleine mit einem Spielzeuglastwagen und versucht, zwei Puppen hineinzuzwängen, die zu groß sind. (17) Hannah 2; 9 beim Rollenspiel I’m trying again. Oh geht’s nicht. Now try again! Oh, geht auch noch nicht, uh uh, geht nicht. I’ve to put his arms down, and Mama is going to drive, Mami, Mami can now drive, it’s not very hard, Mami, warum is das nicht da? Oh, I’m trying it all again, oh, I can’t do it, uh uh, I can’t do it. Hannah setzt hier beide Sprachen zur Inszenierung ihres Spiels ein und lässt die beteiligten Puppen in unterschiedlichen Rollen und Sprachen auftreten. Aber © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Zum Ausklang ein kleiner Vorgeschmack 63 natürlich kommt es in Folge der Ähnlichkeit zwischen Sprachen wie Deutsch und Englisch auch zu Wettbewerb (hier in (18) zwischen dt. Fenster und engl. window). (18) Erw. What’s the difference between the door and the window? Adam 3; 8 is de fewindow and here’s the door as well Das Bemerkenswerte an (18) ist aber nicht einmal die „Einmischung“ des deutschen Gegenstücks für engl. window, sondern vielmehr die Geschwindigkeit, mit der Adam das Deutsche in seine Schranken weist, d. h. die Äußerung repariert. Mit diesem Ausblick auf kindliche Mehrsprachigkeit sind wir am Ende des Kapitels angelangt. Mein Anliegen war es zu zeigen, welche Prozesse sich ganz natürlich einstellen, wenn ein Mensch regelmäßig mit zwei Sprachen im Kopf lebt und umgeht. Wer mehrsprachig ist, weiß und kann in der Tat mehr als andere. Allerdings hat dieses Wissen und Können auch einen Preis, nämlich den Wettbewerb, der sich infolge der gleichzeitigen Verfügbarkeit verschiedener sprachlicher Wissenssysteme einstellt. Wer dies zum Anlass nehmen sollte, vor der Mehrsprachigkeit zurückzuscheuen, wäre allerdings schlecht beraten. Koexistenz und Konkurrenz sind positive Herausforderungen, denn sie halten nicht nur unser Gehirn auf Trab. Sie bieten uns auch die Chance, mehr und vielleicht auch tatsächlich Neues über die bemerkenswerten sprachlichen Fähigkeiten von Kindern (und Erwachsenen) zu entdecken. Weiterführende Literatur Ein spannendes, auf Englisch verfasstes Buch mit dem Titel „Multiple Voices“, das viele unterschiedliche Aspekte von Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt behandelt, stammt von Myers-Scotton (2006). Ebenfalls auf Englisch erschienen ist Romaines Buch „Bilingualism“ (1995), in denen man sich umfasssend informieren kann. Hinnenkamp & Meng (2005) enthalten Artikel zum Thema Sprache und Identität. In diesem Zusammenhang empfiehlt sich auch das unterhaltsame Buch von Achilles/ Pighin (2008). Für eine Abrechnung mit beliebten Mythen über Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Menschen vgl. Keim & Tracy (2007). Tracy & Stolberg (2008) kommt mit einer CD, auf der man einige Tonbeispiele hören kann. Lösung des Gedankenexperiments auf S. 58: Art = Kunst. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 4 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Ausblick Die gute Nachricht ist, dass Kinder selbst nicht wissen können, wie komplex Sprachen sind und wie unmöglich es sein sollte, sie überhaupt zu erwerben. Sie haben also eigentlich keinen Grund zu der Annahme, dass der Spracherwerb nicht zu schaffen ist. Was sie damit leisten - und was wir ja auch geleistet haben -, ist beeindruckend und es ist mehr als bedauerlich, dass wir uns nicht daran erinnern können, wie wir es geschafft haben. Und leider können wir uns die Kindersprache auch nicht so aneignen wie eine weitere Sprache, d. h. wir können sie nicht noch einmal lernen und die kindlichen Intuitionen über Sätze nachempfinden. Wir müssen also anders vorgehen. In diesem Kapitel werde ich nicht versuchen, einen Überblick über die Spracherwerbsforschung zu geben, sondern mich auf jene Aspekte beschränken, die auch in den nächsten Kapiteln benötigt werden. Ziel ist es jedenfalls, unseren bereits vorhandenen theoretischen „Erwartungshorizont“ um die Erwerbsperspektive zu erweitern. Dabei werde ich mich vor allem auf die Ergebnisse der Sprachproduktionsforschung stützen und das Sprachverstehen sowie den gestörten Spracherwerb nur am Rande erwähnen. Ich beginne mit einigen allgemeinen Bemerkungen über sprachliches Lernen und erinnere daran, dass Kinder gleichzeitig viele unterschiedliche Erwerbsaufgaben zu meistern haben - dies folgt schon aus der Struktur des Sprachpakets. Dabei können sich Kinder sowohl auf ihr angeborenes Talent zum Spracherwerb verlassen als auch auf das, was der Biologe Rupert Riedl (1980: 36) einmal als „Hausverstand“ bezeichnet hat: effiziente Prinzipien der Selbstorganisation. Aber Kinder müssen sich natürlich auch auf uns verlassen können. Ohne reichhaltiges Sprachangebot hätten sie keine Veranlassung, eine Grammatik zu (re-) konstruieren, die ihnen, wie im Falle des Deutschen, den Erwerb von Details zumutet, die für die gegenseitige Verständigung an sich unwichtig sind, etwa die Feinheiten des Pluralsystems (warum so viele Unterscheidungen? ), unregelmäßiger Verben (warum fällt, aber lallt? ) oder des grammatischen Geschlechts. Um beim letzten Beispiel zu bleiben: Das Englische kommt wunderbar mit dem Einheitsartikel the oder a(n) für alles und jedes aus (und kennzeichnet das natür- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Ausblick 65 liche Geschlecht durch he, she), wohingegen man sich im Deutschen auch beim Artikel zwischen der, die und das sowie ein/ eine entscheiden muss. Nach einigen Anmerkungen über sprachliches Lernen im Allgemeinen und zum Wortschatzerwerb wende ich mich dem Erwerb der deutschen Satzstruktur zu. Exkurs Wenn ich behaupte, dass manche Feinheiten einer Sprache für die Verständigung nicht wichtig sind, so bedeutet dies keineswegs, dass man sie bei der Förderung vernachlässigen sollte. Man muss sie allerdings in den jeweiligen Systemkontext einordnen können. Es macht keinen Sinn - um ein extremes Beispiel zu erfinden -, den Kasus zu „üben“, wenn die Äußerungen eines Kindes noch keinen Anflug eines Artikels zeigen. Und natürlich können Sprecher einer Sprache, die grammatisches Genus kennzeichnet, diese Information nutzen, wie beispielsweise in (a) im Gegensatz zu (b). (a) Das Kind malte einen Mund mit einer Pfeife. Er war riesig. (b) Das Kind malte einen Mund mit einem Zahn. Er war riesig. Aber nicht alle Sprachen verfügen über diese Möglichkeit, und auch dort funktioniert die Kommunikation! In vielen Fällen hilft der unmittelbare Kontext, die Situation, die Mehrdeutigkeit aufzulösen - z. B. wenn man das Bild gleichzeitig sehen kann -, oder unser Weltwissen. Außerdem sind wir ganz gut im Raten, was uns Sprecher wohl mitteilen wollten, vgl. (c), wo wir zuerst sicher an eine riesige Ziege denken, auch wenn wir uns irren könnten. (c) Tina malte eine Ziege auf eine Blumenvase. Sie war riesig. Wo Sprachen keine Genus-Unterscheidungen verfügbar machen oder wenn das Genus mal nicht hilft (wie in meinen Beispielen (b) und (c)), muss man sich als Hörer(in) einfach stärker auf den gesunden Menschenverstand bzw. auf die eigene pragmatische Kompetenz verlassen. Und nicht vergessen: Man kann ja auch mal zurückfragen (Die Vase war riesig? Tina riesig? ). Können Sie sich schon vorstellen, warum dieser kleine Exkurs im Zusammenhang mit der kindlichen Sprachkompetenz wichtig ist? Was ich eben anhand einiger Beispiele vorgeführt habe, trifft Kinder natürlich ganz massiv: Sie müssen wirklich viel detektivische Kleinarbeit leisten, um herauszufinden, worauf wir mit unseren Pronomen verweisen. Umgekehrt fällt es uns als Erwachsenen auch nicht leicht, einer kindlichen Geschichte zu folgen. Das ist ein wichtiges Thema für Kapitel 8. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht der monolinguale Erstspracherwerb. Obwohl ich bereits grundlegend in Frage gestellt habe, dass es so etwas wie Monolingualismus gibt (vgl. Kapitel 3), werde ich in diesem Moment weiterhin so tun, „als ob“ man Ein- und Mehrsprachigkeit sinnvoll auseinanderhal- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 66 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen ten könnte. Wir sollten aber unbedingt im Kopf behalten, dass die Situation in Wirklichkeit bereits viel komplexer ist. In der Regel müssen Kinder von Anfang an mit den unterschiedlichsten Dialekten ihrer Bezugspersonen umgehen (z. B. Vater Schwabe, Mutter Hessin) inklusive der jeweiligen Varianten oder persönlichen Besonderheiten wie Vorlieben für bestimmte Ausdrucksweisen und Artikulationsproblemen (Stottern, Lispeln etc.). Kinder sollten also möglichst früh ein Gespür dafür entwickeln, welche Art von Information in ihrem Sprachangebot wichtig ist für den Aufbau des eigenen Wissenssystems und was man gewissermaßen wie ein „Hintergrundgeräusch“ oder einen gelegentlichen Versprecher ignorieren kann. Aber nicht nur das: Da Kinder und Erwachsene im Gespräch miteinander ebenfalls auf unterschiedliches Sprachwissen zurückgreifen - Erwachsene haben viel mehr Information innerhalb ihres Sprachpakets -, befinden sich Bezugsperson und Kind eigentlich bei jedem Gespräch in einer Sprachkontaktsituation. Beide Seiten kommunizieren miteinander vor einem jeweils eigenen Erwartungshorizont. Wir werden später (ebenfalls in Kapitel 8) sehen, dass man sehr gut miteinander kommunizieren kann, auch wenn man auf beiden Seiten nicht immer alles versteht oder auf sämtlichen Ebenen unseres Sprachpakets entschlüsseln kann. Exkurs Mirko, von dem ich seit seinem 18. Lebensmonat Tonaufnahmen gemacht hatte (vgl. Tracy 1991), kam mit etwa dreieinhalb Jahren in den Kindergarten. Zwei Wochen später, als ich zu einer weiteren Aufnahme kam, eröffnete mir die Mutter, Mirko habe anscheinend ein Sprachproblem: Er lisple! Tatsächlich kam Mirko aus seinem Zimmer und sprach mich mit einem Lispeln (und einem breiten Grinsen! ) an: „Woll’n wir’n tolle θ Flug θ eug malen, Frau Tra θ y? “. Hier symbolisiert das phonetische Zeichen θ einen stimmlosen Reibelaut, wie beim englischen th. Nun, Mirko hatte bisher bei keiner meiner vielen Tonaufnahmen gelispelt. Da ich sein Lispeln nicht beachtete, verschwand es recht schnell aus seinen Äußerungen, solange ich alleine mit ihm war. Als die Mutter am Ende meines Besuchs wieder zu uns stieß, war auch das Lispeln wieder da. Später stellte sich heraus, dass in dem Kindergarten, den Mirko besuchte, im Moment alle Kinder einer Gruppe lispelten. Das Lispeln zeichnete sie als Mitglieder dieser Gruppe aus, es war Kennzeichen ihrer Gruppenidentität. Der Ursprung war ein Kind mit hohem Status, das wirklich lispelte; alle anderen hatten das Lispeln als Prestige-Merkmal übernommen. Eltern merken spätestens in dem Moment, in dem der Kontakt eines Kindes mit seiner Peergroup (Altersgruppe) im Alltag an Bedeutung gewinnt, dass unterschiedliche Varietäten ins Spiel kommen - eine Tatsache, die sie nicht einmal immer erfreut. Vielfalt von Optionen spielt also sehr früh im Spracherwerb eine Rolle. Mit der frühen Empfänglichkeit für Variation, also mit dem © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Spracherwerb zwischen Anlage und Umwelt 67 Wahrnehmen von alternativen Möglichkeiten sich auszudrücken, stellt sich zugleich pragmatisches Wissen hinsichtlich der Verwendungstauglichkeit - und, wie im Falle meiner Erfahrung mit Mirko - der mit Sprache verbundenen Macht einher. Innerhalb der Kindergruppe stand das Lispeln für Solidarität und Zusammengehörigkeit, nach außen diente es der Abgrenzung und auch der wirkungsvollen Provokation. Ist es nicht faszinierend zu sehen, wie früh Kinder (implizit) erkennen, was für eine wichtige Rolle die Art sich zu äußern bei der zwischenmenschlichen Begegnung spielt und wie man die Sprache nutzen kann, um Identität und Rollen zu erschaffen? Was später in den Jugendkulturen oder ganz generell in Gruppenkulturen eine wichtige Rolle spielt (vgl. Androutsopoulos 2002, Auer 1998, Keim 2007), kann also sehr früh beobachtet werden. Offensichtlich haben wir alle (und als Kinder sehr früh! ) Spaß daran, mit sprachlichen Formen und Funktionen (Wirkungsweisen) zu spielen - eine Fähigkeit, auf der wir in der Sprachförderung aufbauen können. Spracherwerb zwischen Anlage und Umwelt Kinder kommen mit erstaunlichen Kompetenzen zur Welt. Die Fähigkeiten, über die sie schon zum Zeitpunkt der Geburt und kurz danach verfügen, sind uns erst dank neuer technischer Entwicklungen zugänglich (vgl. Hirsh-Pasek & Golinkoff 1996, Jusczyk et al. 1993, Oerter & Montada 2002). Babys sind wie wir! Sobald sie sich − beispielsweise in einem experimentellen Rahmen − an bestimmte Hör- oder Sehreize (Töne, Laute, Bilder, Gegenstände) gewöhnt haben, lässt ihr Interesse nach, d. h. es setzt ein Gewöhnungseffekt ein. Dies kann man hervorragend für die Forschung nutzen. Denn wenn Kindern nach einer Gewöhnung auf einmal neue Reize dargeboten werden, reagieren sie mit erneuter Aufmerksamkeit, was man beispielsweise am Herzschlag, an der Dauer des Hinschauens oder an einer verstärkten Saugrate messen kann (vgl. Hennon et al. 2000). Auf diese Art und Weise kann man feststellen, welche Laute, Silben (z. B. Kontraste zwischen ba und pa), Betonungsmuster und Rhythmen (z. B. Folgen von betonten und unbetonen Silben) sie unterscheiden können oder welchen Stimmen und Sprachen sie am liebsten zuhören. Babys kommen bereits mit einem „Erwartungshorizont“ zur Welt, der es ihnen ermöglicht, die Stimme der Mutter von der anderer Frauen zu unterscheiden. Dank der Forschungsergebnisse der Säuglingsforschung wissen wir mittlerweile, dass sich für den Spracherwerb die Frage, wie viel genetische Anlage und wie viel die Umwelt beisteuert, nicht erst vom Moment der Geburt stellt, da sich Kinder bereits im Mutterleib mit lautlichen und melodisch-rhythmischen Eigenschaften der Sprachen ihrer Mütter vertraut machen. Dank einschlägiger Experimente wissen wir auch, dass Kinder früh erwarten, dass Sprache und Welt „passen“ sollten. Wenn man ihnen beispielsweise auf zwei Monitoren unterschiedliche Szenen vorspielt, so betrachten sie lieber sol- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 68 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen che Filmclips, die zu dem passen, was ihnen zeitgleich durch einen Lautsprecher gesagt wird (vgl. Hirsh-Pasek & Golinkoff 1996). Experimente im sogenannten „Babylabor“ haben uns auch gezeigt, dass deutschsprachige Kinder Wortklassen, beispielsweise Artikel (z. B. der, die, das), erkennen, lange bevor sie in ihren eigenen Äußerungen in Erscheinung treten (Höhle & Weissenborn 2000). Der frühkindliche Erwartungshorizont beschränkt sich natürlich nicht auf Sprachliches. Im Alter von nur wenigen Monaten reagieren Babys überrascht, wenn ein von ihnen als dreidimensional wahrgenommenes Objekt, das sich im freien Fall befindet, plötzlich mitten in der Luft innehält oder wenn es durch ein als feste Fläche (z. B. als Tischfläche) gesehenes Hindernis einfach hindurch fällt, anstatt darauf zu prallen (Karmiloff-Smith 1995). In den letzten Jahrzehnten haben wir also in vielen kognitiven Bereichen zur Kenntnis nehmen müssen, dass Säuglinge ganz bestimmte und auch sehr vernünftige Erwartungen an ihre Umwelt mitbringen und auf alle Fälle viel lernfähiger sind, als man es ihnen zugetraut hatte (Hennon et al. 2000, Oerter & Montada 2002). Die Frage, wie im Fall des Spracherwerbs angeborene Fähigkeiten eines Kindes und das jeweilige Angebot der Umwelt zusammenwirken, um überall auf der Welt erstaunlich gleichförmige Entwicklungsprozesse hervorzubringen, steht im Mittelpunkt intensiver Kontroversen, die zwar sehr spannend sind, an dieser Stelle aber nicht weiter verfolgt werden können (vgl. Hirsh-Pasek & Golinkoff 1996, Grimm & Weinert 2002, Tracy 2000, Dittmann 2 2006). Auf folgenden, kleinsten gemeinsamen Nenner aber können sich wohl alle Beteiligten einigen: Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist dem Menschen angeboren und weitgehend unabhängig von der Intelligenz. Das Sprachlernen erweist sich aufgrund dieser genetischen Verankerung als ausgesprochen robust, der Erwerbsverlauf - trotz aller Variation - als höchst systematisch. Er ist auch unabhängig davon, ob es sich dabei um Laut- oder Gebärdensprachen handelt (vgl. Leuninger 2000). Gleichzeitig zeigen uns natürlich sowohl die existierenden 4.000 bis 6.000 Sprachen als auch der beständige Sprachwandel, dass uns die Gene eine Menge Freiheit lassen! Da wir immer noch zu wenig darüber wissen, wie für jede einzelne Schicht unseres Sprachpakets das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt ausfallen könnte, lege ich diese Kontroverse hier zunächst einmal beiseite und gehe im Folgenden vom oben erwähnten „Minimalkonsens“ aus, auf den sich wohl die meisten WissenschaftlerInnen einigen könnten. Was Lerner und Lernerinnen beim Spracherwerb leisten müssen, ist in jedem Fall mehr als eine Imitation oder eine einfache Übernahme von außen an sie heran getragenen Wissens. Daher unterscheide ich auch nicht zwischen Erwerb, Entwicklung, Lernen oder Aneignung und verwende diese Ausdrücke als gleichbedeutende Alternativen. Denn zumindest für den Spracherwerb steckt dahinter immer wieder die individuelle Konstruktionsleistung eines Kindes (ich erinnere an meinen Vergleich mit dem Vorgehen eines Detektivs in Kapitel 1). Kinder müssen dabei die unterschiedlichsten Aufgaben bewältigen: Sie müssen sowohl in der Lage sein, unzählige Details zu speichern und durch Netze zu ver- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs 69 knüpfen (man denke nur an den Wortschatz), als auch (implizite) Regeln, die über Einzelfälle hinweg greifen, zu entwerfen. Vor allem sind sie offensichtlich fähig, ihre eigenen Lernersysteme bei Bedarf immer wieder zu überarbeiten, und zwar auch ohne explizite Anleitung oder Korrektur. Meinen Sie nicht auch, dass das sehr ermutigend für die frühe Förderung klingt? Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs Die Befähigung zu symbolischem Verhalten hat der Mensch nicht gepachtet. Auch Bienen können sich über Nichtanwesendes verständigen, nämlich über die Richtung, Entfernung und Güte einer Futterquelle. Schimpansen können arbiträre Zeichenbeziehungen lernen, z. B. einen farbigen Chip als Zeichen für Bananen verwenden. Auf die erstaunlichen Wortlernfähigkeiten von Rico, einem Collie, werde ich gleich noch eingehen. Der afrikanische Graupapagei Alex kann eine stattliche Anzahl von Objekten benennen und beantwortet mit einer hohen Trefferquote Fragen nach Farben, Material und Form dieser Objekte (vgl. Pepperberg 2005). Normal entwickelte Kinder beginnen gegen Ende des ersten Lebensjahrs mit dem Äußern erster Wörter und verfügen im Alter von 18 Monaten in den meisten Fällen über einen Wortschatz von mindestens 50 Wörtern, der danach rapide anwächst. Dieses rasante Anwachsen wird als Wortschatzspurt bezeichnet. Mit zwei Jahren sind Kinder dann bei gut 200 Wörtern und mit sechs Jahren bei etwa 6.000 angekommen, wobei der passive Wortschatz den aktiven bei weitem übersteigt (Grimm & Weinert 2002, Kauschke 2000, Meibauer & Rothweiler 1999, Schulz 2007a, Szagun 1983, 2007). Stellen Sie sich einen senkrechten Schnitt durch unser Sprachpaket vor, so als ob man eine Sonde durch das Ganze hindurch schiebt und auf jeder Schicht etwas aufsammelt. Wörter sind ein bisschen so wie diese Sonde: Sie vereinen auf sich Eigenschaften vieler Ebenen. Das bedeutet aber auch, dass manche Eigenschaft aus Sicht der Kinder deutlicher und klarer sein mag als andere. Die Zusammensetzung des kindlichen Wortschatzes spiegelt dies sehr schön wider. In manchen Wortpaketen ist neben der Lautform und der Wortbetonung vor allem die pragmatische Schicht voll gepackt: das Ergebnis sind „soziale“ oder „expressive“ Wörter; bei anderen stehen semantische Kontraste im Vordergrund (Substantive, Adjektive, Verben). Die Information innerhalb der morphologischen Schicht ist zunächst „dünn“; d. h. dass Wortformen in morphologischer Hinsicht anfänglich oft nur erste Annäherungen an Wörter des zielsprachlichen Systems darstellen (vgl. aschette für ausschütten, feseln für festhalten). Sofern Wörter in den ersten Äußerungen noch keine Nachbarn im Satz haben, also als Einwortäußerungen (z. B. da) auftreten, ist die syntaktische Information im Lexikon ebenfalls lückenhaft. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 70 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Exkurs Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Kinder in Wahrnehmungs- und Verstehensexperimenten Wörter aus geschlossenen Klassen (z. B. Artikel) erkennen, die sie in ihren spontanen Äußerungen noch nicht verwenden. Dies bedeutet, dass immer ein gewisses Paradox mitschwingt, wenn wir darüber reden, dass bestimmte Dinge noch keinen Eingang in eine Lernergrammatik gefunden haben. Im Grund dürften wir in einem solchen Fall vielleicht nur sagen: Kindern fehlt die Erkenntnis, dass sie solche Wörter auch in ihren eigenen Äußerungen verwenden sollten. Jedenfalls können Sie vielleicht nun besser nachvollziehen, warum man in der Wissenschaft so heftig darüber streiten kann, was Kinder zu bestimmten Zeitpunkten wissen. Darf ich Ihnen meine Meinung verraten? Da ich ohnehin der Ansicht bin, dass auch (vermeintlich) monolinguale Kinder von klein auf gleichzeitig an vielen sprachlichen „Baustellen“ arbeiten, z. B. weil sie in ihrer Umgebung mit verschiedenen Dialekten, Varianten etc. in Kontakt kommen, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass sie auch für die Produktion und das Sprachverstehen unterschiedliche Grammatiken haben bzw. mit Schichten des Sprachpakets, die sich ganz wesentlich voneinander unterscheiden, jeweils anders umgehen. Übrigens gibt es auch Lernbereiche, in denen Kinder schon recht souverän mit Formen zu hantieren scheinen, die aber auf der Ebene der Syntax und der Morphologie noch keine Entsprechung im Sinne des Erwachsenensystems haben, beispielsweise Formeln wie [atomis] von Da komm ich. Diese Möglichkeit werden wir gleich kennenlernen. Pragmatisch relevante, „soziale“ Wörter werden mit typischen zwischenmenschlichen Handlungen und Ereignissen verknüpft (tschüss, heia, oh-oh, guck, da) und steuern die Aufmerksamkeit von Gesprächspartnern. Ebenfalls Teil des frühen Lexikons sind Eigennamen und konkrete Substantive (Hund, Ball, Haus), Verbpartikeln wie auf, zu, ab, Adjektive (groß, heiß) und Verben (z. B. machen, malen, essen). Mit Partikeln, d. h. Wörtern wie mehr, nochma, alle, nein, kommentieren Kinder Wiedererscheinen oder Verschwinden von Personen und Dingen, erbitten Wiederholungen oder drücken Ablehnung aus (vgl. Bloom 1973 für eine detaillierte Analyse dieser Sprachakte in der englischen Kindersprache). Im frühen kindlichen Lexikon finden sich vor allem Vertreter von offenen (d. h. prinzipiell erweiterbaren) lexikalischen Klassen, deren Bedeutung sich leichter erschließen lässt (z. B. Hund, Maus, gehen, schlafen) als die geschlossener Klassen (z. B. Artikel, Präpositionen wie neben, in; Konjunktionen wie dass, wenn; die sogenannten Modalverben wie sollen, müssen). Kann uns das eigentlich überraschen? Ich denke, nein. Denn die Bedeutung von Wörtern geschlossener Klassen ergibt sich schließlich erst aus ihrer Einbettung im Satzgefüge, was man besonders deutlich an Konjunktionen sieht. Was sollten uns wenn, ob oder auch Wörter, die Sätze verknüpfen (und, denn) überhaupt sagen, wenn man sie aus dem Zusammenhang nähme? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs 71 Exkurs Hier ist ein kleiner Witz, der zum Lernen von Wörtern und vor allem zum Erwerb von Gebrauchsbedingungen gut passt. Ich fand diesen Witz in der Cartoon-Serie Family Circus in einer amerikanischen Tageszeitung und gebe ihn hier in meiner Übersetzung wieder. Die Zeichnung stellt ein kleines Mädchen dar, das mit belehrendem Zeigefinger vor ihrem jüngeren Bruder steht und ihm Folgendes erklärt: „Wenn man Dir etwas schenkt, wartest Du, bis jemand fragt: Was sagt man? Und dann sagst du: Danke! “ Dieser Witz unterstreicht sehr schön, dass die Gebrauchsbedingungen von Wörtern und Sätzen aus kindlicher Perspektive ganz anders aussehen könnten, als wir uns das oft vorstellen. Aus der Sicht des vom Cartoon-Autor geschaffenen Mädchens muss man offensichtlich auf die Aufforderung warten, bevor man sich bedankt. Aus Sicht eines Erwachsenen verhält es sich genau anders: Idealerweise kommt der Dank ja spontan! Experten gehen davon aus, dass sich der Wortschatzerwerb in verschiedenen Etappen vollzieht, wobei Kinder mit einer raschen, anfänglich groben Vermutung bezüglich der Bedeutung eines Wortes beginnen. Diesen ersten „Verdacht“ des Kindes, was ein Wort bedeuten könnte, hat man als Fast Mapping (schnelle Abbildung) bezeichnet (Carey 1978, Rothweiler 1999, Kauschke 2000). Aber auch dieser Vorgang ist schon nicht ohne einen gewissen Erwartungshorizont eines Kindes möglich, der unsinnige Schlussfolgerungen ausschließt (vgl. dazu das nächste Gedankenexperiment). Es muss also einfache Prinzipien geben, die den Suchraum, d. h. die Menge möglicher Verknüpfungen von Wort und Welt, von Anfang an eingrenzen und die dafür sorgen, dass der Ausbau des Lexikons systematisch erfolgt. Während das Kind für ein erstes Mapping nur weniger Hörbelege bedarf, zieht sich der eigentliche Ausbau von Wortbedeutungen sehr lange hin. Wo es sich nicht um Bezeichnungen für Klassen konkreter Objekte, sondern um abstrakte Begriffe handelt (Was bedeuten eigentlich Freiheit oder Mut? ) oder um Bezeichnungen für innere Ereignisse und Zustände (versprechen, vergessen, glauben, wissen, denken, lügen etc.), gilt dies ganz besonders. Auch wenn Kinder manche dieser Wörter früh verwenden - bereits Zwei-, Dreijährige reden davon, dass sie etwas glauben oder denken -, heißt dies nicht, dass die Bedeutung schon die der Erwachsenensprache ist (vgl. Schulz 2007a). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 72 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Gedankenexperimente (1) Nehmen wir an, Sie wären etwa 18 Monate alt und wüssten nicht, was Sie auf diesem Bild sehen. Wenn ich nun sage: „Sieh mal, ein Betonmischer! “ − auf was genau verweise ich Ihrer Ansicht nach? Auf eines der Räder oder ein anderes Detail? Auf die Farbe? Die erste Vermutung Ihres gesunden Hausverstands entspräche wohl eher dem, was man in der Forschung das „Prinzip des ganzen Objekts“ genannt hat: Demnach sollten Sie annehmen, dass ich Ihnen die Bezeichnung für einen ganzen Gegenstand liefere, nicht für einen Teil oder eine andere Eigenschaft. Nur wenn Sie wüssten, dass ich weiß, dass Sie schon wissen, wie das Objekt heißt, könnten Sie vermuten, ich wollte Ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Eigenschaft des Objekts richten. Soweit alles klar? (2) Nehmen wir nun an, ich zeigte Ihnen ein Bild mit zwei Ihnen unbekannten Tieren und sagte: „Oh, wie schön! Ein Strauß, ein Zebra! “ Verweise ich Ihrer Ansicht nach mit beiden Substantiven auf das gleiche Objekt? D. h. könnten Sie annehmen, ich wollte Ihnen nur Synonyme (Wörter gleicher Bedeutung) anbieten? So wie in etwa bei „Klasse, super, geil! “ oder „Ein schöner Raum, wie viele Quadratmeter hat das Zimmer? “ „Glauben Sie mir, das Wasser ist sauber, ganz rein.“ Nun, Ihr gesunder Hausverstand sagt Ihnen wahrscheinlich als Allererstes: „Achtung! Unterschiedliche Wörter, verschiedene Objekte! “ In diesem Fall beachten Sie einen Grundsatz, den man „Prinzip des Kontrasts“ genannt hat. Ich erinnere Sie noch einmal an den Bäckerbesuch in Kapitel 2. Dieses Mal schlüpfen Sie bitte für einen Moment in die Rolle der Person hinter der Theke, z. B. eines Azubis am ersten Tag. Hinter ihm stehen (dieses Mal) drei Körbe, jeweils gefüllt mit nur einer Sorte Brötchen. Die Bezeichnungen für Korb 1 und 2 kennt er: Mohnbrötchen in einem, Sesambrötchen im anderen. Wenn Sie nun sagen: „Zwei Mohnbrötchen und ein Krusti, bitte! “, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit in den dritten Korb greifen, vielleicht mit einem Stoßgebet im Herzen. Vielleicht haben Sie schon von Rico, dem Collie, gehört, der gut 200 Wörter unterscheiden kann und der auf Aufforderung die entsprechenden © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs 73 Objekte bringt? Ein Forscherteam des Max-Planck-Instituts in Leipzig hat ihn getestet (Kaminsky et al. 2004). Sie legten, ohne dass Rico dies beobachten konnte, zu vielen Objekten, deren Bezeichnung ihm bekannt war, einen neuen Gegenstand. Dann wurde Rico, der in einem Nebenzimmer wartete, dazu aufgefordert, ein X (neue Bezeichnung) zu holen. Er apportierte sehr zuverlässig genau das eine Objekt, dessen Namen er zum ersten Mal gehört hatte, als man ihm den „Suchauftrag“ gab. Warum diese Erkenntnis so spannend ist, fragen Sie? Nun, vielleicht beschränkt sich die Befähigung zum Fast Mapping und die Anwendung semantischer Prinzipien ja nicht auf den Menschen. Als Hundeherrchen/ -frauchen haben Sie dies vielleicht schon längst gewusst! (3) Sie sind etwa ein Jahr alt und schauen sich ein Bilderbuch mit Ihren Eltern an. Ihr Vater blättert die Seite um und sagt: „Look at the apple! “ Ihre Mutter wirft auch einen Blick auf das Bild und meint: „Was für ein schöner roter Apfel! “ Was schließen Sie daraus? (a) Mama oder Papa versprechen sich aber oft! (b) Ah, toll! Wir sind eine mehrsprachige Familie! Sie sehen, im Fall einer bilingualen Situation wird das Prinzip des Kontrasts („andere Form, andere Bedeutung/ anderes Objekt“) durch die Gesprächspartner des Kindes immer wieder verletzt. Dies sollte dem Kind helfen zu entdecken, dass sich in seiner Umgebung verschiedene Sprachen tummeln, in meinem Beispiel oben eine Vater- und eine Muttersprache! Prinzipien der geschilderten Art werden nicht gelernt. Sie sind Teil unserer kognitiven Grundausstattung. Etwas davon findet sich möglicherweise auch schon bei anderen Arten, worauf die Experimente mit Rico hindeuten. Menschen verfügen auch über sehr effektive Wahrnehmungs- und Speicherstrategien, die ebenfalls nicht erst erworben werden, auch wenn sie sich im Lauf der Entwicklung ändern (vgl. Oerter & Montada 2002). Kinder müssen sich, insbesondere im Zusammenhang mit dem Lexikon, eine potentiell unendliche Menge an Details merken können. Kein Wunder, dass das Gehirn bestrebt ist, Informationen möglichst gut zu vernetzen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch noch einmal an die Beispiele (21) und (22) des 2. Kapitels, Champilzion und Papa-Aktion, an denen dieses Bemühen um Verknüpfung sehr deutlich zu erkennen war. Die bemerkenswerte Fähigkeit, mit Details umzugehen, wird im Deutschen vor allem im Zusammenhang mit dem Genussystem deutlich, das jedes einzelne Substantiv einer von drei Klassen zuweist (maskulin, feminin, neutrum) und verlangt, dass begleitende Artikel, Quantoren (Mengenbezeichnungen wie alle, jede, keine) und Adjektive entsprechend gebeugt werden. Das Genussystem ist keineswegs völlig chaotisch, aber es bedient sich eben nicht nur einer, sondern © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 74 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen vieler Regeln (vgl. dazu Köpcke 1993, Szagun 2007): In einigen Fällen liegen sie auf der phonologischen und prosodischen Ebene, d. h. sie richten sich nach Lautung und Betonung. So sind die meisten Einsilber mit mehreren Konsonanten am Wortanfang oder Wortende maskulin: Tropf, Krug; zweisilbige Substantive mit der Betonung auf der ersten Silbe, die auf einem schwachen Vokal, dem sogenannten „schwa“ ( ә ) enden, sind meistens feminin (Birne, Tasse, Nase, Ente …). Andere Regeln finden sich auf der Ebene der Morphologie: Wortbildung mit -ung führt verlässlich zu femininen Substantiven: Verzeihung, Zeitung, Behausung …; Substantive auf -nis sind hingegen sächlich, wie Ärgernis, Zeugnis, Wagnis, oder weiblich: Hemmnis, Bedrängnis. Eine morphologische Verallgemeinerung ist auch bei Verkleinerungsformen (-chen, -lein) möglich, die immer zum Neutrum greifen: Häschen, Entchen, Vögelchen, Vöglein. Kleiner Hinweis Für den Fall, dass Sie jetzt gerade anheben wollten zu singen: „Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flüglein hätt, flög ich … schnell weg! “ erlaube ich mir den Hinweis, dass ich bald mit dem Auflisten von Details aufhöre und zu anderen Bereichen unserer sprachlichen Kompetenz übergehe, die sich wunderbar mit Regeln erfassen lassen. Aber wenn es uns schon schwer fällt zu entdecken, welche Systematik sich hinter dem grammatischen Genus im Deutschen verbirgt, um wie viel erstaunlicher ist es, dass Kinder beim Erstspracherwerb verhältnismäßig wenig Probleme damit haben. Beim Zweitspracherwerb sieht dies anders aus, wie wir in Kapitel 6 sehen werden. Kurz zurück zu den möglichen Genusregeln. Die Semantik mischt insofern mit, als sich das natürliche Geschlecht meistens, aber nicht immer, nutzen lässt: Dies funktioniert bei Frau, Mann, Tante, Onkel, Junge, nicht aber bei Weib, Mädchen. Wir sehen insgesamt, dass es nicht nur eine einfache Regel, sondern viele gibt, darüber hinaus aber auch viele Ausnahmen. Daher wird Lernern oft nichts anderes übrig bleiben, als die Information über das Geschlecht/ Genus im lexikalischen Eintrag jedes einzelnen Substantivs festzuhalten. Kein Wunder also, dass Lerner versuchen, dem Rat Mark Twains zu folgen, der empfahl, das Deutsche einer gründlichen Überholung zu unterziehen, weil es sonst nicht lernbar wäre! Exkurs Mark Twain, der Autor von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, hat eine ausgesprochen gelungene Satire auf Eigenschaften der deutschen Grammatik verfasst. Im Anhang seines Buchs A Tramp Abroad (1880) findet sich ein Kapitel mit der Überschrift: The Awful German Language (Die schreckliche deutsche Sprache), in dem er u. a. kritisch mit dem deutschen Genus ins Gericht geht. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Erwerbsaufgabe Lexikon: ein kurzer Exkurs 75 Verständlich, dass Kinder versuchen, das System zu reparieren. Daher finden wir beim Zweitspracherwerb auch oft die Junge statt der Junge; der Mutter statt die Mutter - beides eine Übergeneralisierung von phonologischen (Junge) oder morphologischen Regeln. Im Fall von Mutter behandeln Kinder die Endung -er, als ob es sich um Lehr-er oder Fahr-er handelte. Interessant ist, dass Kinder, die Deutsch als Erstsprache erwerben, diese Übergeneralisierungen meistens früh wieder aufgeben. Bei Lernern des Deutschen als Zweitsprache halten sie sich hartnäckiger, wie wir sehen werden. Im Fall der Verben müssen Kinder nicht nur die semantische Grundbedeutung entdecken, sondern auch die Menge der potentiellen Teilnehmer an dem Rollenspiel, das ich in Kapitel 2 erläutert habe (d. h. wer handelt, wer wirkt sonst noch mit? ). Sie müssen auch für die Kasus-„Requisiten“ sorgen. Während sich vieles generell regeln lässt (z. B. brauchen wir immer einen Nominativ für das Subjekt, meistens einen Akkusativ für das direkte Objekt: ich [N OM .] sehe ihn [A KK .] ), gibt es auch schon mal Wünsche nach einer Sonderausstattung, entweder einem bestimmten Kasus (Genitiv, Dativ) oder einem besonderen Pronomen wie sich. Man denke nur an jemanden einer Tat beschuldigen, jemandem glauben/ versprechen, sich einer Verpflichtung entledigen, sich wundern etc. Klar, dass man sich solche Besonderheiten nur dann aneignen kann, wenn man das „Theaterstück“ - um bei meinem Bild zu bleiben - mindestens einmal gesehen hat. Ein Teil der Erwerbsaufgabe besteht darin auszutüfteln, wie sich die Arbeit zwischen dem Wortspeicher (dem Lexikon), in dem sich Ausnahmen wunderbar ablegen lassen, und den Regelsystemen der verschiedenen Ebenen des Sprachpakets aufteilen lässt. Wie einzelne Lerner diese Aufgabe bewältigen, kann man an typischen U-förmigen Entwicklungskurven ablesen. So finden wir zu Beginn des Erwerbs von Plural- oder unregelmäßigen Verbformen oftmals korrekte Wörter (Kinder, Bücher, aufgegangen, bin), die dann im Zuge des Bemühens, möglichst allgemeine Regeln zu bilden, durch abweichende Formen ersetzt werden (Kindern, Buchs, Buchen, aufgegeht, bin ә ) wieder aufgegeben werden (vgl. Butzkamm & Butzkamm 2004 2 , Ewers 1999, Köpcke 1993). Das Resultat sind abweichende Formen, die dann so lange nachgebessert werden, bis kindliche Äußerung und das vom Kind wahrgenommene Sprachangebot nach und nach weitgehend, d. h. zur Zufriedenheit des Lerners, übereinstimmen. Dieser Prozess kann sich bis in die Schulzeit hinein ziehen, und zwar aus verständlichen Gründen. Wenn ein Kind zu wenig Gelegenheit hat, im Sprachangebot Konkurrenten für seine eigenen Kreationen zu begegnen, besteht auch kein Grund für eine Revision. Von einem englischsprachigen Kind kann man den unregelmäßigen Plural von ox (oxen), child (children) etc. auch nur dann erwarten, wenn es diese Formen mindestens einmal zu hören bekam. Dieser Punkt ist einerseits banal, wird aber von größter Bedeutung im Zusammenhang mit der Sprachförderung sein: mangelnde Erwerbsgelegenheit wirkt sich notwendigerweise nachteilig auf den Erwerb von sprachlichen Feinheiten (wie etwa der Pluralbildung) oder sonstiger Teilbereiche aus, die sich durch Formenvielfalt auszeichnen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 76 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Bezüglich der Erwerbsaufgaben im Wortschatzbereich möchte ich auch noch einmal betonen, dass Wörter in der sprachlichen Umgebung des Kindes in der Regel nicht als isolierte Einheiten verwendet werden. (Erinnern Sie sich an die Bestellung der Mannheimer Kundin aus Kapitel 2: Schhättgernzweevondedunkledoganzlinksimreschtekorb.? ) Lerner müssen in einem mehr oder weniger kontinuierlichen Schallstrom Wortgrenzen finden und orientieren sich dabei früh an bestimmten Eigenschaften des Lautstroms wie der Silbenform (offene, geschlossene Silben), Silbenbetonung und -länge. Obgleich ich im Folgenden nicht viel zu phonologischen und prosodischen Erwerbsaufgaben sagen werde, möchte ich anhand eines Beispiels erläutern, was damit gemeint ist, wenn man sagt, dass Kinder nicht einfach nur Modelle imitieren. Dazu muss man wissen, welche phonologischen Prozesse für die ersten Jahre des Spracherwerbs typisch sind: Konsonantenersetzungen (z. B. im hinteren Mundraum ausgesprochene Konsonanten wie k durch vordere Konsonanten: kann tann), Auslassung von Einzellauten, insbesondere bei Häufungen von Konsonanten, Auslassung von unbetonten Silben (vgl. unser früheres Beispiel Musik sik), Vokal- oder Konsonantenharmonie (Anpassung von Vokalen oder Konsonanten an andere in ihrer Umgebung). Im folgenden Beispiel, der Wiedergabe von Krankenschwester durch ein monolinguales Kind im Alter 1; 8, finden wir gleich mehrere dieser Prozesse am Werk. (1) Sonja kr an ken schwester t an ta ba sa Hinteres k wird durch vorderes t ersetzt. Zweimal werden Cluster von Konsonanten reduziert und ersetzt (kr, schw bzw. in phonetischer Umschrift: [ v]). Der gleiche Vokal, a, taucht in jeder Silbe auf: ein Fall von Vokalharmonie. Die rhythmische Struktur des ganzen Wortes bleibt jedoch perfekt erhalten. Sonja hatte keinen Zugang zu einer Sprache, die Vokalharmonie aufweist oder Häufungen von Konsonanten ausschließt. Was wir hier sehen, sind ganz allgemeine Vereinfachungsprozesse, auf die alle Kinder zeitweise zurückgreifen können. Erwerbsaufgabe: Sätze aufräumen Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich auf die Frage, wie Kinder nach und nach die Architektur deutscher Sätze und ausgewählte Aspekte der Morphologie des Deutschen, vor allem die Verbflexion (Beugung), für sich entdecken. Wir werden zunächst anhand kindlicher Äußerungen vier wichtige Entwicklungsphasen ausmachen. Anschließend zeige ich, dass sich das in Kapitel 2 eingeführte topologische Schema (vgl. S. 40) gut eignet, um herauszufinden, wie sich Kinder schrittweise dem zielsprachlichen System nähern. Nach dieser Dar- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion 77 stellung eher „typischer“ Entwicklungsschritte werde ich zeigen, was wir über Variation bei einzelnen Kindern wissen, sowie unterschiedliche Lernerstrategien und Übergangslösungen ansprechen. Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion Beobachtet man deutschsprachige Kinder im Alter von etwa einem Jahr bis dreieinhalb Jahren, so kann man feststellen, dass sich ihre eigenen Äußerungen ungefähr in folgender Weise verändern. (Die Altersangabe ist nur ein grober Anhaltspunkt, da sich Kinder in der Erwerbsgeschwindigkeit unterscheiden.) Meilenstein I (10-18 Monate) Im Alter von etwa einem Jahr produzieren Kinder, wie bereits erwähnt, Einwortäußerungen, vor allem Elemente offener Klassen. Der Wortschatz erweitert sich in dieser Zeit langsam, im Gegensatz zu den späteren Phasen. Die folgenden Äußerungen eines Kindes im Alter 1; 8 illustrieren diese Phase. In (2) kündigt Julia an, was sie mit ihrem Spielzeugaffen zu tun gedenkt (ins Bett legen), noch bevor sie das Bett erreicht hat; in (3) kommentiert sie eine laufende Handlung; (4) zeigt einen kurzen Ausschnitt aus einem Dialog mit mir (im Folgenden abgekürzt als RT). Wir sehen, wie Julia zuvor eingeführte Themen aufgreift (Bauch, Teddy), auch wenn sie die gestellten Fragen nur ansatzweise (in ihrem zweiten Redebeitrag) beantwortet. In den Beispielen werde ich von nun an in den Kinderäußerungen alles außer den Eigennamen und den betonten Silben klein schreiben. Die Schrägstriche am Ende zeigen das Ansteigen oder Abfallen der Äußerungsmelodie an; Punkte weisen auf kurze Pausen hin. (2) Julia trägt einen Stoffaffen zum Bett, daREIN/ … ÄFFchen/ legt ihn rein. (3) Julia isst Joghurt. joko/ … essen/ (4) Julia tritt auf den Bauch ihrer Stoffpuppe (Trudi), daneben liegt ihr Teddy. RT Trittst du der Trudi auf den Bauch? Julia deutet auf Trudis Bauch. bauch\ RT Das ist der Bauch. Hat der Teddy auch einen Bauch? Julia schaut Teddy an. teddy/ bauch/ … bauch\ RT Ja, hat der Teddy auch einen Bauch? Julia geht zu ihrer Spielkiste, da\ … hun\… bauch\… bauch\ nimmt Hund raus. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 78 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Julia eigentlich schon im Übergang zu Wortkombinationen. Dies erkennt man deutlich in einer Aufnahme, die ich nur wenige Tage später machte. Beispiel (5) aus eben diesem Korpus zeigt, dass die Kommunikation glückt, obgleich auf beiden Seiten nur einfachste sprachliche Mittel (Ein- und Zweiwortäußerungen) eingesetzt werden. (5) Julia (J.; 1; 8) sitzt mir (RT) gegenüber und schaut mich an. Etwa zwei Wochen zuvor hatte sie gesehen, dass ich mir meine Brille wie einen Haarreif auf den Kopf gesetzt hatte. In diesem Moment trage ich meine Brille zunächst „normal“. J. brille AB/ RT nimmt ihre Brille ab und hält sie in der Hand. RT Brille ab, ja J. deutet oben auf ihren eigenen Kopf. hin/ RT Da oben drauf? Ja? J. kopf/ … kopf/ RT setzt sich Brille auf den Kopf. So? J. nickt. Kurze Zeit später schaut J. RT wieder an. brille AB RT nimmt ihre Brille ab, hält sie in der Hand und fragt: Und jetzt? J. NAse\ RT setzt sich Brille normal auf. Auf die Nase? J. nickt, wendet sich anderen Dingen zu. Da sich beide Gesprächspartnerinnen an Situationen erinnern, in denen RT ihre Brille oben auf dem Kopf trug, kann die Kommunikation trotz eingeschränkter formaler Mittel gelingen. Obwohl Julia zunächst auf ihren eigenen Kopf zeigte, als sie hin äußerte, kam ich nicht auf die Idee, dass sie mich auffordern könnte, ihr die Brille auf den Kopf zu setzen. Warum lassen es Kinder eigentlich nicht beim Erwerb einfacher sprachlicher Mittel bewenden? Warum leistet sich das menschliche Gehirn über grundlegende Fertigkeiten hinaus den Luxus, komplexe Strukturen zu entwickeln, die schließlich zu Sätzen führen wie: Ich erinnere mich daran, dass du deine Brille neulich mal oben auf dem Kopf getragen hast. Sei bitte so nett und setz sie dir noch mal so auf! ? Sicher nicht, weil man ihnen dieses beibringt. Offensichtlich finden Kinder in ihrem Sprachangebot immer wieder neue Anreize, um ihre alten Konstruktionen zu ersetzen. Mit den folgenden Äußerungen wächst Julia bereits über Meilenstein I hinaus. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion 79 (6) Julia läuft zu einem Teller voller Brezeln. BREzel essen/ Kurz danach gibt sie einer anwesenden Erwachsenen, Frau B., Mutter eines anderen Kindes, einen Spielzeugvogel. AUFziehn/ … VOgel aufziehn/ Frau B. nimmt den Vogel und sagt: Vogel aufziehn! Du sprichst ja Sie zieht den Vogel auf. jetzt schon so schön! Die mit Bewunderung geäußerte Wiederholung der kindlichen Äußerung Vogel aufziehn durch Frau B. und ihr Kommentar (Du sprichst ja jetzt schon so schön! ) unterstreichen, dass Julias Wortkombination als Fortschritt empfunden wurde. Meilenstein II (18 bis 24 Monate) Mit den ersten Wortkombinationen steigen Kinder voll in die Syntax ein. Weil anfangs immer noch viele (vor allem geschlossene) Wortklassen fehlen, hat Brown (1973) diese Phase sehr treffend als telegraphic speech („Telegrammstil“) bezeichnet. Neben allmählich längeren Äußerungen mit Verben und den dazu gehörigen semantischen Rollen (z. B. Mama Bus fahrn, Wauwau essen … Wurst essen im Sinne von „Der Hund isst die Wurst“) finden sich auch verblose Äußerungen wie in (7), in denen man sich als Zuhörer ein Verb wie haben hinzudenkt. (7) 1; 11 J. sieht RTs Halskette, fasst sich an den Hals Julia KEtte/ schaut Mutter an Mami AUCH kette/ In dieser Äußerungssequenz erkennt man dank der Partikel auch bereits eine besondere Beziehung zwischen aufeinander folgenden Äußerungen. Um Mami auch kette richtig interpretieren zu können, muss man noch im Kopf haben, dass zuvor schon von einer Kette die Rede war, nämlich in Julia kette. Wir können die Partikel auch als einen expliziten Verweis auf dieses geteilte Vorwissen interpretieren. Wie wir bereits in Brezel essen, Vogel aufziehn oder auch in Brille ab gesehen haben, treten Verben in Infinitivform oder Verbpartikeln am Äußerungsende auf. Damit zeigt uns Julia, dass sie die rechte Satzklammer und die Elemente, die typischerweise dort vertreten sind, entdeckt hat. Mit der Zeit werden diese Strukturen dadurch komplexer, dass Verben zunehmend mit einem vollständigem Rollen-„Team“ auftreten, vgl. (8). In (9) zeigt sich außerdem eine erste Unterscheidung von Verbformen. Es gibt von nun an nicht nur Infinitive, sondern auch Verbformen, die ausdrücklich auf abgeschlossene oder vergangene Ereignisse hinweisen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 80 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen (8) Julia 1; 10 steht mit Mutter und RT im Flur, wendet sich an Mutter. doTRAcy AUCH kinderzimmer gehn/ Mutter Frag sie mal selber. Julia wendet sich an RT. KINderzimmer gehn/ RT Ja, wenn du möchtest, gehen wir ins Kinderzimmer, ja? Julia zur Mutter Mami AUCH gehn/ Mutter Mami auch? (9) Julia zeigt auf zerbrochenen Gegenstand Julia putemach\ Exkurs In (8) spricht Julia zunächst nicht mich an, sondern sie fragt ihre Mutter, ob ich mit ins Kinderzimmer gehen würde/ könnte. Dabei versieht sie meinen Namen mit dem seltsamen „Auftakt“ do. Dabei blieb sie mehrere Wochen lang. Beim wiederholten Abhören der Aufnahmen und der Durchsicht meiner Gesprächstranskripte fand ich schließlich eine plausible Erklärung: Wenn ich ein Gespräch begann, dann oft mit dem Aufmerksamkeitserreger Du, Julia. (Du, Julia, wollen wir mal einen Bus malen? Du, Julia, hast du schon meinen Turm gesehen? ) Sie schien sich mit ihrem doTracy diesem Anredestil anzupassen! Im Laufe der Zeit wandelte sich doTracy zu froTracy und schließlich zu Frau Tracy. Meilenstein III (24-36 Monate) Ein neuer qualitativer Sprung ist vollzogen, wenn Kinder einfache Sätze mit finiten Verben in der zweiten Satzposition, der V2-Stellung, produzieren. In dieser Entwicklungsphase tauchen auch weitere Wortklassen auf: Artikel, Präpositionen, Hilfsverben, vgl. (10) von Julia im Alter 2; 2, hier ohne weiteren Kontext angeführt. Die Verben sind zielsprachlich gebeugt (flektiert), d. h. sie stimmen mit dem Subjekt in Person und Numerus überein. (10) (a) ich bau ein TURM mit ein uhr\ (b) DA geht Julia PUppenwagen rein\ (c) Da falln jetz i BLÄtter runter\ (i = die) Die Regelmäßigkeit, mit der Verben in V2-Position flektiert werden, ist bemerkenswert. Verben, die nicht mit dem Subjekt übereinstimmen, also nicht-finit sind, stehen in Julias Äußerungen ausnahmslos am Satzende, wie Julia Florian auch in Nase stechen. Auf das gleichzeitige Vorkommen einfacherer und fortschrittlicherer Strukturformate werde ich später noch einmal zu sprechen kommen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion 81 Meilenstein IV (etwa ab 30 Monaten) Wenn die Kinder damit beginnen, komplexe Sätze zu äußern, d. h. „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch“ zu machen (vgl. Kapitel 2), ist ein weiterer wichtiger Schritt vollzogen. Charakteristisch für diesen Abschnitt sind Nebensätze mit Konjunktionen und finiten, flektierten Verben am Satzende. Vgl. dazu die folgenden Beispiele von Julia im Alter 2; 8. (11) (a) wenn die Julia FUTter reintut DANN fressen die vögeln alles auf\ (b) ich muss mal verSUchen ob das ABgeht\ Julia hat den Weg bis zu Meilenstein IV beeindruckend schnell zurückgelegt. Es gibt aber sowohl Kinder, die noch schneller in den Erwerb der Nebensätze einsteigen, vgl. Valle in (12), als auch Kinder, die sich sehr viel mehr Zeit lassen, dafür aber wiederum am Ausbau anderer Strukturbereiche arbeiten (vgl. Fritzenschaft et al. 1990 für Unterschiede zwischen Kindern). (12) (a) 1; 11 Valle hat BIERT (= probiert) ob das PFEIFT\ (b) 2; 00 Valle badet WEIter bis du fertig MALT (= gemalt) hast\ (c) 2; 02 das sind ALle legos die ich AUSgeschüttet hab\ (d) 2; 07 wir KRIEgen wenn ich GRÖßer bin wenn ich GRÖßer bin DANN krieg-mer DANN krieg ich entweder ’ne KAtze oder ’nen HAMster oder einen HUND\ Damit hätten wir uns einen ersten groben Überblick über wichtige Entwicklungsschritte in Richtung Zielsprache verschafft. Aber um die Frage nach dem jeweiligen Entwicklungsstand noch präziser beantworten zu können, sollten wir selbst jetzt noch einen zusätzlichen analytischen Schritt tun und unsererseits das Ganze noch etwas weiter „aufräumen“. Dies können wir mit Hilfe des topologischen Schemas angehen, das ich am Ende von Kapitel 2 eingeführt habe, hier wiederholt als (13). In (14) wird das Ganze nochmals kurz mit Hilfe einiger Erwachsenenäußerungen illustriert. (13) (a) Hauptsatz: Vorfeld V2 [+ FINIT ] ………………………… VE [- FINIT ] (b) Nebensatz: Konj./ Rel. ……………………… VE [+ FINIT ] SATZKLAMMER © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 82 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen (14) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE a. Peter machte die Tür gestern nicht auf b. Gestern hat Peter die Tür nicht aufgemacht c. Was konnte Peter gestern nicht aufmachen? d. Konnte Peter die Tür gestern nicht aufmachen? Konjunktion/ Relativpron. e. … dass Peter die Tür gestern nicht aufmachte f. … der die Tür gestern nicht aufgemacht hat Zur Erinnerung: Verben können in zwei Positionen auftauchen: Charakteristisch für den Hauptsatz ist die Verbzweitposition (V2) des finiten Verbs, vgl. (a)-(d). Nicht-finite Verbteile (Partikeln, Infinitive, Partizipien) nehmen die Verbendstellung (VE) ein. Beide Positionen zusammen bilden die SATZ- KLAMMER. Im Vorfeld können alle möglichen Einheiten auftreten: in (a) das Subjekt, in (b) ein Adverb, in (c) ein Fragepronomen; in (d), einer Ja/ Nein- Frage, bleibt das Vorfeld leer. Hauptsatz und Nebensatz weisen eine asymmetrische Verbstellung auf (V2 gegenüber VE). Wird - wie in (e) und (f) - ein Nebensatz von einer Konjunktion (dass) oder einem Relativpronomen (wer) eingeleitet, so bleiben alle Verben nebeneinander in der VE-Position, in der rechten Satzklammer. Partikeln wie die Negation nicht (oder auch) stehen im Hauptsatz nach dem finiten Verb (Peter machte die Tür gestern nicht/ auch auf), im Nebensatz davor (…, dass Peter die Tür gestern nicht/ auch aufmachte). Wenn man nun die für bestimmte Meilensteine der Entwicklung typischen Kinderäußerungen mit diesen Satzmustern vergleicht, so sieht man, dass Kinder eigentlich von Anfang an auf dem richtigen Weg sind. Dies lässt sich besonders gut erkennen, wenn man ihre Äußerungen ebenfalls in eine Tabelle überträgt. Auf Beispiele der Zeit um Meilenstein I verzichte ich aus offensichtlichen Gründen: Einwortäußerungen sind schlicht zu kurz für eine klare Zuordnung zu Satzpositionen! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion 83 (15) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE tür auf M II Mama bus fahren Mama auch kette jetzt geh ich hoch M III da kommt ball rein Valle hat (pro-)biert Konjunktion ob wenn das die Julia futter pfeift reintut M IV M = Meilenstein Insgesamt können wir nach unserer „Aufräumaktion“ den gesamten Entwicklungsprozess von Meilenstein I an folgendermaßen beschreiben. Das deutschsprachige Kind baut Satzstrukturen von rechts nach links auf. Einer der wichtigsten syntaktischen Meilensteine (M II) ist erreicht, wenn Kinder Wortkombinationen bilden, in denen sich rechts, also in der rechten Satzklammer, Verbpartikeln (z. B. auf, ab, weg) befinden. Kinder, die Tür auf produzieren, zeigen uns, dass sie damit im wahrsten Sinne des Wortes schon „den Fuß in der Tür“ der zielsprachlichen Grammatik haben. Für die Schlüsselrolle der Partikeln sprechen mindestens sechs Gründe: 1. Die Position der Partikel ist stabil, d. h. sie tritt verlässlich am Satzende auf. In der Sprachwissenschaft wird sie daher auch als „platzfest“ bezeichnet. 2. Was am Ende eines Satzes steht, wird besser in Erinnerung behalten als Elemente mitten in einem Satz. 3. Die Partikel ist stärker betont als das restliche Verb, mit dem sie im Erwachsenensystem auftritt (wir sagen AUFmachen, nicht aufMAchen), und sie kann daher gut wahrgenommen werden. Wenn sie am Satzende erscheint, wird sie zum Träger wichtiger prosodisch-musikalischer Merkmale von Sätzen, was ich in den Beispielen durch / und \ markiert habe. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 84 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen 4. Im Vergleich mit einem Vollverb (z. B. machen) verweist die Partikel auf semantisch wichtige Teilereignisse der Handlung. Auf in aufmachen oder zu in zumachen benennen beispielsweise den Endzustand einer Handlung; machen für sich allein ist ein semantisch recht neutrales Verb. 5. Die Partikel ist als Wortform invariant, also unveränderlich. Im Gegensatz zum gebeugten Verb, das mit verschiedenen Endungen versehen werden kann (vgl. mache, machst, macht usw.), kennen wir kein ich *aufe, du *aufst, er *auft. 6. Die meisten Partikeln sind einsilbig und das Kind erwirbt sie bereits in der Form, die der des Erwachsenensystems entspricht, anders als (Mu-)sik oder (pro-)bieren. Die Tabelle zeigt, dass links der Verbpartikel weitere, in ihrer Form ebenfalls invariante Wörter auftreten: die typischen Partikeln des Mittelfelds. Besonders früh dabei sind auch und nicht, die sich beim Strukturaufbau von rechts nach links als nützliche und verlässliche Wegweiser erweisen (vgl. Penner et al. 1999). Danach wird Meilenstein III erreicht: Im Hauptsatz werden Vollverben mobil, verlassen die Verbendstellung und erscheinen in der Position der linken Satzklammer. Dieser Schritt geht einher mit dem Erwerb der Subjekt- Verb-Kongruenz. In der linken Satzklammer finden sich nun auch Vertreter geschlossener Verbklassen, nämlich Hilfsverben (haben, sein) und Modalverben (müssen, können etc.). Schließlich, und dies macht Meilenstein IV aus, erscheinen in der linken Satzklammer Konjunktionen und später auch Relativpronomen (das sind Pronomen, die einen Nebensatz einleiten, der auf etwas Vorangehendes Bezug nimmt, z. B. ein Haus, das mir gefällt). Das Verb muss nun in die Position der rechten Satzklammer ausweichen. Anhand dieser Art der Systematisierung können wir uns gut klarmachen, dass viele der auf den ersten Blick sehr elementar wirkenden kindlichen Strukturformate niemals wirklich aufgegeben werden müssen. Vergessen wir nicht, dass wir selbst auch sagen: Tür auf/ zu, Mund auf, Augen zu! Alle mal herhören! Die Dame im roten Kleid bitte zu mir auf die Bühne kommen! Bereits in den frühen kindlichen Äußerungen, die nur aus Substantiv+Substantiv+Partikel/ Verb wie in Mama Tür aufmachen bestehen, können wir eine aufgrund der Satzbedeutung (wer tut was? was ereignet sich? ) und aufgrund ihrer Form vollständige Gestalt erkennen, die bis in die Haupt- und Nebensätze von Erwachsenen hinein als Einheit erhalten bleibt, vgl. (16) (a)-(c): (16) (a) Kind, Meilenstein II Julia Ball wegwerfen (b) Wir: Gleich kann Peter den Ball wegwerfen (c) Wir: ………, dass Peter den Ball wegwerfen kann © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wichtige Meilensteine der Satzkonstruktion 85 Man betrachte auch den erfundenen Dialog in (17). Hier folgt die Reaktion von Moritz dem gleichen Muster wie (16), nur um eine Zeitangabe erweitert. (17) Max Die Autorin wird das Buch bis zur Buchmesse fertig stellen. Moritz Die (und) das Buch bis zur Buchmesse fertigstellen? Dass ich nicht lache! Wir haben also allen Grund zu der Annahme, dass Kinder früh die gemeinsamen Bestandteile, gewissermaßen den gemeinsamen Kern, unterschiedlicher Satztypen identifizieren. Halten wir daher an dieser Stelle schon einmal fest, dass wir auch bei der Sprachförderung keine Bedenken dagegen haben müssen, Kinder mit Haupt- und Nebensätzen zu konfrontieren. Vielmehr sollte ihnen das geradezu helfen, den allen Satztypen gemeinsamen Bauplan (das topologische Satzschema mit der Satzklammer) zu finden. Wie dies geschehen kann (beispielsweise durch natürliches Paraphrasieren, also das Verändern der Form bei gleichem Inhalt), wird in den beiden letzten Kapiteln verdeutlicht. Die folgende Zeichnung greift die Metapher des Aufräumens noch einmal auf und fasst die geschilderte syntaktische Entwicklung auf eine nicht ganz ernste Weise zusammen. Sprachliches Aufräumen: so schaffen Kinder Ordnung im sprachlichen Chaos ihrer Umwelt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 86 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Turbulenzen: Übergangslösungen und individuelle Lernerstrategien Die Möglichkeit, wichtige Meilensteine zu identifizieren, darf uns nicht blind machen gegenüber dem Variationsspektrum innerhalb früher Lernergrammatiken. Denn auch wenn Kinder beim ungestörten Erwerb diese Meilensteine in sehr vergleichbarer Weise erreichen, besteht noch ausreichend Raum für individuelle Unterschiede. In den nächsten Abschnitten werde ich auf einige dieser Unterschiede eingehen. Ich illustriere auch, was sich alles zu ein und demselben Zeitpunkt in kindlichen Wissenssystemen abzuspielen scheint. Damit ergreife ich die Gelegenheit, um den soeben dargestellten Erwerbsverlauf etwas zu korrigieren. Stille Phasen, aber kein Stillstand Die bisher angeführten Entwicklungsschritte orientierten sich an der Produktion. Aber weder wir noch Kinder müssen sprechen. Wenn Kinder nicht sprechen wollen, so heißt das in keinster Weise, dass es mit der Entwicklung ihres Sprachwissens nicht voran geht. In diesem Fall haben wir es mit „stillen“ Phasen zu tun. Eine vergleichbare Situation entsteht, wenn Kinder zu keinem Zeitpunkt vorwiegend Sätze mit Infinitiven in der rechten Satzklammer äußern, sondern von Anfang an auch schon die linke Satzklammer besetzen. Für unser topologisches Schema ist dies kein Problem: Wir würden lediglich feststellen, dass die verfügbaren Felder allesamt sehr schnell besetzt werden und das Kind Meilenstein III zügig erreicht hat. Ganzheitliche und analytische Strategien: viele Zugänge zugleich Übergänge zwischen Erwerbsschritten oder -phasen werden unter anderem dadurch verschleiert, dass Kinder neben den in Schema (15) gezeigten Strukturen auch formelhafte Ausdrücke verwenden. Diese hören sich, von Kleinigkeiten der Aussprache abgesehen, manchmal schon wie „richtige“ Sätze an, z. B. gehtich, klapptich (= geht nicht, klappt nicht), takörtas (= da gehört das (hin)), atomis (= da komm ich), sind aber wie einzelne Wörter als Ganzes im kindlichen Lexikon abgespeichert. Dadurch erklärt sich auch, dass sie anfänglich länger in der gleichen Form auftreten. Man kann verschiedene Grade des Formelhaften unterscheiden (vgl. dazu Peters 1986), so auch Konstruktionen, in denen ein Teil invariant, eine andere Position hingegen austauschbar ist, wie z. B. in [das ә ] Ball, [das ә ] Leute oder in [wos ә ] Mama, [wos ә ] kinan (= Wo sind Kinder? ), wobei die eckige Klammer hier andeuten soll, dass es nicht möglich ist, diese Ausdrücke in morphologischer oder syntaktischer Hinsicht weiter zu untergliedern. Obgleich Kinder sich letzten Endes alle Ebenen des Sprachpakets erschließen müssen, können sie unterschiedliche Vorlieben hegen und sich anfänglich über © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Turbulenzen: Übergangslösungen und individuelle Lernerstrategien 87 verschiedene Schichten oder Ebenen „einloggen“. Während manche Kinder analytisch vorgehen, sich an einzelnen Wörtern orientieren und diese allmählich (= Meilenstein II) mit anderen verknüpfen, verfolgen andere eine holistische (ganzheitliche) Strategie. Sie greifen längere prosodische Einheiten auf, die mehrere Erwachsenenwörter umspannen können (vgl. Kaltenbacher 1990). Der Vorteil einer Nutzung mehr oder weniger fertiger „Versatzstücke“ liegt auf der Hand. Lerner schaffen sich auf diese Weise ein praktisches Repertoire von Äußerungen, die Beobachtern kaum als abweichend auffallen können. Dies ist übrigens auch eine außerordentlich kluge Lernerstrategie beim Zweitspracherwerb, wie der folgende, auf einer wahren Begebenheit beruhende Exkurs zeigt. Exkurs Vor einigen Jahren reiste eine siebenköpfige Gruppe US-amerikanischer Studierender, die sich zum Studium in Paris befand, durch Deutschland. In München trennten sie sich, um in verschiedene Richtungen weiter zu reisen. Die Wartezeit bis zur Abfahrt ihrer Züge verbrachten sie gemeinsam im Bahnhofslokal, und einer von ihnen, der Deutsch sprach, bestellte mit den Worten: „Sieben Bier, bitte! “ Schließlich waren alle außer zwei jungen Männern, deren Zug Verspätung hatte, abgereist. Sie winkten den Ober zu sich, bestellten: „Sieben Bier, bitte! “ - und bekamen sie auch! ! Die Möglichkeit, komplexere Formen ganzheitlich zu speichern, bedeutet, dass man sich nicht von einzelnen, manchmal recht fortschrittlich wirkenden Äußerungen beeindrucken lassen darf. In der Forschung verlangt man daher immer mehrere Nachweise für das Vorhandensein einer bestimmten Struktur. Fest steht sicher, dass Kinder (oder Erwachsene) Formeln nur dann aufbrechen, wenn sie Gelegenheit haben, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu vergleichbaren Formeln oder Konstruktionen zu entdecken - und dies geht nicht ohne ein entsprechendes Sprachangebot. Manche Kinder entwickeln sich übrigens zu echten Spezialisten im Umgang mit teilproduktiven Formeln, vgl. (18), die wie perfekte Hauptsätze aussehen. Das „ ә “ (schwa) steht wieder für einen unbetonten Vokal wie den Vokal in der zweiten Silbe von Hase. Würden Sie nicht auch ganz selbstverständlich da als Adverb und d ә als Pronomen interpretieren (also wie der weint da, da weint der)? (18) Mirko 2; 1 d ә wein(t) da da wein(t) d ә Gleichzeitig finden wir jedoch in Mirkos Daten zahlreiche Äußerungen, die uns eines Besseren belehren, vgl. (19): (19) d ә wein(t) d ә , da lach(t) da, da komm(t) da, die mach(t) die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 88 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Mirko hat entdeckt, dass sich bestimmte Satelliten (vor allem d ә , die, da) beliebig um Verben herum bewegen. Mit seinen Äußerungen „simuliert“ er schon die linke Satzklammer - ein genialer Bluff und sicherlich ein kluger Schritt auf dem Weg zur linken „echten“ Satzklammer. Feinere Entwicklungsschritte Die Entwicklungsskizze in (15) stellt insofern eine Idealisierung dar, als sich zwischen den vier genannten Meilensteinen noch kleinere Zwischenschritte ausmachen lassen. Ich werde dies nur kurz anhand der Negation und der Fragesätze erläutern. Kinder beginnen typischerweise mit nein, einer für uns Erwachsene „satzexternen Negation“, bei der die Verneinungspartikel dem Satz voran- oder ihm nachgestellt wird, wie etwa in: Nein, ich will das nicht. bzw. Ich will das nicht, nein. Wenn Kinder anfänglich Nein ball produzieren, so mag das vieles heißen: Ich will keinen Ball. Du sollst den Ball nicht nehmen. Das ist kein Ball etc. Als Zuhörer können wir hier nur mithilfe der restlichen Situation zu einer plausiblen Interpretation gelangen. Die Optionen des Erwachsenensystems (satzinternes nicht, nie, niemals, Negation mit kein wie in Das ist kein Ball.) stehen Kindern noch nicht zur Verfügung. Typischerweise beobachten wir folgende Abfolge von Entwicklungsschritten. (20) Schritt I nein mama bus fahrn (= satzexterne Negation) nicht papa umschmeißen (P. soll den Turm nicht umschmeißen) runterfallen nein (= satzextern, seltener; hier wohl in der Bedeutung: ich falle schon nicht runter) Schritt II Mama nicht Bus fahrn (= satzinterne Negation) Schritt III Mama fährt nicht Bus, Mama will/ kann/ soll nicht Bus fahrn. Schritt IV In die Stadt fährt kein Bus … dass Mama nicht mit dem Bus fahren will/ … keinen Apfel will Nach Schritt III und IV wissen Kinder, dass sich das finite Verb im Hauptsatz links von der Negation befinden muss, im Nebensatz und bei nichtfiniten Verben im Hauptsatz hingegen rechts der Partikel, vgl. dazu nochmals eine Variante unseres topologischen Schemas. Schritt IV ist insofern komplexer, als nun auch eine formale Unterscheidung zwischen der Satznegation und der Negation einzelner Satzelemente (mit Hilfe von kein) möglich ist. (21) (a) Hauptsatz: Vorfeld V2 [+ FINIT ] ………. nicht ……. VE [- FINIT ] (b) Nebensatz: Konj./ Rel. ……… nicht ……. VE [+ FINIT ] SATZKLAMMER © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Turbulenzen: Übergangslösungen und individuelle Lernerstrategien 89 Da, wo wir über sehr frühe Daten verfügen, können wir sogar noch frühere Phasen ausmachen (vgl. auch Penner et al. 1999). Die folgende Episode (aus Tracy 1991) wäre ein Beispiel. (22) Stephanie (S.; 1; 8), RT (= Rosi) und Stephanies Vater schauen auf einen Spielzeugaffen (= Bobo), dem Stephanie eine Kette umgehängt hat. RT … der Bobo mit seiner schönen Kette, ne? Stephanie schaut auf RTs Halskette. ROsi auch\ RT Ja, ich hab auch eine Kette, das stimmt. Stephanie fasst an ihren Hals. stefanie NEIN nein\ RT Nein? S. schaut erneut auf RT’s Kette. ROsi kette\ S. dreht sich zum Vater um, schaut auf seinen Hals, schüttelt den Kopf papa AUCH/ … NEIN nein\ Der Vater, auch Sprachwissenschaftler, kommentiert spontan: Diese Form der Negation ist neu! Damit meint er die Kombination von Kopfschütteln und sprachlicher Verneinung. Eine kleinteilige Entwicklung lässt sich auch für Fragesätze nachweisen, wobei sich Kinder durchaus voneinander unterscheiden können (für eine eingehendere Diskussion vgl. Tracy 1994, Butzkamm & Butzkamm 2004 2 , Schulz 2007a). Typisch ist, dass Kinder anfangs bei den so genannten W-Fragen (wer, was, wie, warum, wann …? ) das Fragepronomen auslassen, d. h. sie produzieren Äußerungen wie das ist? papa macht? Ihre Umgebung beantwortet diese Fragen so, als ob sie gesagt hätten: Was ist das? Was macht der Papa? Manche Kinder produzieren zeitgleich Fragen in teilweise zusammengezogenen Formeln, d. h. [wose] ball? [wose] leute? Interessant ist, dass diese Formeln dann, wenn sie „geknackt“ sind, nicht automatisch zu Wo ist (ein) ball? führen müssen. Vielmehr gibt es auch Zwischenschritte über die beiden Alternativformen Wo ball? und Is ball? , und zwar durchaus unmittelbar nacheinander. Kann man sich einen Grund vorstellen? In der Tat bietet sich eine recht einfache Erklärung an (vgl. auch Tracy 1991, 1996). Die Formel [wose] ball hat zunächst keine erkennbare Verbindung mit anderen Satzmustern. Es handelt sich gewissermaßen um ein Miniatur-System mit zwei Positionen, von denen nur eine variabel besetzt werden kann. Dies kann man sich wie folgt vorstellen: (23) wos ә ball leute etc. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 90 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Was passiert, wenn ein Kind, vielleicht durch den Vergleich mit [das ә ] Formeln, merkt, dass [wos ә ] analysierbar ist, d. h. aus wo und dem Vorläufer eines Verbs, se, besteht, aber die grundlegende Struktur des alten, zweigliedrigen Formats noch nicht erweitert hat, um alle Elemente unterbringen zu können? In diesem Fall ergibt sich ein Konflikt um Positionen, den Kinder durch folgende Alternativen lösen: Wir finden entweder einleitendes wo oder is (als Nachfolger von se), aber nicht mehr beides! (24) wo ball is ball Diese Übergangslösung wird ihrerseits durch eine „Aufstockung“ der früheren Struktur ersetzt, vgl. (25), und zwar zu der Zeit, zu der die linke Satzklammer konstruiert und durch flektierte Verben besetzt wird, d. h. bei Erreichen von Meilenstein III. Jetzt gibt es Platz für beides, wo und Verb. (25) wo is(t) ball SATZKLAMMER Zu diesem Zeitpunkt hat Julia also erkannt, dass ist ein Repräsentant der linken Satzklammer ist und dass wo ins Vorfeld gestellt werden kann. Das ursprüngliche Einzelgängertum einer Formel hat sich durch Integration in ein verallgemeinertes Strukturschema erledigt. Bemerkenswert ist nun, dass manche Kinder auch einen anderen Weg einschlagen, indem sie in Fragen das finite Verb nicht in der linken, sondern in der rechten Satzklammer ansiedeln. Sie produzieren dann zeitweise Strukturen wie papa macht? das ist? und kurz danach was papa macht, wo das haus mit dem feuer ist? (vgl. Tracy 1994). Auch diese Strukturen kommen nicht von ungefähr: Kinder orientieren sich hier an eingebetteten Sätzen, u. a. den so genannten indirekten Fragesätzen des Erwachsenensystems (Ich weiß, wo das Haus … ist). (26) WO das haus mit dem feuer ist/ SATZKLAMMER Zeitweise finden sich auch Äußerungen, in denen beide Möglichkeiten der Verbplatzierung gleichzeitig realisiert werden. Dies führt zu Verschmelzungen von wo is(t) das andere und wo das andere is(t) wie in (27). (27) wo is das andere is wo is die andere mülltonne is SATZKLAMMER © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Besonders clevere Übergangslösungen: Joker im Einsatz 91 Warum ist das wichtig? Wir sehen immer wieder, dass im Laufe der Entwicklung anfangs getrennt vorkommende Formeln in den Sog des topologischen Schemas geraten. Etwas technischer kann man von einer „Konvergenz“ auf einen gemeinsamen zugrunde liegenden Bauplan hin sprechen. Selektive Auslassungen Kinder sind nicht nur wählerisch in dem, was sie aus dem Sprachangebot aufgreifen und produzieren. Ebenso selektiv lassen sie Lücken. Wir haben bereits gesehen, dass sie geschlossene Klassen (Artikel, Modalverben, Präpositionen, Konjunktionen), inkl. der Flexionsmorphologie, eine Zeitlang ignorieren. Bekannt ist auch, dass Kinder zunächst vor allem Subjekte auslassen, wie in Hund füttern, noch mal Turm bauen (anstatt Mama Hund füttern/ Mama noch mal Turm bauen). Freilich: Im Italienischen, Spanischen und Türkischen wäre dies durch das zielsprachliche System abgesichert. Dort kann das Subjekt auch in Sätzen mit finiten Verben fehlen. Nachdem Kinder die Struktur einfacher deutscher Sätze bereits im Wesentlichen beherrschen, fehlen in ihren Äußerungen oft noch ganz bestimmte Elemente geschlossener Klassen, u. a. Relativpronomen, Konjunktionen. [Ø] zeigt hier die Lücke an (vgl. auch Rothweiler 1993, Fritzenschaft et al. 1990). (28) (a) Lisa 2; 0 da muss man noch rausmachen [Ø] da liegt (für: was da liegt) (b) [Ø] Lisa das abmacht hat (für: weil Lisa …) Kinder sind nach dem Erwerb der Struktur „an sich“ in der Verwendung der betroffenen Elemente nicht immer konsistent. Ein und dasselbe Kind, in diesem Fall Valle im Alter 2; 0, äußert manchmal Nebensätze mit, manchmal ohne einleitende Konjunktionen. (29) (a) Valle will dann weiter malen [Ø] valle fertig badet hat (b) Valle badet weiter bis du fertig malt hast Besonders clevere Übergangslösungen: Joker im Einsatz Eine die erwähnten Auslassungen ergänzende Strategie besteht in der Verwendung von Füllsilben an Stelle zielsprachlicher Wörter. Diese Platzhalter können sich von Kind zu Kind unterscheiden und belegen, dass Kinder schon mehr von einer Satzstruktur wissen, als sie mit Worten sagen können. In Beispiel (30)(a) ist [nnnn] der Joker für eine nicht lexikalisierte Konjunktion, [ әәә ] in (b) ist ein Vorläufer von Modalverben, und in (c) besetzt [is ә ] als Vorläufer eines Fragepronomens die linke Satzklammer. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 92 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen (30) (a) [nnnn] so LAUT is\ (auf Warum-Frage, für: … weil das so laut ist) (b) ich [ әәә ] ein HOse maln\ (für: ich will/ kann …) (c) oh [is ә ] da HÜHner drin/ (für: Sind …) [is ә ] d ә bäcker HEISST/ (für: Wie heisst der Bäcker? ) Manchmal kann man, wie im Fall (c), erkennen, an welchen konkreten Formen des Erwachsenensystems sich ein Kind orientiert. Dies zeigt sich auch in (d), mit [h ә d ә ] als Vorläufer eines Hilfsverbs, das durch eine Fehlsegmentierung von Sätzen wie Hat der/ er das kaputt gemacht? zustande kam. (d) Kind spricht mit Stofftier ohne Ohren [h ә d ә ] deine OHRN abgegang\ Hier besetzt [h ә d ә ] die Position der linken Satzklammer. Wie im Fall von [wos ә ], [das ә ] oder [is ә ] muss das Kind entdecken, dass [h ә d ә ] eigentlich aus mehreren Bestandteilen besteht. Im Übrigen können wir dem Erscheinen von [h ә d ә ] in (d) anstatt des zielsprachlich verlangten Hilfsverbs sein entnehmen, dass hier nicht eine ganze Äußerung memoriert wurde. In (31) erscheint wenn als Joker für andere Konjunktionen (in diesem Fall damit/ dass), und in (32) sehen wir, dass sich Kinder auch über Wortklassen hinweg Platzhalter ausleihen können. Für die Dauer von mehr als einem Jahr springt hier die Präposition wegen für weil ein, ein aufgrund der semantischen Nähe beider Wörter durchaus sinnvoller Import. (31) Julia 2; 8 deckt sich und RT mit einer Decke zu. wenn wir nicht FRIERN\ (= ‚damit‘) (32) Paul 4; 7 Erw. Warum heißt ein Parkplatz Parkplatz? Paul wegen’s zum PARken is\ Wegen der parkenden Autos würden wir schließlich auch sagen können! Um schon ein wenig vorweg zu nehmen, was im nächsten Kapitel ausgiebiger besprochen wird: Bilinguale Kinder müssen sich nicht auf beliebige Füllsilben wie in (30)(a)/ (b) oder auf eine systeminterne Anleihe wie in (31) und (32) beschränken. Sie können vorübergehende Lücken auch durch sprachübergreifendes Borrowing („Ausborgen“) füllen und nutzen damit ein Potential, das wir aus der Sprachkontaktforschung gut kennen (vgl. Kapitel 3, Myers-Scotton 2006); ein Beispiel findet sich in (33). (33) Stani 3; 0 (bilingual) das darf man if man will Warum also sind Platzhalterphänomene so spannend? Zum einen gewähren sie uns ganz allgemein Einblicke in das Bemühen von Kindern, bereits entdeckte © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Besonders clevere Übergangslösungen: Joker im Einsatz 93 Strukturschemata auszubuchstabieren. Zum anderen zeigen sie, dass frühe kindliche Intuitionen über formale und semantische Ähnlichkeiten nicht an Sprachgrenzen haltmachen. Platzhalter werden überflüssig, sobald das Lexikon entsprechendes Vokabular bereit stellt. Diese Überlegungen leiten bereits zum nächsten Punkt über, in dem weitere Übergeneralisierungen angesprochen und illustriert werden. Übergeneralisierungen: Wenn Lerner beim Aufräumen übers Ziel hinausschießen Übergeneralisierungen sind den meisten von Ihnen sicher aus dem Wortschatzerwerb bekannt, so wenn beispielsweise ein einjähriges Kind unterschiedliche Tiere, z. B. Hunde, Katzen, Kühe etc., als Wauwau bezeichnet (Clark 1993, Rothweiler & Meibauer 1999). Typisch sind aber auch Übergeneralisierungen von Artikelformen, z. B. die aufgrund der Häufigkeit. Eine kluge Lernerstrategie besteht auch in der Nutzung eines neutralen d ә für alle drei Genera des Deutschen. Übergeneralisierungen finden wir über einen längeren Zeitraum auch im Kasussystem (vor allem Akkusativ statt Dativ). Aufschlussreich ist beispielsweise folgende kleine Erzählung von Julia im Alter 3; 2. (34) mein Opa der’s auf’n LASTwagen gewes und der hat hat auf’n PANzer gewesen … SO sich HINgeleg … und dann kam ein PANzer und DANN hat die den den GANzen fuß abgeschossen … ein FUß totgefahrn\ In den ersten beiden Zeilen folgt dem auf ein Akkusativ anstatt des Dativs (auf’n Lastwagen, auf’n Panzer). Wir sehen auch, dass Panzer in der vierten Zeile nicht mit der, sondern die aufgegriffen wird, ein textpragmatisches Problem, mit dem Kinder, wie ich bereits weiter oben erwähnt habe, viele Jahre kämpfen. Bei der Sequenz den den handelt es sich keineswegs um eine einfache Wiederholung des Artikels des direkten Objekts den ganzen Fuß. Das erste den vertritt hier lediglich den eigentlich verlangten Dativ. Wie nahe die Struktur einer völlig zielsprachlichen Variante bereits ist, sieht man, wenn man Kasus und Genus etwas berichtigt: und dann hat der dem den ganzen Fuß abgeschossen. Man beachte, dass der Kasus in den ganzen Fuß einwandfrei „markiert“ ist, sogar am Adjektiv. Das folgende Beispiel belegt gleich mehrere Abweichungen in der Wahl spezifischer morphologischer Markierungen (Kasus, Genus, Verbform). Auch hier ist die eigentliche Satzstruktur makellos. Chris erzählt, dass er einer Freundin einen Korb gebracht hat. Zielsprachlich wäre: Ich hab ihr das Körbchen mitgenommen. (35) Chris 3; 5 ich hab sie die KÖRBchen mitgenehmt\ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 94 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Strukturabhängige und damit generalisierbare Eigenschaften, z. B. die Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ, werden im Erstspracherwerb durchaus früh, d. h. bereits im Umfeld von Meilenstein III, gemeistert, während das Genus noch Schwierigkeiten macht, vgl. (36). (36) Stepahnie 2; 4 zu RT ma den KISsen holen\ RT Was soll ich machen? Stephanie gibt RT Kissen, den KISsen nimm\ schaut sich nach weiteren Kissen um, ich will AUCH’n kissen haben\ nimmt eins. DIEsen kissen\ Der Dativ hingegen taucht zuerst bei Pronomen auf, wie in (37), während er im Artikel durchaus noch mehrere Jahre durch den Akkusativ ersetzt wird. (37) Chris 3; 6 Gibst du mir ihn? Ich will dir was zeigen Schenkst du mir mal was von dir? Wie systematisch diese Ersetzung erfolgt, kann man anhand der Nachsprechaufgabe in (38) erkennen. (38) Chris 3; 6, bei einer Satzwiederholungsaufgabe Modell: Der Mann erzählt der Frau eine Geschichte Chris: Der Mann erzählt die Frau eine Geschichte Modell: Dem Opa erzähl ich eine Geschichte Chris: Den Opa erzähl ich … Modell: Der Oma erzähl ich eine Geschichte Chris: Die Oma erzähl ich … Modell: Die Geschichte erzählt die Mutter dem Kind Chris: Die Mutter erzählt das Kind die Geschichte Das letzte Beispiel ist übrigens mehrdeutig, denn infolge des fehlenden Dativs kommen sowohl die Mutter als auch das Kind als Erzähler in Frage. Übergeneralisierungen lassen sich auch über mehrere Jahre beim Erwerb der Pluralmarkierung feststellen (Köpcke 1993, Wegener 1994, Butzkamm & Butzkamm 2004 2 , Gawlitzek-Maiwald 1994). Sie unterstreichen ebenfalls nachdrücklich die Ordnungsliebe des Kindes und sein Bemühen um Systematisierung und um Reduktion formaler Sonderregelungen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Besonders clevere Übergangslösungen: Joker im Einsatz 95 Schnittstellenprobleme oder: Wie passen die Schichten/ Ebenen zusammen? Nicht immer äußern Kinder ihre Absichten in der angemessenen zielsprachlichen Form. Damit meine ich nicht etwa, dass sie es an Höflichkeit fehlen lassen, weil sie das eine oder andere Danke auslassen (vielleicht warteten sie ja nur auf ihr Stichwort, wie in dem auf S. 71 erwähnten Cartoon! ). Vielmehr denke ich dabei an Fragesätze, die von manchen Lernern zeitweise ausschließlich mit VE-Struktur auftreten, vgl. auch (26). (39) (a) Wo der Peter hinsitzt? (statt: Wo setzt sich der Peter hin? ) (b) Was die Mama einkauft? (statt: Was kauft die Mama ein? ) Erwachsene, die mit den Kindern vertraut sind, verhalten sich ihrerseits völlig kooperativ und beantworten die Fragen des Kindes. So reagiert Valles Mutter auf seine Frage: Was die Mama einkauft? sofort mit: Also, ich such’n Geschenk für die Oma. Valle, einer unserer schnellsten Lerner, weiß zu diesem Zeitpunkt längst, dass es im Deutschen zwei Positionen für finite Verben gibt (V2 im Hauptsatz, Verbend im Nebensatz) und dass nichtfinite Verben oder Verbteile niemals in V2 auftreten können. Seine Sätze sind also eigentlich formal perfekt. Nur an der Schnittstelle zur Pragmatik hapert es, weil er nicht die übliche, d. h. konventionelle, Form für eine direkte Frage, sondern die einer indirekten wählt. Denn bei einer indirekten Frage würden wir schließlich auch sagen: Du willst wissen, was die Mama einkauft? Valle liegt also eigentlich gar nicht so sehr daneben! Interessant ist übrigens, dass er für einige Wochen V2- und VE-Formate parallel benutzt: was will der denn, was der gerne will; was ist das, was das ist (vgl. Tracy 1994), bevor seine Fragesätze völlig unauffällig werden und die VE-Fragen vollkommen verschwinden. Doppelt hält besser! Nachdem Kinder die grundlegenden Strukturen des Deutschen entdeckt haben und wissen, dass Wörter (bzw. Phrasen) an verschiedenen Stellen im Satz auftreten können, besetzen sie Positionen, die im Erwachsenensystem alternativ besetzt werden, manchmal gleichzeitig. Die folgenden Beispiele zeigen Mehrfachrealisierungen des Subjekts in (a), des Verbs in (b-c) und des Objekts in (d). (40) (a) Julia brauch ich das (b) Die ham das schön gemacht hatten (c) Wo is das andere is? (d) Das spiel ich’s auch © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 96 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen Nach mehr oder weniger kurzer Zeit verschwinden diese wieder. Doppelbesetzungen treten allerdings auch in der Erwachsenensprache gelegentlich als Versprecher oder Verschreiber auf (Das kann man in dieser Form nicht behaupten können) und belegen nur einmal mehr, dass sich einem Sprecher bei der Sprachplanung rivalisierende Satzmuster aufdrängen, ein Thema, das uns ja auch in früheren Kapiteln schon beschäftigt hat. Wirklich immer auf dem richtigen Weg? Ja! Obgleich ich an dieser Stelle nur auf den Erwerb des Deutschen eingegangen bin, bestätigen sich anhand zahlreicher Spracherwerbsstudien in vielen unterschiedlichen Sprachen immer wieder die anfänglich geäußerten Thesen vom robusten Erwerbsverlauf und von einem sehr systematischen Vorgehen der Kinder. Die Erwerbspfade sind in vieler Hinsicht vergleichbar, weisen also einerseits universelle Züge auf, lassen aber auch früh unterschiedliche Orientierungen der Kinder an einzelsprachspezifischen Merkmalen und Besonderheiten ihrer Umgebungssprache(n) erkennen. Die jeweiligen Zwischenlösungen, die ich angesprochen habe (u. a. Auslassungen, Platzhalter, Doppelbesetzungen etc.) treten jeweils in bestimmten Systemzusammenhängen auf: Auslassungen lassen vermuten, dass manche Position noch nicht vorhanden ist, wie im Fall von Is ball bzw. Wo ball. Doppelbesetzungen hingegen erscheinen erst, nachdem konkurrierende Muster (V2/ VE) verfügbar sind. Platzhalter belegen, dass Kinder eigentlich schon (implizit) wissen, dass eine syntaktische Position besetzt sein sollte. Aus der Verschmelzung von Konkurrenten können wir schließen, dass Kinder oberflächlich unterschiedliche Strukturen auf einer anderen Ebene (der Semantik) als identisch betrachten, wie im Fall von ich spiel das auch, das spiel ich auch, deren Verschmelzung zu das spiel ich’s auch führte. Übrigens kann man wohl daraus, dass Verschmelzungen nicht viel häufiger sind, schließen, dass Kinder ihr System trotz Konkurrenz bei der Planung gut im Griff haben! Es erscheint auch nicht unplausibel anzunehmen, dass angeblich monolinguale Kinder früh mit mehreren Grammatiken, d. h. mit verschiedenen Wissenssystemen, umgehen können. So erkennen wir beispielsweise an spontanen Selbstkorrekturen, wann alte, bewährte Formeln geknackt und durch fortschrittlichere Varianten ersetzt wurden. Diese Ersetzung erfolgt aber nicht von einer Sekunde zur anderen. Vielmehr koexistieren und rivalisieren Alt und Neu eine Zeitlang miteinander, vgl. (41) Julia 2; 4 [das ә ] BAUernhof\… da … da IS das bauernhof\ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Erwerbsaufgaben über den frühen Erwerb hinaus 97 Erwerbsaufgaben über den frühen Erwerb hinaus Obwohl der grundlegende Bauplan deutscher Sätze mit dem vierten Lebensjahr, wenn nicht vorher, als ausgebildet gelten darf, sind über die Meilensteine hinaus natürlich noch andere Erwerbsaufgaben zu meistern. Dazu gehört die semantische Ausdifferenzierung von Satztypen, das Erkennen von pragmatischen Gebrauchsbedingungen (wann sagt man Du, wann Sie? ). Auf einige weitere Aspekte hatte ich hingewiesen, da sie die Ausarbeitung formaler Details betreffen (Teil des Kasussystems, Genus, Plural, unregelmäßige Formen), die bis in die Schulzeit hinein reichen kann (vgl. dazu Grimm et al. 1975, Siebert-Ott 2001, Schulz 2007a, Dittmann 2 2006). Eine der wichtigsten Herausforderungen bleibt für viele Jahre der Ausbau des Wortschatzes, zumal, wie wir in Kapitel 2 schon gesehen haben, viele Wörter keinen Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit haben, sondern eigentlich metasprachliche Interpretationshinweise darstellen. Dies begann schon mit auch in frühen Wortkombinationen und geht mit einer Fülle anderer Wörter weiter. Insbesondere darüber, wie Kinder die mannigfachen pragmatisch relevanten Partikeln erwerben, die sich im Mittelfeld des deutschen Satzes tummeln, wissen wir eigentlich noch sehr wenig (Penner et al. 1999). Mit Sicherheit wissen wir aber Folgendes: Wir könnten es Kindern nicht Schritt für Schritt beibringen! Glücklicherweise können wir uns auf ihre Fähigkeit verlassen, aufgrund ihrer Umgebungssprache zu Schlüssen zu kommen, die früher oder später einigermaßen mit den unsrigen konform gehen. Adam (wir werden ihm im nächsten Kapitel wieder begegnen, da er mit zwei Erstsprachen aufwächst) produziert im Alter 3; 10 in einer einstündigen Aufnahme 74 mal aber (in 17 % aller Äußerungen), ohne dass dabei eine zielsprachliche Verwendung erkennbar wäre, vgl. die beiden folgenden Beispiele: (42) (a) Erwachsene deutet auf verletzte Puppe: Und was ist mit dem passiert? Adam aber mit’n UNfall\ (b) Adam will, dass seine Gesprächspartnerin etwas vom Regal holt. Erw. Ich probier mal. Soll ich ihn mal runterholen? Adam aber weil’st so GROSS bist\ Diese abweichende Verwendungsweise geht bis zum Alter 4; 2 zurück. Offensichtlich hat Adam aber zunächst anders interpretiert als wir, wobei es sich syntaktisch völlig unauffällig verhält. Die Sätze bzw. Satzfragmente passen nur leider nicht in den vorangegangenen Dialog. Bekannt ist auch, dass Kinder lange Schwierigkeiten damit haben, Artikel und Quantoren (alle, jede, keine) richtig zu interpretieren (vgl. Schulz 2007a); vor allem scheinen sie nicht hinreichend zwischen alle und jede(r) zu unterscheiden und interpretieren Sätze © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 98 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen wie Jedes Kind sitzt auf einem Pferd so, als ob es sich um Alle Kinder sitzen auf einem Pferd handelte, bei dem tatsächlich alle Kinder gemeinsam auf einem Pferd sitzen können. Schwierigkeiten ergeben sich bei mathematischen Textaufgaben vor allem auch dann, wenn Kinder gerade nicht erkennen, dass manche Wörter gleich, d. h. als synonym, interpretiert werden sollen. Man stelle sich eine Textaufgabe vor, in der davon gesprochen wird, dass Flaschen, deren Gewicht bekannt ist, in eine Kiste verladen werden. Auch das Gewicht des Ganzen (Kiste plus Flaschen) ist bekannt. Kinder, die dann gefragt werden, wie viel die Verpackung wiegt, bekommen Probleme, wenn sie nicht ahnen, dass Verpackung als Oberbegriff von Kiste oder gewissermaßen als Synonym verwendet wird. Statt dessen überlegen sie, wie viel Packpapier man wohl bräuchte, um die Kiste zu umwickeln und wie schwer dieses Packpapier sein könnte. Kinder (monolingual oder bilingual) scheitern in diesen Fällen nicht am Rechnen, sondern an der Semantik! Betrachten wir auch kurz die besonderen Herausforderungen, die das Passiv an Lerner stellt. Manchmal braucht man nicht viel Struktur, um Ereignisse und Zusammenhänge zu rekonstruieren, sofern das Weltwissen helfen kann. Wenn in einem Satz von Hunden, Bällen und fangen die Rede ist, kann man sich denken, was passiert sein könnte. Im Falle semantischer Kontraste wie belebtunbelebt oder groß und stark gegenüber klein und schwach (Ball vs. Hund oder Tiger vs. Maus) können Kinder bereits sehr früh mithilfe ihres „Hausverstands“ Interpretationen vornehmen. Sätze wie Die Maus wird vom Tiger gejagt, Der Tiger jagt die Maus werden zielsprachlich korrekt interpretiert. An Sätzen, in denen beide Beteiligte gleichermaßen mächtig sind und von daher die Jäger-Rolle einnehmen könnten, scheitern Kinder im Vorschulalter daher: Der Tiger jagt den Löwen, Der Tiger wird vom Löwen gejagt. Beides scheint möglich, wenn sie sich jemals begegneten. Vierbis Sechsjährige ignorieren Semantik und Weltwissen und akzeptieren entgegen aller Wahrscheinlichkeit das zuerst genannte Substantiv von Passivsätzen wie Das Kaninchen wird vom Tiger gejagt als Jäger (Grimm, Schöler & Wintermantel 1975, Fritzenschaft 1994). Erst später, in der Grundschulzeit, sind Kinder systematisch in der Lage, alle für die Interpretation von Passivsätzen wichtigen Informationen gleichzeitig zu berücksichtigen. Erst dann können sie einen klaren Bezug zwischen Aktiv- und Passivsätzen und dem damit einhergehenden Perspektivwechsel herstellen (vgl. Wegener 1998). Weitere Probleme verursachen Zeitausdrücke und feine Unterschiede der Tempusmarkierung im Verb (Clark 1993, Grimm et al. 1975). Bei den folgenden Sätzen entspricht beispielsweise die Reihenfolge der Erwähnung einzelner Teilereignisse nicht in allen Fällen der tatsächlichen Abfolge der bezeichneten Handlungen. Die Abkürzung E steht hier für Ereignis. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Spezifische Spracherwerbsstörungen 99 (43) Nachdem er gegessen hatte, schlief er ein. Ereignis 1 E2 (44) Er schlief ein, nachdem er gegessen hatte. E2 E1 (45) Bevor er einschlief, aß er ein Brot. E2 E1 (46) Er schlief ein. Er hatte gegessen. E2 E1 Nur in (43) entspricht die Reihenfolge der Erwähnung der Ereignisabfolge. In (46) wird die Abfolge allein durch das Detail der Verbformen angezeigt. Wie die Forschung gezeigt hat, tun sich Kinder bis in die frühen Schuljahre schwer mit Reihenfolgen, die der natürlichen Abfolge der Ereignisse zuwider laufen (vgl. Hamann et al. 2001). Obwohl Kinder im Alter von drei Jahren in der Regel keine Probleme mehr mit der zielsprachlichen Formulierung von W-Fragen haben, überraschen sie uns auch noch viel später - im Falle von sprachgestörten Kindern bis in die Schulzeit - durch abweichende Interpretationen (Roeper, Pearson, Schulz & Reckling 2007). Zeigt man ihnen beispielsweise Bilder, auf denen mehrere Menschen Hüte tragen, so antworten sie auf die Frage Wer trägt einen Hut? nicht mit einer Auflistung aller Personen, die einen Hut tragen. Vielmehr scheinen sie auf die Aufforderung zu reagieren: Zeige mir eine Person mit einem Hut. (vgl. Penner 1998) Spezifische Spracherwerbsstörungen Spracherwerb führt zwar in den meisten Fällen zum Erfolg, aber es gibt auch sehr hartnäckige Verzögerungen und Störungen. Beeinträchtigungen des Spracherwerbs, die bisher erforscht wurden, unterstreichen das eben Gesagte: Auch Kinder mit spezifischen Spracherwerbsstörungen verhalten sich systematisch und greifen sich wichtige Bausteine aus dem Input (Grimm 2000b, 2003, Schulz et al. 2001, Penner et al. 2000, Dittmann 2 2006). Die vermutete Anzahl der betroffenen Kinder liegt zwischen 6-8 % eines Jahrgangs. Die Störung tritt bei bilingualen Kindern immer in beiden Sprachen auf. Im Deutschen manifestiert sie sich durch verspäteten Sprechbeginn sowie durch Probleme mit der Subjekt- Verb-Kongruenz und der Platzierung finiter Verben (Grimm 2000b) sowie der Verbinterpretation (Schulz 2007b, c). Dass eine Spracherwerbsstörung nicht den Verzicht auf Mehrsprachigkeit - das Thema des nächsten Kapitels - bedeuten muss, zeigen aktuelle Ergebnisse © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 100 Deutsch als Erstsprache: Meilensteine, Turbulenzen, Aufräumaktionen aus Kanada. Bilinguale sprachgestörte Kinder scheinen in manchen Bereichen bessere Ergebnisse zu erzielen als einsprachige Kinder mit einer Spracherwerbsstörung, d. h. die Mehrsprachigkeit erweist sich als Vorteil, nicht als Hindernis (Genesee, Paradis & Crago 2004). Kinder mit einer spezifischen Spracherwerbsstörung lassen uns vor allem erkennen, welche Eigenschaften einer Zielsprache sich trotz etwaiger Verarbeitungsprobleme als robust und durchsetzungsfähig erweisen. Diese besonders robusten Strukturen sollten daher auch einem normal entwickelten jungen Lerner einer Zweitsprache zugänglich sein. Abschließende Überlegungen In diesem Kapitel haben wir uns ausführlich mit dem Verlauf des Erstspracherwerbs beschäftigt und damit auch wichtige Grundlagen für die Betrachtung weiterer Erwerbstypen gelegt. Wir haben gesehen, was damit gemeint ist, wenn die Forschung behauptet, dass der Erwerb im Normalfall robust ist und systematisch verläuft. Wie genau Anlage, Umwelt und selbstorganisierende Prozesse zusammenwirken und dieses Erwerbsbild hervorbringen, ist ungeklärt. In jedem Fall sind Kinder sehr früh dazu in der Lage, spezifische Eigenschaften ihrer Erstsprachen zu entdecken. Dies lässt sich für den Bereich der Syntax an ersten Wortkombinationen ablesen. Englischsprachige Kinder kombinieren erste Verben mit ihren Objekten in einer dem Deutschen genau entgegengesetzten Abfolge: take hat, feed doggie vs. Hut nehmen, Hund füttern, ein Unterscheidungskriterium, dessen wir uns im nächsten Kapitel bedienen werden. Wenn die Bedingungen und sonstigen kognitiven Voraussetzungen stimmen, kann sich das Kind dem Spracherwerb nicht entziehen. Zugleich gibt es jenseits der „großen Linie“ Raum für individuelle Eigenheiten und so etwas wie „Schwerpunktsetzung“ (z. B. eine eher ganzheitliche oder eher analytische Herangehensweise). Dieser Variationsraum konnte etwas beleuchtet werden und erwies sich schnell ebenfalls als systematisch; die Beziehung der individuellen Sonderwege zum Gesamtsystem bleibt erkennbar. Der Erwerbsverlauf weist Zeitabschnitte relativer Stabilität und turbulenterer Phasen oder Entwicklungskrisen auf, in denen Kinder ihr Repertoire erweitern. Dadurch werden sie wiederum für neue Strukturen ihrer sprachlichen Umgebung sensibilisiert und beginnen mit einer Neuorganisation ihres grammatischen Wissens. Wie kommt es, dass insbesondere der Erwerb der Syntax, bei deren bewusster Erschließung (was ist ein Subjekt, ein direktes Objekt, wo stehen Partikeln? ) wir uns schwer tun, Kindern so leicht fällt? Die Antwort liegt im Grunde nahe: Jede einzelne Konstruktion, in der Verben erscheinen, zwingt Sprecher und Sprecherinnen dazu, sich für eine von zwei Verbpositionen (V2, VE) und die damit einhergehende Kennzeichnung des Verbs zu entscheiden (finite Verben in V2 oder VE, nicht-finite ausschließlich in VE). Ganz anders verhält es sich mit dem morphologischen Detail der Wörter. Hier kommt der Zufall ins Spiel: © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Abschließende Überlegungen 101 einmal der historische Zufall, dem wir Unregelmäßigkeiten, aber natürlich auch Regularitäten verdanken. Daran können wir nichts ändern, abgesehen davon, dass wir uns vielleicht als Träger bestimmter Varianten „outen“ (backte oder buk, Karusselle oder Karussells? Bedenken Sie auch die Art und Weise, in der Sie Entlehnungen aus dem Englischen integrieren: out-ge-source-t, ge-outsource-t? ). An einem anderen Zufall können (und sollten) wir etwas ändern, nämlich an dem sprachlichen Angebot, das wir Kindern machen, die dieses System in all seiner Komplexität wieder neu für sich rekonstruieren müssen. Ich habe zu Anfang dieses Kapitels behauptet, dass Kinder uns mit ihren Äußerungen eigentlich ziemlich genau sagen, woran sie gerade arbeiten. Es bedurfte aber eines theoretischen Rahmens, um dies zu sehen und um die Indizien, die Kinder uns anbieten, in einem größeren Erwerbszusammenhang zu interpretieren. Nur so können wir sie da abholen, wo sie schon angekommen sind, und den aktuellen Sprachstand als „Sprungbrett“ für die Förderung benutzen. Weiterführende Literatur Mit Dittmann (²2006) und Szagun (2007) liegen sehr gut verständliche Bücher über den Spracherwerb vor; interessante Kapitel zum Spracherwerb findet man auch in Achilles & Pighin 2008. In Klann-Delius (1999) kann man sich über unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze informieren. Der von Grimm (2000a) herausgegebene Band „Sprachentwicklung“ der Enzyklopädie der Psychologie enthält Forschungsbeiträge zu unterschiedlichen Erwerbsphänomenen und Spracherwerbstypen, inklusive des gestörten Erwerbs. In Schulz (2007a) findet man einen guten Überblick über den Erwerb des Deutschen bis zum 10. Lebensjahr. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 5 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Einstieg und Überblick Können Sie sich denken, warum ich nach einiger Überlegung meine Idee, dieses Kapitel mit „Erstspracherwerb im Doppelpack“ zu überschreiben, verworfen habe? Einerseits erschien mir dieser Titel, wie man auf Neudeutsch sagt, catchy, d. h. er würde leicht Aufmerksamkeit erregen. Andererseits fürchtete ich, damit die Erwartung zu wecken, die man in der Werbung normalerweise mit der Formulierung „Doppelpack“ verbindet: Hier ist doppelt soviel drin. Damit würde ich möglicherweise wieder jene Vorstellungen und Mythen über Sprache und Mehrsprachigkeit auf den Plan rufen (z. B. vergleichbares Sprachwissen auf allen linguistischen Ebenen und ausgeglichene kommunikative Kompetenz in allen Sprachen), gegen die ich in den vorangehenden Kapiteln immer wieder angegangen bin. Warum nicht „doppelt“? Wir können davon ausgehen, dass sich Kinder, die in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen, problemlos in mehr als einer Sprache die Kernbereiche grammatischen Wissens aneignen können. Das bedeutet auch, dass sie lernen, welche Wortklassen an sich (Hauptwörter, Verben, Artikel, Präpositionen, Konjunktionen etc.) in jeder Sprache benötigt werden. Türkisch und Russisch kommen beispielsweise ohne Artikel aus; im Türkischen gibt es keine Präpositionen, sondern andere Möglichkeiten, um etwas auszudrücken wie im Haus, nämlich eine Endung am Substantiv. Sie entdecken auch, wie in jeder Sprache Kasus markiert wird, ob und bei welchen Wortarten in einer Sprache Genus unterschieden wird (und wie viele Genussorten es gibt! Denken Sie an das zweigliedrige System im Französischen: le, la). Aber über diesen Grundstock an grammatischem Wissen hinaus würde man nicht unbedingt ein ausgewogenes Verhältnis der Sprachkompetenzen in allen Sprachen erwarten, vor allem nicht im Bereich des Wortschatzes, es sei denn, die Situationen, in denen beide Sprachen verwendet werden, wären identisch. Dieses mögliche Ungleichgewicht liegt jedoch nicht an der Mehrsprachigkeit an sich, sondern vielmehr am Zufall! Wie wir mehrfach gesehen haben, gibt es zentrale grammatische Eigenschaften, die in so gut wie jedem Satz belegt sind (Verbstellung, Subjekt-Verb-Kongruenz), die daher sozusagen allgegenwärtig sind. Man kann © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einstieg und Überblick 103 die Begegnung mit ihnen eigentlich nicht vermeiden! Eher zufällig ist es, mit welchen Themen und Inhalten man sich beschäftigt und welche Wörter und Wortformen man bei der Gelegenheit hören kann. Es ist also wichtig, von einem Mengendenken wegzukommen, das auch mit der Vorstellung kindlicher Halbsprachigkeit durch die Praxis geistert (vgl. die Diskussion in Siebert-Ott 2001). Kann man sich vorstellen, was das für die deutsche Syntax, genauer: die Satzklammer, eigentlich heißen sollte? Ein Kind, das beispielsweise jahrelang nur die rechte Satzklammer besetzt, ist nicht etwa halbsprachig, sondern hat eine Spracherwerbsstörung (Clahsen 1988, Grimm 2000b). Denken wir auch an Kinder, die in Deutschland in einer deutsch-japanischen Familie aufwachsen. Das Japanische verfügt über ein sehr ausgefeiltes System höflicher Anredeformen für Verwandte, beispielsweise ältere Brüder. Ein Kind, das in Düsseldorf in einer Familie lebt, bei der auch Brüder und Schwestern eines japanischen Elternteils wohnen, wird mehr Gelegenheit haben, dieses komplexe pragmatische System zu knacken, als ein Kind in Nürtingen, in dessen Umgebung vielleicht nur ein einziger Sprecher des Japanischen lebt, nämlich Vater oder Mutter. Das heißt aber nicht, dass diesem Nürtinger Kind wesentliche Teile der japanischen Grammatik fehlen. Die Anredeformen wird es schnell erwerben, wenn sich Notwendigkeit und Gelegenheit ergeben. Aber ist dies im Falle einer monolingualen Familie wirklich anders? Wenn sich Ihre Eltern nicht für bestimmte Themen interessierten, wenn Sie kein Aquarium hatten, keinen Kräutertopf auf der Fensterbank, als Kind nie auf einem Campingplatz waren oder im Theater, nie eine Häckselmaschine sahen, dann hätten Sie entsprechende konzeptuelle und lexikalische Lücken und müssten sich ggf. mit Platzhaltern wie Ding/ Dingsbums/ Zeugs oder Ähnlichem begnügen, bis Sie den benötigten Wortschatz aufgebaut hätten. Gelegenheit, in allen unseren Sprachen über alles zu reden, hätten wir wohl nur, wenn wir immer mal wieder unseren Lebensmittelpunkt komplett verlagern könnten, z. B. von einer Existenz in Frankreich nach Polen oder von China nach Deutschland und zurück. Wir bräuchten also gewissermaßen eine parallele Welt, vom Bäckerbesuch (! ) bis zum Behördengang, Arztbesuch und unserem Engagement in Vereinen, sofern es all dies gäbe. Aber wo würden wir haltmachen bei dem Bemühen, unsere sprachlichen Repertoires, unsere Ausdrucksmöglichkeiten in zwei Sprachen möglichst anzugleichen? Würden wir die gleiche Zeitung in zwei Sprachen lesen wollen, die spanische Nationalhymne auf Griechisch singen? Anhand meiner leicht „verrückten“ Beispiele sehen Sie schon, wie unsinnig die Idee einer Doppelung im Grunde wäre. Hinzu kommt noch, dass sich Sprachen erheblich darin unterscheiden können, welche Ausdrucksmittel sie zur Verfügung stellen: Für die kleinen Partikeln, die sich im deutschen Mittelfeld tummeln: Das kann man doch nicht sagen. Will er denn etwa behaupten. Ich denke ja nicht dran … gibt es im Englischen keine einfachen wörtlichen Übersetzungen. Wenn Sprachen im lexikalischen Bereich keine Äquivalente, also keine Entsprechungen, haben - beim Wortschatz spricht man hier © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 104 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? auch von Dubletten - dann können sie natürlich auch nicht erworben werden. Eventuell werden sie aber importiert, z. B. durch bilinguale Sprecher! Kinder, die mit zwei Erstsprachen aufwachsen, sind zwar deshalb nicht gleich intelligenter als andere (in dieser Hinsicht ist die allzu optimistische Phase der 1970er Jahre sicher zu korrigieren), aber sie wissen früh, dass Zeichen arbiträr sind. Sie erkennen schnell, dass ein Tisch nicht notwendigerweise Tisch heißen muss, und sie zeigen durch Spielen mit sprachlichen Formen (vgl. mein Thank you very Dreck-Beispiel aus dem 2. Kapitel) und ihr rasches Anpassen an die Sprachen ihrer Gesprächspartner früh ausgeprägte metasprachliche Fähigkeiten. Wenn man der Forschung glauben kann, sind sie auch in der Lage, sich besonders flexibel und rasch auf neue kommunikative Aufgaben einzustellen (Bialystok & Hakuta 1994, Grosjean 1982). Neuere neurowissenschaftliche Forschung kann auch zeigen, dass die gleichzeitige Aneignung zweier Sprachen in der frühen Kindheit den Zugang zu weiteren, später erworbenen Sprachen erleichtert (vgl. Nitsch 2007, Gehirn & Geist 3: 2006). Unterschätzen wir auch nicht den Faktor Selbstvertrauen, mit dem sich Kinder weiteren Sprachen nähern, ob dies nun objektiv gerechtfertigt sein mag oder nicht! Exkurs Der 12-jährige Kevin ist mit Deutsch und Englisch aufgewachsen. Nach einer Woche Französischunterricht in der 7. Klasse des Gymnasiums kommt er nach Hause und sagt beiläufig: „Jetzt bin ich dreisprachig! “ Die Mutter berichtet, sie sei angesichts dieses Anflugs von Größenwahn zunächst „sprachlos“ gewesen! (1) Der bilinguale Adam (5; 5 Jahre), dem wir schon mehrfach begegnet sind, ist im Gespräch mit zwei jungen Frauen (= Erw1 und Erw2). Erw1 hat er erst kurz zuvor kennengelernt. Sie ist Studentin aus England und nur zu einem kurzen Besuch in Deutschland. Erw2 ist eine Projektmitarbeiterin, mit der er schon seit etwa zwei Jahren Englisch spricht. Ich habe die Zeilen dieses Gesprächs nummeriert, um leichter darauf verweisen zu können. 1 Adam zu Erw1 are you speak GERman/ 2 Erw1 No, I can’t 3 Adam are you are you underSTAND german\ 4 Erw1 No, not really, just a few words and bits, but - 5 Adam then you have to LEARN it\ 6 Erw1 Hm. 7 Adam zu Erw2 are YOU understand GERman/ 8 Erw2 Yeah, you know that I understand German. 9 How did you learn German? 10 Adam I can speak to you ENGlish or GERman\ 11 Erw2 Hm. […] But usually we speak English, don’t we? 12 Adam mhm, wenn-when I want I can speak ENGlish\ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einstieg und Überblick 105 Englisch ist Adams „schwächere“ Sprache. In den Zeilen 1, 3 und 7 sieht man, dass er eine recht kreative Art und Weise gefunden hat, um Fragen zu stellen. Statt des benötigten do (Do you understand German? ) verwendet er den Platzhalter are. In Zeile 10 müsste es eigentlich heißen: I can speak English or German to you (also mit veränderter Reihenfolge) oder I can speak to you in English or German (mit Präposition). Was er sagt, klingt wie eine Verschmelzung aus beidem. In der letzten Zeile finden wir ein uns nun schon vertrautes Phänomen: ein deutsches wenn, unmittelbar gefolgt von dem englischen when. Hier wird Adam durch die ähnliche Form fehlgeleitet, denn im Englischen müsste man in diesem Fall if sagen. Aber lassen wir diese kleinen Auffälligkeiten beiseite und schauen uns den Inhalt des Gesprächs einmal näher an. Adam fragt die englische Studentin (Erw1), ob sie Deutsch spricht, was sie verneint. Daraufhin (Zeile 3) fragt er sie, ob sie Deutsch versteht. Auf ihre Antwort, in der sie ihre Deutschkenntnisse als gering einschätzt, ermahnt er sie (Zeile 5): Then you have to learn it., was von ihr mit zustimmendem „Hm“ quittiert wird. Daraufhin wendet sich Adam an Gesprächspartnerin Erw2 und fragt, ob sie Deutsch kann, was von ihr bejaht wird. Adam ignoriert ihre Frage, wie er Deutsch gelernt hat, und betont (Zeile 10), dass er mit ihr Englisch oder Deutsch sprechen kann. Auf ihre Bemerkung hin, dass sie miteinander meistens Englisch sprechen, bestätigt er, dass er Englisch spricht, sofern er will. Offensichtlich ist es aus seiner Sicht erstrebenswert, Sprachen zu beherrschen. Interessant ist auch, dass er sich nicht damit begnügt zu erfahren, dass Erw1 kein Deutsch spricht. Er will es genauer wissen und fragt daher nach Ihrem Verstehen. Im letzten Satz schließlich unterstreicht er seine eigene Wahlfreiheit. (2) Adam (gleiches Alter) und seine Schwester Laura spielen mit einer englischsprachigen Gesprächspartnerin. Laura rennt durchs Zimmer und ruft in einer Art Singsang: „Telefon, Rotzkanon, Telefon, Rotzkanon! “ Erw. zu Adam What’s that in English? Adam we DON’T say [r ɔ u dzk ә n ɔ u n] in english\ Hier nimmt Adam ein deutsches Wort (Rotzkanon) und schickt es gewissermaßen durch die phonologische Schicht des Englischen. D. h., er kann die äußere Form eines Wortes so manipulieren, dass es wie ein Wort einer anderen Sprache wirkt. Die Fähigkeit, Wörter der einen Sprache mit Hilfe von Regeln einer anderen Sprache zu „bearbeiten“, wird uns später erneut begegnen. Im letzten Kapitel zum monolingualen Erwerb des Deutschen habe ich einen Erwerbspfad mit vier für den Deutscherwerb wichtigen Meilensteinen bis zum Alter von etwa vier Jahren beschrieben. Über dieses gemeinsame „Kerncurriculum“ des Spracherwerbs hinaus blieb genügend Freiheit für individuelle Variation: für ganzheitliche oder analytische Strategien, individuelle Vorlieben für bestimmte Platzhalter, Auslassungen, eigenwilliges Verknüpfen von Form © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 106 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? und Funktion etc. Auch nach der Konstruktion der wichtigsten Baupläne - im Wesentlichen der Satzklammer des Deutschen - blieb für Lerner und Lernerinnen noch genug zu tun, vor allem im Bereich der „Feinarbeit“, d. h. dort, wo viele unterschiedliche Formen miteinander im Wettstreit liegen können. Nur zur Erinnerung: Heißt es das Joghurt oder der Joghurt? Lehren Sie jemandem oder jemanden eine Sprache? Kommen Sie wegen des Wetters oder wegen dem Wetter? Sind Sie größer als Ihr Bruder oder wie Ihr Bruder? Und wie war das mit buk und backte? In diesem Kapitel wird alles nochmals um einiges komplexer, weil sich die Erwerbsbedingungen und möglicherweise auch der Umfang des Sprachangebots von Kind zu Kind erheblich unterscheiden können. Dies macht es natürlich besonders schwierig, den doppelten Erstspracherwerb zu erforschen und Lerner zu vergleichen. Umso interessanter ist es, dass dennoch eine Reihe von Schlussfolgerungen möglich sind. Ich möchte auch am Ende des Kapitels erläutern, warum gerade der simultane Erwerb zweier Erstsprachen von der Forschung als „natürliches Experiment“ besonders geschätzt wird. Ich werde im Folgenden zunächst auf unterschiedliche Erwerbsverläufe eingehen und dabei auch Eltern zu Wort kommen lassen. Im Anschluss gehe ich auf die wichtigsten Diskussionen ein, die im Zusammenhang mit dem doppelten Erstspracherwerb entfacht wurden: die Frage, ob Kinder zunächst mit einem „fusionierten“, gemeinsamen System beginnen, das sie erst allmählich ausdifferenzieren, oder ob sie sehr früh ihre Sprachen unterscheiden können. Aber auch wenn sie früh in der Lage sind, Sprachen auseinander zu halten, so kann es dennoch zu intensiven Phasen des Mixing kommen. Uns als ForscherInnen ist das Mischen von Sprachen übrigens sehr willkommen, da es uns viel über den jeweiligen Entwicklungsstand, über Erwerbsstrategien und darüber, was Kinder so alles gleichzeitig im Kopf bewegen, verraten kann. Um hier schon ein wichtiges (und hoffentlich beruhigendes! ) Forschungsergebnis vorwegzunehmen: Ebenso wenig wie bei Erwachsenen sind die kindlichen Mischäußerungen Anzeichen eines Chaos oder Defizits. Der doppelte Erstspracherwerb (künftig auch als 2L1 abgekürzt) ist in den letzten dreißig Jahren international in vielen Studien erforscht worden. Eine der wichtigsten, immer noch viel zitierten Arbeiten stammt von Werner Leopold (1949), der vor mehr als einem halben Jahrhundert eine Tagebuchstudie über seine Tochter Hildegard vorlegte, die auch aus heutiger Sicht immer noch ausgesprochen informativ und lesenswert ist. In den 1980er Jahren entstanden Langzeitstudien, die - wie Leopold übrigens auch - annahmen, dass Kinder zunächst ein gemeinsames Lexikon und nur ein gemeinsames syntaktisches Regelsystem ausbilden, bevor sie beides, Syntax und Lexikon, voneinander trennen. Für Verfechter und Verfechterinnen dieser Annahme wären Kinder eigentlich erst nach diesem Trennungsschritt wirklich bilingual. Da diese Debatte immer noch aktuell ist, werde ich sie in diesem Kapitel kurz thematisieren (vor allem dagegen argumentieren) und dann auf Sprachmischungen eingehen, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kaum vergleichbare Ausgangslagen 107 die aus nahe liegenden Gründen Eltern am meisten beunruhigen. Die wichtigsten Forschungsergebnisse, vor allem für Eltern, seien hier schon einmal zusammengefasst: Schadet einem Kind der 2L1-Erwerb? Nein! Riskiert man beim 2L1-Erwerb Sprachstörungen? Nein, kein erhöhtes Risiko im Vergleich mit L1 Werden beide (alle) Sprachen später auf Nicht unbedingt! gleichem Niveau beherrscht? Gibt es eine garantiert erfolgreiche Methode? Nein! Können Kinder die Sprachen früh trennen? Ja! Sind Mischungen/ Einflüsse vermeidbar? Bei regelmäßigem Kontakt eher unwahrscheinlich, aber es gibt Kinder, die nicht mischen. Malte (vgl. Kap. 1) mischte nicht, aber er wollte ja auch überhaupt kein Englisch sprechen! Gibt es etwas, was Eltern unbedingt tun sollten, wenn sie ihren Kindern ein mehrsprachiges Aufwachsen ermöglichen wollen? Rechzeitig in Ruhe nachdenken, Strategien zur Unterstützung der Minoritätssprache einplanen, vor allem: Geduld haben und nichts erzwingen! Viel mit den Kindern kommunizieren. Kaum vergleichbare Ausgangslagen Eltern entscheiden sich aus vielen Gründen für eine bilinguale Erziehung. Sofern sie selbst mit ihren Kindern in einem anderen Land als ihre eigenen Eltern leben, steht der nachvollziehbare Wunsch im Vordergrund, dem Kind die Kommunikationsmöglichkeit mit der Familie in der ehemaligen Heimat zu erhalten und damit auch den Zugang zu den eigenen kulturellen Wurzeln. Besonders nahe liegend ist die Entscheidung für ein mehrfaches Sprachangebot auch dann, wenn Väter oder Mütter das Gefühl haben, dass sie sich mit ihren Kindern am natürlichsten in ihrer eigenen Erstsprache ausdrücken und ihnen deshalb auch nur in dieser Sprache ein ausreichend anregendes Sprachangebot machen können. Man beachte, dass Eltern, die sich mit diesen Überlegungen auseinandersetzen, in vielen Fällen selbst nicht nur eine Erstsprache haben, d. h. die Situation ist in vielen Fällen sicher weitaus komplexer als hier angedeutet. Auf alle Fälle: Die Motive für eine mehrsprachige Erziehung sind eine Sache, die langjährige Umsetzung einer bestimmten Sprachpolitik eine andere, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 108 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? zumal sich die Lebensumstände immer mal wieder ändern können. Welche Möglichkeiten bieten sich denn an? Kinder durchlaufen typischerweise einen simultanen oder doppelten Erstspracherwerb, wenn sie von Geburt an von ihren Eltern in zwei Sprachen angesprochen werden. Dabei können sich die Eltern auf ein Vorgehen einigen, das dem bekannten Prinzip une personne - une langue (eine Person - eine Sprache) folgt, das erstmals von Ronjat (1913) vorgestellt wurde (auch Partnerprinzip genannt, vgl. Kielhöfer & Jonekeit 1983: 25): Vater spricht eine Sprache, Mutter eine andere. Die Umgebungssprache (Majoritätssprache) kann dabei eine dieser beiden von den Eltern gesprochenen Sprachen sein, aber auch eine völlig andere. Möglich ist auch, dass beide Eltern alle beiden Sprachen verwenden, aber in bestimmten Situationen oder zu bestimmten Zeiten der einen oder anderen Sprache den Vorzug geben. Ein ebenfalls verbreitetes Erwerbsszenario stellt die Familiensprache und die Umgebungssprache einander gegenüber, d. h. die Eltern leben beispielsweise in Spanien (Umgebungs- oder Majoritätssprache = Spanisch), sprechen aber zuhause nur Englisch (= Minoritätssprache, Familiensprache) mit den Kindern und untereinander. Im Fall des Partnerprinzips müssen die Eltern weitere Entscheidungen treffen, denn sie sprechen innerhalb ihrer Familie nicht ausschließlich mit ihren Kindern! Sie müssen überlegen, in welcher Sprache sie miteinander reden wollen. Für den Fall, dass Vater und Mutter unterschiedliche Erstsprachen sprechen, bieten sich mehrere Möglichkeiten an: (a) Sie machen eine ihrer (beiden) Sprachen zur Familien- oder Elternsprache (sofern sie beide diese Sprache ausreichend beherrschen), (b) sie verwenden beide Sprachen miteinander, auch wenn Sie mit den Kindern in jeweils nur einer reden, (c) sie bleiben auch in ihrem Umgang miteinander bei der Sprachentrennung, d. h. jeder Elternteil spricht nur seine eigene Sprache, auch wenn sie sich gegenseitig ansprechen. Wenn ein Elternteil die Sprache(n) des jeweils anderen nicht versteht, müssen sie in einer weiteren Sprache miteinander kommunizieren, die sie mehr oder weniger beherrschen können. Natürlich sind verschiedene dieser Konstellationen kombinierbar! Veränderungen können auch dadurch eintreten, dass ein Elternteil im Laufe der Zeit die Sprache des anderen in einem Ausmaß erwirbt, das es ermöglicht, auf eine frühere „Behelfssprache“ zu verzichten. Bei all diesen Szenarien besteht weiterhin die Möglichkeit, dass Eltern mehr oder weniger intensives Mixing an den Tag legen, und zwar sowohl in Gesprächen untereinander als auch mit ihren Kindern. Das muss ihnen übrigens nicht einmal bewusst sein! Eltern machen sich in der Regel viele Gedanken darüber, wie sie sich verhalten sollen, wenn Freunde ihrer Kinder zu Besuch kommen, welche die normalerweise zwischen Mutter/ Vater und Kind übliche Sprache nicht verstehen. Was soll in diesem Fall überwiegen: die Höflichkeit gegenüber einem Gast oder eine Regel, für die man sich entschieden hat? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kaum vergleichbare Ausgangslagen 109 Exkurs Dies ist wahrscheinlich eines der Themen, das sich unter mehrsprachigen Familien besonders kontrovers diskutieren lässt (vgl. auch Montanari 2002). Meiner Ansicht nach gibt es Situationen, in denen höfliches Verhalten höher zu gewichten wäre als konsequentes Verhalten, zumal es gerade bei Kleinkindern auch einmal darum gehen kann, schnell potentiell gefährliche Situationen zu entschärfen. Erfolgreiche Mehrsprachigkeit zeichnet sich gerade auch durch die Fähigkeit aus, flexibel auf sprachliche Situationsveränderungen zu reagieren. Ist es dann nicht auch gut, wenn Kinder früh erleben, wie souverän Mutter und Vater mit unterschiedlichen kommunikativen Anforderungen umgehen, einschließlich der Fähigkeit, auf die sprachlichen Kompetenzen (oder besser: Einschränkungen) ihrer Umwelt zu reagieren? Diejenigen, die in diesen Fällen von ihrer üblichen Praxis abweichen (also beispielsweise die Freunde ihrer Kinder in einer Sprache ansprechen, die sie normalerweise in Gegenwart ihrer Kinder nicht verwenden würden), brauchen jedenfalls keine Angst zu haben, dass sie durch gelegentliches Abweichen von ihrer Sprachpolitik dem Aufbau der sprachlichen Kompetenz ihrer Kinder Hindernisse in den Weg legen oder gar ein schlechtes Beispiel abgeben. Bisher habe ich in den diversen Szenarien nur Eltern (und Freunde) berücksichtigt. Die Situation verkompliziert sich schnell, wenn man Großeltern oder andere Verwandte mit ins Spiel bringt, die möglicherweise zusätzliche Sprachen sprechen. Ein weiterer wichtiger Faktor sind Geschwister. Denn auch wenn Eltern mit den Kindern in einer bestimmten Sprache sprechen, beispielsweise Italienisch in Deutschland, so greifen die Kinder untereinander möglicherweise eher zur Mehrheitssprache. Sie sehen, hier entsteht sehr schnell ein ganzes Mosaik von Möglichkeiten - und das ist auch nicht unbedingt ein Problem, solange man den Betroffenen nicht einredet, sie müssten in jeder Sprache, mit der sie in intensiveren Kontakt kommen, die Führerscheinprüfung oder das Abitur bestehen können. Großeltern und andere Verwandte machen die Sache übrigens nicht schwieriger. Gerade im Fall von Minderheitensprachen, die außer einem Elternteil wenig Unterstützung haben, wirkt das Oma/ Opa-Prinzip Wunder! Mit Oma und/ oder Opa sind kleine Kinder in der Regel gerne zusammen, zumal sie oft auch noch etwas Besonderes mitbringen, was für die Entwicklung kommunikativer Kompetenzen vorteilhaft ist: Muße für die Kommunikation und Spaß am ausgiebigen Gespräch mit den Enkeln. Worauf ich hier noch nicht eingegangen bin: elterliche Reaktionen auf die Sprachwahl oder auf Sprachmischungen ihrer Kinder. Nicht selten laufen Eltern Gefahr, durch wohlmeinende, aber aus Sicht des Kindes auch entmutigende Reaktionen Sprachen zum Streitfall zu machen. Das sind Punkte, auf die ich in späteren Kapiteln noch einmal eingehen werde. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 110 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Eine anfangs innerhalb einer Familie gewählte Sprachpolitik kann sich aus vielen Gründen ändern, z. B. durch einen Umzug oder durch bewusste Entscheidungen, um einer plötzlich ins Hintertreffen geratenen Sprache mehr Unterstützung zu gewähren. Was Eltern allerdings anfangs am wenigsten erahnen können, sind die eigenen Überlegungen, die Kinder anstellen. Ich erinnere an den Jungen Malte aus unserem Projekt, der zum Schluss gelangt war, dass nur Frauen Englisch sprechen, was für ihn daher nicht in Frage kam. Manche Kinder finden es vielleicht wunderbar, dass in ihrer Umgebung niemand außer ihnen und ihrem Vater eine Sprache spricht so war das bei Saunders (1988), der mit seinen beiden Söhnen während ihrer Kindheit in Australien nur Deutsch sprach. Er berichtet, dass sie nicht begeistert waren, als plötzlich Besuch aus Deutschland kam, der mit ihnen ebenfalls in dieser „Geheimsprache“ reden wollte. In anderen Fällen - und wahrscheinlich der Mehrheit - wird es allerdings anders sein: Wenn eine Sprache in der unmittelbaren Umgebung des Kindes nur durch eine einzige Person vertreten ist, könnte dies für das Kind ein klares Signal sein, dass diese Sprache weniger wichtig ist als die andere(n). Halten wir fest, dass die Lebensumstände, unter denen ein Mensch mehrsprachig wird, von Kind zu Kind erheblich variieren können. Dies betrifft nicht nur die Menge der Personen, die dem Kind das Gefühl der Alltagsrelevanz einer Sprache vermitteln können, sondern sicher auch die Qualität und die Quantität des Sprachangebots. Was mich immer wieder überrascht, ist, wie viel letztlich doch von Kindern und ihren Familien erreicht werden kann, und zwar oft trotz erschwerter Bedingungen. Exkurs Persönliche Erfahrungen und Fragen Im Folgenden habe ich einige persönliche Berichte zusammengestellt, die mich per Mail oder in Gesprächen erreicht haben. Die hier verkürzt wiedergegebenen Erfahrungen unterstreichen eins: Wie variabel und komplex die individuellen Situationen sind und wie schwer es ist, Verallgemeinerungen anzustellen. A. Ich bin Ungarin und lebe seit 15 Jahren in Deutschland. Mein Mann ist Kanadier, und wir und unsere Kinder sprechen zusammen Französisch und Deutsch, da mein Mann nur wenig Ungarisch kann. Wir haben uns kennen gelernt, als ich nach der Wende ein Stipendium in Kanada bekam. Mein Mann ging dann beruflich nach Deutschland und ich ging mit. Ich hatte in Ungarn neben Französisch auch Deutsch studiert. Heute arbeite ich als Übersetzerin. Ich spreche vor allem Ungarisch mit unseren beiden Kindern, die jetzt 12 und 14 Jahre alt sind. Sie verstehen alles, sprechen Ungarisch nicht besonders gern, sie können sich aber sehr gut mit ihren ungarischen Großeltern unterhalten. Ihr Französisch ist sehr gut, und ihre Französischlehrer sind auch ausreichend tolerant gegenüber ihrem kanadischen Französisch. Ihr Deutsch ist völlig ok, es gab jedenfalls nie Klagen; © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kaum vergleichbare Ausgangslagen 111 auch Englisch läuft gut. Die Kinder sprechen miteinander Deutsch und Französisch. Ich habe meinen Kindern früher immer wieder erklärt, dass ich als Kind zuallererst von meinen Eltern Ungarisch gelernt habe und es einfach am besten kann und daher am liebsten Ungarisch rede, da steckt meine Seele drin. Das haben sie akzeptiert. Ich habe akzeptiert, dass Ungarisch ihre schwächere Sprache ist. Sie verstehen aber alles, und sie fahren sehr gerne nach Ungarn. B. Meine Frau spricht Russisch und Polnisch als Erstsprachen und hat in den letzten beiden Jahren etwas Deutsch gelernt. Ich kann nur Deutsch, bin in Deutschland aufgewachsen. Unser Kind ist drei Monate alt. Wie sollen wir das mit den Sprachen machen? Sollte meine Frau beide Sprachen mit unserem Kind sprechen? Unser Kinderarzt sagt, das Kind soll zuerst bis zur Schule Deutsch lernen. Können wir in ein paar Jahren noch mit Russisch und Polnisch anfangen? C. Ich lebe seit 17 Jahren in England, habe versucht, meinen Töchtern Deutsch beizubringen. Als die Älteste 3 Jahre alt war, wollte sie nicht mehr. Ich habe versucht, es durchzusetzen, aber es gab nur Geschrei. Dann fing auch die Zweijährige an, nur noch Englisch zu reden. Es war ziemlich furchtbar, zumal ich keine Unterstützung hatte. Wenn ich mit den Kindern in Deutschland war, war alles kein Problem. Als meine Jüngste 5 war, sind wir mal ein halbes Jahr hier gewesen. Ihr Deutsch war traumhaft! Sie hatte Spielkameraden, wollte schreiben lernen. Inzwischen ist meine ältere Tochter 15, sie spricht ab und zu Deutsch mit mir, wenn ihre Freunde da sind, ich glaube, damit will sie ein bisschen angeben. Sie sagt auch, sie will Deutschlehrerin werden. Na ja, mal sehen. Ich bin nur froh, dass unsere Familie die frühe Krise überstanden hat. D. Ich kann nicht verstehen, dass Eltern es nicht schaffen, ihre Kinder zweisprachig zu erziehen. Wir leben zur Zeit in Dubai. Mein Mann ist aus Neuseeland und spricht nur Englisch mit unserem vierjährigen Sohn, ich nur Deutsch, ich reagiere auch nur dann, wenn er mich auf Deutsch anspricht. Ich gehe zweimal pro Woche mit ihm in eine deutsche Kindergruppe und wir gucken uns deutsche Kinderfilme an. Mein Mann und ich sprechen Englisch miteinander. In einem Jahr gehen wir nach Neuseeland zurück und ich werde auch wieder arbeiten. Hilft ein deutsches Au-pair-Mädchen? E. Ich komme aus Marokko, meine Frau ist eine in Deutschland aufgewachsene Italienerin. Sie spricht sehr gut Italienisch und Deutsch. Wir sprechen Deutsch miteinander. Unsere Tochter erziehen wir zweisprachig (Italienisch, Arabisch). Jetzt machen wir uns Gedanken, wie es werden soll, wenn unsere Tochter demnächst in den Kindergarten kommt und Deutsch lernen soll. Wie können wir ihr den Einstieg erleichtern? F. Der Klassenlehrer unseres neunjährigen Sohnes teilte uns mit, er habe das Gefühl, das Kind hätte wegen seiner Mehrsprachigkeit Probleme. Er frage nämlich im Unterricht häufiger mal danach, was etwas „genau“ bedeutet. Der Lehrer war sichtlich überrascht, als wir ihm sagten, dass eine solche Neugier aufgrund der Tatsache, dass mehrsprachige Kinder sich mehr Gedanken über Sprache machen, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 112 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? zu erwarten ist. Diese Antwort hatte er sicher nicht erwartet. Wir fanden das Ganze aber eigentlich ziemlich traurig. Wer fragt und es gerne noch genauer hätte (wie unser Sohn), setzt sich dem Verdacht aus, bei ihm stimme etwas nicht. Wir sehen, wie unterschiedlich Situationen und Erfahrungen sein können. Nur in B, D und E werden Fragen gestellt. Was würde Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagen? Ich würde Folgendes vorschlagen: B. Möglichst nicht warten, bevor man entweder Polnisch oder Russisch dazu nimmt, aber am besten nur eine der beiden (spricht die Mutter eine lieber? ). Dem Kinderarzt eine Weiterbildung empfehlen! D. Ich nehme auch an, dass das Deutsche in Neuseeland Unterstützung braucht; Au-Pair-Lösung ist sicherlich nicht schlecht, sofern kein dauernder Wechsel droht. Ideal wären andere deutschsprachige Familien mit Kindern, mit denen man sich immer wieder treffen kann. Wie wär’s statt Au-Pair mit einer deutschsprachigen „Oma“, vielleicht unter den Emigranten? Übrigens: Nicht alle Kinder reagieren positiv auf eine Strategie des „Taubstellens“; das ginge auch anders, z. B. durch Fragen oder einfache Bitten, etwas auf Deutsch zu wiederholen. Bei älteren Kindern halten Filme, spannende Bettlektüre etc. das Interesse an der Minderheitssprache in Gang. Und natürlich Besuche von Oma und Opa aus Deutschland oder bei ihnen in Deutschland. E. Wenn die Sprache der Eltern untereinander Deutsch ist, hat die Tochter sicher schon mehr mitbekommen, als es den Anschein hat. Man könnte sie etwas mehr in diese Gespräche einbeziehen, z. B. alle Mahlzeiten zur Gelegenheit nutzen, zusammen Deutsch zu sprechen. Dann erwirbt sie auch gleich viel von dem deutschen Wortschatz, den sie für wichtige Aktivitäten in der Kita (Essen, Frühstück) braucht. Hier abschließend noch ein kurzer Blick auf eines unserer Projektkinder, Hannah, deren Eltern mit dem Partnerprinzip begannen. Als Hannah etwa 15 Monate alt war, kam sie in eine Kita. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon angefangen, Wörter zu kombinieren. Der größte Teil ihrer Äußerungen war deutsch oder gemischt. Die Eltern beschlossen daher einige Wochen später, ihre bisherige Sprachpolitik zu ändern und das Englische stärker zu unterstützen, indem sie es zur alleinigen Familiensprache machten. Das war kein Problem, da auch der Vater hervorragend Englisch sprach. Interessant war nun aber, dass Hannah selbst bis zum Erreichen ihres dritten Geburtstags bei ihrer Sprachpräferenz blieb, d. h. sie sprach spontan vor allem Deutsch und sie mischte ihre Sprachen. Erst danach (also mehr als ein Jahr nach der Aufgabe des Partnerprinzips seitens der Eltern) spricht sie ihre Mutter (wie gewünscht) fast nur noch auf Englisch an. Was sich in diesem Jahr abspielte, ist wie Sie nachher sehen werden ausgesprochen spannend! Leser erfahren dies auf S. 118 ff. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter? 113 Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter? Das mehr oder weniger friedliche Zusammenleben mehrerer Sprachen im Kinderkopf verträgt sich anscheinend schlecht mit unseren Alltagsweisheiten und hartnäckigen Mythen über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit (vgl. Kapitel 3). Es passt nicht zum monolingualen Habitus (Gogolin 1994), auf den Punkt gebracht also zur Vorstellung: ein Kopf - eine Sprache. Außerdem zwingt es uns dazu, liebgewordene Mythen loszulassen, wie die Idee, dass eine gesunde Identität notwendigerweise eine Erstsprache voraussetzt (vgl. dazu Hinnenkamp & Meng 2005; Keim 2007, Keim & Tracy 2007). Ich hatte im dritten Kapitel bereits auf unterschiedliche Phasen der Einstellung gegenüber der Mehrsprachigkeit hingewiesen. Aus heutiger Sicht kann man nur erstaunt, belustigt oder empört zur Kenntnis nehmen, wie negativ man sich lange über mehrsprachig aufwachsende Kinder geäußert hat. Kielhöfer & Jonekeit (1983: 9f) präsentieren und kritisieren in ihrem Ratgeber eine lange Liste solcher „Eigenschaften“. Während Befürworter der Mehrsprachigkeit bilinguale Kinder für sprachgewandter, toleranter, flexibler, anpassungsfähiger und intelligenter als monolinguale Kinder halten, ist die Negativliste wesentlich länger. Hier ist u. a. von Überforderung, Verlangsamung, Fantasielosigkeit, Gefühlsarmut, Verlogenheit etc. die Rede. Es ist auch nicht lange her, dass von offizieller Seite Eltern vom doppelten Erstspracherwerb mit dem Hinweis auf mögliche Sprachverwirrung abgeraten wurde, vgl. hier den Brief eines deutschen Jugendamts, der von George Saunders im Bilingual Family Newsletter (1988: 3) veröffentlicht und diskutiert wurde: „Wenn Vater und Mutter verschiedene Sprachen sprechen - was soll das Kind lernen? […] Es wäre gut, wenn das Kind eine Sprache als sogenannte Muttersprache empfinden, das heißt, sich in einer Sprache zu Hause fühlen könnte. Der Vorteil des zweisprachigen Aufwachsens wird oft mit einer Unsicherheit in beiden Sprachen bezahlt, und wenn es irgend möglich ist, sollte man diese Entwicklung vermeiden […]“ Auch dies würde man von Jugendämtern, die sich oftmals ausdrücklich die Förderung von Mehrsprachigkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben, heute wohl nicht mehr hören. Aber nicht alle Autoritäten sind dieser Ansicht. Von anderen Experten (ÄrztInnen, LehrerInnen u. a.), die Eltern zu Rate ziehen, erhalten sie immer noch andere Botschaften, oftmals, wie wir mittlerweile erwarten, in Abhängigkeit vom Prestige der Sprachen: Englisch, Französisch: ja, Türkisch, Kroatisch: nein. Bemerkenswert (und deprimierend) ist, dass mindestens einige dieser Einschätzungen eine Zeitlang auch von denjenigen geteilt wurden, die es eigentlich besser wissen müssten, nämlich von Vertretern der Sprachwissenschaften. In der Forschung selbst finden sich solche pauschalen Aussagen heute allerdings nicht mehr. Mehrsprachigkeit an sich hat keine negative, subtraktive Wirkung, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 114 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? d. h. keine Sprache „leidet Schaden“. Man sollte allerdings auch überzogene Erwartungshaltungen korrigieren, und zwar aus den bereits genannten Gründen: Wenn in einer Sprache Alltagsrelevanz und/ oder ein reichhaltiges, variationsreiches Sprachangebot fehlen, ist es schwieriger, einen Erwerbsprozess nachhaltig in Gang zu halten. Der Untertitel meiner Kapitelüberschrift, Was für noise it makes? , ist ein Zitat von Hannah, deren Eltern, wie erwähnt, vom Partnerprinzip zur Strategie Familiensprache - Umgebungssprache umgeschwenkt hatten. Ich habe diesen Satz bereits in Kapitel 1 zitiert und gezeigt, dass er sich in struktureller Hinsicht nicht von dem unterscheidet, was man bei einsprachigen Kindern mit Deutsch oder Englisch als Erstsprachen finden kann. Lediglich die Mischung des Wortschatzes ist der Tatsache zu verdanken, dass Hannah zu diesem Zeitpunkt mehr kann und mehr über Sprache weiß, als ihre monolingualen Peers (Altersgenossen). Nun kann man Laien eine gewisse Besorgnis kaum verdenken, wenn sie beispielsweise im Bus sitzen und hören, dass ein Kind neben ihnen Äußerungen von sich gibt wie in (3), von Hannah im Alter zwischen 2; 4 und 3; 0, und wie in (4), geäußert von Kindern in anderen Studien im Alter von etwa 2-5. (3)(a) Hast du das geweggethrown? (b) Cleanst du dein teeth? (c) Ich cover michself up (d) Sie haben gone away (e) Don’t stör mich, nicht mich stören, in English or German (f) I want the book read (4)(a) Frank 5; 3 Kann ich das Kissen hitten? Saunders (1982) (b) Lisa, 2; 4-3; 0 Giulia hat ausbevuto (Ital./ Deutsch) (c) Danny, 1; 11-2; 8 ich will ein apple eat Park und Redlinger (1980) Drängt sich hier nicht doch der Eindruck auf, dass diese Kinder verwirrt sind? Lassen Sie mich in diesem Moment nur so viel verraten: In Hannahs intensivster Mischphase wiesen selten mehr als 20 % der Äußerungen, die sie in einer Aufnahmestunde produzierte, ähnliche Kontaktphänomene auf. Dennoch sollte man sicher nicht unterschätzen, dass solche Mischungen die Skepsis nähren, die man immer noch in der Öffentlichkeit findet. Damit wissen wir nun auch, was wir im Rest dieses Kapitels noch zu leisten haben: Ziel muss es sein zu erläutern, wieso man sicher sein kann, dass ein Kind mit einer mehrsprachigen Situation nicht überfordert ist und dass ja vielleicht auch hinter Mischäußerungen „ein System steckt“. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter? 115 Besonderheiten des frühen bilingualen Lexikons Erinnern Sie sich an mein kleines Gedankenexperiment zum Wortschatz im 4. Kapitel? Da bat ich Sie auf S. 73, sich eine Szene vorzustellen, in der Ihnen Ihr Vater ein Bild mit einem Apfel zeigt und auf Englisch apple äußert, während Ihre Mutter das gleiche Bild mit Apfel kommentiert. Ich erinnere Sie auch an die Schlussfolgerung, die Sie als kluge(r) Lerner(in) daraufhin gezogen haben, nämlich: „Eigentlich folge ich ja dem Prinzip des Kontrasts: Immer wenn ich ein neues Wort höre, suche ich automatisch unter den Dingen, die Mama und Papa beim Reden angucken, nach einem Gegenstand, für den mir bislang eine Bezeichnung fehlte. Nun sagt Mama zu diesem runden Ding auf dem Bild Apfel, Papa apple, aber ich sehe hier vor mir auf dem Bild nur einen Gegenstand. Wollen die mich etwa absichtlich verwirren? Normalerweise sind sie ja ganz kooperativ, also muss es einen anderen Grund geben: Vielleicht handelt es sich um Synonyme in einer Sprache (die ich aber eigentlich gar nicht mag), oder aber es handelt sich um Dubletten in zwei Sprachen. Das wird’s wohl sein, das macht Sinn! Hurra, ich werde mehrsprachig! “ In den ersten Studien zum Lexikonerwerb bilingualer Kinder ging man davon aus, dass Kinder eine solche Abneigung gegen Synonyme haben, dass sie diesen (klugen) Gedankengang gerade nicht verfolgen. Vielmehr vermutete man, dass ein Kind zunächst ein einziges Lexikon aufbaut, in dem sich aber keine Dubletten befänden, d. h. man hätte entweder Hund oder doggie, aber nicht beides. Folgeuntersuchungen zeigten, dass Kinder durchaus nicht vor Dubletten zurückschrecken (Quay 1995, Clark 1993). Interessant ist auch, dass uns gerade Verschmelzungen und bilinguale Komposita/ Zusammensetzungen zeigen, wie gut Kinder sprachübergreifende Entsprechungen erkennen und „sortieren“. Denken Sie an unser Bäckerbeispiel: Die Kinder hätten in diesem Fall unterschiedlich aussehende Formen aufgrund gleicher Inhalte/ Funktionen zusammen gruppiert, also in einen Korb gelegt. Hier sind einige Beispiele dafür aus der Forschungsliteratur. (5) Verschmelzungen (aus Grosjean 1982: 184) Englisch hot + Franz. chaud shot (Juliette, 2 Jahre) pickle + cornichon pinichon (Juliette, 2 Jahre) sit + assis asit (Eric, ohne Altersangabe) (6) Komposita (Wortzusammensetzungen) Leopold (1939: 19) Deutsch/ Englisch bitte-please (Hildegard, 1; 9) Grosjean (1982: 184) Franz./ Englisch lune-moon, pour-for (Juliette, 2 Jahre) papa-daddy, chaud-hot (Eric, ohne Altersangabe) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 116 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Manchmal wird berichtet, dass Kinder, die einen doppelten Erwerbsprozess durchlaufen, etwas später in verschiedene Bereiche, u. a. den Wortschatzerwerb, einsteigen. Wenn man allerdings größere Gruppen betrachtet, erkennt man keine systematischen Verzögerungen. Oller et al. (1997) untersuchten den Beginn des Lallens in 73 monolingualen und bilingualen Kindern, inkl. Risikokindern (z. B. Frühgeburten) und fanden keine Unterschiede. Gleiches gilt für Studien zum Sprechbeginn und Vokabelumfang (Pearson, Fernández & Oller 1995). Als wir uns im Rahmen eines DFG-Projekts vor Jahren die Frage stellten, wie sich monolinguale und bilinguale Kinder deutsche Nebensätze oder andere Strukturbereiche aneignen, kamen wir ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die mehrsprachigen Kinder, die wir zwei Jahre lang immer wieder aufnehmen konnten, von der Geschwindigkeit des Erwerbs her zwischen den schnellsten und den langsameren monolingualen Kindern lagen (vgl. Gawlitzek-Maiwald 1997). Exkurs In der Tat deuten Experimente zum Wortschatzerwerb trotz aller Gemeinsamkeiten auch auf Unterschiede zwischen ein- und mehrsprachigen Kindern hin. Davidson et al. (1997) untersuchten bei je 32 drei- und sechsjährigen monolingualen und bilingualen Kindern (mit den Sprachkombinationen Englisch-Urdu und Englisch-Griechisch) Ähnlichkeiten und Unterschiede in der sog. Akzeptanz von Bezeichnungen für bekannte und unbekannte Gegenstände. Bilinguale Kinder neigten erheblich eher als die monolingualen Kinder dazu anzunehmen, dass sich ein neues Wort doch (also entgegen dem Kontrastprinzip) auf einen vertrauten und bereits mit einem Namen versehenen Gegenstand bezieht. Dies, so die Schlussfolgerung der Autoren, unterstreicht die größere Bereitschaft bilingualer Kinder, Wörter mit gleicher Bedeutung zu akzeptieren, und zwar auch innerhalb einer Sprache. Wie viele Pakete sind im Umlauf? Rein theoretisch sollten LernerInnen ihre Umgebungssprachen anhand vieler Kriterien früh unterscheiden können. Auf allen Ebenen, in allen Schichten des Pakets, könnte es wichtige Information geben: z. B. Besonderheiten der Betonung, der Silbenstruktur und der Lautfolge, der wortinternen Struktur (Morphologie), der Wortstellung. Wie gut diese Differenzierung dann im Einzelfall funktioniert, hängt von den konkreten Eigenschaften der betroffenen Sprachen ab. Die Frage lautet also nicht: Können Kinder Sprachen früh unterscheiden - denn die Antwort lautet eindeutig ja. Aber sobald wir fragen: Wie früh können Kinder Deutsch von Niederländisch, Portugiesisch von Italienisch, Kastilisch von Katalanisch unterscheiden, sieht die Sache etwas anders aus, denn dabei handelt es sich um Sprachen, die auf sämtlichen Ebenen des Pakets viel gemeinsam haben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter? 117 Einzelne Sprachpaare können es Kindern also leichter oder schwerer machen, ihrer Detektivarbeit nachzukommen. In Teilbereichen der Grammatik kann es im Vergleich mit dem monolingualen Erwerb sowohl zu Beschleunigungen als auch zu kurzzeitigen Umwegen oder „Sortierprozessen“ kommen (vgl. Gawlitzek-Maiwald & Tracy 1996, Müller et al. 2007 2 , Lleó 2006). Kindern, die mit eng verwandten Sprachen wie Deutsch und Englisch oder sogar mit Deutsch und Niederländisch aufwachsen, fällt es sicher aufgrund vieler struktureller und lexikalischer Überlappungen schwerer, die Strukturen und den Wortschatz der beiden Sprachen auseinander zu halten, als Kindern, die es mit Japanisch und Französisch zu tun haben. Gleichzeitig ist die Ähnlichkeit natürlich insofern ein Vorteil, als sie am Anfang für das Sprachverstehen genutzt werden kann, so wie man Lerner beim Fremdsprachenunterricht dazu ermutigt, aufgrund ihrer Französischkenntnisse zu raten, was ein spanisches Wort bedeuten könnte. Ich erinnere an die „Grauzonen“, die ich in Kapitel 3 angesprochen habe. Hierbei handelt es sich um parallele Strukturen und Überlappungen: z. B. weisen dt. dies ist grün und engl. this is green das gleiche Satzmuster auf und enthalten ähnlich klingende Wörter, dies/ this, ist/ is, grün/ green. Das bedeutet einerseits Mehrdeutigkeit (welche Sprache höre ich gerade? ), andererseits eine Chance, weil man die Ähnlichkeit nutzen kann, um unbekannte Wörter zu erschließen. Wer green nicht kennt, wohl aber grün, wird leicht ahnen können, was gemeint ist, wenn jemand beim Malen sagt: Now I need some green. Diese Ratefähigkeit wird im Fremdsprachenunterricht leider immer noch viel zu wenig genutzt! (vgl. auch Hufnagel 2004) Anhand welcher Merkmale können wir ohne Laboruntersuchungen beurteilen, was Kinder über die Sprachen in ihrer Umgebung wissen? In der aktuellen Forschung besteht Einigkeit darüber, dass bilinguale Kinder spätestens in dem Moment, in dem sie Wörter kombinieren, getrennte Sprachpakete bearbeiten. Klare Belege finden wir in Strukturbereichen, in denen sich die beteiligten Sprachen hinreichend unterscheiden. Bei Kindern, die mit Deutsch und Englisch als gleichzeitig erworbenen Erstsprachen aufwachsen, kann man bereits aufgrund der konsequenten Platzierung von Verben in ersten Zwei- und Mehrwortäußerungen erkennen, dass sie Deutsch und Englisch unterscheiden. Man vergleiche dazu die beiden folgenden Sätze. Wie man sehen kann, hat Hannah erkannt, dass ein deutscher Infinitiv seinem Objekt folgt, während ein englisches Verb (egal welcher Form) seinem Objekt immer vorangeht. (7) Hannah 2; 2 (a) Mama, put d ә knife in cup (Anrede) Verb+Objekt (b) ich das lesen Subjekt+Objekt+Verb © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 118 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Anhand dieses Kontrasts erkennen wir, was Hannah schon über ihre beiden Sprachen weiß. Es gibt übrigens noch einen weiteren wichtigen Befund zugunsten der frühen Unterscheidung der beiden Sprachen: das unterschiedliche Erwerbstempo, das die beteiligten Sprachen an den Tag legen können. Trotz altersgemäßer Entwicklung (im Vergleich mit monolingualen Kindern) kann sich eine der beiden Sprachen des bilingualen Kindes langsamer oder schneller entwickeln (vgl. auch Bernardini & Schlyter 2004, Müller et al. 2 2007, Tracy 2007). Dies lässt sich an den folgenden Belegen recht gut erkennen. Bei beiden Kindern sind die deutschen Sätze wesentlich fortschrittlicher: Es gibt Hilfs- und Modalverben, und sie stimmen mit dem Subjekt überein. In den englischen Sätzen gibt es nichts dergleichen. (8) Hannah 2; 2 Wer hat das gemacht? Ich will was spielen (9) Hannah 2; 2 Mama picking flowers in ә garden, No cars on street (10) Adam 3; 7 Ich kann nicht alleine machen. Das hat die Laura gemacht. (11) Adam 3; 7 It go like that That one called d ә Tom Engine book Bei beiden Kindern entwickelt sich das Englische langsamer als das Deutsche. Dennoch liegt Hannah mit ihrem Englisch immer noch im Bereich der einsprachigen Norm, sie ist sogar in mancher Hinsicht schneller als monolinguale englischsprachige Kinder! Bei Adam ist das Englische nicht nur langsamer, es ist auch lange Zeit die eindeutig „schwächere“ Sprache. Das holt er in späteren Jahren allerdings vollständig auf. Heute - er studiert inzwischen - würde ihn niemand für einen non-native speaker halten! Zusammenhang zwischen Entwicklungsstand und Mischverhalten Entgegen früheren Annahmen sind Kinder mit zwei bis drei Jahren dazu in der Lage, differenziert auf unterschiedliche Partner zu reagieren, auch wenn sie dies nicht immer tun, z. B. auch deshalb nicht, weil sie genau wissen, dass ihre Bezugspersonen beide Sprachen beherrschen (vgl. Lanza 1997, Anstatt 2007). Interessant ist insbesondere, dass sie mithilfe der jeweils fortschrittlicheren Sprache nicht nur lexikalische, sondern auch strukturelle Lücken der sich langsamer entwickelnden Sprache ausgleichen, d. h. wir haben es mit einer Art Platzhalter- oder Joker-Strategie zu tun, wie wir sie schon für monolinguale Kinder in Kap. 4 kennen gelernt haben. Dies zeigt sich eindrucksvoll an Mischäußerungen, vgl. (12). Hier stammen alle fortschrittlichen Elemente (Hilfs- und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Warum erregt der doppelte Erstspracherwerb die Gemüter? 119 Modalverben, Verbflexionen) aus dem Deutschen, während die restlichen Elemente durchaus englisch sein können. (12) Hannah 2; 4-2; 8 (a) kannst du move a bit? (b) soll ich hit it? (c) sie haben gone away. (d) ich hab gemade you much better (e) Mama, kannst du do it up? Sätze, die englische Hilfs- und Modalverben oder flektierte Verben enthalten, treten erst im Alter 2; 9 auf. Von diesem Moment an gehen auch die Mischungen zurück, so dass man sich in der Annahme eines Zusammenhangs ganz klar bestärkt sehen darf. Joker-Phänomene zeigen sich auch in anderen Bereichen. Wo ein monolinguales Kind undifferenzierte Füllsilben einsetzt, kann sich das bilinguale Kind Elemente der fortschrittlicheren Sprache ausleihen. Diese Mischtypen verschwinden wieder, wenn die jeweiligen systeminternen Lücken geschlossen, d. h. die Wörter erworben wurden. Beispiel (13) zeigt, wie treffgenau diese Anleihe vonstatten geht: (13) Stani 3; 6 das darf man if man will Im Fall von Hannah kann man sehen, dass um ihren dritten Geburtstag mehrere Dinge passieren: Sie spricht spontan Englisch, ihr Englisch hat aufgeholt. Ihre Eltern sehen immer weniger die Notwendigkeit einer strikten Sprachpolitik. Das folgende Beispiel zeigt auch, dass Englisch auf dem Weg ist, die bevorzugte Sprache zu werden! (14) Hannah 3; 2 Vater hat dt. Bücher aus der Bibliothek geholt Hannah Read them in English! Vater Hannah, sollen wir die Bücher lesen? Hannah Not in German! Explizites und implizites metasprachliches Wissen Ich hatte schon in den vergangenen Kapiteln betont, dass sich bilinguale Kinder sehr früh Gedanken darüber machen, wer welche Sprache spricht. Ein extremes Beispiel war Malte, dessen Hypothese es war, dass nur Frauen Englisch sprechen. Ich führe zwei Beispiele von Hannah an, vgl. (15)-(16). In beiden Fällen äußert sich Hannah explizit zu der Sprachwahl anderer, einmal in der Kita, einmal bezüglich ihrer Mutter. