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Große Werke der Literatur XI

2009
978-3-7720-5329-0
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Hubert Zapf

Der vorliegende Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen sind und in bislang bereits zehn Bänden publiziert wurden. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, spanischen, englischen, dänischen, italienischen und amerikanischen Literatur und umspannt einen Zeitraum von der Renaissance bis zur Gegenwart. Die Interpretation der Texte verbindet sich dabei mit der Frage ihres Status im literarischen Kanon, die immer wieder neu zu verhandeln und zu begründen ist. Gerade in einer Zeit verschärfter Kanondebatten und des Aufstiegs neuer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen.

GROS SE WERKE DER LITERATUR XI GROSSE WERKE DER L ITER ATUR BAND XI Große Werke der Literatur XI Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Große Werke der Literatur BAND XI Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2008/ 2009 herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8329-7 Vorwort Der vorliegende Band ist der elfte in der Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, spanischen, italienischen, dänischen, englischen und amerikanischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg. Der Begriff „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literaturauf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst - so tauchten etwa Euklids Elemente , Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit in der bisherigen Reihe der „Großen Werke“ auf. Ebenso fanden auch Texte der Populärliteratur Berücksichtigung. Ferner wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind wie im vorliegenden Band Uwe Timms Rot und Richard Powers’ The Time of Our Singing , für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht. Zum andern führt auch nach einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, psychologisch überzeugende und ästhetisch gelungene Form zu bringen vermag. Es gibt eben Texte, die über die Zeit hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der fortwährenden Aktualisierung und Neuaneignung bedürfen. Literarische Texte sind „renewable sources of creative energy,“ wie ein Kritiker es formuliert hat, 1 stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise 1 Rueckert, William. „Literature and Ecology. An Experiment in Ecocriticism.“ In: The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology. Eds. Cheryll Glotfelty and Harold Fromm, Athens, London: U of Georgia P, 1995, 105-111. Hubert Zapf 6 aktivierbar sind. Sie gewinnen ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Emergenz, sondern aus dem Umstand, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grundmerkmalen und Funktionsweisen eines ganzheitlich aufgefassten kognitiv-psychologischen Weltzugangs des Menschen entsprechen. Dieser scheint nämlich, wie nicht zuletzt die Kulturökologie und die kognitive Poetik gezeigt haben, in hohem Maß durch metaphorische, imaginative und narrative Formen der Erfahrungsverarbeitung gekennzeichnet, wie sie auch die komplexen Symbolszenarien literarischer Texte charakterisieren. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential als auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zum Ausdruck zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die behandelten Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt wurden. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden. In früheren Bänden haben sich trotz dieses Prinzips der Dezentrierung doch immer wieder auch gemeinsame Schwerpunkte des thematischen Interesses ergeben: „Umbruchzeiten“ in Band VI, die „Kultur des Dialogs“ in Band VII, „Krisenerfahrungen“ in Band VIII, „Liebesgeschichten“ in Band IX und „Funktionen der literarischen Imagination in kulturellen Grenzerfahrungen“ in Band X, die bestimmte Schwerpunktsetzungen der Literatur und ihrer Auslegungsgeschichte ins Licht rücken. Wollte man auch im vorliegenden Band XI einen thematischen Zusammenhang der Texte und Interpretationen erkennen, ohne zwanghaft zu systematisieren und die Vielfalt der Themen und Formen einzuebnen, so könnte man einen solchen Zusammenhang vielleicht darin sehen, dass sie sich in je unterschiedlicher Weise mit dem Verhältnis von Ethik und Macht auseinandersetzen - von der christlichen Vorbildrolle des Rittertums in Joanot Martorells Roman vom Weißen Ritter Tirant lo Blanc über die Relation von Macht und Gewalt im Licht der Mensch-Tier-Beziehung in Shakespeares Macbeth , zur Macht der Aufklärung in Wielands Bildungsroman Geschichte des Agathon, andererseits der Schattenseite aufklärerischer Selbstermächtigung in Mary Shelleys Frankenstein , der Ethik gesellschaftlicher Ohnmacht in Eichendorffs Leben eines Taugenichts und, in anderem historischen Kontext, in Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns , dem Verhältnis von Macht, Ethik und Gemeinschaft in Droste-Hülshoffs Judenbuche , der Ethik des Scheiterns in Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne , der gewalttätigen Macht der Utopie in Filippo Tommaso Marinettis Mafarka le futuriste , der Macht des Imaginären über die Realität in Kafkas Das Schloß , der Ermächtigung von Kunst zur politischen Aktion in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands , der Bilanzierung gescheiterter revolutionärer Machtphantasien in Uwe Timms Rot , der kulturüberschreitenden Macht der Musik im Kontext einer rassistischen Gesellschaft in Richard Powers’ The Time of Our Singing. In all diesen Werken wird die literarische Imagination zum Erkundungsfeld einer ethischen Fragestellung, die verschiedene Konstellationen politisch-kultureller Macht beleuch- Vorwort 7 tet und so zu einer wichtigen Instanz kultureller Selbstreflexion, Selbstkritik und Selbsterneuerung wird. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Frau Kathrin Heyng vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Aleksandra Cierpinska und Julia Fendt für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben. Der Beitrag über Joan Martorells Tirant lo Blanc , der diesen Band eröffnet, wurde von Thomas Scheerer noch fertiggestellt, ehe er völlig unerwartet verstarb. Dem Gedenken an ihn ist dieser Band gewidmet. Augsburg, im Oktober 2009 Günter Butzer und Hubert Zapf Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Thomas M. Scheerer Joanot Martorell ››Tirant lo Blanc‹‹ (1490) 11 Andreas Höfele Shakespeares ››Macbeth‹‹: Menschentheater und Bärenhatz 35 Bernadette Malinowski Christoph Martin Wieland ››Geschichte des Agathon‹‹ 51 Martin Middeke Mary Shelley ››Frankenstein or, the Modern Prometheus‹‹ 71 Helmut Koopmann Joseph von Eichendorff ››Aus dem Leben eines Taugenichts‹‹ 85 Sabine Doering-Manteuffel Annette von Droste-Hülshoff ››Die Judenbuche‹‹: Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen (1842) 109 Markus May Jens Peter Jacobsen ››Niels Lyhne‹‹ 127 Till R. Kuhnle F.T. Marinetti ››Mafarka le futuriste. Roman africain‹‹ 149 Inhalt 10 Severin Müller Kafkas ››Das Schloß‹‹, philosophisch gelesen. Oder: Macht und Wirklichkeit des Imaginären 173 Georg Langenhorst Heinrich Böll ››Ansichten eines Clowns‹‹ (1963) 201 Günter Butzer Peter Weiss ››Die Ästhetik des Widerstands‹‹ 219 Hans Vilmar Geppert Uwe Timm ››ROT‹‹ 241 Hubert Zapf Richard Powers ››The Time of Our Singing‹‹ 259 Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) Thomas M. Scheerer Der Ritter ist ein Faszinosum der europäischen Kultur. Schon während es noch richtige Ritter gab, wurden sie zum Gegenstand idealisierender Vorstellungen, und auch lange nach ihrer realen Existenz wirkt ein facettenreicher, freilich auch banalisierter Mythos, der bis heute viele künstlerische Gestalten annimmt. Was ein Ritter sei und was das Rittertum bedeute, wird seit jeher in enger Abwägung von facta und ficta erörtert: Welche Rolle spielten Ritter in mittelalterlichen Epochen und Regionen tatsächlich? Welchen Realanteil haben die früh entstehenden literarischen Phantasiegestalten und wie konnten diese ihrerseits das Selbstverständnis realer Ritter beeinflussen? Zunehmend lernten Geschichts- und Literaturwissenschaft gleichermaßen, dass Ritterdichtung „nicht als Beschreibung der Realität mißverstanden werden“ (Ehlers, 10) darf, und sie lernten umgekehrt, „über die literarischen Formen hinauszugehen und die ihnen zugrundeliegende soziale Wirklichkeit zu begreifen, deren metaphorischer Ausdruck sie sind“ (Cardini, 104). Das Buch Tirant lo Blanc hat in diesen Forschungstraditionen keine Rolle spielen können, weil es vergessen war und spät entdeckt wurde. In internationalen Standardwerken, die älter als etwa zehn Jahre sind, sucht man es vergeblich, so dass man schon für eine gelegentliche Fußnote dankbar ist (z.B. in Paravicini, 209). Natürlich ist die Frage müßig, welchen Erkenntnisgewinn zum Beispiel die historische Forschung oder die literaturwissenschaftliche Gattungstheorie gezogen hätten, wäre das Buch bekannt gewesen. Um so mehr darf man sich davon versprechen, es im Licht heutiger Modellbildungen und Forschungslinien wahrzunehmen. Der spezialisierten katalanistischen und hispanistischen Forschung verdanken wir bereits umfangreiche Erträge und die reich kommentierte maßgebliche Ausgabe von Albert Hauf. Für deutschsprachige Leser bietet die Übersetzung von Fritz Vogelgsang einen leichten Zugang; allerdings kommt sie stilistisch nonchalant daher und bringt in Vor- und Nachwort auch eigenwillige Vermutungen vor (Oehrlein 1991; Schönberger 1991a). Die folgende Darstellung ist einerseits als Einführung für ein nicht mit dem Werk vertrautes Publikum gedacht, soll andererseits aber einige Perspektiven für Fachleute verschiedener Disziplinen benennen. 1. Autor, Autoren? „Mossèn Joanot Martorell, cavaller“, dessen Lebensjahre 1410-1465 als gesichert gelten können, entstammte einer valencianischen Adelsfamilie. Dieser Feudalherr mittleren oder höheren Ranges („mossèn“ entspricht „monseñor“, „monseigneur“) war ein selbstbewusster Repräsentant seines Standes, harter Vertreter seiner Interes- Thomas M. Scheerer 12 sen, erfahren im Kampf zur See und zu Lande, auch Hofmann und Gelehrter. Die folgenden Episoden können für das Verständnis seines nachgelassenen Buches nützlich sein (zur Biographie vgl. Villalmanzo/ Chiner): Als junger Mann nahm Martorell an der Seeschlacht von Ponza teil, die Alfons V. von Aragón (El Magnànim, der Großmütige) zunächst vergeblich unternahm, um Neapel zu erobern. Im Alter von noch nicht dreißig Jahren beginnt er eine lang andauernde Fehde: Er fordert Joan de Monpalau zu einem Zweikampf auf Leben und Tod, weil dieser seine Schwester entehrt hatte. Er reist nach London und gewinnt für sein Vorhaben die Protektion König Heinrichs VI. Der Kampf findet jedoch nicht statt, weil die Gemahlin von Alfons V. die Vorbereitungen unterbindet, und erst nach sieben Jahren wird Alfons den Fall zugunsten der Schwester Martorells entscheiden. Aus diesem Zwist sind Fehdebriefe überliefert eine Gattung, die auch im Buch Tirant lo Blanc eine prominente Rolle spielt (vgl. Ausg. Riquer 1982). Als Martorell von der mindestens elfmonatigen, kostspieligen Londonreise zurückkehrt, sind Teile seiner Besitzungen verpachtet; er erobert sie zuerst auf eigene Faust zurück, muss schließlich jedoch den gesamten Besitz verkaufen. Nunmehr als Adliger ohne Land wird er in der Folge zum Raubritter und als solcher für kurze Zeit in Valencia eingekerkert. Wenig später ist er als Kammerherr an dem inzwischen errichteten Neapolitaner Hof von Alfons V. zu finden. Dort erlebt er die Nachwirkungen des wichtigsten politischen Ereignisses der Epoche: Im Jahre 1453 war Konstantinopel von den Türken eingenommen worden; das Oströmische Reich hatte aufgehört zu existieren. Die Reaktionen des westlichen Reiches fielen hilflos aus: Papst Pius II. versuchte 1459 in Mantua vergeblich, Reichsfürsten zur Rückeroberung zu bewegen. Zwar ist nicht bewiesen, dass Martorell dort zugegen war, doch er nimmt Teile der päpstlichen Rede in das 33. Kapitel jenes Buches auf, das er nach eigenen Angaben kurz vor Ende der Mantueser Versammlung zu schreiben beginnt (am 2. Januar 1460). Er wird daran arbeiten, bis er das noch nicht fertig zum Druck eingerichtete Manuskript kurz vor seinem Tode einem Martí Joan de Galba verpfänden muss. In welchem Umfang Galba, der ebenfalls vor der Drucklegung stirbt, oder die Drucker in das am 20. November 1490 erschienene Werk eingegriffen haben, ist umstritten. In weit fortgeschrittenem Stadium der Erzählung nehmen deiktische Bezüge vom Typ „das Buch sagt“ zu, die auf redaktionelle Bearbeitung schließen lassen. Einige Passagen unterscheiden sich im Erzählstil und in Aspekten der Weltsicht vom Vorherigen, so dass Eingriffe von dritter Hand nicht unwahrscheinlich sind. Immerhin erschien das Buch 25 Jahre nach dem Tod seines Autors und einige Monate nach dem Tod seines zweiten Besitzers Galba. Von Galba aber als zweitem Autor zu sprechen, als den ihn manche Ausgaben nennen, wird heute meistens als übertrieben eingeschätzt (so auch schon Görtz 1967). 2. Inhaltsübersicht Das Werk ist in 487 mit explikativen Überschriften versehene Kapitel gegliedert. Manche Ausgaben nehmen eine nachträgliche, aus der spanischen Übersetzung von Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 13 1511 übernommene Einteilung in fünf Bücher vor. Die folgende Skizze konzentriert sich auf die wichtigsten Handlungslinien und trägt von den episodischen Verwicklungen nur das bei, was für ein erstes Verständnis unbedingt notwendig ist (für weitere Inhaltsangaben vgl. engl. McNerney, 2-9; frz. Barberà, 18-28; katalan. Riquer 1990, 95-177). Kap. 1-97: Wilhelm von Warwick ist nach einer Pilgerreise zwar in seine Grafschaft zurückgekehrt, lebt dort aber unerkannt als Eremit. Es wird erzählt, wie der Graf inkognito dem englischen König geholfen hat, eine Invasion des Königs von Gran Canaria abzuwehren. In seiner Klause trifft der junge bretonische Edelmann Tirant lo Blanc ein, der auf dem Wege zu den Hochzeitsfeiern des Königs von England ist, wo er sich in Turnieren bewähren will. Der Eremit unterweist den Jüngling in den Regeln der Ritterschaft und gibt ihm ein Lehrbuch mit. Nach den Feiern, die ein Jahr und einen Tag gedauert haben, kommt Tirant wieder zu dem Eremiten. Der ihn begleitende Cousin Diafebus erzählt von den Kämpfen, aus denen Tirant als der beste unter tausend Rittern hervorgegangen ist. Kap. 98-114: Nach der Heimkehr in die Bretagne erfährt man dort, dass Rhodos vom Sultan von Kairo belagert wird. Tirant rüstet ein Schiff aus und nimmt Phelip, den fünften und ungeliebten Sohn des Königs von Frankreich mit auf die Reise, die über Lissabon und Gibraltar zuerst nach Palermo führt. Dort schließt der König von Sizilien sich an, in dessen Tochter Ricomana Phelip sich verliebt. Tirant befreit Rhodos mithilfe einer Kriegslist. Er schließt sich dann einer Seereise nach Jerusalem und Alexandria an, wo er zahlreiche christliche Gefangene loskauft. Zurück in Sizilien vermittelt er die Hochzeit von Phelip und Ricomana. Phelip und Tirant brechen mit der Flotte des Königs von Frankreich zum Kampf gegen die Mauren auf. Tirant kämpft siegreich mit dem eifersüchtigen Ricart lo Venturòs und wird dessen Freund. Kap. 115-296: Aus der Bretagne reist Tirant wieder nach Sizilien. Der dortige König hat einen Hilferuf des Kaisers von Konstantinopel erhalten, weil die Türken fast das ganze „Griechische Reich“ besetzt haben und die Hauptstadt bedrohen. Auf Bitten des byzantinischen Kaisers segelt Tirant mit einer Streitmacht dorthin. Er wird in Ehren empfangen und zum Oberbefehlshaber der Armee und zum Obersten Richter ernannt. Tirant verliebt sich in die Kaisertochter Carmesina, doch wegen des Standesunterschieds müssen beide ihre gegenseitige Zuneigung verheimlichen. Von nun an werden die Episoden politischen und sentimentalen Charakters kompliziert miteinander verwoben, so dass man sie am besten phasenweise getrennt nacherzählt: Tirant muss zugleich die Türken zurückschlagen und sich eines eifersüchtigen Konkurrenten in den eigenen Reihen, des Herzogs von Makedonien, erwehren, der schließlich von Feindeshand fällt. Nachdem Tirant das bedrängte Konstantinopel entsetzt hat, wird mit dem Großen Sultan ein Frieden ausgehandelt. Während der Friedensfeiern trifft die Königin Morgana auf der Suche nach ihrem Bruder Artus ein. Es gibt am kaiserlichen Hof einen bis dahin unbekannten Ritter mit dem Schwert Exkalibur. Artus tritt auf und verkündet die Gesetze des Rittertums. In den erotisch-sentimentalen Parallelhandlungen ist bis hierher folgende Entwicklung zu verzeichnen: Carmesinas Vertraute Stephania verliebt sich in Diafebus, und Tirant erreicht beim Kaiser die Eheschließung der beiden. Die Kaiserin verliebt sich in Thomas M. Scheerer 14 Tirants Begleiter Ypòlit, der viel jünger ist und sie an ihren früh verlorenen Sohn erinnert. Tirant seinerseits wird bei der noch unerfüllten Werbung um Carmesina von deren kupplerischer Zofe Plaerdemavida listenreich gefördert und gedrängt. Zugleich stellt die Viuda Reposada ihm auf aggressive und intrigante Weise nach. Sie spiegelt Tirant vor, Carmesina treffe einen heimlichen Konkurrenten; Tirant ersticht diesen aus Eifersucht und verfällt in traurige Apathie. Derweil nutzen die Türken die Zwietracht im griechischen Heer und erringen einen Sieg, bei dem sie Diafebus gefangen nehmen. Tirant rüstet wieder zum Kampf, und auch die Liebesintrige löst sich auf, denn Plaerdemavida begibt sich auf Tirants Schiff, um den Verrat der Viuda Resposada aufzuklären, da erhebt sich ein Sturm und reißt das Schiff fort. Kap. 297-413: Tirant und Plaerdemavida werden beim Schiffbruch an unterschiedliche Stellen der nordafrikanischen Küste geworfen. Tirant gerät in die Kämpfe zwischen afrikanischen Herrschern, steigt vom Sklaven zum Heerführer auf, stiftet Frieden und erreicht durch eine vom ihm vermittelte Hochzeit, dass sich alle zum Christentum bekehren. Am Ende der nordafrikanischen Episoden wird Plaerdemavida durch Heirat zur Königin von Äthiopien. Kap. 414-471: Tirant landet vor Troja und lässt in Konstantinopel seine Rückkehr ankündigen, kommt jedoch vorher heimlich in die Stadt und trifft Plaerdemavida wieder, die ihn zu Carmesina führt. Es wird eine heimliche Ehe geschlossen. Nach seiner offiziellen Rückkunft bewegt Tirant den Kaiser erneut zum Frieden mit den Türken. Der Kaiser ernennt Tirant zum Herrscher des Griechischen Reiches und vermählt ihn mit Carmesina. In einem kurzen Feldzug erobert Tirant die letzten Gebiete des Reiches zurück und befreit seinen Freund Diafebus. Während eines Spaziergangs erkrankt er schwer, beichtet, empfängt die Kommunion, macht sein Testament, schreibt einen Brief an Carmesina und stirbt auf dem Rückweg nach Konstantinopel. Kap. 471-487: Carmesina stirbt aus Kummer bald nach Tirant. Beider Seelen steigen gemeinsam in den Himmel auf. Ihre sterblichen Überreste werden in die Bretagne überführt und feierlich bestattet. Der Kaiser überlebt die Trauer nur kurz. Die Kaiserin heiratet Ypòlit, den Weggefährten und Erben Tirants. Nach dem Tod der Kaiserin heiratet Ypòlit eine englische Prinzessin, mit der er drei Söhne und zwei Töchter zeugt. 3. „Das beste Buch der Welt“ Wer immer sich über Tirant lo Blanc informieren will, begegnet zuerst zwei prominenten Rezensenten sehr unterschiedlicher Art, handelt es sich doch um eine literarische Figur aus dem Jahre 1605 und einen lateinamerikanischen Gegenwartsautor. Beide Zeugen seien hier kurz vernommen, weil ihre Aussagen immer wieder diskutiert werden. Miguel de Cervantes gab bekanntlich vor, dem verderblichen Genre der Ritterromane den Garaus machen zu wollen. Nachdem Don Quijote von seinem ersten Ausritt im Ritterwahn kläglich gescheitert zurückgekehrt ist, sichten der Pfarrer, der Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 15 Barbier und die Haushälterin seine Bibliothek und vernichten die schädlichen Bücher. Als sie den Tirant entdecken, fällt der Pfarrer aus der Rolle des Zensors in die des verbotslustigen Lesers gefährlicher Literatur. Er kennt das Buch: Dass auch Tirant der Weiße hier ist! Gebt ihn mir her, Gevatter; ich gestehe, darin einen Schatz an Befriedigung und eine Fundgrube an Zeitvertreib entdeckt zu haben (…). Wahrlich ich sage Euch, Herr Gevatter, dass dieses in seiner Art das beste Buch der Welt ist. Hier essen die Ritter, und schlafen und sterben in ihrem Bett, und machen vor dem Tod ihr Testament, nebst anderen Dingen, deren alle anderen Bücher dieser Gattung ermangeln. Dennoch, sage ich Euch, würde der, der das geschrieben hat, es verdienen, für alle Tage seines Lebens auf die Galeeren geschickt zu werden, weil er solche Albernheiten nicht absichtlich beging. Nehmt es mit nach Hause und lest es, und Ihr werdet sehen, dass alles wahr ist, was ich Euch gesagt habe (Don Quijote I/ 6, vol. I: 134f.* 1 ). Den Verfasser auf die Galeeren, das Buch mit nach Hause… Die Stelle ist logisch nicht ganz klar und wurde viel interpretiert. Nachhaltige Wirkung hatte sie insofern, als Tirant seither für ungewöhnlich realistisch gehalten wird („Hier essen die Ritter, und schlafen und sterben in ihrem Bett, und machen vor dem Tod ihr Testament “) und weil die deutungsoffene Angabe „ nebst anderen Dingen, deren alle anderen Bücher dieser Gattung ermangeln “ manche Überlegungen hervorrief. Wie es um den Realismus des Tirant steht und welches jene „anderen Dinge“ sein könnten, wird zu erläutern sein. Der zweite Zeuge ist Mario Vargas Llosa. In einem begeisterten Essay, dem Fehdebrief zur Verfechtung der Ehre des Tirant lo Blanc , hat er viel für die Beachtung des Werks getan. Er versteht es als ein erstes Beispiel für die Reihe der ganz großen Romane der Weltliteratur, die ihrer Natur nach „totale Romane“ seien, weil ihre Verfasser (die „Allmachtserzähler“) die vorgefundene Wirklichkeit ausplündern und zu einer Fiktion aus eigenem Recht neu zusammensetzen. Einerseits analysiert Vargas Llosa die Eigenheiten des Tirant in bewundernswerter Detailkenntnis. Er zeigt, dass unsere heutige Differenzierung nach Gattungsformen unzureichend bleibt, denn Tirant ist vieles zugleich: Ritterroman, historischer Roman, Kriegsroman, Sittenroman, Gesellschaftsroman, erotischer Roman, psychologischer Roman. Es ist legitim, die Vielfalt der Diskurse und die Transgression der Gattungsgrenzen zu bestaunen, zumal das unsere postmoderne Sensibilität zu aktivieren und gesteigertes Interesse an dem Werk zu wecken vermag. Andererseits ist es aber wenig hilfreich, im Tirant eine „selbstlose, zweckfreie Schöpfung“ zu sehen (Vargas Llosa 2007, 492). Um es der Kürze wegen polemisch zu sagen: Tirant wurde nicht als Beleg für eine lateinamerikanische Romantheorie des 20. Jahrhunderts geschrieben, in der ein fernes Echo der Genieästhetik nachhallt und eine präsupponierte Autonomie des Kunstwerks beinahe unmerkliche Urständ feiert. Beide Zeugen werfen jene Fragen auf, die jede Interpretation des Tirant begleiten: Wie „realistisch“ oder „autonom“ ist die Fiktion und um welche Art von „Buch“, „Werk“ oder „Roman“ handelt es sich? Um Simplifikationen oder postmo- 1 Eigene Übersetzungen fremdsprachlicher Zitate werden mit * gekennzeichnet. Thomas M. Scheerer 16 derne Anachronismen zu vermeiden, ist es heilsam, sich Allgemeines zum mittelalterlichen Werkverständnis in Erinnerung zu rufen. Zur Gattungsfrage kann grundsätzlich gelten: „Man war im Mittelalter weit davon entfernt, von einem Schriftwerk Einheit des Gegenstandes und innere Geschlossenheit des Aufbaus zu fordern“ (Curtius, 490). Und: „Man trug (…) keine Bedenken, völlig verschiedene Gegenstände innerhalb eines Werkes zu behandeln“ (ebd., 492). „Das Tirant lo Blanc genannte Buch“ (61*) enthält ohne jede generische Unterscheidung Ritter- und Liebesgeschichten, Didaktik und Visionen, Realismus und Phantastik, Ernst und Spiel in der Kombination vielgestaltiger Diskurse. Ein solches „Buch“ als eine vom narrativen Zusammenhang organisierte Kompilation unterschiedlichster Textmaterialien ist literaturgeschichtlich keine Ausnahme: Das Libro de Buen Amor (14. Jahrhundert) ist ihm in dieser Hinsicht ebenso vergleichbar wie das 1499 entstandene Lesedrama Celestina . Das erzählte Geschehen ist im Buch Tirant lo Blanc fast überall auf Prätexte bezogen, deren Gesamtheit eine umfangreiche Bibliothek des zeitgenössischen Bildungsfundus ergibt (vgl. Pujol). Martorell hat philosophische Werke, literarische Modelle, Lehrbücher des Rittertums, der Kriegs- und Staatskunst in großer Zahl verwendet, wobei sowohl alle denkbaren Formen intertextuellen Bezugs vorkommen (von der bloßen Anspielung über motivliche Anregungen, Parodie und Pastiche bis zum Plagiat ganzer Passagen), als auch eine kaum noch „Intertextualität“ zu nennende Montage- oder Kollagetechnik: die Übernahme mehr oder weniger wörtlich übersetzter, nicht als Zitate markierter Passagen. Insgesamt „eine Art Enzyklopädie, besser ein Potpourri der gesamten mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Literatur“ (Siviero, 62*). Heutige Leser werden diese Eigenschaft des „gewaltigen Montageromans“ (Schönberger 1991b, 198) nur mithilfe eines gelehrten Kommentars und der Bibliographie der rekonstruierten Quellen erkennen. Wie dicht die intertextuelle Unterfütterung und die montierende Kombinatorik sein können, zeigt die Bemerkung des Kommentators, als er für zwei Gebete Tirants einmal keine Quelle gefunden hat: „Das könnte vom Autor selber gemacht sein“ (1073 Fn. 3*). Dass man die Einheit dieses Werks nicht in großen ästhetischen Ordnungsbegriffen wie „Realismus“ oder „realistischer Ritterroman“ suchen sollte, ist angesichts eines solchen Werkcharakters evident. Genauere Möglichkeiten des Verständnisses ergeben sich im Nachvollzug der beiden handlungsbestimmenden Themen: Ritterschaft und Liebe. 4. Konventionen und Ambivalenzen 4.1. „Der beste aller Ritter“ Tirant wird zum besten aller Ritter erklärt, nachdem er bei den Hochzeitfeiern des Königs von England eine Reihe von Zweikämpfen auf Leben und Tod („batailla a ultrança“) bestanden hat. Das ist der gefährliche, extreme Fall ritterlicher Konfrontation („batailla a tota ultrança és fort e de mal digestió“, 217). Man kann gut beobachten, wie die Darstellungen die vollkommene Übereinstimmung der Kämpfe mit der Ritterethik beglaubigen. Alle Details werden genau benannt: der Anlass des Kamp- Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 17 fes, die Bewaffnung und weitere Bedingungen, das Verhalten der Kämpfer, das Urteil der weltlichen und kirchlichen Autoritäten wie des Publikums. Bei den Kampfschilderungen handelt es sich also um eine Reihe von Exempla für die Kasuistik ritterlichen Kampfes. Den ersten Kampf besteht Tirant als Bewährung, nachdem er auf Vasallentreue vereidigt wurde und die Bestätigung erhalten hatte, dass der Kampf eine „gültige Vereinbarung“ (dt. 179) sei. Als im zweiten Kampf der Besiegte empört die Möglichkeit ablehnt, vor dem König um Gnade zu bitten, ersticht Tirant ihn. Dennoch werden dem Sieger und dem Besiegten gleichermaßen die Übereinstimmung mit ritterlicher Ethik bestätigt. Tirant versteht die Tötung nicht als Heldentat, sondern als ritterlich notwendig: „Jeder Ritter, der nach den Regeln des Waffenhandwerks handeln will (…), muß grausam sein und mit einem Fuß in der Hölle stecken“ (dt. 184). Da der Besiegte sich nicht hat demütigen lassen, wird er in „die Ruhmesliste der Märtyrer des Kriegerstandes“ (ebd.) aufgenommen. Im dritten Kampf werden der Frauendienst und die Standesfrage als Kampfgründe exemplifiziert: Tirant will Ritter der schönen Agnes werden, erbittet als sichtbares Zeichen ihre Brosche und darf diese eigenhändig vom Mieder nesteln, wobei er ihre Brüste berührt. Der Senyor de les Viles-Ermes sieht die Ehre der Dame verletzt und fordert Tirant zum Kampf. Die Schilderungen von dessen Vorbereitungen und Durchführung erstrecken sich über sieben Kapitel, in denen Briefe ausgetauscht, Boten beauftragt und Zeugen gewählt werden (Kap. 61-67). Tirant tötet den Herausforderer und wird selber lebensgefährlich verletzt. Die Kampfrichter erklären Tirant zum Sieger, bestätigen aber auch, dass Viles-Hermes als guter Ritter gestorben sei. Ihm wird eine feierliche Totenmesse gehalten, „weil (er) sich keine Selbsterniedrigung gestattet, sondern tapfer kämpfend sein Leben gelassen hatte“ (dt. 208). War schon im Kampf mit Viles-Hermes der soziale Rang ein wichtiges Motiv - Viles-Hermes steht höher als Tirant, beide aber stehen niedriger als die Dame - so verschärft sich dies bei den Kämpfen gegen zwei Könige und zwei Herzöge, die sich nicht als solche zu erkennen geben und ihn aus bloßer Kampfeslust unter falschen Wappen herausfordern. Tirant tötet nacheinander alle vier und entgeht dem Vorwurf der Ehrlosigkeit nur, weil der gastgebende König selber sich Vorhaltungen machen muss: „Hätte ich nämlich gewußt, daß sie Könige waren (…), so hätte ich niemals gestattet, daß sie ohne zwingenden Grund zu einem Kampf auf Leben und Tod in die Schranken treten“ (dt. 246). Die daraus folgende Herausforderung durch Vasallen der Besiegten endet so, dass Tirants Ritterlichkeit unbeschädigt bleibt: Noch vor dem Kampf besucht Quirielayson de Muntalbà das Grab seines Königs und gerät so in Schmerz und Zorn, „daß ihm die Galle platzte und er auf der Stelle starb“ (dt. 256). Sein Bruder Thomàs de Muntalbà wird von Tirant besiegt, aber nicht getötet, sondern zum Widerruf seiner Beschuldigungen gezwungen. An ihm wird demonstriert, was mit einem Ritter geschieht, der den Kampf zu Unrecht gesucht und verloren hat: Nachdem die Richter verkündet haben, er habe „die Tugenden der Ritterlichkeit verraten“ und sich „als ehrvergessenen, meineidigen Mann entlarvt“ (dt. 271), wird er öffentlich gedemütigt und endet als Bettelmönch. Hier war der Streitgegenstand eine Thomas M. Scheerer 18 schwerwiegende, aber falsche Beschuldigung. Ist der Gegenstand des Streits jedoch nichtig, so reagiert Tirant auf die Herausforderung - mit einer Ohrfeige (dt. 391). Zwei Aspekte der Idealisierung sind in diesen Beispielen offensichtlich: Anders als wir es aus banalisiertem Rittermythos heraus verstehen, war der Kampf auf Leben und Tod historisch eine seltene Ausnahme. Weltliche Autoritäten hatten in der Regel ein Interesse daran, tödliche Duelle zu vermeiden, schon damit die Kämpfer sich nicht gegenseitig dezimierten (vgl. Riquer 1970, 57; Hempfer, 368; Krüger). Die Kirche ächtete den Zweikampf auf Leben und Tod als Verstoß gegen das fünfte Gebot. Wie der mindestens im katalanischen Kulturkreis als Autorität geltende Ramón Llull lehrte, waren die Todesopfer solcher Kämpfe „Märtyrer des Teufels“, denen ein christliches Begräbnis verwehrt blieb, und die Sieger mussten bereuen, beichten und Buße tun (79 Fn. 5). Tirants Tötungen im Zweikampf werden stets nachträglich von den weltlichen und kirchlichen Autoritäten gutgeheißen; und die Opfer werden christlich bestattet oder im Falle des ehrlosen Überlebens doch immerhin noch von den Franziskanern aufgenommen. Das blutige Ritual soll als der Normalfall erscheinen. Der König von England hat sogar eine dem Heiligen Georg geweihte Kapelle als Mausoleum für die 150 während der Hochzeitsfeiern ehrenhaft im Zweikampf gefallenen Ritter errichten lassen. Offensichtlich versucht Martorell, weltliche Verbote und kirchliche Ächtung durch Überhöhung des Turniertodes zu neutralisieren (vgl. Chauchadis; Penzkofer, 88ff.). Und so wird Tirant denkbar suggestiv als literarische Heldenfigur konstruiert. Dass er regelmäßig Zweikämpfe auf Leben und Tod besteht, macht ihn zum Helden in einem sehr allgemeinen Sinne, denn Heldentum beruht auf extremer Transgression: „Wer Held sagt, sagt automatisch Tod. Oder genauer: Mord. Denn die archaischste Schicht des Helden ist, dass er die grundlegende Zivilisationsbedingung, das Tötungsverbot, außer Kraft setzt“ (Schneider, 93). Andererseits ist er als ein Held für seine Zivilisation und in ihr angelegt, denn alle in der Erzählung wirksamen Zivilisationsbedingungen, die Ritterkonventionen in ihrer detaillierten Kasuistik, erlauben ihm die Überschreitung. In den erläuterten Beispielen wirken insofern die allgemeinsten Mechanismen der Konstitution von Heldentum: „Helden entstehen durch den Akt der Zuschreibung, dadurch, daß sie als solche anerkannt werden“ (ebd., 92). Diese Beobachtungen gelten auch für den kuriosesten Fall: Ein losgerissener Kampfhund des Prinzen von Wales will Tirant anfallen. Der Held steigt ab, zückt das Schwert, der Hund lässt ab; Tirant reitet weiter, der Hund greift erneut an, Tirant steigt wieder ab, droht ihm mit dem Schwert und mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob du ein Teufel bist oder ein verhextes Geschöpf “ (274*). Als der Hund der Waffe ausweicht, wirft Tirant diese hinter sich: „Ich will nicht, daß man von mir sagen kann, ich hätte mithilfe überlegener Waffen mit dir gekämpft“ (ebd.). Sie umkrallten einander in großer Wut und fügten sich gegenseitig lebensgefährliche Bisse zu. Der Hund war riesig und verwegen, und er warf Tirant dreimal zu Boden und dreimal unterwarf er ihn. Beider Kampf dauerte eine halbe Stunde (…). Der arme Tirant hatte viele Wunden an Armen und Beinen. Am Ende packte Tirant ihn mit den Händen am Hals und würgte ihn so fest er konnte und biß ihn mit den Zähnen so wild in die Wange, daß er ihn tot zu Boden fallen ließ (ebd.). Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 19 Die dramatische Intensivierung (dreimal greift der Hund an, dreimal wirft der Hund Tirant zu Boden, dreimal obsiegt Tirant) betont besonders, dass die Konventionen ritterlichen Verhaltens auch hier gelten: Zu Beginn missachtet Tirant das Tier, weil es unter seiner Würde wäre, den Kampf aufzunehmen: „Eines Tieres wegen will ich weder das Leben noch die weltliche Ehre verlieren“ (ebd.). Erst als der Verdacht aufkommt, da greife ein Teufel an, wird er tätig. Kaum ist die Herausforderung angenommen, gelten die Regeln des Zweikampfs: Es muss Waffengleichheit herrschen. Sogar der Gegner akzeptiert das und trägt das Schwert mit dem Maul zur Seite. Die rituelle Situation des Ritterkampfes wird auch durch das Verhalten der Zeugen hergestellt: Dem König oder dem Prinzen von Wales wäre es ein Leichtes, den Hund einfangen zu lassen, doch der Prinz befiehlt, nicht einzugreifen, bevor nicht einer von beiden gesiegt habe. Die Interpretation der Szene führt zu mehreren Ambivalenzen: Als bloßer Kampf mit einem Hund ergäbe sich ein zwar drastisches, aber banales Bild: Ein Mann beißt einen Kampfhund tot. Bezogen auf die Ritterethik ergibt sich, dass diese immer und überall gilt, wenn es auch nur den geringsten Anlass gibt, dass sie gelten könnte: Waffengleichheit ist selbst dann vonnöten, wenn der Ritter den Teufel in Hundegestalt bekämpft. Die Szene ist in der Ritterliteratur einzigartig (280 Fn. 7; Roubaud). Natürlich ist die Deutung erlaubt, hier werde der herkömmliche Drachenkampf legendärer Ritter parodiert, doch auch in der Parodie bliebe die Affirmation der Kampfkonventionen erhalten. Das bezeugen auch die Reaktionen der Umgebung: Der verletzte Tirant wird von der weiblichen Entourage versorgt und aufgemuntert („Tirant, durch Mühe und Arbeit gewinnt man Ehre“; 275*); der König bezeugt die Ritterlichkeit des Kampfes, die Richter sprechen ihm Ehre und Preis zu, „als hätte er einen Ritter auf dem Turnierplatz besiegt“ (ebd.). In dieser Erzählung sind nun noch weitere Mechanismen der Idealisierung des Heldentums zu beobachten. Der Held muss auch wider Willen effektiv handeln können („Ich hatte nichts Übles im Sinn. Da erschien mir ein Teufel in Hundegestalt“, ebd.). Er ist auch schwerverletzt noch fähig, die Standeserfordernisse zu erfüllen und entschuldigt sich beim höhergestellten Prinzen, dass er dessen wertvollen Hund habe töten müssen. Zuletzt bekommt Tirant die Möglichkeit, das transgredierende Handeln als für ihn selber nicht ungewöhnlich zu bewerten. Als die Königin ihn bittet, nicht traurig zu sein, antwortet er: „Noch nie, durchlauchtigste Herrin, hat irgendwer mich traurig gesehen (…), so groß der Verlust auch gewesen sein mag, noch übermäßig erfreut über ein noch so großes Glück, das mir zuteil wurde“ (ebd.). Indem der Held selber die Tugend des richtigen Maßes für sich in Anspruch nimmt, reduziert er das Unerhörte seines Handelns auf eine ihm selbstverständliche Normalität, was wiederum seine Fähigkeit zur Transgression umso stärker betont. Vielleicht wird an dem kuriosen Extrembeispiel am besten deutlich, wie anhand dieses Protagonisten ideales Rittertum demonstriert werden soll. Der perfekte Ritter wächst in der Folge in weitere Rollen hinein. Er beherrscht nicht nur die Strategien der Seeschlacht und des Kampfes zu Land, die Belagerungen und Erstürmungen, die Kriegslisten und die Erfordernisse von Friedensverhandlungen. Der Kaiser überträgt ihm gleich bei der Ankunft in Konstantinopel „la capitania imperial general de la gent d’armes et de la justícia“ (cap. 117, 466) - also die Funkti- Thomas M. Scheerer 20 on des Oberbefehlshabers und Obersten Richters zugleich (zeitgenössisch auch als „megaducat“ [469 Fn. 1] bezeichnet und im weiteren Verlauf der Erzählung mit dem Titel „gran conestable“, Großer Konnetabel, belegt). Tirants Fähigkeiten als Diplomat werden im Werben um Verbündete, im Einsatz von Boten, sowie in zahlreichen Reden und Gegenreden deutlich; er nimmt auch die Rolle eines kriegerischen Missionars ein, der ganze Herrschaftsgebiete Nordafrikas christianisiert, um mit den neuen Verbündeten das Griechische Reich endgültig befreien zu können. Militärischer Führer, Stratege, Missionar, Diplomat, Ratgeber von Fürsten: Man griffe viel zu kurz, wollte man aus der formalen Perfektion seines Verhaltens, der strategischen Plausibilität seiner Kriegstaten und aus den genauen Angaben über die jeweilige Zahl der Schiffe und Streitkräfte wiederum auf „Realismus“ schließen. Zwar sind die äußeren Umstände dokumentarisch plausibel. Man hat das sogar anhand der regelmäßigen Zahlenangaben nachgerechnet („una realitat autèntica“, „un ver document d’una època“, Riquer 1990, 218). Die suggestive Leistung der Erzählung liegt jedoch nicht in den Zahlen und Daten, sondern in deren Verwendung, denn es gelingt Tirant zusammen mit Verbündeten jeweils mühelos, starke Seeverbände oder Truppen zu Land zusammenzuziehen, strategisch zu dirigieren und materiell zu versorgen. Raum, Zeit und logistische Erfordernisse werden so widerstandslos überwunden, dass man in den immer ostentativ erwähnten großen Zahlen eine Scheinpräzision erkennt, die der Suggestion außergewöhnlich erfolgreichen militärischen und politischen Handelns dient. Ein Beispiel nur: Gemessen an den historischen Schwierigkeiten, in Mantua eine Koalition zur Befreiung Konstantinopels zu erreichen, geschieht hier alles wie von selbst: Kaum hat Tirant den Auftrag angenommen, freuen sich die kaiserlichen Gesandten, werben in Sizilien, Neapel und Rom gut bezahlte Söldner an und beschaffen große Mengen Pferde, so dass Tirant sich nur noch um die Waffen kümmern muss. Die Flotte gelangt dann bei strahlendem Sonnenschein und ruhiger See rasch nach Konstantinopel (cap. 116). 4.2. „Die Kämpfe der Liebe“ Wenn man von den Konventionen des Rittertums sagen kann, dass ihre ungebrochene Geltung mit allen Mitteln der Dokumentation, der Exemplifikation, der Idealisierung und der Imagination gestaltet wird, so muss man über die Konventionen der höfischen Liebe gegenteilig urteilen. Von den Idealisierungen höfischen Frauendienstes sind wir weit entfernt. Das Motivrepertoire bleibt an der verbalen Oberfläche als eines unter mehreren präsent, wird aber zum Material für vielgestaltig „karnevalistische“ Diskurse: parodistisch und ironisch, spielerisch und satirisch, gelegentlich auch zynisch (vgl. Alpera; Riquer 1990, 223ff.; Cacho Blecua; Schönberger 1991b). Um es mit den Worten von Ypòlit zu sagen, die er an die Prinzessin richtet, als sie drei ihrer Haare als Zeichen der Zuneigung an Tirant senden will: „Glaubt Eure Hoheit, daß wir in der alten Zeit sind, in der man nach dem Gesetz der Gnade handelte? (…). Was mein Herr Tirant von Euch will, das weiß ich gut: Daß er Euch in einem Bett haben kann, nackt oder im Hemd; und falls das Bett nicht parfümiert wäre, würde ihn das nicht stören“ (cap. 251, 953* m. Fn. 4). Das Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 21 „Gesetz der Gnade“ („ley de gràcia“) ist hier mehrdeutig: Im höfischen Liebesritual bezeichnet die „Gnade“ sowohl die Huld der Dame, also ihre Zustimmung zur Verehrung durch den Ritter, als auch einen Gegenstand, den sie ihm als Zeichen zukommen lässt. Insofern aber das „Gesetz der Gnade“ in heilsgeschichtlicher Lesart die Epoche seit der Ankunft Christi auf Erden bezeichnet, gerät die Wendung nahe an die Häresie, würde sie doch bedeuten, dass christliche Gnade in eroticis einer vergangenen Zeit angehört. Zwar sind die literarischen Konventionen und die Liebeslehren neuplatonischer oder christlich-dogmatischer Herkunft stets präsent, vor allem in den galanten Dialogen, in Bildersprache und Motivik, doch die Liebe zwischen Tirant und Carmesina ist weit entfernt von sublimierender Stilisierung. Es ist eine echte Zuneigung, eine sinnliche Anziehung, die nach körperlicher Erfüllung strebt und diese nach einer wechselhaften, über mehr als dreihundert Kapitel reichenden Geschichte erlangt. Da diese Liebesgeschichte von mehreren Paaren gespiegelt und kontrastiert wird, entsteht ein figuren- und episodenreicher, ostentativ und abundant geschilderter erotischer Kosmos: „sinnliche Feste, Fetischismus, Lesbianismus, Ehebrüche, versuchte Vergewaltigungen, ein symbolischer Inzest, Voyeurismus, Techniken der Kuppelei, erogene Spiele“ (Vargas Llosa 1969, 16*), dazu gelegentlich auch ein homoerotischer Blick auf den Helden (cap. 299/ 300, bes. 1098 m. Fn. 23) sowie eine Thematik, die man zwar nicht als Prostitution, aber doch als eine gewisse Verbindung von Liebe und materiellem Interesse bezeichnen kann (die Kaiserin „kauft“ Ypòlit mit wertvollen Geschenken; Carmesina geht zugunsten Tirants an ihr Vermögen). Mehrere Frauenfiguren repräsentieren differenzierte Rollen im Geschlechterverhältnis: Die sizilianische Prinzessin Ricomana (feinsinnig und kapriziös), das Hoffräulein Stephania (naiv und neugierig, aber vertrauenswürdig), das Hoffräulein Plaerdemavida (sinnlich direkt, voyeuristisch, pragmatisch und kupplerisch), die Viuda Reposada (von aggressivem sinnlichem Verlangen nach Tirant besessen), die Kaiserin (von ungezügeltem, quasi-inzestuösem Verlangen nach Ypòlit erfüllt) und einige mehr (vgl. Ruiz-Domènec 1991; Alemany). Die Viuda Reposada wird sich aus Angst vor der Entdeckung ihrer bösen Intrige gegen Tirant das Leben nehmen; die Kaiserin wird Ypòlit erst in ihr Bett nötigen und nach Tirants Tod heiraten. Alle anderen Frauen verspüren sämtlich auch eine Neigung zum Helden - in psychologischer Sicht kann man sie als Projektionen männlicher Wahrnehmung unterschiedlicher Weiblichkeitserfahrungen verstehen. Tirant wird sie alle im Laufe der Geschehnisse verheiraten. Er stiftet die Ehen zwischen Ricomana und Phelip, Maragdina und Escariano, Plaerdemavida und dem König von Fez sowie Stephania und Diafebus. Seine eigene Liebesgeschichte mit der Prinzessin Carmesina verläuft so spannungsreich, weil zum einen die Zuneigung von vornherein gegenseitig ist und weil zum anderen beträchtliche moralische, ständische und reichspolitische Widerstände wirken. Die voreheliche Verführung der Kaisertochter wäre für Tirant ein todeswürdiges Vergehen, für die Prinzessin eine moralische Schmach und für die kaiserliche Familie eine dynastische Katastrophe. Wäre es nicht anachronistisch, könnte man in den beiden ein „romantisches“ Liebespaar sehen, das die gemeinsame Liebe unter widrigsten Umständen erlebt. Weniger anachronistisch wäre es übrigens, die beiden Thomas M. Scheerer 22 Liebenden einmal nicht als idealisierte Typen (der Ritter und die Prinzessin) zu verstehen, sondern sie als psychologisch nuanciert gestaltete Charaktere zu verstehen (ein ehrgeiziger junger Mann und ein verliebtes Mädchen aus bestem Hause). Unbeschadet dieser möglichen, noch ausstehenden Studien lässt sich die Geschichte zwischen Tirant und Carmesina als Widerstreit zwischen individuellen Triebansprüchen und gesellschaftlich gebotener Affektkontrolle nachvollziehen. Hier herrscht nicht, wie gesagt wurde, „der völlige Mangel an höfischer Affektdisziplin“ (Penzkofer, 97), sondern eine aspektreich gestaltete Spannung, die allerdings nicht als tragischer Konflikt, sondern als unterhaltsames Spiel mit den Situationen gestaltet ist. Diese Spannung wird von der ersten Begegnung an aufgebaut. In einer hochoffiziellen Situation, während der Kaiser den in Konstantinopel neu angekommenen Ritter begrüßt, fällt dessen Blick auf die Prinzessin: Während der Kaiser so oder ähnlich sprach, achteten Tirants Ohren auf die Worte, aber seine Augen betrachteten die große Schönheit Carmesinas. Und wegen der großen Hitze, denn die Fenster waren geschlossen gewesen, war sie halb unbedeckt und zeigte am Busen zwei Paradiesäpfel, die wie Kristalle glänzten und die den Augen Tirants Zugang gewährten, die von nun an keinen Ausgang mehr fanden und immerzu in der Gewalt der ungezwungenen Person blieben, bis der Tod beider sie schied (cap.117, 469*). Traditionell sind hier zwei Motive: Die Liebe gelangt durch die Augen in die Seele; sie ist einer Gefangenschaft zu vergleichen. Dass der Anlass die halbnackten Brüste der jugendlichen Prinzessin sind und dass der Kaiser zugegen ist, ohne etwas zu bemerken, setzt zwei Motive für die weitere Entwicklung: Zum einen ist Tirants Begehren sinnlich konkret, und Carmesina ist ihm von vornherein zugetan. Zum zweiten erfordert das höfische Milieu ein hohes Maß an Diskretion. Ein gutes Beispiel für die daraus entstehende erotische Spannung ist eine für den anwesenden Hofstaat unverständliche Zwischenbemerkung von Carmesina. Tirant ist - ganz traditionsgemäß in liebessehnsüchtige Apathie verfallen, muss dem Kaiser aber eine falsche Erklärung geben: „tot lo meu mal és de mar“ (484; „meine ganze Krankheit kommt von der Seefahrt“). Carmesina wirft ein: „Herr, Fremden, die sind, was sie sein sollen, tut die Seefahrt [„la mar“] nichts an, sondern verleiht ihnen Gesundheit und langes Leben, und sie sah Tirant unverwandt ins Gesicht und lächelte, damit Tirant bemerke, dass sie ihn verstanden hatte“ (484*). Verstanden hatten beide die in galanter Sprache reich überlieferte Doppelbedeutung von „la mar“ (das Meer) und „l’amar“ (das Lieben) und damit auch die im Einwurf der Prinzessin verborgenen Verheißungen (477 Fn. 3). Bei einer späteren Gelegenheit reicht sie für des Ritters Handkuss die Innenseite ihrer Hand, „denn innen die Hand zu küssen ist ein Zeichen der Liebe; sie außen zu küssen, eine Geste der Höflichkeit, die man der Herrschaft schuldet“ (dt. 440). Im anschließenden Gespräch stellt sie sogleich die Bedingung für weitere Gunst: Wenn er alle Feinde aus dem Kaiserreich vertrieben habe, „so verspreche ich, dir einen Lohn zu geben, der deinem Stand und deiner Tapferkeit entspricht“ (cap. 125, 514*). Die Rollenverteilung entspricht nur noch an der Oberfläche der Konvention. Die Prinzessin besteht zwar auf höfischer Zurückhaltung, spricht aber immer auch vom Erfolg des Liebeswerbens: „Die Kämpfe der Liebe wollen nicht hart bedrängend sein; erfolgreich besteht man sie nicht mit Ge- Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 23 walt, sondern mit erfinderischen Schmeicheleien und süßer List“ (cap. 436, 1418*). Tirant ist, vorsichtig gesagt, an den ethisch-moralisch veredelnden Wirkungen verbalisierten Liebessehnens nicht interessiert. Seine Annäherungen werden nach dem Maß der Hindernisse immer zudringlicher und konkreter. So entsteht eine spannungsreiche Abfolge progressiv-regressiver Entwicklungen. Tirants konventionswidrige sinnliche Avancen nehmen zu und werden von Carmesina nur soweit abgewehrt, wie es ihre weibliche Ehre, ihr Ruf und ihre Interessen erfordern, werden also teilweise zugestanden, womit auch die Gefahr der Entdeckung zunimmt. Vor der Schlacht erbittet Tirant statt des üblichen Glücksbringers (eines Handschuhs oder eines Tüchleins) das Hemd der Prinzessin und will es auch gleich mit eigener Hand ausziehen. Das Hemd erhält er, jedoch nachdem Carmesina es im Nebengemach ausgezogen hat („Heilige Maria steh mir bei […] es wäre nicht recht, wenn eure Hände mich dort berührten, wo mich noch niemand berührt hat“ (cap. 132, 545*), er fügt die Trophäe seiner prächtigen Rüstung zu und als das dem Kaiser auffällt, belügt er diesen so, dass die Prinzessin wiederum geschmeichelt sein kann. Ein für die weitere Entwicklung wichtiger Punkt ist erreicht, als auch Carmesina Tirant ihre Liebe erklärt hat. Das geschah mit folgenden Worten: „Und mir ist allen Ernstes so, als wäre ich dabeigewesen, als Gott Euch erschuf, und als hätte ich zu Ihm gesagt: ‚Herr, mach ihn mir so, denn so will ich ihn haben‘“ (cap. 172, dt. II, 37). Von nun an gestattet sie ihm erotische Freiheiten auch dann, wenn sie allein sind, zieht ihn gar unter die Bettdecke, lässt sich liebkosen und stellt ihm höheren Lohn in Aussicht, aber „Tirant konnte der Prinzessin nicht mehr gebührend heimzahlen, was nach diesen Worten fällig gewesen wäre, zog aber dennoch höchst vergnügt von dannen“ (cap. 175, dt. II, 42). Das erklärte Einverständnis beider bewirkt auch ein höchst unterhaltsames, episodenweise komödiantisches Versteckspiel gegenüber den kaiserlichen Eltern. Vor einem großen Fest zum Beispiel gelangt Tirant mit der kupplerischen Hilfe Plaerdemavidas in die Frauengemächer und überrascht Carmesina beim Ankleiden, da nähert sich die Kaiserin und verursacht eine der turbulenteren Szenen: Die Zofen verstecken Tirant schnell unter einem Berg von Kleidern, Carmesina setzt sich darauf und kämmt sich hingebungsvoll; kaum scheint die Gefahr gebannt, trifft auch der Kaiser ein und sorgt für ähnliche Verwicklungen. Als die Gefahr vorüber ist, weist Carmesina weitere Zudringlichkeiten von sich, erlaubt aber einen Kuss und wendet sich zum Gehen - „als (Tirant) sah, daß sie fortging und er sie mit den Händen nicht erreichen konnte, streckte er das Bein aus, schob es unter ihre Röcke und berührte sie mit dem Schuh an der verbotenen Stelle, so dass sein Bein mitten zwischen ihren Schenkeln steckte“ (dt. II, 75). Dass er die berührte verbotene Stelle („lo loch vedat“, 790) sogleich mit einem Fetisch belegt, den entsprechenden Strumpf nämlich prachtvoll besticken lässt, ihn beim Turnier und in der Hofgesellschaft trägt, bringt ihm die ahnungslose Bewunderung aller, vor allem aber das Entzücken der Prinzessin ein: „Die Zeit wird kommen, wo du dir nicht nur ein Bein besticken kannst, wie du es jetzt hast, sondern beide. Und alle zweie kannst du dann, ganz nach Belieben, dahin tun, wo du sie hintun möchtest“ (dt. II, 85). In solchen Szenen wird besonders deutlich, wie der Widerstreit von Affektkontrolle und Triebansprüchen auf vier Schauplätzen unterschiedliche Formen annimmt: in der heimlichen Thomas M. Scheerer 24 Intimität des Liebespaares ist es der Antagonismus zwischen Tirants Drängen und Carmesinas bedingter Reserve, in den Innenräumen der Frauengemächer das schützende Verhalten der weiblichen Entourage, gegenüber dem elterlichen Kaiserpaar eine Camouflage mit komischen Effekten, in der Öffentlichkeit ein Umspielen der zu verbergenden Liebe mit galanten Signalen und mehrdeutigen Reden. Die Bedeutung der Kupplerinnenfigur Plaerdemavida ergibt sich auch aus ihrem Zugang zu allen diesen Bereichen und ihrem geschickten Agieren in ihnen. Als die Prinzessin mit der heimlichen Ehe einen institutionellen Rahmen für weitergehende erotische Begegnungen findet, wird damit erneut eine progressivregressive Situation geschaffen, denn nach kanonischem Recht können die Sponsalien bereits das Sakrament der Ehe begründen, das den körperlichen Vollzug nicht nur erlauben, sondern sogar fordern würde. Carmesina hat aber alles Interesse, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren und eine Schwangerschaft zu vermeiden. Zwar verwendet sie die Eheformel: „Ich schenke Euch, Tirant lo Blanc, meinen Leib als Euer rechtmäßiges Weib und nehme den Eurigen als meinen rechtmäßigen Mann“ (cap. 271, dt. 287), aber die Umstände des heimlichen Verlöbnisses lassen dessen sakramentale Wirksamkeit mindestens im Unklaren (wobei die Interpreten über die Frage heftig grübeln und unterschiedlich urteilen; vgl. 1017 Fn. 3). Für den Konflikt zwischen Affektkontrolle und Triebleben ergeben sich dramatische Zuspitzungen: Die Prinzessin besteht auf ihrer Jungfernschaft aus Furcht vor böser Nachrede, und es werden lange Reden über die Frage ausgetauscht, schließlich wendet Tirant sich an Plaerdemavida, die ihm bei einem Versuch behilflich sein wird, sich Carmesinas mit Gewalt zu bemächtigen. Das gelingt beinahe, denn in der auch sonst für Erotisches verwendeten militärischen Metaphorik (vgl. Hauf 1997) heißt es: „Er arbeitete mit der Artillerie, um in die Burg einzudringen“ (cap. 280, 1038*). Eine lange Klagerede Carmesinas kann das abwenden und in einen concubitus sine actu mildern: „Die ganze Nacht hindurch spielten sie und ergötzten sich, bald am Kopfende des Bettes, bald am Fußende, unzählige Zärtlichkeiten tauschend, woran sowohl er als auch sie das allergrößte Vergnügen zu haben schienen“ (dt. 306). Von Plaerdemavida muss Tirant sich hernach zwar schmähen lassen als „der absonderlichste, störrischste, liebesuntauglichste Ritter, der je das Licht der Welt erblickt hat“ (dt. 310), doch der schließliche Respekt vor Carmesina und das Vertrauen in ihre wiederholten Versprechungen werden sich am Ende auszahlen, denn als Tirant siegreich aus Afrika zurückkehrt, ist die Bedingung für den ultimativen Lohn erfüllt, die Vereinigung kann vollzogen (cap. 436) und bald darauf eine Vermählung durch den Erzbischof vorgenommen werden (cap. 452). Die plötzliche Erkrankung und der alsbaldige Tod Tirants müssen jeden Interpreten herausfordern. Über die Natur seiner Erkrankung (ein „gran mal de costat“, cap. 467, 1480 m. Fn. 3) meditieren noch die Gelehrten - Angina pectoris, Rippenfell- oder Lungenentzündung. Nicht auszuschließen ist die Erklärung, des Helden körperliche Schwäche lasse sich aus übermäßiger ehelicher Betätigung erklären (Beltrán 1997). Es mag auch sein, dass eine ironische Kontrafaktur der konventionellen Ritterliebe vorliegt (der höfische Liebende stirbt vor Sehnsucht; dieser stirbt an erfüllter Liebe). Wichtiger scheint zu sein, dass Tirant in der Logik des Geschehens Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 25 nicht Kaiser werden darf, um „ganz und gar der irdischen Wirklichkeit entrissen“ (Penzkofer, 104) und in einem quasi-heilsgeschichtlichen Gestus überhöht zu werden. Dabei vergesse man nicht, dass das Ende der Erzählung über den Tod Tirants hinaus mehrstufig gestaltet wird. Auch Carmesina beendet ihr Leben bald, und es ist das Ende beider Hauptfiguren, das überaus sorgfältig mit den gesellschaftlich und privat gebotenen Diskursen und Ritualen ausgestattet wird (Tirants Gebete, seine letzte Kommunion, sein Testament, sein Abschiedsbrief an Carmesina, die Bemühungen der Ärzte; die Wehklagen der anderen; und Gleiches auch vor und nach dem Tode Carmesinas; cap. 447-470). In diesen Formen bereitet sich zunächst die Apotheose eines Ritters und eines Liebespaares vor. Als Kriegsheld hat Tirant das höchste Ziel, die Rettung des Reiches, errungen. Als Liebender wird ihm ebenfalls die höchste Ehre zuteil: Seine Seele steigt zusammen mit der Carmesinas in den Himmel auf. Im Prolog wurde er in die Reihe der biblischen Könige, der griechischen und trojanischen Helden, der römischen Feldherren, der großen Ritter, ja der Apostel, Märtyrer und Heiligen gestellt (69). In dieser Reihe hat er als Retter des Reiches seinen Platz gewonnen. Die Liebesgeschichte mit Carmesina wird gleich bei der ersten Begegnung in eine weitere Reihe eingeordnet: Floris und Blanchefleur, Pyramus und Thisbe, Aeneas und Dido, Tristan und Isolde, Lancelot und Ginevra (cap. 118, 473). Tirant und Carmesina werden auf diese Weise als neues Paar in die Geschichte mythischer Liebender hineingeschrieben. In der Zusammenschau besteht kein Anlass, zwischen dem einerseits intakten Rittertum und der nicht mehr geltenden höfischen Liebeslehre zu unterscheiden. Das Buch Tirant lo Blanc erweist sich als der Versuch, unter Aufbietung allen Wissens der Zeit und des Reichtums an literarischen Gestaltungsmöglichkeiten eine neue imaginäre Synthese aus beidem zu schaffen. Die Notwendigkeit der Affektkontrolle bleibt nach aristokratischem Kodex und hier sogar als Bedingung für erfolgreiches reichspolitisches Handeln unabweisbar, aber die Triebansprüche beider Geschlechter setzen sich schließlich bei Wahrung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung durch. Der literarische Gewinn besteht in der Gestaltung (und für Leserinnen und Leser im Nachverfolgen) der variantenreichen Wechselfälle dieses Antagonismus: dramatisch und spielerisch, galant, komisch, tragikomisch, burlesk, grotesk und am Ende melodramatisch aufgehoben in der Apotheose beider Liebenden. Das Ende der Erzählung interpretiert allerdings unvollständig, wer die Ehe zwischen der ehebrecherischen Kaiserin und dem arrivistischen Ypòlit als „Triumph der Liederlichkeit“ („triunfo de la luxuria“; Cacho Blecua, 168) versteht. Mit dem Tod des perfekten Ritters, so pflegt man zu deuten, verliere auch die Ethik des Rittertums seine Bindungskraft für das Reich, und die traditionelle höfische Liebe degeneriere zu egoistischer Sinnlichkeit (Alemany, 19; Carmona, 51ff.). Dabei vergisst man aber die weiteren Stufen des offenbar sorgfältig geplanten Schlusses: Tirant hat mit seinem Testament und mit der Wahl seiner nun hinterbliebenen Waffengefährten die Grundlage für die durchaus erfolgreiche Konvenienzehe zwischen Kaiserin und Ypòlit geschaffen. Die bewährten Gefolgsleute können im Land bleiben, weil einer der ihren Kaiser wird (dt. 450), die Kaiserin allein hätte das Griechische Reich nicht halten können (dt. 459); das neue Kaisertum aber ist stark genug, für hundert Jahre Thomas M. Scheerer 26 Frieden mit dem Großtürken zu schließen und ihn als Verbündeten „gegen alle Welt“ (dt. 468) zu gewinnen. Indem Ypòlit nach dem Tode der Kaiserin eine englische Prinzessin heiratet, schafft er eine dynastische Verbindung zwischen Byzanz und England - der Heimat von König Artus. „Die Söhne wurden zu vortrefflichen, überaus kühnen und tapferen Rittern“ (ebd.). Es ist, als könne die Geschichte bei Bedarf von vorne beginnen. 5. Die „mimetische Situation“ Sobald man den „Realismus“ des Buches Tirant lo Blanc zur Voraussetzung seiner Charakteristik macht, gerät man in Interpretationsschwierigkeiten. Zwar kann man ihn leicht vom höfischen Ritterroman abgrenzen, der von vornherein in der „Nebelferne des Märchens“ (Auerbach, 127) angesiedelt ist. Man kann auch deutliche Bezüge zu realgeschichtlichen Episoden anführen (Riquer 1990, 136ff.) und die Übereinstimmung von Kriegsführung und Waffentechnik mit zeitgenössischen Verhältnissen feststellen („la total versemblança dels episodis militars“, ebd., 212). Dann muss man aber die eben doch vorkommenden phantastischen Elemente in ihrer Bedeutung zu mindern versuchen. Auch dann noch scheint die Unterscheidung von Realismus und Phantastik nicht geeignet zu sein, der diskursiven Vielfalt gerecht zu werden. Zwei Beispiele können das veranschaulichen: Morgana findet ihren Bruder Artus, der die Gesetze des Rittertums verkündet (cap. 189-202). Bevor man die Diagnose „Phantastik“ stellt, muss man bedenken, dass die Erzählung als Bestandteil der Friedensfeiern am Hof zu Konstantinopel wie die Szenerie eines allegorischen höfischen Theaterspiels ausgestattet ist. Allerdings fehlt jede Markierung, die auf ein erzähltes Spiel hinweisen würde, so dass der fiktionslogische Status unklar bleibt. Die Funktion der Szenen ist davon jedoch unberührt: Die Gesetze des Rittertums werden mit der Autorität ihres mythischen Begründers versehen (vgl. Brummer). Als zweites Beispiel kann man ein Wunder näher betrachten: Hunderte getötete Christen und Mauren liegen auf dem Schlachtfeld; man kann die Christen nicht identifizieren, um sie in gebotener Weise als Märtyrer des Glaubens zu bestatten. Erst Tirants Gebete schaffen Abhilfe, denn alle toten Christen drehen sich nun um und schauen mit gefalteten Händen zum Himmel, während die Mauren bäuchlings liegen bleiben (cap. 340). Die Phantastik dieses Wunders relativiert sich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass ein zeitgenössischer Historiker aus der Geschichte Karls des Großen ein ganz ähnliches verzeichnet. „Wenn es in einem Geschichtsbuch so akzeptiert und geglaubt wird, wie viel mehr muss es in einem Roman erlaubt sein“ (Riquer 1990, 213*). Um die zeitgenössische Alterität von Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitskriterien sowie die stellenweise schwach ausgeprägte Fiktionslogik funktional bestimmen zu können, löse man sich von den hierfür zu unspezifischen ästhetischen Ordnungsbegriffen (Realismus, Phantastik), akzeptiere zunächst den Werkcharakter als ein „Buch“ im eingangs erwähnten Sinne und gehe von der Feststellung aus: „Martorells Suche nach einem Diskurs über Ritterschaft, Liebe und Phantastik führt (…) zu dem Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 27 wohl hybridesten Text, den die Gattung Ritterroman überhaupt vorzuweisen hat“ (Wild 1990, 85). Um dessen Komplexität und Intentionalität zu erfassen, so mein Vorschlag, gehe man von der speziellen mimetischen Situation aus. In aristotelischer Tradition umfasst Mimesis immer zugleich Nachahmung der Wirklichkeit, Präsentation von Wahrscheinlichem oder Künftigem, und damit auch antizipierende Gestaltung von Idealität. Was man die mimetische Situation nennen könnte, nämlich jene Setzung von Wirklichkeit, aus der sich alle im literarischen Werk vorfindbaren Elemente (Geschichte und Gesellschaft, Verhalten und Gefühle, Meinungen und Ideen) in ihrer Eigenart herleiten lassen, ist im Falle des Tirant lo Blanc leicht zu bestimmen: Realgeschichtlich ist Byzanz für das Reich verloren, und zum Versuch einer Rückeroberung kam es nicht. Im erzählten Geschehen wird angenommen, Byzanz sei lediglich bedroht und werde gerettet. Indem Martorell seine Erzählung als Alternative zum tatsächlich schon Geschehenen, als eine retrospektive Inversion der als unglücklich und inakzeptabel empfundenen Geschichte schreibt, findet er einen zeitgenössisch neuen fiktionalen Modus. Dieses mimetische Verfahren wird erst sehr viel später explizit formuliert werden. Bezogen auf den postmodernen metahistorischen Roman bringt Carlos Fuentes es auf die Formel „der Geschichte eine zweite Chance geben“ (dazu Scheerer, 224). Die retrospektive Inversion der Geschichte hat bei Martorell eine unverkennbar propagandistische, psychologisch gesehen eine kompensatorische Aufgabe: Ein intaktes Rittertum, repräsentiert durch einen perfekten Ritter, so suggeriert das fiktionale Geschehen, kann die Einheit des Reiches und der Christenheit bewahren, hätte sie bewahren können oder wird gebraucht, um sie künftig wiederherzustellen. Das spanische Substantiv „el tirante“ (und womöglich eine altkatalanische Entsprechung) bedeutet so viel wie „Zugstrebe“, „Verbindungsbalken zwischen Außenwänden“ (Vogelgsang 2007 b, 700), so dass schon der Name des Helden das Zusammenhalten der Mauern des Reiches zu assoziieren erlaubt. Man wird also mit Gewinn eine Deutungsrichtung weiterverfolgen können, die davon ausgeht, Martorell habe den als bedrohlich empfundenen gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit harmonisierend entgegengearbeitet. „In diesem Sinne erscheint Martorells Roman als polemischer Dialog, den die Ritterlehre mit ihrem Gegner führt, mithin als Domestizierungsanstrengung“ (Penzkofer, 87). Im Sinne der seit dem frühen 15. Jahrhundert nicht seltenen Ritternostalgie (Ruiz Domènec 1993, 546), die man auch „Ritterrenaissance“ (Rischer) genannt hat, suggeriert Martorell, allein das objektiv überholte - Lebens- und Gesellschaftsmodell könne die Zukunft gestalten. 