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 120 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? (15) Hannah 2; 7 ich habe ein zug gebaut in kita. Mutter And did they say „Clever Hannah“? Hannah nein, „brave Hannah“, ’cause it’s german. (16) Mutter In the kita they call it „Frühstück“, don’t they? Hannah und du heißt das „breakfast“. Selbstkorrekturen von Kindern verraten uns auch viel über ihre Intuition bezüglich der Wohlgeformtheit und Angemessenheit von Äußerungen. Bilinguale Kinder zeigen uns, dass sie früh ihre Sprachwahl korrigieren können. Vgl. folgendes Beispiel einer Selbstkorrektur aus Kielhöfer & Jonekeit (1983: 39), mitsamt dem Kommentar der Autoren. (L1 = Französich/ Deutsch) (17) Jens (2; 2 Jahre) hat mit seiner Mutter ein Bild mit einem Boot betrachtet. Am Abend betrachtet er das gleiche Bild mit seinem Vater: Bat … Boot. Jens schaltet noch rechtzeitig um, indem er statt bateau Boot sagt. In vielen Studien wird berichtet, dass die untersuchten Kinder explizite Intuitionen äußern. Leopold schreibt, dass Hildegard ihre eigenen deutschen Äußerungen auch schon einmal mit That is funny German (1949: 70) kommentiert. Das folgende Beispiel gibt einen Kommentar von Hannah wieder, die hier zuerst nur ihren Eltern zuhört, die in diesem Moment über ein anderes Kind sprechen. (18) Mutter Svenja sagt, „Ich mag schneiden will“. Isn’t that funny? Hannah 3; 1 She has to say: I want to cut. Hannah täuscht sich hier allerdings insofern, als ihre Freundin Svenja keinen Grund dazu hätte, eine englische Äußerung zu produzieren, denn Svenja spricht kein Englisch. Während Hannah in (18) und in den vorangegangenen Zitaten Äußerungen anderer kommentiert, finden wir in ihren Daten auch sehr viele Belege für eine Art von „Selbstkritik“, vgl. (19). Es handelt sich um eine Situation, in der Hannah zunächst unsicher ist, ob das Verb strap/ sträppen nun aus dem Englischen oder aus dem Deutschen stammt. Die Aussprache von strap/ t(r)ap ist jedenfalls englisch. Schauen Sie sich bitte die Abfolge von Äußerungen in (19) Zeile für Zeile an. Genau in dieser Reihenfolge wurden sie von Hannah an ihre Mutter gerichtet, die im Hintergrund beschäftigt war. Meine Erläuterungen finden sich gleich im Anschluss. (19) Hannah 2; 2 (a) die dolly einstrappen (b) die dolly eintrap (c) das einstrap in … die puppe © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Strategien der Eltern 121 (d) die einstrap in … die dolly (e) die Mama helf mir tap it in (f) Mama tap it in … die dolly (19) beginnt in (a) mit einer deutschen Ausgangsstruktur. Erinnern Sie sich an Meilenstein II? Ein Verb im Infinitiv tritt am Satzende auf, das direkte Objekt (die dolly) steht links davon. In (b) verschwindet zunächst die deutsche Endung -en. In (c) und (d) erscheint mit der Partikel in eine englische Entsprechung des deutschen ein-. In (e) und (f) kommt ein englisches direktes Objekt (it) in der im Englischen typischen Position nach dem Verb hinzu. Dafür verschwinden die deutschen Objekte (das/ die) sowie das deutsche einin einstrap. In (f) ist Hannah dann bei einer weitgehend englischen Struktur angekommen. Die gesamte Abfolge von Reparaturschritten wurde nicht etwa von außen ausgelöst, also nicht durch Rückfragen der Mutter. Hannah weiß offensichtlich ganz genau, wie sie eine Verbform und die Syntax an beide Sprachen anpassen muss, und zwar syntaktisch und morphologisch. Ihre einzige Unsicherheit besteht im Hinblick auf die lexikalische Heimat von strap, was angesichts der vielen ähnlich klingenden Formen in den beiden Sprachen kaum überraschen dürfte. Strategien der Eltern Es ist interessant, sich anzuschauen, wie sich Eltern bemühen, ihre Kinder zu einem Wechsel in die gewünschte Sprache anzuregen (vgl. auch Lanza 1997). Im Folgenden stelle ich einige Strategien von Hannahs Eltern vor, die etwa 10 % aller Äußerungen der Mutter ausmachen. Hannah war zu dem Zeitpunkt etwa zwei Jahre alt. Eine offensichtliche Strategie besteht darin, so zu tun, als ob man nicht verstanden hätte. Dabei ist aber eigentlich allen klar, dass dies nur ein Spiel sein kann, weil Hannah ihre Mutter ständig außerhalb des Hauses als kompetente mehrsprachige Person erlebt. So tun, als ob man nicht verstanden hätte (20) Hannah 2; 1 zu ihrer Mutter: MAma GEHen mit mir\ Mutter Mummy doesn’t understand (M. versteht nicht) Hannah mama WALK/ … there mama WALK/ mama walk/ … mit di WINDmill\ … mama walk mit di WINDmill\ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 122 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Direkte Aufforderung, evtl. gekoppelt mit angeblichem Nichtverstehen Dadurch, dass die Mutter gleich die Übersetzung für das machen, nämlich do it, mitliefert, demonstriert sie natürlich, dass ihre Behauptung Mummy doesn’t understand … eigentlich nicht stimmt. (21) Hannah DAS machen\ Mutter Mummy doesn’t understand „das machen“. What do you say to mummy? … Do it! (Was sagst du zu Mami? … Tu’s! ) Hannah DO it\… DAS da machen\… DO it\ Sekunden später: DAS machen … singing\ (22) Zu Mutter STEH auf/ STEH auf\ Vater What do you say to mummy? Hannah STAND up\… GEH mit mir\ Indirekte Aufforderung, Lücken zu füllen Hier beginnt die Mutter einen englischen Satz und lässt eine Lücke für die gewünschte Antwort. Wir sehen, dass Hannah genau weiß, was zu tun ist. (23) Hannah fertig … fertig\ (über ein Puzzle) Mutter I’ve - - - ? Hannah finished\ Bitte um Übersetzung, Frage nach Bedeutung deutscher Wörter (24) Hannah das is so SCHÖN\ Mutter What is „schön“? Hannah zeigt auf Gegenstand DAS da\ Das letzte Beispiel ist besonders interessant und auch lustig! Die Mutter erbittet sich hier eine Übersetzung für „schön“, während Hannah den Satz so interpretiert, als ob sie den Gegenstand zeigen soll, den sie schön findet. Sie sehen, es ist nicht ganz einfach, einen Sprachwechsel zu bewirken, aber zwischen Eltern und Kindern können sich dabei durchaus unterhaltsame Wortspiele entwickeln. Ein Ausflug in die Theorie: Warum fasziniert uns der doppelte Erstspracherwerb? Erinnern wir uns an die Art und Weise, in der sich Kinder die Baupläne deutscher Sätze aneignen. Wir haben gesehen, dass sie zur Zeit von Meilenstein II © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Warum fasziniert uns der doppelte Erstspracherwerb? 123 einfache Zwei- und Dreiwortverbindungen mit und ohne Verben produzieren (z. B. tür auf, mama auch bus etc). Wie kann man sich diese Beschränkung der Äußerungslänge erklären? Fehlt es den Kindern vielleicht einfach nur an Input? Folgende Überlegungen bieten sich an: (a) Sätze sind anfangs so einfach und kurz, weil die Fähigkeit von Kindern, längere Strukturen zu verarbeiten (d. h. sie zu erkennen, zu verstehen oder zu planen), sehr begrenzt ist. (b) Sätze sind einfach, weil bestimmte Reifungsprozesse noch nicht stattgefunden haben, vor allem solche, die den Erwerb von geschlossenen Klassen (Artikel, Hilfsverben) und Flexionsendungen ermöglichen. (c) Sätze sind reduziert, weil die allgemeine geistige, d. h. kognitive Entwicklung eines Kindes noch nicht weit genug fortgeschritten ist. Betrachten wir dazu einmal den konkreten Fall von Hannah, die im Alter 2; 4 bis 2; 9 im Englischen Äußerungen folgender Art von sich gibt. (25) (a) papa going? (= Wohin geht Papa gerade? ) (b) mama picking flowers in ә forest. Hannahs Deutsch des gleichen Zeitraums sah indessen folgendermaßen aus: (26) (a) hier hab ich ein stühle (b) ich habe ein zug gebaut in kita (c) jetzt kannst du hause gehen (d) ich muss ә das noch machen Wenn wir die deutschen Strukturen in eine topologische Tabelle übertragen, sehen wir, dass Hannah bereits Meilenstein III erreicht hat, vgl. (27). (27) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE ich habe ein zug gebaut ich muss ә das noch machen jetzt kannst du hause gehn hier hab ich ein stühle © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 124 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Hannah verfügt zu diesem Zeitpunkt also über die Satzklammer des Deutschen und platziert finite Verben korrekt in V2. Außerdem weiß sie, dass vor dem Verb (anders als im Englischen) auch Nicht-Subjekte stehen können (hier, jetzt). Die Übergeneralisierung der Flexion in muss ә zeigt ihr Wissen um die normalerweise zur Markierung der Subjekt-Verb-Kongruenz benötigte Form (ә ) wie in spiel ә , lauf ә . Sie produziert zu dieser Zeit übrigens auch bin ә . Das Fehlen einer Präposition in (26)(c) ist, ebenso wie weitere morphologische Auffälligkeiten (stühle; ein statt einen) altersgemäß. Was bedeutet dies für unsere oben angeführten Vermutungen? Im Grunde werden sie alle durch diese Datenlage widerlegt. Es ist nicht plausibel anzunehmen, dass Hannah in der einen Sprache Beschränkungen der Verarbeitungs- oder Gedächtniskapazität unterliegt, während sie in der anderen Sprache schon wesentlich komplexere Strukturen produziert, oder dass in ihrem Gehirn etwas gereift wäre, was nur deutschen Hilfsverben oder Flexionsendungen zugute käme. Gibt es plausiblere Erklärungen? Die nahe liegende Vermutung, dass Hannahs englischer Input unzureichend ist, kann man ausschließen, da ihre Eltern ja seit längerem Englisch zur Familiensprache gemacht haben. Eine bessere Erklärung liegt in der unterschiedlichen Komplexität der beiden Sprachen. Wegen seiner „mageren“ Verbmorphologie (I see, you see, he sees…) und der geringen Wahrnehmbarkeit von Modal- und Hilfsverben macht es das Englische seinen Lernern sicher nicht einfach, manche Eigenschaften englischer Sätze zu entdecken. Es ist daher kein Wunder, dass die Subjekt-Verb-Kongruenz im Englischen nicht besonders früh oder flott erworben wird (vgl. Brown 1973). Man denke beispielsweise auch an Sätze wie I’ve found the book, He’d tell her, in denen die Hilfs- und Modalverben zwischen dem Subjekt und dem Hauptverb in der gesprochenen Sprache kaum wahrzunehmen sind; in meinen Beispielen wegen des ersten Lauts des folgenden Verbs eigentlich überhaupt nicht. Versuchen Sie es, sprechen Sie diese Sätze einfach mal laut aus! Der doppelte Erstspracherwerb ist für die Forschung nicht nur deshalb wichtig, weil er es uns erlaubt, unsere Annahmen und Theorien über den Spracherwerb im Allgemeinen zu testen. Es gibt noch zwei weitere wichtige Gründe für seine Bedeutung, und zwar aus Sicht der Zweitspracherwerbsforschung. Die Tatsache, dass es möglich ist, zwei Sprachen gleichzeitig zu erwerben, ohne dass es zu kognitiven Beeinträchtigungen oder sprachlichen Auffälligkeiten kommt, zeigt, dass man nicht erst einer Sprache einen Vorsprung gewähren muss, damit sich ein Kind unbeschadet entwickeln kann (vgl. zur Schwellenhypothese Cummins 1979, Siebert-Ott 2001). Der erfolgreiche simultane Erwerb von zwei (oder mehreren) Sprachen zeigt ganz klar, dass es nicht nötig ist zu warten, bis sich eine Sprache bis zu einem bestimmten Niveau (einer „Schwelle“) entwickelt hat, bevor eine zweite am Horizont auftauchen darf! Das ist der erste Grund. Ein zweiter Grund beruht auf folgenden Überlegungen: Beim simultanen Erstspracherwerb ist, wie ich bereits mehrfach betont habe, in den seltensten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fazit 125 Fällen das Sprachangebot in beiden (oder mehreren) Sprachen völlig ausgewogen. Genau deshalb ist es ja so spannend, sich das Ergebnis anzuschauen! In einer Familie hört ein Kind Sprache A vielleicht in den meisten Stunden seines Wachseins, und dann auch noch von mehreren Personen, während es für Sprache B eventuell nur einen einzigen Sprecher gibt, der sich dann auch nur für eine sehr begrenzte Zeit am Tag mit dem Kind beschäftigen und ihm das Sprachangebot für B liefern kann. Der gleichzeitige Erstspracherwerb hilft uns also herauszufinden, wie viel Input benötigt wird, um den Spracherwerbsprozess in Bewegung zu setzen und in Gang zu halten. Erkenntnisse aus dieser Forschung sollten sich damit auch als relevant für die frühe Förderung einer zweiten Sprache erweisen. Fazit Entgegen lange gehegter Vorurteile wissen wir heute, dass Kinder, die von frühester Kindheit an mit zwei (Erst-)Sprachen konfrontiert werden, dadurch nicht überfordert sind. Es kann eher sein, dass die Familie sich überfordert fühlt, weil es nicht einfach ist, eine in sich schlüssige und gleichzeitig entspannte Sprachpolitik durchzuziehen. Während man früher davon ausging, dass Kinder zunächst über ein einziges, „fusioniertes“ System verfügen, das sich erst im Laufe der Zeit ausdifferenziert, wissen wir heute, dass Kinder bereits zum Zeitpunkt ihrer ersten Wortkombinationen „wissen“, dass sie es mit verschiedenen Sprachen zu tun haben, auch wenn sie diese manchmal intensiv mischen. Der Erwerbsverlauf folgt in beiden Sprachen im Wesentlichen entlang der in Kapitel 4 skizzierten Meilensteine der entsprechenden monolingualen Entwicklung. Dabei muss es keineswegs zu Verzögerungen kommen, weder im Erwerb des Wortschatzes noch der Syntax. Der simultane Erwerb zweier Sprachen ist also tatsächlich ein normaler Erstspracherwerb. Es gibt zwar kleinere Unterschiede im Vergleich mit monolingualen Kindern, aber die liegen eher im quantitativen Bereich (Müller et al. 2007 2 ). Im Kind, das mit zwei Erstsprachen aufwächst, finden wir den lebenden Gegenbeweis gegen die Schwellenhypothese. Vor zwei Jahren, als in baden-württembergischen Grundschulen Englisch in der ersten Klasse eingeführt wurde, habe ich vor Eltern und LehrerInnen einen Vortrag über Mehrsprachigkeit gehalten. In der Diskussion fragte ein Vater, dessen Erstsprache Englisch ist, was er tun soll, wenn seine kleine bilinguale Tochter ihn fragt, wie etwas auf Englisch geschrieben wird. Ich hatte noch nicht den Mund aufgemacht, um die Frage zu beantworten, als sich eine Lehrerin zu ihm umdrehte und ihm mit erhobenem Zeigefinger sagte: „Das dürfen Sie ihr nicht zeigen.“ Offensichtlich ist die Sorge, Kinder durch potentiell widersprüchlichen Input zu verwirren, groß. Aber warum? Der Konflikt zwischen apple und Apfel macht Lerner nicht irre, sondern lässt sie nach Lösungen eines Problems suchen. Gleiches gilt für die Details des Plurals oder des Genussystems. Auch die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 126 Der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen: Was für noise it makes? Konfrontation mit zwei Schreibsystemen dient - umso mehr, wenn das Kind danach fragt! - der Stärkung der metasprachlichen Kompetenz. Ich hatte an jenem Vortragsabend zufällig eine Folie mit einem von einem siebenjährigen Jungen getippten Text dabei. Der Junge war mit Deutsch und Englisch als doppelten Erstsprachen aufgewachsen. Er hatte gerade auf Deutsch schreiben gelernt und brachte sich nun selbst das Lesen und Schreiben auf Englisch bei. Unten sehen Sie den Text, den er mit zwei Zeigefingern auf der Computertastatur seines Vaters verfasste. Ich gebe ihn mit den Zeilenumbrüchen des Originals wieder; auch die Satzzeichen und Anführungsstriche waren im Ursprungstext. Ich nummeriere allerdings die Zeilen, um später darauf verweisen zu können. 1 Daddy broht mi in de aftrnun tu mei Tennis lesesens. 2 After 1 auer hi did pick mi ap. 3 Den yie did dreif tu Daddys office. 4 In de Kar ei did ask Daddy yen mam wud kam. 5 Daddy sad: „Schi genne koll as ap.“ 6 Denn yie yor in Daddys office. 7 Denn i did reit dis letter 8 End Wollen Sie sich schon einmal an einer Analyse versuchen? Einige Anregungen dazu folgen nach den Literaturtipps. Weiterführende Literatur Viele praktische Vorschläge finden sich in den Ratgebern von Montanari (2002, 2004 4 ). Ihr Buch „Mit zwei Sprachen groß werden“ gibt es inzwischen auch auf Spanisch (Ediciones ceac). Für deutsch-französische Familien empfiehlt sich Kielhöfer & Jonekeit 1983; vgl. Tracy & Gawlitzek-Maiwald (2000) für einen allgemeinen Forschungsüberblick; in Müller et al. (2007 2 ) und Anstatt (2007) werden aktuelle Forschungsfragen diskutiert. Weskamp (2007) fasst neurowissenschaftliche, linguistische und pädagogische Aspekte zusammen. Hinweise für die Analyse des schriftlichen Textes oben: Chris nutzt das Deutsche als Lautschrift für das Englische. Hier nur einige der klarsten Entsprechungen: me/ he/ she mi/ hi/ schi; to; afternoon tu, aftrnun; up/ us ap/ as; my/ I mei/ ei; hour auer, drive, write dreif, reit; Mom mam, call koll, would wud; brought broht. Wo es keine nahe liegende deutsche Entsprechung gibt, findet er einen interessanten, „exotischen“ Ersatz, vgl. Zeile 3, 4, 6: we yie, when yen, we were yie yor. Interessant ist auch seine Verwendung von did zur Markierung der Vergangenheit in 2, 3, 4, 7. Er versucht sich hier in einem Stil, den er für schriftsprachlich hält. Ach ja, er weiß auch schon, dass es im Englischen andere Regeln der Großschreibung gibt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 6 Deutsch als Zweitsprache Einstieg und ein nicht leichter Überblick Erinnern Sie sich an meine kleine Froschgeschichte aus Kapitel 2? Es ging um einen Frosch, der auf eine Fliege wartet und für den Notfall plant, eine Prinzessin zu küssen (vgl. S. 39). Hier kommt eine Variante der Geschichte. Sie ist - von mir - frei erfunden, aber sowohl hinsichtlich der Pointe als auch der Ausdrucksweise könnte sie von Vincente, dem erfolgreichen Besitzer einer Pizzeria, stammen, den ich in Kapitel 3 erwähnt hatte. De Frosch sitze unter Blatt von Seerose. Viele Tage er haben gewartet dass Prinzessin komme zu seine Teich mit Ball. Was tun? Arme hungrige traurige Frosch warten viele viele Tage. Dann Frosch denken isse absolute Notfall, dann ich musse fangen Fliege. Vincente hat als Erwachsener Deutsch gelernt. Er ist erfolgreicher Geschäftsmann, so gut integriert wie möglich, und wenn er diese Geschichte wirklich erzählt hätte, wäre er mindestens von denen verstanden worden, die das echte Märchen vom Froschkönig kennen. Was in dieser Geschichte fehlt, ist nicht nur die Prinzessin: Wir vermissen die Satzklammer und einiges andere Beiwerk deutscher Sätze. Ich komme gleich noch einmal auf diese Passage zurück. An dieser Stelle möchte ich schon einmal eine Frage stellen, die uns in diesem Kapitel immer wieder beschäftigen wird: Wie sieht es mit Kindern aus? Wie früh müssen sie Deutsch hören, um diese Geschichte anders zu erzählen? Mit anderen Worten: Wie jung muss ein(e) Zweitsprachlerner(in) bei Beginn des Erwerbs sein, damit sich ihre oder seine Grammatik noch so entwickeln kann, dass das Ergebnis dem Erstspracherwerb, den ich in den vorangegangenen beiden Kapiteln skizziert habe, möglichst nahe kommt? Im Mittelpunkt dieses neuen Kapitels steht ein Spracherwerbstyp, bei dem eine Sprache erst hinzutritt, nachdem die Erstsprache(n) schon „im Rennen“ ist bzw. sind. Wo genau die Grenze zwischen Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb verläuft, wird noch kontrovers diskutiert. Es gibt im Moment noch nicht genügend wissenschaftliche Studien, die diese Frage eindeutig klären könnten (vgl. die Aufsätze in Anstatt 2007). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 128 Deutsch als Zweitsprache Man sollte in diesem Zusammenhang mindestens drei Dinge auseinander halten: das Lebensalter zu Beginn des Kontakts mit einer weiteren Sprache (dies ist in den meisten Fällen noch relativ einfach zu bestimmen, wenn man auf biographische Daten zurückgreifen kann), das Ergebnis des Erwerbsprozesses, also das Sprachwissen und die Fähigkeit, es einzusetzen, sowie den Erwerbsverlauf. Wenn Sie also in der Forschungsliteratur Aufsätze finden mit einem Titel wie „Deutsch als frühe Zweitsprache: zweite Erstsprache? “ (vgl. Thoma & Tracy 2006), so werden dabei eigentlich (in diesem Fall sehr bewusst und in provokativer Absicht) mehrere Aspekte (Alter, Verlauf und/ oder Ergebnis) vermengt. Halten wir an dieser Stelle für uns Folgendes fest: Es ist einerseits durchaus sinnvoll, vom Erwerb einer zweiten/ weiteren Sprache zu sprechen, wenn der Erstspracherwerb schon einen gewaltigen Vorsprung hat, z. B. 2-3 Jahre; aber andererseits müssen wir uns darauf gefasst machen, dass der Erwerbsverlauf und das schlussendliche Ergebnis dem Erstspracherwerb immer noch erstaunlich ähnlich sein können. Nun, darauf, dass die Frage nach der Vergleichbarkeit von Spracherwerbsprozessen und dem Ergebnis nicht immer einfach zu beantworten ist, waren Sie sicher bereits vorbereitet. Denken Sie in diesem Zusammenhang auch noch einmal an meine viel strapazierte Metapher, das Bild vom Sprachpaket mit seinen vielen Schichten. Während sich L1-Lerner(innen) alle Schichten erfolgreich erschließen, wenn ihnen entsprechende Informationen in ihrer sprachlichen Umgebung angeboten werden, fällt es mit zunehmendem Alter schwerer, das gesamte Paket so „auszupacken“, wie es die Zielsprache eigentlich verlangt. Einige Ebenen sind davon besonders betroffen, zum Beispiel die Lautung und die melodischen und rhythmischen Eigenschaften von Sprachen (also ihre Phonologie), während anderes Sprachwissen, vor allem nicht-phonologische Aspekte des Lexikons, auch in späteren Jahren noch gut erwerbbar sind. Diese Diskussion über den so genannten „Altersfaktor“ und über sich allmählich schließende „biologische Fenster“ ist bei weitem noch nicht abgeschlossen (vgl. Birdsong 1999, Sorace 2003, Meisel 2007, Nitsch 2007). Als Laie kann man aus diesen Kontroversen trotz einer gewissen Enttäuschung über fehlende handfeste Ergebnisse vielleicht auch eine tröstliche Lehre ziehen: Offensichtlich ist auch bei erwachsenen Zweitsprachlernern ein hoher Beherrschungsgrad prinzipiell möglich, wenngleich eher die Ausnahme. In der Regel kommt es zu dem, was man in der Forschung als „Fossilisierung“ bezeichnet: grammatische Phänomene erreichen ein Plateau, von dem man sich nur sehr schwer wegbewegen kann (vgl. Klein 2000). Wie schon mehrfach betont: Weder die Kommunikation - und schon gar nicht die Integrationsfähigkeit! - werden davon beeinträchtigt, ob das deutsche Verb etwas weiter rechts oder links steht oder ob die Flexion bis ins letzte Detail stimmt. Warum ich nicht müde werde, diesen Punkt zu unterstreichen? Wir müssen in unserem Bildungssystem dreierlei tun: © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einstieg und ein nicht leichter Überblick 129 (a) Bedingungen schaffen, damit sich die angeborene Sprachfähigkeit unserer Kinder, und zwar aller Kinder, besser entfalten kann; (b) erreichen, dass Sprache auch unter Kindern zum spannenden Thema wird, u. a. damit metasprachliche Fähigkeiten, der kindliche Erwartungshorizont, besser genutzt werden können, um sich neue Sprachen zunehmend bewusster zu erschließen und „Fossilien“ in der eigenen Lernergrammatik zu entdecken; (c) die sprachliche Form von Lernersprachen und die Inhalte bewusster trennen, damit nicht ungewollt mit einer sicher wohlgemeinten Kritik an der Sprachform der Blick auf die inhaltliche Kreativität, Wissbegierde etc. verloren geht. Diesen letzten Aspekt, eigentlich ein elementarer Grundsatz pädagogischen Handelns, der in Bezug auf Sprache leider immer wieder verloren geht, werde ich vor allem im 8. Kapitel noch einmal ansprechen. Exkurs Weltweit lehren an Universitäten in philologischen Fächern ProfessorInnen, welche die jeweilige Sprache, um die es in ihrem Fach geht, nicht als Erstsprache erworben haben. Auch wenn sie vielleicht (! ) im Hinblick auf ihre grammatischen Intuitionen mit einem Muttersprachler weitgehend mithalten können, werden sie meistens noch an ihrer Aussprache oder anderen, vielleicht eher pragmatischen Auffälligkeiten, als Nicht-Muttersprachler erkennbar sein. Man sollte ihre fachliche Qualität als Literatur-, Kultur- oder Sprachwissenschaftler nicht aufgrund eines „Akzents“ in Zweifel ziehen. Hier noch ein kleiner weiterer (nicht ganz ernster) Gedankenanstoß Stellen Sie sich vor, wir würden folgendem Vortrag eines italienischen oder kanadischen Physikers lauschen, der gerade einen bedeutenden Wissenschaftspreis in Empfang genommen hat: „Das Mars-Mission wieder hat gezeigt die Bedeutung der Weltraumforschung. Endlich wir haben gefunden Spuren von anderes menschenähnliches Existenz. Gestern das Mars-Sonde hat photographiert eine eindeutige Brief geschrieben von Marsmenschen. Heute morgen Linguisten über die ganze Welt haben mitgeteilt uns was war geschrieben: „Auch ohne die deutsche Satzklammer seid Ihr uns herzlich willkommen! “ Meinen Sie, es gäbe Beschwerden über die Form dieser Rede? Weiterhin üblich ist auch eine Unterscheidung von natürlichem Zweitspracherwerb (im Idealfall durch direkten Kontakt mit MuttersprachlerInnen, man denke hier an die Situation der früheren „GastarbeiterInnen“ in Deutschland (vgl. Klein & Dittmar 1979, Clahsen et al. 1983) und gesteuertem Zweitspracherwerb durch Kurse oder Fremdsprachenunterricht an der Schule. Diese Unterscheidung ist © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 130 Deutsch als Zweitsprache im ersten Anlauf vielleicht hilfreich, wird aber der Realität nicht gerecht. Wir finden hier ähnlich komplexe Zusammenhänge, wie wir sie auch schon bei den Erwerbsbedingungen für den doppelten Erstspracherwerb gesehen haben. Unser Kontakt mit einer Sprache muss nicht auf bestimmte Unterrichtskonstellationen beschränkt bleiben, und man kann, wie bilinguale Schulmodelle seit vielen Jahren zeigen, Fachunterricht und Sprachenlernen gut miteinander verknüpfen (vgl. Weskamp 2007). Genau dies (Vernetzung von Fachinhalten nichtsprachlicher Fächer und Fremdsprache(n), aber auch Vernetzung aller Fächer mit sprachlichem Schwerpunkt) ist eigentlich auch als durchgängiges Prinzip bei der Unterstützung des Deutscherwerbs im schulischen Kontext anzustreben: Sinnvolle Deutschförderung hat wenig Chancen, wenn sie auf isolierte Unterrichtseinheiten, z. B. das Schulfach Deutsch, beschränkt bleibt. Sie muss zur Querschnittsaufgabe werden, und dies bedeutet auch, dass sich alle Lehrer fragen müssten, welche sprachlichen Kompetenzen - z. B. sowohl fachsprachlicher als auch allgemeiner, fachübergreifender Wortschatz - besonders früh beherrscht werden sollten, damit Kinder dem Unterricht in ihrem Fach folgen können, und wie man diesen Erwerb gezielt und fachübergreifend unterstützen kann. Die grundlegende Architektur deutscher Sätze, auf die sich Lerner(innen) beim Verstehen stützen - wie Sie im Falle des Baler-Exempels in Kapitel 2 gesehen haben - bleibt ja glücklicherweise gleich! Obwohl der Erwerb einer Zweitsprache (künftig: L2-Erwerb) bei Erwachsenen hier nicht im Mittelpunkt steht, eignet er sich recht gut als Hintergrundsfolie für unsere nachfolgende Diskussion des kindlichen L2-Erwerbs. Denn selbst falls Sie - eventuell als jemand, der oder die das Deutsche als L2 erfolgreich gemeistert hat - mein einleitendes Frosch-Beispiel für übertrieben hielten, werden Sie vielleicht einige Aspekte der Geschichte als ganz typische Fallstricke des Deutschen wiedererkannt haben. Hinsichtlich der Grammatik sehen wir an dieser Geschichte vor allem Folgendes: 1. Verben sind nicht richtig flektiert (gebeugt): Viele Tage er haben gewartet dass Prinzessin komme zu seine Teich mit Ball. […] ich musse … 2. Es gibt keine V2-Position, das Verb erscheint an dritter Stelle: Viele Tage er haben gewartet … 3. Es gibt keine rechte Satzklammer, d. h. keine VE-Position, wie man an der Stellung des Infinitivs fangen sehen kann: … ich musse fangen Fliege. 4. Folglich tritt auch das Verb des Nebensatzes nicht am Ende auf: Viele Tage er haben gewartet dass Prinzessin komme zu seine Teich mit Ball. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einstieg und ein nicht leichter Überblick 131 Diese Merkmale wurden, mal in stärkerer oder schwächerer Ausprägung, in vielen Studien zum Erwerb des Deutschen durch Erwachsene nachgewiesen (Dimroth 2002, 2007, Müller et al. 2007 2 , um nur einige zu nennen). Tun Kinder nichts dergleichen? Auch bei einsprachigen Kindern kann man manchmal nicht-flektierte Verben in der V2-Position, Verbdrittstellungen oder auch abweichende Nebensätze finden. Aber diese Abweichungen fallen von der Häufigkeit her kaum ins Gewicht, und sie verschwinden verhältnismäßig schnell wieder. Es handelt sich um Übergangsphänomene, kleinere Turbulenzen, die denen vergleichbar sind, die ich in Kapitel 4 beschrieben habe. Gleiches kann man auch für den doppelten Erstspracherwerb feststellen, wo es durch die gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen zwischenzeitlich zu auffälligen Satzmustern kommen kann (vgl. Müller et al. 2007², Döpke 2000). Aber bei erwachsenen L2-Lernern, die sich das Deutsche ohne fachliche Anleitung aneignen - also ohne hilfreiche Tipps wie die Anweisung zum „Zählen im Deutschen“ von H. Dörr in Kapitel 2 (S. 39), nämlich eins, Verbzweit, drei, vier … -, erweisen sich solche von der Grammatik des Deutschen abweichenden Strukturen als recht stabil. Wohlgemerkt: Die Kommunikation (oder gar Integration) muss darunter in keinster Weise leiden. Als kooperative Zuhörer und Zuhörerinnen verstehen wir unsere jeweiligen GesprächspartnerInnen ja auch so problemlos! Bei den Kindern, auf die ich in Kürze eingehen werde, finden wir ebenfalls hin und wieder Strukturen wie in (1), in denen der Infinitiv nicht am Satzende auftritt oder die Verben noch nicht zielsprachlich gebeugt werden. (1) Tea 3; 11 Wir mussen alle aufmachen das Aber diese abweichenden Muster fallen bei jüngeren L2-Lernern statistisch kaum ins Gewicht. Offensichtlich gelingt es ihnen besser als Erwachsenen, manche Fußangeln der deutschen Grammatik vollkommen zu vermeiden oder aber sie „stillschweigend“ (ich erinnere an die „stille Phase“ von S. 86) und schnell hinter sich zu bringen. Exkurs Ein kurzes Intermezzo für Neugierige in Sachen „Fußangeln“! Wenn wir einen Moment über deutsche Sätze nachdenken, kann es eigentlich nicht einmal überraschen, dass in Lernersprachen Strukturen auftauchen, wie ich sie in der Froschgeschichte illustriert habe. Sie werden sich daran erinnern, dass ich wiederholt vom „Aufräumen“ deutscher Sätze gesprochen habe. Dabei habe ich meine Beispielsätze etwas unzulässig „geschönt“. Ich habe - sozusagen - einige Fransen an den Satzrändern „unter den Teppich gekehrt“. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 132 Deutsch als Zweitsprache V2 Bisher haben wir wie diese Kinder einiges unter den Sprach-Teppich gekehrt Am Satzrand können schon mal Wörter oder Wortgruppen erscheinen, die - von links aus betrachtet - später wieder im Satz aufgegriffen werden, z. B. durch ein Pronomen wie der in (2). Ebenso können Elemente am rechten Satzende angelagert werden, manchmal als erläuternde Nachschübe, vgl. (3). In der Umgangssprache sind solche Doppelungen sehr häufig. (2) [Der Frosch,] der hat sich ganz schön fett gefressen. (3) Der hat sich ganz schön fett gefressen [, der Frosch]. Aber auch andere Elemente können links vor dem Vorfeld stehen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Dies betrifft sogar weil in der Bedeutung von denn, weswegen ich es gleich dazu sortiert habe. (4) Vor dem Vorfeld Vorfeld Satzklammer Denn/ Weil dann hat er eine Fliege … Aber/ Sondern dann hat er … Und/ oder dann hat er … Man beachte auch, dass das, was da vor dem Vorfeld auftauchen kann, wie denn, sich manchmal akustisch nicht besonders gut von dem unterscheidet, was danach im eigentlichen Vorfeld auftaucht (z. B. dann, dennoch). Denken wir weiterhin an mögliche Sätze wie Auch Peter isst gerne Erdbeeren. Nur/ allein Moritz war verantwortlich. In der Mittagspause im Garten fand Max …, d. h. Strukturen, bei deren Analyse man sich ebenfalls nicht durch oberflächliche „Störfaktoren“, hier also zusätzliche Wörter, ablenken lassen darf, auch nicht durch verstärkende Partikeln wie beispielsweise in der Hund da hat mich gebissen. Lerner sollten also früher oder später trotz verwirrenden Sprachangebots dazu © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Einstieg und ein nicht leichter Überblick 133 in der Lage sein, solche Sätze wie in (5) gezeigt zu analysieren. Um bei unserem alten Brötchen-Bild zu bleiben: Lerner müssen entscheiden, welche Brötchensorte (Wörter, Wortklassen, Wortgruppen) in welchen Korb (Positionen vor dem Vorfeld, Vorfeld selbst, V2 etc.) gehört. (5) Vor dem Vorfeld Vorfeld Satzklammer [Auch Moritz] hat … gelacht [Nur Moritz] war … [Der Hund da] hat … [Der Max,] der hat … Schließlich müssen wir am rechten Rand unseres Satzteppichs hinter der rechten Satzklammer auch noch ein Nachfeld berücksichtigen, in das wir Satzteile „ausklammern“ können, wie das nachgeschobene der Frosch in meinem Beispiel (3) oben. In den folgenden Beispielen habe ich in (6)(a) einen Relativsatz (die er erlebt hat) von seinem Bezugswort (Geschichte) weggeschoben, in (6)(b) eine von einer Präposition eingeleitete Wortgruppe (mit der Blume). (6) Satzklammer Nachfeld (a) Der Mann hat mir die Geschichte erzählt, die er erlebt hat. (b) Ich hab den Mann erkannt mit der Blume. Was bedeutet dies für das Sprachenlernen? Da diese Wortstellungen in der Alltagskommunikation verbreitet sind, können sie Lerner gut in die Irre leiten, und zwar vielleicht gerade dann, wenn man als Erwachsener sehr bemüht ist, möglichst viel vom Input aufzunehmen und zu verstehen. Erwachsene L2-LernerInnen verfügen schließlich in ihren bisher erworbenen Sprachen sowohl über die Kompetenz (das Sprachwissen) als auch über die Verarbeitungsstrategien, um mit langen Strukturen und vielen Details umzugehen. Eben dies kann ihnen beim Zweitspracherwerb zum „Verhängnis“ werden. Sie lassen sich leichter als Kinder durch oberflächliche Kleinigkeiten ihrer sprachlichen Umgebung ablenken. Aber auch bei den fehlgeleiteten Schlussfolgerungen des Erwachsenen lässt sich viel Systematik und eine klare Annäherung an die jeweilige Zielsprache erkennen. Lerner und Lernerinnen zeigen uns also im Grunde recht deutlich, in welchen Bereichen geschickt aufbereitetes Sprach- und Unterrichtsangebot helfen könnte, ihrer Grammatik neuen Schwung zu verleihen und Fossilisierungstendenzen entgegen zu wirken. Aber wenden wir uns nun der viel spannenderen Frage zu: Was machen Kinder beim frühen L2-Erwerb? Lassen sie sich auch in die Irre führen? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 134 Deutsch als Zweitsprache Deutsch als frühe Zweitsprache oder: Schneller geht’s kaum! Ich werde auf den nächsten Seiten die Frage beantworten, ob sich Kinder, wenn sie früh mit dem Deutschen in Kontakt kommen, ebenso verhalten, wie wir es bei Erwachsenen gesehen haben. Dabei konzentriere ich mich auf diejenigen Eigenschaften deutscher Sätze, die wir in den vergangenen Kapiteln immer wieder betrachtet haben: die Satzklammer, die Übereinstimmung zwischen Subjekt und Verb. Auf den Wortschatz gehe ich dabei nur insofern ein, als er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Architektur des Satzes steht. Wer sich über den Erwerb des deutschen Wortschatzes durch türkischsprachige Kinder informieren möchte, findet einen Überblick in Jeuk (2003). Wie verhalten sich nun Kinder, die zum ersten Mal im Alter von drei bis vier Jahren Gelegenheit zum Deutscherwerb erhalten? Wie viel Zeit benötigen sie, um sich die Satzklammer und die dazu gehörenden Zutaten (z. B. die Verbflexion) anzueignen? Dabei müsste man natürlich den Faktor, den ich hier nicht ganz ernst als „Belichtungszeit“ bezeichne, genauer untersuchen. Wie häufig treten bestimmte Konstruktionen im Sprachangebot tatsächlich auf, wie variationsreich und grammatisch ist der Input? Hören die Kinder überhaupt zu? Um dies zu ermitteln, müsste man ein Kind eigentlich mit einem Mikrofon ausstatten, das alles aufnimmt, was ihm potentiell an Umgebungssprache zur Verfügung steht. Aber auch dadurch wüssten wir noch nicht, was ein Kind tatsächlich aufnimmt oder versteht. Das ließe sich letztlich nur in einem experimentellen Rahmen untersuchen. Gemeinsam mit einer Heidelberger Kollegin (Erika Kaltenbacher) und einem kleinen Forschungsteam konnte ich vor einigen Jahren eine Langzeitstudie durchführen, die sich zwar nicht dem Sprachangebot der Kinder widmete, aber die Entwicklung der produktiven Verwendung des Deutschen bei den Kindern selbst untersuchte (vgl. dazu Thoma & Tracy 2006). Das Projekt hieß „Zweitspracherwerb in der Kindheit unter besonderer Berücksichtigung der Migration“ und wurde von 2003 bis 2005 vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg finanziert. Wir haben dabei acht Kinder mit unterschiedlichen Erstsprachen (Arabisch, Russisch, Türkisch) ein Jahr lang regelmäßig, d. h. alle zwei Wochen, auf Tonband aufgenommen und hin und wieder gezielt kleinere Tests durchgeführt. Die Verhältnisse in den Familien waren vergleichbar. In allen war die Erstsprache auch Familiensprache, und zwar auch dort, wo ältere Geschwister vorhanden waren. Die Deutschkenntnisse der Eltern waren, bis auf den Fall eines Vaters, gering. Mithilfe von Muttersprachlerinnen - Studierenden der Universitäten Mannheim und Heidelberg - konnten wir mit den Kindern mehrere Aufnahmen in ihren Erstsprachen machen und so sicher stellen, dass der Erwerb ihrer Erstsprache keine Auffälligkeiten aufwies, also keine Sprachentwicklungsstörung vorlag. Die Aufnahmen in den Erstsprachen fanden bei den Kindern zuhause statt, die in der Zweitsprache Deutsch in einem separaten Raum der Kindertagesstätten, der uns © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder 135 freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Am Rande dieser Aufnahmen in den Kitas konnten wir auch einen Eindruck vom Sozialverhalten der Kinder gewinnen. Die Kinder besuchten unterschiedliche Einrichtungen im Raum Mannheim-Heidelberg, die sich alle durch große Sprachenvielfalt auszeichneten. Unter den Kindern der Kitas setzte sich so das Deutsche als gemeinsame Verkehrssprache auf ganz natürliche Weise durch. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder mit Russisch, Türkisch und Arabisch als Erstsprache Ronja, ein kleines Mädchen mit Russisch als L1, kam im Alter von drei Jahren gemeinsam mit ihrer ein Jahr älteren Schwester in den Kindergarten. Keines der beiden Mädchen konnte Deutsch. Ronja sprach anfangs generell sehr wenig, kam aber in ihrer Kindergruppe gut zurecht. Nach einigen Wochen im Kindergarten, im Alter 3; 1, produzierte sie folgende Äußerungen, die ich hier nur als Liste aufführe und kurz kommentiere: (a) Einwortäußerungen (b) Verblose Strukturen mit auch: da auch des da (c) Sätze mit Verben am Ende: ich nich maln, ich aufräumen (d) Formelhafte Vorläufer von V2: [wose] Mama, darunter ein erstes zielsprachliches ich räum auf (e) Vereinzelt Verben in V2, die nicht zielsprachlich gebeugt sind: ich essen schon Dieses Strukturspektrum lässt den Schluss zu, dass Ronja Meilenstein II erreicht hat und bereits ein gewisses Gefühl für Stellungsvarianten von Verben entwickelt hat, wie man aufgrund der Verfügbarkeit von sowohl ich aufräumen als auch ich räum auf vermuten kann. Allerdings: Aufgrund einzelner Belege wie ich räum auf kann man nie tragfähige Aussagen darüber machen, ob eine bestimmte Struktur schon „geknackt“ oder lediglich wie ein komplexer lexikalischer Ausdruck (ich erinnere an Sieben Bier bitte! ) im Gedächtnis gespeichert wurde. Daher habe ich die Äußerung ich räum auf vorsichtshalber - und vielleicht zu konservativ! - bei den formelhaften Äußerungen einsortiert. Bereits vier Monate später, im Alter 3; 5, hat sich das Strukturspektrum erheblich verändert. Die Strukturen sind nicht nur länger, sondern sie lassen auch ganz klar die wichtigsten Merkmale deutscher Sätze erkennen: © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 136 Deutsch als Zweitsprache (7) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE a. Warum hast du des? b. Wenn gehen wir in der Gruppe? c. Jetzt geh ich meine Gruppe d. Dann muss man des anmal e. Die Stiefel hascht du geangelt f. Ein Blume hat ich gemacht g. In d ә Gruppe hab ich dies gespiel Ronja kann nun semantisch vollständige Sätze produzieren, d. h. solche, in denen ein Verb mit allen seinen Mitspielern auftaucht. Sie hat die beiden Verbpositionen (V2 und VE) erkannt, und sie weiß, dass die Verben, die in der V2- Position stehen, mit dem Subjekt übereinstimmen müssen (ich hab, du hast, ich geh, wir gehen, man muss). Sogar hat ich ist völlig in Ordnung, wenn man es als verkürztes hatte ich interpretiert. Der Vergleich von (a) und (e) zeigt auch, dass sich Ronja gleichzeitig mehrere Varietäten des Deutschen aneignet: hast und die dialektale Entsprechung hascht. Sie weiß auch, dass im Vorfeld viele unterschiedliche Elemente stehen können: in (a) Fragewörter (warum), in (c) und (d) Adverbien (jetzt, dann), in (e), (f), (g) andere Mitspieler des Verbs außer dem Subjekt: die Stiefel, ein Blume, in d ә Gruppe. Deutlich sehen wir auch, was noch zu tun bleibt: Ronja verwendet in (b) wenn anstatt wann - aus nahe liegendem Grund: Hier spielt die Ähnlichkeit der Wortform eine Rolle. Sie kämpft mit dem Kasus und dem Genus (ein Blume). Der neutral klingende Artikel von d ә Gruppe in (g) maskiert dies geschickt. Man beachte übrigens, dass das in der Gruppe in Beispiel (b) bei einem anderen Verb als Ortsangabe verstanden (z. B. ich bin in der Gruppe, ich warte/ spiele in der Gruppe) völlig ok wäre; lediglich bei einer Richtungsangabe, die bei gehen benötigt wird, haut es mit dem Akkusativ nicht hin. Aber auch ohne diese Details sind alle Sätze perfekt verständlich. Nebenbei bemerkt: In Ronjas Erstsprache Russisch gibt es keine Satzklammer und keine Artikel. Sie verwendet also hier schon Strukturen und Wortklassen, die ganz typisch für ihre Zweitsprache sind und für die ihr die Erstsprache keine Basis zur Verfügung stellt. Das Russische hat allerdings ein sehr ausgefeiltes System von Kasusmarkierungen, die direkt am Substantiv gekennzeichnet werden. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder 137 Die Entwicklung der Verbstellung lässt sich recht gut graphisch verdeutlichen. Die oberste Kurve zeigt die relative Häufigkeit sämtlicher Verben; dann alle Verben in der V2-Position, danach alle gebeugten Verben in V2 und schließlich alle völlig korrekten Formen. (8) Entwicklung der V2-Position bei Ronja Am Anfang gibt es wenige Verben, und nur einige können als V2-Verben analysiert werden (ich räum auf, ich essen schon); außerdem sind nicht alle Verben in V2 richtig gebeugt (ich essen schon). Das ändert sich dann ab dem dritten Monat rasant: Nicht nur steigt die Anzahl der Verben kontinuierlich an, sondern die zunächst nicht völlig deckungsgleichen Verläufe von V2, V2 finit (= gebeugt) und V2 finit+ (= richtige gebeugte Form), verschmelzen zu einer einzigen Kurve. Schließlich, nach acht Monaten Kontaktzeit, finden wir Ronjas erste Nebensätze. Einen davon hatte ich bereits im ersten Kapitel zitiert - Beispiel (4) auf Seite 2 -, daher hier nur ein weiterer Beleg: (9) 3; 9 ich will nicht wasch du hascht gewinne Was Ronja hier wohl sagen will, ist: ich will nicht, dass du gewinnst; d. h. wasch ist hier eine Art von Platzhalter, sicherlich modelliert nach dem was der Erwachsenensprache. In dieser konkreten Äußerung haben wir es möglicherweise auch noch mit einem Antizipationsversprecher zu tun (hascht wasch). Die Verbstellung des Nebensatzes ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollkommen zielsprachlich. Aber auch bei anderen Kindern, beim doppelten Erstspracherwerb (Ivar in Müller 1993) wie beim einsprachigen Erstspracherwerb, kann es am Anfang des Nebensatzerwerbs vergleichbare Abweichungen geben © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 138 Deutsch als Zweitsprache (vgl. Benny in Fritzenschaft et al. 1990). Nicht zu vergessen: Wir sprechen hier über die allerersten Nebensätze, die für Ronja überhaupt dokumentiert wurden, und zwar nach acht Monaten Erwerbsgelegenheit. Bemerkenswert ist zudem, dass Ronja nach einem halben Jahr in der Kita beginnt, auch mit ihrer Schwester mehr und mehr Deutsch zu sprechen. Rascha, das zweite Mädchen mit Russisch als Erstsprache, kommt mit etwa 3; 6 in den Kindergarten. In der Familie, in der es noch einen jüngeren Bruder gibt, wird Russisch gesprochen. Rascha ist ein sehr zurückhaltendes und scheues Kind, das im Kindergarten anfangs viel alleine spielt und von sich aus keine Anstalten macht, andere anzusprechen. Bei ihr fanden wir wenige Wochen nach Eintritt in den Kindergarten im Alter von 3; 7 folgende Strukturen: (a) Einwortäußerungen, Kombinationen von Artikeln oder Adverbien und Substantiven: ein Buch, ein Maus, da Wasser (b) einige, aber sehr wenige Strukturen mit Verben am Ende: da viel Apfel essen (c) viele Kombinationen mit Partikeln wie auch, noch: ein Bärche … noch ein Bärche, Natalja noch Banane, Celine auch heute Geburtstag Mama (von uns aufgrund des Kontextes verstanden als „Celines Mama hat auch (heute) Geburtstag“. (d) Platzhalter, formelhafte Ausdrücke: [mamal] spazieren da, noch [mama] banane da, von uns interpretiert als V2-Vorläufer von „mach mal“, da keine Mutter/ Mama anwesend oder im Gespräch war. Fünf Monate später - Rascha ist nun 4; 2 - treten weitere formelhafte Strukturen hinzu, die zunächst auf ganz bestimmte Verben beschränkt bleiben: ich will Eier, ich will noch ein Spiel. Auffallend ist, dass sie sich nicht nur mit den Verben, sondern auch mit ihrer Form eher schwer tut. So produziert sie folgende Äußerungen, die alle in Situationen fallen, in denen es um Ereignisse geht, die noch nicht stattgefunden haben: ich will malt, das is abmalt, jetzt mamavogel malt. Erst als Rascha etwa viereinhalb Jahre alt ist, produziert sie überwiegend zielsprachliche Äußerungen, vgl. (10), mitsamt korrekt gebeugter Verben. (10) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE a. ’d (= das) ka- - ma nit maln b. warum steht nicht c. die passen auch hier d. die passt dort © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder 139 Im Vorfeld können außer dem Subjekt unterschiedliche Elemente auftreten: in (a) sehen wir ein direktes Objekt, in (b) ein Fragewort (wobei in diesem Satz das Subjekt fehlt). Obwohl Ronja und Rascha die gleiche Erstsprache (Russisch) teilen, benötigt Rascha mehr Zeit, bevor die vollständige Satzklammer in ihren Äußerungen zu erkennen ist. Die folgende Grafik gibt diese Entwicklung wieder. (11) Entwicklung V2-Position bei Rascha Die Graphik zeigt, dass Raschas Verbwortschatz lange Zeit auf einem niedrigen Niveau verharrt und dass auch die Werte für V2 entsprechend niedrig bleiben. Aber was heißt „lange“? Ein Jahr ist immer noch ein hervorragendes Ergebnis und stimmt auch mit dem überein, was Kroffke & Rothweiler (2006) und Rothweiler (2006) in ihrer Hamburger Studie mit türkischsprachigen Kindern finden. Halten wir schon einmal Folgendes fest: Zwei Kinder gleicher Erstsprache durchlaufen zwar einerseits ähnliche Entwicklungen, aber in einem Falle wesentlich langsamer als im anderen. Es gibt auch unterschiedliche Vorlieben für bestimmte Formen, vgl. Raschas ich will malt. Es scheint ihr schwerer zu fallen als Ronja, die Abhängigkeit von Verbformen voneinander (wollen verlangt einen Infinitiv, malen) zu finden. Auch das ist eigentlich angesichts der äußerlichen Ähnlichkeit von (ge-)malt (= Partizip) und malt (3. Person Singular) nicht allzu überraschend. Das Kind mit weniger Verben (Rascha) benötigt jedenfalls auffällig mehr Zeit für die Konstruktion der Satzklammer, was es nicht davon abhält, hin und wieder recht lange Sätze mit Partikeln zu produzieren (vgl. Celine auch heute Geburtstag Mama). © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 140 Deutsch als Zweitsprache Warum sollte es Rascha schwerer fallen als Ronja, ihren Verbwortschatz aufzubauen? Es ist natürlich möglich, dass sie grundsätzlich weniger Zugang zu deutschem Input hatte. Hinzu kommt aber, dass sie lange Zeit sehr schüchtern und zurückhaltend war. Wie wir bemerkten, begann sie von sich aus keine Unterhaltung, d. h. sie ging aus eigenem Antrieb nicht auf Erzieherinnen oder andere Kinder zu. Außerdem fand unsere Untersuchung zu einem Zeitpunkt statt, zu dem in Baden-Württemberg Sprachförderung noch nicht Teil der normalen Kita-Aktivitäten war. Aber ist das Ergebnis, Erwerb der Satzklammer und der dazu gehörigen Verbflexion im Zeitraum eines Jahres, nicht immer noch bemerkenswert? Ich erinnere daran, dass dies die Mehrheit der erwachsenen L2-Lerner nicht schafft. Bei dem dritten Kind, das ich hier vorstellen möchte, Ahu, handelt es sich um ein Mädchen mit tunesischem Arabisch als Erstsprache. Sie hat zwei ältere Geschwister, aber die Kinder untereinander und ihre Eltern sprechen zuhause Arabisch. Ahu ist, im Gegensatz zu Rascha, ein ausgesprochen kontaktfreudiges Kind, das von sich aus oftmals Gespräche beginnt. Am Anfang der deutschen Aufnahmen, im Alter 3; 5, produziert sie Äußerungen folgender Art: (a) Einwortäußerungen und erste Artikel-Substantiv-Kombinationen: ein Hund, ein Maus, ein [pus ә n] (= Luftballon), ein Tanzen (= Kleid) (b) Strukturen mit Verben am Ende: hier essen, Nutella essen, ein Vogel fliegen (c) Strukturen ohne Verben, aber z. T. mit Partikeln: ich auch Auto, ich [tInd ә gakI] (= Kindergarten) (d) formelhafte Äußerungen: das is Farbe, das is rot Dieses Spektrum entspricht ganz klar dem, was wir auch bei monolingualen Erwerbsverläufen vorfinden. Im Unterschied zu deutschsprachigen Kindern in frühen Erwerbsphasen (also zum Zeitpunkt von Meilenstein II) produziert Ahu sogar schon unbestimmte Artikel (ein) - und das, obwohl ihre Erstsprache Arabisch nicht über unbestimmte Artikel verfügt (nur über bestimmte). Drei Monate später, im Alter 3; 8, treten längere und qualitativ neue Strukturen in Erscheinung, vgl. das Schema in (12). Wie monolinguale Kinder, vgl. Kap. 4, produziert Ahu in einigen Äußerungen das gleiche Verb in beiden Satzklammern. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder 141 (12) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE a. der elefant geh disko geht b. hab nich angst habe c. ich hab kein platz mehr d. keine platz mehr hab ich hier e. die junge will prinzessin holen An Beispiel (a) sieht man sehr gut, dass Ahu nicht einfach nur das Kinderlied „Wenn der Elefant in die Disko geht“ wiedergibt, sondern es dem anpasst, was sie schon über die Struktur des Deutschen weiß: Im Hauptsatz braucht man in der zweiten Position ein Verb. Des Weiteren hat sie erfasst - dies erkennen wir an (c) und (d), ich hab kein Platz mehr und keine Platz mehr hab ich hier -, dass nicht nur Subjekte im Vorfeld stehen. Die folgende Grafik lässt die Geschwindigkeit, mit der sich der Erwerb der Satzklammer bei Ahu vollzieht, gut erkennen. Erste Nebensatzstrukturen finden sich bei ihr im Alter 4; 1. (13) Entwicklung der V2-Position bei Ahu Die letzte Fallstudie, die ich hier ansprechen möchte, verdanken wir Tea, einem Kind mit Türkisch als Erstsprache, das ich auch schon in Kapitel 1 mit einem komplexen Satz zitiert hatte (vgl. Beispiel (5) auf S. 2). Wie Ahu ist Tea ein © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 142 Deutsch als Zweitsprache ausgesprochen kontaktfreudiges Kind. Sie hat einen etwas älteren Bruder. In der Familie wird Türkisch gesprochen. Die Erzieherinnen berichten, dass Tea anfänglich, im Alter 3; 5, nur Einwortäußerungen produziert. Als wir - später als bei den anderen Kindern - mit unseren Erhebungen im Deutschen anfangen, hat sie die Satzklammer (leider! ) schon vollständig erworben, vgl. (14). (14) SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE a. wir haben tolles gspielt b. ich hab das genehmt c. wir mussen ein nehmen d. solln wir jetzt anderes spielen? Die folgende Grafik gibt diese Entwicklung wieder. (15) Entwicklung der V2-Position bei Tea Ergänzend finden Sie unten einige Gesprächsausschnitte von Tea im Alter 3; 11, die erkennen lassen, hinsichtlich welcher morphologischen Feinheiten noch Handlungsbedarf besteht: u. a. bezüglich der Details der Verbflexion und des Genus. In (16) sieht man, dass unmittelbar im Erwachsenensatz verfügbare © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder 143 Information nicht aufgegriffen wird. In (19) handelt es sich um eine Selbstkorrektur. (16) Beim Betrachten eines Bildes mit einem Hasen Erw. Was macht der denn? Tea was machst die? (17) Malszene Tea un eine HAse will isch\ […] Ja, Opa-Ei un ein Baby-Ei und Ei und eine Hase un eine Bruder-Hase Erw. Was für’n Hasen? Tea Bruder-Hase un ein Papa-Hase und Baby-Hase un Schwester-Hase (18) Erw. Wofür brauch ich den Regenschirm denn, Tea? Tea Ähm, wenn denn des rekt Erw Wenn’s regnet? Tea Ja (19) Tea sucht nach Puzzleteil wo bist der … wo ist der? Obgleich Tea zum Zeitpunkt der ersten Aufnahme im Deutschen über eine stattliche Anzahl von Verben verfügt, sie auch fast immer richtig platziert und flektiert, greift sie hin und wieder bei der Wahl der richtigen Form daneben (wie in Wo bist die Baby? Oder Was machst die? ). Abweichend sind vor allem unregelmäßige Verben, was eigentlich auch unserer Erwartung entsprechen würde. Im Alter 4; 1-4; 3, nach 9 Monaten Kontakt mit dem Deutschen, produziert Tea eine ganze Reihe von Nebensätzen. Die Wortstellung ist in den meisten Fällen zielsprachlich, d. h. das Verb steht am Ende, vgl. (20). (20) (a) wenn du dies gewürfelt hast (b) wenn denn des groß ist (c) bis der Mama fertig is Auch die weiteren Kinder unserer Studie, die ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefe, lassen ein ganz ähnliches Bild erkennen. Eines der anderen Kinder, ein Junge mit Arabisch als Erstsprache, ähnelt Rascha durch seinen langsamen Aufbau eines produktiven Verblexikons. Bei ihm kam noch ein zusätzlicher Faktor ins Spiel, da wir ihn meistens gemeinsam mit seinem etwas über ein Jahr älteren Bruder aufnahmen. In den ersten Wochen „verbat“ der Große dem Kleinen immer wieder, ihn auf Deutsch anszuprechen. Erst nachdem sich der ältere Bruder an unsere Besuche gewöhnt hatte und offensichtlich Spaß daran hatte, mit uns Deutsch zu sprechen, ließ er auch den kleineren Bruder häufiger © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 144 Deutsch als Zweitsprache zu Wort kommen, und dieser konnte dann nicht nur im Gespräch mit uns, sondern insgesamt in der Kita „auftauen“ und in seinem aktiven Sprachgebrauch aufholen. Diese Übersicht über eine kleine Anzahl von L2-Kindern zeigt, dass wir trotz kleinerer Unterschiede das gleiche Lernprogramm sehen: Alle Kinder finden treffsicher die rechte Satzklammer, entdecken die Partikel auch als wichtigen Pionier des Mittelfelds und greifen sich aus dem Sprachangebot bestimme Formeln als Vorläufer der linken Satzklammer heraus (vgl, wose, ma(ch)ma, da is). Die etwas langsamere Lernerin, Rascha, zeigt in Mehrwortäußerungen eine ausgeprägte Vorliebe für Partikeln des Mittelfelds (auch, noch), oftmals unter Verzicht auf Verben. Insgesamt beeindruckt der zielstrebige Erwerb der linken Satzklammer (insbesondere bei Ahu, Ronja und Tea). Interferenzen aus den Erstsprachen, die wir bei älteren Kindern beobachten, spielen anscheinend bei Kindern im Alter zwischen drei und vier Jahren keine wichtige Rolle. Für abweichende Hauptsätze (z. B. die folgende Verbdrittstellung bei Ahu: dann ich muss hier was wegmache) finden sich nur vereinzelte Belege pro Kind und Aufnahme. Nichtsdestotrotz weisen diese Abweichungen wenigstens tendenziell in Richtung jener Probleme mit der V2-Stellung finiter Verben, die gerade erwachsenen Deutschlernern besonders zu schaffen machen (vgl. Dimroth 2002) und auf die ich zu Beginn dieses Kapitels in meinem Intermezzo für Neugierige (S. 131 f.) hingewiesen habe. Keines der acht Kinder unseres Projekts hat eine spezifische Spracherwerbsstörung. Man würde sogar allein aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich die Kinder morphologische und syntaktische Eigenschaften deutscher Sätze aneignen, in der Erstsprache eine solche Störung ausschließen. Die Ergebnisse unseres Projekts stimmen in vollem Umfang mit dem überein, was Kroffke & Rothweiler (2006) und Rothweiler (2006) zum Erwerb des Deutschen durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache herausgefunden haben. Diese Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass sich L2-Kinder im Alter von drei bis vier Jahren die deutsche Syntax im Bereich der Verbstellung und der Verbflexion noch ebenso treffsicher, zügig und mit qualitativ ähnlichen Erwerbsschritten aneignen können wie L1-Lerner. Wenn man die Kürze der Erwerbsgelegenheit, d. h. des Kontakts mit dem Deutschen, berücksichtigt, sind sie eigentlich sogar schneller! Abweichungen vom Erstspracherwerb finden sich in stark ausdifferenzierten Teilsystemen, die ich im Zusammenhang der Entwicklung der vier Kinder nur teilweise angesprochen habe: Kasus, Genus, Numerus (Mehrzahl), morphologische Details der Flexion. Dazu gleich mehr. Die einleitende Frage, ob sich der L2-Erwerb in bestimmten Bereichen als „robust“ erweist, darf also bejaht werden. All dies spricht für den frühen Einsatz von Fördermaßnahmen, um Kinder mit anderen Erstsprachen ab dem Moment ihres Eintritts in vorschulische Bildungseinrichtungen beim Erwerb des Deutschen zu unterstützen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fallstudien zum Erwerb des Deutschen durch Kinder 145 Ich schließe diesen Teil zum Erwerb des Deutschen von Kindern im Alter zwischen 3 und 4 mit einigen letzten Beispielen aus dem laufenden Ludwigshafener Projekt „Sprache macht stark! “, in dem wir seit zwei Jahren die Erkenntnisse, die wir aus den bisherigen Fallstudien gewonnen haben, in der Frühförderung umsetzen. Schwerpunkte der Förderung sind der Wortschatz (dabei auch vor allem das Verblexikon) und die Satzstruktur. Variationsreicher Input in kleinen Gruppen (4 Kinder) stellt sicher, dass Kinder die Formen tatsächlich hören können, die sie für den differenzierten Aufbau der Grammatik benötigen. Auf einige Aspekte dieser Fördermaßnahmen werde ich in späteren Kapiteln zurückkommen. An dieser Stelle illustriere ich lediglich anhand des Mädchens Perihan (L1 = Farsi oder Persisch) die wichtigsten Meilensteine, die von ihr innerhalb weniger Monate erreicht werden. Die erste Aufnahme erfolgt in einer Kleingruppe mit drei anderen Kindern etwa sechs Wochen nach Beginn der Förderung. (21) Perihan 3; 5 spricht einzelne Wörter (hier, Flur, warte, guckmal) und Wortverbindungen (so machen), manchmal wiederholt sie unmittelbar Äußerungen anderer Kinder. (22) Erz. Was machen wir denn mit der Seife? Kind T. Hände waschen … Hände waschen Perihan Hände waschen Vier Monate später verfügt Perihan über die Satzklammer und die Verben sind flektiert, wenngleich nicht immer korrekt. Perihan produziert auch Artikel, Hilfs- und Modalverben. (23) 3; 9 Einzelaufnahme, Bilderbuch Perihan die MAma is schlaf\ Erw. Die Mama schläft, ja. Per. da … MAma telefont\ Erw. die Mama telefoniert […] und was macht das Kind? Per. kind mags zu MAma schlafen\ Später der PApa hat auch geschlaft\ aber mein baby hat auch geschlafen\ (24) Per. 4; 0 da hund is da\ er hat wufwuf gemacht, dann hat er da war die HUND gesagt da ist das HUND mit KAtze\ Erw. Der Hund is in der Mülltonne da drin ganz alleine und steckt da fest Per. dann-DANN hat er geweint\ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 146 Deutsch als Zweitsprache Unter den Verben konkurrieren zu diesem Zeitpunkt bereits verschiedene Formen der Kennzeichnung von Vergangenheitsbezügen (war für hat! ). Perihan ist auch in der Lage, Wörter, die Textteile verknüpfen, pragmatisch angemessen einzusetzen (vgl. die mehrfache Verwendung von dann). Was schließen wir aus diesen Studien? Ich denke, sie zeigen deutlich, dass es nicht an den Kindern nicht-deutscher Erstsprachen, den vermeintlichen Einflüssen der Erstsprachen oder der Mehrsprachigkeit liegt, wenn Kinder bis zum Schulanfang nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen. Auf den restlichen Seiten dieses Kapitels werde ich anhand weiterer Beispiele von älteren Kindern genauer auf die Bereiche eingehen, die Kindern wesentlich mehr Schwierigkeiten bereiten als der Erwerb der Satzklammer und der Subjekt-Verb-Übereinstimmung. Sprachen gehen zur Schule Sie erinnern sich bestimmt an den gloken Baler aus Kapitel 2 (S. 37 ff.)? Auch wenn Sie nicht genau wissen konnten, um wen oder was es sich dabei handelte, hatten Sie ungefähr eine Ahnung, um welche Art von Ereignis es dabei gehen könnte: wir haben vermutlich mindestens einen Handelnden (den Baler) und die von der Handlung des Balers in irgendeiner Weise betroffenen Tenden. Das Gesamtereignis musste nicht negativ sein für die Tenden (frohlen könnte auch beschenken, beglückwünschen, loben etc. bedeuten), und vielleicht hat der Baler nicht einmal im strikten Sinn gehandelt (frohlen = erkennen, glauben, bewundern? ). Mit diesem Problem des Nichtwissens, was die Wörter in unserem Beispielsatz eigentlich bedeuten, befinden Sie sich (bzw. wir uns, denn in meinem mentalen Lexikon gibt es diese Wörter ja auch nicht! ) in bester Gesellschaft. Wir nähern uns damit der Situation von Kindern nicht-deutscher Erstsprachen, die nach ein bis zwei Jahren in der Kita vielleicht recht gut mit den Bauplänen deutscher Sätze zurechtkommen, aber immer noch erhebliche Lücken im Wortschatz aufweisen. Für den Wortschatz gilt, was ich wiederholt über sprachliche „Feinheiten“ und Ausnahmen gesagt habe: Man muss ihm in irgendeiner Weise persönlich begegnen. Natürlich kommen auch bei Kindern sehr schnell kreative morphologische Prozesse zum Tragen, z. B. in Wortbildungen, wie wir sie bei Perihans Opa-Hase, Bruder-Hase etc. gesehen haben oder bei der Äußerung eines unserer russischsprachigen Projektkinder: Das ist ein Spidermanmensch. Aber über diese einzelnen Wortbausteinchen muss man erst einmal verfügen. In diesem Bereich haben Kinder, deren Erfahrung im Umgang mit dem Deutschen sich auf eher zufällige Themenbereiche des Kita-Alltags beschränkt, erheblichen Nachholbedarf, ganz abgesehen von der Frage, ob ihnen der entsprechende Wortschatz in ihren Erstsprachen zur Verfügung steht. Wenn man einen Problemoder, positiver formuliert, Wissensbereich nennen sollte, in dem sich die Zusammenarbeit © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprachen gehen zur Schule 147 zwischen vorschulischen und schulischen Akteuren besonders empfiehlt, so wäre der Wortschatz sicher ein guter Kandidat. Dass dies im Prinzip einfach sein sollte, brauche ich nicht einmal zu unterstreichen: Für ein erstes Fast Mapping reicht in manchen Fällen eine Begegnung! Neben dem Wortschatz kann man bei Untersuchungen des kindlichen Zweitspracherwerbs, eine Reihe weiterer Problembereiche erkennen, in denen sich die Kinder eigentlich nur graduell unterscheiden. Was die Situation sicher auch aus Lernerperspektive verschärft, ist, dass wie bereits in Kapitel 2 und 4 angesprochen unterschiedliche Informationen (z. B. Kasus, Genus, Einzahl/ Mehrzahl) an den gleichen Wörtern markiert werden: am Artikel (inklusive von Mengenausdrücken wie alle, jede, keine), Adjektiv und im Fall der Mehrzahl und einiger Kasus am Substantiv selbst sowie am Pronomen (ich, mir, mich), vgl. ich habe den gloken Balern zu vielen Auftritten verholfen. Angesichts der Formenvielfalt, die sich durch die Kombination von Kasus, Genus und Numerus (Einzahl/ Mehrzahl) ergibt, kann es nicht überraschen, dass Kinder nicht-deutscher Erstsprachen natürlich in Abhängigkeit von der Dauer und Intensität ihres Kontakts mit dem Deutschen hier auch nach Schulbeginn noch Schwierigkeiten haben (vgl. dazu Ahrenholz 2006, 2007, Wegener 1994, Schulz, Tracy & Wenzel 2008). Dies betrifft vor allem folgende Bereiche: (a) Genus (der Kind, die Junge …). Man kann bei einzelnen Lernern durchaus recht schlüssige Versuche erkennen, Regeln zu bilden, z. B. die Anlehnung an phonologische Muster oder fälschliche morphologische Analysen: der Mutter in Analogie zu der Lehrer, der Klavierspieler etc. (b) Kasus (sie sagt ihn Hallo): Kinder treffen, wie im Erstspracherwerb auch, zunächst eine Unterscheidung in zwei Kasusformen: Nominativ und Akkusativ (vgl. für den Erstspracherwerb Tracy 1984); mit dem Dativ hingegen tun sie sich schwerer. Dies liegt zum einen an der klanglichen Ähnlichkeit von Akkusativ und Dativ, mindestens im Fall der männlichen und sächlichen Formen (den/ dem, einen/ einem), zum anderen aber auch daran, dass der Dativ an sich vor allem vom Auftreten bestimmter Verben abhängt, die drei „Mitspieler“ verlangen (ich schenke/ gebe ihm einen Apfel, du schreibst ihr einen Brief). Hinzu kommt, dass ein und dieselbe räumliche Präposition (auf, unter, vor etc.) entweder den Dativ (bei Ortsangaben: unter dem Tisch sitzen) oder den Akkusativ verlangt (bei Richtungsangaben: sich unter den Tisch setzen). Es erfordert also einiges an Tüftelarbeit, um diese Verwendungsbedingungen herauszufinden. Ein gut strukturiertes Sprachangebot sollte dem Lerner diese Detektivarbeit erleichtern. (c) Präpositionen (der geht Ø Hause, der geht in Leiter, der fragt zum dem Mädchen). Aber vergessen wir nicht, dass auch solche Abweichungen durch vorhandene Muster gestützt werden können: er geht heim, der sagt zu dem Mädchen. Abweichungen bei der Verwendung von Präpositionen gehören zu den auffälligsten Merkmalen von Lernersprachen und werden häufig mit dem Fehlen von Ent- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 148 Deutsch als Zweitsprache sprechungen in den Erstsprachen in Verbindung gebracht. Das Auslassen von Präpositionen ist auch typisch für eingebürgerte Varianten, die sich durch den Kontakt mit Minderheitensprachen entwickelt haben, sogenannte Ethnolekte. Aber Vorsicht! Wer hört, dass Kinder und Jugendliche untereinander Ethnolekte sprechen, sollte nicht voreilig schließen, dass sie keine anderen Varianten des Deutschen beherrschen (vgl. dazu Keim 2007, Keim & Tracy 2007). Interessant ist übrigens auch, dass sich manche Lerner und Lernerinnen ausdrücklich bemühen, den Kasus klar zu kennzeichnen, wie im Fall der fragt zum dem Mädchen. Das wiederholte Auftreten solcher Muster zeigt, dass auch hier wieder eine recht „vernünftige“ Strategie am Werke ist: Die Kinder bemühen sich sogar, Kasusmerkmale über mehrere Wörter zu verteilen! (d) Pluralbildung (die Äpfeln, die Apfel): Auch hier treten in Folge eines Bemühens um Regularisierung Abweichungen auf, wie sie auch in Studien zum monolingualen Erwerb festgestellt wurden (Köpcke 1983, Wegener 1994, Gawlitzek-Maiwald 1994, Szagun 2007). (e) Unregelmäßige Verben (fallt, willt, willen, genehmt). Hier gilt das Gleiche wie beim Erwerb der Pluralformen. L1- und L2-Lerner versuchen auch hier, Schwachstellen des Systems zu reparieren. Insgesamt handelt es sich dabei um grammatische Bereiche, die wir bereits im Zusammenhang mit dem Erstspracherwerb als „labil“ erkannt hatten. Um sie zu meistern, benötigen Lerner den entsprechenden Input. Für die pädagogische Praxis erscheint mir in diesem Zusammenhang noch Folgendes wichtig: Auch wenn nicht alle Lerner das deutsche System in die gleiche Richtung „reparieren“ und sich an unterschiedlichen Analogien versuchen, so kann das Vorgehen im Einzelfall sehr systematisch, in sich schlüssig und konsequent sein. Das Bemühen seitens der Kinder um Vernetzung von ähnlichen Formen und Bedeutungen ist offenkundig. Also müssten wir, um auf unser Beispiel mit den unterschiedlichen Brötchen zurückzugreifen, Lernern durch möglichst kluge „sachdienliche“ Hinweise das Sortieren erleichtern. Angesichts der Schwierigkeiten, die wir selbst dabei haben, in manchen Fällen das zugrunde liegende System zu knacken, z. B. im Fall des Genus, ist dies sicher keine leichte Aufgabe! Aber auch hier dürfen wir uns von möglichst früher Förderung, sprich: von einem frühen, reichhaltigen und systematischen sprachlichen Angebot, positive Wirkungen versprechen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch mit einem Gesprächsausschnitt eines 7-jährigen Kindes mit Polnisch als Erstsprache zeigen (Kontakt mit dem Deutschen laut Schule etwa 2 Jahre), warum es wichtig ist, Sprachwissen und kommunikative Aufgabe bzw. sprachliches Verhalten sorgfältig zu unterscheiden. Diese Gesprächsepisode entstammt der ersten Pilotphase eines diagnostischen Verfahrens zur Einschätzung des Sprachstands bei Kindern nicht-deutscher Erstsprache (LiSe-DaZ), das ich gemeinsam mit Petra Schulz im Auftrag der Landesstiftung Baden-Württemberg entwickelt habe (vgl. www. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprachen gehen zur Schule 149 sagmalwas-bw.de). Ich habe einzelne Abschnitte nummeriert, um darauf verweisen zu können. (25) Pia beschreibt zunächst eine Bilderszene (hier ohne Bild): Auf dem Bild sieht man einen Jungen, der Äpfel pflückt und sie in einen Korb oder eine Tasche steckt. 1 Der hat eine Tasche, wo die Äpfel reinkommen . oder ein Korb, wie man sagt. Auf einem zweiten Bild (vgl. u.) kommt ein Mädchen und spricht den Jungen an. Pia stellt hier Vermutungen dahingehend an, was das Mädchen wohl sagen könnte: 2 Soll ich dir helfen, den d-die Tasche mit dir zu tragen? 3 Kann ich die kann ich mit dir den der Tasche mit dir nach Hause tragen? Pia erkennt (vgl. Zeile 1), dass der Behälter, in dem die Äpfel landen, nicht eindeutig zu identifizieren ist (übrigens ein Grund, warum dieses Bild nach der ersten Erprobung von uns ersetzt wurde! ). Sie spricht zunächst von Tasche und erwähnt dann als Alternative Korb. In Zeile 2 können wir aufgrund des maskulinen Artikels im Akkusativ den vermuten, dass der Korb immer noch in ihrer Planung herumgeistert, auch wenn sie nun zu ihrer ursprünglichen Bezeichnung Tasche zurückgekehrt ist. Gleiches gilt für 3: Hier will sie (wie bei 2) zum Ausdruck bringen, dass das Mädchen auf dem Bild den Jungen fragt, ob sie ihm helfen kann, die Tasche (bzw. den Korb) mit den Äpfeln nach Hause zu tragen. Wir sehen hier gleich zwei Arten von Interferenz, d. h. des Eindringens von gleichzeitig „aktivierten“ Formen: Erstens scheint immer noch der Korb sehr präsent, daher der Artikel im Akkusativ (den). Aber warum danach ein Dativ? Gehen wir zurück an den Anfang des Satzes: Pia beginnt mit Kann ich die und unterbricht dann, um mit dir einzubauen; dieses mit dir ist hartnäckig, denn es taucht auch nach Tasche noch einmal auf. Es ist also durchaus denkbar, dass der abweichende und ungewöhnliche Dativ in der Tasche ein Versprecher ist, der aus zwei Richtungen (durch das doppelte mit dir) ausgelöst wird. Hier anschließend das Bild, auf das sich Pia bezieht. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 150 Deutsch als Zweitsprache Dieser kleine Textausschnitt illustriert jedenfalls, dass es voreilig wäre anzunehmen, Pia kenne das Genus von Tasche nicht oder habe Probleme mit dem Akkusativ. Wir haben es vielmehr mit einer ganz normalen, wenngleich „unterschwelligen“ Konkurrenz zwischen den Wörtern Korb und Tasche zu tun sowie mit einem ebenfalls normalen Versprecherpotential. Nicht alle Kinder haben Gelegenheit, sich in der Kita die Grundlagen der deutschen Satzstruktur anzueignen. Betrachten wir den Fall eines Jungen, Timo, der nach vier Monaten in der ersten Grundschulklasse folgende Strukturen (s. (26)) produzierte. In seinem Fall ist leider nicht bekannt, wie lange er in einer Kita war; wir können aufgrund seiner Äußerungen vermuten, dass sein Kontakt mit dem Deutschen nicht sehr intensiv war. Die beiden ersten Äußerungen beziehen sich übrigens auf die gleiche Szene, die Pia beschrieben hatte: ein Junge pflückt Äpfel, ein Mädchen kommt hinzu. (26) Timo 6; 7 Satzklammer Apfel holt de mach so die Jungs Haus macht immer die kommt isch doch des gebt Wäre Timo mit Deutsch als Erstsprache aufgewachsen, würde man angesichts dieser Äußerungen sofort an eine Spracherwerbsstörung denken (vgl. Grimm 2000b). Aber Timos Erstsprache ist Türkisch, eine Sprache, in der das Verb normalerweise am Ende des Satzes steht, vergleichbar dem deutschen Nebensatz. Es wäre also durchaus möglich, dass Timo sich bei diesen Äußerungen - abgesehen von dem formelhaften de mach so - auf seine Erstsprache stützt, d. h. dass es sich um einen Transfer, eine Strukturübertragung, handelt. Natürlich wäre auch denkbar, dass Timo in beiden Sprachen eine Spracherwerbsstörung aufweist. Etwa ein halbes Jahr später, als wir uns noch einmal eingehend mit ihm beschäftigten, sahen seine Sätze schon ganz anders aus: Er hatte mittlerweile die Satzklammer entdeckt und brachte nun alle Hauptsatzverben konsequent in die zweite Position. Zudem sind die Verben umgangssprachlich korrekt flektiert. (27) Satzklammer sie sitz net unter der Bank ich hab’s gegessen die kriegt ähm Brot kleine Fische gib’s auch ich hab runtergefallen hier ist die zu © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprachen gehen zur Schule 151 Timo war also keineswegs spracherwerbsgestört. Ihm fehlte es anfänglich lediglich an sprachlichem Angebot. Als er nach einigen Wochen in der ersten Grundschulklasse die Gelegenheit erhielt, anstatt des regulären Deutschunterrichts in eine kleine, speziell geförderte Gruppe zu wechseln, konnte er innerhalb weniger Monate wichtige syntaktische Entwicklungsschritte vollziehen. Meines Erachtens besteht eines der größten Probleme, denen sich LehrerInnen in Grundschulklassen zur Zeit ausgesetzt sehen, in den erheblichen Unterschieden, die sich zwischen Kindern feststellen lassen. So haben wir auf der einen Seite Timo, der zwar schließlich auch rasche Fortschritte machte, und auf der anderen Seite Kinder wie Furkan, der die gleiche Klasse besucht und den ich hier in einer längeren Passage zu Wort kommen lassen möchte. Animiert durch eine Tierfütterszene in unserem Diagnostikverfahren, begann er, der Studentin, die sich mit ihm unterhielt, von eigenen Erfahrungen beim Füttern von Tieren zu erzählen: (28) Furkan 7; 6 Furkan ich hab schon mal enten im schlosspark gesehn, hab ich ihnen brot gegeben\ Erw. Und die Enten, was ham die gemacht? Furkan die ham’s gegessen, aber ich hab mal geworfen, dann warn jede (= alle! ) gekommen und wollten’s essen, die kennten sisch nisch teilen … Später: Furkan mein freund hat’n spiel, der hat King Kong\ der hat schon King Kong gefunden\. Erw. Wo war der King Kong? Furkan im vierten level\ zuerst kommt ner mit vampiren, aber die vampiren werfen einen stock mit feuer, dann stirbt man und dann ist man woanderst\ dann is ne frau gefesselt\ dann kommt King Kong und dann nimmt der die und geht weg\ Erw. Hm. Furkan und dann macht dann geht King Kong weg und macht, hm, die n’des buch noch’n bisschen kaputt\ Erw. Ah ja. Furkan dass wir nisch durchkönnen und dann gibt’s aber einen ausweg und dort muss man dann gehen\ Erw. Hm, dann kommt mer wieder raus? Furkan hmh, und dann kommt’n dinosaurier\ der kommt der will so’n kameramann fressen\ der kameramann nimmt’s auf, wir müssen den umbringen oder da kommt eine schlange oder wer des auch is eine spinne hundertfüßler und dann pf-kämpfen die zusammen. Erw. Uiui! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 152 Deutsch als Zweitsprache Furkan und dann gewinnt der dinosaurier und dann kämpft man gegen den\ Erw. Hm. Furkan wir ham King Kong geFUNden\ des war schön\ Auch wenn man diese Geschichte nicht ohne weiteres in allen Einzelheiten nachvollziehen kann, sieht man, dass Furkan eine recht kohärente Erzählung konstruiert und sich dabei auch angemessener Strukturierungsmittel bedient (und dann, aber, da, Pronomen, Zeitformen, abschließende Bewertung: das war schön.) Seine Grammatik lässt jedenfalls kaum etwas zu wünschen übrig! Ein abschließendes Beispiel von einem Jungen, Faruk, der bereits die vierte Grundschulklasse besucht, zeigt, wie interessant und erhellend es ist, wenn man die mündlichen und schriftlichen Daten der gleichen Kinder vergleichen kann. Faruk erzählt hier zunächst mündlich eine Bildergeschichte nach (ich verdanke die Daten einer Studie von J. Ungericht): Während eine Mutter auf einem Hocker kniend Fenster putzt, malt ihr der Sohn die Schuhsohlen an. Als sie später merkt, dass sie auf dem Fußboden Farbabdrücke hinterlässt, ist sie verärgert und schimpft mit dem Sohn. Hier ein kleiner Auszug aus der mündlichen Nacherzählung. (29) Faruk (11 Jahre) 1 der mutter putzt die fenster und der junge hat zahnbürszahnpasta in der hand 3 und hat ein teller in der hand und … und … und der junge lacht 5 und mutter is in knie, die putzt wieder weiter die fenster 7 und der junge nimmt den zahnbürste und zahnpasta und malt die schuhe 8 seiner mutter und der junge lacht und der mutter is fertig mit fensterputzen … Besonders auffällig ist hier eigentlich nur das Genus von Mutter (2 x maskulin, Zeile 1 und 8; im weiteren Verlauf noch einmal maskulin und einmal feminin). Die Satzstellung ist völlig unproblematisch; auch „Mutter is in Knie“ (Zeile 5) ist nicht völlig abwegig, da man ja auch wirklich „in die Knie“ gehen kann. Aber schauen wir, was passiert, wenn wir uns die gleiche Geschichte von demselben Kind schriftlich erzählen lassen, in diesem Fall eine Woche später. Gleich in der ersten Zeile, der Überschrift, finden wir eine Selbstkorrektur (Hauserest Hauserrest), ein Schritt in die richtige Richtung! Vor allem aber sehen wir, dass nun Mutter wiederholt im richtigen Genus (gleich erste Zeile) erscheint und dass sie auf den Knie sitzt. Offensichtlich weiß Faruk sehr viel mehr, als in seiner spontanen Produktion zum Ausdruck kam. Unter der Bedingung einer langsameren und bewusster kontrollierten Textproduktion, wie es das Schreiben nun einmal verlangt, verschwinden einige „Fehler“. Darüber hinaus zeigt ein Vergleich mündlicher und schriftlicher Nacherzählungen, wie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Sprachen gehen zur Schule 153 gut Kinder bereits Merkmale unterschiedlicher Genres (Textsorten) erkennen, einschließlich der Interpunktion. Die größte Überraschung ereilte uns übrigens in Form der schriftlichen Erzählung eines anderen Jungen aus Faruks Klasse, die auf den ersten Blick durch massives Durchstreichen und Überschreiben auffiel. Eine genaue Analyse zeigte dann, dass jede Veränderung tatsächlich eine Korrektur in die richtige Richtung war, angefangen von der Rechtschreibung bis hin zur Verbesserung morphologischer Details. Und wir stellten noch etwas ganz anderes fest: Den Kindern machte es Spaß, die Geschichte mündlich und schriftlich zu erzählen! Sie unterhielten sich im Anschluss an ihre schriftlichen Versionen untereinander über die verschiedenen „Bestrafungen“, die den kleinen Helden der Geschichte wohl erwarten mochten, z. B. der Hauser(r)est! ! Faruk erzählt eine Bildergeschichte schriftlich nach © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 154 Deutsch als Zweitsprache Fazit In diesem Kapitel haben wir uns vor allem mit dem frühen L2-Erwerb beschäftigt, der tatsächlich dem normalen Erstspracherwerb im Hinblick auf wichtige Bereiche der Grammatik (vor allem bezüglich der Satzklammer, der V2-Stellung des Verbs im Hauptsatz und der Subjekt-Verb-Kongruenz) sehr ähnlich ist, d. h. hier zeichnete sich nicht nur das gleiche Ergebnis, sondern auch der gleiche Lernprozess ab. L2-Kinder verhalten sich daher ganz anders als „typische“ erwachsene L2-Lerner, die sich mit allen genannten Aspekten schwer tun. Kinder im Vorschulalter unterscheiden sich auch von Lernern, die im Verlauf der ersten Grundschuljahre eine neue Sprache lernen. Letztere sind zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls erfolgreicher als Erwachsene, aber sie sind Erwachsenen in mancher Hinsicht ähnlicher. In ihrem Erwerbsprozess spielen die Meilensteine, die wir hier gesehen haben, eine weniger klare Rolle. Ich habe aus gutem Grund immer wieder auf sehr viele Details hingewiesen und Einzeläußerungen betrachtet. Schließlich war es mir ein wichtiges Anliegen zu zeigen, wieviel Kompetenz man erkennen kann, wenn man es wagt, die „Rotstiftperspektive“ (vgl. Kapitel 1) hinter sich zu lassen. In ihren Selbstkorrekturen und Neuformulierungen zeigen uns Lerner und Lernerinnen eigentlich sehr deutlich, dass sie schon viel mehr wissen und können, als es auf den ersten Blick oder vielmehr beim ersten Hinhören den Anschein haben mag. Darüber hinaus haben wir, so denke ich, auch gesehen, dass eine Analyse von Lernersystemen und eine Einschätzung des jeweiligen Sprachstands und Förderbedarfs keine geringen Herausforderungen für pädagogische Fachkräfte darstellen. Ich habe diesen Abschnitt überschrieben mit „Sprachen gehen zur Schule“. Aber kommen sie - die Sprachen - dort überhaupt an? Wie nutzen wir das sprachliche Wissen von Kindern, die zu Beginn des Schulantritts ja oft schon (implizit und manchmal sogar explizit) eine ganze Menge über Kontraste und Ähnlichkeiten zwischen Sprachen wissen? Und könnten wir nicht viel besseren Sprachunterricht machen, wenn wir auf dem kindlichen Vorwissen über Sprache schlechthin aufbauten, anstatt immer nur zu befürchten, dass sich Sprachen im Wege stehen und sich gegenseitig beeinträchtigen? Und warum sollten sich Sprachen, wieder sehr bildhaft ausgedrückt, in den Schulen durch sauber getrennte Unterrichtseinheiten aus dem Wege gehen, wenn sie eigentlich im Kopf von Kindern und Erwachsenen eine wunderbare „Wohngemeinschaft“ führen können? Weiterführende Literatur In Anstatt (2007) und Ahrenholz (2006), (2007) und (2008) finden sich viele Beiträge, die sich mit dem Zweitspracherwerb im Vorschul- und Schulalter beschäftigen. Das Problem des Genuserwerbs durch Aussiedlerkinder behandelt Wegener (1993); in einer © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fazit 155 Arbeit im Jahre 1994 untersucht sie den Erwerb der Pluralmarkierung. Siebert-Ott (2001) erörtert unterschiedliche Möglichkeiten, Schulprobleme von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache in unserem Bildungssystem zu erklären. Rothweiler (2007) gibt einen guten Überblick über unterschiedliche Erwerbstypen: Erstspracherwerb, doppelter Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb bei Kindern und Erwachsenen, In der „Encyclopedia of Bilingualism and Bilingual Education“ von Baker & Jones (2000) findet man Information über den Umgang mit Mehrsprachigkeit in vorschulischen und schulischen Bereichen in anderen Ländern. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 7 Alle in einem Boot? Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb Also, wie lernen Kinder denn nun Sprachen? Meine Antwort auf die indirekte Frage, die dem Titel meines Buches zugrunde liegt: Wie Kinder Sprachen lernen, lautet: systematisch, treffsicher und beharrlich - wenn man sie denn lässt und ihnen die Bedingungen bietet, unter denen sich ihr Spracherwerbstalent entfalten und immer wieder herausgefordert fühlen kann. Dazu müssen wir vor allem für eines sorgen: für ein anregungsreiches, „unordentliches“, sprich: variations- und kontrastreiches, Sprachangebot in natürlichen Situationen - den Input -, den Kinder dann nach Herzenslust „aufräumen“ und in ein komplexes, vielschichtiges System sprachlichen Wissens verwandeln können. Viele Details dieses Prozesses kennen wir noch nicht, daher kann man Szagun (2007) nur beipflichten, wenn sie vom „Wunder des Spracherwerbs“ spricht. Der Spracherwerb beruht auf einer besonderen genetischen Veranlagung des Menschen und wird durch Umweltreize, eben den Input, in bestimmte Bahnen gelenkt (nämlich in Richtung Französisch, Türkisch etc.). Qualität und Quantität des Sprachangebots bestimmen mit, wie leicht es Lernern fällt, sich die jeweiligen Umgebungssprachen zu erschließen. Spätestens hier kommt dann auch die Frage im Untertitel meines Buches ins Spiel: Wie können wir Kinder bei ihrer Entdeckung wichtiger Meilensteine ihrer Zielsprachen unterstützen? Um diese Frage zu beantworten, bedürfen wir selbst einer gehörigen Portion Bildung in Sachen Sprache! In meiner Überschrift ist von sprachlicher Bildung, von Sprachförderung und von Spracherwerb die Rede. Letzteres, den Erwerb an sich, haben die Lerner selbst fest in der Hand - unter der Voraussetzung eben, dass die Bedingungen stimmen. Wenn unter Sprachförderung zu verstehen sein soll, dass wir eine natürliche Begabung von Kleinkindern unterstützen, u. a. indem wir unser Sprachangebot bewusster und auf ihre Bedürfnisse hin ausgestalten, dann fällt dies sicher auch noch unter das, was ich als „Unterstützung“ bezeichnen würde. Wenn wir uns allerdings die Menge der Anforderungen anschauen, die mittlerweile an ErzieherInnen und LehrerInnen im Umfeld dieser Unterstützungsaufgabe gestellt werden (individuell fördern, beobachten, diagnostizieren), dann muss man sich in der Tat fragen, wie das zu leisten ist, wenn sich die Bedingungen, unter denen all dies geschehen soll, nicht ändern. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Also, wie lernen Kinder denn nun Sprachen? 157 Eine pädadogische Fachkraft mag noch so gut über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit informiert sein und über Handlungsmöglichkeiten Bescheid wissen: In einer Gruppe mit 20 Kindern kann eine einzelne Erwachsene überhaupt nicht ausreichend auf die Besonderheiten des sprachlichen Verhaltens einzelner Kinder achten, geschweige denn, sich ausreichende Notizen machen, um den individuellen Sprachstand eines Kindes zu dokumentieren. Wenn man keine Ton- oder Filmaufnahmen zur Verfügung hat, kann man sich auch nicht am Abend daran machen, entsprechende Dokumentationen zu erstellen. Bis dahin hat man die formalen Details einer Kinderäußerung längst vergessen! Als betroffene PädagogInnen mögen Sie sich nun fragen: Haben wir denn dann dieses Buch umsonst gelesen? Brauchen wir das hier skizzierte Wissen nicht, weil wir es ohnehin nicht anwenden können? Doch, es wird gebraucht! Dieses Buch, so würde ich sagen, vermittelt in erster Linie sprachliche Bildung im Sinn von explizitem Wissen über das Deutsche als Erwerbsaufgabe. Es möchte dazu anregen, über Sprache, Mehrsprachigkeit und eigene sprachliche Fähigkeiten nachzudenken. In diesem Sinne erfüllt es eine emanzipatorische Funktion - und das hat viel mit Bildung zu tun. Nicht zuletzt geht es mir darum, kritisch zu hinterfragen, inwieweit man in Kitas und Schulen unter den aktuell vorherrschenden Bedingungen tatsächlich von individueller sprachlicher Förderung sprechen kann, wie dies in Orientierungsplänen und Bildungsstandards vorgesehen ist. Da ich schon so oft zu kulinarischen Metaphern gegriffen habe, versuche ich es hier ein weiteres Mal: Im Vorschulalter können wir Kindern ein reichhaltiges, möglichst ausgewogenes Buffet (das Sprachangebot) anrichten, wobei wir natürlich sicherstellen sollten, dass bestimmte Vitamine, z. B. V2 und VE, in unterschiedlichsten Nahrungsmitteln (sprich Äußerungen) in ausreichender Menge zur Verfügung stehen und von den Kindern entdeckt werden können. Die eigentliche Auswahl aber trifft das Kind von alleine, und gefüttert werden will es schon gar nicht! Bei älteren Kindern würden wir auf weitere Strategien setzen, u. a. auch explizit an metasprachliche Fähigkeiten appellieren und uns um Kommunikationsanlässe und Inhalte bemühen, die für Kinder unterschiedlichen Alters interessant sind, inklusive des Sprechens über Sprache und über das Lernen von Sprachen. Die Unterstützung von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache kann nicht in die Verantwortung einzelner Förderkräfte oder -lehrerInnen gelegt werden. Die damit verbundenen Herausforderungen sind derart komplex, dass es ohne intensive Kooperation von vielen Beteiligten gar nicht möglich ist, nachhaltige Verbesserungen zu erzielen. Daher trifft mein Bild von einem Boot, in dem wir alle sitzen, eine Art von sprARCHE (vgl. S. 168), auf der sich Sprachen und Sprecher angstfrei entwickeln und äußern können, ja vielleicht doch zu. Beteiligt wären im vorschulischen Bereich neben den Fachkräften, die besonders für die Durchführung von Fördermaßnahmen verantwortlich sind, die gesamten Teams und ihre Leitungen. Eine wichtige Rolle kommt auch den Eltern zu, die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 158 Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb man in vielfacher Hinsicht als Kooperationspartner benötigt, nicht zuletzt deshalb, damit ein Kind regelmäßig die Kita oder sonstige Einrichtungen, an denen gefördert wird, besuchen und von Unterstützungsangeboten profitieren kann. Sprachförderung und sprachliche Bildung sind aber nicht zum Nulltarif zu haben: Sowohl die professionelle Weiterqualifizierung (Bildung in Sachen Sprache und Handlungswissen) von Förderkräften als auch die Unterstützung von Kitas (oder auch Schulen) durch zusätzliche Fachkräfte muss auf Jahre hinaus verlässlich finanziell gesichert werden. Dies wiederum bedeutet, dass die an politischen Schnittstellen Verantwortlichen von der Notwendigkeit, in eben diese Unterstützungsmaßnahmen zu investieren, überzeugt werden müssen. Dass sich sprachliche Kompetenzen beim frühen Zweitspracherwerb geradezu erstaunlich schnell entwickeln, wenn die Erwerbsbedingungen stimmen, und in mancher Hinsicht noch den L1-Erwerb in den Schatten stellen, ist, wie ich in Kapitel 6 gezeigt habe, kein Mythos. Oberstes Ziel von Unterstützungs- und Fördermaßnahmen im vorschulischen Bereich ist daher zunächst der Erwerb impliziten sprachlichen Wissens durch die Kinder. Sobald dieses sprachliche Wissen auf dem Weg ist, kann es für alle weiteren, dann über Sprache vermittelten Bildungsprozesse den Boden bereiten. Exkurs Bei einem der vielen Runden Tische des letzten Jahres in Sachen Sprachförderung äußerte ein Teilnehmer, ein Vertreter einer politischen Gruppe, er könne absolut nicht verstehen, dass es in Deutschland 3-jährige Kinder ohne altersgemäße Deutschkenntnisse geben solle. Diese Kinder müssten doch mal mit ihren Eltern einkaufen gehen! Wer selbst hin und wieder in deutschen Großstädten einkaufen geht, weiß, dass man beim Einkaufen nicht auf Geschäfte angewiesen ist, in denen Deutsch gesprochen wird. Ohnehin kann man problemlos den größten Teil seiner alltäglichen Anliegen (Arzt, Anwaltsbesuche, Freizeitgestaltung etc.) ohne Kontakt mit der deutschen Sprache erledigen. Aber selbst wenn dem nicht so wäre: Wie viel Deutsch könnte man denn beim Bäcker wirklich lernen, abgesehen von immer neuen Brötchenbezeichnungen und typischen Formeln wie das schwäbische: Hätte Se mir ä Sääle? (Seele = schwäbische Baguettebrötchenvariante.) In der Öffentlichkeit herrschen immer noch sehr realitätsfremde Vorstellungen von Sprache, vom Spracherwerb, von der Mehrsprachigkeit (und wohl auch vom Einkaufen) vor. Es gibt ernst zu nehmende Informationsdefizite, nicht zuletzt auch bei Personen an wichtigen politischen Schaltstellen. Einige dieser Informationslücken werden im Folgenden angesprochen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Ist die Förderung der Sprachkompetenz im Deutschen Sache der Eltern? 159 Ist die Förderung der Sprachkompetenz im Deutschen Sache der Eltern? Zu den besonders hartnäckigen Mythen im Bildungsbereich gehört meines Erachtens nach die Vorstellung, dass man das Problem unzureichender Deutschkenntnisse von Kindern im Kita-Alter dadurch in den Griff bekommen kann, dass man den Eltern aus Zuwandererfamilien rät, mit den Kindern im Elternhaus Deutsch zu sprechen. Nach allem, was ich über die Probleme des L2- Erwerbs durch Erwachsene gesagt habe, darf man sich von dieser Idee getrost verabschieden. Denn stellen wir uns einen Vater aus Sizilien vor, der nach mehreren Jahren in Deutschland zwar problemlos kommuniziert und bestens integriert ist, aber Sätze produziert wie Immer Sonntag ich gehen Luisenpark mit ganze Familie oder fahren mit Fahrrad auf Deich von Rhein. Er unternimmt zweifellos das Richtige in Sachen Freizeitgestaltung und Familienleben, er kann seine Kinder vielleicht auch erfolgreich dazu motivieren, gerne Italienisch zu sprechen und ihre deutschen Hausaufgaben zu machen, aber es wäre unrealistisch zu erwarten, dass er seinen Kindern hinsichtlich des Erwerbs der Satzklammer oder gar des deutschen Kasus und Genus ein gutes Modell bieten könnte. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Kinder die wichtigsten Eigenschaften der deutschen Grammatik entdecken, wäre das Umgekehrte wahrscheinlicher, d. h. nach wenigen Monaten „Belichtungszeit“ eines Kleinkindes sollte der Vater - mal vom Wortschatz abgesehen - von seinen Kindern lernen können (d. h. wenn es ihm denn gelänge, so manches grammatische Fossil hinter sich zu lassen! ). Zweifellos setzen Eltern aus Zuwandererfamilien wichtige Zeichen, wenn sie ihren Kindern vorleben, dass es für sie selbst wichtig ist, Deutsch zu lernen. Sie drücken damit aus: Lernen ist wichtig, Sprachen lernen ist wichtig, die Umgebungssprache Deutsch ist wichtig. Außerdem werden sie selbst nur so langfristig in der Lage sein, sich mit ErzieherInnen und LehrerInnen über ihre Kinder auszutauschen, und sich ausreichend informiert fühlen. Eltern sitzen also auf alle Fälle als wichtige Partner mit im Boot. Ihnen wird vor allem auch eine wichtige Rolle dabei zufallen, die Erstsprachen der Kinder zu stärken, denn das wird sicher in Städten, in denen bis zu 200 unterschiedliche Zuwanderersprachen anzutreffen sind, nicht immer durch muttersprachliche Zusatzangebote unterstützt werden können. Unserer Erfahrung nach ist es auch wichtig, Eltern die Angst davor zu nehmen, dass der frühe Erwerb des Deutschen notwendigerweise zum Verlust der Erstsprache führt. Exkurs Ich hatte in Kapitel 5 darauf hingewiesen, dass sich die Erwerbsbedingungen bei Kindern, die einen doppelten Erstspracherwerb durchlaufen, von Familie zu Familie sehr unterscheiden können. Unter anderem ist es möglich, dass Vater und Mutter in einer Sprache miteinander reden, die einer von beiden nur auf einem sehr nied- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 160 Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb rigen Niveau beherrscht. In diesem Fall würde ein Elternteil für diese Sprache kein besonders gutes Sprachmodell abgeben können. Bleiben wir vielleicht bei dem sizilianischen Vater und stecken wir ihn für einen Moment in eine 2L1-Familie, in der die Mutter deutsch auf Muttersprachniveau spricht und der Vater, ähnlich wie vielleicht Vincente, sonntags in die Runde ruft: Hallo aufstehen, isse wieder Sonntag, gehen heute Luisenpark oder lieber fahren mit Fahrrad auf Deich? Nach allem, was wir bisher über den doppelten Erstspracherwerb wissen, entwickeln Kinder anscheinend früh ein sehr gutes Gespür dafür, wer ihnen für eine bestimmte Sprache den besseren Input liefert. Denn in diesem 2L1-Fall gibt es ja immer noch die Mutter. Umgekehrt würden sich die Kinder für das Italienische wohl eher am Vater orientieren. Darüber, wie sie wohl herausfinden, wer für welche Sprache das „kompetentere Modell“ abgibt, kann man nur spekulieren. Abschließend noch eine wahre Geschichte: Die heute längst erwachsene Slávka und ihre Schwester sprachen von Anfang an mit dem Vater Tschechisch, mit der Mutter Deutsch. Die Eltern sprachen Deutsch miteinander, das der Vater bis auf das Genus, gelegentliche Probleme mit der V2-Stellung und einen hörbaren Akzent sehr gut beherrschte. Ich saß mit der damals 3-jährigen Slávka und ihrem Vater am Tisch, und er kündigte an, dass er gleich einkaufen und den Hund mitnehmen wollte. Er sagte in perfektem Deutsch: Ich nehme dann den Hund mit. Daraufhin sah ihn Slávka verschmitzt von der Seite an und sagte: Das Hund, Tati, es heißt „das Hund“. Sie wollte ihren Vater ein wenig verwirren! Nicht zum ersten Mal, wie er lachend versicherte. Warum ist eine frühe Unterstützung des Erwerbs der Zweitsprache besonders sinnvoll? 10 wichtige Gründe Unter früher Unterstützung, oder Frühförderung, verstehe ich die Möglichkeit, Kinder ab dem Moment ihrer Aufnahme in einer Kita sprachlich „an die Hand zu nehmen“ und sie mit einem natürlichen, aber wohl durchdachten, regelmäßigen und möglichst intensiven Sprachangebot zu versorgen. Im Idealfall geschieht dies in Kleingruppen, denn nur so kann sichergestellt werden, dass ErzieherInnen Gelegenheit haben, einzelne Kinder in ihrem sprachlichen und sprachbezogenen Verhalten (beispielsweise in ihren Reaktionen auf Gehörtes) zu beobachten und zu erkennen, welche Meilensteine ein Kind bereits erreicht hat. Die zehn wichtigsten Gründe dafür, gerade den Übergang in den Kindergarten oder in andere vorschulische Einrichtungen für den Beginn eines intensiven Kontakts mit der Umgebungssprache zu nutzen, lassen sich wie folgt zusammenfassen. 1. Für viele Aspekte des Zweitspracherwerbs unter natürlichen Bedingungen gilt: Je früher, desto besser. Je jünger Kinder sind, desto größer © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Frühe Unterstützung des L2-Erwerbs 161 ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf jene angeborenen Erwerbsmechanismen zurückgreifen können, die auch den Erstspracherwerb erfolgreich machen. Sie kommen im Ergebnis dem Muttersprachler am nächsten. Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass das im Bereich der Syntax auch noch für Lerner im Alter von 3-4 oder sogar 5 Jahren gilt (Rothweiler 2006, 2007, Thoma & Tracy 2006, Tracy 2007). 2. Im Gegensatz zu anderen Spracherwerbstypen (z. B. dem Fremdsprachenlernen im späteren Schulunterricht) gibt es bei Kleinkindern keine Motivationsprobleme. Wenn der Rahmen stimmt, haben Kinder Interesse am Kontakt mit ihrer Umwelt und sind in der Regel aufmerksame Zuhörer. Dass kontaktscheue Kinder etwas mehr Zeit benötigen als andere, haben wir in Kapitel 6 gesehen. Wir wissen nicht, wie schnell Rascha unter anderen Bedingungen „aufgetaut“ wäre, z. B. durch eine besondere Unterstützung in einer kleineren Gruppe. Aber auch mit einer Kontaktzeit von einem Jahr bis zum Erwerb der Satzklammer legt sie eine bemerkenswerte Geschwindigkeit an den Tag. 3. Wie beim doppelten Erstspracherwerb stehen die Chancen am besten, wenn die zu erwerbende Sprache alltagsrelevant ist - und diese Voraussetzung ist eigentlich in multilingualen Kitas, in denen in einer Gruppe unterschiedliche Erstsprachen vereint sind, stets gegeben. Bei der Gruppenzusammensetzung hat das Kita-Team vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, und idealerweise könnte man auch Kinder mit Deutsch als L1 oder L2-Kinder mit guten Deutschkenntnissen in diese Gruppen geben, auch wenn es nur hin und wieder wäre. Ich erinnere an mein Beispiel mit dem kurzzeitig lispelnden Malte aus Kapitel 4. Vom ersten Moment im Kita-Kontext wird die Peergroup, d. h. die Gruppe der Gleichaltrigen, zu einem gewichtigen Faktor, in altersgemischten Gruppen ebenso die Möglichkeit, sich einem älteren Kind anzuschließen. 4. Je jünger Kinder sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bereits auf Grund fehlender Sprachkenntnisse von ihrer Umgebung gehänselt oder sonst irgendwie benachteiligt wurden und von daher (begründete) Ängste entwickeln, sich auf Deutsch zu äußern. 5. Da in der Regel mit dem Eintritt in den Kindergartenalltag für die Kinder ohnehin eine andere Lebenswelt beginnt, kann man die Fördermaßnahmen von Anfang an als Teil eines rundum neuen Alltags fest einplanen, auf die sich alle (inkl. der Eltern, die dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder anwesend sind) einstellen können. 6. Der Alltag im Kindergarten und die Gegenstände, Ereignisse und Themen der neuen Umgebung geben ganz natürlich den Wortschatz und die Äußerungen vor, die Kinder am schnellsten verstehen soll- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 162 Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb ten. Das Förderangebot kann sich thematisch problemlos an diesem natürlichen Bedarf und dem normalen Geschehen in den Einrichtungen ausrichten. 7. Je früher der erste Kontakt mit dem Deutschen hergestellt werden kann, desto mehr Zeit und Gelegenheit verbleibt bis zum Eintritt in die Schule für den Ausbau der Deutschkenntnisse. Dies sollte sich insbesondere für die problematischen grammatischen Teilbereiche (Genus, Singular/ Plural, Kasus, unregelmäßige Formen) und für den Wortschatz als vorteilhaft erweisen. 