6. Perspektiven Die wünschenswerte und mit Sicherheit ertragreiche Einbeziehung des Tirant lo Blanc genannten Buches in die Diskurse heutiger geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen erfordert eine dreifache Transferleistung: Zum einen steht die Reintegration von Deutungen des Werks in die vorhandenen, ohne seine Kenntnis entstandenen Modellbildungen und damit einhergehend die Anwendung ent- Thomas M. Scheerer 28 sprechender Deutungskriterien auf das Werk an. Zum anderen wäre der Import von Ergebnissen der spezialisierten katalanistischen und hispanistischen Forschung in die internationalen Kontexte (etwa der Vergleichenden Literaturwissenschaft) zu leisten. Und drittens: Mancher neuere Beitrag der deutschsprachigen Romanistik müsste von katalanistischer Seite noch zur Kenntnis genommen werden (teutonica non leguntur…). Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Thesen formuliert. 1. Zur Literaturwissenschaft: Die umfangreichen Versuche, Tirant lo Blanc oder dessen Bestandteile von Vorläufern abzugrenzen (höfischer Roman, sentimentale Literatur, Novellistik, Ritterviten, Heroldstexte, Fehdebriefe, Chronistik) und mit Nachfolgern zu vergleichen ( Amadís de Gaula, Celestina, Don Quijote ) führen weder dazu, ihn in eine Kontinuität der Gattungsgeschichte des Romans zu integrieren, noch verändert die spät erlangte Kenntnis des Werks unser Bild von dieser Gattungsgeschichte. Produktiver ist es, das „hybride Buch“ (vgl. Wild) als ein Werk sui generis , einen Solitär in der Gattungsgeschichte zu verstehen und seine besonderen Eigenschaften auf ihre kulturhistorischen Bedeutungen hin zu untersuchen. Martorell beschreitet einen „Sonderweg in die Moderne“ (Lange/ Matzat), dessen Beschreibung man begonnen hat (vgl. Penzkofer) und dem weiter mit Gewinn nachgeforscht werden kann. - In welcher Disziplin auch immer man untersucht, wie „Superhelden“ entstehen, aus welchen Mechanismen sich solches Heldentum konstituiert und was dessen Faszination ausmacht, kann man einerseits dazu beitragen, Tirant genauer zu versehen und andererseits in Tirant die genannten Mechanismen gestaltet finden. Er steht noch nicht deutlich genug in der von der Antike bis in Literatur und Film der Gegenwart reichenden Heldenreihe. - Trotz inzwischen nach Hunderten zählender Studien mangelt es weiterhin an Einzelinterpretationen von Szenen, Motiven, Figuren, Diskursen und thematischen Zusammenhängen. Es können auch noch „Quellen“ gefunden, interpretiert und in die weitere Forschung eingebracht werden. 2. Zu Geschichte und Kulturgeschichte: Wenn sie Tirant lo Blanc als eine literarische Quelle betrachten mögen, finden Historiker reiches Material: eine Reaktion auf den Verlust des Oströmischen Reiches, das Idealbild eines Ritters im späten 15. Jahrhundert, Auskünfte über Turnier- und Fehdewesen, Kriegskunst zu Lande und zur See, Waffentechnik u.v.a.m. In umgekehrter Perspektive würde man für das Verständnis des Werks profitieren können, wenn man es genauer in die „von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung“ (Moraw) führende innere Entwicklung des Reiches stellen könnte. Der ideale Ritter Tirant ist in diesem Prozess objektiv in der Defensive (vgl. Gadea) und kann nur um den Preis vielsagender Verleugnungen realer Verhältnisse als erfolgreich dargestellt werden. Zum Beispiel findet die zeitgenössische Zurückdrängung des Fehdewesens zugunsten einer staatlichen Gerichtsbarkeit keinerlei Widerhall im Geschehen (Algazi, Moraw). Dass im Turnier die „Überschreitung des Spielcharakters“ (Reitzenstein, Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 29 31; vgl. auch Krüger, 407; Zotz 1985, 472) durch beabsichtigten tödlichen Ausgang hoch umstritten war und immer wieder verboten wurde, wird in der Fiktion ins Gegenteil verkehrt. Der historisch weit fortgeschrittene Ersatz ritterlicher, in Vasallität eingebundener Einzelkämpfer durch bezahlte Landsknechtsverbände findet ein durchaus zwiespältiges Gegenbild, da Tirant sich de facto als Söldner betätigt und auch solche befehligt, selber aber eine Bezahlung stets zurückweist und sich auf seine Ritterehre beruft, was aber nicht hindert, dass er als reicher Mann stirbt. Die genauere Beschreibung all dieser Verhältnisse würde Rückwirkungen auf weitergehende, literatursoziologische und ideologiekritische Interpretationen des Werks haben. 3. Zur Genderforschung: Noch in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nahm man an, auch moderne Leser würden schockiert sein von der Freizügigkeit der „very frank accounts of physical love-making“ (Pierce, 298), und manche bisherige Studie leidet arg unter den geschlechterstereotypen Vorstellungen des Interpreten (z.B. noch Beltrán 1995). Die bisherige Diagnose lautet etwas pauschal, Martorell habe die Lebenswirklichkeit und die Ideologie der valencianischen Herrenhäuser seiner Zeit nach Konstantinopel projiziert (Riquer 1990, 235). Offen bleiben die meisten Fragen, die sich aus der Tatsache herleiten, dass die imaginierte Männlichkeit (repräsentiert durch den idealisierten Ritter) von vielgestaltigen anderen Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfen umgeben ist. Von den galanten Diskursen bis zu den Konkretionen des Sinnlichen bietet sich einer hinreichend differenzierten Genderforschung also reiches Material für Einsichten in die Imagination von Geschlechterbeziehungen. Wie steht es in diesem Werk um die diskursive Konstruktion des Männlichen und des Weiblichen; welches Bild ergäbe sich, wenn einmal nicht der Held, sondern die Figur Carmesina und die umgebenden Frauenfiguren in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt würden? 4. Zur Gewaltforschung: Tirant lernt, alle Formen der Gewalt erfolgreich zum Wohle und zur Rettung des Reiches einzusetzen und demonstriert deren Wirksamkeit in denkbar vielen Situationen. Anders gesagt, er verdankt seine Existenz der Wunschphantasie, die Regeln und Praktiken des Rittertums zur Ausübung von Gewalt seien das geeignete Instrumentarium, um weltgeschichtlich erfolgreich handeln zu können. Diese Phantasie mag in ihrer Zeit „objektiv“ einem retrograden Bewusstsein entspringen, in ihrer immanenten Logik setzt sie aber gerade weil sie historisch in der Defensive ist, alle Formen und Umstände der Gewaltanwendung ins Werk. Sie will Vertrauen in den Ritter als idealen Gewaltagenten schaffen. Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung verfügt heute über eine Phänomenologie der Gewalt und beschreibt die besondere Gewaltkonstellation der Moderne (vgl. Reemtsma). Daraus ergeben sich für ein Werk wie das Buch Tirant lo Blanc drei Perspektiven: Zum einen ließe sich mit Kriterien dieser Phänomenologie das Handeln des ritterlichen Gewaltagenten wohl Thomas M. Scheerer 30 präziser als bisher beschreiben. Zum Zweiten kann man an diesem Beispiel - einem aspektreichen, ostentativen, „prächtigen“ Beispiel vormoderne Imagination von Gewaltverhältnissen in ihrer Differenz zur Moderne und möglicherweise als Etappe in der Genese des modernen Gewaltmonopols verstehen lernen. Und schließlich wäre eine solche Untersuchung auch eine Validitätsprobe sowohl auf die Phänomenologie der Gewalt als auch auf die Analyse von Gewalt und Moderne. Und was nun, nach all den Ambivalenzen, Transgressionen, Spezialitäten und Perspektiven? Die alte Rhetorik lehrt die Überzeugungskraft von Autoritätenzitaten und sie rät, dass man seine Rede mit einem pathetischen Appell an das Publikum beenden kann. Ich berufe mich also auf die mindestens für Hispanisten höchste Autorität, Miguel de Cervantes, und wiederhole dessen seit über vierhundert Jahren gültigen Aufruf: Nehmt das Buch mit nach Hause und lest es, und Ihr werdet sehen, dass alles wahr ist, was ich Euch gesagt habe! Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Cervantes, Miguel de: El Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha . Edición de John Jay Allen. 2 vols. Madrid, 1985. Martorell, Joanot (Martí Joan de Galba): Tirant lo Blanc . Edició coordinada per Albert Hauf, València, 2005 (Bd. 1: Text original, València, 1490, edició i notes Albert Hauf; Bd. 2: Tirante el Blanco, traducció castellana, Valladolid, 1511, edició i notes Vicent Escartí; CD-Rom: Concordances, concordancias). Mit Kapitel (cap.) und Seitenzahl zitierte Ausgabe. Martorell, Joanot: Der Roman vom Weißen Ritter Tirant lo Blanc . Aus der altkatalanischen Sprache des Königreichs Valencia erstmals ins Deutsche übers. von Fritz Vogelgsang. 3 Bde. Frankfurt a.M., 2007. Zit. „dt.“. De Riquer, Martí (Hg.): Tirant lo Blanc i altres escrits de Joanot Martorell . Barcelona, 1979. Reprint 1982. Zit. Riquer 1982. Bibliographien: Pujol 2002, 215-237. <http: / / luisvives.com/ bib_obra/ tirant> <http: / / parnaseo.uv.es/ tirant> Martorell, Ed. Hauf, 2005, Bd.1, 1549-1603. Dort findet man auch weitere bibliographische Internetquellen. Forschungsliteratur: Alemany Ferrer, Rafael: „En torno al desenlace del Tirant lo Blanc.“ In: Paredes/ Nogueras 1995. 11-26. Joanot Martorell Tirant lo Blanc (1490) 31 Algazi, Gadi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter . Frankfurt a.M., 1996. Alpera, Luís: „La concepció de l’amor al Tirant lo Blanc.“ In: Estudis de literatura catalana al país valencià. Alicante, 1987. 25-36. Auerbach, Erich: Mimesis. 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Als geübtem Kompositeur von Städtepanoramen kam ihm gewiss auch der Perspektiveffekt der London Bridge zupass, die knapp rechts von seinem Beobachtungspunkt die Themse querte. Dass der Turm von St. Mary’s nach Westen hin auch einen hervorragenden Blick auf zwei nahegelegene Rundbauten bot, war für seine Wahl mit ziemlicher Sicherheit belanglos. Doch gerade diesen beiden eigentümlichen Gebäuden, insbesondere dem linken, mit „Beere bayting h“ beschrifteten, verdankt Hollars sogenannter „Long View“ seine Berühmtheit. Abb. 1 1 „At a time near the beginning of the English Civil War“: C. Walter Hodges, Shakespeare’s Second Globe. The Missing Monument. OUP, 1973, 11. Andreas Höfele 36 Sie sind es, die den Blick der Nachwelt mehr als alles andere auf sich gezogen haben. Als ich vor Jahren Gelegenheit hatte, Hollars aus sieben Einzelblättern zusammengesetztes Gesamtpanorama in der British Library zu besichtigen, konnte ich feststellen, dass diese selektive Aufmerksamkeit ihre Spuren hinterlassen hatte: Das Blatt mit dem „Beere bayting h“ (bear-baiting house) war deutlich stärker verblasst als die sechs übrigen Segmente. Diese Aufmerksamkeit hat freilich so gut wie gar nichts mit dem bear-baiting , der Bärenhatz als solcher, zu tun, einer weiland sehr beliebten Volksbelustigung, bei der man für Geld zuschauen konnte, wie ein an einen Pfahl geketteter Bär sich gegen eigens dafür abgerichtete Kampfhunde zur Wehr setzte. Nein, auf die Bärenhatz kann die Nachwelt wohl verzichten, aber von Shakespeare mag sie nicht lassen. Ihm gilt ihr verzehrender Blick aufs geduldige Papier. Warum aber dann das linke und nicht das rechte Gebäude, an dem doch klar und deutlich „The Globe“ steht? Weil dem Zeichner ein Fehler unterlief, der nicht minder berühmt ist als die Stadtansicht selbst, so berühmt, dass Laurence Olivier ihn in der Anfangssequenz seiner Verfilmung von Shakespeares Heinrich V (1944) mit einem ironischen Kameraschwenk zitiert. Hollar vertauschte die Etiketten: Tatsächlich handelt es sich beim „Beere bayting h“ um das Globe Theatre , genauer: um das nach dem Brand von 1613 neuerrichtete Second Globe , und bei dem, was im Bild als Globe Theatre bezeichnet ist, um den Beargarden. Als Bürgerkriegsflüchtling vollendete Hollar sein Londonpanorama erst 1647. Da lebte er schon mehrere Jahre in Antwerpen und hatte ganz offenbar vergessen, in welchem der beiden Schauspielhäuser Menschen und in welchem Tiere auftraten. Ein verständlicher Irrtum, denn sehen sich die beiden Theater nicht zum Verwechseln ähnlich? 1576 errichtete James Burbage in London das erste feste Theater, The Theatre , am Nordrand der Stadt. 2 Dieses wurde abgerissen, als die Lord Chamberlain’s Men , die Truppe, der ab spätestens Mitte der neunziger Jahre auch Shakespeare angehörte, 1599 ans Südufer der Themse umzog. Und etwa (aber nicht genau) dort, wo heute der Nachbau steht, wurde aus den Balken und Brettern des Theatre das erste Globe erbaut. Wenn man sich fragt, woher Burbage und seine Kompagnons im neu entstehenden Londoner Schaugeschäft die Idee für ihr im europäischen Vergleich ja doch recht einzigartiges Theatergebäude hatten (allenfalls in Spanien gibt es gewisse Parallelen), wie es dazu kommen konnte, dass 1576 ein Gebäudetyp mit einem Mal da war, der dann bis zur Schließung der Theater durch die Puritaner im Jahre 1642 praktisch unverändert fortbestand, so gibt es darauf eine ganze Reihe durchaus unterschiedlicher Antworten, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen möchte. Eines aber kann man sagen: Wer sich auf Londoner Stadtansichten des 16. Jahrhunderts auf die Suche nach einem Vorläufer des elisabethanischen Theaterbaus vor 1576 begibt - primitiver zwar, aber eindeutig als Theater zu identifizieren - macht 2 The Theatre war zwar nicht das allererste, wohl aber das erste bedeutende und mit beträchtlichem baulichen Aufwand errichtete. Ihm voraus ging 1567 The Red Lion , „the first structure now known to have been built as a regular professional theatre in the British Isles since Roman times.“ G. Wickham, H. Berry, W. Ingram (Hgg.), English Professional Theatre, 1530-1660 . Cambridge, 2000, 290. Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 37 eine bemerkenswerte Entdeckung. Geht man etwa von Nordens Speculum Britanniae (1593) auf eine London-Ansicht zurück, die 1572 in Köln veröffentlicht wurde, so findet man anstelle eines Ur- Globe zwei Tierhatzarenen, eigenartige runde Baulichkeiten, die nichts anderem im Bild ähnlich sehen, wohl aber ihren aufwendigeren Abkömmlingen, den Tierhatzarenen der 1590er Jahre - und eben den Theatern. Abb. 2 Doppelt sehen Mit der architektonischen Familienähnlichkeit ist es aber nicht getan, die Wechselbeziehung zwischen Shakespeares Theater und dem Schauspiel der Tierhatzen reicht sehr viel weiter. Für unser heutiges Verständnis ist eine derartige Wechselbeziehung schlechterdings abwegig. So wild sich das moderne Regietheater gelegentlich auch gebären mag, selbst noch der radikalste Bürgerschreck bleibt eingebunden in die fundamentalbürgerliche Bildungsinstitution Theater, die seit dem 18. Jahrhundert insbesondere in Deutschland geradezu als Rückgrat der Kulturnation etabliert ist. Nichts könnte dieser von Gottsched, Lessing, Schiller mit nahezu heiligem Bildungsauftrag ausgestatteten Institution entgegengesetzter sein als ein Spektakel, bei dem, wie ein zeitgenössischer Beobachter genüsslich zu Protokoll gab, es ein Vergnügen war dabei zuzusehen, wie der von Hunden gebissene Bär sich Blut und Rotz vom Maul schüttelte. 3 Wäre es denkbar, dass Dieter Dorn neben der Intendanz des Münchner Residenztheaters auch noch ein Etablissement unterhielte, wo vor dankbarem Abonnentenpublikum Bären und Hunde einander verstümmelten, oftmals töteten, und wo zum Abschluss der Vorstellung auch noch die Zuschauer selber Gelegenheit bekämen, gegen ein Entgelt mit Peitschen auf einen angeketteten blin- 3 „[...]to see the bear with his pink nyez [=eyes] leering after hiz enmiez approch, the nimblness and wayt of the dog to take hiz avauntage, and the fors and experiens of the bear again to avoid the assauts. If he wear bitten in one place, hoow he woold pynch in an oother to get free: that if he wear taken onez, then what shyft, with byting, with clawying, with roring, tossing and tumbling, he woold work too wynd himself from them: and when he waz lose, to shake his ears twyse or thryse with the blud and the slaver about his fiznamy, was a matter of goodly relief.“ Robert Laneham, in: John Nichols (Hg.), The Progresses and Public Processions of Queen Elizabeth. London: J. Nichols and Son (Printers to the Society of Antiquarians), 1823, vol. I, 439f. Andreas Höfele 38 den Bären einzudreschen? Wohl nicht. In Shakespeares London aber war dergleichen nicht nur denkbar, sondern alltägliche Praxis. Neuere Forschung macht es zumindest wahrscheinlich, dass bereits das 1587 errichtete Rose Theatre von dem Theaterunternehmer Philip Henslowe als Mehrzweckbau betrieben wurde: sowohl für Sprechtheater wie auch für bear-baiting . 4 Ganz genau wissen wir dies von dem 1613 an der Stelle des vormaligen Bear Garden erbauten Hope Theatre , welches montags, mittwochs, freitags und samstags als Menschenbühne diente. „And for the Baiting of the Beares on Tuesdayes and Thursdayes, the Stage being made to take vp and downe when they please.“ 5 Bereits 1594 hatte Henslowes Schwiegersohn, der berühmte Schauspieler Edward Alleyn, der unter anderem die Titelrolle in der Uraufführung von Marlowes Faustus spielte, den Bear Garden gekauft, und von 1604 bis 1616 hatten Alleyn und Henslowe gemeinsam das von der Krone verliehene (genauer: käuflich zu erwerbende) Amt des „Master and Keeper of Bears, Bulls and Mastiff Dogs“ inne, eine besonders lukrative Lizenz. Während der gesamten Blütezeit des elisabethanisch-jakobäischen Theaters, also der Zeit, die man traditionell gerne die Shakespeare-Zeit nennt, vom Ende der 1580er Jahre bis zu Alleyns Tod 1626, waren Theater und Tierhatz Zweige ein und desselben Unternehmens. Hollars berühmter Fauxpas verewigt diese Partnerschaft, die wir nicht nur architektonisch und betriebswirtschaftlich zu fassen bekommen, sondern die sich auch darin äußert, dass die streng protestantischen Puritaner in ihren Angriffen gegen den eitlen Zeitvertreib der Schauspiele genauso auch gegen die Tierhatzen anpredigten. Als beim Einsturz der baufälligen alten Hatzarena in Paris Garden 1583 fünf Menschen ums Leben kamen und viele verletzt wurden, nahm der Prediger John Field, „the Lenin of Puritanism“, wie ein Historiker ihn genannt hat, die Gelegenheit wahr, gegen beide Formen der Unterhaltung zu wettern: „That cruell and lothsome exercise of bayting Beares“ wie auch „these Heathenishe Enterludes and Playes “. For surely it is to be feared, […] by frequenting the Theater , the Curtin and such like, that one day those places will likewise be cast downe by God himselfe, & being drawen with them a huge heape of such contempners and prophane persons vtterly to be killed and spoyled in their bodyes. 6 Tatsächlich teilten sich Hamlet und die Bären ein Publikum, und manchem ausländischen Touristen, der von den Sehenswürdigkeiten Londons berichtet, fällt zwischen den beiden Sorten von Theater gar kein Unterschied auf: „Theatra comoedo- 4 „[The] key evidence,“ schreibt Andrew Gurr, „is the indication that the first stage was tacked on asymmetrically […] Its irregular positioning in the otherwise carefully surveyed groundplan suggests that it must have been built as a temporary structure.“ 5 John Stow, The Annales of England. Zit. in: Christoph Daigl, „All the world is but a bearbaiting“: Das englische Hetztheater im 16. und 17. Jahrhundert , Berlin, 1997, 76. Der Baukontrakt zwischen Henslowe und dem Zimmerer Gilbert Katherens spricht von einem „Plaiehouse fitt & conveniest in all thinges, bothe for players to playe in, and for the game of Beares and Bulls to be bayted in the same.“ 6 E. K. Chambers, The Elizabethan Stage. Vol. IV, Oxford 1923, 221. Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 39 rum“, schreibt der Deutsche Justus Zinzerling um 1610, „in denen Bären und Bullen mit Hunden kämpfen.“ 7 Aus alledem ergibt sich eine sehr tiefgreifende Kollusion 8 (im Wortsinn des Zusammenspielens) zwischen dem Theater und den Bärenhatzen. Die Wahrnehmung des einen vollzieht sich in einem perzeptiven Rahmen, der das andere jeweils mit einschließt. Aus der Familienähnlichkeit der beiden Formen öffentlicher Schaudarbietung, ihrer institutionellen, kultursoziologischen Nähe ergeben sich Interferenzen und Überblendungen, wie sie in Zeiten ohne eine so direkte Nachbarschaft von Theater und öffentlichen Blutritualen nicht auftreten. Eines der frappierendsten Zeugnisse solcher Kollusion verdanken wir dem Dramatiker Thomas Dekker. Hier seine Eindrücke vom Besuch einer Nachmittagsvorstellung im Bear Garden : No sooner was I entred [the Bear Garden] but the very noise of the place put me in mind of Hel : the beare (dragd to the stake) shewed like a black rugged soule, that was Damned and newly committed to the infernall Charle , the Dogges like so many Diuels , inflicting torments vpon it. But when I called to mind, that al their tugging together was but to make sport to the beholders, I held a better and not so damnable an opinion of their beastly doings: for the Beares, or the Buls fighting with the dogs, was a liuely represe[n]tation (me thought) of poore men going to law with the rich and mightie. At length a blinde Beare was tyed to the stake, and in stead of baiting him with dogges, a company of creatures that had the shapes of men, & faces of Christians (being either Colliers, Carters, or watermen) tooke the office of Beadles vpon them, and whipt monsieur Hunkes , till the blood ran downe his old shoulders: It was some sport to see Innocence triumph ouer Tyrrany, by beholding those vnnecessary tormentors go away w[ith] scratchd hands, or torne legs from a poore Beast, arm’d onely by nature to defend himself against Violence : yet me thought this whipping of the blinde Beare , moued as much pittie in my breast towards him, as y[e] leading of poore starued wretches to the whipping posts in London (when they had more neede to be releeued with foode) ought to moue the hearts of Citizens, though it be fashion now to laugh at the punishment. 9 7 William Brenchley Rye (Hg.), England as Seen by Foreigners in the Days of Elizabeth and James the First. London 1865, 133. 8 Den Begriff ‚Kollusion‘ hat Klaus Lazarowicz in die Theaterwissenschaft eingeführt. Siehe K.L., „Triadische Kollusion: Über die Beziehung zwischen Autor, Schauspieler und Zuschauer im Theater,“ In: Das Theater und sein Publikum . Hg. Institut für Publikumsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1977, 56-60. 9 Thomas Dekker, „Worke for Armorours,“ In: The Non-Dramatic Works , vol. 4, 97-99: „Schon der Lärm [der Bärengrube] ließ mich sogleich an die Hölle denken: der Bär (der zum Pfahl geschleift wurde) wollte mir erscheinen wie eine schwarze, struppige Seele, die gerade verdammt und dem Fürsten der Hölle überstellt war; die Hunde wie ein Schwarm von Teufeln, die ihn quälten. Als mir jedoch klar wurde, dass ihr Zerren und Reißen nur der Unterhaltung der Zuschauer diente, formte ich mir eine bessere und weniger hassenswerte Meinung über sie: denn die Bären oder auch Stiere, die mit den Hunden rangen, wurden mir zu einem anschaulichen Bild für das gemeine Volk, wenn es sich sein Recht gegenüber den Reichen und Mächtigen zu erstreiten sucht. Schließlich wurde ein blinder Bär an den Pfahl gebunden, doch statt ihn mit Hunden zu peinigen, übernahm eine Bande von Kreaturen, die menschliche Gestalt und das Antlitz von Chris- Andreas Höfele 40 Der erste Eindruck - das Tiertheater die Hölle, der Bär die verdammte Seele, die attackierenden Hunde eine Horde von Teufeln - stellt sich als überwältigend dar. Sehr präzise registriert der Text, wie der Betrachter sich von seinem ersten Schock erst erholen muss, um zu reflektierender Distanznahme befähigt zu sein; um das, was sich vor seinen Augen abspielt als „lebhafte Repräsentation“ rezipieren zu können, ein sozialkritisches Justizdrama, welches den ungleichen Kampf armer Schlucker mit den Reichen und Mächtigen darstellt. Hier, bei diesem zweiten Rezeptionsschritt, funktioniert das Tier als Menschendarsteller ganz ähnlich wie seit der Antike in der Tierfabel. Doch bereits die nächste Szene der Darbietung, das Auspeitschen des blinden Bären, stößt die konventionelle Ordnung dieses Verweisungszusammenhanges um. Sobald jene ‚Bande von Kreaturen‘ („company of creatures“) auftritt, der der Text die eindeutige Zuordnung zur Kategorie ‚Mensch‘ verweigert, werden die Humanattribute nicht mehr nur metaphorisch dem gequälten Tier zuerkannt. Die Folterer bleiben als bloße „shapes of men“, „faces of christians“ in einer dubiosen Anonymität und kategorialen Unbestimmbarkeit; sie werden kollektiv, generisch, d.h. quasi naturkundlich erfasst. Der Bär hingegen trägt einen menschlichen Eigennamen, genauer: Nachnamen, „monsieur Hunkes“, der ihn als Individuum ausweist. Das Blut, das ihm über die ‚alten Schultern‘ herabläuft, macht ihn zur Leidensgestalt vom Pathos eines König Lear oder Grafen von Gloster. Und der Bedeutungstransfer ist reziprok. Zwar befand sich in der Mitte des „hölzernen O“, wie Shakespeare sein Theater im Prolog zu Heinrich V nennt, kein Marterpfahl, doch konnte er jederzeit virtuell ins Spiel gebracht werden: Etwa in der allergrausamsten Szene in King Lear (und wohl bei Shakespeare überhaupt), in der sich Gloster, kurz bevor er geblendet wird, mit dem Los des gequälten Bären in der Hatzarena abfindet: „I am tied to th’ stake“, ruft er aus, als Goneril, Regan und deren Mann Cornwall sich auf ihn stürzen, „and I must stand the course“ (3.7.53). Menschen- und Tiertheater spiegeln sich ineinander, die Interferenz der beiden Arten der Zurschaustellung bedingt eine Interferenz der zur Schau gestellten Arten. Rituale der Bestrafung Es sind fast die gleichen Worte, mit denen Macbeth im letzten Akt seine Lage beschreibt. In seiner Burg eingekesselt, von Feinden umringt, ruft er aus: They have tied me to a stake; I cannot fly, ten hatten (es waren Bergleute, Kutscher oder Fährleute), das Amt von Bütteln und peitschten Monsieur Hunkes , bis das Blut ihm von seinen alten Schultern herabrann. Es war mir ein Spaß zu sehen, wie Unschuld über Tyrannei triumphierte, da ich gewahr wurde, wie diesen unnützen Folterknechten die Hände zerkratzt und die Beine ausgerenkt wurden von einem Tier, das nur über seine natürliche Verteidigung gegen Gewalt verfügt. Doch dünkte mir, dass dies Auspeitschen des blinden Bären mich ebenso mit Mitleid erfüllte wie das Los der armen Hungerleider an den Schandpfählen in London, die doch viel eher mit Nahrung versorgt werden und die Herzen der Bürger bewegen sollten, obwohl es heute in Mode ist, über ihre Bestrafung zu spotten.“ Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 41 But bear-like I must fight the course. (5.7.1-2) 10 Der Wortlaut nahezu gleich, die moralischen Vorzeichen umgekehrt: Gloster, das wehrlose, gequälte Opfer, Macbeth das in die Enge getriebene, noch immer - und gerade jetzt, im Untergang - gefährliche Raubtier, der Verbrecher, die Bestie. Shakespeares ‚wooden O‘ ist einmal treffend bezeichnet worden als „the charmed circle in which an audience enshrines or entraps the player“ 11 - der magische Kreis, in dem das Publikum den Schauspieler wie in einem Schrein verehrt oder wie in einer Falle umzingelt. Diese ambivalente Umklammerung gleicht einerseits der privilegierten Sichtbarkeit 12 des frühneuzeitlichen Souveräns, andererseits aber auch der Zurschaustellung des Delinquenten in den öffentlichen Strafritualen der Epoche, dem Pranger, dem Auspeitschen, der öffentlichen Folter und Exekution. Bühne und Schafott sind Blutsverwandte, wie Königin Elisabeths Nachfolger Jakob selbst durch eine verräterische Wortänderung in seiner bekanntesten Schrift durchblicken lässt: „It is a trew old saying,“ schreibt der König, „That a King is as one set on a stage, whose smallest actions and gestures, all the people gazingly doe behold.“ 13 In der Erstausgabe heißt es statt „stage“ „skaffold“, und das kann beides bedeuten: Schaugerüst wie Blutgerüst, Bühne wie Schafott. Zusammen mit Bärenhatz und öffentlich zur Schau gestelltem Strafvollzug partizipiert das Theater an einer „continuing public tradition of retributive entertainment” einer Art von ‚sport‘ „that, by ‚show-casing‘ the guilty, function[ed] as a method of ‚policing‘ or social control.“ 14 Der eingekreiste Macbeth befindet sich in ebendieser Position, was durch die Tiersemantik des bear-baiting noch unterstrichen wird. Bestrafung, Vergeltung „retributive entertainment“ erwartet das Publikum im letzten Akt des Dramas, und ebendies bekommt es geboten, wenn Macduff dem neuen Herrscher Malcolm am Ende des Stücks den abgeschlagenen Kopf des getöteten Macbeth präsentiert: MACDUFF Hail King, for so thou art. Behold where stands Th’usurper’s cursed head [...] (5.7.84f.) Aufgespießt wird das Haupt des Königsmörders genau so, wie es mit den Köpfen der hingerichteten Hochverräter geschah, die die Zuschauer auf ihrem Weg von der 10 Zitiert nach William Shakespeare, Macbeth. Hg. A.R. Braunmuller, Cambridge 1997. 11 Meredith Anne Skura, Shakespeare the Actor and the Purposes of Playing. Chicago 1993, 8. 12 Ein Schlüsselbegriff zur Beschreibung frühneuzeitlicher Herrschaft, eingeführt von Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations . Oxford 1988, 64. 13 The Political Works of James I. Ed. with an introduction by Charles Howard McIlwain, Cambridge, Mass. 1918, 43. 