8. Bei Kindern, die vor dem Eintritt in die Kita noch keine Gelegenheit dazu hatten, mit dem Deutscherwerb zu beginnen, erübrigt sich in den ersten Wochen eine Eingangsdiagnostik in der Zweitsprache: Unterstützung des L2-Erwerbs ist in jedem Fall angesagt. 9. Ein möglichst früher Förderbeginn ist langfristig die kostengünstigste Lösung, weil man damit in der Tat präventiv, also vorbeugend, Probleme angehen kann. 10. Sollte sich herausstellen, dass ein Kind auch nach mehreren Monaten (einem halben Jahr) in der Kita trotz intensiver Betreuung keine Erwerbsfortschritte erkennen lässt (und sich die Eltern eventuell auch besorgt über die L1 äußern, weil sich das Kind anders entwickelt als seine Geschwister), so kann man frühzeitig logopädischen Rat einholen. In Mannheimer Grundschulen zeigen sich mittlerweile die positiven Effekte der Förderung in den Kitas. LehrerInnen erwähnen, dass sie im Vergleich mit früheren Jahren Verbesserungen im Bereich des Wortschatzes, des Satzbaus, vor allem aber auch in der Konzentrationsfähigkeit und im Verstehen feststellen. Bei noch früherem Förderbeginn (also spätestens mit drei Jahren), sollte sich dieser Trend verstärken. Gleichzeitig aber muss man sich unbedingt intensiv um diejenigen Kinder kümmern, die bisher, z. B. weil sie schon in der Schule waren, noch keine systematische frühe Sprachförderung erhalten konnten. Trotz meines eindringlichen Plädoyers für ein intensives Sprachangebot von dem Moment an, in dem ein Kind zum ersten Mal den Fuß über die Schwelle der Kita setzt, darf man daher nicht aufhören darauf hinzuweisen, dass wir mittelfristig auch noch massiv in die Förderung älterer Kinder und Jugendlicher investieren müssen, bis hin zum Übergang in den Beruf. Standards der frühen Förderung: Warum Ganzheitlichkeit ein systematisches, regelmäßiges und intensives Sprachangebot nicht überflüssig machen kann Wenn Ganzheitlichkeit, die in den pädagogischen Einrichtungen immer wieder als wichtiges Prinzip hervorgehoben wird, bedeutet, dass man den ganzen Menschen im Auge behalten sollte, die Förderung an authentische Kommunikationssituationen knüpft, auf isoliertes Üben verzichtet und einem Kind die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Standards der frühen Förderung 163 Nutzung aller Sinne für seine Aneignung von Welt und Weltwissen ermöglicht, so ergeben sich hier nicht notwendigerweise Widersprüche zu einer sprachwissenschaftlich fundierten Förderung, die sich um ein sehr spezifisches Informationsangebot bemüht. Man muss sich nämlich klarmachen, dass der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz und der Satzklammer nichts mit außersprachlichen oder situativen Faktoren zu tun hat. Kinder müssen erkennen, dass hier zwei Elemente im Satz (Subjekt und Verb - die es ja auch erst einmal finden muss! ) miteinander in bestimmten Merkmalen (Person, Singular/ Plural) übereinstimmen. Gleiches gilt für die Verteilung von Genus oder Kasus im Satz oder viele andere Phänomene, die an sich keine Entsprechung in der Welt haben. Natürlich müssen Kinder Sprache in sinnvollen, alltagsrelevanten Situationen erleben, aber dies bedeutet nicht, um es etwas zugespitzt zu formulieren, dass man den Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ ertasten oder erschnüffeln oder das Genus durch Seilspringen oder Klettern erwerben könnte. Selbstverständlich könnte man sich Förderspiele ausdenken, in denen Seilhüpfen, eine Kletterpartie oder eine Tastsituation genutzt werden. Indem man unter einem Tuch Gegenstände ertasten lässt, kann man sogar ganz wunderbar das Genus oder den Kasus üben (Ich glaube, ich fühle eine Zahnbürste, und du, was fühlst du? … einen Apfel, ein Glas, …). Wir haben in den letzten Kapiteln gesehen, wie das natürliche Lernprogramm von Deutschlernern aussieht, und zwar sowohl von L1-Lernern als auch von L2-Kindern, die im Alter von drei bis vier Jahren mit dem Deutschen erstmals in nennenswerten Kontakt kamen. Über ein natürliches Eintauchen in eine deutsche Sprachwelt, eine sogenannte Immersionssituation hinaus, ist es notwendig und sinnvoll, Kindern gezielt den Input anzubieten, den sie benötigen, um die Details der deutschen Grammatik zu entdecken, z. B. durch spielerisches Kontrastieren von Formen oder Bedeutungen (ich gehe, gehst du auch? , der rennt, ich renne auch …). Anregungen dazu finden sich in Kapitel 9. Unterstützung und Förderung des Spracherwerbs braucht Kooperation und Teamgeist Sprachförderung sollte keine isolierte Maßnahme sein oder ausschließlich in den Händen externer Fachkräfte liegen. Vielmehr muss sie als Querschnittsaufgabe und damit als Teil des normalen Kita- und Schulalltags verstanden werden. Es wäre ideal, wenn sich sowohl das benötigte theoretische Wissen als auch die praktische Handlungskompetenz auf möglichst viele Schultern verteilen könnte. Erst dann kann es gelingen, Sprachförderung und normalen Kita- und Schulalltag miteinander zu vernetzen. Nach meiner bisherigen Erfahrung mit Schulen und Kitas würde ich den Faktor Teamgeist ganz hoch ansetzen. Damit meine ich nicht nur das „Wir-sitzen-in-einem-Boot“-Gefühl von Förderkräften untereinander, sondern vor allem auch die tatkräftige Unterstützung durch ein ganzes Kita-Team mitsamt seiner Leitung. Unbedingt zu vermeiden sind Situa- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 164 Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb tionen, in denen Experten in Sachen Sprachförderung als Einzelkämpfer dastehen, die sich - in den Augen der anderen - dem „harten“ Alltag entziehen, weil sie sich ja um etwas Wichtigeres, die sprachliche Bildung, kümmern müssen. Die Vernetzung zwischen der Förderung in kleinen Gruppen und dem Alltagsgeschehen sollte als Gestaltungselement fest mit eingeplant werden. In den letzten Jahren wurde bei vielen Fördermodellen externes Fachpersonal eingesetzt. Wenn dieses dann die Einrichtung nach einigen Monaten verließ, kam die Sprachförderung oft erst einmal zum Erliegen. Eine verlässliche Förderkonzeption konnte sich unter solchen Bedingungen schlecht entwickeln, und die Sprachförderung hatte in vielen Fällen keinen Rückhalt mehr im Team. Eine grundlegend kooperative, für die Sprachförderung vorteilhafte Atmosphäre in der Einrichtung setzt voraus, dass sie unabhängig von einzelnen Intensivmaßnahmen als Querschnittsaufgabe des gesamten Kollegiums einer pädagogischen Einrichtung betrachtet wird. Nur dann stehen die Chancen für eine nachhaltige Qualität der Maßnahmen gut. Gleiches gilt für den schulischen Bereich. Auch hier kann Sprachförderung und zunehmend auch Sprachunterricht nicht als Aufgabe einzelner LehrerInnen mit Zusatzstundenkontingenten betrachtet werden. Vielmehr sollte klar werden, dass Sprache in allen Fächern eine zentrale Rolle spielt und daher auch alle Beschäftigungen zur Sprachförderung werden können - ob es nun um das Lesen von Sachtexten über Frühblüher, das Erschließen von Textaufgaben in der Mathematik, die Beschreibung von Spielregeln im Sportunterricht oder die Planung von Bildern im Kunstunterricht geht. Es wäre beispielsweise ein Leichtes, sich über Fächer hinweg gemeinsam zu überlegen, welcher Fachwortschatz in einzelnen Fächern unbedingt zu erwerben ist, wo es Überschneidungen gibt und wie man bewusst Vernetzungen herstellen kann, um Synergien (Verstärkungseffekte) zu gewinnen. Sprachförderung und sprachliche Bildung beginnen im eigenen Kopf Grundlage für alle Maßnahmen und Eigeninitiativen ist eine Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte. Alle, die sich für den Bereich sprachlicher Frühförderung fortbilden wollen, müssen etwas über die wichtigsten Eigenschaften der deutschen Grammatik und die Art und Weise, wie sich Lerner diese Grammatik allmählich aneignen, wissen. Wie könnte man sonst erkennen, wo Kinder bereits angekommen sind und an welchen Erwerbsaufgaben sie gerade arbeiten? Zum Grundlagenwissen zählen neben theoretischen Vorkenntnissen aber auch in besonderem Maße praktische Handlungskompetenzen. Aus unseren Weiterbildungsveranstaltungen haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass Schulungsmaßnahmen um einiges effektiver sind, wenn sie von angeleiteten Praxisphasen begleitet werden. Idealerweise gäbe es daher an jeder pädagogi- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Innenperspektive eines Förderprojekts 165 schen Einrichtung Experten bzw. Multiplikatorinnen, die Fördermaßnahmen entwickeln und koordinieren, geeignete Maßnahmen durchführen und Fachkräften mit kollegialem Rat zur Seite stehen. Begleitendes Coaching hat sich als sehr wichtig und von der Praxis erwünscht erwiesen. Eine zunehmend wichtige und viel Fingerspitzengefühl voraussetzende Aufgabe besteht in der Beratung von Eltern durch Vertreter der Kitas. Den Eltern sollten Wege und Möglichkeiten gezeigt werden, um die Erstsprachen ihrer Kinder bereits im familiären Alltag zu unterstützen, u. a. durch gemeinsame Aktivitäten, Spiele und Bilderbücher. Wünschenswert wäre es auch, wenn Erzieherinnen und Grundschullehrer in der Läge wären, Vorurteile über Mehrsprachigkeit (Mischen als Defizit? ) zu entkräften und Eltern die Angst zu nehmen, dass ihre Kinder durch einen frühen, intensiven Kontakt mit einer Zweitsprache zwangsläufig ihre Erstsprache verlieren. Zu viele Menschen denken, das Gehirn sei ein Eimer, aus dem Altes raus muss, wenn etwas Neues dazu kommt. Bei Sprachen ist es anders: Da entsteht dann durch die Vernetzbarkeit im Kopf neues, metasprachliches Wissen, das spielerisch genutzt werden kann, wie uns unter anderem der Wortwitz mehrsprachiger Kinder oder das Mischen erwachsener Sprecher und Sprecherinnen zeigen. Dieses natürliche Talent für den Umgang mit Sprache ist unser bester Verbündeter! Innenperspektive eines Förderprojekts In unserem Ludwigshafener Projekt „Sprache macht stark! Sprachbrücke Familie-Kita“ spielen die genannten Aspekte eine große Rolle. So bauen wir sehr stark auf eine inhaltliche Vernetzung von intensiver Sprachförderung in Kleingruppen (mit jeweils vier Kindern) und einer Sprachförderung im pädagogischen Alltag und ergänzen das Ganze durch eine enge Kooperation mit den Eltern, unter anderem durch eine sich einmal pro Woche treffende Eltern-Kind- Gruppe. Für alle Aufgaben (Förderung in Kleingruppen, im pädagogischen Alltag und die Durchführung von Eltern-Kind-Gruppen) wurden jeweils zwei Erzieherinnen von Fachleuten mit pädagogischem und sprachwissenschaftlichem Hintergrund besonders geschult. Für die Förderung im pädagogischen Alltag wurden alle Kita-Teams weitergebildet. Die folgenden Rückmeldungen der Mütter, die ein Jahr an den Eltern-Kind- Gruppen teilgenommen hatten, erreichten uns durch Interviews oder Fragebögen. Ich gebe sie hier paraphrasiert wieder; jeder Abschnitt entspricht einer neuen Stellungnahme. - Früher hat sich unser Kind geweigert, mit mir (= Mutter) Deutsch zu sprechen und erwiderte in diesem Fall Mama, nicht diese Sprache, jetzt spricht es auch Deutsch und erzählt, was es in der Kleingruppe gelernt hat, es benutzt dabei den neuen Wortschatz. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 166 Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb - Zu den Sprachförderkräften habe ich einen engeren Kontakt als zu den anderen Erzieherinnen in der Kita. Seit ich an der Eltern-Kind- Gruppe teilnehme, habe ich das Gefühl, dass ich für die Entwicklung meines Kindes etwas tun kann; früher wusste ich nicht, wie ich mein Kind auf die Schule vorbereiten und unterstützen soll; in der Gruppe habe ich gelernt, dass auch ich etwas beitragen kann. - Die Eltern-Kind-Gruppe macht mir viel Spaß (vor allem die vielen Spiele). Wichtig ist mir die Zeit, die wir gemeinsam mit den Kindern verbringen; ich habe ansonsten nicht die Geduld, stundenlang zu Hause mit meinem Kind zu spielen; mein Kind freut sich daher immer sehr auf die Eltern-Kind-Gruppe. - Der Kontakt zu den Sprachförderkräften wurde verstärkt. Wo man sich früher lediglich kurz begrüßt und verabschiedet hat, finden öfter Gespräche statt; ich rede oft mit den Sprachförderkräften über die Fortschritte meines Kindes, bisher hatte ich meinem Kind nicht sehr viel zugetraut, wurde aber von den Sprachförderkräften ermutigt und auf die Fortschritte hingewiesen. Jetzt fällt mir auf, dass mein Kind mittlerweile sehr gut Deutsch kann. - Mein Kind spricht mittlerweile schon sehr gut Deutsch; vor allem im Vergleich zu Nichten und Neffen, die keine oder erst später Sprachförderung erhalten haben, kann ich den Unterschied feststellen. - Ich wiederhole die Themen aus der Eltern-Kind Gruppe zu Hause; es wird gemeinsam gespielt. Die ganze Familie macht mit. - Meine Tochter spricht zu Hause mehr Deutsch, seit ich an der Eltern- Kind-Gruppe teilnehme; sie benutzt oft Wörter aus den Themenfeldern der Kita. Ich habe beobachtet, dass mein Kind jeden Tag neue Wörter lernt, davon profitiere ich auch selbst; meine Tochter erklärt mir oft deutsche Wörter auf Italienisch; sie erklärt bzw. nennt zuerst das italienische Wort und dann die deutsche Entsprechung. Ich bin sehr stolz darauf, dass meine Tochter mit zwei Sprachen aufwächst. Ich selbst bin seit etwa vier Jahren in Deutschland und tue mich mit dem Deutschen sehr schwer; erst seit mein Kind die Kita besucht, bin ich gezwungen, Deutsch zu sprechen, und seitdem mache ich selbst auch große Fortschritte. Daher bin ich auch sehr froh, dass ich mich in der Kita so gut aufgehoben fühle. - Nach nur einem halben Jahr waren bei meiner Tochter deutliche Fortschritte zu sehen. Ich bin Deutsche türkischer Abstammung und in Ludwigshafen geboren. Verheiratet bin ich mit einem Türken, der fast nur Türkisch spricht. Inzwischen spreche ich Deutsch mit meiner Tochter, wir haben beide viel Freude daran, dass wir soviel gemeinsam singen, auch in der Mutter-Kind-Gruppe. Ich erwarte, dass der kleine Bruder davon profitiert, dass er hören kann, wie meine Tochter und ich uns auf Deutsch unterhalten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fazit 167 Das rege Interesse der Mütter (und einiger Väter) und ihre regelmäßige Teilnahme an der Eltern-Kind-Gruppe unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, gängigen Vorurteilen von desinteressierten Zuwandererfamilien entgegen zu treten. Besonders positiv über den Projektverlauf äußern sich auch die beteiligten Erzieherinnen selbst, obgleich sie im Rahmen des Projekts ein sehr anspruchsvolles Programm zu bewältigen haben. Sie sehen inzwischen deutlich, welche Fortschritte die Kinder machen, und führen dies zu Recht auf ihr hohes Engagement zurück. Interessant ist auch, was „alte Hasen“, d. h. in der Förderung mittlerweile sehr erfahrene Erzieherinnen, jungen Kolleginnen unlängst bei einer Informationsveranstaltung mit auf den Weg gaben, hier ein wörtliches Zitat: „Ihr müsst in erster Linie auf euer eigenes Sprachverhalten achten. Man denkt, man spricht sehr gut, doch wenn man sich mal aufnimmt [d. h.: eine Ton- oder Videoaufnahme macht] und dann genau hinhört, merkt man ‚hoppla’ - man spricht doch viel in kurzen Sätzen, Befehlsformen, Ja/ Nein-Fragen. Sich selbst darüber bewusst zu werden, wie man mit den Kindern spricht, ist der erste Schritt zur Sprachförderung.“ Genau damit haben wir das richtige Stichwort für das nächste Kapitel, in dem es um das Überdenken des eigenen Sprachverhaltens geht - dies aber nicht nur in einem kritischen Sinne. Ziel meiner Ausführungen ist vielmehr auch, bei Ihnen Vertrauen in die eigenen kommunikativen Kompetenzen und in die Ihrer kindlichen Gesprächspartner zu wecken. Fazit Im Spracherwerb liegt, gerade wegen seiner biologischen Verankerung, besonderes Potential. Um sich auf den Weg zu machen, benötigen Lerner und Lernerinnen auf regelmäßiger Basis natürlichen und reichhaltigen Input, kein Training. Sie benötigen auch Belege dafür, dass eine Sprache im Alltag wichtig ist, z. B. auch von anderen Kindern oder vielen unterschiedlichen Erwachsenen gesprochen wird. Wenn es bei kleinen Kindern mit dem Spracherwerb auch unter optimierten Bedingungen nicht so recht funktioniert, sollte man sicherheitshalber eine logopädische Klärung anstreben. Eltern sollten sich ihren Kindern gegenüber wie normale Gesprächspartner verhalten; sie sollen mit ihnen viel und mit Freude kommunizieren. Monolinguale Familien (die ja wahrscheinlich allein aufgrund beherrschter Dialekte eigentlich nicht wirklich einsprachig sind) sollten vermeiden, in Panik zu verfallen, weil sie meinen, sie müssten ihrem Kind unbedingt in den ersten Lebensjahren den Zugang zu Englisch oder Französisch verschaffen, auch wenn diese Sprachen in ihrer normalen Lebensumwelt keine Rolle spielen. Wenn die © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 168 Sprachliche Bildung, Sprachförderung und Spracherwerb Stunde, die sie mit ihrem Kind im Auto oder im Bus sitzen, um zu einem Englischkurs zu fahren, die einzige Zeit ist, in der sie in Ruhe mit ihm ein Gespräch führen, dann ist die Anfahrtszeit sicher gut investiert. Ansonsten rate ich auch hier zu Augenmaß (oder Bodenhaftung): Kindern, die mit dem Bildungssystem zurechtkommen, wird es auch später nicht an Gelegenheit fehlen, sich Fremdsprachen anzueignen. Systematische sprachliche Förderung geht über eine Immersionssituation, das „Sprachbad“, als anregungsreiche Umgebung hinaus und bietet sehr gezielte, wenngleich immer noch spielerisch verpackte Information an: das Buffet, von dem ich oben gesprochen hatte. Beispiele dafür finden Sie in Kapitel 9. Von speziell dafür geschulten ErzieherInnen und LehrerInnen sollte man dann im Idealfall auch erwarten, dass sie das eine oder andere standardisierte Verfahren zur Ermittlung des Sprachstands einsetzen können (Kany & Schöler 2007, Schulz et al. 2008). Und dann wäre da noch die sprachliche Bildung, die ich gerne in unser aller Köpfe sehen möchte. Aus linguistischer Sicht kann man nur ausdrücklich unterstreichen, wie wichtig und wünschenswert es ist, dass Wissen über Sprache und ein gewisser analytischer Zugang zu Sprache Teil unserer Allgemeinbildung werden. Bei der Sprachförderung sitzen alle in einem Boot, wir nennen es unsere sprARCHE © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 8 Mit Kindern reden Eine kleine Zeitreise und ein Perspektivenwechsel Ich lade Sie ein auf eine kurze Zeitreise! Stellen Sie sich bitte vor, Sie wären etwa drei Jahre alt, also in einem Alter, in dem Sie bereits Experte oder Expertin in mindestens einer Erstsprache sind. Sie hätten sich schon die wichtigsten Satzbaupläne in Ihrer Muttersprache erschlossen und wüssten auch sonst eine ganze Menge darüber, wie Sprache funktioniert. Sie haben auch schon festgestellt, dass es früher, als Sie einfach nur mal losgebrüllt haben, leichter war sich durchzusetzen als jetzt, wo man Ihnen immer mit vielem wenn und aber kommt, wobei Ihnen doch einfach ein ja oder okay reichen würde, z. B. als Antwort auf Ihre Frage, ob Sie Opas Kettensäge bedienen dürfen. Bei unserem kleinen Ausflug handelt es sich nicht nur um eine Reise in der Zeit, die Sie in Ihre frühe Kindheit zurückversetzt, sondern auch im Raum. Auf dieser Reise begeben Sie und Ihre Eltern sich nämlich in ein anderes Land. An Bord der sprARCHE, des am Ende des letzten Kapitels abgebildeten Boots, landen Sie schließlich in Linguanuova, einer kleinen Insel im Atlantik, gehen an Land und beziehen ein nettes Häuschen. Natürlich haben Ihre Mutter und Ihr Vater Ihnen auch schon längst erzählt, dass sie dort, auf Linguanuova, einige Jahre lang arbeiten würden. Am zweiten Tag nach Ihrer Ankunft bringt Ihr Vater Sie in einen Kindergarten, in dem man Sie sehr freundlich begrüßt - d. h. Sie vermuten mal, dass es sich um eine Begrüßung handelt, verstehen konnten Sie ja nichts -, und dann, nachdem Ihr Vater Ihnen noch übers Haar gestrichen und gesagt hat See you later, alligator! , sind Sie erst mal auf sich allein gestellt. Sie sind in einer neuen, ganz netten Umgebung, von vielen Kindern und einer oder auch mehreren Sprachen (das konnten Sie noch nicht feststellen) umgeben, die Sie noch nie gehört haben. Klar, als ein Kind, das sich für Kettensägen interessiert, kann man Sie nicht so leicht ängstigen! In der Kita, die Sie zuhause besucht hatten, mussten Sie sich auch anfangs auf einen neuen Dialekt und auf Kinder einstellen, die viele andere Sprachen beherrschten. Sie sind also vor allem ganz schön neugierig! Drücken wir an dieser Stelle einmal kurz auf die Pausentaste. Was, meinen Sie, würden Sie sich in einer solchen neuen Situation wünschen? Ganz oben auf Ihrer Liste stünde sicher der Wunsch nach einem freundlichen und respektvollen Umgang, und das scheint ja in meiner kleinen Geschichte gewährleistet © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 170 Mit Kindern reden zu sein. Natürlich wissen Sie nicht, was die anderen Kinder wirklich sagen, die auf Sie zeigen und rumtuscheln, aber sie verhalten sich eigentlich nicht unfreundlich. Manche gucken eher ein bisschen ängstlich, denn Sie sehen ganz schön stark und mutig aus! Sie kommen sich allerdings im Moment ziemlich blöd vor, da Sie nicht einmal danach fragen können, wo das Klo ist. Sie wünschten sich also, dass jemand käme, der Sie erst einmal mit den Örtlichkeiten vertraut macht. Und tatsächlich, da kommt eine junge Frau auf Sie zu, geht in die Knie, um sich auf Augenhöhe mit Ihnen zu begeben, streckt Ihnen eine Hand entgegen und deutet mit der anderen auf sich und sagt etwas, von dem Sie nur ein Wort erkennen, klingt wie Majacuja, ah, sie sagt es noch mal langsam: Maria Clara. So muss sie heißen, denken Sie. Dann sagt Maria Clara Ihren Namen, nimmt Ihre Hand und los geht’s mit dem Kennenlernen der Kita. Eigentlich befinden Sie sich in einer ähnlichen Lage wie ForscherInnen, die eine neue Kultur und eine ihnen bislang unbekannte Sprache untersuchen wollen. Man begibt sich für mehrere Monate an den Ort, an dem diese Sprache gesprochen wird. Während Sie sich als Kind in einer neuen Kita oder Schule, in der Sie anfangs nichts verstehen, in einer Immersionssituation (oder eigentlich, wenn Sie als einzelnes Kind in der Minderheit sind, eher in einer Submersions- Situation) befinden, die man auch als Sink- oder Schwimm-Methode bezeichnet hat, vgl. Baker & Jones 2000), spricht man bei Forschern etwas schmunzelnd vom going native (also „sich in einen Ureinwohner verwandeln“). Was man als Sprachforscher in einer solchen Situation benötigt, sind Leute (technisch: Informanten und Informantinnen), die einem helfen, die unbekannte Sprache zu erlernen. Am Anfang, wenn man noch kaum etwas versteht, hofft man natürlich, dass man nicht an der Nase herumgeführt wird. Stellen Sie sich vor: Sie deuten auf dem Markt auf diverse Obst- und Gemüsesorten, und anstatt Ihnen die Bezeichnungen zu nennen (oder den Preis, je nachdem, wie man Ihre Gesten deutet), bringt man Ihnen lauter Schimpfwörter bei, die Sie dann womöglich am folgenden Tag zur Belustigung (oder zum Ärger) eines anderen Gemüsehändlers von sich geben! Kinder, die ohne Sprachkenntnisse in eine deutsche Kita kommen, sind auf einer ähnlichen Forschungsreise, und sie haben nicht einmal ein Diktiergerät oder einen Schreibblock, auf dem sie sich alles, was sie hören, notieren können. Aber sie haben ein recht gutes Gedächtnis. Kinder verfügen über kluge Strategien des Wortschatzerwerbs (ich erinnere an Kapitel 2 und 4), und sie wissen auch, dass Menschen meistens über das reden, was sie gerade machen, machen wollen oder gemacht haben, was andere getan haben, gerade tun oder tun wollen und sollen. Wie sich SprecherInnen momentan fühlen, kann man oft an der Mimik, an der Körperhaltung und ihrer Lautstärke erkennen. Kinder sind auch darauf angewiesen, dass man ihnen zunächst die Wörter nennt, die sie als erstes brauchen (also den Namen eines Objekts vor der Farbe oder irgendeinem Detail). Stellen Sie sich vor, ich legte Ihnen (auf dieser Insel) eine © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Eine kleine Zeitreise und ein Perspektivenwechsel 171 hübsche Frucht, die Sie noch nie gesehen haben, in die Hand und sagte: Eklig! Sie nähmen sie vielleicht mit nach Hause, sagten zu Ihren Eltern: Guckt mal, ein Eklig! , bissen hinein und … na ja! Zurück zu Ihren Erwartungen an Ihre neue Umgebung: Sie würden sich sicher wünschen, dass Ihre Umgebung etwas darüber weiß, wie das mentale Lexikon funktioniert und was Lerner möglichst schnell wissen wollen. Maria Clara macht ihre Sache in dieser Hinsicht recht gut: Sie ist mit Ihnen von Zimmer zu Zimmer gegangen und hat jedes Mal ganz deutlich etwas gesagt, aus dem Sie messerscharf geschlossen haben, dass es wohl der Name des Raums ist und nicht irgendein Detail oder eine Warnung wie Vorsicht, frisch gestrichen! . In der Küche, wo Maria Clara cucina gesagt hat, waren viele andere Erwachsene und einige Kinder dabei, Essen vorzubereiten. Es duftete lecker! Maria Clara nahm zwei Kekse von einem Teller, gab Ihnen einen und sagte etwas. Vielleicht hieß das Bitte, lecker oder Probier mal! - macht nichts, das würden Sie schon noch herausfinden. Beide Seiten sind auf kooperationsfähige Gesprächspartner angewiesen. Kinder müssen sich darauf verlassen können, dass wir ihnen echte Wörter und vor allem relevante Information anbieten wollen und uns die Feinheiten für später aufheben. Und wir freuen uns natürlich unsererseits, wenn Kinder Lust haben, mit uns zu sprechen, und uns Einblicke in ihren Erwerbsprozess ermöglichen. Allerdings sollten wir uns darauf gefasst machen, dass manche Kinder schrecklich perfektionistisch sind: Sie schweigen möglicherweise zunächst ziemlich lange und sprechen erst, wenn sie schon recht komplexe Sätze zustande bringen. Nun, auf Linguanuova haben Sie sehr schnell angefangen zu sprechen. Vielleicht wollten Sie ja Maria Clara zeigen, dass Sie ihre guten Absichten zu schätzen wissen und dass sie einen Zahn zulegen kann, was den Wortschatz angeht. Glücklicherweise spricht Maria Clara ganz normal mit Ihnen. Sie benennt zwar immer wieder mal einzelne Sachen, aber sonst spricht sie keineswegs nur in einzelnen Wörtern, so dass Sie nach wenigen Wochen auch schon einige längere Satzmuster erkennen. Vor allem die musikalischen Eigenschaften der neuen Sprache, der Rhythmus und die Melodie, klingen Ihnen innerhalb weniger Wochen schon sehr vertraut. Nochmals ein Szenenschnitt, ein Perspektivenwechsel und damit zugleich eine neue Rolle für Sie: Dieses Mal stammen Sie aus einem asiatischen Land, sind mit ihrer Familie in Deutschland gelandet und besuchen seit einem Jahr eine Kita. Sie sprechen ganz passabel und verstehen so gut wie alles. Irgendwann setzt sich dann eine Erzieherin, Bärbel, die erst eine Woche in der Kita ist, neben Sie, zeigt Ihnen ein Bild, auf dem ganz viel zu sehen ist, und fragt Sie: Was macht der? Bärbel deutet dabei auf einen Hund, der sein Bein an einem Baum hebt. Da Sie aus einer Kultur kommen, in der man viele körperliche „Bedürfnisse“ tabuisiert, also nicht darüber spricht, beantworten Sie Bärbels Frage nicht. Dann zeigt Bärbel auf einen anderen Hund, der unter einem Baum © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 172 Mit Kindern reden liegt und an einem Knochen nagt, und fragt: Und was tut der? Sie sagen: Einen Knochen abnagen. Daraufhin Bärbel: Sprich doch bitte mal in ganzen Sätzen! Dank Ihres guten Gedächtnisses erinnern Sie sich daran, dass Bärbel gestern von einer anderen Erzieherin gefragt wurde: Und was machst du Sonntag? , worauf sie antwortete: Endlich ausschlafen! Jetzt sind Sie schon ein bisschen sauer. Warum fragt Bärbel nach etwas, was sie selbst sieht (die Tätigkeiten der Hunde) oder worüber man eigentlich nicht spricht, und warum will sie, dass Sie in ganzen Sätzen reden, wenn sie es selbst nicht tut! Ganze Sätze! Wozu braucht man ganze Sätze in einer umgangssprachlichen Situation oder in einer Reaktion auf eine Frage? Sie empfinden Bärbels Verhalten als sehr unfair und beschließen, jetzt erst einmal nichts mehr zu sagen. Andererseits: Bärbel tut Ihnen auch etwas Leid. Kann einem ja auch Leid tun, wahrscheinlich spricht sie nur eine Sprache! Außerdem ist sie vielleicht auch nicht besonders helle: Weiß sie wirklich nicht, was ein Hund tut, wenn er sein Bein am Baum hebt? Oder was ein Hund mit einem Knochen tut, außer ihn zu vergraben? Während Ihnen all dies durch den Kopf geht, sehen Sie, dass eine andere Erzieherin mit einem Puzzle an Ihnen und Bärbel vorbeigeht. Sie wittern Ihre Chance und sagen in einem ganzen und ziemlich komplexen Satz zu Bärbel: Also, wenn Du mich jetzt nicht mehr brauchst, würde ich eigentlich lieber mit Anne puzzeln. Obwohl es Spaß macht, diese Geschichte weiter zu spinnen, hat sie hier ihren Zweck erfüllt. Mir ging es vor allem darum zu unterstreichen, dass Kinder, die eine zweite Sprache im Kita-Kontext erwerben, viel Wissen über Sprache mitbringen und auf der Grundlage dieser Kenntnisse oft gut erraten können, worüber gerade gesprochen wird, wenn Handlungen mit sprachlichen Äußerungen begleitet werden. Kinder wissen früh ziemlich gut, was man mit Sprache macht: Man informiert, erbittet Information, Ereignisse und Dinge, man tröstet und schimpft. Sie müssen Wörter nicht oft hören, um sie in ihr Gedächtnis aufzunehmen. Wetten, dass Sie am zweiten Tag Ihres Kita-Besuchs schon wüssten, welcher Raum die cucina ist und wo man aqua bekommen kann, wenn man Durst hat? Erinnerung an die vielen Ebenen bzw. Schichten des Sprachpakets Wann immer wir sprechen: Wir tun eine ganze Menge gleichzeitig. Darauf hatte ich in den ersten Kapiteln dieses Buchs, vor allem in Kapitel 2 und 3, immer wieder hingewiesen. Rufen wir uns kurz das Wichtigste in Erinnerung: (a) Noch während wir sprechen, planen wir schon weiter, was wir noch sagen wollen. (b) Wir hören uns selbst zu beim Sprechen und können daher unsere Versprecher schnell verbessern; oft schaffen wir es sogar, uns zu stoppen, bevor wir etwas Unpassendes oder Unhöfliches gesagt haben. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Erinnerung an die vielen Ebenen bzw. Schichten des Sprachpakets 173 (c) Während wir selbst sprechen, können wir auch hören und verstehen, was jemand anderes gleichzeitig sagt. Paralleles Sprechen ist übrigens nicht immer ein unhöflicher Unterbrechungsversuch, sondern manchmal geradezu ein Zeichen von Solidarität und unterstützender Zustimmung. (d) Wir machen auch nicht an Sprachgrenzen halt: Bilinguale Menschen können gleichzeitig Sätze in zwei oder mehr Sprachen planen. Beim Sprechen müssen sie dann entweder einer Sprache Vorrang einräumen, oder sie produzieren gemischte Äußerungen, aber das eben vor allem dann, wenn Gesprächspartner diese Sprachen ebenfalls verstehen. Bemerkenswert ist insbesondere, wie schnell dies alles geht! Und nun kommt der springende Punkt und auch die Brücke zurück zum Thema Sprachförderung. Da wir erwiesenermaßen gut darin sind, unsere Sprache, d. h. unseren „Output“, zu kontrollieren und uns selbst (sogar vor der Tat! ) korrigieren können, haben wir eigentlich auch schon die Technik drauf, die wir benötigen, um unser Sprachangebot für Kinder bewusster zu gestalten. Dabei denke ich vor allem an zwei Aspekte: • Wenn wir ohnehin immer, d. h. auch bei ganz normalen Gesprächen, zwischen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten wählen, dann können wir einige der Varianten, die uns schon im Kopf herumschwirren, auch dazu einsetzen, um Paraphrasen zu bilden (wie Ich geh zuerst zum Auto/ Zuerst geh ich jetzt mal zum Auto). • Wir können unsere Fähigkeit zur „freiwilligen Selbstkontrolle“ nutzen, um sicherzustellen, dass wir mit GesprächspartnerInnen höflich und respektvoll umgehen. Von Gleichzeitigkeit kann man noch in einem weiteren Sinne sprechen. Dazu sollten wir uns kurz noch einmal unser Bild vom Sprachpaket aus Kapitel 2 in Erinnerung rufen. Wir müssen ja das Ganze schließlich so zusammenpacken, dass möglichst jede einzelne Äußerung auf allen Schichten oder Ebenen „in Ordnung“ ist. Nehmen wir als Beispiel noch einmal den Satz, den ich im ersten Kapitel schon zitiert habe: Kummsch du aa, du Schlooftablett? (Übersetzt: Kommst du auch, du Schlaftablette? ), vgl. (1). (1) Partikel! Kummsch du aa, du Schlooftablett? SATZKLAMMER Diese Äußerung, die eine Erzieherin gegenüber einem Kind produzierte, kann einem Lerner des Deutschen durchaus wichtige Informationen bezüglich der Satzstruktur liefern. Wir haben einen Hauptsatz mit einem Verb in der linken © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 174 Mit Kindern reden Satzklammer. Das Vorfeld ist unbesetzt, denn es handelt sich um eine Ja/ Nein- Frage. Das Verb stimmt mit dem Subjekt überein (du, kumm-sch), und die Partikel aa (= auch) befindet sich da, wo sie sein sollte: im Mittelfeld. Von der Struktur her ist dieser Satz also vollkommen wohlgeformt; auch mit der Morphologie und der Prosodie ist alles im grünen Bereich. Dennoch würden wir sicher alle sagen, dass die damit verbundene Sprechhandlung deutlich die Grenzen dessen überschreitet, was man als höflichen und respektvollen Umgang bezeichnen würde. Ich hatte zu Beginn des zweiten Kapitels, als wir uns näher mit der deutschen Grammatik beschäftigten, gesagt, dass es mir vor allem darum geht, bewusst zu machen, was Sie eigentlich bereits implizit und vor-bewusst über Grammatik und Sprache im Allgemeinen wissen. Auch hier im achten Kapitel geht es nicht um Hexenwerk, sondern um Kommunikationsstandards, die uns im Grunde bereits zur Verfügung stehen, auch wenn wir sie nicht immer befolgen, wie das Beispiel mit der Schlaftablette zeigt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an das abschließende Zitat einer Erzieherin aus Kapitel 7, denn es erfasst genau, worauf es mir im Folgenden ankommt: „Ihr müsst in erster Linie auf euer eigenes Sprachverhalten achten. Man denkt, man spricht sehr gut, doch wenn man sich mal aufnimmt [d. h. eine Ton- oder Videoaufnahme macht] und dann genau hinhört, merkt man ‚hoppla’ - man spricht doch viel in kurzen Sätzen, Befehlsformen, Ja/ Nein-Fragen. Sich selbst darüber bewusst zu werden, wie man mit den Kindern spricht, ist der erste Schritt zur Sprachförderung.“ Wenn man relevante Maximen oder Empfehlungen für den angemessenen sprachlichen Umgang mit Kindern (Erwachsenen natürlich auch! ) formulieren wollte, so könnte man diesem Zitat schon einige Anregungen entnehmen, z. B. (a) Sich selbst beobachten/ zuhören! (b) Nicht zu wenig reden! (aber sicher auch nicht zuviel, man muss auch dem Gesprächspartner Platz lassen! ) (c) Im Umgang mit Kindern: Nicht nur in kurzen Anweisungen reden! (Also nicht nur: Jetzt alle noch die Schuhe anziehn! , Komm her! , sondern mehr Variation in die Strukturen bringen: Jetzt alle noch die Schuhe anziehn! Martina, ziehst du dir bitte mal die Schuhe alleine an, dann kann ich Sabine helfen./ Markus hat die Schuhe ja schon angezogen, vielleicht hilft er dir ja, wenn du ihn fragst …) (d) Nicht nur Ja/ Nein-Fragen (Willst du einen Apfel? ) stellen! Die verlangen ja eben nur dies: ein Ja oder ein Nein. Besser: Was soll ich dir denn aus dem Korb geben? Auch hierauf bekommt man kurze Antworten, aber vielleicht garniert mit einem Artikel, Genus und Kasus! Oder: Aus welchem Korb möchtest du denn einen Apfel? Dann bekommt man vielleicht sogar noch eine Präposition geschenkt. Gut sind vor allem Fragen, die ganze Geschichten hervorrufen können: Was ist denn da wohl passiert? Warum hat der sich denn am Bein verletzt? (Mehr dazu später.) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Ein großer Trost: Wir haben perfekte Verbündete! 175 Diese Liste kann man leicht fortsetzen, von der Lautstärke (manche Erzieherinnen sind entsetzt, wenn sie hören, wie oft sie sehr laut sprechen), über die Aussprache (Nuschle ich wirklich immer so? ) bis hin zur Wortwahl. Und keine Angst, man kann sich mit etwas Übung gut „in den Griff“ kriegen! Wie gesagt, die grundlegende Technik ist schließlich schon vorhanden, sie ist Teil unserer sprachlichen Kompetenz Ein großer Trost: Wir haben perfekte Verbündete! Kinder sind wunderbare Kommunikationspartner. Sie bemühen sich wirklich, uns (oft Begriffsstutzigen) auf die Sprünge zu helfen. Ich werde dies an Beispielen illustrieren. (2) Mirko 2; 0, am Fenster, hat einen Rasenmäher gesehen und gehört d ә koms d ә koms … HAseme\ RT hat nichts gehört Wie bitte? Mirko wiederholt mehrfach HAseme, um RT klarzumachen, was er meint Schließlich produziert er fünf sehr klar artikulierte und getrennte Silben HA-SE-ME-TRA-CY RT ist mittlerweile ans Fenster gegangen, schaut hinaus und sieht schließlich und endlich den Rasenmäher (= Haseme) Da erst fällt der Groschen! (3) Adam 4; 4 spielt mit der Eisenbahn und Spielfiguren. Er tut so, als ob der Zug auf Skiern durch einen Schneelandschäft führe, in der die Figuren (=Leute) einen Schneemann gebaut hätten. Skier, Schnee und Schneemann existieren nur in seiner Fantasie und in der seiner Gesprächspartnerin. … und und wenn die Leute ein SCHNEEmachen, müssen die Züge den Schnee wenn die Leute ein SCHNEEmann machen, fahrn sie HOCH, und wenn die wenn die Leute ein SCHNEEmann machen, fahrn se hoch, … wenn die Leute ein SCHNEEmann machen, müssen die Züge durch, … den SCHNEEmann kaPUTTmachen, und dann sagen die LEUte, oh, d ә SCHNEEmann is kaputt. Zuerst korrigiert Adam hier in der zweiten Zeile das zweimal unvollständige SCHNEE zu Schneemann. Als Zuhörer haben wir anfangs keine Ahnung, auf wen sich Pronomen wie sie/ se beziehen (auf Züge, Leute? ). Bei Adams drittem Versuch, wenn die Leute ein Schneemann machen, müssen die Züge durch, wird klar, worauf sich das Pronomen sie/ se verweist, nämlich auf die Züge. Schließlich wird auch noch durch einen Nachtrag - den Schneemann kaputtmachen - erläu- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 176 Mit Kindern reden tert, was mit müssen die Züge durch gemeint ist. Adam bemüht sich hier sehr, seiner Gesprächspartnerin zu erläutern, was in dieser Fantasieszene passieren soll. Gleich in der nächsten Äußerung tut er noch ein Übriges: Er tritt auch für einen Moment aus der Spielhandlung heraus und kommentiert seine Inszenierung folgendermaßen: (4) ich GLAUB natürlich NICHT dass man SKI fahren dass ZÜGE ski fahren können\ In dieser Äußerung verbessert er sogar spontan einen eigenen Versprecher (dass man Ski fahren … dass Züge Ski fahren …). Kinder sind sehr kooperationsbereit, auch in der Sprachwahl Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie sehr bilinguale Kinder bereit sind, sich an die Sprachwahl ihrer Gesprächspartner anzupassen. Die folgende Grafik von Adam zeigt dies deutlich. (5) Adams Sprachwahl im Alter 3; 8 und 4; 2, jeweils im einstündigen Gespräch mit einer englisch- oder einer deutschsprachigen Gesprächspartnerin Wenn eine englische Gesprächspartnerin mit ihm redet, bleibt Adam konsequent beim Englischen, wenn er Deutsch angesprochen wird, spricht er ausschließlich Deutsch. Das Interessante ist, dass sein Englisch, wie ich in Kapitel 5 gezeigt habe, im Vergleich mit dem Deutschen für lange Zeit sehr „schwach“ ist. Das heißt auch, dass sich Adam im Englischen bei weitem nicht so differenziert und komplex ausdrücken kann wie im Deutschen. Dennoch ist er bereit, in hohem Maße mit seinen Gesprächspartnerinnen zu kooperieren. Wie aber sieht es mit Kindern aus, die erst in der Kita mit dem Deutscherwerb anfangen, in ihrer sonstigen Entwicklung aber schon sehr weit sind und eigentlich viel kommunizieren möchten? Das Verlaufsdiagramm in (6) zeigt, 3; 8 4; 2 © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kinder sind sehr kooperationsbereit, auch in der Sprachwahl 177 wie häufig verschiedene Kinder mit der Erstsprache Russisch, Türkisch, Arabisch in einer Situation, in der sie nur auf Deutsch angesprochen werden, zu ihren Muttersprachen greifen. Auch hier sehen wir, dass die Kinder in hohem Maße bereit sind, Deutsch zu reden, auch wenn dies bedeutet, dass sie am Anfang nur in einzelnen Wörtern oder einfachen Wortverbindungen kommunizieren können. (6) Häufigkeit der muttersprachlichen Elemente in den deutschen Äußerungen von vier Kindern mit Deutsch als Zweitsprache Ein Eindringen der Erstsprache, eine Interferenz, findet eigentlich nur bei den ersten Aufnahmen oder schon einmal nach einem mehrwöchigen Urlaub (daher die Ausreißer nach oben! ) im Herkunftsland der Familie statt, wenn ein Kind längere Zeit keine Gelegenheit hatte, Deutsch zu hören und zu sprechen. Das kooperative Verhalten der Kinder ist übrigens nicht nur darauf zurückzuführen, dass ihre GesprächspartnerInnen die andere, unterdrückte Sprache nicht verstanden hätten, wie mein kleiner Exkurs unten erläutert. Exkurs Ich komme kurz auf Ahu zurück, deren Erwerbsprozess ich in Kapitel 6 beschrieben habe. Unsere ersten Tonaufnahmen mit ihr in ihrer Erstsprache (tunesisches Arabisch) wurden von zwei jungen tunesischen Mitarbeiterinnen unseres Projekts gemacht, die Ahu zusammen besuchten. Sie hatten auch den Kontakt zu den Eltern, die kein Deutsch sprachen, hergestellt und sehr schnell ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut. Als wir nach einigen Wochen dazu übergehen wollten, in der Kita, die Ahu besuchte, von deutschen Muttersprachlern Aufnahmen in deutscher Sprache anfertigen zu lassen, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 178 Mit Kindern reden teilten uns die Eltern mit, sie wünschten, dass auch die deutschen Aufnahmen von den beiden Tunesierinnen gemacht würden. Wir waren also sehr gespannt darauf zu sehen, wie Ahu darauf reagieren würde, dass nun die beiden Personen, die bisher nur Arabisch mit ihr geredet hatten, auf einmal Deutsch sprachen (was die beiden jungen Frauen übrigens sehr gut konnten! ). Wir befürchteten auch, dass sich Ahu nicht auf diesen Wechsel einlassen würde. Aber unsere Skepsis war völlig unbegründet, wie die Grafik zeigt. Obwohl die beiden Mitarbeiterinnen im Umfeld der Aufnahme (bei der Begrüßung und danach) mit Ahu Arabisch sprachen, so gelang es ihnen mühelos, bei den Tonbandaufnahmen in der Kita die Regel einzuführen: Jetzt sprechen wir mal alle Deutsch! Dialoge mit Kindern: Hinhören und gut hinschauen Zu den Sprachregistern, den Varietäten, derer wir uns bedienen können, zählt man auch das Motherese, früher auch als „Ammensprache“ bezeichnet, eine besondere Art, mit Kindern zu sprechen, die sich u. a. durch Vereinfachungen, klare Artikulation, übertriebene Satzmelodie und besondere Techniken der Gesprächsfortsetzung auszeichnet, z. B. durch viele Wiederholungen mit und ohne Expansionen (Erweiterungen, Ergänzungen), Umformulierungen und Verständnis sichernde Rückfragen (Grimm 1990). Ungeachtet der Frage, was dabei eigentlich an sprachlichem Wissen „gelehrt“ werden könnte, bildet sich dabei eine ganz besondere Art von inhaltlichem und strukturellem Zusammenhang aus, der sich nicht nur über mehrere Sätze erstreckt, sondern vielmehr die Redebeiträge von Sprechern und Hörern miteinander vernetzt. Fangen wir vielleicht zunächst bei den Problemen der Kommunikation mit Kleinkindern an: Es ist nämlich keineswegs einfach zu verstehen, was Kinder wirklich meinen. Aber Verstehen ist ja auch unter Erwachsenen gleicher Sprache schon eine vertrackte Sache! Im Umgang mit sehr jungen GesprächspartnerInnen helfen uns am ehesten der Kontext und unser Weltwissen dabei herauszufinden, worum es geht. Ein Beispiel mag dies illustrieren. (7) Julia 1; 10 sitzt im Bett und zieht einen Puppenwagen zu sich ins Bett wagen daREIN/ (8) Julia 1; 10 steht vor ihrem Puppenwagen daREIN/ …da/ RT Wer denn? Julia wagen daREIN/ … JUlia/ Julia klettert rein … Julia daREIN/ Ohne Zuhilfenahme der Situation, also ohne zu sehen, was Julia beim Sprechen anschaut oder tut, wüssten wir nicht, wie wir wagen darein interpretieren sollten. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dialoge mit Kindern: Hinhören und gut hinschauen 179 In (7) ist wagen das von der Handlung (reinziehen) betroffene Objekt, in (8) der Zielort der Handlung (des Reinkletterns). Das Heranziehen des Kontextes ist also nicht nur sinnvoll, sondern unerlässlich, aber genau das Gleiche tun Kinder ja auch. Sie achten auf das, was wir anschauen oder tun, wenn wir sprechen, und sie folgen mit ihren Augen unserer Blickrichtung, lange bevor sie anfangen zu sprechen (Bruner 1987). Damit verfügen sie schon als Babys (und wir mit ihnen) über eine wichtige Voraussetzung für jegliche Kommunikation: die Herstellung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitszentrums. Ich erinnere Sie an Ihre Begegnung mit Maria Clara: Sie hat Ihnen einmal ein Stück Seife in die Hand gedrückt und ein Wort gesagt, das Sie für eine Entsprechung von dt. Seife gehalten haben; waschen war auch noch eine Interpretationsmöglichkeit, die Ihnen in den Sinn kam. Später stellte sich heraus, dass sie Bitte! gesagt hatte. Nun, auch wenn Sie beim ersten Raten (Seife? waschen? ) daneben lagen, hatten Sie doch schon eine Ahnung davon, was man in so einer Situation wohl sagen könnte. Ihr gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus (die Seife und das Drumherum) hatte die potentiell unendliche Menge der Dinge und Ereignisse, über die man sprechen könnte, schon einmal auf eine relevante Teilmenge eingeschränkt. Als Erwachsene, die Kindern zuhören, verlassen wir uns aber nicht nur auf unsere Wahrnehmung der Situation und auf unser Weltwissen, um herauszufinden, was Kinder sagen wollen. Sobald sie anfangen, Wörter zu kombinieren, nutzen wir auch unser syntaktisches Wissen. Der Psychologe Roger Brown, der in den frühen 1970er Jahren ein sehr wichtiges Buch über den Spracherwerb verfasst hat, beschrieb dies sehr treffend wie folgt: Researchers cannot help doing it. The adult mind receiving a telegraphic utterance in a given context automatically expands it into an appropriate sentence (1973: 106). (Wissenschafter können nicht anders: Sobald das erwachsene Gehirn eine im Telegrammstil produzierte Äußerung in einem gegebenen Kontext antrifft, erweitert es sie automatisch zu einem angemessenen Satz.) Das heißt, erwachsene ZuhörerInnen versuchen automatisch, die Fragmente kindlicher Äußerungen zu einem Satz zu erweitern. Bei den obigen Beispielen denkt man dabei sofort an Möglichkeiten wie Der Wagen soll da rein/ Ich zieh den Wagen da rein für (7) und an Ich klettere/ Julia will in den Wagen (da) rein für (8). Wohlgemerkt: Wir mögen uns tüchtig irren und das Kind missverstehen. Das Gute an dieser Strategie ist in jedem Fall, dass wir die jeweilige Interpretation nutzen können, um das Gespräch weiterzuführen, unter anderem indem wir zurückfragen: z. B. Der Wagen soll rein? Oder Julia will rein? Wenn man Sprachkorpora untersucht, so stellt man fest, dass Äußerungen von Kindern und Erwachsenen oft „paarweise“ eng miteinander vernetzt sind. Dazu gehören nicht nur Erweiterungen, wie in den soeben angesprochenen Fällen, sondern auch Rückfragen wie in (9) und leichte Umformulierungen wie © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 180 Mit Kindern reden in (10). Insgesamt folgen in den von mir untersuchten Korpora einsprachiger Kinder gut 20 % aller Erwachsenenreaktionen diesem Muster. (9) Valle 2; 1 deutet auf Gurken. die kann man ESsen\ Erw. Kann man die essen? (10) Valle 2; 1 nimmt Gegenstand auf. Valle HOLT das\ Erw. Du holst das. Bei beiden Strategien (Expansion und Wiederholung mit kleineren Umformulierungen) brauchen wir uns anscheinend nicht sonderlich anzustrengen. Wie Roger Brown betonte: Eigentlich können wir uns nicht gegen die Expansion wehren. Und die Umformulierungen in (9) und (10) finden in der Kinderäußerung ja schon alles, was sie brauchen. Interessant ist übrigens, dass Kinder selbst sehr früh im Spracherwerb etwas Vergleichbares praktizieren, indem sie ihre eigenen Äußerungen ergänzen; hier zwei Beispiele von Stephanie und Mirko. (11) Stephanie 1; 10 deutet auf Elefanten AUCH’n rüssel\ das AUCH’n rüssel\ (12) Mirko 2; 2 setzt Lego-Huhn auf einen Traktor. d ә HUHN draufsetz ә \ … kann d ә HUHN draufsetz ә \ Besonders aufschlussreich sind natürlich solche Umformulierungen, mit denen ein Kind eine eigene Äußerung nicht nur erweitert, sondern sie vielmehr grundlegend repariert, wie in (13)-(14). In beiden Fällen kommen diese Reparaturen ohne Fremdeinwirkung, d. h. ohne Rückfragen von Erwachsenen, zustande. (13) Mirko 2; 3 schaut aus dem Fenster d ә das ә MANN da\ … der MANN is da\ (14) Florian 3; 1 schaut Bild an da schlaf AUCH wer\… schläft AUCH wer\ Auf Rückfragen kann man als interessierter Gesprächspartner oft schon deswegen nicht verzichten, weil man tatsächlich Hilfe für die Interpretation von Kinderäußerungen benötigt. Und wer sollte besser darüber Bescheid wissen als ein Kind selbst? Vgl. dazu die folgende Episode: (15) Florian 2; 8 schiebt einen Zug, stoppt ihn. RT fragt Da hält er da an? Florian schiebt anderen Zug an ja\ …ane (= andere) zug weggefahren is\ RT Ach so, der muss warten, bis der andere Zug weggefahren ist. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dialoge mit Kindern: Hinhören und gut hinschauen 181 Florian guck mal der ZUG wegfahrt\…WAsser weg\ DANN die eisenbahn fahrn\ RT Die Eisenbahn muss warten? Florian ja\ RT Und wie lange muss sie warten? Florian WAsser weggegangen is\ Haben Sie bemerkt, dass Florian in dieser Passage schon Vorläufer von Nebensätzen produziert? In ane (= andere) zug weggefahren is und wasser weggegangen is fehlt nur noch die Konjunktion (bis). Das Verb steht schon an der richtigen Stelle (VE) und erscheint auch in der richtigen Form. Das nächste Beispiel zeigt ebenfalls, wie bereitwillig Kinder etwas wiederholen und dabei auch umformulieren, um ihren Gesprächspartnern auf die Sprünge zu verhelfen. (16) Florian 3; 1 zeigt auf das Bild eines Stockbetts (= Etagenbett) bald krieg ich AUCH’n tagenbett\ … krieg ich AUCH eins\ RT Was kriegst du? Florian ich krieg auch’n Tagenbett, noch so ein\ RT Wenn du größer bist? Florian ja DANN krieg ich eins\ Aber auch ohne direkte Nachfragen, Bitten um Klarstellung oder Anlass zur Selbstkorrektur spielen Kinder früh von sich aus mit Variation: In (17) steht das direkte Objekt vor dem finiten Verb im Vorfeld, ganz klar ein Indiz dafür, dass Stephanie bereits in Richtung Meilenstein III unterwegs ist, obwohl die zweite Äußerung von (17), ebenso wie (18), noch dem alten Muster von Meilenstein II folgt. (17) Stephanie 1; 11 baut einen Turm. ein GROßen turm macht Stephanie\ Stephanie GANZ großen turm machen\ (18) Stephanie 1; 11 gibt Vater etwas PApa das haben\… DAS Papa haben\ Kinder bemühen sich auch von sich aus um Präzisierung von Sachverhalten, vgl. (19). (19) Florian 2; 8 über Leute auf einem Bild die gehen spaZIEren\ … jetzt gehn sie zum TIEren alle\ Was aufeinander folgende Äußerungen von Kindern und Erwachsenen (in beliebiger Reihenfolge übrigens! ) besonders auszeichnet, ist die schiere Menge an fast-identischen Wiederholungen und parallel aufgebauten Strukturen. Dies beschränkt sich übrigens nicht auf die Kommunikation zwischen Kindern und © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 182 Mit Kindern reden Erwachsenen, sondern ist ein ganz generelles Merkmal sprachlicher Interaktion. Und wir finden es natürlich auch in Äußerungssequenzen, die nur von Kindern produziert werden, vgl. (20)-(21). (20) Florian 2; 8 hat Klötze (RT und er tun so, als ob es Pilze wären) in einen Kochtopf getan, stellt Topf auf Spielzeugherd, JETZT wer’n sie gekocht\ nimmt Topf vom Herd, JETZT sind sie gekocht\ gibt RT den Topf. JETZT kannsu die essen\ (21) Florian 2; 8 baut n’WASCHanlage wird\ GUCKmal ne TANKstelle wird\ ZWEI waschanlagen wird\ Die folgenden Beispiele illustrieren Parallelen über Sprecherwechsel hinweg, und zwar in beide Richtungen. In (22) ist es der Vater, der eine Struktur exakt wiederholt. Beispiel (23) hatte ich schon in Kapitel 4 unter dem Stichwort frühe „Paraphrasierfähigkeit“ besprochen. Ich wiederhole es hier wegen der Parallele von väterlichem der macht was? und der macht sik. (22) Vater Und wo sind meine Hände? Stephanie 1; 9 deutet sind DA ja\ Vater Sind DA, ja. (23) Erw. Was macht der Papa? Stephanie 1; 11 der SIKT\ Erw. der macht was? S. der SIKT … der macht SIK\ Während (22) lediglich wie eine Bestätigung, eine Art von Echo wirkt, füllt Stephanies Sik in (23) genau die Informationslücke, die durch das Fragewort was angezeigt wird, vgl. (24). (24) WAS? der macht SIK Ebenso verhält es sich in (25): © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wenn der Input Irrtümer provoziert 183 (25) Stephanie 1; 8 spielt mit Dose AUFmach\ Vater Was aufmachen? Stephanie DOse aufmach\ Als besonders bemerkenswert erweisen sich Sequenzen, in denen ein Kind irrtümlicherweise annimmt, dass es eine Lücke füllen soll. Ein einschlägiges Beispiel dafür ist (26). Die Rückfrage der erwachsenen Gesprächspartnerin von Valle lässt tatsächlich zwei Interpretationen zu: Der braucht keine? und Der braucht keine __ (Lücke) __? (26) Valle 2; 2 der papagei muss keine decke haben\ Erw. Der braucht keine/ Valle DEcke\ Dass Valle hier eine vermeintliche Lücke füllt, überrascht nicht, wenn man sich anschaut, wie er sich von seiner erwachsenen Gesprächspartnerin Informationen holt, vgl. (27)-(28). Auch hierbei erkennt man die parallele Organisation beider Äußerungen. (27) Valle 2; 2 das da war/ (das da war _(Lücke)_? ) Erw. Das war ein Flugzeug\ (28) Valle 1; 11 nimmt Verschlusskappe eines Kugelschreibers auf und zeigt ihn Erw. das is der/ … das da is/ das da/ Erw. Das ist von einem Kugelschreiber der Verschluss. Valle nimmt den Stift das is der/ Erw. Das ist der Füllfederhalter. Wenn der Input Irrtümer provoziert Das inhaltliche und auch formale Aufgreifen einer vorangegangenen Äußerung ist sicher der beste Beweis für die frühe pragmatische Kompetenz von Kindern und ihr Bemühen um kooperatives Verhalten. Interessant (und auch amüsant) sind daher insbesondere Fälle, in denen das Ergebnis aus Sicht der Erwachsenengrammatik zu Abweichungen führt, vgl. (29)-(32). (29) Stephanies 2; 6 kleine Schwester weint. Stephanie hatte sie geschubst. Vater fragt Was hast’n mit der Andrea gemacht? Stephanie mit ihr AUa gemacht\ © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 184 Mit Kindern reden (30) Stephanie 2; 9 erzählt von Ferien wir sind auch noch deSCHWOMM\ RT Am Meer? Stephanie NE, wir sind am SCHWIMMbad geschwimmt\ ich WOLLte nicht in die WELlen die GROßen\ RT Warum nicht? Stephanie weil sie so BRAUsent\ (31) Vater zu Valle Valle, wer hat angerufen? Valle 2; 4 Christine\ Vater Die Christine? Valle ja\ Vater Wer ist die Christine? Valle eine FRAU\ Vater Aus der Kindergruppe? Valle nein, ich weiß nicht so genau aus was die is\ (32) Erw. über Spielfigur Was ist mit dem passiert? Adam 4; 2 mit den mit den is hingefalln und da is er jetzt tot\ Aus Sicht eines zweisprachigen Kindes, dessen eine Sprache der anderen um einiges hinterherhinkt, bietet sich hier die Möglichkeit, durch eine Anleihe beim Gesprächspartner elegant manche Lücken zu füllen. Für Adam war dies eine recht markante Strategie (vgl. Gawlitzek-Maiwald & Tracy 2005). (33) Adam 3; 7 und Erw. betrachten einen Mann auf einer Treppe. Erw: Look, what is he doing? Adam d ә doing down d ә stairs\ (anstatt: going) Kommunikation ist einfach und macht Spaß Am Ende des Spracherwerbs steht ein komplexes System von Wissenszusammenhängen. Im Gegensatz dazu ist ein elementares Erkennen des systematischen Hin und Hers von Äußerungen zwischen Sprechern sehr früh zugänglich. Man vergleiche folgende Episode, in der eine junge Frau zum ersten Mal ihr drei Monate altes Baby zum früheren Arbeitsplatz mitnimmt, um es ihren Kollegen und Kolleginnen zu zeigen. (34) Das Baby liegt im Tragekorb, eine Kollegin der Mutter, Patricia, nähert sich und berührt eine Hand des Babys mit einem Finger; Baby fasst nach dem Finger. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kommunikation ist einfach und macht Spaß 185 Patricia Hey, wen haben wir denn da? Wurde aber auch höchste Zeit, dass du mal kommst. Ich dachte schon, du interessierst dich nicht für den Arbeitsplatz deiner Mama. Baby grgr Patricia Na sowas! Stimmt das? Das hätte ich nie gedacht! Wer hat denn so was gesagt? Ich denke, das ist ein Gerücht. Baby pfpfpf etc. Patricia hat keine Schwierigkeiten, sich ganz normal mit dem Baby zu „unterhalten“. Kinder sind übrigens ihrerseits, wie auch die folgenden Beispiele zeigen, kaum jemals um eine Antwort verlegen. (35) Vater What d‘you want to do when you grow up, Mathematics or Linguistics? Hannah 2; 10 Linguistics and washing up (36) Vater Now, Lara, what’s your view on language acquisition? Lara 2; 6 I ate it all up. (37) Adam 5; 5 deutet auf Kuchenstück SO einen kuchen mag ich, papa\ Vater Yes, you can have half of it, if you want to. Adam Why? Vater Well, because you are a small person, and it’s a very big cake. Adam Papi, mein BAUCH ist größer als diese kuchen\ (38) Hannah 4; 2 I want to hear a Schallplatte. Mutter What? Hannah I want to hear one of those round things that’s in a square thing Was die auf diesen Seiten zitierten Kinder im Alter von zwei bis drei Jahren in Gesprächen leisten, können Sie und ich natürlich auch: Selbst dann, wenn wir als Zuhörer und Zuhörerinnen nicht immer völlig verstehen, was Kleinkinder uns sagen wollen (ebenso wie umgekehrt, ich erinnere an Beispiele (35) und (36)), sind wir problemlos dazu in der Lage, unseren Part im Dialog zu übernehmen. Versuchen wir es an einem konkreten Beispiel. Nehmen wir an, ein Kind sagt beim Bilderbuchbetrachten zu uns: „Guck mal, der Hund frisst einen Knochen! “ Für folgende Reaktionen brauchen wir nicht einmal unsere Fantasie sonderlich anzustrengen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 186 Mit Kindern reden (a) Was macht der? Was frisst der? Wer frisst einen Knochen? (b) Hat der Hunger? (c) Meinst du, der frisst den? Vielleicht will er den nur vergraben und ihn erst später fressen. Ob er den wohl wieder findet, wenn er den vergräbt? (d) Ist das wirklich ein Hund? Das sieht eher aus wie ein Eichhörnchen, aber Eichhörnchen fressen keine Knochen, glaube ich. Was meinst du? (e) Sieh mal, da ist noch ein Hund, der hat sich hinter einem Busch versteckt und schaut zu. Ich glaube, der will auch ein Stück vom Knochen haben. Und so weiter und so fort. Es gibt schließlich unendlich viele Möglichkeiten, den Faden weiter zu spinnen. Aber schon ein einfaches „Wie bitte? “ wäre ein Beitrag, der wie das „What? “ von Hannahs Mutter in (38), ein Kind zu weiteren Ausführungen anregen kann. Vom Hinhören und miteinander Reden zur Förderung … ist es eigentlich nur ein kleiner Schritt. Ich wollte Sie mit diesen vielen Beispielen nicht nur unterhalten. Ziel war vielmehr, Ihren Blick - ganz im Sinne der vorangegangenen Kapitel - für kommunikative Kompetenzen von Kindern und für Details zu schärfen und dabei zu zeigen, wie eng kindliche und Erwachsenen-Äußerung in ganz normalen Gesprächen „vernetzt“, d. h. aufeinander bezogen sind. Erwachsene, die sich authentisch, also „echt“ verhalten, wollen wissen, ob sie ein Kind richtig verstanden haben. Als höfliche und interessierte Gesprächspartner möchten sie mit ihrem eigenen nächsten Gesprächszug einen thematisch „relevanten“ Beitrag leisten, wie man es in der pragmatischen Forschung ausdrücken würde (vgl. Meibauer 2001). Wiederholungen sind eigentlich so etwas wie Solidaritätsbekundungen nach dem Motto Ist angekommen! bzw. Rückversicherungsfragen, die der Klarstellung eines Sachverhalts dienen (Kind: Da kalt., Erw.: Das is(t) kalt? ) im Sinne von Meinst du wirklich? Tatsächlich? Hab ich das so richtig verstanden? Wiederholungen mit und ohne Erweiterungen, Umformulierungen etc. zählen damit zu ganz natürlichen Interaktionsstrategien - das heißt auch, dass Sie diese Strategien eigentlich nicht zu lernen brauchen. Sie müssen vielleicht nur etwas „locker“ lassen und sich auf die oftmals abenteuerlichen und die Fantasie herausfordernden Dialoge einlassen, die Kinder initiieren. In der Sprachförderung würden wir im Falle sehr junger Kinder nichts anderes tun, als eben gemeinsam mit ihnen diese Art von Kommunikation zu pflegen und ihnen auf diese Weise zurückzumelden, was bei uns „angekommen“ ist. Da wir, wie ich nicht müde werde zu betonen, immer viele Dinge gleichzeitig kommunizieren, können wir Kindern mehrere Botschaften auf einmal senden. Wir können den Inhalt interessiert und neugierig aufgreifen und zugleich indirekt, d. h. ohne explizite Korrektur, zu erkennen geben, wie wir © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Vom Hinhören und miteinander Reden zur Förderung 187 selbst uns äußern würden und was im Rahmen unseres eigenen Systems eine mögliche Ausdrucksweise wäre. Erinnern Sie sich, dass ich behauptet habe, die Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen sei auch so etwas wie eine Sprachkontaktsituation, in der unterschiedliche Sprachen aufeinander treffen? In Ihrer Kita auf Linguanuova steht das außer Frage: Wo Maria Clara mela sagt, wissen Sie in kürzester Zeit, dass Sie dazu Apfel sagen. Auch auf anderen Ebenen geht es darum, Kinder für Alternativen zu sensibilisieren und ihre Grammatik dazu herauszufordern, das erwachsenensprachliche System, das Ihren Äußerungen zugrunde liegt, zu knacken. Sobald wir gelernt haben, mehr auf das Detail kindlicher Äußerungen zu achten, merken wir auch, dass Kinder uns manchmal recht deutlich (wenngleich indirekt! ) sagen, was ihnen auf dem Weg der Annäherung an unsere Grammatik noch fehlt. Wir können beispielsweise unschwer Formeln erkennen und Kindern helfen, sie aufzubrechen. Wenn Stephanie über Kissen springt und ruft [atomis] (= da komm ich), kann man ihren Stoffaffen ebenfalls springen lassen: Und da kommt der Affe! Oder Sie springen selbst! Aber bleiben wir auf dem Boden, denn Stephanie braucht keine Förderung. Greifen wir also zu realistischeren Beispielen aus dem frühen Zweitspracherwerb. Auf die Frage, was auf dem Bild „passiert“, sagt der fast 6-jährige Alan (Erstsprache Türkisch, ein Jahr Förderung in der Kita) eine HAUS gemach Daraufhin wird gefragt Wer hat ein Haus gemacht? Alan Junge Diesen Dialog könnte man beispielsweise mit folgenden Fragen fortsetzen: Hast du auch schon mal sowas gebaut? Machen wir das gleich auch mal zusammen? etc. Ich kann mir denken, dass insbesondere ErzieherInnen und LehrerInnen unter Ihnen bei der Lektüre dieses Kapitels gedacht haben: Ist ja irgendwie niedlich, was bereits (Kleinst-)Kinder so alles sagen, aber das hat mit meinem Alltag nichts zu tun, weil ich überhaupt keine Zeit habe, mich in Ruhe mit einzelnen Kindern zu beschäftigen. Wie sollte ich in einer Gruppe von mehr als zwanzig einzelnen Kindern überhaupt irgendein Feedback geben? Das ist genau der springende Punkt, auf den ich im letzten Kapitel hingewiesen hatte: Wie viel Raum gibt es denn in Ihrer Kita/ Schule überhaupt für eine individuelle Beobachtung, die sich ja nicht einfach © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 188 Mit Kindern reden so nebenbei erledigen lässt, und für eine individualisierte Förderung? Wie viel Zeit besteht denn, um wirklich einmal genauer hinzuhören und zu bemerken, wo Kinder sich selbst verbessern und an welchen Erwerbsaufgaben sie gerade arbeiten? Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Dingen zu tun: Auf der einen Seite stehen die Erkenntnisse, die wir aus der genauen Beobachtung von Kindern und der Forschung zum Spracherwerb ziehen können - bis zu diesem Moment mein wichtigstes Anliegen -, und auf der anderen Seite steht die Realität: zu große Gruppen in den Kitas, zu große Klassen in den Schulen. Und wie sollte ein einzelnes Kind in einer größeren Gruppe sich Ihrem Aufmerksamkeitszentrum anschließen können, wenn es Sie nicht aus der Nähe hören kann und nicht sieht, womit Sie gerade hantieren? Was für eine Schlussfolgerung ziehen wir aus diesem Konflikt? Meine Antwort lautet ganz klar: Da wir die Prinzipien und Mechanismen des Spracherwerbs nicht ändern können - mit denen ist ja auch alles in bester Ordnung! -, müssen wir die Bedingungen in den Einrichtungen ändern. Als erstes schlage ich vor, Maria Clara zu klonen bzw., um realistisch zu bleiben, dafür zu sorgen, dass die Einrichtungen personell besser ausgestattet werden und dass dann insgesamt die Teams entsprechend geschult werden. Bevor ich im nächsten Kapitel einige Vorschläge dahingehend unterbreite, wie man konkrete Fördermaßen umsetzen könnte, sei noch eine weitere (zugegebenermaßen leicht übertriebene) Frage hinterher geschickt: Würden wir zu unserem Orthopäden sagen, es komme uns bei einer Hüftoperation nicht auf die Beachtung wissenschaftlicher Standards an? Sicher nicht. Aber warum fällt es uns so leicht, das, was die Forschung über die Optimierung von Förderbedingungen zu sagen hat, zu ignorieren? Fazit Anliegen dieses Kapitels war es, jenseits aller Debatten um die Rolle des sprachlichen Inputs für den Spracherwerb aufzuzeigen, dass Kommunikation sehr vielschichtig ist. Kinder merken sehr früh, dass ihnen mit der Sprache nicht nur eine Herausforderung bevorsteht, sondern dass ihnen zugleich ein sehr mächtiges Instrument zufällt. Ich erinnere an Mirko aus Kapitel 4, der im Alter von drei Jahren begriffen hatte, dass ein besonderes sprachliches Merkmal (in diesem Falle ein Lispeln) Gruppenzugehörigkeit signalisieren kann, und er merkte auch anhand der erschrockenen Reaktion seiner Mutter, dass sich mit dem Lispeln gut provozieren ließ. Das gleiche Wissen haben Kinder, die mit zwei Erstsprachen aufgewachsen sind. Kinder erkennen ebenfalls früh, wie Gespräche formal und inhaltlich organisiert sind und dass ihnen dabei von Anfang an eine wichtige Rolle zufällt, u. a. die, ihre Umgebung durch minimale Geräusche zum Weiterreden zu bewegen! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fazit 189 Wir haben nun mit dem Ende dieses Kapitels alle Zutaten, die wir für eine effektive Unterstützung und Förderung von Kindern brauchen: Kenntnisse über die Zielsprache und die Erwerbsaufgabe, Information über Mehrsprachigkeit, Einsicht in das natürliche (Erwerbs-)Programm von Lernern, hoffentlich Selbstvertrauen in die eigene kommunikative Kompetenz, Leidenschaft für das Miteinander-Reden sowie Neugier auf das, was Kinder in Unterhaltungen einbringen können. Machen wir was draus? Bevor ich es vergesse: Auf Linguanuova hat sich inzwischen eine Menge getan. Vier Monate sind ins Land gezogen, Ihre Grammatik in der Landessprache ist auf dem besten Weg. Sie haben Ihre Eltern in Sachen Spracherwerb weit hinter sich gelassen. Mit Maria Clara haben Sie immer noch ein tolles Verhältnis, insbesondere da Sie irgendwann auf die Idee kamen, ihr Deutsch beizubringen. Sie haben Maria Clara eines Tages bei der Hand genommen, sind mit ihr durch die Räume der Kita gegangen und haben Dinge benannt und typische Handlungen vorgeführt, z. B. ein Stück Papier durchgeschnitten und gesagt: Schneiden, schnipp-schnapp. Maria Clara macht gute Fortschritte und Sie sind mächtig stolz auf das, was Sie bei ihr erreicht haben! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 9 Sprachförderung als Herausforderung für alle: Anregungen für die Umsetzung von Fördermaßnahmen Von unserem intuitiven Wissen über Sprache zur systematischen und gezielten Förderung Im Mittelpunkt der letzten beiden Kapitel stehen überwiegend praktische Anregungen für die Umsetzung von Fördermaßnahmen sowie eine Orientierungshilfe für die Einschätzung des kindlichen Sprachentwicklungsstands. Sehr praxisnah wird es dort, wo ich ein mehrstufiges Verfahren für eine einfache und kindgerechte Vermittlung des Wortschatzes vorstelle, das wir im Rahmen der Mannheimer Forschungs- und Kontaktstelle Mehrsprachigkeit entwickelt und erprobt haben, u. a. in dem Projekt „Sprache macht stark! “. Ich werde Sie in diesem Kapitel auch noch einmal an wichtige Eigenschaften deutscher Sätze erinnern und anhand von Beispielen Möglichkeiten diskutieren, um den Erwerb verschiedener grammatischer Bereiche im Vorschulalter spielerisch zu unterstützen. Wenn Sie also hin und wieder das Gefühl überkommt, dass Sie in diesem Kapitel nicht viel Neues erfahren, so ist dies ausgesprochen gut! Die Förderung sollte sich ja eng an das anlehnen können, was wir mittlerweile über den Spracherwerb im Allgemeinen und über den Erwerb des Deutschen als frühe Zweitsprache herausgearbeitet haben. Die informelle Anleitung zur Einschätzung des individuellen Sprachstands, die Sie danach im letzten Kapitel finden, ist in der Tat nur eine Orientierungshilfe und kann kein standardisiertes und normiertes Verfahren ersetzen (vgl. Kany & Schöler 2007, Schulz et al. 2008, Wenzel i. Dr.). Außerdem lässt dieser informelle Leitfaden einige Bereiche, die für eine zuverlässige Sprachstandsdiagnostik wichtig sind, unberücksichtigt, z. B. das Sprachverstehen. Die Funktion dieser Orientierungshilfe ist der eines „Pflanzenbestimmungsbuchs“ vergleichbar: Sie soll Sie für strukturelle Details und für das Erkennen von Entwicklungszusammenhängen sensibilisieren und damit Ihr Beobachtungsvermögen fördern (! ). In den Leitfaden sind auch einige konkrete Förderempfehlungen eingebaut (z. T. handelt es sich um Wiederholungen von Anregungen aus dem vorangegangenen Text), die sich leicht im Alltag umsetzen lassen. Insgesamt sollen diese abschließenden Kapitel illustrieren, wie wir Kindern gegenüber in Bezug auf ganz konkrete Erwerbsaufgaben unsere Rolle als kooperative InformantInnen erfüllen können, und zwar auch unter Umstän- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Von unserem intuitiven Wissen über Sprache 191 den, die nicht so günstig sind wie die, welche wir auf unserer Fantasiereise nach Linguanuova vorgefunden haben. Angesichts des Alters der zu fördernden Kinder - ich denke dabei vor allem an 3bis 5-jährige Kinder mit Deutsch als Zweitsprache - kann es nur darum gehen, Maßnahmen in natürliche und authentische Gesprächs- und Spielabläufe einzubetten. Es handelt sich also nicht um ein Programm, in dem Strukturen eingeübt oder antrainiert werden. Vielmehr setzen wir auf die Fähigkeit der Kinder, oberflächlich unterschiedliche Äußerungen unsererseits zu „durchschauen“ und dahinter einheitliche Baupläne zu erkennen. Spielerischer Umgang mit Sprache (wie in Kapitel 8 schon erläutert) und systematische, gezielte Förderung schließen sich keineswegs aus. Ein systematisches, planvolles Vorgehen ist aus vielen Gründen wichtig. So ist beispielsweise ein möglichst hohes Maß an Verlässlichkeit von Fördermaßnahmen nur zu erzielen, wenn man sicherstellen kann, dass Mitglieder eines Kita-Teams im Notfall (oder aus Leidenschaft für die Förderung! ) für einander einspringen können. Dies geht nur dann ohne Reibungsverlust, wenn eine gut durchdachte und für alle möglichst transparente Konzeption vorliegt und wenn eine Person da weitermachen kann, wo eine andere aufgehört hat. Effektive Förderung braucht, wie ich im vorletzten Kapitel unterstrichen habe, eine gute Basis in einem Team, d. h. möglichst alle sollten verstehen, worum es geht und eigene Ideen und Erfahrungen beisteuern. Nur so wird sich die Arbeit in kleineren Gruppen sinnvoll mit dem vernetzen lassen, was sich im Alltag einer Kita abspielt. Die Eltern sind im Rahmen einer systematischen Förderkonzeption wichtige Partner. Denn Sprachförderung bedarf nicht nur der Verlässlichkeit und des Know-hows seitens der Fördernden, auch die Kinder müssen rechtzeitig und regelmäßig da sein. Wenn es Teil des Förderkonzepts ist, den Kita-Alltag thematisch mit einer spezifischen Sprachförderung in kleinen Gruppen zu verknüpfen (wie in „Sprache macht stark! “), dann sollten die Kinder möglichst kontinuierlich anwesend sein. Exkurs Im Idealfall würde man jedes förderbedürftige Kind täglich eine Stunde lang in möglichst kleinen Gruppen (nicht mehr als vier Kinder! ) während ihres ersten Kita- Jahrs intensiv unterstützen, die Aktivitäten in den Kleingruppen mit dem restlichen Alltagsgeschehen vernetzen und darüber hinaus Kooperationen mit den Familien auf den Weg bringen. In „Sprache macht stark! “ konnten wir drei Stunden intensiver wöchentlicher Förderung in kleinen Gruppen umsetzen. Die Vorstellungen darüber, wie groß Kleingruppen sein dürfen, schwanken in der gegenwärtigen Praxis sehr. Meine eigene Empfehlung aufgrund der Arbeit mit 2-4-Jährigen im Rahmen verschiedener Projekte liegt für den Vorschulbereich bei maximal vier Kindern pro Gruppe. Für die Förderung in ersten Grundschulklassen sind sechs Kinder, wie im Moment im Rahmen Mannheimer Schulprojekte praktiziert, © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 192 Sprachförderung als Herausforderung für alle wahrscheinlich die Oberkante. Angesichts der differenzierten schulischen Anforderungen, die an Kinder in der Sekundarstufe gestellt werden, ist es ein Segen, dass die Projekte der Stiftung Mercator eine Gruppengröße von vier Kindern zulassen. Insgesamt ist es sinnvoll, den Kitas und Schulen in Abhängigkeit vom Temperament der zu fördernden Gruppe mehr Flexibilität zuzugestehen. Extrem lebhafte Kinder, die in einer Gruppe kaum zu bändigen sind, profitieren sicher mehr von jeweils 15 Minuten ruhiger Einzelförderung am Tag als von einer Stunde täglich, in der aufgrund der Gruppendynamik und des Lärmpegels keinerlei Gespräch zustande kommen kann. Fördermaßnahmen müssen in der Regel (also nicht wie auf Linguanuova) viele unterschiedliche Kinder gleichzeitig mitnehmen und sie möglichst rasch nach Eintritt in die Kita mit den sprachlichen Mitteln versorgen, die sie benötigen, um sich im Kita-Alltag zurecht zu finden und um sich mit anderen Kindern verständigen zu können. Dabei ist es von Vorteil, wenn man allen Neuankömmlingen umgehend zu einem vergleichbaren Repertoire verhelfen kann - und auch dafür ist systematisches Vorgehen nötig. Außerdem hilft es einzelnen Kindern, ihren neuen Wortschatz zu festigen, wenn sie bestimmte Bezeichnungen oder Formulierungen nicht nur aus dem Mund einer einzigen Erzieherin, sondern auch von anderen Kindern hören können, wie in dem folgenden Gruppengespräch. (1) Erzieherin: Wo geht denn der Florian jetzt hin? Kind 1: fort Kind 2: wasche Kind 3: waschraum Kind 2: waschraum Erz: Er geht in den Waschraum, genau! Das zweite Kind ergänzt zunächst ein Detail des Ereignisses (jemand, Florian, geht nicht nur fort; er geht weg, um sich zu waschen). Nach der Präzisierung des Orts durch ein weiteres Kind (Waschraum), wird dies von Kind 2 wiederholt. Die anwesende Erwachsene kann sich darauf beschränken, den Inhalt der Kinderantworten zu bestätigen und noch dazu ein perfektes Satzmodell zurückzuspielen, Der Vorteil der Arbeit mit einer kleinen Gruppe liegt nicht nur darin, dass Kinder hören, was die anderen sagen und wie eine pädagogische Fachkraft Kinderäußerungen aufgreift, erweitert oder umformuliert. Kinder merken vor allem auch: Wir alle dürfen etwas sagen, wir alle werden ernst genommen, wir alle kommen an die Reihe und der Rest hört höflich zu. In der Kleingruppe lernen die Kinder also eine Menge über das Kommunizieren (Wie spricht man miteinander, wer spricht wann? etc.), ein Wissen, das sie für den Ausbau der pragmatischen Schicht ihres Sprachpakets gut brauchen können. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wortschatzerwerb in der Zweitsprache: Schatzkarte nicht vergessen! 193 Wortschatzerwerb in der Zweitsprache: Schatzkarte nicht vergessen! Welche Wörter fallen Ihnen spontan ein, wenn ich Ihnen das Stichwort Gesicht zurufe? Nase, Mund, Augen, Zähne, Brille, riechen, lachen, sehen, Falten, mürrisch, Gebiss? Prima, damit haben wir schon die ersten Eckpunkte für unsere „Schatzkarte“. Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir mürrisch, Falten und Gebiss erst einmal auf Eis legen, denn die sind vielleicht im ersten Anlauf für 3-Jährige nicht ganz so relevant. Dafür könnten wir noch Ohren und hören aufnehmen, auch wenn wir darüber streiten könnten, ob Ohren noch zum Gesicht gehören. Auf alle Fälle sind sie wichtig, und genau das zählt! Ich würde auch gerne einige Adjektive mit einbeziehen, damit wir auch über lange und kurze Nasen sprechen können. Insgesamt sollten wir uns vielleicht etwa 15-20 Wörter notieren, mit denen wir schon eine ganze Menge anfangen können, wie ich gleich zeigen werde. Unsere Liste zum Thema „Gesicht“ würde dann in etwa wie folgt aussehen: Substantive: Nase, Mund, Auge(n), Ohr(en), Haare, Gesicht Adjektive: klein, groß, lang, kurz Verben: malen, riechen, sehen, hören Und jetzt brauchen Sie nur noch Ihre Kindergruppe (sagen wir vier Kinder), sowie Stifte und einen großen Bogen Papier. Element 1: Einführung des Wortschatzes, Fast Mapping (erste Wort-Konzept-Verknüpfung) Sie und die Kinder sitzen zusammen auf dem Boden oder am Tisch. Sie selbst zeichnen (bitte langsam) und erzählen drauflos, in etwa so (natürlich mit Pausen, in Abhängigkeit von Ihrem Maltempo! ): Ich male jetzt ein GESICHT. So, erstmal die NASE, eine LANGE NASE. Dann brauchen wir einen MUND. Hier ist der MUND. Das GESICHT braucht ein AUGE. Hier ist ein AUGE, und hier ist noch ein AUGE. Jetzt haben wir zwei AUGEN, damit wir auch gut SEHEN können … (Die Großschreibung zeigt die Wörter der Wortschatzliste an.) Diese Grundsituation (Dinge durch Zeichnen allmählich entstehen lassen) kann man beliebig fortführen und variieren. Im Kontext kreativer Tätigkeiten wie z. B. Malen, Basteln oder Bauen erfordert die eigene Aktivität so viel Zeit, dass man das „Werk“ im Entstehen gut kommentieren kann. Man reduziert dadurch auch das Problem der Mehrdeutigkeit, sobald Kinder das Spiel auf der Metaebene durchschauen. Die Kinder denken sich dann in etwa Folgendes: Jetzt malt Maria Clara genau das, was sie sagt. Guter Wille der Kinder ist natürlich trotzdem immer nötig, denn nicht alle Gegenstände lassen sich so leicht zeichnen wie ein © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 194 Sprachförderung als Herausforderung für alle Gesicht! Wichtig ist, dass Sie nicht nur isolierte Wörter einführen, sondern Ihre gesamte Tätigkeit (in diesem Fall das Zeichnen) in Ruhe sprachlich begleiten. Dabei macht es nichts, dass Kinder anfangs noch nicht alle Teile einer Äußerung verstehen. Der sprachliche Kontext und ihr Wissen über Sprache im Allgemeinen hilft ihnen, ungefähr zu erraten, worum es geht. Denken Sie an sich selbst als clevere 3-Jährige auf Linguanuova! Element 2: Wiederholung bereits eingeführter Wörter in verschiedenen Kontexten Nachdem wichtiger Wortschatz zum Thema „Gesicht“ parallel zum Zeichnen eines Gesichts eingeführt wurde, könnten Sie an den Tagen darauf den Kindern ein Bilderbuch zeigen oder aber auch - macht sich besonders gut! - eigene Babyphotos mitbringen. Beim Sprechen würden Sie auf die genannten Gegenstände zeigen, also auf das Baby, die kleine Nase, den Kopf ohne Haare bzw. mit Haaren. Guckt mal, ich hab Euch Photos von mir mitgebracht. Hier bin ich noch ein Baby, da bin ich noch ganz KLEIN und habe keine HAARE. Guckt mal, wie KLEIN meine NASE ist. Hier auf diesem Photo bin ich schon etwas größer. Und da hab ich auch schon mehr HAARE. … Die Kinder selbst müssen dabei nicht mitreden. Wichtig ist vielmehr, dass sie Wörter, die sie schon einmal gehört haben (vgl. Element 1) nun in unterschiedlichen Kontexten oder Situationen hören können. Dadurch werden zugleich ihre ursprünglichen Annahmen bezüglich der Bedeutung von Wörtern bekräftigt oder berichtigt! Zudem werden thematisch verwandte Wörter (Gesicht, Haare, Nase …; groß, klein) innerhalb eines gemeinsamen Netzwerks miteinander verknüpft. Wörter können sich damit auch gegenseitig „aktivieren“, d. h. anregen und leichter abrufbar machen, aber natürlich auch einmal stören, z. B. bei Versprechern. Wissen hat eben seinen Preis. Ideal wäre dann - mithilfe Ihrer Kolleginnen? - ein Aufgreifen des Wortschatzes (z. B. im Rahmen einer Geschichte, eines Spiels oder eines Liedes) im größeren Kreis (Stuhlkreis), d. h. in der gesamten Kindergruppe. Die zuvor in der Kleingruppe geförderten Kinder hören bei der Gelegenheit den eingeführten Wortschatz auch aus dem Mund der anderen Kinder. In der Gruppe haben sie vielleicht auch weniger Hemmungen, etwas (im Chor) nachzusprechen, z. B. einen Refrain. Selbst wenn sie noch nicht alle Details dieser Texte begreifen: Sie haben schon eine Ahnung, worum es geht: Ein kleiner Teil des (Wort-)Schatzes kann also schon „gehoben“ werden! Auch ein gemeinsamer Ausflug (Besuch im Zoo - welche Tiere haben NASEN? ; eine eigene Mal- oder Bastelaktion, bei der jedes Kind etwas beisteuert: große und kleine Nasen, Ohren etc.) eignet sich für diese Phase der Wortschatz-Vertiefung, sofern dabei ausreichend gesprochen - und gehört - werden kann. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Wortschatzerwerb in der Zweitsprache: Schatzkarte nicht vergessen! 195 Element 3: Wiedererkennen von Wörtern Bei diesem Schritt sollen Kinder Wörter und die damit in ihrem Kopf verknüpften Begriffe wiedererkennen und dazu passende Gegenstände suchen. Für ein entsprechendes Spiel benötigen Sie eine Puppe und Bildkarten/ Gegenstände oder ein Bilderbuch. Möglichkeit 1: Sie bitten die Kinder, von Ihnen genannte Gegenstände unter Alternativen zu suchen, z. B.: „Die Puppe möchte noch einen Apfel. Hat jemand von euch eine Karte mit einem Apfel drauf? “ Möglichkeit 2: Sie betrachten ein Bilderbuch: „Sucht doch mal einen großen Hund. Kann ihn jemand von euch sehen? …“ Möglichkeit 3: Man kann auch das Gesicht, das man am ersten Tag gemalt hatte, auf Pappe kleben, in ein Puzzle zerschneiden und gemeinsam wieder zusammenbauen. Dabei bitten Sie die Kinder insgesamt oder einzeln nacheinander: „Perihan, gibst du mir bitte den MUND? … ein OHR? Gibt es noch ein OHR? Da fehlt doch noch was. Jetzt brauchen wir noch die NASE. Ibo, hilfst du mir bitte mal? …“ Dieses Vorgehen bietet Ihnen die Möglichkeit festzustellen, was schon in den passiven Wortschatz der Kinder übergegangen ist. Anders ausgedrückt: Was verstehen die Kinder schon? An was kann ich bereits anknüpfen? Was muss ich wiederholen? Als Erwachsene neigen wir oft dazu, bei Aufforderungen und Fragen auf die betreffenden Gegenstände zu schauen oder gar zu deuten (wie ich es bei Element 2 auch geraten hatte). Dies hilft den Kindern zwar, sich schneller die Absicht der Aufforderung bzw. Frage zu erschließen, lässt aber keine Rückschlüsse darauf zu, ob sie die Wörter auch ohne diese Hilfestellung verstehen. Wenn Sie das Verständnis einzelner Wörter gezielt überprüfen möchten, sollten Sie darauf achten, dass Sie Ihre Fragen ohne diese visuelle Unterstützung formulieren. Allerdings: Versteht ein Kind ein Wort offensichtlich nicht, würden Sie natürlich wieder auf Hilfe durch Gestik oder Hinweise durch Hinblicken zurückgreifen. Element 4: Aktive Verwendung Sie könnten bei diesen weiteren Schritt wieder ein Gesicht malen, sich aber dieses Mal von den Kindern Anweisungen geben lassen, was Sie malen sollen. Sie Wir malen jetzt wieder ein Gesicht. Was soll ich zuerst malen? Kind 1 Nase Sie Genau, eine Nase. Brauche ich noch eine Nase? Oder etwas anderes? Kind 2 Ein Augen Sie Ein Auge oder zwei Augen? Ich male zwei Augen. Was können wir denn mit den Augen machen? … © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 196 Sprachförderung als Herausforderung für alle Bei dem Element „aktive Verwendung“ geht es darum zu schauen, was schon in den aktiven Wortschatz der Kinder übergegangen ist, d. h. welche Gegenstände, Handlungen und Eigenschaften die Kinder bereits selbst spontan nennen können. Da die Äußerungen der Kinder voraussichtlich noch nicht in jeder Hinsicht zielsprachlich sind, kann man die Gelegenheit nutzen und die Äußerungen im Rahmen des Gesprächs expandieren, ergänzen, bzw. ihnen ein Forschungsmodell anbieten. Im Grunde wird bei dem Einsatz dieser verschiedenen Elemente nicht nur der Wortschatzerwerb unterstützt. Auch das grammatische Wissen profitiert. Element 5: Überprüfung des Erreichten Die Orientierung an einer im voraus (im Team oder im Alleingang) zusammengestellten Wortschatzliste ermöglicht es, ohne größeren Aufwand Lernfortschritte festzustellen. Um zu erfahren, ob durchgeführte Maßnahmen erfolgreich waren, bieten sich auch wieder die bereits genannten Spielsituationen an. Was diesen Überprüfungsschritt von der Vermittlungssequenz unterscheidet, ist das Bemühen um Dokumentation: D. h. Sie würden sich die von den Kindern geäußerten Wörter/ Äußerungen notieren oder ein Tonband-/ Diktiergerät mitlaufen lassen. Wenn Ihnen danach beim Abhören das Auseinanderhalten der Stimmen Ihrer Kleingruppe Schwierigkeiten macht, freuen Sie sich: Offensichtlich haben Sie es sehr gut geschafft, die Kinder zum Mitreden zu motivieren. Ich gratuliere! ! Allgemeine Anregungen zum Wortschatz und eine Erinnerung an Schnittstellen zu anderen Erwerbsaufgaben Es lassen sich leicht unzählige Aktivitäten finden, um den zu einem Themenfeld passenden Wortschatz einzubringen. Beim Thema „Haus“/ „Wohnen“ kann man z. B. ein Haus aus Schachteln basteln, ein Zimmer in einem Schuhkarton einrichten, Bilder von Häusern (an-)malen, Bilder von der eigenen Wohnung mitbringen, Möbel aus Katalogen ausschneiden und sein „Traumhaus“ einrichten, mit einer Puppenstube spielen usw. Der Fantasie sind also wieder einmal keine Grenzen gesetzt, wichtig ist nur, dass Raum und Zeit für eine Versprachlichung diverser Aktivitäten bleibt. Bei der Auswahl des Wortschatzes zu einem Thema sollten Sie darauf achten, nicht nur Substantive zu berücksichtigen, denn für die Syntax und die Bedeutung von Sätzen spielen vor allem die Verben eine ganz entscheidende Rolle. Von daher ist es vor allem in den frühen Phasen der Sprachförderung hilfreich, eine (im Team oder im Alleingang) entworfene Wortliste im Hinblick auf folgende Wortarten zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen. Bei den Substantiven kann man die Gelegenheit nutzen, das Genus - und das heißt auch, die Artikel - gleich mit einzuführen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Allgemeine Anregungen zum Wortschatz 197 • Gegenstände (z. B. die/ eine Jacke, die Hose, der/ ein Hut, der Mantel, der Schuh) • Handlungen, Ereignisse, Zustände (z. B. an-/ ausziehen, zubinden, frieren) • Zustände und Eigenschaften (z. B. kalt, warm, kurz) • Beziehungen zwischen Objekten (z. B. auf, über, in) • Beziehungen zwischen Ereignissen, Zuständen (z. B. auch, wieder) Neue Wörter werden nach und nach erworben. Die wichtigsten Phasen (Fast Mapping, Wiedererkennen, Produzieren), die den Wortschatzerwerb kennzeichnen und an denen sich die Elemente 1-4 oben orientieren, können durchaus sehr schnell hintereinander ablaufen. So ist es beispielsweise möglich, dass ein Kind eine soeben erst eingeführte Bezeichnung bereits kurz darauf, d. h. in der gleichen Stunde, aktiv benutzt. Im Allgemeinen gilt: Geduld und (interessante! ) Wiederholung zahlen sich aus! Auch Kinder, die nicht schnell aktiv in die Produktion einsteigen, lernen viel, sofern wir ihnen geeignete Gelegenheiten dazu eröffnen. Nur zur Erinnerung: Schweigen heißt nicht Nichtverstehen, Stillsein nicht Stillstand. Natürlich bieten wir Kindern in unseren Gesprächsbeiträgen über die Wortschatzliste hinaus andere Wortklassen und Struktursignale an: Hinweise auf die Art und Weise von Handlungen (Guck mal, wie schnell der rennt! ), zeitliche Abfolgen (Zuerst malen wir ein Auge, dann ein Ohr …), andere Beziehungsgefüge zwischen Sätzen oder Redebeiträgen (Wenn es dir zu warm ist, kannst du die Jacke ausziehn./ Doch, das stimmt.). Oder denken wir nur an die vielen Fragewörter, die wir in Dialogen mit Kindern allein schon deswegen verwenden (können), weil sie Kinder zum Antworten anregen. Sofern wir uns wie kooperative, authentische Gesprächspartner verhalten, produzieren wir solche Strukturen (glücklicherweise! ) ganz automatisch. Es würde uns sogar sehr schwer fallen, die beteiligten Wörter zu unterdrücken. Ein Wort kommt selten allein! Dies ist nicht nur eine Folge der Vernetzung in unserem mentalen Lexikon, in dem mit der Zeit oben und unten, schwitzen und frieren, aber auch Messer, Gabel, Löffel - übrigens toll: alle drei Genera ganz praktisch versammelt! - enge Verbindungen eingehen und sich gegenseitig aktivieren (also gewissermaßen in „Alarmbereitschaft versetzen“). Dies hängt auch mit der Art von Ereignis zusammen, über die wir mit Wörtern reden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, was ich bereits im zweiten Kapitel betont hatte: Verben insbesondere lassen uns an eine ganze Geschichte denken. Wenn ich schenken sage, muss ich auch etwas über den Handelnden (einen mehr oder weniger generösen Schenker/ Schenkenden), ein Geschenk und einen (mehr oder weniger erfreuten) Empfänger sagen. Ich brauche also für einen einfachen Satz, in dem dies alles auftaucht, schon einmal mindestens DREI Positionen (Der Onkel hat dem Jungen eine Eisenbahn geschenkt). Ein Kind, das erkennt, dass von Schenken oder Geben die Rede ist und ein Konzept © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 198 Sprachförderung als Herausforderung für alle von der Handlung an sich hat, wird sich also fragen: Na, wo sind sie denn, der Wohltäter, das Geschenk oder der Empfänger? Und genau das wollen wir erreichen, wenn wir kommunizieren. Wir erteilen gewissermaßen einen Suchauftrag, und je mehr man von den Details einer jeweiligen Grammatik versteht, desto besser kann man zusätzliche Indizien erkennen (in Kapitel 2 habe ich auch im Zugzwang meiner Theatermetapher von „Requisiten“ gesprochen). Genau das haben wir angesichts des Beispiels vom gloken Baler auch getan: Wir haben alle Hinweise genutzt, um die Geschichte, die hinter dem Satz steht, zu erraten: Wir hatten einen potentiellen Täter (den Baler) mit bestimmten Eigenschaften (er war glok), mögliche Empfänger/ Erleidende der Tat (die Tenden) in ihrer Morsigkeit/ Morsignis/ ihrem Morsigtum und eine letztlich nicht-identifizierte Handlung, die allerdings in der Vergangenheit angesiedelt war (das Frohlen). Wir sehen schon, dass sich Geschichten/ Spiele, in denen es Handelnde, Betroffene (z. B. Beschenkte) und Gegenstände gibt, die ihren Ort/ ihre Besitzer wechseln, sehr gut für die Förderung eignen. Denn sobald wir denjenigen, der die Tätigkeit ausführt, zum Subjekt des Satzes machen (Der Onkel schenkt …), das mit dem Verb übereinstimmt, erhält er von unserem Sprachsystem dafür den Nominativ (sichtbar an der …). Der Neffe empfängt vom Onkel eine Eisenbahn und von der Grammatik den Dativ (dem Neffen), die Eisenbahn erscheint im Akkusativ (die Eisenbahn), obgleich man es ihr angesichts der Tatsache, dass bei femininen Substantiven die Formen für Nominativ und Akkusativ identisch sind, leider nicht anmerkt! Damit habe ich schon einige Aspekte vorweggenommen, die im Folgenden am Rande noch einmal aufgegriffen werden. Aufbau von Syntax und Morphologie Ziel der Unterstützung im syntaktischen Bereich ist am Anfang die Konstruktion der Satzklammer und die Verteilung der Position flektierter Verben. Zur Erinnerung füge ich Ihnen hier noch einmal eine Tabelle ein, die uns zeigt, wie das natürliche „Erwerbspensum“ in etwa aussieht, vgl. Kapitel 2 und 4. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Aufbau von Syntax und Morphologie 199 SATZKLAMMER Vorfeld V2 Mittelfeld VE tür auf M II mama auch bus fahren Jetzt geh ich hoch M III Hat der Mann den Hund gesehen Was hat der Mann dem Hund gegeben Konjunktion ob das pfeift M IV Offensichtlich finden Kinder besonders gut die Partikeln am Satzende (auf, zu) und die Infinitive (fahren), sehr früh auch die Partikeln im Mittelfeld (auch, nicht) und danach erst die Verben in der V2-Position sowie die Fragepronomen. Die Nebensätze bilden das Schlusslicht. Wichtig ist es daher, im Sprachangebot Verbformen und Verbpositionen einander systematisch gegenüberzustellen. Überhaupt sind Kontrast und Variation die zentralen Leitideen für die Förderung von Syntax und Morphologie. Durch die gezielte Variation von Wort- und Satzformen (also: Ich gehe da rein, Gehst du mit? Kannst du mitgehn? ) wird das Spracherwerbstalent des Kindes dazu angeregt, nach Gesetzmäßigkeiten, d. h. Regeln, zu suchen, die ihm helfen, die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Mustern zu verstehen. Es ist also durchaus sinnvoll, sich bei der Förderung von Anfang an neben dem Aufbau eines grundlegenden Wortschatzes besonders auf die Verben zu konzentrieren. Grundsätzlich können Sie im Bereich der Wortstellung nichts falsch machen (außer sich zu früh mit Dingen zu plagen, für die das Lernersystem noch nicht „reif“ ist). Immer wenn wir Sätze oder Satzfragmente mit Verben verwenden, stehen diese Verben in einer von zwei Positionen, nämlich in der linken oder in der rechten Satzklammer. Mit anderen Worten: Alles ist nützlich! Hier folgen nochmals einige fiktive Beispiele, um zu illustrieren, wie leicht es ist, Satzmuster zu variieren und damit Kindern wichtige Indizien für die Entdeckung beider Satzklammern zu liefern. Dazu bedarf es nicht einmal besonderer Spielsituationen. Sie müssen bloß eines tun: REDEN. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 200 Sprachförderung als Herausforderung für alle (1) Systematische Kontrastierung der verschiedenen Verbpositionen: Ich hab(e) das Haus angemalt, das wir gestern gebaut haben. Malst du bitte noch das andere Haus an? … Sieh mal, wie Anne ihr Haus anmalt. (2) Systematische Kontrastierung der Verbstellung im Verhältnis zu den Partikeln des Mittelfelds: Ich hab das auch/ nicht gesehen … weil ich das auch/ nicht gesehen habe. (3) Fragepronomen am Satzanfang (als sogenannte „Echo-Frage“) und im Satz: Wen hast du gesehen? Du hast wen gesehen? Ich hatte Ihnen schon auf S. 187 ein Beispiel dafür gegeben, wie man die ersten Äußerungen von Kindern in natürlichen Gesprächen erweitern kann (eine Haus gemach Wer hat ein Haus gemacht? ). Hier nun ein Ihnen bekanntes Spiel für Fortgeschrittene: Ich packe meinen Koffer und nehme … mit. Dabei ist es wichtig (und eine neue Variante des Spiels), dass Sie am Ende die Partikel auftreten lassen: Ich packe meinen Koffer und nehme einen Kamm mit. … einen Kamm und eine Bürste … mit. Variante: Ich packe meinen Koffer aus und nehme einen Kamm heraus. … einen Kamm und eine Bürste … heraus Bei diesem Spiel tun Sie zugleich eine Menge für Genus und Kasus, und es lassen sich mühelos Adjektive einfügen, die man dann auch bezüglich Kasus und Genus verändern kann. Und wie wäre es mit einer Verwandlung aller Substantive von der Einzahl in die Mehrzahl (Kämme, Zahnbürsten …)? Ich packe meinen Koffer und nehme einen blauen, gestrickten Schal (eine warme, gelbe Decke, ein großes, weiches Kissen) mit … Schließlich noch eine besondere Herausforderung für alle (eignet sich gut als auflockernder Einschub innerhalb einer Teambesprechung): Nachdem ich meinen Koffer gepackt hatte, und bevor ich zum Zug ging … In Situationen, in denen alle Kinder einer Gruppe zuhören, kann man ihnen bei der Gelegenheit vielfältige Expansionsmöglichkeiten ihrer eigenen Äußerungen anbieten. Im folgenden Beispiel wendet sich ein Erwachsener nacheinander an verschiedene Kinder und erweitert den jeweils von ihnen vorgebrachten Redebeitrag. In dieser Situation handelte es sich um einen der ersten Versuche, ein Kofferpackspiel zu spielen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Fazit 201 Kind 1 Pullover mit Erw. Markus nimmt einen Pullover mit. Und was nimmst du mit? Kind 2 Bürste Erw. Eine Zahnbürste oder eine Haarbürste? Kind 2 - Erw. Ich denke, wir brauchen beides, eine Zahnbürste und eine Haarbürste. Also, ich wiederhole noch mal alles, damit wir nichts vergessen: Wir packen unseren Koffer und nehmen einen Pullover, eine Zahnbürste und eine Haarbürste mit. Hab ich was vergessen? Variante: Erw. Mal sehen, ob ich noch weiß, was jeder mitnehmen wollte, ich hab’s mir aufgeschrieben: Marco wollte einen Ball, Tea einen Pyjama. (Gegebenenfalls können Sie Irrtümer einbauen und korrigieren lassen.) Fazit Übergreifenes Ziel dieses Kapitels war es zu zeigen, dass jedes Spiel und jede Interaktion, an denen Sprache beteiligt ist, zur Förderung genutzt werden kann. Dies gilt insbesondere für Satzstrukturen, da der grundlegende Bauplan mit der Satzklammer immer mit dabei ist. Damit Kinder die Regeln der Verteilung von Verben auf die rechte und die linke Satzklammer entdecken und austüfteln, wie sich die Form von Verben und Artikeln in Abhängigkeit vom Kontext verändert, benötigen sie variations- und kontrastreichen Input. Sofern Spiele ritualisierte Elemente enthalten (wie beim Auszählen, beim Ausfüllen bestimmter Rollen), eröffnen sie vielfältige Lerngelegenheiten: Wiederholung unterstützt den Erwerb der beteiligten verbalen Muster; die Anerkennung der „Spielregeln“ an sich (u. a. Konventionen dahingehend, wer wann etwas sagt) ist zugleich Teil eines umfassenderen Prozesses sozialen, kooperativen Lernens. Die folgende Zeichnung fasst den wesentlichen Kern der angestrebten Entwicklung noch einmal etwas locker zusammen. Unten rechts schafft es das Baby, sich mit Hilfe relevanter Schlüsselelemente (den durch die Verbalpartikeln bereit gestellten Bausteinen), in die Syntax „einzuloggen“, während die älteren Kinder schon souverän mit den Möglichkeiten der deutschen Verbstellung spielen. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 202 Sprachförderung als Herausforderung für alle Sprachenlernen ist kinderleicht, vor allem, wenn man am Ball bleiben kann! Das Trampolin steht für das Sprungbrett, von dem aus Kinder und Erwachsene gemeinsam im Gespräch zu neuen sprachlichen und gedanklichen Höhenflügen aufbrechen können. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kapitel 10 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung Der folgende Leitfaden basiert auf einer Broschüre der Forschungs- und Kontaktstelle Mehrsprachigkeit der Universität Mannheim, die ich vor einigen Jahren erstellt habe. Er dient der informellen Einschätzung der Deutschkompetenz von Kindern durch Personen, die Gelegenheit haben, Kinder in natürlichen Kommunikationssituationen zu beobachten. Er soll Interessierten nicht nur helfen zu erkennen, welche Aspekte der deutschen Grammatik ein Kind bereits gemeistert hat, sondern bietet ihnen zugleich eine Entscheidungsgrundlage für nachfolgende Fördermaßnahmen. Im Mittelpunkt steht weniger die Durchführung einer validen, wissenschaftlich abgesicherten Diagnostik, sondern vielmehr die Sensibilisierung für Entwicklungsschritte und ein Zugewinn der eigenen Beobachtungs- und Handlungskompetenz. Der Leitfaden besteht aus folgenden Teilen: A. Grundlagen zur Ermittlung des sprachlichen Entwicklungsstands und Anregungen für die Förderung B. Auswertungsbogen: 1. Fragen zum sprachlichen Hintergrund des Kindes 2. Fragen zur Einschätzung des allgemeinen kommunikativen Verhaltens 3. Kriterien zur Einschätzung des sprachlichen Entwicklungsstands 4. „Daumenregeln“ für eine Beurteilung der Dringlichkeit von Fördermaßnahmen A. Theoretische Grundlagen zur Ermittlung des sprachlichen Entwicklungsstands und Anregungen für die Förderung Der erste Teil des Leitfadens orientiert sich an den zentralen Eigenschaften deutscher Sätze und an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Reihenfolge, in der sich monolinguale und bilinguale Kinder diese Eigenschaften der deutschen Sprache aneignen. Normal entwickelte, monolingual deutsch- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 204 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung sprachige Kinder haben die meisten der in Abschnitt 3 skizzierten Meilensteine (nämlich 1-3) bereits vor Eintritt in den Kindergarten erreicht. Ermittlung des sprachlichen Entwicklungsstands und Anregungen für die Förderung Beschäftigen Sie sich etwa 15 Minuten lang einzeln mit jedem Kind, dessen Sprachstand Sie einschätzen möchten. Lassen Sie ggf. ein Tonband mitlaufen, damit Sie sich auf das Gespräch konzentrieren können. Hören Sie sich anschließend die Aufnahme an und setzen Sie sich mit den in den folgenden Abschnitten gestellten Fragen auseinander. Die folgenden Tabellen zeigen, welche Äußerungstypen für eine Entwicklungsphase diagnostisch besonders aufschlussreich sind, und geben einige typische Beispiele vor. Bei normal entwickelten monolingualen Kindern und frühen L2-Lernern (Beginn des L2-Erwerbs im Alter 3-4) kann man davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit der beobachteten Äußerungen den „typischen“ Beispielen entspricht. Erläuterung zu den Förderempfehlungen: Die grundlegendste Empfehlung ist ein authentisches, d. h. ungezwungenes und natürliches Sprachangebot in Spielsituationen. Die unten aufgeführten Satzstrukturen sind lediglich als Beispiele zu verstehen, die inhaltlich beliebig verändert werden können, d. h. die Strukturen an sich sind unabhängig davon, ob man mit Autos spielt, bastelt oder malt. Die beispielhaft aufgeführten Strukturen sind üblicherweise in ausreichendem Maße in alltäglichen Gesprächssituationen vorhanden. Wenn Sie den Eindruck haben, dass das Sprachangebot, das individuelle Kinder in Ihrer Einrichtung erhalten, sich auf wenige Satztypen (z. B. nach dem Muster: Alle mal herhören! Jetzt noch schnell aufräumen! etc.) beschränkt, wäre allerdings eine bewusstere Anreicherung des Inputs im hier empfohlenen Sinn anzuraten. A.1 Produziert das Kind vorwiegend Einwortäußerungen? Wenn ja: Das Kind hat Meilenstein I erreicht. Monolinguale deutschsprachige Kinder produzieren solche Äußerungen im Alter von 1-1 ½ Jahren. Art der Äußerung Einzelne Wörter da, auf/ aufmach(en), weg, nein, heiß, Substantive ohne Artikel (Hund, Tisch, Jacke etc.) Formelhafte Äußerungen Gehtnich („geht nicht“), passarein („passt darein“), guckema („schau mal“), Woser? („wo ist er? “) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Theoretische Grundlagen 205 Empfehlungen für die Förderung: (1) Intensives Angebot von Wortfeldern (vgl. dazu die Vorschläge auf S. 193 f.) (2) Sätze mit Partikelverben (aufmachen/ zumachen, reingehen/ rausgehen, aufessen, aufräumen, anmalen etc.). (3) Sätze, in denen verschiedene Formen von sein in Abhängigkeit vom jeweiligen Subjekt (Einzahl/ Mehrzahl) auftreten. (a) Da ist eine Tür. Hier sind noch zwei andere Türen. (b) Das Dach vom blauen Haus ist klein, die Dächer der anderen Häuser sind groß. (c) Wo ist eine offene Tür? Wo sind noch offene Fenster? (d) Die Maus ist müde. Sie schläft. Ich bin auch müde. Und du, bist du auch müde? etc. (4) Sätze mit auch, wieder, nicht Hilfreich ist ein Sprachangebot, in dem die gleichen Wörter einige Male in neuen Sätzen wiederholt werden, wie in den folgenden Episoden: (a) Bei der Betrachtung eines Weihnachtskalenders: Guck mal, hier ist ein kleines Fenster, und da ist auch noch ein Fenster, ein großes. Willst du das große Fenster aufmachen? Mach mal das große Fenster auf. Ich möchte auch gerne ein Fenster aufmachen. Ich mach das kleine Fenster auf, o.k.? … (b) Jeder hat ein Blatt zum Ausmalen: Was ist denn auf deinem Bild drauf? Das ist ja ein Vogel. Willst du den Vogel anmalen? Auf meinem Bild ist eine Blume drauf, die werde ich jetzt auch anmalen. Ich male die Blume blau. Mit welcher Farbe willst du deinen Vogel anmalen? Willst du auch die blaue Farbe haben? … (c) Beim Bauen Wollen wir mal den grünen Klotz oben auf den roten stellen? Ob der nicht runterfällt? Ich hoffe, dass der nicht runterfällt, wenn ich ihn da drauf stelle. Sieh mal, es hat geklappt! Wollen wir noch einen Klotz oben draufstellen? … In diesem frühen Stadium des Erwerbs der Zweitsprache wird ein Kind natürlich Ihre Äußerungen nicht vollständig verstehen können. Es wird aber mit Hilfe des Kontextes, d. h. aufgrund der von Ihnen berührten und gezeigten © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 206 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung Gegenstände und Ihrer Handlungen recht viel erraten können. Denken Sie auch daran, dass Kinder in diesem Alter schon viel über das „Funktionieren“ von Sprache im Allgemeinen wissen! Außerdem merkt das Kind daran, dass und wie Sie sich mit ihm beschäftigen: Der/ die spricht gern mit mir. A.2 Produziert das Kind - durchaus zusätzlich zu Einwortäußerungen und formelhaften Wendungen - Mehrwortkombinationen mit und ohne Verben? Sind die Verben noch nicht flektiert (z. B. Infinitivformen oder Verbpartikeln)? Wenn ja: Das Kind hat Meilenstein II erreicht. Monolinguale deutschsprachige Kinder produzieren solche Äußerungen im Alter von 1 ½-2 Jahren. Mehrwortäußerungen Ohne Verben Puppe Apfel Mama auch Apfel Ich auch/ Apfel auch Ich nicht Apfel Mit Verben oder Verbpartikeln (in Endstellung) Tür auf, Ball weg Mama Tür aufmachen Da Vogel wegfliegen Nein Bus fahrn Mama nicht Bus fahrn Empfehlungen für die Förderung: (1) Kontrastierende Satzmuster mit denselben Verben abwechselnd in Verbzweit- und Verbendstrukturen. Beispiele: Passt die Kuh auch in die Kiste rein, in die der Frosch reinpasst? Legst du den gelben Klotz mal so hin, wie wir den roten Klotz hingelegt haben? Ich mach mal die Tür auf/ ich habe die Tür aufgemacht, die du gerade zugemacht hast. (2) Kombinationen von Hilfs- oder Modalverben mit nicht-finiten Hauptverben in Haupt- und Nebensätzen. Beispiele: Wollen wir mal die Tür zumachen, die Max aufgemacht hat? Sogar o.k.: Tust du die mal aufmachen? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Theoretische Grundlagen 207 (3) Unterschiedliche Subjekte (1.-3. Person, Singular und Plural). Beispiele: Ich mach mal einen Turm, und was machst du? Was machen Max und Uli? (4) Satzmuster mit den Partikeln auch und nicht (vor und nach finiten Verben): Beispiele: Die Kuh passt auch rein. Ob das Pferd auch reinpasst? Nein, das Pferd passt nicht rein. Ich glaube, dass die Kuh auch nicht reinpasst. (5) Kombinationen von Substantiven und Artikeln Beispiele: Ich habe ein kleines Pferd gemalt. Schau mal, hier ist mein Pferd. Das Pferd hat eine Decke auf seinem Rücken, siehst du, hier ist die Decke. Dieses Buch haben wir uns schon mal angeguckt. A.3 Produziert das Kind schon einfache Sätze (inkl. Fragesätze) mit flektierten Verben, mit gelegentlichen artikelähnlichen Formen (d ә , n)? Wenn ja: Das Kind hat Meilenstein III erreicht. Monolinguale deutschsprachige Kinder produzieren solche Äußerungen im Alter von 2-3 Jahren. Äußerungen Finite (flektierte) Verben in der 2. Position (= linke Satzklammer) da kommt (de) Ball rein jetzt geh ich hoch wo is Ball? wo geht (n) Mann rein? Modal- und Hilfsverben ich will Ball haben ich hab Ball geworfen/ gewerft Finite Verben in der rechten Satzklammer Mama da auch reingeht da jetzt noch ein Haus steht wo noch ein Haus steht? © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 208 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung Empfehlungen für die Förderung: (1) Variierende Satzmuster in Haupt- und Nebensätzen; unterschiedliche Modalverben (können, sollen, müssen, dürfen, wollen, mögen); Nebensätze mit unterschiedlichen satzeinleitenden Elementen wie wenn, dass, bis etc. und Relativpronomen (Wollen wir mal das Buch lesen, das ich mitgebracht habe? ) (2) Unterschiedliche Pronominalformen (das, die, ich, du, wir etc.); auf Kasusunterschiede achten: ich, mich, mir; du dich, dir etc. (3) Kombinationen von Substantiven und Artikeln; hierbei sollte darauf geachtet werden, dass unterschiedliche Kasus vertreten sind (der Mann, den Mann, dem Mann). A.4 Produziert das Kind auch schon Nebensätze mit dem flektierten Verb in der Verbendposition (rechte Satzklammer) und satzeinleitenden Konjunktionen (wenn, dass, bis)? Wenn ja: Das Kind hat Meilenstein IV erreicht. Monolinguale deutschsprachige Kinder produzieren solche Äußerungen im Alter ab etwa 2 ½ Jahren. Äußerungen Mit Konjunktionen, Verben stehen am Ende (in der rechten Satzklammer) … ob er hingefallen ist … wenn er essen will Anfangs können die vom Kind gewählten Konjunktionen von denen des Erwachsenensystems abweichen, z. B. ich nehm die Decke, wenn (= damit) wir nicht friern. der weint, wegen (= weil) der hingefallen ist. Empfehlungen für die Förderung: Kinder können zu diesem Zeitpunkt schon mit größeren Textzusammenhängen umgehen. Um satzübergreifende Zusammenhänge richtig zu verstehen, müssen Kinder erkennen, dass verschiedene Ausdrücke (Namen, Substantive mit Artikeln, Pronomen) auf ein und dasselbe Objekt verweisen (referieren) können: © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Theoretische Grundlagen 209 Waldi ein Hund … der Hund … … er/ der Konzept „Hund“ Ideal sind daher Geschichten, die diese Verwendungsweisen widerspiegeln, z. B. Hast Du gesehen, dass auf dem Bild ein Hund ist? … Was meinst du, warum der Hund vom Dach gefallen ist? Das ist sicher passiert, weil er …, Glaubst Du, der/ er hat sich wehgetan? A.5 Verbleibende Fein- und Kleinarbeit Wenn Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einmal die geschilderten Meilensteine erreicht haben - bei früh verfügbarem Input ist dies, wie wir gesehen haben, im Zeitrahmen eines halben bis ganzen Jahres machbar -, verfügen sie zwar über die meisten Wortklassen und über die wichtigsten Satzmuster, aber sie müssen immer noch am formalen Detail „arbeiten“. Dies betrifft vor allem die Verbmorphologie (hier sind Inkonsistenzen zu erwarten, z. B. der ist gegeht, der willt gehen) sowie das Kasussystem (ich gebe den Mann ein Buch; ich seh ein großer Mann), Genusunterscheidungen (da ist die Mann) und abweichende Pluralmarkierungen (das sind Schuhen). Um diese Feinheiten zu erwerben, benötigt das Kind ein gut geplantes Sprachangebot, in dem Formen systematisch kontrastiert werden, z. B.: - Singular- und Pluralformen (Der Affe frisst eine/ die Banane. Der frisst ja alle Bananen auf.); Substantive mit unterschiedlichem Genus (z. B. bei Memoryspielen). - Substantive im Plural mit und ohne Artikel: Der Affe hat Bananen gefressen. Der Affe hat die Bananen gefressen. Der Kontrast ist auch deshalb relevant, weil wir im ersten Fall (ohne Artikel) offen lassen, ob noch Bananen übrig sind, während der Artikel suggeriert, dass keine mehr da sind - kein unwichtiges Detail! - Kombinationen von Präpositionen und anderen Elementen mit unterschiedlichem Kasus: ich sitze unter dem Tisch/ unter ihm. Ich krieche unter den Tisch/ unter ihn. - Klar tempus-markierte Verben: Es war einmal ein kleiner Frosch, der spielte am liebsten … seine Freunde spielten … A.6 Mischt das Kind seine Sprachen? Das Mischen von Sprachen muss keineswegs ein Anzeichen für ein Erwerbsproblem sein. Gerade in dem Zeitraum, in dem Kindern noch viel Wortschatz fehlt (also vor allem zur Zeit der ersten beiden Meilensteine), ist © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 210 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung zu erwarten, dass sich Kinder bei ihrer L1 Vokabular ausleihen. Je besser das Kind die L2 beherrscht, desto weniger Anleihe muss es betreiben. Bedenken Sie auch, dass die abwechselnde Verwendung beider Sprachen innerhalb eines Gesprächs oder sogar der Sprachwechsel im Satz („Code-switching“, vgl. Kapitel 3) auch bei erwachsenen Bilingualen völlig normal ist. B. Auswertungsbogen Name des Kindes: Alter (Jahr, Monat) 1. Sprachlicher Hintergrund 1.1 Deutsch als Erstsprache (= L1)? Ja Nein Wenn NEIN, welche L1? Mehrfachnennungen sind möglich, u. a. beim doppelten Erstspracherwerb, wenn das Kind von Anfang an mit zwei Sprachen aufgewachsen ist (z. B. wenn Mutter und Vater in verschiedenen Sprachen mit dem Kind sprechen). 1.2 Im Falle einer anderen L1 wären Angaben der Eltern über den Kontakt des Kindes mit dem Deutschen zu erfragen. (k. A. = keine Angabe möglich) Wird in der Familie auch Deutsch gesprochen? Ja Nein k. A. Gibt es außerhalb des Kindergartens deutsche Spielkameraden? Ja Nein k. A. Sonstige deutsche Kontakte? Ja Nein k. A. 1.3 Im Falle einer anderen L1: Was sagen die Eltern über die Entwicklung der Erstsprache? Erscheint ihnen unauffällig: Ja Nein Sonstige Kommentare der Eltern: Sollten sich die Eltern besorgt über die Entwicklung der Muttersprache äußern, wäre es ideal, wenn der Entwicklungsstand in der L1 durch eine mehrsprachige Fachkraft eingeschätzt werden könnte. Dies wird leider nicht immer möglich sein. Wenn sich ein Kind das Deutsche als L2 zügig aneignet, kann man davon © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Auswertungsbogen 211 ausgehen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit in der L1 keine Spracherwerbsstörung aufweist. 2. Kommunikatives Verhalten im Kindergarten 2.1 Wie lange besucht das Kind schon den Kindergarten? Monate 2.2 Was können Sie generell über das sprachliche Verhalten des Kindes sagen? Spricht das Kind mit anderen Kindern? Ja Nein Wenn es weitere Kinder der gleichen L1 in Ihrer Einrichtung gibt: Kommuniziert das Kind mit diesen Kindern in der gemeinsamen Muttersprache? Ja Nein Spricht das Kind spontan mit den ErzieherInnen? Ja Nein Antwortet das Kind, wenn es von Ihnen direkt angesprochen wird? Ja Nein 2.3 Wenn das Kind (noch) NICHT spricht: Haben Sie den Eindruck, dass das Kind Sie versteht? Ja Nein Auf welche Beobachtungen stützt sich Ihre Annahme? (z. B.: Kind reagiert nicht auf Ansprache und Bitten; oder Kind reagiert völlig angemessen auf komplexere Aufforderungen) 2.4 Sonstige Beobachtungen zum allgemeinen kommunikativen Verhalten, die Sie festhalten möchten? (d. h. halten Sie das Kind für sehr schüchtern, ängstlich etc.? ) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 212 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung 3. Die Einschätzung des sprachlichen Entwicklungsstands 3.1 Hat das Kind Meilenstein I erreicht? Ja Nein Produziert das Kind Einzelne Wörter, z. B. da, auf/ aufmach(en), weg, nein, heiß, Substantive ohne Artikel (Hund, Tisch, Jacke etc.) Formelhafte Äußerungen, z. B. gehtnich (= geht nicht), passarein (= passt darein), guckema, woser? (= wo ist er) 3.2 Hat das Kind Meilenstein II erreicht? Ja Nein Produziert das Kind - durchaus zusätzlich zu Einwortäußerungen und formelhaften Wendungen - Mehrwortkombinationen ohne Verben? z. B. Puppe Apfel, Mama auch Apfel, Ich auch/ Apfel auch, Ich nicht Apfel Mehrwortkombinationen mit Verbpartikeln? Tür auf, Ball weg Mehrwortkombinationen mit nicht flektierten Verben (z. B. Infinitivformen) in Endstellung? z. B. Mama Tür aufmachen, da Vogel wegfliegen, nein Bus fahrn, Mama nicht Bus fahrn 3.3 Hat das Kind Meilenstein III erreicht? Ja Nein Produziert das Kind schon einfache Sätze (inkl. Fragesätze) mit flektierten Verben in der 2. Position, z. B. da kommt (de) Ball rein jetzt geh ich hoch wo is Ball? wo geht (n) Mann rein? Modal- und Hilfsverben in der 2. Position, z. B. ich will Ball haben ich hab Ball geworfen/ gewerft © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Auswertungsbogen 213 3.4 Hat das Kind Meilenstein IV erreicht? Ja Nein Produziert das Kind auch schon Nebensätze mit dem flektierten Verb in Endstellung und einer satzeinleitenden Konjunktion/ einem Relativpronomen, z. B. … ob er hingefallen ist … wenn er essen will … den er gesehen hat 4. „Daumenregeln“ für die Beurteilung der Dringlichkeit und für die Fokussierung von Fördermaßnahmen 4.1 Ist das Kind monolingual deutschsprachig und hat Meilenstein III im Alter von 3 Jahren noch nicht erreicht? oder: Hat das Kind eine andere Erstsprache und spricht nach einem halben Jahr in der Kita noch gar nicht? (Evtl. äußern die Eltern auch Besorgnis über einen sehr langsamen Erwerb der Erstsprache) JA logopädische/ ärztliche Überprüfung ist anzuraten. 4.2 Verfügt das Kind über eine andere L1 und ist erst vor kurzem in die Einrichtung aufgenommen worden? JA Die Förderung sollte so bald wie möglich einsetzen. Stellen Sie vor allem sicher, dass das Kind möglichst schnell den Wortschatz hört, den es benötigt, um sich in der Einrichtung zu orientieren. 4.3 Ist das Kind im Alter von 3-4 Jahren mit dem Deutschen in Kontakt gekommen und hat nach einem Jahr die Grundstrukturen des Deutschen noch nicht erworben, d. h. Meilenstein III noch nicht erreicht? JA Hier besteht intensiver Förderbedarf im strukturellen Bereich, vor allem bezüglich der Anbahnung von Meilenstein III und IV (vgl. die Anregungen oben). Anzuraten sind Spiele und Gespräche, die das Kontrastieren von Satzmustern mit Verben in verschiedenen Positionen (Der Hund rennt schnell, weil er die Katzen fangen will) sowie die Wahrnehmbarkeit der formalen Details (Kasus, Flexion, Genus) ermöglichen. Wenn alle obigen Fragen mit NEIN beantwortet wurden, so liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit kein dringender Förderbedarf vor. Das Kind kann von einer regelmäßigen und bewussten Sprachförderung im pädagogischen Alltag profi- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 214 Entscheidungshilfen für eine differenzierte Sprachförderung tieren. Zu erwarten ist, dass vor allem im Bereich des Wortschatzes, der grammatischen „Feinarbeit“ (Kasus, Genus, Numerus) und der stilistischen Vielfalt ein intensives Sprachangebot von Vorteil ist. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Epilog An Stelle einer Einladung zu einer weiteren Fantasiereise, einer Konfrontation mit gloken Balern oder einer Zusammenfassung ergreife ich in diesem kurzen Nachwort die Gelegenheit, Sie daran zu erinnern, mit welchen Mythen und Märchen Sie sich bei Ihrer künftigen Beschäftigung mit dem Spracherwerb und der Mehrsprachigkeit nicht mehr belasten müssen. Dazu zählen beispielsweise die Vorstellungen, dass frühe Mehrsprachigkeit etwas Unnatürliches, ja geradezu Ungesundes ist, dass Kinder dadurch überfordert und in ihrer Identitätsentwicklung gestört werden. Wir wissen heute, dass wir die Fähigkeiten und Wissbegierde von Kindern auch im Bereich der Sprache unterschätzt haben und dass wir Kinder daher nicht nur unterfördert, sondern auch unterfordert haben. Der Spracherwerb ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels unserer Veranlagung, d.h. unserer Gene, und unserer Umwelt. Unsere Veranlagung ist gegenüber der Frage neutral, wie viele Sprachen sich in unserer Umgebung tummeln. Aber unsere Umwelt bestimmt natürlich ganz entscheidend mit, wie differenziert das sprachliche Wissen ist, das wir auf den einzelnen Ebenen unserer Sprachpakete aufbauen können. Klar ist damit auch, dass sich unser angeborenes Talent zum Spracherwerb nicht entfalten kann, wenn einem Kind die Indizien dafür fehlen, dass es überhaupt etwas zu erwerben gibt. Wir müssen Kindern Sprachen nicht Schritt für Schritt beibringen - das leisten sie glücklicherweise ganz alleine -, aber wir müssen ihnen durch kontrast- und variationsreichen Input Erwerbsaufgaben bieten, von denen sich ihr Gehirn immer wieder auf Neue herausgefordert fühlen kann. Um unsererseits diese Herausforderung zu meistern, müssen wir mindestens verstanden haben, wie Sprache im Allgemeinen und die Zielsprache, deren Erwerb wir unterstützen wollen, funktioniert. Vor allem müssen wir auch den von mir anfangs bereits angesprochenen Perspektivwechsel vollziehen: Weg von einer Defizitfixierung und hin zum Erkennen der Kompetenzen, die Kinder bereits mitbringen, und hin zu dem Wissen um die Bedingungen, die den Erwerb und Ausbau sprachlicher Kenntnisse begünstigen. Letzteres, das Wissen um die Erwerbsbedingungen, sollte uns auch vor naiven Erwartungen bewahren. Unrealistisch beispielsweise ist die Erwartung, dass sich Kinder auf wundersame Weise einen Wortschatz aneignen, dem sie nie begegnet sind, oder dass sie stilistische Register ziehen könnten, mit denen sie nicht in Kontakt kamen. Realistisch ist es hingegen zu erwarten, dass Kinder, sofern sie in mehreren Sprachen ein natürliches und altersgemäßes sprachliches Angebot erhalten, gewissermaßen „gratis“ auch noch dazu angespornt werden, metasprachliches Wissen über © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 216 Epilog das Funktionieren von Sprache im Allgemeinen auszubilden. An dieses Wissen können wir auch appellieren, wenn wir Kinder dazu anregen möchten, sich weitere Sprachen anzueignen. Besonders im schulischen Kontext bietet es sich an, die Sprachlernkompetenz des Menschen und die Fähigkeit, explizit über Sprache und Kommunikation nachzudenken, zum Thema und zur Grundlage vielfältiger Projekte zu machen. Viele der Auszüge aus Unterhaltungen mit Kindern, die ich in diesem Buch angeführt habe, zeigen sehr deutlich, wie früh Sprache ein Thema für Kinder ist. Sie kommentieren die Äußerungen und die Sprachwahl von anderen, sie äußern sich über ihr eigenes sprachliches Verhalten und reparieren ihre Versprecher auch ohne Korrekturen unsererseits. Um das systematische Wissen zu erwerben, das all dies ermöglicht, bedarf es eigentlich nur einer Voraussetzung: einer aus Lernersperspektive interessanten und wahrnehmbaren sprachlichen Umgebung. Einfacher könnten es Kinder uns eigentlich nicht machen! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern * ein Sternchen weist darauf hin, dass es sich um mögliche Wortformen/ Sätze handelt, die im Deutschen nicht möglich sind. 1; 8 Altersangabe in Jahren und Monaten; 1; 8 = ein Jahr und acht Monate 2L1 doppelte(r) Erstsprache(erwerb) Abstraktum, Pl. Abstrakta Wort mit abstrakter Bedeutung, z. B. Freiheit konkretes Objekt Adjektiv „Beiwort“, „Eigenschaftswort“, beschreibt in der Regel ein Substantiv näher, z. B. der rote Ball oder der Ball ist rot Adverb dient der näheren Beschreibung von Handlungen (daher übrigens auch der Name, Adverb bedeutet wörtlich „beim Verb“), z. B. langsam fahren, oder von Eigenschaften Adjektiven, z. B. eine sehr erfreuliche Nachricht Akk., [ AKK ] Akkusativ Akkusativ „Wen-Fall“ Kasus Aktiv Verbform, bei der der Urheber der Handlung Subjekt des Satzes ist, z. B. Der Hund jagte den Hasen. vgl. Passiv aktiver Wortschatz Teil des Wortschatzes, den man beim Sprechen, also aktiv, gebraucht alltagsrelevant von Bedeutung für den Alltag analytische Strategie ein Lernmuster, bei dem sich Lerner bemühen, Formen zu zerlegen, z. B. wenn ein zweijähriges Kind anstatt Champignon Champilzion sagt; vgl. holistische Strategie Antizipation Vorausnahme, Vorwegnahme, z. B. Sweatheart statt richtig Sweetheart; in einer Vorwegnahme der Buchstabenfolge „ea“ in heart Äquivalent „Gleichwertiges“, Entsprechung arbiträr willkürlich, beliebig; nicht durch Logik oder Notwendigkeit zu erklären, z. B. ein und dasselbe Tier mit vier Beinen, auf dem man reiten kann, heißt im Deutschen Pferd, im Englischen horse, im Italienischen cavallo etc. Artikel lat.: „Glied“; Begleiter: bestimmt ein Hauptwort näher, im Deutschen: der/ die/ das; ein/ eine; die (Pl.) Assoziationen Gedankenverbindungen, z. B. assoziiert man mit rot Liebe, Leidenschaft, Wut, Blut etc. Babylabor-Experimente Tests mit Babys (im „Baby-Labor“, einem speziell auf Babys abgestimmten Raum), um u. a. ihre Sprach- und Lautwahrnehmung zu untersuchen bilingual zwei- oder mehrsprachig © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 218 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern Borrowing engl.: Entlehnung/ „Ausleihen“ von Wörtern aus einer anderen Sprache, z. B. chat im Deutschen, kaffeepausi im Finnischen Cluster von Konsonanten/ Konsonantencluster Häufung von Konsonanten, Verbindung aus mindestens zwei Konsonanten, z. B. springen, Licht, klein Dat., [ DAT ] Dativ Daten sprachliche Äußerungen, die man für eine Untersuchung heranzieht, Korpus Dativ „Wem-Fall“ Kasus differenzierter Input Sprachangebot, in dem viele unterschiedliche Formen und Strukturen verwendet werden, z. B.: Sieh mal, das Kind rennt, und die Kinder rennen auch. Magst du Bücher? Ich lese gerade ein tolles Buch eingebettete(r) Struktur/ Satz Nebensatz, der an einen Hauptsatz angehängt wird, z. B. Ich weiß, wo die Spielsachen sind Einzelsprache eine Sprache, z. B. Deutsch, Türkisch, Spanisch Ethnolekt ein Sammelbegriff für sprachliche Varianten, die von Sprechern ethnischer Minderheiten verwendet und als für sie typisch eingestuft werden, z. B. ist der polnische Ethnolekt des Deutschen u. a. daran zu erkennen, dass alle Vokale offen ausgesprochen werden, da es im Polnischen keine geschlossenen Vokale gibt, beten hört sich dann also so an wie bäten Expansion Erweiterung, Ergänzung; so ergänzen Erwachsene eine Kinderäußerung wie Wagen darein je nach Kontext automatisch zu: Der Wagen soll da rein, Ich zieh den Wagen da rein, Ich klettere/ will in den Wagen (da) rein etc. explizit ausdrücklich, ausgesprochen, auch im Sinne von: bewusst implizit Fast Mapping engl.: „schnelle Abbildung“; ein Prozess im kindlichen Spracherwerb, bei dem Kinder, wenn sie einem neuen Wort zum ersten Mal begegnen, zuerst eine schnelle, grobe Vermutung entwickeln, was es bedeuten könnte; im weiteren Erwerbsverlauf wird die Vermutung dann verfeinert und angepasst, bis das Kind die zielsprachliche Bedeutung des Wortes erfasst hat, z. B. mag Apfel zunächst nur etwas Rundes bedeuten, das man rollen kann, dann etwas Rollbares, Essbares, was auf Bäumen wächst Fehlsegmentierung falsche Aufteilung/ Zerlegung, z. B. *Otannebaum statt Oh Tannenbaum fem. lat.: femininum, weiblich ( Genus) finites Verb Verbform mit Endungen, die Informationen über Person, Numerus und Tempus beinhalten, z. B. du lachst: 2. Person, Singular, Präsens (= Gegenwart) nicht-finit flektieren beugen (von Verben, Substantiven, Adjektiven, Quantoren), z. B. bei Verben: rufe, rufst, ruft, bei Hauptwörtern: Fußball, Fußballs, Fußbälle etc. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern 219 Flexion Hauptwort zu flektieren Flexionsmorphologie Gesamtheit der Beugungsformen einer Sprache, im Deutschen bspw. sehr kompliziert, im Englischen dagegen überschaubar, z. B. gebe, gibst, gibt, geben, gebt vs. give, gives. Fossilisierung Erstarren einer Lernersprache, bevor das zielsprachliche Niveau erreicht wird, z. B. Immer Sonntag ich gehen Luisenpark mit ganze Familie oder mit Fahrrad fahren auf Deich von Rhein Fragepronomen Frage(für)wort, z. B. wo, wer Gen., [ GEN ] Genitiv Genitiv „Wessen-Fall“ Kasus Genus (Plural: Genera) lat.: „Geschlecht“, tritt im Deutschen in drei Formen auf: männlich/ maskulin/ mask. (der Mond), weiblich/ feminin/ fem. (die Tigerente), sächlich/ neutrum/ neutr. (das Flugzeug) geschlossene lexikalische Klassen Wortklassen, die eine begrenzte Anzahl von Wörtern umfassen und nicht erweiterbar sind, z. B. Artikel (der, die, das); Gegenteil: offene lexikalische Klassen geschlossene Silbe Silbe, die auf einen oder mehrere Konsonanten endet; z. B. Sil-, auf, Kon-, -nant. Grammatik Regelsystem einer Sprache Habitus eine gewohnheitsmäßige Einstellung, ein gewohnheitsmäßiges Verhalten; monolingualer Habitus: eine Haltung, die darauf beruht und zum Ausdruck bringt, dass man es für selbstverständlich hält, einsprachig zu sein. Hauptsatz Satz, der für sich alleine stehen kann und der mindestens aus Subjekt und Verb besteht, z. B. Ich weiß, vgl. Nebensatz Hilfsverben Verben, mit deren „Hilfe“ man bestimmte Zeitformen ausdrückt, im Deutschen: haben, sein, z. B. ich habe gespielt, ich bin zu Oma gefahren hinterer Konsonant Konsonant, der im hinteren Bereich des Mund-Rachenraums gebildet wird; z. B. [k] Konsonant holistische Strategie ganzheitliche Strategie; ein Lernmuster (neben anderen), bei dem das Kind zunächst größere Sprach„bausteine“ benutzt, die es erst später analysiert, z. B. die Verwendung von wose für wo ist/ wo sind; vgl. analytische Strategie hybride Identität gemischte Identität; eine Identität, die verschiedene sprachliche und kulturelle Anteile in sich vereinigt, z. B. eine deutsch-amerikanische Identität, eine türkisch-deutsche Identität. Letztere bezeichnet man inzwischen sogar schon mit einer Wortmischung: deukisch Immersion „Sprachbad“, „Eintauchen“ in eine neue Sprachwelt Imperativ Befehls- oder Aufforderungsform, z. B. Bitte sprich lauter! , Erklären Sie mir das! © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 220 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern implizit wörtlich: inbegriffen, implizites Wissen ist ein Wissen, über das man verfügt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir wissen eben, dass es zwar die Frau, aber das Mädchen heißt, obwohl beide ja weiblichen Geschlechts sind explizit, sprachliche Intuition indirekter Fragesatz Nebensatz, der mit einem Fragewort eingeleitet wird; z. B. Ich möchte mal wissen, was das ist. Ich frage mich, ob das noch was wird Infinitiv Grundform des Verbs, z. B. laufen, backen Input in diesem Buch verwendet im Sinne von Sprachangebot, also all das an Sprache, was ein Kind zu hören, zu sehen oder zu lesen bekommt Inputvarianten im sprachlichen Input tauchen verschiedene Formen auf, etwa Apfel und apple für ein und dieselbe Frucht Intake im Gegensatz zum Input das, was Menschen vom Sprachangebot tatsächlich wahrnehmen und aufnehmen Interaktion das wechselseitige aufeinander Einwirken von Personen, vgl. Kommunikation Interferenz Einfluss einer anderen Sprache, so ist z. B. eine Äußerung wie es hat viel Zeit genommen durch das englische Gefüge it took a long time beeinflusst interindividuelle Variation Unterschiede in der Sprachentwicklung zwischen verschiedenen Kindern; (langsam/ schnell, unterschiedliche Herangehensweisen und Strategien) analytische, holistische Strategie invariant unveränderlich Kasus grammatischer Fall; im Deutschen gibt es vier Fälle, die teilweise durch Endungen an Artikeln, Adjektiven oder Zahlwörtern und manchmal am Substantiv gekennzeichnet werden: Nominativ (wer/ was? ), Genitiv (wessen? ), Dativ (wem? ), Akkusativ (wen/ was? ); Ich wollte den Kindern den Ball des kleinen Hundes wegnehmen. Koexistenz das nebeneinander Vorhandensein kognitiv bezogen auf das Wahrnehmen, Erkennen und Wissen Kommunikation umfassender als Sprache; Informationsaustausch, gibt es auch unter Tieren Kompetenz die im Spracherwerbsprozess angeeignete (unbewusste/ implizite) Sprachkenntnis, z. B. die Muttersprache; bildet die Grundlage für unsere sprachliche Intuition, Performanz Kompositum (Pl. Komposita) zusammengesetztes Wort, z. B. Blumen+topf+erde Konj. Konjunktion Konjunktion Bindewort, das die Verknüpfung zwischen Wörtern, Satzteilen (z. B. und, oder) und Sätzen (z. B. dass, weil) herstellt konkretes Objekt Gegenstand, den man mit den Sinnen wahrnehmen (also sehen, anfassen, hören etc.) kann, z. B. Tisch, Haus; Gegensatz: Abstraktum © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern 221 Konsonant Mitlaut, z. B. [b, k, m, t, z]; Konsonanten werden an unterschiedlichen Stellen im Mund- und Rachenraum gebildet und können entsprechend in Gruppen eingeteilt werden, u. a. auch in stimmhafte und stimmlose Konsonanten Kontext die Situation bzw. der situative Rahmen einer Äußerung; häufig verstehen wir Aussagen nur aufgrund des Kontextes Expansion Konvention (stillschweigende) Übereinkunft, so gibt es z. B. in jeder Sprache bzw. Kultur Konventionen darüber, welche Anrede höflich oder unhöflich ist konzeptuelle Netze (gedankliche) „Netze“, die dadurch entstehen, dass Vorstellungen/ Begriffe auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind, etwa durch Gegensatz wie bei arm - reich, gut - schlecht Korpus, Pl. Korpora (auch Corpus, Corpora, lat. corpus, Körper), eine (möglichst systematische) Zusammenstellung von Daten, die man je nach Fragestellung auf unterschiedlichen Ebenen/ Schichten untersuchen will, z. B. alle Äußerungen, die ein Kind und seine Gesprächspartner in einem einstündigen Gespräch produzieren und die man dann verschriftet und auf bestimmte Phänomene (Verbstellung, Kasus etc.) hin untersucht. kritische Masse eine Mindestmenge (z. B. an Wörtern), die vorhanden sein muss, damit eine bestimmte Entwicklung oder ein Prozess in Gang kommt, z. B. kann man sich fragen, wie oft ein Kind Sätze wie Wo ist der Ball? Wo sind die Vögel? Wo bist du? gehört haben muss, bevor es seine Formeln wie Wose Ball? Wose Leute? aufgibt L1 Erstsprache; die zuerst erworbene Sprache bzw. die „Muttersprache“ L2 Zweitsprache; eine Sprache, die nach der L1 erworben wurde (und die in der alltäglichen Lebensumgebung gesprochen wird) Lernergrammatik eine Grammatik „im Kopf“, die SprachlernerInnen im Verlauf des Spracherwerbs entwickeln und die noch nicht zielsprachlich ist, also noch einige Lücken und Abweichungen enthält Lexem Grundform eines Wortes, wie sie Ihnen beim Nachschlagen in einem Lexikon begegnet, z. B. werden Sie die in einem Text enthaltene Form elizitierte aufgrund Ihrer Kompetenz gleich unter dem Infinitiv elizitieren im Lexikon suchen. Lexem bezeichnet auch eine Einheit im mentalen Lexikon, dem in Ihrem Kopf gespeicherten Wortschatz lexikalisiert damit bezeichnet man Elemente, die im Lexikon einer Sprache enthalten sind, z. B. die Konjunktion weil; nicht lexikalisiert sind demzufolge kindliche Vorformen dieser Konjunktion wie etwa nnn lexikalisch das Wort, den Wortschatz bzw. das Lexikon betreffend Lexikon bezeichnet zum einen ein Nachschlagewerk, zum anderen den Wortschatz einer Sprache sowie den einer Person mentales Lexikon Linguistik Sprachwissenschaft, untersucht die Eigenschaften von Sprache(n) und ihre Regelmäßigkeiten auf vielen unterschiedlichen Ebenen Pho- © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 222 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern nologie, Syntax, Semantik, Morphologie, Pragmatik, sowie ihren Wandel im Lauf der Geschichte. markieren kennzeichnen, so ist etwa die 2. Person Plural der deutschen Verben in der Regel durch die Endung -et bzw. -t markiert, wie bei redet, wisst mask. lat.: maskulinum, männlich ( Genus) Maximen Begriff der Pragmatik, vgl. Meibauer ( 2 2001); Richtlinien für ein angemessenes sprachliches Verhalten, z. B. die Beantwortung einer Frage durch relevante Information (Hast du Hunger? Antwort: Noch nicht. Und nicht etwa: Hast du Hunger? Antwort: Es regnet schon wieder! ) Medium hier: Weg bzw. Mittel des sprachlichen Austauschs (mündlich, schriftlich) mentales Lexikon Wortliste „im Kopf“, einschließlich phonologischer, morphologischer und syntaktischer Informationen, die für das jeweilige Wort gelten (z. B. Genus, regelmäßige oder unregelmäßige Flexionsformen u. ä.) Metapher Ausdruck mit übertragener Bedeutung, „Bild“, z. B. Quelle des Glücks Metasprache eine Art Fachsprache, mit der man über Sprache(n) sprechen und mit der man Merkmale von Sprache(n) beschreiben kann, zu den Fachbegriffen dieser Sprache gehören etwa Subjekt, Artikel, V2-Stellung; im umfassenderen Sinne auch jede sprachliche Äußerung über Sprache metasprachlich metasprachlich mit diesem Adjektiv bezeichnet man Äußerungen über Sprache, so kann ein mehrsprachig aufwachsendes Kind schon sehr früh Folgendes über die Sprachen seiner Eltern aussagen: Mama Haus, Papa maison, zu verstehen als: Mama sagt ‚Haus‘. Papa ‚maison‘. Minimalkonsens der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich mit jemand anders einigen kann; Minimalkonsens unter Sprachwissenschaftlern ist heute z. B., dass Lerner und Lernerinnen beim Spracherwerb mehr leisten als ihre Umgebung zu imitieren Modalverb das sind Verben, die etwas über die Art und Weise (den Modus) einer Handlung aussagen: dürfen, mögen, können, müssen, sollen, wollen. Vgl.: sie kann/ darf/ muss/ will/ mag/ soll Chinesisch lernen monolingual einsprachig, nur eine Sprache sprechend Morphologie regelt die Form, die Gestalt von Wörtern; besteht aus Flexion und Wortbildung, Kompositum Motherese „Ammensprache“, die Varietät, die bevorzugt gegenüber Säuglingen und Kleinkindern gesprochen wird; ein Kennzeichen des Motherese ist u. a. die besonders deutliche Aussprache oder ausgeprägte Tonhöhenbewegung multilingual mehrsprachig © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern 223 Negation Verneinung Negationspartikel Wörter, die Verneinung ausdrücken, z. B. nein, nee, nö neutr. lat.: neutrum, sächlich ( Genus) nicht-finites Verb nicht gebeugte Form eines Verbs, Infinitiv, Partizip Nom. [ NOM ] Nominativ Nominativ „Wer-Fall“ Kasus Numerus lat.: Zahl, beschreibt die Anzahl der beteiligten Personen; die meisten Sprachen unterscheiden zwischen Einzahl/ Singular und Mehrzahl/ Plural, z. B. eine Puppe - viele Puppen Objekt „Satzergänzung“; „Gegenspieler“ des Subjekts; charakterisiert die Person oder den Sachverhalt, auf die/ den sich die Handlung bezieht, die durch das Verb ausgedrückt wird, z. B. Er liest ein Buch offene lexikalische Klassen Wortklassen, die neue „Mitglieder“ bekommen können, also erweiterbar sind, z. B. die Klasse der Substantive offene Silbe eine Silbe, die auf einen Vokal endet, z. B. -be, die, soorthografisch die Rechtschreibung = Orthografie betreffend Paraphrase Umschreibung; anderer Ausdruck mit gleicher Bedeutung paraphrasieren paraphrasieren den gleichen Inhalt auf andere Weise ausdrücken; mit folgenden Worten will etwa die kleine Stefanie (1; 10) ihren Vater dazu bringen, eine Brücke wieder aufzubauen: Da Brücke neu machen. Papa machen. Ein Brücke machen. Jetzt wieder neu Papa machen. Brücke Papa wieder neu machen. Das Papa wieder neu machen. Partikel (fem.), Pl. Partikeln „kleine“, unveränderliche Wörter, z. B. auch, doch; Verbpartikel: abtrennbarer Bestandteil eines Verbs, z. B. auf-machen Partizip „Mittelwort“, eine nicht-finite Verbform, mit der bspw. die Abgeschlossenheit einer Handlung ausgedrückt wird, z. B. er hat gekocht Passiv „Leideform“, eine Struktur, bei der der Urheber der Handlung nicht Subjekt des Satzes ist, z. B. Der Hase wird vom Hund gejagt Aktiv passiver Wortschatz Wörter, die man versteht, aber nicht selbst verwendet; der passive Wortschatz ist stets größer als der aktive, so verstehen Kinder Artikel, bevor sie sie selbst verwenden Peergroup Bezugsgruppe, Altersgenossen von Kindern und Jugendlichen Performanz konkrete Sprachverwendung; basiert auf der Sprachkompetenz des Sprechers/ der Sprecherin, z. T. mit allen Unzulänglichkeiten spontansprachlicher Äußerungen, z. B. in Form von Versprechern, Kompetenz Person in der Grammatik unterscheidet man 3 Personen: die 1. Person: die, die spricht/ sprechen (ich, wir), die 2. Person: die, die angesprochen wird/ werden (du, ihr, Sie), die 3. Person: die, über die gesprochen wird/ werden (er, sie, es, sie) © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 224 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern phonetisch Adjektiv zu Phonetik, Lautlehre; ein phonetisches Zeichen ist daher ein Zeichen, mit dem ein ausgesprochener Laut wiedergegeben wird, so steht z. B. [ θ ] für das th in engl. think) Phonologie Lautsystem einer Sprache, gibt Auskunft über die Lautstruktur einer Sprache sowie über melodische und rhythmische Eigenschaften Pl. Plural Plural(bildung) Mehrzahl; wird im Deutschen beim Substantiv i. d. R. durch eine Markierung am Wort und den entsprechenden Artikel angezeigt, also das Dreirad - die Dreiräder, gelegentlich bleibt die Form des Hauptworts unverändert, z. B. der Wagen - Pl. die Wagen potentiell grundsätzlich möglich Pragmatik gibt Auskunft darüber, was Sprecher in bestimmten Situationen wirklich meinen (z. B. Mahlzeit als Begrüßung; Ich weiß, ich weiß, Sie sind ein Genie! als Verspottung) und über angemessenes Sprachverhalten pragmatisches Wissen pragmatisch auf die Sprachverwendung bezogen textpragmatisch pragmatisches Wissen das Wissen, wann welche Sprachformen (z. B. du/ Sie) angemessen sind und was Sprecher eigentlich meinen Präposition „Vorangestelltes“, Partikel, die einem Substantiv vorangeht, z. B. auf dem Pferd, vor dem Tor, nach dem Mittagessen Prestigemerkmal eine Verhaltens- oder Kommunikationsweise, die mit Macht, Anerkennung oder Wertschätzung assoziiert wird, weil jemand, der eine Machtposition oder Anführerstellung in einer Gruppe hat, sich so verhält; z. B. das Lispeln in Mirkos Kindergartengruppe (vgl. S. 66). Pronomen „Fürwort“, kann ein anderes Wort ersetzen, so kann z. B. es die Wortgruppe das kleine Kind ersetzen Prosodie regelt Betonung, Sprachmelodie, Rhythmus in einer Sprache, so wird das deutsche Wort Junge eben auf der 1. Silbe betont, nicht auf der 2. prosodisch die Prosodie, also die Betonung etc., betreffend Quantor Wort, das zur Bestimmung von Mengen dient; z. B. alle, viele, einige Quersprachigkeit Verbindung und Mischung verschiedener Register (vgl. List & List 2001) reanalysieren neu deuten, umdeuten, neu strukturieren, z. B. Formeln aufbrechen; das [atomis] eines einjährigen Kindes wird von ihm selbst nach einigen Monaten in da komm ich zerlegt Referent etwas, auf das man sich mit einem Wort oder Ausdruck bezieht; die möglichen Referenten des Wortes Hund sind alle Hunde auf der Welt Reflexivpronomen „rückbezügliches Pronomen“, ein Fürwort, das auf die betreffende Person zurückverweist, z. B. sich in er wäscht sich Register (Sprachregister) sprachliche Ebene, z. B. Umgangssprache, Schriftsprache, Jugendsprache, Behördensprache etc. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern 225 Reibelaut Laut, der dadurch entsteht, dass sich der aus der Lunge kommende Luftstrom an einem Hindernis „reibt“, z. B. [f, s] oder das englische [ θ ] wie in thick Reiteration Wiederholung Rel. Relativpronomen Relativpronomen ein Pronomen, das sich auf etwas Vorausgehendes bezieht und einen sog. Relativsatz einleitet, z. B. Den Frosch, der sich unter dem Seerosenblatt versteckte, konnte man kaum sehen Repertoire, stilistisches stilistisches Repertoire robust (Spracherwerb) widerstandsfähig, d. h. nicht leicht beeinflussbar/ störbar satzexterne Negation eine Verneinung, die dem Satz voran- oder nachgestellt wird. Die Äußerung des Suppenkaspers Nein, meine Suppe ess’ ich nicht! enthält sowohl eine externe (nein) als auch eine satzinterne Negation (nicht) Saugrate Häufigkeit/ Schnelligkeit und Stärke des Saugens am Schnuller schwa-Laut „Murmelvokal“, in neutraler Zungenlage gebildeter Vokal / ә / wie in der Endsilbe von Sahne Semantik beschreibt/ betrifft die Bedeutung sprachlicher Zeichen semantisch semantisch die sprachliche Bedeutung betreffend, so kann man sich etwa fragen, was das kindersprachliche aschette bedeutet und vermutet aufgrund der Situation (Kind schüttet Joghurt aus): ausschütten Sg. Singular Singular Einzahl eines Worts Plural Soziolinguistik Zweig der Sprachwissenschaft, der sich mit den in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gesprochenen Registern beschäftigt, z. B. Dialekten, der Sprache von Frauen, Jugendlichen etc. Sprachkontakt das Zusammentreffen von zwei oder mehr Sprachen in mehrsprachigen Gesellschaften (z. B. Luxemburg, Schweiz) oder „im Kopf“ einzelner Personen Sprachkorpus Korpus sprachlicher Input Sprachangebot der Umwelt, alle Äußerungen, die ein Kind oder Erwachsener zur Kenntnis nehmen könnte (durch Hören/ Lesen) Input, Intake sprachliche Intuition implizites Wissen, dass auf der Sprachkompetenz eines Sprechers/ einer Sprecherin basiert implizit Sprachproduktion das Sprechen an sich (im Gegensatz zum Sprachverstehen) Sprechakt eine Handlung, die durch Sprechen ausgeführt wird, z. B. Fragen, Auffordern, Befehlen, Loben, Taufen, Ernennen, Verwarnen etc. SSES spezifische Spracherwerbsstörung stilistisches Repertoire die Gesamtheit der verschiedenen Register, über die ein Sprecher/ eine Sprecherin verfügt © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. 226 Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern stimmloser Laut ein Laut, bei dem die Stimmbänder nicht ins Schwingen geraten, wie etwa bei [k, p, t] Konsonant - bei stimmhaften Lauten schwingen die Stimmbänder, was Sie leicht überprüfen können, wenn Sie etwa [d, g, d] aussprechen und dabei Ihre Hand auf den Kehlkopf legen Stimulus(wort) ein Wort, das eine Reaktion auslöst oder auslösen soll; Reizwort Subjekt „Satzgegenstand“, grammatische „Hauptperson“ eines Satzes, steht (im Deutschen) im Nominativ ( Kasus); stimmt in Person und Numerus mit der Verbendung überein Subjekt-Verb-Kongruenz Subjekt-Verb-Kongruenz grammatische Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und dem zugehörigen Verb eines Satzes in Person und Numerus, z. B. Die Mädchen gehen nach Hause. Das Mädchen geht nach Hause Substantiv „Hauptwort“ wie Mann, Frau, Schule, Haus, Maus etc. Synonyme Wörter mit gleicher Bedeutung, z. B. Kamin - Schornstein oder über Sprachen hinweg Apfel - apple syntaktisch den Satzbau/ die Syntax betreffend Syntax Satzbau; System von Regeln, die beschreiben, wie aus Grundelementen (Wörtern) wohlgeformte Sätze gebildet werden; so kann man aus Wörtern wie Paul, Petra, sehen folgende wohlgeformte Sätze bilden: Petra sieht Paul bzw. Paul sieht Petra, Petra wird von Paul gesehen etc. Tempus lat.: Zeit, mit den Tempus-Elementen am Verb werden die Zeitverhältnisse in einem Satz/ einer Äußerung angezeigt. Es gibt hier vor allem drei Möglichkeiten: Gegenwart (Präsens), z. B.: Das Baby lächelt die Mama an; Vergangenheit (Präteritum, Perfekt): Das Baby lächelte die Mutter an. Das Baby hat die Mama angelächelt; Zukunft (Futur): Das Baby wird die Mama anlächeln textpragmatisch auf den inneren Zusammenhang eines Texts oder einer längeren Äußerung bezogen, z. B. muss im Deutschen ein Hauptwort mit weiblichem Genus (z. B. die Erzieherin) später im Text mit einem weiblichen Pronomen wieder aufgenommen werden, also mit sie oder ihr topologisch von griech. topos = Ort; es geht hier um die Position einzelner Elemente in einem linearen Gefüge. Im deutschen Hauptsatz etwa steht das finite Verb an der V2-Position, im Nebensatz nimmt es die VE-Stellung ein. Übergeneralisierung Übertragung einer erkannten Regel(haftigkeit) auf ähnliche, vergleichbare Erscheinungen auch in Fällen, wo das nicht richtig ist, z. B. Wauwau für Hund, Katze, Kuh; die in Autos korrekte Pluralendung -s wird an andere Substantive angehängt: Mädchens, Flugzeugs etc. universell allgemeingültig © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kleines Glossar von Fach- und Fremdwörtern 227 V2 Verbzweitposition, d. h. das finite Verb steht im deutschen Hauptsatz an zweiter Stelle, man kann auch sagen, es steht in der linken Satzklammer, z. B. Ich traf ihn gestern, Gestern traf ich ihn, Ihn traf ich gestern Variationsspektrum Formenvielfalt, Bandbreite an individuell unterschiedlichen Verhaltensweisen Varietät „Unterart“, „Spielart“ einer Sprache, hierzu gehören Dialekte, Gruppensprachen (von Jugendlichen, Studierenden, Fanclubs etc.), mündliche Sprache bzw. Schriftsprache, Umgangssprache bzw. Normsprache etc. Register VE, Verbend Verbendposition, d. h. im deutschen Hauptsatz seht das nichtfinite Verb(teil) am Ende des Satzes bzw. in der rechten Satzklammer, z. B. Er ist heute sehr früh aufgestanden; im Nebensatz steht dagegen das finite Verb am Satzende bzw. in der rechten Satzklammer, z. B. Sie hat mir erzählt, dass er heute morgen sehr früh aufgestanden ist Verb Tätigkeitswort, Zeitwort; z. B. machen, laufen, backen, lesen, rufen Verbflexion Beugung des Verbs; die gebeugten Formen des Verbs lachen lauten in der Gegenwartsform in Übereinstimmung mit dem Subjekt z. B. ich lache, du lachst, er lacht, wir lachen, ihr lacht, sie lachen Verbmarkierung verwendet im Sinne von Flexion, Endung Verbpartikel Partikel Verbstellung Position des Verbs im Satz, V2, VE VE-Struktur Verbend-Struktur VE Vokal „Selbstlaut“, im Deutschen z. B. [a, e, i, o, u] sowie [ ә ] („schwa“-Laut wie etwa in Hase) Vokalharmonie Anpassung/ Angleichung von Vokalen an andere in ihrer Umgebung, so vereinfacht z. B. die kleine Sonja (1; 8) das Wort Krankenschwester zu tantabasa vorderer Konsonant ein Konsonant, der im vorderen Bereich des Mundraumes gebildet wird, z. B. [t, d, p, b, m, n] vs. = versus im Gegensatz zu W-Fragen Fragen, die durch ein „W-Wort“ eingeleitet werden, z. B. was, wer, wo, wohin, warum, wann etc. Wortklasse(n) Einteilungen von Wörtern in Substantive, Verben, Artikel, Adjektive, Präpositionen etc. Zeichen sprachliches Etwas, das für etwas anderes steht, auf etwas anderes hinweist: z. B.: Wörter stehen für Dinge/ Ereignisse/ Konzepte Zielsprache In diesem Buch: die Sprache, die gerade gelernt wird bzw. gelernt werden soll und der sich die sprachlichen Systeme von Lernern und Lernerinnen allmählich und mehr oder weniger erfolgreich annähern © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Bibliografie Achilles, Ilse/ Pighin, Gerda (2008): Vernäht und zugeflixt! Von Verspre-chern, Flüchen, Dialekten und Co. Mannheim. Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2006): Kinder mit Migrationshintergrund. Freiburg. 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