14 Retributive Unterhaltung: Zusehen, wie Vergeltung geübt wird, Zurschaustellung des Strafakts am Körper des Delinquenten. Terence Hawkes, „Harry Hunks, Superstar.“ In: T.H., Shakespeare in the Present . London 2002, 90; Hawkes beruft sich auf Meredith Anne Skura (Anmerkung 11 ). Andreas Höfele 42 Londoner City ins Theater an der südlichen Auffahrt der London Bridge zu sehen bekamen. In der Semantik einer Raumordnung, in der die Menschenbühne Shakespeares flankiert wird von Schafott und Bärenhatzarena, gibt es auch die vertikale Achse. Einem Theatergebäude, dessen obere Region als „the heavens“ geläufig war und aus dessen Bühnenboden durch Falltüren Dämonen und Geister, wenn nicht gar, wie bei Marlowe, der Teufel persönlich emporsteigen konnte, ist die Kontur einer Moraltopographie eingeschrieben und die Bestie dort verortet, wo sie in christlicher Weltordnung beheimatet ist; dort, wo auch der (christliche) Humanismus sie ansiedelt: Giordano Bruno etwa, der in seinem 1584 in London geschriebenen Dialog Spaccio de la bestia trionfante die triumphierende Bestie als „die Laster“ definiert, „welche in uns vorherrschen und unser göttliches Teil unter ihren Füßen zertreten“ 15 ; oder auch Pico della Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen, wo Gottvater den neuen Adam der Renaissance vor die Wahl stellt, „in die Unterwelt des Viehes zu entarten“ oder „in die höhere Welt des Geistes [sich] zu erheben.“ 16 Für Macduff kann kein Zweifel daran bestehen, welche Wahl Macbeth getroffen hat: „Turn, hellhound, turn“ (5.8.3) sind die Worte, mit denen er ihn zum letzten Kampf fordert. Er, Macduff, wird damit zum Kronzeugen all jener christlich-humanistischen Lesarten, die das Stück nach einem Moralitätenschema der Störung und Wiederherstellung kosmischer Ordnung ablaufen lassen. Demnach überschritte Macbeth durch seinen Pakt mit dem Bösen die Grenze, die den Menschen vom Tier trennt. Der Ungeheuerlichkeit seines Frevels entspräche die Absolutheit dieser Grenze. Als Höllenhund wird er zur Kreatur einer theologischen Zoologie, gespeist aus den Tiervisionen der Offenbarung Johannes (Kap. 12, 13, 17, 19) und des Buches Daniel (Kap. 7 und 8). Die Relevanz dieses Bezugshorizontes wird man kaum leugnen wollen; als Generalschlüssel zu Shakespeares Stück taugt er dennoch nicht, da er dessen spezifisch neuzeitliche Dimension ausblendet. Nun gilt es in einschlägigen kulturgeschichtlichen Darstellungen als ausgemacht, dass sich die von der christlichen Theologie von Anfang an sehr entschieden betriebene Trennung von Mensch und Tier im Denken des Humanismus eher noch verschärft habe. Jene Permeabilität der Grenze zwischen den Arten, wie sie sich in den theriomorphen Gottheiten und den Verwandlungsmythen des klassischen wie auch des germanischen Altertums zeigt, wird bereits von Augustinus im Gottesstaat kategorisch verworfen. 17 Die Renaissance lässt diese Grundsatzentscheidung unrevidiert, greift also in dieser Hinsicht nicht auf das Arsenal ihrer griechisch-römischen Vorbilder zurück - nicht jedenfalls, so die verbreitete Annahme, was die Konstitution 15 Giordano Bruno, „Die Vertreibung der triumphierenden Bestie,“ in: Ders., Gesammelte Werke. Ludwig Kuhlenbeck (Übers. und Hg.), Bd. 2, Leipzig 1904, 26. 16 Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen . Aus dem Neulat. übertragen von Herbert Werner Rüssel, Zürich 1988, 11. 17 Aurelius Augustinus, De Civitate Dei . xviii, 18, 783. „Ich denke nicht, daß Dämonen Seele oder Leib eines Menschen in tierische Glieder oder tierische Wesenszüge umformen können.“ (Ders., Der Gottesstaat . Dt. von Carl Johann Perl, Salzburg 1953, 178.) Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 43 des humanistischen Menschenbildes betrifft. Vielmehr habe der anthropozentrische Blick der Humanisten das im mittelalterlichen Denken gelegentlich geäußerte Bewusstsein der gemeinsamen Kreatürlichkeit von Mensch und Tier zugunsten einer noch stärkeren Betonung der Einzigartigkeit des Menschen verdrängt. Keith Thomas in seiner bekannten Studie Man and the Natural World spricht von einer anthropozentrischen Arroganz der Humanisten. 18 Und ein kürzlich erschienener Überblick über Mensch und Tier in der Geschichte Europas erklärt bündig: „Das genuin Menschliche erlebte man in der Überwindung des Animalischen durch das Geistige.“ 19 Dazu wird erläuternd eine, allerdings schon reichlich betagte, Äußerung des Aachener Historikers Albert Mirgeler zitiert: Die Absetzung des Menschen vom Tier wurzelt also letztlich in dieser Transzendenz der auch für den Menschen gegebenen animalischen Basis. Der spätere abendländische Humanismus rekurrierte ausdrücklich auf dieses ‚Mehr‘, insofern die römischen studia humanitatis bei ihm im Komparativ als studia humaniora erschienen. In diesem Hinweis auf die im menschlichen Existenzbereich angelegte Möglichkeit eines ‚Mehr‘ scheint die eigentliche Berechtigung des Humanismus seit der Renaissance zu wurzeln. 20 Mit der entschiedenen Abgrenzung des Menschen gegen das Tier ist aber nur die Schauseite humanistischer Anthropologie benannt. Ihre Kehrseite ist die auf das Tier fixierte Degenerationsangst 21 , die sich in dem Maße verschärft, in dem das Humane über das Animalische erhoben wird. Im Theater Shakespeares und seiner Zeitgenossen findet diese gegenläufige Dynamik ihren exemplarischen Austragungsort. Dabei zeigt sich das in der zitierten Äußerung postulierte ‚Mehr‘, die positive Distinktion des Menschen, als unbeständige, beinah chimärenhaft flüchtige Essenz, deren Erprobung im dramatischen Experiment einer Liquidierung zumindest nahekommt. Übergänge und Überschreitungen Zurück zu Macbeth: FIRST WITCH. When shall we three meet again? In thunder, lightning, or in rain? SECOND WITCH. When the hurlyburly’s done, When the battle’s lost and won. THIRD WITCH. That will be ere the set of sun. (1.1.1-5) Schon mit dem Beginn des Stückes, dem Auftritt der Hexen - und nicht erst mit der Bestialisierung des Protagonisten im 5. Akt - öffnet sich die Grenze zwischen 18 Keith Thomas, Man and the Natural World: Changing Attitudes in England 1500-1800. London 1983, 166. 19 Heinz Meyer, „VI Frühe Neuzeit,“ in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas . Stuttgart 2000, 381. 20 Albert Mirgeler, Geschichte und Gegenwart . Freiburg i.Br. 1965, 35. 21 Hierzu Erica Fudge, Brutal Reasoning. Ithaca 2006, Kap. 3: „Becoming Animal,“ 59-83. Andreas Höfele 44 Mensch und Tier. Weit mehr als bloß atmosphärische Einstimmung, grundiert der Singsang der drei Weird Sisters das gesamte Stück mit einer paradoxen Logik der aufgehobenen Gegensätze. In der Indifferenz der verlorenen und gewonnenen Schlacht deutet sie sich an; mit der vorletzten Zeile der Szene wird sie zum Axiom: „Fair is foul, and foul is fair“ lautet der erste Lehrsatz einer allen Ordnungen des Denkens und moralischen Handelns zuwiderlaufenden Hexenlogik. Eher unauffällig gerät dabei auch die auf eine binäre Opposition von Mensch und Tier gegründete Artenordnung ins Fließen. FIRST WITCH. Where the place? SECOND WITCH. Upon the heath. TIRD WITCH. There to meet with Macbeth. FIRST WITCH. I come, Graymalkin. SECOND WITCH. Paddock calls. THIRD WITCH. Anon. (1.1.6-11) Drei Namen fallen, in stichomythischer Sequenz dicht aneinandergereiht: Macbeth, Graymalkin, Paddock. Der erste ein Mensch, die anderen beiden Tiere, die durch Personifikation zu Dialogpartnern werden: „I come, Graymalkin! “ ruft die erste Hexe; „Paddock calls“ die zweite. Graymalkin, die graue Katze, und Paddock, die Kröte, sind typische familiars , tierische Begleiter und Helfer von Hexen. So wie die drei „Weird Sisters“ später, bei ihrer Begegnung mit Macbeth und Banquo, als Wesen von unklarer Geschlechtsidentität erscheinen, und damit bereits das „unsex me here“, die Lossagung der Lady Macbeth von ihrer Weiblichkeit vorwegnehmen, setzen sie hier, in der 1. Szene, schon die Vertierung Macbeths in Gang. Für das distinktive ‚Oder‘ ist zwischen ihm einerseits und Graymalkin und Paddock andererseits kein Platz. Die Dreierreihung suggeriert vielmehr ein indifferentkatalogisierendes ‚Und‘. Macbeth wird als familiar von den Hexen vereinnahmt, und seine ersten Worte im Stück bestätigen dies: „So fair and foul a day I have not seen.“ Er wiederholt nur, was die Hexen ihm vorgesprochen haben. Das Überspringen der Artengrenze setzt sich fort, als Lady Macbeth König Duncans bevorstehende Ankunft im Schloss ankündigt - es wird gewissermaßen weitergereicht von den Hexen über Macbeth an dessen Frau: The raven himself is hoarse, That croaks the fatal entrance of Duncan Under my battlements. (1.5.36-38) Die Ankömmlinge selbst dagegen, Duncan und Banquo, bekunden ihre Ahnungslosigkeit durch ihr Vertrauen auf die Zeichensprache einer benevolent, dem Menschen dienstbaren, nicht bedrohlich auf ihn übergreifenden Tierwelt in Gestalt des Hausschwälbchens, des „temple-haunting martlet“: This guest of summer, The temple-haunting martlet, dies approve By his loved mansionry that the heaven’s breath Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 45 Smells wooingly here. [...] Where they most breed and haunt, I have observed The air is delicate. (1.6.2-10) Macbeth wiederum gibt seine fortschreitende Isolation und Entfremdung von menschlicher Artgenossenschaft im Dialog mit den Mördern zu erkennen, denen er die Beseitigung Banquos aufträgt. Dem Einspruch des ersten Mörders, „We are men, my liege.“ begegnet er mit Verachtung nicht allein für sein Gegenüber, sondern für die Wertkategorie man , Mensch, selbst, auf die der Mörder sich beruft: Ay, in the catalogue ye go for men, As hounds, and greyhounds, mongrels, spaniels, curs, Shoughs, water-rugs, and demi-wolves are clept All by the name of dogs. The valued file Distinguishes the swift, the slow, the subtle, The housekeeper, the hunter, every one According to the gift which bounteous nature Hath in him closed, whereby he does receive Particular addition from the bill That writes them all alike. And so of men. (3.1.91-100) Die rhetorische Vehemenz dieser unvermittelt einsetzenden und kumulativ sich steigernden Litanei kontrastiert auffallend zu ihrem abrupt antiklimaktischen Ende, „And so of men“. So genau die Unterscheidung der verschiedenen Hunderassen und -eigenschaften ausfällt, so unerheblich wird die Fundamentalunterscheidung zwischen Hund und Mensch. Macbeth ist im Stadium einer nun bereits Routine gewordenen Indifferenz dem Humanen gegenüber angelangt. What beast? Dreh- und Angelpunkt der Verhandlungen über das Verhältnis von Mensch und Tier aber ist die Szene, die zugleich auch den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Stückes bildet, insofern sie, im Dialog zwischen Macbeth und Lady Macbeth, den allesentscheidenden Entschluss zum Mord an König Duncan zeitigt. Der Entschluss ratifiziert das Ergebnis der vorangegangenen Debatte über die Natur des Menschen. Die Debatte selbst ist auf wenige Zeilen komprimiert. Sie wird eingeleitet durch Lady Macbeths höhnische Vorhaltung, Macbeth verhalte sich feige, so wie die sprichwörtliche Katze - „Like the poor cat i’the’ adage“ (1.7.45), die den Fisch gern fressen würde, sich aber die Pfoten nicht nassmachen mag. Worauf Macbeth entgegnet: Prithee, peace. I dare do all that may become a man; Who dares do more is none. (1.7.45-47) Andreas Höfele 46 Der Macbeth, der das sagt, baut noch auf die Existenz und moralische Verbindlichkeit einer Grenze des dem Menschen zukommenden, ihn in seinem Menschsein definierenden Bezirkes zulässigen Handelns. Die Erwiderung der Lady kommt ebenso prompt wie schlagend: What beast was’t then That made you break this enterprise to me? (1.7.47f.) Bemerkenswert ist hier zunächst, dass das bei Macbeth als kategorial Anderes des Humanen offen bleibende „none“ von Lady Macbeth sofort und offenbar zwingend zu „beast“ konkretisiert wird. Ihre Frage ist zweifellos als rhetorische intendiert - ihr Tenor: ‚Es war doch wohl kein Tier, das dich dazu brachte, mir dieses Vorhaben zu eröffnen‘ - doch legt sie unweigerlich den gegenteiligen Schluss nahe: dass Macbeth bereits durch seinen Mordwunsch zum „beast“ geworden ist; also jene Transgression ins Nicht-Menschliche schon gewagt hat, welche unweigerlich zu „none“ führt, seinen „single state of man“ (sein „unteilbares Sein“) (1.3.139), wie es an anderer Stelle heißt, zunichte macht. Auf dieses ‚Mehr‘ greift auch die Lady in ihren nächsten Sätzen zurück. Aber es ist ein ‚Mehr‘, das gemäß der Hexenlogik des Stückes nun nicht mehr der vergleichenden Unterscheidung von „man“ und „beast“ dient, sondern einer Extension des Männlich-Menschlichen, das mit dem Bestialischen ununterscheidbar verschmilzt. When you durst do it, then you were a man. And to be more than what you were, you would Be so much more the man. (1.7.49-51) Dem ins Tierische ausgreifenden ‚Mehr‘ dieser Zeilen lässt Lady Macbeth als extremes Anwendungsbeispiel einer derart entgrenzten Humanität das Schreckensbild ihrer eigenen Tatbereitschaft folgen: I have given suck and know How tender ‘tis to love the babe that milks me: I would, while it was smiling in my face, Have plucked my nipple from his boneless gums And dashed the brains out, had I so sworn As you have done to this. (1.7.54-59) Danach gibt es kein Zurück mehr, kein Bedenken jenseits des bloß pragmatischen ‚Was ist, wenn wir scheitern? ‘: MACBETH. If we should fail? LADY MACBETH.We fail? But screw your courage to the sticking-place, And we’ll not fail. (1.7.59-61) Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 47 Es wäre zu einfach, die Debatte und den aus ihr folgenden Handlungsverlauf der Tragödie auf die Moral von Macbeths „Who dares do more is none“ zu reduzieren; zu sagen: Indem Macbeth das Menschenmaß zu überschreiten trachtet, unterschreitet er es, degeneriert er zum Tier. Das gewagte und erstrebte ‚Mehr‘ entpuppt sich als weniger, viel weniger und am Ende, im nihilistischen Fazit einer Verbrecherkarriere, sogar als gar nichts: Life’s but a walking shadow, a poor player That struts and frets his hour upon the stage And then is heard no more. It is a tale Told by an idiot, full of sound and fury Signifying nothing. (5.5.23-27) Zweifellos: Es gibt in Shakespeares Macbeth eine klare Schuld-und-Sühne-Moral. Aber mit deren Exekution am Ende des Stückes ist es nicht getan, sind die beunruhigenden Potentiale des transgressiven ‚Mehr‘ nicht dauerhaft gebannt, und es findet auch keine Rückkehr zu den naiven Gewissheiten statt, auf die die Herrschaft Duncans sich gründete. Zu tiefen Einblick hat uns das Stück ins Innere seines Helden gewährt, zu bekannt und geradezu verwandt mit uns ist uns dieser Macbeth geworden, als dass wir uns von seinen ‚inhumanen‘ Zügen, dem „beast within“, sicher getrennt wähnen dürften. Bezeichnenderweise sagt das Stück nichts über das Geschick der Hexen. Wenn es sie nach Macbeths Untergang noch gibt - wogegen nichts spricht - so können wir sicher sein, dass sie ihren nächsten Kandidaten finden werden. Und Malcolm, der neue Herrscher, vermag in sich zumindest hypothetisch die Anlage zu noch horrenderer Bestialität zu entdecken als bei Macbeth: It is myself I mean - in whom I know All the particulars of vice so grafted That when they shall be opened, black Macbeth Will seem as pure as snow, and the poor state Esteem him as a lamb, being compared With my confineless harms. (4.3.50-55) Gewiss, diese Selbstbezichtigungen werden umgehend dementiert. Sie sind nur ein Test, um die Loyalität Macduffs zu prüfen, doch erweisen sie den jungen Malcolm als gelehrigen Schüler Machiavellis, der dem Fürsten bekanntlich rät, bei Bedarf „die Natur des Tieres anzunehmen“, je nach Situation die des Löwen oder die des Fuchses. Erfolgreich herrschen wird der, der es versteht, „die Fuchsnatur gut zu verbergen.“ 22 Für Malcolm, dem es Macduff gegenüber gelingt, sich mit gleicher Überzeugungskraft als „foul“ wie als „fair“ darzustellen, bestehen mithin gute Aussichten auf Erfolg. 22 Eine Lesart des Macbeth im Lichte Machiavellis bietet Barbara Riebling, „Virtue’s Sacrifice: A Machiavellian Reading of Macbeth. “ In: Studies in English Literature , 1500-1900 , 31 (1991), 273-86. Andreas Höfele 48 Shakespeares dramatische Anthropologie sieht die Natur des Menschen, wie hier zu zeigen versucht wurde, keineswegs auf jenes geistige ‚Mehr‘ beschränkt, das der idealistische Humanismus und eine pietätvoll auf diesen zurückblickende Geistesgeschichte als sein gegen das Tier sich abhebendes Definiens ausmachen wollen. Eine Gestalt wie Macbeth zeigt vielmehr eine Menschennatur, die in ihrem transgressiven Drang die Potentiale eines ganz anderen ‚Mehr‘ in sich entdeckt und ausagiert, die das Tier nicht ausschließt, sondern sich ihm stellt, oder sollte man sagen: von ihm gestellt wird. 23 Das optimistische Menschenbild des Bildungshumanismus erscheint demgegenüber eindimensional. Wenn zu Macbeth ein Adjektiv passt, dann vielleicht das aus dem berühmten 2. Chorlied der Sophokleischen Antigone : ungeheuer, ó , mit seiner Spannweite und all seinen Ambivalenzen. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Shakespeare William: Macbeth. Hg. A.R. Braunmuller. Cambridge, 1997. Forschungsliteratur: Augustinus, Aurelius: „De Civitate Dei.“ In: Ders.: Der Gottesstaat. Übers. Carl Johann Perl. Salzburg, 1953. Bruno Giordano: „Die Vertreibung der triumphierenden Bestie . “ In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. und Übers. Ludwig Kuhlenbeck. Bd. 2. Leipzig, 1904. Chambers, E. K.: The Elizabethan Stage. Vol. IV. Oxford, 1923. Daigl, Christoph: ‚All the world is but a bear-baiting‘: Das englische Hetztheater im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin, 1997. 76. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft . Frankfurt a.M., 12 1986. Fudge, Erica: Brutal Reasoning. Ithaca, 2006. Greenblatt Stephen: Shakespearean Negotiations . Oxford, 1988. Hawkes Terence: „Harry Hunks, Superstar.“ In: Ders.: Shakespeare in the Present . London, 2002. Hodges, C. Walter: Shakespeare’s Second Globe. The Missing Monument. Oxford, 1973. 23 In diesem Sinne vom Tier eingeholt oder ‚gestellt‘ sieht Foucault den Menschen an der Schwelle zur Neuzeit: „Im Denken des Mittelalters tragen die Legionen der Tiere, die einst Adam ein für alle Mal benannt hat, symbolisch die Werte der Menschheit. Aber zu Beginn der Renaissance kehren sich die Beziehungen zum Tierreich um; das Tier befreit sich, es entzieht sich der Welt der Legende und der moralischen Illustration, um etwas ihm eigenes Phantastisches anzunehmen. Und in einer erstaunlichen Umkehrung ist es jetzt das Tier, das den Menschen beobachtet, sich seiner bemächtigt und ihn seiner eigenen Wahrheit enthüllt.“ Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft , Frankfurt/ M. 12 1986, 39. Shakespeares Macbeth : Menschentheater und Bärenhatz 49 Klaus Lazarowicz: „Triadische Kollusion: Über die Beziehung zwischen Autor, Schauspieler und Zuschauer im Theater.“ In: Das Theater und sein Publikum . Hg. Institut für Publikumsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien, 1977. 56-60. McIlwain, Charles Howard (Hg.): The Political Works of James I. Cambridge, Mass. 1918. Meyer, Heinz: „VI Frühe Neuzeit.“ In: Peter Dinzelbacher (Hg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas . Stuttgart, 2000. Mirandola, Giovanni Pico della: Über die Würde des Menschen. Aus dem Neulat. Übertragen von Herbert Werner Rüssel. Zürich, 1988. Mirgeler, Albert: Geschichte und Gegenwart . Freiburg i.Br., 1965. Nichols, John (Hg.): The Progresses and Public Processions of Queen Elizabeth. London, 1823. Riebling, Barbara: „Virtue’s Sacrifice: A Machiavellian Reading of Macbeth. “ In: Studies in English Literature, 1500-1900 . 31 (1991). Rye, William Brenchley (Hg.): England as Seen by Foreigners in the Days of Elizabeth and James the First. London, 1865. 133. Skura, Meredith Anne: Shakespeare the Actor and the Purposes of Playing. Chicago, 1993. Thomas, Keith: Man and the Natural World: Changing Attitudes in England 1500-1800 . London, 1983. Wickham, G., Berry, H., Ingram, W. (Hgg.): English Professional Theatre, 1530-1660 . Cambridge, 2000. Abbildungsnachweis: Abbildung 1: Wenceslaus Hollar, „Long View“ of London from Southwark (1647) [Ausschnitt]. Abbildung 2: Ansicht von London in/ Civitates Orbis Terrarum/ verlegt von G. Braun und F. Hogenberg (Köln, 1572) [Ausschnitt]. Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon Bernadette Malinowski Als Christoph Martin Wielands Roman Geschichte des Agathon 1766/ 67 in der Erstfassung erschien, erntete er von seinen Zeitgenossen sowohl enthusiastische Zustimmung als auch entschiedene Ablehnung. Wurden ihm einerseits Skeptizismus, mangelnde Sittlichkeit, gar ‚Unchristlichkeit‘ vorgeworfen und das verderbliche Potential des Romans gerade für die jugendliche Leserschaft angemahnt, 1 so rühmte andrerseits Lessing den Agathon als ein Werk, welches unstreitig unter die vortrefflichsten unsers Jahrhunderts gehört, aber für das deutsche Publicum noch viel zu früh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England würde es das äußerste Aufsehen gemacht haben; der Name des Verfassers würde auf aller Zungen sein […]. Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke. 2 Die konträre Einschätzung, die der Roman bei seiner Veröffentlichung erfährt, spiegelt den zeitgeschichtlichen Kontext seiner Entstehung, die epochalen Umbrüche und Divergenzen der Aufklärung wider, 3 mehr aber noch die im Text selbst angelegten Ambivalenzen und Widersprüche, die ihrerseits Resultat einer höchst innovativen narrativen Poetik sind. Der Roman, der aus zwei Teilen besteht, die wiederum in einzelne Bücher und Kapitel untergliedert sind, setzt mit einem „Vorbericht“ ein, aus dem ich im Folgenden etwas länger zitieren darf: 1 Der Roman, so abschätzig etwa Schubart, enthalte „wollüstige poetische Schilderungen, langweilige Digressionen“ und zeichne sich insbesondere durch ein „schlimmes Herz gegen Religion und gute Sitten“ aus (C. F. D. Schubart: Brief an Christian Gottfried Böckh sowie an Balthasar Haug, zit. n. Klaus Manger: Kommentar. In: Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon, Frankfurt/ M. 1986, S. 797-1114, hier S. 861), Gerstenberg moniert die „schwelgerische Schlüpfrigkeit“ und den „Skeptizismus“ des Agathon (H. W. v. Gerstenbergs Rezensionen, zit. n. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ‚Agathon‘-Projekt, Tübingen 1991, S. 181) und Iselin „eine Menge unbestimmter Stellen, welche den Leser in einer großen Ungewissheit lassen, ob der Verf. an die Tugend glaubt oder nicht“ (I. Iselin: Allgemeine Deutsche Bibliothek 6 (1768), zit. nach Erhart, S. 181). 2 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (69. Stück, 29.12.1767), in: Lessings Werke 1767-1769, Hg. Klaus Bohnen (= Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6), Frankfurt/ M. 1985, S. 531. 3 Zu den vielgestaltigen Versuchen, „die Logik des gesellschaftlichen, kulturellen und literarischen Umbruchs an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert“ zu rekonstruieren, vgl. zusammenfassend Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1988, Teil 1, S. 2-6 sowie Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/ M. 1989, S. 65ff. Bernadette Malinowski 52 Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in der Tat aus einem alten Griechischen Manuscript gezogen sei; daß er am besten zu tun glaubt, über diesen Punct gar nichts zu sagen, und dem Leser zu überlassen, davon zu denken, was er will. Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein comischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt sein muß: ) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den Archiven des alten Athens gefunden worden sei? Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiemit vorlegen, gefordert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Character nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Character und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Character des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird, niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen, und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte des Agathons zu versprechen. 4 Vieles von dem, was für die Qualität des gesamten Romans bestimmend ist, ist in diesen Sätzen bereits angelegt. Drei Aspekte gilt es etwas näher zu beleuchten: zum einen die Erzählsituation, des Weiteren die Rolle des Lesers und schließlich das Versprechen auf Wahrheit. Wieland bedient sich eines zu seiner Zeit bereits fest etablierten narrativen Strukturelements, nämlich der sogenannten Herausgeber- und Manuskriptfiktion 5 , ironisiert dieses jedoch in seiner konventionellen Funktionalität: Die Einführung eines fiktiven Herausgebers, der ein aufgefundenes Manuskript ediert, dient hier entgegen des bisherigen literarischen Gebrauchs 6 gerade nicht der Befestigung einer Authentizitäts- und Faktizitätsfiktion und damit der scheinbaren Fiktionsaufhebung, sondern erweist sich umgekehrt als ein Bekenntnis zur literarischen Fiktion und ästhetischen Wahrheit. Bereits im Laufe des kurzen Vorberichts wird sich der Herausgeber als der 4 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung, unter Mitwirkung v. Reinhard Döhl, Hg. Fritz Martini, Stuttgart 2005, S. 5f. Der Text wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe zitiert. 5 Umfassend dazu Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion - Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008. 6 Paradigmatisch hierfür sind etwa die Briefromane Samuel Richardsons ( Pamela , Clarissa ) oder die Robinsonaden-Literatur (z.B. J. G. Schnabels Die Insel Felsenburg ). Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 53 Erzähler und Verfasser der Geschichte des Agathon ‚outen‘, im Roman selbst die Differenz von Editor und Erzähler jedoch immer wieder etablieren, um sie erneut wieder einzuebnen. Wieland, so wird deutlich, kommt es nicht darauf an, den fiktionalen Charakter des Romans zu verschleiern, sondern diesen im Gegenteil transparent zu machen. Überdies eröffnet das verwirrende Changieren zwischen Herausgeber und Erzähler die Möglichkeit, den Erzählvorgang auch räumlich und zeitlich zu ‚spalten‘: denn während man sich den Erzähler und Verfasser des Manuskripts im zeitlichen Umfeld des Agathon und des in der Antike spielenden Geschehens denken muss, stilisiert sich der Herausgeber des Manuskripts als ein Zeitgenosse im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Diese Verdoppelung der narrativen Instanz - der antike ‚auktoriale‘ Erzähler einerseits, der zeitgenössische Herausgeber andererseits - die rezeptionsästhetisch die Verlässlichkeit des Erzählten nicht länger zu verbürgen vorgibt, potenziert zugleich die epische Distanz zum Erzählten. Mit dem Herausgeber ist gleichsam eine metafiktionale Instanz geschaffen, der es jederzeit gestattet ist, vielfältig kommentierend in das Geschehen, aber auch in den Erzählvorgang selbst einzugreifen und vor allem den Dialog mit dem zeitgenössischen (und darüber hinaus je aktuellen) Lesepublikum herzustellen. Der durch diese - im übrigen ihrerseits vielschichtig gebrochenen - Gesprächsebene von Erzähler und Leser entstehende zusätzliche Fiktionsraum wird im Roman exzessiv genutzt: Dem dekonstruktiven Spiel mit traditionellen literarischen Topoi und Strukturen entspricht das parodistische Spiel mit fiktiven Leserfiguren, die wiederum äußerst heterogene, miteinander kollidierende und sich solcherart kritisch in Frage stellende Leseerwartungen, Lektüre- und Deutungspraktiken repräsentieren, und es sind vor allem diese pluralisierten, polyphonen Erzähler- und Leserinstanzen, die neben Agathon die eigentlichen Helden (und Antihelden) des Romans darstellen. 7 Wie schon in seinem Romanerstling Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764) praktiziert Wieland von Beginn an eine „Lektüredidaktik der Enttäuschung“ 8 : Gibt der Herausgeber des „Vorberichts“ vordergründig zwar vor, dass innerhalb der Leserschaft zwischen Spreu und Weizen klar zu trennen ist - gegen die falschen Leser (den „jungen Taugenichts“, den „übelgesinnten oder ruchlosen Menschen“, 8) und ihre Fehllektüren setzt er sein Bündnis mit den „vernünftigen und ehrlichen Lesern“ (9), für die es keinen Zweifel an den rechtschaffenen Intentionen der Erzählinstanz geben kann -, doch wird dieser auf der fiktionalen Ebene geschlossene und vom realen Leser auf seine eigene empirische Situation übertragene Pakt (wer identifizierte sich nicht gern mit den „vernünftigen“ Lesern! ) bereits mit dem ersten Satz des „Vorberichts“ aufgekündigt: Die darin dem Leser überantwortete Freiheit, „zu denken, was er will“ (5), erweist 7 Diese Gegenführung von historischen (auch indirekt aus den vielfältigen Gattungsbezügen, Intertextualitäts- und Stilebenen des Romans resultierenden) Lesererwartungen, Lektürepraktiken und dem impliziten Leser sowie der polyphon gestalteten Erzählerinstanz verleiht Wielands „Agathon“ seinen modernen dialogischen und polyperspektivischen Charakter. Zum dekonstruktiven Spiel mit etablierten narrativen Genres und Lesemodellen vgl. insbesondere Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 87-103. 8 Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999, S. 30. Bernadette Malinowski 54 sich als geradezu programmatisch für die dem Roman inhärente „Lesepoetologie“. 9 Dass damit gerade nicht einer relativistischen Lektüre- und Deutungsauffassung Vorschub geleistet, sondern vielmehr ein kritisch-reflektiertes Rezeptionsverhalten eingeübt werden soll, gehört, wie noch zu zeigen sein wird, zur impliziten Strategie dieser Poetik. Den vorgestellten strukturellen Strategien zur Akzentuierung des fiktionalen Status’ der im Folgenden erzählten Geschichte korreliert die Diskussion über Wahrheit, die der Editorerzähler im Vorbericht führt. Dem scheinbar willkürlichen Wechsel zwischen Herausgeber und Erzähler entspricht hier der Wechsel zwischen Faktizität und Fiktion. „Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen (wie dann in der Tat um die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein comischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt sein muß)“ - schon diese Formulierung schweißt auf engstem Raum eine zunächst hypothetisch gesetzte Faktizität mit einer - parenthetisch abgesetzten - faktischen Faktizität, die überdies durch die Autorität der platonischen Schriften bezeugt wird, zusammen, um im selben Atemzug durch die Behauptung, dass die „gegenwärtige Geschichte“ lediglich in das historische Setting des historischen Agathon transponiert wurde, und damit also fiktiv ist, die Differenz zwischen historischer und fiktionaler Wahrheit zu etablieren, was in einer Art Klimax am Ende der Passage als wiederum hypothetische Annahme einer gerichtlich beglaubigten Faktizität wiederholt und zugleich gesteigert wird. Die ebenso schlichte, wie provokante Botschaft dieser Sequenz lautet: Es gibt einen Unterschied zwischen historischer und ästhetischer Wahrheit, und der Unterhaltungs-, Nützlichkeits- und Erkenntniswert der letzteren ist ungleich höher. Was nun aber ist diese ästhetische Wahrheit? Die Wahrheit der Fiktion, so die im zweiten Abschnitt gesetzte, ganz an Aristoteles angelehnte erkenntnistheoretische Prämisse, besteht in ihrer Wahrscheinlichkeit. Gottfried Gabriel zufolge, läßt sich Wielands Forderung nach Wahrscheinlichkeit so formulieren, daß die Welt jeder Dichtung eine empirisch und nicht nur logisch mögliche Welt sein muß. Es genügt nicht, daß die Aussagen dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch genügen, sondern das geschilderte Geschehen darf auch nicht unserem empirischen Wissen widersprechen, vor allem nicht gegen Naturgesetze (einschließlich derer des menschlichen Verhaltens) und das allgemeine Kausalgesetz verstoßen. 10 9 Terminus nach Bickenbach, der damit „ein System von strategischen Verfahren der Leserlenkung auf allen Ebenen des Textes“ beschreibt (Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, S. 178). In der von Wieland konstituierten, durch die „Einsicht in die Unmöglichkeit der Kontrolle von Lektüre“ (ebd., S. 30) motivierten Lesepoetologie werden dem Rezipienten „nicht mehr normative Anweisungen gegeben wie er sich zu verhalten habe, sondern vielmehr werden ihm verschiedene Lektürepraktiken vorgeführt, die er vergleichen kann und muß, um daraus für sein eigenes Verhalten (eigene) Schlüsse zu ziehen“ (ebd., S. 30). 10 Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1975, S. 66. Zu den Vorläufern dieses kausal-empirischen Wahrheitsverständnisses in der europäischen Literatur (v.a. bei Fielding und Thomasius) und den Konsequenzen insbesondere Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 55 „Die Erfahrung“, so Gabriel weiter, „[ist] die Instanz, der sich die Einbildungskraft beugen muß“. 11 Fiktionale Literatur ist folglich nicht dann wahr, wenn sich ihre Personen und Ereignisse auf reale historische Entsprechungen zurückführen lassen, sondern wenn sie den Bezug auf ein „empirisch Allgemeines, insbesondere die Gesetze menschlichen Verhaltens“ 12 gewährleistet. Entsprechend kann der Herausgeber seinen Lesern versichern, „daß Agathon und die meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind, wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt“ (6). Über die Konsequenzen dieses literarischen Programms für die Gestaltung des Helden unterrichtet uns wiederum der Herausgeber selbst: Mit dem Agathon sollte „kein Modell eines vollkommenen tugendhaften Mannes“, sondern „das Bild eines wirklichen Menschen […], in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten“ (7), gegeben werden. Entsprechend deklariert er es als seine „Hauptabsicht“, die Leser „mit einem Character, welcher gekannt zu werden würdig wäre, in einem mannchfaltigen Licht, und von allen Seiten bekannt zu machen“ (6). In dieser Konzeption des ‚gemischten‘ Charakterhelden gelangen Ästhetik und Ethik zur Koinzidenz: Der Anspruch, einen exemplarischen, „wirklichen Menschen“ darzustellen, postuliert geradezu ein polyperspektivisches, dialogisches Erzählen und zugleich ein humanes Ethos, das dem Menschen in seiner ‚Mehrdimensionalität‘ gerecht zu werden versucht. Bereits an dieser Stelle kündigt sich an, dass die philosophisch-idealistische Ethik Platons, die der Name des Titelhelden Agathon programmatisch aufruft, partiell suspendiert wird, ja suspendiert werden muss, will das gegebene Versprechen auf Wahrheit eingelöst werden. Es gehört deshalb zum ausdrücklichen „Plan“ des Herausgebers, den „Character unsers Helden auf verschiedene Proben“ (10) zu stellen und seine noch nicht an der Erfahrung erprobte Tugend eben mit dem „Lauf der Welt“ zu konfrontieren, 13 damit „seine Denkungsart und seine Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und nach abgesondert würde […]“ (10). Grundproblematik und Ziel des Geschehens sind hier im Kern benannt: Die schwärmerische Tugendhaftigkeit des Helden gilt es „unter Erfahrungsbedingungen zu erproben“, 14 das idealerfüllte Subjekt mit der prosaischen Welt auf Kollisionskurs zu bringen, das Moralprinzip letztlich mit dem Realitätsprinzip zu versöhnen. 15 Dass die damit antizipierten Ernüchterungen und Enttäuschungen, denen Agathon ausgesetzt sein wird, nicht auf den Verlust seiner Moralität, sondern vielmehr auf eine mit dem „Lauf der Welt“ zu vereinbarende und damit eine auf Vernunft basierende ethische Gesinnung zielen, deutet sich nicht nur in dem dem Ro- für die Charakterisierung des Helden im „Vorbericht“, vgl. Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 87-89. 11 Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 67. 12 Ebd., S. 68. 13 Erhart, S. 89. „Analog zu Fieldings ‚Tom Jones‘ soll die Romanhandlung die empirische ‚Bewährung‘ und Korrektur generalisierter Normvorgaben übernehmen.“ 14 Frick: Providenz und Kontingenz, Teil 2, S. 393. 15 Zur damit berührten Frage der Zugehörigkeit des Agathon zur Gattung „Bildungsroman“ vgl. zuletzt Ortrud Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007, S. 74-82. Bernadette Malinowski 56 mantitel beigefügten Horazmotto „quid Virtus, et quid Sapientia possit/ Utile proposuit nobis exemplum“ - „Was die Tugend und die Weisheit vermögen, hat uns nützlich das Beispiel gezeigt“ (3) - unmissverständlich an, sondern wird auch vom Herausgeber am Ende seines Vorberichts betont, wenn er prophezeit, „daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens, welche den Beschluss unsers Werkes macht, ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht), daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist“ (11). Zu den größten Herausforderungen, die Agathon zu bestehen haben wird, gehört die Begegnung mit dem Sophisten Hippias, der „bekannter maßen eine historische Person ist, und mit den übrigen Sophisten der selben Zeit sehr vieles zur Verderbnis der Sitten unter den Griechen beigetragen hat“ (10). Nicht nur der Held Agathon wird in diesem ästhetisch-ethischen Experiment dem Prüfstein der Erfahrung ausgesetzt, auch die von ihm maßgeblich vertretene platonisch-idealistische Philosophie auf der einen, die durch seinen Antagonisten Hippias repräsentierte materialistischempiristische Philosophie auf der anderen Seite. Dass der „Unglaube“ und das „lasterhafte Leben“ des „ruchlosen Freigeists“ (8) Hippias jedoch weder für Agathon noch für den Leser eine ernsthafte Gefahr darstellt, verspricht uns der Herausgeber, denn „nicht nur die Antwort, welche ihm Agathon gibt […], sondern auch das ganze Werk [ist] als eine Widerlegung desselben anzusehen“ (10). Ob und inwieweit es Agathon gelingen wird, seine sittliche Autonomie in den Stürmen des sozialpolitischen und erotischen Lebens erfolgreich zu behaupten, und ob und inwieweit es der mit ihm ganz offensichtlich verbündeten Literatur - eben dem „ganzen Werk“ - gelingen wird, ihr auf der Grundlage einer „Poetik des Empirismus“ 16 erhobenes Postulat der Versöhnung von Tugendideal und Wirklichkeit, von Subjekt und Welt zu leisten, wird sich am Ende zeigen. Ehe ich auf das eigentliche Romangeschehen zu sprechen komme, seien einige knappe Anmerkungen über die weitreichenden Folgen, die dieser Vorbericht für die Literaturwissenschaft zeitigte, gestattet. Insbesondere möchte ich mich damit an die Studierenden wenden, für die das Wort „Literaturtheorie“ ja oftmals ein rotes Tuch darstellt. Was sich an diesem Vorbericht und am Roman als ganzem nämlich sehr schön aufzeigen ließe, ist der Prozess, wie aus Literatur Literaturtheorie entsteht, wie eine solche zur Theorie abstrahierte Literatur kanonisiert werden und damit wegweisend für die weitere Entwicklung einer Gattung sein kann, aber auch dass jede singuläre Literaturtheorie in dem, was sie begrifflich zu fassen versucht, fast zwangsläufig stets hinter dem literarischen Werk zurückbleibt. Mit seinem Versuch über den Roman legt Friedrich Blanckenburg 1774 eine erste umfassende theoretische Bestimmung der Gattung Roman vor. In seinem Traktat führt Blanckenburg, wie die Forschung immer wieder betont, zwar „keine umstürzend neuen ästhetischen Begriffe ein“, 17 vielmehr entwickelt er seine Gattungstheorie im Anschluss an bereits sehr 16 Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands, München 1970, S. 52. 17 So stellvertretend für viele Jürgen Jacobs und Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, München 1989, S. 51. Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 57 ausgefeilte dichtungstheoretische Konzepte der aufklärerischen europäischen Literatur, 18 wobei er Wielands Agathon eine exponierte Stellung einräumt. Mit Blick etwa auf die Konzeption des Helden fordert Blanckenburg in ausdrücklicher Anlehnung an Wielands Agathon, dass der Roman nicht Helden mit unveränderlichen Eigenschaften, sondern „wirkliche Individua“ 19 - „einen ganzen werdenden Menschen“ 20 - darstellen solle und damit „die Ausbildung und Formung, die ein Charakter durch seine mancherley Begegnisse erhalten kann, oder noch eigentlicher, seine innre Geschichte , das Wesentliche und Eigenthümliche eines Romans ist“. 21 In diesem Zusammenhang rekurriert er auch auf Wielands Begriff des Wahrscheinlichen, wenn er ferner postuliert, der Roman solle die Handlungen, Empfindungen und Reaktionen seiner Figuren und damit die Interaktion zwischen Umwelt und seelischer Disposition - das „Wirklichwerden einer Begebenheit“, 22 die „Verbindung von Wirkung und Ursach […] zwischen der Person und ihren Begebenheiten“ 23 - lückenlos in ihrer psychosozialen Kausalität schildern: 24 Wenn wir den Agathon untersuchen: so findet es sich so gleich, daß der Punkt, unter welchem alle Begebenheiten desselben vereinigt sind, kein andrer ist, als das ganze jetzige moralische Seyn des Agathon, seine jetzige Denkungsart und Sitten, die durch all’ diese Begebenheiten gebildet, gleichsam das Resultat, die Wirkung aller derselben sind, so daß 18 Zu nennen sind hier vor allem Samuel Richardson (Pamela, 1740, Clarissa, 1748), Henry Fielding (History of Tom Jones, 1749), ferner Werke von Henry Home, Denis Diderot, Lessing, Moses-Mendelssohn und Christian Garve. 19 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, Stuttgart 1965, S. 410. 20 Ebd., S. 519. Blanckenburg fundiert dieses Postulat anthropologisch: „Das All ist so eingerichtet, daß ein Mensch nicht seine Bildung erhalten kann, ohne durch mannichfaltige Begegnisse hindurch zu gehen“ (ebd., S. 326; vgl. auch S. XVI f.: „[…] nur, indem wir Menschen sind, [können wir] unsre Bestimmung erreichen“). 21 Ebd., S. 392. In dieser „Abkehr von der äußeren Einheit der Handlung zugunsten der ‚inneren Geschichte’“ ist dann auch die eigentliche Modernität der Blanckenburgschen Romanpoetik immer wieder gesehen worden (Eberhart Lämmert: „Nachwort,“ In: Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 541-583, hier S. 556). 22 Ebd., S. 360. 23 Ebd., S. 368. 24 Das produktionsästhetische Postulat nach Akzentuierung der „innren Geschichte“ findet sein ebenfalls bei Wieland vorgeprägtes wirkungsästhetisches Pendant in der Forderung, den Leser nicht lediglich durch den „bloßen Innhalt einer Begebenheit“ (362) emotiv zu berühren, sondern ihn „zweckmäßig“ (359) und „angemessen“ (360) zu beschäftigen, d.h. ihn zugleich über „das wie der Begebenheiten“ (360) aufzuklären. Es gehört zum höchsten „Verdienst ums menschliche Geschlecht“, wenn uns der Dichter „sehen läßt, wie wir gut oder böse, wie wir wahrhaft glücklich oder unglücklich werden können: wenn er uns unsern innern Zustand, worauf alles dies beruht, als das wichtigste ansehen und ihn uns kennen lehrt, damit wir an andern lernen können, wie wir uns selbst, und wie wir andre, unsre Kinder, Schüler, Untergebene ausbilden sollen“ (357). Wie der „Romanendichter“ bei seinen Helden die „Ausbildung, oder vielmehr die Geschichte ihrer Denkungs- und Empfindungskräfte“ (395) bezwecken soll, so soll analog auch der Leser zum Zwecke der moralischen Bildung „vernünftig unterhalten werden“ (363). Letzteres freilich kann nur gelingen, wenn Ersteres erfüllt ist. Bernadette Malinowski 58 diese Schrift ein vollkommen dichterisches Ganzes, eine Kette von Ursach und Wirkung ausmacht. 25 Bei allen Missverständnissen, die Blanckenburgs teleologischer Agathon -Lektüre seitens der Forschung zu Recht unterstellt worden sind, 26 erzählt die Geschichte des Agathon im Wesentlichen tatsächlich eine „innere Geschichte“, die nurmehr an einem stark reduzierten äußeren Handlungsgerüst befestigt ist. Der etwa 25-jährige Agathon, soeben aus Athen verbannt, befindet sich zu Beginn des Romans auf der Suche nach einem Ort tugendhaften Lebens, gerät auf seiner Reise jedoch bei einem dionysischen Fest in einen „schwärmenden Haufen von jungen Thracischen Weibern“ (18), vor deren erotischen Zudringlichkeiten ihn ein Überfall von Seeräubern gerade noch rettet. Agathon wird gefangen genommen und auf ein Schiff gebracht, auf dem es zu einem überraschenden Wiedersehen mit seiner Jugendliebe Psyche, die ebenfalls in die Hände der Piraten gefallen war, kommt. Die Aussicht auf ein gemeinsames Glück wird jedoch jäh enttäuscht, da Agathon unmittelbar nach der Ankunft in Smyrna an den Sophisten Hippias als Sklave verkauft wird. Hippias, ein an materiellen Wohlstand und Genuss hingegebener, einer sinnlich-egoistischen Glücks- und Erfolgsmoral frönender Philosoph, erblickt in Agathon seinen potentiellen Nachfolger und setzt fortan alles daran, den schönen und vielseitig talentierten Jüngling nach allen Regeln der Kunst von seiner idealistischen Schwärmerei zu heilen. Allen Verführungskünsten des Hippias zum Trotz weist Agathon dessen materialistischen Hedonismus strikt zurück und bleibt seinen Idealen des Wahren, Schönen und Guten treu. Dies ändert sich, als Hippias den teuflischen Plan schmiedet, Agathon „gleichsam in eine Sinnlichkeitsfalle“ 27 zu locken und ihn der ebenso klugen wie schönen Hetäre Danae zur ‚Umerziehung‘ zu überlassen. Während seines Aufenthalts bei Danae in Smyrna vermag Agathon tatsächlich den „tausend […] Reizungen“ (120) seiner neuen Gebieterin nicht zu widerstehen. Umgekehrt erfährt jedoch auch Danae in der Begegnung mit Agathon einen allmählichen Wandel, verliebt sich leidenschaftlich und aufrichtig in ihn, enthält ihm jedoch aus Furcht, der tugendhafte Jüngling könnte sie verlassen, das Geheimnis um ihr einstiges Leben als Kurtisane vor. Anders Agathon: Als er eines Tages von melancholischen Erinnerungen an die verlorene Psyche überwältigt wird, erzählt er seiner Geliebten die Geschichte seiner Kindheit und Jugend. Als Zögling im weltabgeschiedenen Tempel von Delphi aufgewachsen und dort im Geiste der Lehren Platons und des Pythagoras, der orphischen Theosophie erzogen, gelangt Agathon später in seine Vaterstadt, das republikanische Athen, wo er durch sein politisches Wirken zu höchstem Ansehen gelangt. Nicht wissend, so Agathons selbstkritische Einschätzung der damaligen Situation, „daß Tugend, Verdienste und Wohltaten gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödlichsten Haß erbittern 25 Ebd., S. 10. 26 Vgl. exemplarisch Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 216ff. 27 So die treffende Formulierung von Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman, S. 74. Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 59 kann“ (289), wird er auf dem Höhepunkt seines Ruhms Opfer einer schamlosen Intrige, die schließlich zu seiner Verbannung aus Athen führt. Kehren wir zum gegenwärtigen Geschehen zurück. Als Hippias erkennen muss, dass sein Experiment gescheitert ist, da es auch Danae nicht gelungen war, Agathon zum Hedonismus zu bekehren, gibt er Danaes Geheimnis um ihre zweifelhafte Vergangenheit preis. Schmerzhaft enttäuscht flieht Agathon aus Smyrna und bricht nach Syracus auf, wo er Günstling am Hof des Tyrannen Dionysius wird und aus dessen marodem Staatswesen einen Idealstaat nach platonischem Vorbild zu formen sucht. Doch auch diese zunächst von Erfolg gekrönte Unternehmung wird durch ein Komplott intriganter Hofleute kläglich zum Scheitern gebracht. Agathon wird inhaftiert, dank Archytas jedoch, Staatsoberhaupt der Republik Tarent und, wie sich herausstellen wird, ein enger Freund von Agathons Vater, in die Freiheit entlassen. Tarent ist dann auch die letzte Station Agathons. Er wird dort freundlich im Haus des Archytas aufgenommen, wo er sich naturwissenschaftlichen und schöngeistigen Studien widmet und dank seines weisen „Freundes“ und „Beschützers“ (567) vor „allzukühnen Reisen im Lande der Ideen“ (582) ebenso bewahrt wird wie vor den „schädlichen Folgen“ eines radikalen Skeptizismus. Als Agathon hier Psyche wieder trifft, muss er bestürzt zur Kenntnis nehmen, dass sie inzwischen die Gemahlin seines Freundes Critolaus, Sohn des Archytas, geworden ist, doch nimmt das Geschehen abermals eine glückliche Wendung, denn bald darauf erfährt Agathon, dass seine einstige Seelenfreundin niemand anderes als seine totgeglaubte Schwester ist. Der Roman endet mit einem bewegenden Wiedersehen mit Danae, die ihm trotz seines erneuten Liebeswerbens eröffnet, an jenem nach der Flucht des Geliebten gefassten Entschluss, „der Welt zu entsagen“ (596), festhalten und auch künftig ein zurückgezogenes, tugendhaftes Leben führen möchte. Bei den biographischen Stationen des Agathon - Delphi, Athen, Smyrna, Syracus und Tarent - handelt es sich um jeweils semantisch und funktional akzentuierte Räume, die, so Horst Thomé, „als die allegorische Einkleidung eines abstrakten Prinzips von aktueller sozialer und politischer Bedeutung“ 28 gelesen werden können: „Delphi steht für die religiöse Sozialisation, Athen für die Demokratie, Smyrna für den erotischen Bereich, Syrakus für den absolutistischen Hof, Tarent für die ideale Republik.“ 29 Analog zu den Handlungsräumen erweisen sich auch die Romanfiguren als Repräsentanten verschiedener sozial-politischer Milieus, vor allem aber als Figurationen unterschiedlicher weltanschaulich-philosophischer Systeme und Lebenspraktiken. Sie sind - mit Ausnahme des Helden und mit Einschränkung auch Danaes - weitgehend statisch und entwicklungslos konzipiert und in ihrer narrativen Funktion auf eine mediale Rolle beschränkt: Sie sind Durchgangsstadien, Reibungsflächen und nicht zuletzt auch Reflektorfiguren, die Agathons Entwicklung maßgeblich ermögli- 28 Horst Thomé: Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands Die Geschichte des Agathon , in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 22 (1978), S. 205-234, hier S. 219. 29 Sven-Aage Jørgensen, Herbert Jaumann, John McCarthy u. Horst Thomé: Wieland. Epoche - Werk - Wirkung, München 1994, S. 127. Bernadette Malinowski 60 chen und fördern, seinen Charakter konturieren und kritisch spiegeln und die die literarische Bühne wieder verlassen, sobald sie ihre Rolle erfüllt haben. 30 Der zentrale Konflikt, der den hier durchgespielten Formen der Weltanschauung, der Herrschaft und des Eros zugrunde liegt und in der individuellen Geschichte des Agathon gleichsam ihr ‚episches Epizentrum‘ findet, ist eine fundamentale Disparität von Ideal und Wirklichkeit, von Sollen und Sein, von Held und Milieu. Die Antagonisten des Agathon, allen voran der bereits erwähnte Hippias sowie Aristipp, ein Philosoph und alter Bekannter des Agathon, dem er in Syrakus wieder begegnet, sind trotz ihrer lediglich instrumentellen Funktion für die Entwicklung des Helden alles andere als blasse Gestalten. Im Gegenteil: Die durch sie repräsentierten Weltbilder stellen für Agathon eine ernsthafte Herausforderung und Gefährdung dar, die ihn im Verlauf der Geschichte in ein zunehmend kritisch reflektiertes Verhältnis zu seinen eigenen moralphilosophischen Überzeugungen, mehr aber noch in eine bis zur Identitätskrise gesteigerten Skepsis gegenüber seiner eigenen moralischen Kompetenz und Glaubwürdigkeit zwingt. Wielands Agathon -Roman stellt nicht nur ein Paradigma narrativer und in der kritisch-ironischen Auseinandersetzung mit literarischen Traditionen gewonnener Innovationen dar, sondern - und darauf möchte ich im Folgenden etwas näher eingehen - vor allem auch ein Paradebeispiel für eine im Medium des Fiktiven ausgetragene Auseinandersetzung mit den spezifischen Problemen und Leistungen rivalisierender Moral- und Glücksphilosophien und damit zugleich für eine kritische und selbstkritische Reflexion über die je besonderen Möglichkeiten und Funktionen philosophischer und literarischer Denkformen. Denn was in dieser konstruierten „Laboratoriumswirklichkeit“ 31 vor allem geschieht, ist eine Erprobung des „originären Wahrheitsmodus von Literatur“, dem es nach Wielands Theorie gemäß ist, „abstrakte Behauptungen über ‚ die Realität‘ durch Erzählung aufzulösen, d.h. weltanschauliche Dogmen durch die Konfrontation mit inkompatiblen, im theoretischen System nicht vorgesehenen, gleichwohl aber real gegebenen oder möglichen Sachverhalten zu erschüttern“. 32 In einem langen philosophischen Disput, der sich über das gesamte dritte Buch erstreckt, kommt es zwischen Hippias und Agathon zu einer Grundsatzdiskussion über das Wesen und den Anspruch der Tugend. Agathon, immer noch auf der Suche nach einem Ort, „wo die Tugend, von auswärtigen Beleidigungen sicher, ihrer eigentümlichen Glückseligkeit genießen könnte, ohne sich aus der Gesellschaft der Menschen zu verbannen“ (35), wird von Hippias der naiven „Schwärmerei“ (55) bezichtigt. Die moralischen Prinzipien, so die Position Hippias’, sind zeit-, orts- und kulturabhängig, konventionell geregelt und insofern „willkürlich“ (103); einzige Richtschnur menschlichen Handelns sei das „eigne Beste“ (105). Ganz offen formuliert Hippias das Credo seines auf individuellem Erfolg, Wohlstand, Genuss und Glück gegründeten Hedonismus: 30 Vgl. Frick: Providenz und Kontingenz, S. 408. 31 Jan Dirk Müller, zit. n. Frick: Providenz und Kontingenz, S. 444. 32 Ebd., S. 399. Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 61 Die Frage ist also: Gibt es nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein, als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes; oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden, und genieße so viel Vergnügen als du kannst. (102f.) Philosophiegeschichtlich erweist sich die immoralistische Haltung des Hippias als ein Amalgam antiker Philosopheme und ihrer Linienverlängerung in die Aufklärung vor allem französisch-materialistischer Provenienz. Der Rückführung humaner Vernunft auf den Leitbegriff der „Natur“ und damit auf einen natürlichen und mechanischen Kausalzusammenhängen folgenden Empirismus, vor dessen Hintergrund sich jede normativ verankerte Moral als schlechterdings unvernünftig ausnimmt, 33 kontrastiert Agathons Berufung auf eine metaphysisch verortete, durch die „Stimme seines Herzens“ (536) offenbarte Idee des Guten. An die Stelle egoistischer Bedürfnis- und Triebbefriedigung und eines auf der Maximierung von Lust und der Minimierung von Unlust und Schmerz basierenden individuellen Glücks, rückt er das uneigennützige, allen Menschen zu Gute kommende, auf Selbstbeherrschung und Affektkontrolle gestellte Gebot der Vernunft, alles Tun auf das Gute als dem Endziel aller und jeglicher Handlungen auszurichten. Während Agathon an der Teleologie des Guten als dem höchsten Zweck allen Tuns festhält, wendet Hippias die Zielrichtung menschlichen Agierens in ihr Gegenteil: Von Natur aus gibt es nur die Tendenz auf Lustgewinn, weshalb die Zwecke, die ein Mensch verfolgt, ausschließlich auf das individuelle Wohlergehen rückbezogen sind. Der im 5. vorchristlichen Jahrhundert entflammte Konflikt zwischen einer Sophistik, die die geltenden Normen und Gesetze in ihrer Verbindlichkeit radikal hinterfragt und sie letztlich als vom Menschen gesetzte und damit relative und konventionelle Regulative entlarvt, und einem Platonismus, der unverbrüchlich an allgemeinen Wahrheitsansprüchen, verbürgt durch ein transempirisches Reich der Ideen festhält, ist in Wielands Roman mit einem analogen Grundproblem der Erkenntnis- und Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts verschränkt. In Anlehnung an Ernst Cassirers Ausführungen zur Philosophie der Aufklärung charakterisieren Jacobs und Krause dieses Problem treffend als den „Widerstreit von apriorischer ethischer Forderung und desillusionierender, weil dem sittlichen Gesetz eklatant widersprechender Erfahrung“. 34 Als Agathon nach seiner Ankunft in Syracus auf den Philosophen Aristipp trifft, ist er nach den Enttäuschungen in Athen und Smyrna auf dem besten Weg der Ernüchterung. Nachdem er einsehen musste, dass er sich in Danae getäuscht und sich zum Narren seiner eigenen Verliebtheit gemacht hat, konzediert er, „dass dieses innerliche Gefühl, durch dessen Zeugnis er die Schlüsse des Sophisten zu entkräften vermeint hatte, nur ein sehr zweideutiges Kennzeichen der Wahrheit sei“ (369) und „daß Hippias eben soviel Recht habe, seinen tierischen Materialismus und seine 33 „Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf abstracte Ideen, sondern auf die Natur und würkliche Beschaffenheit der Dinge gründet, finden die Menschen an jedem Ort, so, wie sie sein können“ (104). 34 Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 58; vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 326ff. Bernadette Malinowski 62 verderbliche Moral, als die Theosophen ihre geheimnisvolle Geister-Lehre durch die Stimme innerlicher Gefühle und Erfahrungen zu autorisisieren“ (369f.). Der moralphilosophische Konflikt zwischen Agathon und Hippias verlagert sich zunehmend in das Innere des Helden selbst. Vermochte er nach seinem politischen Scheitern in Athen „einen desto stärkern Widerwillen gegen eine jede andere Gesellschaft, als eine solche, welche sich auf übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung nach moralischer Vollkommenheit gründete“ (306) zu fassen, so ergreift ihn nun nach der gescheiterten Liebesbeziehung mit Danae das Misstrauen, „sich auf die Stärke seiner Grundsätze“ (367) nicht länger verlassen zu können. Kurz, seine Erfahrungen machten ihm die Wahrheit seiner ehemaligen Denkungs-Art verdächtig, ohne ihm einen gewissen geheimen Hang zu seinen alten Lieblings-Ideen benehmen zu können. Seine Vernunft konnte in diesem Stücke mit seinem Herzen und sein Herz mit sich selbst nicht recht einig werden. (372) Anstatt sich jedoch mit diesem erlebten Zwiespalt auseinanderzusetzen und die seinem moralischen Enthusiasmus innewohnende Gefahr einer „unvermerkten Unterschiebung des Idealen an die Stelle des Würklichen“ (368) kritisch zu prüfen, sieht sich Agathon durch die „tugendhafte Begierde, in einem weiten Umfang gutes zu tun“ (373) befähigt und fasst den Entschluss, zum „Mitarbeiter an der Wiedereinsetzung Siciliens in die unendlichen Vorteile der wahren Freiheit und einer durch weise Gesetze und Anstalten verewigten Verfassung“ (373) zu werden. Noch ehe die Syrakus-Episode berichtet wird, kündigt der Erzähler das Scheitern auch dieses Unterfangens an: Agathon habe nach Syrakus kommen müssen, „um an dem Hof’ eines Fürsten zu lernen, dass auf dieser schlüpfrigen Höhe die Tugend entweder der Klugheit aufgeopfert werden muß, oder die behutsamste Klugheit nicht hinreichend ist, den Fall des Tugendhaften zu verhindern“ (374). Eben die hier diagnostizierte Kluft zwischen pragmatisch-zweckrationaler Klugheit und normativer Tugend wird Agathons letzten Absturz motivieren und markiert zugleich den zentralen Streitpunkt in seiner Auseinandersetzung mit Aristipp. Beide hatten einander bereits in Athen kennengelernt: Aufgrund seines „kalten Bluts“ und seiner „Humoristischen Art zu philosophieren“ sah Agathon in Aristipp lediglich den „Sophisten“, während umgekehrt der vor Enthusiasmus glühende Agathon sich in Aristipps Augen als ein bloßer „Phantast“ ausnahm (441f.). Bei ihrem Wiedersehen in Syrakus müssen beide jedoch ihr Urteil über den anderen revidieren: „Aristipp fand bei unserm Helden, eine Gefälligkeit, eine Politesse, eine Mäßigung, welche ihm zu beweisen schien, daß Erfahrungen von mehr als einer Art eine starke Revolution in seinem Gemüte bewürkt haben mussten“ (442) und „Agathon fand bei dem Philosophen von Cyrene etwas mehr als Witz, einen Beobachtungs-Geist, eine gesunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtigkeit der Beurteilung, welche den Schüler des weisen Socrates in ihm erkennen ließen“ (442f.). Aristipp, in der Forschung zurecht in einer „mittleren Stellung zwischen den durch Agathon und Hippias repräsentierten Extrempositionen bedingungsloser Geltungsanerkennung bzw. unbedingter Ablehnung von Moral“ 35 gesehen, wird als „gleichgültiger Zuse- 35 Frick: Providenz und Kontingenz, S. 416. Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 63 her“ (443) der Geschehnisse am Hof eingeführt. Während Agathon sich in einem politischen Aktionismus ergeht und seine Vorstellung von Tugend im politischen Engagement zu realisieren versucht, pflegt Aristipp - „von Ambition und Geldgierigkeit gleich entfernt“ (450f.) - eine skeptische Handlungsabstinenz und ist, seiner „ziemlich gemächlichen Philosophie“ entsprechend, „mehr Zuschauer als […]Acteur auf dem Schauplatz der Welt“ (450f.). Die „Heiterkeit seines Geistes“, die „Ruhe des Gemütes“ (451), die taktile Klugheit, mit der er „den Großen selbst die unangenehmste Wahrheiten […] erträglich“ zu machen versteht, seine nicht moralisch, sondern ästhetisch motivierte Liebe zur Tugend („Er liebte das Vergnügen, weil er das Schöne liebte; und aus eben diesem Grunde liebte er auch die Tugend“, solange sie ihm „keine allzu beschwerlichen Pflichten“ auferlegte), seine Devise, „daß es in unsrer Gewalt sei, in allen Umständen glücklich zu sein“, da es „nur darauf ankomme, daß wir uns nach den Umständen richten; anstatt, wie der große Haufe der Sterblichen, zu verlangen, daß sich die Umstände nach uns richten sollen“ (452) - in all dem erweist sich Aristipp als Repräsentant einer individuellen, auf innerer und äußerer Unabhängigkeit beruhenden Ethik, die ihr summum bonum jenseits eines gesinnungsethisch motivierten sozial-politischen Engagements in einer heiteren Gelassenheit des Gemüts und einer skeptisch-distanzierten Außenseiterposition findet. So signifikant sich die weltanschaulichen Positionen eines Hippias und eines Aristipp vor allem in ihren lebenspraktischen Konsequenzen unterscheiden, ist in ihrer nüchtern pessimistischen Einschätzung humaner Verhaltensweisen und deren gesellschaftspolitischen Manifestationen gleichwohl ein gemeinsamer Nenner zu sehen. Beide Figuren wurden denn auch immer wieder als Objektivationen eines aufgeklärt gegenaufklärerischen Denkens gedeutet: Wird Hippias als Vertreter einer naturwissenschaftlich beglaubigten, empirisch-kausalanalytischen Theorie beschrieben, die jedoch, wie Thomé formuliert, „wegen ihrer ruinösen sozialen und politischen Folgen verworfen“ werden müsse - sein „Discurs“ schlage um in Herrschaftsideologie zum Zwecke der „Stabilisierung des Absolutismus“ 36 -, repräsentiert Aristipp nach Frick einen „aufgeklärt-‚aristokratischen‘ Elitarismus, in dem sich, wie im übrigen auch im Scheitern der implizit demokratisch-egalitär ausgerichteten Moral Agathons, eine „skeptische Version von Aufklärung äußert, für die nicht von vornherein ausgemacht ist, dass das theoretisch und praktisch vernünftig und wahr Erkannte sich auch notwendig sozial und politisch durchsetzen und behaupten werde“. 37 Nachdem Agathon in seinem Bestreben, das hehre Ideal einer vernünftig universalisierbaren Moral im öffentlich-politischen Leben in Syrakus umzusetzen, erneut gescheitert ist, resümiert der Herausgeber im Rekurs auf fingierte bzw. nach den Gesetzen psychologischer Wahrscheinlichkeit konstruierte Selbstgespräche Agathons 38 in dem Kapitel „Moralischer Zustand unsers Helden“ die verheerenden 36 Thomé: Menschliche Natur, S. 214 u. 210. 37 Frick: Providenz und Kontingenz, S. 421. 38 Mit der Wiedergabe erfundener und in ihrem Fiktionscharakter ausgewiesener Selbstgespräche intendiert der Herausgeber die unwahrscheinliche Darstellung von Agathons Schicksal, wie sie der „Autor der alten Handschrift“ hinterlassen hat, zugunsten einer wahrscheinlichen Darstel- Bernadette Malinowski 64 Folgen dieser Enttäuschungen: Agathons „Meinung von der angeborenen Schönheit und Würde [der] menschlichen Natur“ (536) drohte so tief zu sinken, dass er Gefahr lief, seine platonischen Überzeugungen nurmehr „für Märchen aus einer andern Welt“ (537) zu halten, hingegen die von ihm einst so vehement verabscheute negativ-skeptische Anthropologie des Hippias auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen als „wahrscheinlich“ (537) legitimiert zu sehen. 39 Letztlich aber - und diese adversative Wendung des Reflexionsgeschehens ist symptomatisch für die gerade am Ende des Romans aufbrechenden narratologischen Aporien - bleibt Agathon, der trotz aller Widrigkeiten und Krisen „diesen eingewurzelten Hang zu dem idealischen Schönen“ nicht eingebüßt hat, vom Absturz in ein „animalisches Leben“ (549) verschont: Diese Betrachtungen führten unsern Helden bis an die äußerste Spitze des tiefen Abgrunds, der zwischen dem System der Tugend, und dem System des Hippias liegt; aber der erste schüchterne Blick, den er hinunter wagte, war genug, ihn mit Entsetzen zurückfahren zu machen […]. Die Tugend hatte bei ihm keinen anderen Sachwalter nötig als sein eignes Herz. (539) Das Kapitel schließt mit der vom Herausgeber geäußerten „Hoffnung“, aus dem Streit der beiden widerwärtigen und feindlichen Geister, wodurch seine ganze innerliche Verfassung seit einiger Zeit erschüttert, verwirrt und in Gährung gesetzt worden, zuletzt eine eben so schöne Harmonie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu sehen, wie nach dem System der alten Morgenländischen Weisen, aus dem Streit der Finsternis und des Lichts, diese schöne Welt hervorgegangen sein soll. (551) Ende gut, alles gut? - Die Geschichte des Agathon erweist sich bis zum Ende der Syrakus-Episode als ein, wie Reinhard Döhl treffend formuliert, „Desillusionsroman mit fallender Linie“, 40 als eine - im ganz wörtlichen Sinn - Fall-Geschichte, in deren Verlauf Agathon aus der Höhe eines glühenden Enthusiasmus für die „orphischpythagoreischen Mysterien und Spekulationen, für das republikanische Gemeinwesen Athen, für die vollkommene Geliebte Danae, für die Beförderung allgemeiner lung der weiteren Vorgänge zu korrigieren (vgl. S. 533f.). Das Postulat der Wahrscheinlichkeit, so die metapoetische Semantik dieses Kapitels, konzediert nicht nur das Fingieren von Geschehnissen, sondern macht es dort, wo die Fiktion ins Unwahrscheinlich-Phantastische zu kippen droht, geradezu notwendig. 39 Mit diesen psychologischen und - ineins damit - moralphilosophischen Selbstreflexionen Agathons wird die im „Vorbericht“ dargelegte, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgende narratologische Programmatik in den Erlebnis- und Erkenntnishorizont des Helden selbst verlagert bzw. übersetzt und damit bestätigt. Diese Koinzidenz von narrativ-ästhetischer und psychologisch-moralphilosophischer Wahrheit wird ferner dadurch nahegelegt, dass der Herausgeber zu Beginn des Kapitels (vgl. S. 533-534) erneut an eben jene im „Vorbericht“ etablierte Differenz zwischen einer den „Hirngespenstern“ des Wunderbar-Imaginären frönenden und einer dem Empirisch-Wahrscheinlichen verpflichtenden Literatur erinnert, die, so verdeutlicht diese ironische Passage des weiteren, auch für die Differenz zwischen Autor und Herausgeber kennzeichnend ist. 40 Reinhard Döhl: „Nachwort,“ In: Christoph Martin Wieland. Geschichte des Agathon, Stuttgart 2005, S. 643-679, hier S. 664. Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 65 Glückseligkeit in der philosophisch inspirierten Monarchie“ 41 in die Niederungen des Zynismus und der Misanthropie stürzt: Die Stationen seines Lebens sind Stationen seines Scheiterns. Die unverhoffte Rettung, die Agathon durch das plötzliche Erscheinen des Archytas zuteil wird, seine Aufnahme in die ideale Republik in Tarent usf. - dieses Happy End will weder zur tragischen Geschichte seiner bisherigen Vita noch zu der vom Herausgeber im „Vorbericht“ erhobenen Forderung nach ästhetischer Wahrheit - also nach der wahrscheinlichen Übereinstimmung der Geschehnisse mit dem „Lauf der Welt“ - so recht passen. Ganz offenkundig ist auch der Herausgeber der Geschichte des Agathon dieser Meinung. Lange bevor die in Tarent sich abspielenden glücklichen Ereignisse berichtet werden - und zunächst ganz ohne offenkundigen Bezug zu diesem grandiosen Finale -, beginnt der Herausgeber seine lange währende Zurückhaltung gegenüber den Erzählungen seines antiken Kollegen aufzugeben und sich mit zunehmender Aufdringlichkeit in das erzählte Geschehen einzumischen. Vergessen wir vorübergehend die glückliche Befreiung Agathons und versetzen uns noch einmal mitten in die Geschehnisse in Syrakus. Im ersten Kapitel des 10. Buchs, so unterrichtet uns die Überschrift, soll uns von den „Haupt- und Staats- Actionen“ und vom „Betragen Agathons am Hofe des Dionys“ berichtet werden. Hier erfahren wir von einigen politischen und administrativen Reformen, die Agathon in Syrakus durchgeführt hat und durch die er zu beträchtlichem Ansehen gelangt ist. Fast widersinnig erscheint gegenüber diesen inhaltlichen Schwerpunkten die umständliche Einleitung in dieses Kapitel, die aufgrund der zeitlichen Bezüge leicht als eine vom Herausgeber verfasste identifiziert werden kann. Man tadelt an Shakespear, - -, demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Könige bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jack Fallstaff am besten gekannt, und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat, - -, daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmäßigen Plan haben; daß comisches und tragisches darin auf die seltsamste Art durch einander geworfen ist, und oft eben dieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache der Natur, Tränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgend einen seltsamen Einfall oder barokischen Ausdruck ihrer Empfindungen wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkühlt, daß es ihm hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben möchte. - - Man tadelt das - - und denkt nicht daran, daß seine Stücke eben darin natürliche Abbildungen des menschlichen Lebens sind. (472) Shakespeare gehört zu jenen, welche „die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein ließen sie zu verschönern“ (473). Mit implizitem Bezug immer noch auf Shakespeares ‚tragikomische‘ Stücke heißt es allerdings nur wenig später: Und wenn […] endlich alles so kläglich verworren und durch einander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfängt; wie glücklich sehen wir durch irgend einen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden 41 Frick: Providenz und Kontingenz, S. 435. Bernadette Malinowski 66 Gott, oder durch einen frischen Degen-Hieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöst, aber doch aufgeschnitten, welches in so fern auf eines hinaus läuft, daß auf die eine oder andere Art das Stück ein Ende hat, und die Zuschauer klatschen oder zischen können, wie sie wollen oder - - dürfen. (473) Vordergründig werden mit diesem literarhistorischen Exkurs zwar die schwierigen Herausforderungen, mit denen Agathon am Hof des Tyrannen konfrontiert sein wird, vorbereitet und trotz des sich anschließenden Berichts über sein erfolgreiches Wirken das letztendliche Scheitern seiner Bemühungen antizipiert, aus der Retrospektive des eigentümlichen Romanendes betrachtet, erweisen sich diese Ausführungen jedoch als eine Form kritisch-narrativer Selbstreflexion: In dem darin angeführten Kontrast zwischen einer der imitatio naturae verpflichteten und einer dem antik-klassischen Ideal des Schönen folgenden Literatur wird Shakespeare insofern eine Mittelstellung zugewiesen, als seine Stücke zwar „Abbildungen des menschlichen Lebens sind“, der in ihnen komplex geschürzte Handlungsknoten schlussendlich aber doch durch poetische Konstruktionen wie der plötzlichen Herabkunft eines deus ex machina zum Wohlgefallen des Zuschauers gelöst wird. Der ironische Duktus, mit dem der Herausgeber derartige fiktionale Manipulationen kritisiert, kippt mit Blick auf das Finale des Romans in eine ernstzunehmende Selbstironie. Denn das an Shakespeares Stücken diagnostizierte und durch das Nachahmungs- und Wahrscheinlichkeitspostulat allererst entstehende Problem, dass „alles so kläglich verworren und durch einander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfängt“ (473), ist ein zentrales narratives Problem des Romans selbst. Dem in der Geschichte des Agathon ausgetragenen moralphilosophischen Konflikt, nämlich das Ideal tugendhaften Lebens in einer von Korruption, Eigennutz, Dummheit, Macht- und Besitzgier regierten ‚wirklichen‘ Welt nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern Ideal und Wirklichkeit, Subjekt und Welt in eine auf der Basis einer vernünftigen, realitätsgerechten Moral harmonische Übereinstimmung zu bringen, korreliert das narrative Problem, die „fallende“ Handlung - den gefallenen Helden - einem wie auch immer sinnvollen und dem Leser gefälligen, zugleich aber auch dem Postulat der Wahrscheinlichkeit folgenden Ende zuzuführen. Der im „Vorbericht“ dargelegte „Plan“, Agathons Tugendhaftigkeit empirisch zu erproben, um ihn am Ende als einen „eben so weisen wie tugendhaften“ Helden zu entlassen, und dies in einer Weise, „dass unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist“ (11), muss in den Augen derer, welche die Ambivalenzen und Unstimmigkeiten der Literatur tadeln, weil sie nicht begreifen wollen, dass sich genau darin das natürliche menschliche Leben abbildet, als ein „fehlerhafter unregelmäßiger Plan“ (472) erscheinen. Zweifelsohne trägt der Kommentar zu Shakespeare aus der Perspektive des Romanfinales apologetische Züge: Der implizite Autor rechtfertigt sich lange bevor er das narrative ‚Delikt‘ eines unbefriedigenden, weil unwahrscheinlichen Schlusses begeht, für sein erzählerisches Scheitern. Zugleich aber werden jene Dichter und Romanautoren - und mit ihnen jene Leser - vor den Richterstuhl aufgeklärten Denkens und Dichtens geführt, die sich zu manipulatorischen Kunstgriffen (happy end) verleiten lassen und deren hermeneutische Inkompetenz in einer Lesererwartung zum Ausdruck kommt, die sich von einer harmonisch-stimmigen Literatur Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 67 die Entschädigung für ein in Brüchen, Kontingenzen und Unwägbarkeiten sich vollziehendes Leben erhoffen. 42 Werfen wir einen etwas genaueren Blick auf den Schluss. Beide in dem soeben zitierten Shakespearekommentar angesprochenen Varianten von Literatur werden am Ende des Romans realisiert - und sie werden bewusst und mit allen Raffinessen narrativer Technik realisiert. Seitens der Forschung ist dieser „‚Doppelschluss‘“ der Geschichte des Agathon wiederholt registriert worden, 43 und pointiert spricht Frick vom „chiastischen, Antiklimax und Klimax schroff nebeneinanderstellenden Bau“ 44 des Romanendes. Das erste Finale führt, wie wir gesehen haben, die Entwicklung des Helden „mit plausibler, aber moralisch verstörender Geradlinigkeit und Konsequenz in den Kerker von Syrakus“. 45 Im zweiten Finale hingegen finden wir - bewerkstelligt durch ein alles andere als kausalanalytisch nachvollziehbares Erzählarrangement - unseren Helden in die tugendhafte Enklave von Tarent versetzt. Dementiert das Syrakus-Finale - entgegen des im „Vorbericht“ verheißenen Telos’ von einem harmonisch-glücklichen Ende, dafür jedoch im Einklang mit der ebenfalls dort formulierten empirischen Programmatik - ganz entschieden die Vereinbarkeit von Moral- und Realitätsprinzip, Subjekt und Welt, so löst umgekehrt das Tarent- Finale das gegebene Versprechen, den Helden „glücklich“ zu machen, zwar ein, ist damit aber gezwungen, eben den programmatisch formulierten Anspruch auf ästhetische Wahrheit aufzukündigen. Werden wir am Ende der Syrakus-Episode mit einem frustrierten und verbitterten Helden konfrontiert, dessen Heldenstatus derart fragwürdig geworden ist, dass der Herausgeber sich bemüßigt sieht, diese Fragen in einem lebhaften Disput mit seinen Lesern zu erörtern (vgl. 541-545), so treffen wir in Tarent auf einen Agathon, der „so glücklich ist, als es vielleicht noch kein Sterblicher gewesen ist“ (598). Die zwischen beiden Finalkonstruktionen sich auftuende Kluft - eine Leerstelle, die größer kaum sein könnte - wird von metafiktionalen Reflexionen seitens des Herausgebers überbrückt, ohne allerdings in der Art einer coincidentia oppositorum ineinander überführt und aufgehoben zu werden. Reaktiviert wird vielmehr jene im „Vorbericht“ eingeführte Spaltung der narrativen Instanz in den Herausgeber des historischen Textes und dessen antiken Autor. Die beiden zentralen Postulate und Versprechungen der Vorrede, nämlich einerseits die empirische Plausibilität des Erzählten aufrechtzuerhalten, andererseits aber auch das dem Helden prophezeite Gelingen, die „teleologische Synthesis von Tugend und Glückseligkeit“ 46 einzulösen, 42 Implizit wird hier eine produktions- und gleichermaßen rezeptionsästhetisch motivierte Ethik entfaltet, die, indem sie die Bedingungen einer die Vielfalt und die Widrigkeiten humanen Lebens ausblendenden oder zumindest teleologisch nichtenden literarischen Produktion und Rezeption reflektiert, das Ethos der Literatur gerade in ihrer Affinität zur Lebenswelt sehen möchte. 43 Ausführlich dazu Frick: Providenz und Kontingenz, S. 483-495 und Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 158-187. 44 Frick: Providenz und Kontingenz, S. 434. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 489. Bernadette Malinowski 68 wird schlichtweg auf beide Textinstanzen verteilt: Während der antike Autor sich nicht scheut, sämtliche fiktionale Register zu ziehen, um den gestrauchelten Helden allen Regeln der Wahrscheinlichkeit zum Trotz in die elysischen Höhen Tarents emporzuheben, kann sich der moderne aufgeklärte Editor ganz auf seinen Kritikerposten zurückziehen und das Werk seines Kollegen nach Belieben kommentieren, kritisieren, reflektieren, ja sogar umschreiben, um lästige Digressionen kürzen oder um ganze Kapitel erweitern. Diese Aufspaltung der Erzählerinstanz - heute würde man wohl eher sagen: dieses narrative ‚job-sharing‘ - wird in dem zentralen, mit „Apologie des griechischen Autors“ betitelten Erstkapitel des elften und letzten Buchs umfangreich dargelegt: Bis hieher [gemeint ist bis zum Schluss der Syrakus-Episode] scheint die Geschichte unsers Helden, wenigstens in den hauptsächlichsten Stücken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir keinen Grund sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer Welt, welche, unparteiisch von der Sache reden, zu allen Zeiten nichts bessers als eine Werkel-Tags-Welt (wie Shakespear sie irgendwo nennt) gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern, ihm hierin soviel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unsere Absichten sind bereits erreicht, und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem Agathon noch bevorstehen mögen, haben nichts damit zu tun. (552) Distanziert sich der Herausgeber in diesem Kommentar mit aller Vehemenz von der idyllisch-utopischen Überformung, die der antike Autor der Biographie Agathons mit dem Tarent-Finale zuteil werden lässt, ja steigert er seine Kritik bis zum entschiedenen Dementi dieser Happy-End-Lösung und sieht es bestenfalls dadurch gerechtfertigt, „daß der Autor allen den gutherzigen Leuten, welche […] es gerne haben, wenn sich am Ende alles zu allerseitigem Vergnügen, mit Entdeckungen, Erkennungen, glücklichem Wiederfinden der verlornen Freunde, und etlichen Hochzeiten endet, einen Gefallen getan habe, seinen Helden, nachdem er eine hinlängliche Anzahl guter und schlimmer Abenteuer bestanden hat, endlich für seine übrige Lebens-Zeit glücklich zu machen“ (552f.). Der sarkastische Duktus dieser Passage kehrt die Apologie des griechischen Autors letztlich in eine anklagende Schelte um, die sich sowohl auf den Autor als auch seine „gutherzigen Leser“ (553) bezieht. In gewisser Weise - und in Feinheiten wie diesen erkennt man den genialen Erzähler Wieland - legitimiert der Herausgeber dieses naive Schreib- und Leseverhalten, wenn er konzediert, dass der griechische Verfasser „hierin seinem guten Naturell den Lauf gelassen hat; denn in der Tat, scheint es ein Zeichen eines harten und grausamen Herzens zu sein, welches ein Vergnügen an der Qual und den Tränen seiner unschuldigen Leser findet“ (553). Der Wunsch nach einem glücklichen Ende - das Gefallen am Kitsch - wird letztlich als durchaus kompatibel mit dem „Lauf der Welt“ menschlichen Verhaltens entschuldigt und das Postulat der Wahrscheinlichkeit von der Ebene des Plots schlicht auf die des Diskurses verlagert. Möglicherweise Christoph Martin Wieland Geschichte des Agathon 69 aber hätte der antike Verfasser auch nur „dem Vorwurf ausweichen“ wollen, „welchen Horaz […] denjenigen Dichtern macht, in deren Werken das Ende sich nicht zu dem Anfang schickt“ (553). Um diesem poetologischen Grundsatz also gerecht zu werden, blieb dem Manuskriptverfasser nichts anderes übrig, „als seinen Helden in diesen Zusammenhang glücklicher Umstände zu setzen, in welchen er sich nun bald, zu seinem eigenen Erstaunen, befinden wird“ (556). Mit anderen Worten: Wenn es in der empirischen Welt schon keine Entsprechungen zu den Idealen unseres Helden gibt, so müssen solche Korrelate eben geschaffen werden. „Man hilft sich wie man kann, und wenn es auch durch einen Sprung aus dem Fenster sein sollte“ (557), will sagen: durch den Sprung in die pure Fiktion. Letztlich jedoch lassen beide kontrastiv aufeinander bezogenen und nicht vermittelbaren Schlussvarianten die zentralen moralphilosophischen Dichotomien des Romans auf struktureller Ebene und im dialektischen Widerstreit zwischen antikem Verfasser und aufgeklärtem Editor noch einmal in aller Schärfe hervortreten. Was immer Lessing damit gemeint haben mag, dass die Geschichte des Agathon ein Buch von echtem „klassischem Geschmacke“ sei: das für eine ‚klassische‘ Ästhetik goethescher und schillerscher Provenienz charakteristische Versöhnungsparadigma wird hier - unterzieht man den Doppelschluss einer synoptischen Lektüre - jedenfalls nicht nur entschieden verweigert, sondern überdies äußerst kritisch reflektiert. Entgegen Blanckenburgs Postulat, der Charakterroman habe den Leser einem idealistischen Telos, einem „beruhigenden Punkte“ 47 zuzuführen, endet Wielands Roman sowohl in moralphilosophischer als auch ästhetischer Perspektive in einem reflektierten Scheitern und lässt den Leser mit dem zurück, was Jauß mit Blick auf Diderots „Le neveu de Rameau“ das „Skandalon der ungelösten Aporie“ 48 genannt hat. Gerade darin jedoch erweist sich der Roman als ein zutiefst ‚aufgeklärter‘, als ein „philosophischer Roman“ für den „denkenden Kopf“, ein Roman, der nichts propagiert, aber alles problematisiert, ein Roman auch, für den gegen alle synthetischen Lösungen - und lange vor dem postmodern diagnostizierten Ende der ‚großen Erzählungen‘ (Lyotard) - „der kritische Weg […] allein noch offen“ ist. 49 Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman . Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Stuttgart: Metzler, 1965. Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Erste Fassung. Unter Mitwirkung v. Reinhard Döhl. Hg. Fritz Martini. Stuttgart: Philipp Reclam, 2005. 47 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 394. 48 Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/ M. 1982, S. 475. 49 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 2, Frankfurt/ M. 1974, S. 712. Bernadette Malinowski 70 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft . Hg. Wilhelm Weischedel. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp, 1974. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie . In: Lessings Werke 1767-1769. Hg. Klaus Bohnen (= Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6). Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1985. Forschungsliteratur: Bickenbach, Matthias: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens. Tübingen: Niemeyer, 1999. Döhl, Reinhard: „Nachwort.“ In: Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon . Stuttgart: Philipp Reclam, 2005, S. 643-679. Erhart, Walter: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon“- Projekt. Tübingen: Niemeyer, 1991. Frick, Werner: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts . 2 Bde. Tübingen: Niemeyer, 1988. Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1975. Gutjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman . Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007. Jacobs, Jürgen, Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck, 1989. Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München: Wilhelm Fink, ²1983. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik . Frankfurt: Suhrkamp, 1982. Jørgensen, Sven-Aage, Herbert Jaumann u.a.: Wieland. Epoche - Werk - Wirkung . München: C. H. Beck, 1994. Lämmert, Eberhart: „Nachwort.“ In: Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Stuttgart: Metzler, 1965, S. 541-583. Manger, Klaus: „Kommentar.“ In: Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon , Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1986, S. 797-1114. Oettinger, Klaus: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands. München: Wilhelm Fink, 1970. Thomé, Horst: „Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands Die Geschichte des Agathon.“ In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 22 (1978). S. 205-234. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion - Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München: Wilhelm Fink, 2008. Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus Martin Middeke I. Zeit: Sommer 1816; Ort: Genfer See. Percy Bysshe Shelley, der berühmte (und berüchtigte) englische Dichter, ist mit seiner jungen Frau, der 19-jährigen Mary Shelley, Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Philosophen William Godwin, an den Genfer See in die Nachbarschaft Lord Byrons gezogen. Obwohl Shelley selbst erst gerade 23 Jahre alt ist, hat er doch ein Leben schon hinter sich: Nachdem er wegen eines blasphemischen Pamphlets aus Oxford entlassen wird, heiratet Shelley 1811 die damals erst 16-jährige Harriet Westbrook. Harriet und Shelley bekommen bis 1814 zwei Kinder, Ianthe und Charles. Seit 1814 jedoch liebt Shelley, der im Hause der Godwins ein und aus geht, bereits Mary, mit der er 1815 in die Schweiz flüchtet. Mary wird schwanger und bringt eine Tochter auf die Welt, die allerdings nach wenigen Tagen stirbt. Erneut schwanger bringt Mary im Frühjahr 1816 ihren Sohn William zur Welt. Ein Jahr später wird die Tochter Clara geboren. Dies sind die ersten einer ganzen Reihe von toten oder allein gelassenen Kindern, die das Leben der Shelleys begleiten. Seine Kinder mit Harriet hat er nie mehr gesehen, Clara stirbt 1818, Marys Schwester Fanny wird noch im Oktober 1816 Selbstmord begehen, einen Monat später ertränkt sich Shelleys erste Frau, erneut schwanger, in der Londoner Serpentine; 1819 stirbt William, Shelleys geliebter Sohn, den er „Willmouse“ nannte im Alter von drei Jahren an Malaria. Dagegen wirkt der Sommer des Jahres 1816 am Genfer See wie die Ruhe vor dem Sturm. „We will each write a ghost story,“ erinnert Mary Shelley im berühmten Vorwort zur Frankenstein 1 -Ausgabe von 1831 die Aufforderung Lord Byron. Und sie geht mit einer Geschichte schwanger, einer Geschichte „which would speak to the mysterious fears of our nature, and awaken thrilling horror - one to make the reader dread to look round, to curdle the blood, and quicken the beating of the heart“ (170-171). Mary liegt im Bett, zuerst schlaflos, dann träumt sie: von dem jungen Studenten der Naturwissenschaft, der nach dem Geheimnis des Lebens forscht und neben dem Ding, das er erschaffen hat, kniet. Jetzt weiß sie, welche Geschichte sie erzählen will, welche ungestalte Nachkommenschaft sie gebären will: 1 Ich zitiere aus folgender kritischen Ausgabe: Mary Shelley, Frankenstein, Hg. J. Paul Hunter. London: Norton, 1996, S. 1-156. Sämtliche Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Martin Middeke 72 And now, once again, I bid my hideous progeny go forth and prosper. I have an affection for it, for it was the offspring of happy days, when death and grief were but words, which found no true echo in my heart. (173) Die zeitgenössischen Reaktionen auf Mary Shelleys Monster waren unzweideutig: John Croker sei hier exemplarisch angeführt, der in seiner Rezension der Erstausgabe des Romans im Jahre 1818 „the unmeaning hollowness of its sound“ und „the vague obscurity of its images“ rügt. Es blieben ihm ernste Zweifel, „whether the head or the heart of the author be the most diseased“. Die ganze Geschichte gliche „a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.“ Hier zur Erinnerung eine kurze Handlungsskizze: Dem jungen, ehrgeizigen Wissenschaftler Victor Frankenstein gelingt es, aus Leichenteilen einen künstlichen Menschen zu erschaffen und zum Leben zu erwecken. Die so entstandene Kreatur ist allerdings so unförmig, dass sie keinem Menschen ähnelt, sondern zu einem Monstrum wird. Entsetzt lässt Victor sein Geschöpf im Stich und überlässt es seinem Schicksal. Durch sein abstoßendes Äußeres verbreitet es bei den Menschen Angst und Schrecken, obwohl es zunächst durchaus menschenfreundlich ist und sich nach Zuneigung und Anerkennung sehnt. Aufgrund der wiederholt erfahrenen Ablehnung wird aber aus der zunächst benevolenten „Kreatur“ dann tatsächlich das „Monster,“ das die andern in ihm sehen. Als Victor seine Bitte nach Erschaffung einer Gefährtin - nach anfänglicher Einwilligung - dann doch nicht erfüllt, weil er sich vor den möglichen Nachkommen einer solchen Verbindung fürchtet, ermordet das Monster immer mehr Menschen, die Victor nahestehen - seinen Bruder, seinen Freund, seine frisch angetraute Frau. Frankenstein macht sich auf die Verfolgung seines Geschöpfs, die ihn durch das nördliche Europa bis in die Arktis führt, muss jedoch schließlich erschöpft aufgeben und wird vom Schiff des Polarforschers Walton aufgegriffen. Diesem erzählt er die Geschichte seiner Hybris und der nachfolgenden Katastrophe. Am Ende stirbt Frankenstein auf Waltons Schiff an Erschöpfung, während das Monster auf einer Eisscholle allein ins arktische Meer treibt. Walton beschließt unter dem Eindruck von Frankensteins Erfahrungen, seine riskante Expedition zum Nordpol abzubrechen. Die Struktur des Romans ist die einer klassischen Rahmenerzählung: den Rahmen bildet der Bericht Waltons (in Briefen an seine Schwester), welcher die Binnenerzählungen Victor Frankensteins und des Monsters enthält. Diese zentralen drei Erzählungen sind wie konzentrische Kreise aufeinander bezogen und enthalten noch andere Perspektiven/ Erzählungen (Justine, Elizabeth, Safie) schachtelartig in sich. Auf die Nähe zwischen Schöpfer und Geschöpf werde ich noch zu sprechen kommen, die Handlungsstruktur und die Motivstruktur des Romans sind von offenkundigen Parallelen mit Differenzen gekennzeichnet. Charaktere wie Handlungssequenzen finden ihre Echos im Verlauf des Romans: Sein Jugendfreund Clerval etwa erscheint als ein Double Frankensteins; seine Frau Elizabeth und die Dienerin Justine sind beide von der Frankenstein-Familie aufgenommen und vor Armut gerettet worden; beide beschuldigen sich gegenseitig, Frankensteins Bruder ermordet zu haben. Ein handlungsbestimmendes Motiv des Romans ist das Spannungsfeld zwischen Elternschaft (und Verantwortung) auf der einen und Verlassen-Werden auf Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus 73 der anderen Seite. Frankenstein ist der Vater seiner Kreatur; das Monster fragt nach einer Gefährtin; Frankensteins Vater hat Victor eine Gefährtin gegeben; und wenn sein eigener Vater ihn zuletzt aufsucht nach dem Tode Clervals, glaubt Victor (im Wahn) zunächst, dass sein Besucher der Mörder ist. Die Halluzination Victors reflektieren die engen, beinahe inzestuösen Bindungen in der Frankenstein Familie. Frankensteins Mutter ist die Tochter eines Kaufmanns, der aus Stolz den Untergang seiner Familie heraufbeschwört; ebensolches passiert auch in der de Lacey Familie, als deren Vater Safie und ihren Geliebten verrät und damit zum Grund des Niedergangs der Familie wird. Walton natürlich, der Rahmenerzähler, ist auch ein Double Frankensteins. In der Metaphorik des Ancient Mariner von Coleridge, ist Walton der Wedding Guest, der die Geschichte des Seefahrers anhören muss. Er ist das Bindeglied zwischen unserer Welt und der Frankensteins. Das zentrale Organisationsprinzip der Erzählstruktur ist eine narrative Wiederholung der Thematik von Geburt und ‚Aufwachsen‘: Waltons Erzählung gebiert Frankensteins Erzählung, die wiederum diejenige des Monsters gebiert. Dies suggeriert zunächst eine sowohl argumentative als auch ethisch-moralische Klarheit, die der Roman gleichwohl, wie zu zeigen sein wird, nicht einzulösen in der Lage ist. II. Im Reich des Monströsen begegnen uns Ungeheuer und ‚Abnormes‘, deren Wesensmerkmale etablierte Kategorisierungen und menschliches Fassungsvermögen überschreiten. Michaela Holdenried erinnert an „Kynokephale, kopflose Blemmyer, schirmfüßige Skiapoden, Panotier, Amyktyre, Donestren, Sirenen“ in der Antike sowie „Freaks, Zirkusmenschen wie die behaarte Dame und der Liliputaner, Elefantenmenschen, Untote, Wiedergänger und Mutanten in Horrorfilmen“ in unserer Lebenswelt. 2 2 Michaela Holdenried, „Häßlichkeit und Devianz: Monster, Mythen, Menschenkunden um 1800,“ in: Alexandra Böhm/ Monika Sproll (Hg.) Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 213. Martin Middeke 74 Das Monster ist eine Ausgeburt des menschlichen Geistes. Als imaginärer Charakter in Geschichten oder in der Funktion metaphorischer Hilfsmittel wird das Monster zum Inbegriff des Seltsamen, Verstörenden, Disproportionalen und Ungewissen, zum Unbestimmbaren, zum Bedrohlich-Anderen, das damit als mysteriös, verängstigend, unheimlich, faszinierend und wunderbar zugleich klassifiziert wird. Monster verweigern sich leichter Kategorisierbarkeit und hinterfragen traditionelle Ordnungsmuster. Dabei sind sie nicht nur Verbildlichungen des Anderen oder kultureller Alterität, mehr als nur gegendiskursive Formationen von Anti-Rationalität. Sie sind Zeichen von Hybridität, sie brechen traditionelle (rationale) Ordnungsvorstellungen auf und zeigen damit wie schwierig, ja wie unmöglich es ist, zwischen Innen und Außen, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Kultur und Nicht-Kultur, zwischen Realität und mythischer Welt, zwischen Bewußtem und Un-Bewusstem in binären Oppositionen zu unterscheiden. Paul Goetsch hat ausgezeichnet dargelegt, dass Monster die liminale Zone des Dazwischens solcher Oppositionen bewohnen und gerade aus dieser liminalen Position heraus hervorragend in der Lage sind, Klassifikationen, Typologien, Raster zu hinterfragen, aufzubrechen oder gar aufzulösen. 3 3 Siehe Paul Goetsch, Monsters in English Literature: From the Romantic Age to the First World War. Frankfurt a. M.: Lang, 2002, S. 14-15. Abb. 1: Gustave Moreau, „Hydra“ (1876) Abb. 2: Peter Paul Rubens, „Das Haupt der Medusa“ (1617/ 18) Abb. 3: Ridley Scott (Dir.), Alien (1979) Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus 75 Das Monströse macht folglich eine seltsame, phantastische Welt für einen Augenblick zugänglich und gestattet einen flüchtigen Blick auf die Existenz des Verdrängten oder Versteckten. Mary Shelleys Frankenstein befindet sich, wie Sabine Schülting gezeigt hat, thematisch an einem Schnittpunkt von poetologischen und physiologischen Fragestellungen. Eine zentrale Frage, die um 1800 unter Anatomen und Physiologen kontrovers diskutiert wurde, war die nach einer möglichen Existenz eines ‚Prinzips des Lebens‘ und seiner Wirkungsweise. Für die Vitalisten waren die galvanischen Experimente des italienischen Anatoms Luigi Galvani besonders interessant, der in den 1780er Jahren bei der Sektion eines Froschs beobachtet hatte, dass Elektrizität eine Kontraktion der Muskeln des Tieres zur Folge hatte. Auch Byron und Shelley - so Mary Shelley im bereits erwähnten Vorwort zu Frankenstein - zeigten sich von Experimenten von [Erasmus - MM.] Darwin - „who preserved a piece of vermicelli in a glass case. Till by some extraordinary means it began to move with voluntary motion“ - und Galvanismus fasziniert und überlegten: „Perhaps a corpse would be reanimated; galvanism had given token of such things: perhaps the component parts of a creature might be manufactured, brought together, and endued with vital warmth“ (170-171). Abb. 4: Luigi Galvani (1737-1798), Versuchsanordnung des Froschschenkel- Experiments, aus dem De viribus electricitatis in motu musculari commentarius (1791) Schülting erinnert in diesem Zusammenhang auch an Sir Humphrey Davy (Professor für Chemie an der Royal Institution in London) und dessen durch Galvani inspirierten elektrochemischen Experimente, welche in der hitzigen, zwischen 1814 und 1819 geführten Debatte um ein Prinzip des Lebens relevant werden sollten, die zwischen William Lawrence und seinem ehemaligen Lehrer John Abernethy, Physiologe und Schüler des Anatomen John Hunter ausgetragen wurde. 4 4 Siehe Sabine Schülting, „,A gordian shape of dazzling hue‘: Monster und Menschen in Frankenstein und Lamia ,“ in: Alexandra Böhm/ Monika Sproll (Hg.) Fremde Figuren. Alterisie- Martin Middeke 76 Victor Frankensteins Forschungen zeigen sich von diesen Kontroversen um das Lebensprinzip geleitet. Er betont: „One of the phenomena which had peculiarly attracted my attention was the structure of the human frame, and, indeed, any animal endued with life. Whence, I often asked myself, did the principle of life proceed? “ (30), und schon als Kind träumt er (die narzisstische Überhöhung seiner selbst dabei durchaus unterschätzend): I entered with the greatest diligence into the search of the philosopher’s stone and the elexir of life. But the latter obtained my most undivided attention: wealth was an inferior object; but what glory would attend the discovery, if I could banish disease from the human frame, and render man invulnerable to any but a violent death! (22) Frankenstein macht an der Universität größte Fortschritte, hat rasch das gelernt, was er von seinen Professoren glaubt lernen zu können. Angetrieben von „supernatural enthusiasm“ (30) - mit ebensolcher „supernatural speed“ (65) bewegt sich sein Geschöpf später auf ihn zu - studiert er den menschlichen Körper und seinen Verfall und lernt eines Tages, wie man aus toter Materie lebendige macht. Hier entsteht der Plan, ein menschliches Wesen zu erschaffen, eines von riesiger monströser Statur. Remember, I am not recording the vision of a madman. The sun does not more certainly shine in the heavens, than that which I now affirm is true. Some miracle might have produced it, yet the stages of the discovery were distinct and probable. After days and nights of incredible labour and fatigue, I succeeded in discovering the cause of generation and life; nay, more, I became myself capable of bestowing animation upon lifeless matter. […] […] I began the creation of a human being. As the minuteness of the parts formed a great hin drance to my speed, I resolved, contrary to my first intention, to make the being of a gigantic stature; that is to say, about eight feet in height, and proportionably large. (30-32) Sein Geschöpf ist beunruhigend, weil es sich nicht durch die binären Oppositionen ‚Mensch‘ versus ‚Nicht-Mensch‘ bzw. ‚Leben‘ versus ‚Tod‘ fassen lässt: Es ist gleichzeitig lebender Organismus und aus Leichenteilen zusammengesetzt; empfindet wie ein Mensch und wird doch als Monster wahrgenommen. Es beweist die Möglichkeit wissenschaftlicher Kontrolle über ein ‚Prinzip des Lebens‘ und ist doch Produkt der ekelerregenden Abfälle des Seziersaals. Anders als Gott in Genesis 1, der seine Schöpfung betrachtet und „sah, dass es gut war“, sieht Frankenstein seine Kreatur an und sieht, dass ES nicht gut ist. It was on a dreary night of November, that I beheld the accomplishment of my toils. With an anxiety that almost amounted to agony, I collected the instruments of life around me, that I might infuse a spark of being into the lifeless thing that lay at my feet. It was already one in the morning; the rain pattered dismally against the panes, and my candle was nearly burnt out, when, by the glimmer of the half-extinguished light, I saw the dull yellow eye of the creature open; it breathed hard, and a convulsive motion agitated its limbs. rungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 229-246. Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus 77 How can I describe my emotions at this catastrophe, or how delineate the wretch whom with such infinite pains and care I had endeavoured to form? His limbs were in proportion, and I had selected his features as beautiful. Beautiful! - Great God! His yellow skin scarcely covered the work of muscles and arteries beneath; his hair was of a lustrous black, and flowing; his teeth of a pearly whiteness; but these luxuriances only formed a more horrid contrast with his watery eyes, that seemed almost of the same colour as the dun white sockets in which they were set, his shrivelled complexion, and straight black lips. (34) Victor charakterisiert sich selbst als „overreacher“, als jemanden, der seine menschlichen Grenzen nicht oder nicht mehr kennt, größenwahnsinnig, anmaßend. Damit wird er selbstverständlich zum Inbegriff des romantischen Helden, Inbegriff romantischer Subjektivität und romantischen Strebens nach dem Unendlichen, Inbegriff romantischen Genies. Wie Paul Goetsch gezeigt hat, ähnelt er in seinem Interesse an Alchemie, seiner Unzufriedenheit mit der Beschränktheit universitärer Standards, in seiner Sehnsucht nach Ruhm und seiner Verachtung von moralischen und natürlichen Grenzen ähnelt Faust und dessen Suche nach Erkenntnis nach dem dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. 5 Frankenstein ist ebenso, wie im Untertitel des Romans angedeutet, der moderne Nachfahre des Prometheus. Dieser Mythos ist aber doppelt codiert, ambivalent, und Frankenstein deckt, wie Goetsch richtig zeigt, die ganz Bandbreite von Assoziationen dieser Doppelcodierung ab. Er ist Prometheus plasticator , der den Menschen aus Lehm formt und ihn mit einem Funken und ihn mit einem Funken zum Leben erweckt, und er ist zugleich Prometheus pyrphoros , der gegen Zeus‘ tyrannische Unterdrückung aufbegehrt indem er den Menschen das Feuer gibt und dafür bestraft wird: Prometheus wurde Hephaistos übergeben, dieser musste ihn an eine Felswand vor einem schauderhaften Abgrund im Kaukasus schmieden. Täglich sollte ein Adler kommen und an der Leber des Unglückseligen fressen, die sich immer wieder erneuerte, da er ja ein Unsterblicher war. Mary Shelley kannte Byrons „Prometheus“ und Byrons promethische Stück Manfred gut. Percy Shelley wird 1820 seinen Prometheus Unbound veröffentlichen. Während Prometheus das Feuer von den Göttern stiehlt, begehrt Frankenstein gegen alle Warnungen seiner Lehrer auf. Wie das nun zu bewerten ist - als heroische Tat mit heroischer Absicht oder als Handlung verdammt durch anmaßend blasphemische Selbstüberschätzung - bleibt einigermaßen ambivalent: Für Robert Walton und dessen eigenen eigenen promethischen Wunsch, bleibt Frankenstein ein nobler Mann. Frankenstein ist einerseits ehrenhaft, eindrucksvoll und bewundernswert selbst im Moment der Niederlage, andererseits zahlt er einen furchtbaren Preis für seinen Ehrgeiz mit dem Entfremdungsprozess von seiner Familie, seiner Liebe, der Gesellschaft und damit einhergehend mit dem solipsistischen Um-Sich-Selbst-Kreisen: „Unlike Elizabeth, he does 5 Meine Darstellung folgt hier detailliert der Interpretation Paul Goetschs, Monsters in English Literature , S. 80-90. Martin Middeke 78 not care about poetry and nature; unlike his friend Clerval, he is not interested in the ‚moral relations of things.‘ Instead, he is obsessed with the ‚secrets of nature.‘“ 6 Frankenstein erinnert an Satan aus Miltons Paradise Lost ; an den Ancient Mariner aus Coleridges berühmten Gedicht - an den Sündenfall, an das Leiden, nachdem der Seefahrer den Albatros getötet hat und ihn von der Crew des Schiffes als Warnung um den Hals gelegt bekommt. Frankenstein träumt schwer: I thought I saw Elizabeth, in the bloom of health, walking in the streets of Ingolstadt. Delighted and surprised, I embraced her; but as I imprinted the first kiss on her lips, they became livid with the hue of death; her features appeared to change, and I thought that I held the corpse of my dead mother in my arms; a shroud enveloped her form, and I saw the grave-worms crawling in the folds of the flannel. I started from my sleep with horror; a cold dew covered my forehead, my teeth chattered, and every limb became convulsed; when, by the dim and yellow light of the moon, as it forced its way through the windowshutters, I beheld the wretch - the miserable monster whom I had created. (35) Hier wird deutlich, wie sehr Frankensteins Versuch, Leben zu schaffen mit dem Tod der Mutter verklammert ist. Eine ganze Reihe feministischer Interpretinnen, etwa Margaret Homans, Anne K. Mellor, Mary Poovey, Sandra M. Gilbert und Susan Gubar oder Elisabeth Bronfen haben diesen Schlüsselsachverhalt als Versuch, Mutter und Verlobte zu vergessen interpretiert, als Versuch, die weibliche oder mütterliche Seite aus dem Schöpfungsakt auszugrenzen; als misogyn patriarchalischen Akt Vater und Mutter zugleich sein und damit Frauen im Schöpfungsakt überflüssig machen zu wollen, womit Frankenstein nicht nur die natürliche Ordnung der Dinge stört, sondern auch seiner eigenen Natur zuwider handelt. Mutter und Geliebte werden so im Traum zu unheimlichen Verkörperungen einer verdorbenen Seele oder Anima (nach C. G Jung). Genau auf derselben Linie mag man auch Frankensteins Monster deuten: als Chiffre fehlgeleiteter Anima. Solches psychoanalytische Lesen ließe sich fortsetzen: auf die Körperfeindlichkeit dieser Frankenstein-Zeugung, dem Ekel gegenüber Sexualität auf der einen und den nekrophilen Züge von Sexualität auf der anderen Seite, die den Tod im Schöpfungsakt ironischerweise dadurch zu überwinden trachtet, dass sie Leichenteile wiederum zusammensetzt, sei nur schlaglichtartig verwiesen. Es ließe sich argumentieren, dass das Monster Repräsentant des Abjekten ist, wie es Julia Kristeva 1980 in Powers of Horror. An Essay on Abjection rekurrierend auf Sigmund Freuds Schriften zu Angst, Phobie und Psychosen entwickelte. Unter ‚abjekt‘ versteht Kristeva zunächst alles, was in einem Menschen Ekel und Aversion hervorruft: Aas, Leichen, Eiter, Ekel vor bestimmten Lebensmitteln wie z.B. der Haut der Milch und Phobien vor Mäusen oder Spinnen sind dafür prototypische Beispiele. Nach Kristeva hat das Abjekte nur eine einzige zentrale Qualität und Funktion: es konfrontiert uns mit unseren Grenzen, unseren Ängsten, und es führt uns vor die Augen, das das Leben immer schon vom Tode infiziert ist. Genau deshalb stört das Monster seinen Schöpfer, trifft ihn ins Mark seines hochmütig narzisstischen Kerns, der doch so gerne 6 Goetsch, Monsters in English Literature, S. 83-84. Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus 79 Herr über Leben und Tod gewesen wäre. Wenn sich ein Ich konstituiert, wird das Abjekte verdrängt - nur um an anderer Stelle jedoch sich wieder ins Bewusstsein zu rufen. Denken Sie etwa an einen anderen ‘mad scientist’ wie Dr Jekyll, den Victorianischen Arzt, der an sich experimentiert und der damit Mr Hyde frei lässt, dass heißt, die Sehnsüchte, die so lange verdrängt wurden. Dies produziert das Un-heimliche, das versteckt hätte bleiben sollen, aber es nicht tat, wie Schelling meinte oder wie Freud, der Schelling zustimmte und der ebenso davon ausging, dass das Umheimliche zugleich heimisch sei und heimlich bleiben müsse: Das Wiederaufkommen von infantilen Weltbildern, on denen der realistische und aufgeklärte Erwachsene meint, sie überwunden zu haben; Wünsche, die eine Allmacht der Gedanken suggerieren; die ständige, unvermeidliche Wiederkehr gleicher Situationen, die einen unheimlichen Wiederholungszwang nahe legen. Als unheimlich wird alltagssprachlich etwas bezeichnet, das uns in seiner befremdlichen und beängstigenden Erscheinung verunsichert. Nach Freud jedoch ist das Unheimliche das einst Vertraute (der infantile Wunsch, das naive, kindliche Weltbild etc.), das verdrängt wurde und sich un bewusst verborgen hielt. Im unheimlichen Erlebnis kehrt das Verdrängte in entfremdeter Form wieder. Nachdem er ihm Leben gegeben hat, gehört das Monster unabtrennbar, irreversibel zu Frankenstein. Und es verfolgt ihn - vom ersten Moment an bis zu seinem Tod. Als Frankenstein seine Kreatur, sein Monster durch die Schneeebenen Russlands bis in die Eiswüsten der Arktis jagt, da sorgt der Gejagte dafür, dass der Kontakt zu dem ihm nur mühsam folgenden Jäger nicht verlorengeht und dass dieser hin und wieder, wenn ihm die Kräfte auszugehen drohen, ein Stückchen Beute zum Überleben vorfindet. Frankenstein ist so Jäger und Gejagter zugleich. Er ist der gejagte Jäger, der sich in seiner eigenen Falle fängt. Mary Shelleys psychologische Einsicht in das Aneinandergekettetsein von Schöpfer und Geschöpf ist ganz außergewöhnlich eindrucksvoll und eindringlich gestaltet. Wie Doppelgänger können Frankenstein und sein Geschöpf, das bis zum Ende namenlos bleibt, als die zwei auseinander gerissenen Hälften eines nach Einheit verlangenden Wesens verstanden werden. Sie verhalten sich komplementär zueinander wie Herr und Knecht, Opfer und Täter, Messer und Wunde. Äußerer Terror und innerer Horror werden dabei zu einer ganz erstaunlich unheimlichen Monstrosität verschmolzen. Und wie alle verschiedenen Filmversionen des Stoffes zeigen, ist Frankenstein tatsächlich zunächst einmal auch eine äußerst gruselige Geschichte. Niemand, der Boris Karloff in der berühmten ersten Verfilmung von James Whale aus dem Jahre 1931 gesehen hat, wird vergessen können, wie das Monster das ahnungslose Kind am See ermordet, welches ihm zunächst in völliger Naivität Blumen entgegenstreckt. Das Monster hat jedoch nicht nur komplementäre Funktion im Hinblick auf seinen Schöpfer. Das Monster, die Kreatur, das Geschöpf, hat seine eigene Geschichte. Er wird zu Beginn seines Lebens sich selbst und der Natur überlassen. Man soll wohl davon ausgehen, dass das Monster als unschuldig wie das Kind bei Rousseau, als eine tabula rasa im Sinne John Lockes aufzufassen sei, auf die das Leben und die Erfahrung seine eigene Geschichte schreibt. Martin Middeke 80 Alles ist gut, wie es auch den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen. Der Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Mißgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muß ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren; man muß ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum seines Gartens. Ohne das wäre alles noch schlimmer, denn der Mensch gibt sich nicht mit halben Wahrheiten ab. Unter den heutigen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von der Geburt an sich selbst überließe, völlig verbildet. Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Weg steht und verkommt, weil ihm die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen. 7 Das ist die Eröffnung von Rousseaus Émile oder Über die Erziehung (1762). In diesen zwei ersten Paragraphen beschreibt Rousseau gewissermaßen das Wesen von Victor Frankenstein, der ursprünglich noble Mensch, dessen Gier danach, die Natur zu verbessern, das Monster einer deformierten Gegen-Schöpfung hervorbringt; und zugleich bringt die Rousseau-Stelle auch das Wesen des Monsters auf den Begriff, sich selbst überlassen, hässlich, ungestalt. Seine Natur ist in der Tat der windschiefe Strauch am Wegesrand, ‚der mitten im Weg steht und verkommt, weil ihm die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen‘. Das Monster orientiert sich zunächst zu den Menschen hin: Es beobachtet die Bauern-Familie der De Laceys, lernt deren Sprache, liest deren Literatur (immerhin Die Leiden des jungen Werther, Plutarchs Leben , Volneys Ruins and Empire und in der Tat Miltons Paradise Lost ) - wird so zum Paradigma des Autodidakten, der lernt, Mitleid zu haben, mitzufühlen und menschliche Schönheit und Tugend zu bewundern. Das kann es, weil es kein Mensch ist, weil es aus Abfall zusammengesetzte Materie ist, die belebt wurde durch Elektrizität - ein un-heimlicher Hybrid, eine bricolage aus Menschlichem und einer Maschine. Jedes Mal, wenn es Prügel einsteckt oder wenn Menschen angewidert vor ihm fliehen, dass es jung und alt zugleich ist; dass es längst tot war, bevor es zu leben begann, und das damit seiner wie jeder Natur wie jeder Gesellschaft und zuletzt sogar sich selbst vollends entfremdet ist. Wie sein Schöpfer, der wie der Ancient Mariner zur Armee der rastlosen Wanderer auf dieser Erde wird, kann auch das Monster keine Ruhe finden. Das Monster bittet Frankenstein um eine Gefährtin: ‘You must create a female for me, with whom I can live in the interchange of those sympathies necessary for my being. This you alone can do; and I demand it of you as a right which you must not refuse.’ 7 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder Über die Erziehung. Paderborn: UTB-Schöningh, 13 1971, S. 9. Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus 81 ‘[…] I am malicious because I am miserable; am I not shunned and hated by all mankind? You, my creator, would tear me to pieces, and triumph; remember that, and tell me why I should pity man more than he pities me? You would not call it murder, if you could precipitate me in to one those ice-rifts, and destroy my frame, the work of your own hands. Shall I respect man, when he contemns me? Let him live with me in the interchange of kindness, and, instead of injury, I would bestow every benefit upon him with tears of gratitude at his acceptance. But that cannot be; the human senses are insurmountable barriers to our union. Yet mine shall not be the submission of abject slavery. I will revenge my injuries: if I cannot inspire love, I will cause fear; and chiefly towards you my arch-enemy, because my creator, do I swear inextinguishable hatred. Have a care: I will work at your destruction, nor finish until I desolate your heart, so that you curse the hour of your birth.’ (98) Frankenstein stimmt zunächst zu, zerstört dann aber die Gefährtin der Kreatur, die daraufhin Rache nimmt, Häuser abbrennt und Menschen tötet. III. Ziehen wir an dieser Stelle doch einmal eine Bilanz des Gesagten. Es könnte so scheinen, als bestünde Konsens in der Moral des Romans: Frankenstein ist der traumatisierte narzisstische Spross einer letztlich dysfunktionalen Familie; Frankenstein und Walton sind ethisch fragwürdig und damit beide unzuverlässige Erzähler, Frankensteins Beteuerung seiner geistigen Gesundheit schon zu Beginn - „Remember, I am not recording the vision of a madman“ (30) - erinnert erschreckend an die Versicherungen seiner Zurechnungsfähigkeit des wahnsinnigen Ich-Erzählers in Edgar Allan Poes „The Tell-Tale Heart“ (1843). Demgegenüber scheint das Monster ein bemitleidenswertes, natürliches Wesen zu sein. Frankensteins Versagen, sein Geschöpf sich selbst zu überlassen stellt einen Akt größtmöglicher Verantwortungslosigkeit dar; Frankensteins Dummheit, sein Narzissmus und sein Mangel an Sensibilität gegenüber Frauen führen dazu, dass seine Braut in der Hochzeitsnacht ermordet wird; Walton als der Rahmenerzähler zieht aus dem Geschehen die einzig mögliche Konsequenz und gibt dem Willen und dem Wohl der Gemeinschaft nach, verzichtet auf seinen Lebenstraum und lässt sein Expeditionsschiff umkehren. Dagegen spricht nun allerdings, dass alle Charaktere des Romans Victor Frankenstein respektieren, die meisten bewundern ihn, und wenige lieben ihn sogar, und das nicht nur deshalb, weil diese sein Handeln nicht durchschauten oder sie nicht in es eingeweiht wären. Das Monster ist freilich auch ein unzuverlässiger Erzähler, da sein Bericht nur verschachtelt im Bericht der anderen erscheint und da es KEIN natürliches Wesen, sondern belebtes Patchwork unnatürlicher Flickschusterei ist. Und: das bemitleidenswerte Monster ermordet ein kleines Kind und macht eine unschuldige Frau dafür verantwortlich, tötet Frankensteins Braut brutal aus Rache, weil ihm seine eigene Braut verweigert wurde. Und so sehr Einsicht Walton auch in den Frevel seines Ehrgeizes haben mag, es ärgert ihn, es enttäuscht ihn aufzugeben, nur bleibt ihm, wenn ihm sein Leben etwas lieb ist, nichts anderes übrig, weil seine Mannschaft kurz vor der Meuterei steht. Martin Middeke 82 Ich will gar nicht ungebrochene Partei für Frankenstein ergreifen - obgleich schon zu fragen bliebe, was denn der moralisch-ethische Vorwurf, dass er sein Monster (lediglich) vernachlässigt habe, eigentlich impliziert? Hätte er sich (nur) besser um es kümmern müssen? Die Sachlage ist komplizierter als eine einfach Schwarz/ Weiß-Trennung in Gut und Böse: „Who does not agree,“ schreibt Lawrence Lipking in einem wichtigen Aufsatz über die Art und Weise, wie insbesondere liberalere Lesarten mit dem Roman verfahren, that all creatures great and small ought to be nurtured with care and compassion (however badly we may treat one another in practice)? Which of us, in Frankenstein’s position, would not invite the Creature home, give him a good hot meal, plug him into Sesame Street, enter him in the Special Olympics, fix him up with a mate, and tell him how much we love him? Sure such treatment would result not only in a better Creature but in a happier ending for everyone - especially the innocent victims. 8 Mary Shelleys Frankenstein versagt uns das Gefühl des Konsenses. Der Roman wiegt uns nicht in Sicherheit, der Roman stürzt uns in das Unheimliche und belässt uns dort. In einem Raum der Angst und der Ungewissheit, in der Aporie unlösbarer Probleme und letztlich offenbleibender Fragen. Man kann nicht schlussendlich sagen, ob Victor ein idealistischer Held oder ein zerstörerischer Egoist, das sein Geschöpf natürlicher Mensch oder unnatürliches Monster ist. Beide Fragen sind nicht abschließend zu beantworten. Liebe für und Angst vor dem Anderen sind gleich gut begründet, und Frankensteins Idealismus? Dieser ist ebenso zugleich selbstsüchtig destruktiv und altruistisch kreativ. John Keats wünschte „negative capability“ im Dichter (und im Menschen), womit er die Fähigkeit meinte zu akzeptieren, dass nicht jeder komplexe Sachverhalt aufgeklärt werden kann. Der Mensch, so scheint mir auch Shelleys Roman zu sagen, muss lernen in Halbwahrheiten, im Zwielicht von Perspektiven zu leben - eine Denkweise, deren rhetorische Figur das Oxymoron ist, die Fusion unvereinbarer Gegensätze, die Einheit in der Vielfalt, concordia discors , oder coincidentia oppositorum . Psychologisch entspricht dem die ethische Wüste eines double-binds , in der der Leser von Mary Shelleys Frankenstein durstend zurückgelassen wird, welches das aporetische Lebensgefühl der Moderne seit der Romantik treffend bezeichnet. Mary Shelleys Frankenstein spielt einerseits mit den Ängsten vor dem Unnatürlichen, dem Monströsen, dem Bösen, das durch beinahe wahnsinnigen, anmaßenden Ehrgeiz entfesselt wird. Andererseits besteht es auf den humanen Qualitäten des Monsters, gerade so, als ob sein Werk am achten Tag der Schöpfung tatsächlich Gott noch hätte übertreffen können, wenn er doch etwas mehr Zeit gehabt hätte. Frankenstein gibt Walton zuletzt den Rat: 8 Lawrence Lipking, „Frankenstein, the True Story; or, Rousseau Judges Jean-Jacques,“ in: J. Paul Hunter (Hg.) Mary Shelley, Frankenstein . The 1818 Text, Contexts, Nineteenth-Century Responses, Modern Criticism. London/ New York: Norton, 1996, S. 313-331, Zitat S. 319 . Mary Shelley Frankenstein or, the Modern Prometheus 83 Farewell, Walton! Seek happiness in tranquillity, and avoid ambition, even if it be only the apparently innocent one of distinguishing yourself in science and discoveries. Yet why do I say this? I have been blasted in these hopes, yet another may succeed. (152) Lipking kommentiert schon richtig: Diese letzte Stelle mag als Signifikant der ultimativen Verdammnis Frankensteins aufgefasst werden, wenn er im Moment der Reue die Reue wieder zurück nimmt: ‚yet another may succeed‘. Frankenstein ist Satan, Diabolus , der Verwirrer. Doch zugleich: Wäre uns wohler, wenn Walton seine Träume wirklich aufgäbe? Wenn wir selbst unsere Träume - weil oder obwohl sie ehrgeizig, egoistisch, narzisstisch, visionär, oder mutig sein mögen - für einen zu hohen Preis aufgäben oder die Natur sich selbst überließen? Welcher Preis ist zu hoch? Mary Shelleys Roman antwortet paradox, zugleich mit ja und nein. Das Dunkel dieses Unentschiedenseins ist das wahrhaft Unheimliche des Romans. Diese Unentschiedenheit mag die moralisch-didaktische Aussage des Romans schwächen, aber gerade diese unzähmbare ästhetische Offenheit des Textes garantiert es, dass uns der Text immer noch und immer wieder heimsucht. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Shelley, Mary: Frankenstein or, the Modern Prometheus. Hg. J. Paul Hunter. London/ New York: Norton, 1996, S. 1-156. Forschungsliteratur: Bloom, Harold (Hg.): Mary Shelley’s Frankenstein . New York: Chelsea, 1987. Botting, Fred: Making Monstrous: Frankenstein, Criticism, Theory . New York: St. Martin’s Press, 1991. Bronfen, Elisabeth: Over Her Dead Body: Death, Femininity and the Aesthetic. Manchester: Manchester UP, 1992. Gilbert, Sandra M./ Gubar, Susan: The Madwoman in the Attic . New Haven: Yale UP, 1979. Goetsch, Paul: Monsters in English Literature: From the Romantic Age to the First World War. Frankfurt a.M.: Lang, 2002. 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Abbildungsnachweis: Abbildung 1: <http: / / www.artsfairies.com/ Mythology/ Moreau_Hercules_and_the_Hydra_ 1876.jpg> Stand: 05.10.2009 Abbildung 2: <http: / / www.baroque.us/ painting/ rubens/ medusa.jpg> Stand: 05.10.2009 Abbildung 3: <http: / / mishkanyc.com/ bloglin/ wp-content/ uploads/ 2009/ 05/ alien.jpg> Stand: 05.10.2009 Abbildung 4: <http: / / www.jenterysayers.com/ wp-content/ uploads/ 2008/ 11/ luigi_galvani_ experiment.jpg> Stand: 05.10.2009 Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts Helmut Koopmann Wenn wir den Namen Eichendorff hören, dann wissen wir, was uns beim Lesen seiner Romane, der Erzählungen und der Gedichte erwartet. Denn er ist eigentlich von Anfang an in den Augen der Öffentlichkeit nichts anderes als ein romantischer Dichter gewesen, der sein waldesgrünes Schlesien vielmals besungen hat, und das meist in Worten, die auf naive Weise volkstümlich zu sein schienen oder auch auf volkstümliche Weise naiv: Verständnisschwierigkeiten gab und gibt es bei ihm nie und nirgendwo. Was sich da präsentiert, ist nur zu oft immer wieder das Gleiche: auf irgendeiner „glänzenden Landstraße“ sind sie alle unterwegs, die Spielleute, die Reiter, die Wandergesellen, die jungen Burschen, die in die Fremde Verschlagenen, und glänzend wie die Landstraße ist meist auch ihr Innenleben: im Gemüt herrscht ewiger Sonntag, gewandert wird ohne Ziel und Zweck, Fernweh gehört zu den habituell gewordenen Schmerzen, die man mit Lust in sich spürt. Wer nicht mitmacht auf diesem trunkenen Siegeszug durch die Welt, gilt als Philister - ein schlimmeres Schimpfwort ist in Eichendorffs Zeit kaum denkbar. Das wahre Leben liegt jenseits des Philisteriums, liegt bei denen, die wie der Taugenichts ins Weite hineinstreichen, voll unbestimmter Erwartung, aber mit einem tiefen Vertrauen darin, dass man dann richtig lebt, wenn man nutzlos lebt. Die Landstraßen sind Brücken ins Unendliche, wie es sich am Rande einer schillernden Landschaft zeigt, die Kornfelder wogen leise, Lerchen schrauben sich in den Himmel, und gerade, wenn die Welt so bunt und verlockend erscheint, wenn die Abenteurer ihr Vagantentum so recht genießen, dann wissen sie: „Unser Reich ist nicht von dieser Welt! “ (110). 1 Und so leben sie denn ihr poetisches Dasein, schwärmen herum, fahren die Donau entlang wie in Eichendorffs erstem Roman Ahnung und Gegenwart - Lebenskünstler sind sie alle, die sprichwörtliche ewige Jugend im Herzen und irgendein Wanderlied auf den Lippen. Die Signale stehen immer auf Ausfahrt, am nächtlichen Himmel funkeln unentwegt die Sterne, ewig rauschen die Brunnen und die Wälder, und wem das an akustischen Eindrücken noch nicht genug ist, der kann hin und wieder das Posthorn vernehmen: kein Verkehrssignal, sondern aus romantischer Produktion stammend was dieses Posthorn entlässt, ist immer ein Lebensruf, der sich an den nächtlichen 1 Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Joseph von Eichendorff: Erzählungen. Erster Teil. Hg. Karl Konrad Polheim. Tübingen, 1998. [ Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff . Historisch-Kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann. Bd. V/ 1]. Helmut Koopmann 86 Berghängen bricht und der auch gehört wird, vorausgesetzt, Studenten oder andere Nachtschwärmer ziehen zufällig vorbei. Und selbst wenn vom stillen Land die Rede ist, ist Gesang in der Luft, manchmal auch Lautenklang, bis dann im Morgengrauen die Vögel erwachen zu musikalischen Darbietungen anderer Art und den Posthornklang und das Brunnenrauschen ablösen. So hat man Eichendorff, hat man auch seinen Taugenichts wieder und wieder gelesen. Aber hat man ihn richtig gelesen? Denn am Anfang der Novelle geht es mitnichten um romantische Naturschwärmerei im Lande Nirgendwo, es geht vielmehr zunächst einmal um einen sozialen Konflikt, der es in sich hat, denn wir hören von einer Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, vom Zusammenprall zweier höchst unterschiedlicher Lebensauffassungen. Der Held dieser vielleicht berühmtesten Erzählung aus der Zeit der deutschen Romantik ist das, was wir heute als einen Aussteiger bezeichnen würden. Er ist es nicht ganz freiwillig. Denn sein Vater wirft ihn aus dem Hause, schimpft ihn einen Taugenichts, der in der Sonne sitzt und mit diesem Faulenzerdasein sehr zufrieden ist, während er, so der Vater, sich abrackere und alle Arbeit allein tun müsse. Die Botschaft ist eindeutig: „Ich kann Dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Thüre, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb Dir selber Dein Brodt“. Es sieht nach einem Generationskonflikt der schlimmeren Art aus, denn hier wird offensichtlich jemand verstoßen, hier will der Vater nichts mehr vom Sohn wissen, und der kann sich glücklich schätzen, dass er „noch einige Groschen Geld mit auf den Weg“ bekommt, und was er noch mitnehmen kann, ist seine Geige: das war’s denn aber auch. Wir kennen diese Vater-Sohn-Tragödien, nicht nur aus der Zeit der deutschen Klassik: das sind in der Regel existentielle Krisen, sie gehen an die Substanz des Menschen, und wer einmal so verstoßen worden ist, der kehrt in der Regel nie mehr zurück. Auszug, Aufbruch ins Ungewisse. Da soll sich, so würden wir heute vielleicht sagen, jemand emanzipieren, soll sich fortan selbst bestimmen, und vor allem soll er für sich selbst sorgen: denn die paar Groschen werden nicht sehr weit reichen. Diesem Hinauswurf ist offenbar auf Seiten des Vaters schon längere Zeit ein Missvergnügen vorangegangen, denn der Taugenichts sonnt sich nicht zum ersten Mal im Sonnenschein eines warmen Frühjahrsmorgens, sondern er sonnt sich „schon wieder“; da gibt es also latente Spannungen, und die Unzufriedenheit des Vaters hat gerade jetzt, zu Beginn der Erzählung, ihren Höhepunkt erreicht und die Beziehung selbst ihr Ende. Den Vater bestimmt offenbar ein Selbstverständnis, das wir quasi als ein bürgerliches bezeichnen können. Denn wenn der Vater auch nur Müller ist, so beherrscht ihn die Vorstellung von einem geordneten Dasein, in dem offenbar eines eine besondere Rolle spielt: die Arbeit. Die gliedert nicht nur den Tag, die gliedert das Leben, und mit der Arbeit sind auch Pflichtbewusstsein verbunden und das Wissen um den rechten Gebrauch der Zeit, da muss die Zeit genutzt werden als kostbarstes Kapital des Menschen, da wird auch mit dem Geld sorgsam umgegangen, da gibt es die Forderung, ein nützliches Glied der menschlichen Gemeinschaft zu sein, und wenn jemand das nicht oder nicht mehr ist, dann hört auch der Fütterungs- und Versorgungsanspruch auf, dann hält kein soziales Netz mehr, dann wird Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 87 aus einem Taugenichts sozusagen ein Obdachloser, denn nach diesem Consilium abeundi bleibt ihm eigentlich nichts anderes übrig, als seine Heimat zu verlassen, ein outcast , den man nicht weiter beachtet: mag er doch sehen, wo er bleibt, und vor allem, wie er zurechtkommen wird. Der Taugenichts also ein aus der Welt bürgerlicher Lebensverhältnisse Hinausgeworfener, ein arbeitsscheuer Schnorrer, der sich auf Kosten anderer das Leben bequem gemacht hat - wir ahnen, wie mächtig die Ideologie jener Gesellschaft ist. In ihr ist das Leben geregelt, da ist man tätig vom frühen Morgen an, und Außenseiter werden dort nicht geduldet, erst recht nicht, wenn sie Faulenzer sind. Ja; da ist also der ganze Tugendkatalog des Bürgertums noch intakt, aber nur auf Seiten des Vaters, wie sich versteht. Das Leben muss verdient werden, Müßiggang ist eher eine fatale Eigenschaft des Adels. In den niederen Schichten wird er bekämpft, notfalls durch die Verstoßung des Unbotmäßigen. Eine Arbeitsethik also, wenn man so will, denn Arbeit sichert nicht nur den Lebensunterhalt, sie verschafft auch Identität. Über die Arbeit definiert sich der Vater in seiner quasi bürgerlichen Existenz, und dass diese Arbeit eigentlich eine ununterbrochene ist, kann man auch aus den wenigen Anfangszeilen herauslesen: denn der Vater ist schon seit Tagesanbruch in der Mühle, rumort dort herum und hat die Schlafmütze noch schief auf dem Kopfe, so, als sei er geradewegs aus dem Bett an seinen Arbeitsplatz gestürzt. Da ist keine Zeit für Wohlleben und Nichtstuerei. Von Freiheit hat der Vater offenbar noch nichts gehört, nichts von Schillers froher Botschaft, dass der Mensch nur da zu sich selbst komme, wo er spiele, also zwecklos, funktionsfrei sein Leben lebe. In Eichendorffs Erzählung begegnet uns anfangs eher das Bild einer arbeitsteiligen Gesellschaft; aber wenn der Vater den Sohn gleichsam als Hilfsarbeiter anstellen will und der das nicht mag, so ist der bürgerliche Grundvertrag, der den Menschen als Arbeitskraft innerhalb eines größeren Verbandes ansieht, außer Kraft gesetzt. Und mehr noch: der Sohn fügt sich nicht nur nicht, sondern er rebelliert, indem er geht, und so entzieht er sich dem eintönigen Kreislauf von Schlafen und Wachen um der Arbeit willen, er zieht in die Welt hinaus, der Vater bleibt zurück. Ein Esser weniger, aber auch eine Arbeitskraft weniger. Die bürgerliche Welt ist mitsamt ihrer Wertordnung beschädigt. Und die Mutter? Sie kommt nicht vor. Wir haben es, das verraten die ersten Zeilen auch, mit einer patriarchalisch regierten Welt zu tun, in der die Mutter nicht existiert. Eichendorffs Erzählung fällt damit nicht aus dem Rahmen des damals weithin Üblichen. Wenn Mütter vorher in der Literatur auftauchten, dann spielten sie selten eine ehrenwerte und noch seltener eine dominante Rolle - erinnert sei nur an Schillers Kabale und Liebe , wo die Mutter, im Schlafrock noch spät am Morgen untätig am Tisch sitzend und Kaffee trinkend, es dem Adel gleichzutun versucht und der alte Miller, ein Grobian, droht, ihr das Cello an den Hirnkasten zu schmettern, aus Wut über das unziemliche Betragen der Frau und deren Adels-Allüren, den Vormittag mit Nichtstun zu verbringen. Hier, bei Eichendorff, haben wir es so eindeutig mit einer patriarchalischen Welt zu tun, dass man geneigt ist, das Fehlen der Mutter in diesem Familienauftritt zu Anfang der Novelle gar nicht zu bemerken. Um so raumfüllender ist der autoritäre Vater, der sich gar nicht erst auf ein Gespräch mit Helmut Koopmann 88 dem Sohn einlässt, ihn nicht etwa vom bürgerlichen Wert der Arbeit zu überzeugen sucht und auch keine Erziehungspflicht für sich anerkennt, sondern der ihn einfach nur hinausweist. Hinaus aus der Mühle, hinaus aus der bürgerlich geordneten Welt, in der jemand wie dieser Taugenichts eben nichts zu suchen hat - und so tut der gut daran, das Dorf und die nähere Umgebung zu verlassen: da würde man ihn nur ächten, und eine Diskussion etwa über eine alternative Lebensform ist in dieser Zeit so unmöglich wie undenkbar. Die Väterwelt: sie kennt keine Gefühle, sie kennt auch keine Diskussionen, der Vater pocht auf das fraglos Richtige seiner eigenen Vorstellungen, und so bleibt dem anderen nichts übrig als die Flucht aus einer Welt, für die er nicht geschaffen und die nicht die seine ist. Der Vater also verstößt seinen Sohn - etwas undramatischer und unspektakulärer als etwa in Schillers Räubern , wo auch ein Sohn sich verstoßen sieht und daraufhin bereit ist, die ganze Welt mit Feuer und Schwert zu überziehen. Eine Vater-Sohn-Tragödie gibt es ebenfalls in Don Karlos , wenn Philipp seinen Sohn der Inquisition überlässt, und die Rebellion eines Sohnes deutet sich ebenfalls in Wallenstein an, wenn der junge Piccolomini den alten als Betrüger entlarvt. Die Verstoßung des Sohnes, das Ende der Generationsgespräche - es ist auch im 19. Jahrhundert ein auffälliges literarisches Sujet, und am Ende gibt es zuweilen Tragödien, wenn nichts mehr zu regulieren ist - wie das etwa die wenig bekannte, aber außerordentlich aufschlussreiche Novelle von Theodor Storm, Hans und Heinz Kirch , zeigt. Es blieb dem Expressionismus dann noch vorbehalten, einen Spruch zu erfinden, der da lautet: „Und wenn zu dir dein Vater spricht, gehorch ihm nicht, gehorch ihm nicht“ - so setzt sich der Familienkonflikt fort. Und man muss nur Walter Hasenclevers Drama Der Sohn lesen, um zu ermessen, wie fürchterlich dieser Konflikt auszuarten drohte; oder Wedekings Lulu -Drama, wo der Sohn geradezu lustvoll den Vater erschießen möchte, weil der ihn so drangsaliert hat. Wie sieht das bei Eichendorff aus? Das Konfliktpotential ist ohne Zweifel schon vorhanden, wie eine genaue Lektüre der ersten halben Seite dieser Novelle zeigt, da werden, etwas verdeckt, soziale Probleme ins Spiel gebracht, die die Welt grundlegend verändern sollten, nur dass diese Novelle mentalitätsgeschichtlich gesehen eher noch im 18. Jahrhundert spielt als im 19., also in einer Welt, in der der Vater noch eine unumstößliche Größe ist und in der sein Wort gilt, jegliche Diskussion mit dem Sohne also von vornherein ausscheidet: da wird nicht bedauert und nicht geklagt, da tut der Vater nichts, um den Sohn zu halten, väterliche Gefühle hat er schon gar nicht. Mit anderen Worten: das Zeitalter der Empfindsamkeit, der rührenden Lustspiele, der unendlichen Vaterliebe, wie sie etwa bei Lessing in Miß Sara Sampson sichtbar wird, das Zeitalter der tränenreichen Versöhnungsfeiern, es ist ein für allemal vorüber, aber das 19. Jahrhundert mit seinen Vater-Sohn-Tragödien, wie sie dann in der Zeit des Expressionismus kulminierten, dieses 19. Jahrhundert ist auch noch nicht recht präsent, und so haben wir es denn, literargeschichtlich gesehen, quasi mit einer Zwischenwelt zu tun, mit einer Epoche zwischen der einer väterlichen Fürsorge und der der völligen Ablehnung des Vaters; Eichendorffs Erzählung markiert also eigentlich so etwas wie einen Wendepunkt in der Geschichte der familiären Sozialbeziehungen, und wir sehen: im Hintergrund hat sich etwas zusammen- Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 89 gebraut, was nicht mit dem Auszug des Sohnes aus der väterlichen Mühle erledigt ist. Da triumphiert noch einmal verständnislos die alte Welt; da pocht jemand auf seine väterliche Autorität, auf Arbeit und Arbeitslust - nichts aber liegt dem Taugenichts ferner als Letzteres; er will sich nicht fügen. Doch es kommt nicht zum offenen Bruch, hier zieht der Sohn seine Konsequenzen quasi aus heiterer Überlegenheit heraus, auch er lässt sich nicht auf Diskussionen ein und pocht nicht auf seine Familienzugehörigkeit, von einer Abschiedsszene hören wir auch von seiner Seite nichts, nur, dass er vom Vater eben noch einige Groschen Geld mit auf den Weg bekommt. Doch kein Adieu und kein Lebewohl, kein Blick zurück und kein Bedauern darüber, dass er die väterliche Welt, dass er seine Heimat, dass er sein Zuhause verlassen muss; er nimmt auch nichts mit, was ihm seinen Lebensunterhalt sichern könnte, sondern nur das nutzloseste Gerät, das ihm zugehört, nämlich seine Geige. Und auch weiterhin wird er sich um nichts kümmern, erst recht nicht um den Vater, der ja eines Tages alt werden wird und Hilfe benötigen könnte; dem Taugenichts ist das alles so völlig gleichgültig, dass er nicht einmal ein Wort darüber verliert. Kinder waren, wie wir aus Schillers Kabale und Liebe , aber nicht nur von dorther wissen, so etwas wie die Alterssicherung der älteren Generation, sie mussten die Eltern durchfüttern und am Leben erhalten, wenn es denn einmal so weit war. Aber auf diesen Müllersohn ist wahrlich kein Verlass, er verschwendet an den Vater und an das, was ihm zustoßen könnte, nicht einen einzigen Gedanken, er befreit sich vielmehr von ihm, und das auf unspektakuläre, fast fröhliche, das Weitreichende seiner Entscheidung nicht bedenkende Art. Mit anderen Worten: er geht kommentarlos, gefühllos, er streift seine Vergangenheit, sein bisheriges Leben einfach ab, und das gelingt ihm in einem Nu; er geht mit einem „so ist’s gut“. Und es geht zunächst gut weiter. Katastrophen bleiben in diesem alternativen Leben aus, Tragödien tauchen nicht einmal am Horizont auf, die sprichwörtlichen Härten der Wirklichkeit scheinen dem Taugenichts nichts anzuhaben, er ist ein Glückskind, einer, dem es der Herr im Schlafe gibt, ein Fortunatus: ein nutzloses, arbeitsfreies, fröhliches, ungetrübtes und ungefährdetes Dasein liegt vor ihm, der Traum eines jeden Menschen, der unter der arbeitsteiligen Gesellschaft leidet, und wenn er auch nicht nach Indien zieht oder wie eine der Figuren aus Eichendorffs erstem Roman Ahnung und Gegenwart nach Ägypten, ins Land der alten Wunder, so geht er doch zunächst einmal. Wohin? Das weiß er nicht. Reisen wollte er immer schon, und so schlendert er mit seiner Geige dahin. Es ist fast so, als habe er Kants berühmte Aufforderung aus dessen Kritik der Urteilskraft gelesen: „Bestimme dich aus dir selbst.“ Wir hören bei Eichendorff über seinen Auszug aus dem heimatlichen Dorf: Ich hatte recht meine heimliche Freud’, als ich da alle meine alten Bekannten und Kammeraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüthe. Und als ich endlich ins freie Feld hinaus kam, da nahm ich meine liebe Geige vor, und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend: Helmut Koopmann 90 Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Fels und Wald und Strom und Feld. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt’ ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl’ und frischer Brust? Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenroth, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Noth um Brodt. Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Lerchen, Bächlein, Wald und Feld Und Erd’ und Himmel will erhalten, Hat auch mein’ Sach’ auf’s Best’ bestellt! (86) In der Tat: seine Sache ist aufs Beste bestellt, er hat Glück, denn ein köstlicher Reisewagen kommt vorbei, zwei vornehme Damen stecken ihre Köpfe aus dem Wagen, weil sie den Taugenichts singen hören. Der Aussteiger hat zwar sein soziales Netz verlassen, aber nicht den Blick für Menschliches eingebüßt, denn er sagt: „Die eine war besonders schön und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen sie mir alle beide“ (87). Auf die Frage, wohin er denn schon am frühen Morgen wandere, kann er eigentlich nichts antworten, denn er weiß es ja selbst nicht, und so nennt er aufs Geratewohl irgendein Ziel: Wien. Und die Damen nehmen ihn mit. Die jüngere will zwar nicht so recht, aber die ältere lacht und fordert ihn auf, hinten auf das Trittbrett zu steigen, und dann geht es los mit einer Geschwindigkeit, die man der Reisekalesche gar nicht zugetraut hätte: „der Kutscher knallte und wir flogen über die glänzende Straße fort, daß mir der Wind am Hute pfiff.“ Das gehört fast schon zu den Beschleunigungsphänomenen, von denen Eichendorff wiederholt handelt. Es folgt eine betörend schöne Landschaftsschilderung, und nun sind wir wirklich in der Romantik angekommen und haben den Sozialkonflikt mit dem Vater längst hinter uns. Hinter mir gingen nun Dorf, Gärten und Kirchthürme unter, vor mir neue Dörfer, Schlösser und Berge auf; unter mir Saaten, Büsche und Wiesen bunt vorüberfliegend, über mir unzählige Lerchen in der klaren blauen Luft - ich schämte mich laut zu schreien, aber innerlichst jauchzte ich und strampelte und tanzte auf dem Wagentritt herum, daß ich bald meine Geige verloren hätte, die ich unterm Arme hielt. Wir fahren mit dem Taugenichts gleichsam in einen Landschaftsraum hinein, und der ist dazu noch in Bewegung: Gärten und Kirchtürme gehen unter, Schlösser und Berge tauchen auf, unter der Kutsche fliegen Büsche und Wiesen vorüber, über den Reisenden singen die in den Himmel aufsteigenden Lerchen, und plötzlich bemerken wir: das ist ein bewegtes Bild. Wie neuartig das ist, würde man erkennen, wenn man etwa eine Landschaftsschilderung Stifters dagegen hielte. Aber bei Eichendorff gibt Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 91 es nicht nur visuell bewegte Bilder, denn auch mit den akustischen Sinneseindrücken verhält es sich ähnlich: auch da ist es eine unendliche Bewegung. Der Spielmann singt den Lenz aus, die Nachtigallen schlagen und die Wälder rauschen, das Waldhorn tönt, die Wandergäste jubeln im Baum, die alten Lieder schallen, und wenn die Vögel über die Wälder ziehen, so tönt es wie in Frühlingstagen: das Geschaute klingt, die Klänge sind zu betrachten, und man könnte sagen: das sind synästhetische Erfahrungen, wie die Romantik sie kannte und liebte. Aber das außerordentlich Moderne bewegter Bilder wird uns bewusst, wenn wir einen Blick vorauswerfen: Derartiges findet sich in großem Stil eigentlich erst in der Zeit des Symbolismus, also bei Mallarmé, Baudelaire, bei C. F. Meyer oder bei dem bedeutendsten deutschen Symbolisten, bei Stefan George. Symbolistische Bilder sind nicht repräsentative Schaustücke, sondern wollen eigentlich immer nur andeuten, und das gelingt am besten, wenn die Bilder bewegt sind und der Blick sich nicht fixieren lässt: immer wartet schon das neu Heraufkommende darauf, aufgenommen zu werden. Auch bei Eichendorff sind die Bilder nirgendwo statische Gebilde; wie im Taugenichts , so ist auch in den anderen Erzählungen und Romanen alles in ständigem Übergang, die Wolken ziehen, der Strom blitzt herüber, in der Ferne kommt ein Wetterleuchten auf, eine wunderbare Nacht steigt sachte von den Bergen hernieder, die Wälder rauschen durch die Nacht, Licht funkelt vorüber, der Morgen leuchtet herrlich über die ganze Gegend hin, die Strahlen der Morgensonne schießen über die Fläche, die Morgenglocken klingen nicht etwa nur, sondern sie klingen herauf oder herüber, und wir hören auch, woher sie kommen: von ferne aus den Tälern über den Garten hin. Es gibt nirgendwo einen festen Punkt, von dem aus man alles in Ruhe betrachten könnte: und so ist das schon zu Beginn der Taugenichts -Erzählung, unendliche Bewegung überall, in der Landschaft wie im Helden selbst, im Unterschied zu den anderen, den Zurückgebliebenen, den ehrlich Arbeitenden in ihrem unbewegten Einerlei. Also ein lustvoller Aufbruch ins Ungewisse, der Ausreißer mit viel Gottvertrauen gesegnet, das Glückskind auf der Fahrt in eine Welt hinein, von der er vorher in seinem Dorf nichts wusste, und die Welt öffnet sich ihm freundlich. Als er, der auf dem Wagen eingeschlafen ist, wieder die Augen aufschlägt, befindet er sich vor einem prächtigen Schloss, er ist in Wien angekommen. Da geht es ihm wunderlich - die höfische Welt ist verwirrend, aber als ihn dann die gnädigste Herrschaft fragen lässt, ob er vielleicht als Gärtnerbursche dienen wolle, da sagt er mit großem Vergnügen zu - zumal er die paar Groschen des Vaters beim Herumtanzen auf dem Wagen längst verloren hat und fortan auf nichts anderes als auf sein Geigenspiel vertrauen kann, das ihm aber, wie er schon hat hören müssen, nicht einen Heller einbringen werde. Und so gerät er, der sich gerade noch über die arbeitswütigen Nachbarn lustig gemacht hatte, selbst in ein Arbeitsverhältnis hinein: und Lehren bekommt er noch obendrein, bekommt gesagt, dass er nur fein nüchtern und arbeitsam sein, „nicht in der Welt herumvagieren, keine brodtlosen Künste und unnützes Zeug treiben“ (89) solle, und wenn dem so sei - ja, dann könne auch er es mit der Zeit noch einmal zu etwas Rechtem bringen. So richtig will das dem Taugenichts allerdings nicht eingehen, er berichtet: Helmut Koopmann 92 Es waren noch mehr sehr hübsche, gutgesetzte, nützliche Lehren, ich habe nur seitdem fast alles wieder vergessen. Ueberhaupt weiß ich eigentlich gar nicht recht, wie doch alles so gekommen war, ich sagte nur immerfort zu allem: Ja. (89) Vita nuova , ein neues Leben; er genießt es, auch wenn er „leider ziemlich viel zu thun“ hat. Aber so oft der Gärtner fort ist, dem er zuarbeiten soll, überlässt er sich dem Nichtstun, überlegt, mit welchen höflichen Redensarten er der schönen jungen Dame, die ihn in das Schloss gebracht hatte, imponieren könne, und wenn er jetzt auch fest eingebunden ist in ein neues geordnetes Dasein, erlebt er an den schwülen Nachmittagen, als er sich einfach auf den Rücken legt, die Welt noch einmal in Bewegung, er hört die Bienen summen, und „sah zu, wie über mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen und die Gräser und Blumen sich hin und her bewegten“ (90). Es bleibt nicht beim Gärtnerdienst. Als er einmal quasi als neuer Minnesänger die vielschöne gnädige Frau mit einem Lied erfreuen will, da funkeln aus dem dunkelkühlen Lusthause zwischen den halbgeöffneten Jalousien und Blumen „zwei schöne junge frische Augen hervor“: das lässt ihn nicht mehr los, zumal die so schöne gnädige Frau ihm an einem Sonnabend eine Flasche Wein aufs Fenster stellen lässt: für ihn ein Anlass, jetzt erst recht zu singen, vor allem das Lied von der schönen Frau. Ja, er hat sich verliebt, er stellt verstohlen und zaghaft der jungen schönen Frau nach - aber sie will sich nicht zeigen, bis er zu einer Partie auf dem See mitgenommen wird, bei der die beiden Frauen auch dabei sind. Man bittet ihn, sein Liedchen von der vielschönen Frau noch einmal zu singen; er tut’s, aber als alles vorbei ist, da will ihm das Herz zerspringen. […] es fiel mir jetzt auf einmal alles recht ein, wie Sie so schön ist und ich so arm bin und verspottet und verlassen von der Welt, - und als sie alle hinter den Büschen verschwunden waren, da konnt’ ich mich nicht länger halten, ich warf mich in das Gras hin und weinte bitterlich. (96) Die Einsicht des sozial Deklassierten, dass er nie aufsteigen wird - wir spüren wieder die untergründig immer noch anwesende Sozialproblematik, das Gegeneinander von Arm und Reich hindurch, aber natürlich auch den Katzenjammer des Verliebten, der nicht zum Ziele kommt. Aber er kommt wenigstens zu einem etwas besseren Beruf: Als der Zolleinnehmer stirbt, soll er dessen Stelle einnehmen, denn er kann ja schreiben, lesen und rechnen - und so erbt er nicht nur den Posten des Verstorbenen, sondern auch dessen prächtigen roten Schlafrock, seine Pantoffeln, eine Schlafmütze und eine Pfeife mit langen Röhren. Zu tun hat er nicht viel, aber umso mehr behagt ihm das neue Leben, und so entschließt er sich zu etwas Sonderbarem: er will nunmehr alles Reisen lassen, er will Geld sparen, um es dann mit der Zeit zu Großem in der Welt zu bringen. Ist er zum Philister geworden? Aber er vergisst die allerschönste Frau keineswegs, und so ganz kann er sich mit dem nützlichen Leben auch nicht anfreunden: die Kartoffeln und alles Gemüse, das er in seinem Gärtchen findet, wirft er hinaus und bebaut es mit auserlesenen Blumen - und alle Tage bekommt die schöne Frau einen Strauß von ihm auf einen Gartentisch gelegt: der Taugenichts ist endgültig zum Troubadour geworden. Das Dasein des Steuereinnehmers hindert ihn Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 93 daran so wenig wie der Stand des Domestiken, dem er ja eigentlich zugehört. Die Liebesverwirrung, in die der Taugenichts geraten ist, treibt auf einen Höhepunkt zu, als er aufgefordert wird, der schönen jungen gnädigen Frau frische Blumen zu besorgen zu einem Fest, das im Schlosse gegeben werden soll; der Taugenichts stellt sich rechtzeitig zu diesem Quasi-Stelldichein ein, steigt auf einen Baum, um besser die Festlichkeiten beobachten zu können - und muss erleben, dass nicht die junge schöne Frau erscheint, dass vielmehr die ältere der Damen um die Blumen geschickt hat. Da bricht für den Taugenichts schon die halbe Welt zusammen. Dann aber muss er auch noch sehen, wie die junge schöne gnädige Frau in einem ganz weißen Kleide wie eine Lilie in der Nacht auf den Balkon tritt, neben ihr „ein hoher Herr, schön und stattlich in Uniform und mit vielen funkelnden Sternen“ (108), und da fällt es dem Taugenichts endlich wie Schuppen von den Augen: er muss annehmen, dass die Schöne gar nicht an den verliebten Steuereinnehmer gedacht hat, sondern schon lange verheiratet ist mit eben jenem schönen Mann, der neben ihr steht und dass er selbst ein großer Narr ist. Und so sitzt er denn „in den Ruinen meines Glück’s“. Dieser Auftritt, das Erscheinen der schönen jungen Frau und an ihrer Hand ein hoher Herr: großes Theater, eine Opernszene, wie sie vollendeter gar nicht hätte ins Bild gesetzt werden können. Dazu schallt Musik, eine schöne Serenade wird gegeben. Wo sind wir, in welcher Wirklichkeit bewegen wir uns? Schon die vorangegangene Episode der verunglückten Übergabe der Blumen war Theater; nicht die jüngere, die ältere Gräfin war erschienen, und die nahm nach der Blumenszene „so recht wie ich auf dem Theater manchmal die Sängerinnen gesehn, unter Trompeten und Pauken schnell ihren Abzug“ (107). Ja, auch das ist vollendetes Theater, einschließlich der Kostümierung des Portiers und der stattlichen Uniform des hohen Herrn. Eichendorff hatte schon früh Opernerfahrungen sammeln können; bereits während seiner Breslauer Schulzeit besuchte er Mozarts Die Entführung aus dem Serail , Die Zauberflöte , Don Giovanni , Die Hochzeit des Figaro , von Solèr die Oper Lilla oder Schönheit und Tugend , und darüber hinaus sah er viele Theaterstücke, bürgerliche Trauerspiele, in denen die Themen der damaligen Gesellschaft durchgespielt wurden, aber auch Hanswurstiaden, und zudem gab es in Schlesien ja noch die Wanderbühnen. Eichendorff hat früh darüber Tagebuch geführt, und wenn sich allerlei Komödiantisches auch in seinem Taugenichts findet, Verwechslungsszenen und Bühnendurcheinander, Verkleidungen, Intrigen und Entführungen wie in Mozarts Oper, so darf man annehmen, dass vieles von den frühen Bühneneindrücken im Hintergrund der Taugenichts -Geschichte steht. Anders gesagt: Auch dieser festliche Abend auf dem Schloss, bei dem dem Taugenichts aber nur die Rolle des Zuschauers zugewiesen wird, ist erzählte Oper. Doch wie jede ist sie irgendwann zu Ende; der Garten ringsum wird wieder finster; man hört noch Tanzmusik vom Schloss herüberschallen, aber die Wolken wandern einsam über den dunklen Garten weg - Abbild der seelischen Verfassung des enttäuschten Troubadours. Sein Entschluss: „fort muß ich von hier, und immer fort, so weit als der Himmel blau ist! “ (109). Erneute Flucht aus der schal gewordenen Helmut Koopmann 94 Gegenwärtigkeit; es hält ihn nichts mehr. Die verstaubte Geige muß wieder mit, Schlafrock, Pantoffeln, Pfeife und Parasol bleiben zurück, und arm, wie der Taugenichts gekommen war, wandert er aus dem Häuschen auf die glänzende Landstraße hinaus und tröstet sich mit der Einsicht: „Unser Reich ist nicht von dieser Welt! “ (110) Wohin geht es diesmal? Nun, keine Frage: nach Italien, dem alten Sehnsuchtsland der nördlich der Alpen Lebenden. Da war schon mancher Liebeskranke hingereist, und nach ihm wird es nicht anders sein. Es waren diese beiden ersten Kapitel der Erzählung, die Eichendorff unter der Überschrift Ein Kapitel aus dem Leben eines Taugenichts 1823 in den Deutschen Blättern für Poesie, Literatur, Kunst und Theater veröffentlichte. In der Fassung, die wir kennen, sind das zwei Kapitel, aber in dieser Zeitschriftenform ging alles bruchlos ineinander über. Das damals, 1823, Veröffentlichte war von Eichendorff, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, nicht rasch hingeschrieben worden, sondern hatte eine etwas längere Vorgeschichte. Die zwei Handschriften, in denen Teile des Taugenichts überliefert sind, sind nur schwer zu datieren, aber sie lassen erkennen, dass der Stoff einige Metamorphosen durchgemacht hat. Die erste Handschrift, vermutlich aus Eichendorffs Breslauer Zeit 1816/ 17 überliefert, hat als Überschrift: „Ein Familien- Gemählde“, und darunter in Klammern die Notiz: „Dies ist das zweite Kapitel des Taugenichts“, was einige Interpreten vermuten ließ, dass die Novelle vielleicht schon vor dem März 1817 entstanden sei. 2 Aber das ist wohl irrig, denn diese Handschrift enthält in einem wilden Durcheinander nur einzelne Stichworte und Einfälle; von einem zweiten Kapitel des Taugenichts kann trotz Eichendorffs Überschrift nicht die Rede sein. Man hat denn auch nur von gewissen Signalworten gesprochen 3 ; mehr lässt die Handschrift nicht erkennen. Sicher ist allerdings, dass der Titel Taugenichts von Anfang an feststand. Das Wort hatte Eichendorff vermutlich von Achim von Arnim, der in einem Aufsatz am Ende des ersten Bandes von Des Knaben Wunderhorn davon spricht, dass jeder als Taugenichts verbannt wurde, „der umherschwärmte in unbestimmtem Geschäfte“ 4 . Das war aber nicht negativ gemeint, denn Arnim ließ seine Leser wissen, dass gerade die Schwärmer, „diese schwärmenden Landsknechte und irrenden Ritter, diese ewige Völkerwanderung ohne Grenzverrückung, diese wandernde Universität und Kunstverbrüderung“ dem Staat zu Nutzen gereichen könnten, denn es seien „genug träger Zug im Menschen“ und „Einöden“; eben dagegen träten die Taugenichtse auf den Plan. 5 Ein Taugenichts ist also das (positive) Gegenbild zum Philister, wie der Spießbürger damals vor allem von den 2 Dazu überzeugend die ausgezeichnete Studie von Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des ‚Taugenichts‘. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. Erster Band: Text. Zweiter Band: Textgeschichte. Tübingen, 1989. Hier: Bd. 2. 24. 3 Ebd., 37. 4 Ebd., 15. 5 Ebd. Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 95 Studenten verspottet wurde, der Taugenichts ein romantischer Protest gegen die geordnete und phantasielose Welt der Normalität. Die Geschichte des Taugenichts bekam dann aber sozusagen noch einen neuen Dreh; eine zweite Handschrift nennt als Titel Der neue Troubadour . Der neue Titel erklärt sich daraus, dass der Taugenichts eine hochgestellte und verheiratete Frau liebt, also so etwas wie ein moderner Minnesänger ist. Das war damals ein zeitgenössisches Thema - mit Minnesängern hatten sich Tieck und Arnim, die Brüder Grimm und andere beschäftigt; Fouqué, Eichendorff besonders verbunden, hatte schon vor 1803 einen (allerdings später verschollenen) Roman Die Minnesinger geschrieben. Minnesänger begegneten ebenfalls in Görres’ Teutschen Volksbüchern - und auch Friedrich Schlegel, der den jungen Eichendorff ebenfalls stark beeinflusst hat, hatte in seinen Wiener Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur von Minnesängern gehandelt. 6 Der Taugenichts bei Eichendorff also in einer Art Frauendienst begriffen, die schöne gnädige Frau war zusätzlich mit einiger Mariensymbolik (die weiße Lilie! ) ausgestattet: das macht deutlich, dass diese Gestalt des Troubadours positiv gemeint war und nichts mitbekommen hat von der Kritik Eichendorffs an der „Nationaleitelkeit“, der „maßlosen Ruhmredigkeit“ und „Frivolität“ der mittelalterlichen Sänger. 7 Diese zweite (handschriftlich fixierte) Fassung, wohl nicht 1817, sondern in Danzig entstanden, wo Eichendorff seit Januar 1821 lebte, wurde zwar wieder verworfen, einiges aber blieb von der Minnesängerei in ihrer komischen Form erhalten - und 1823 erschienen dann die ersten beiden Kapitel als Ein Kapitel aus dem Leben eines Taugenichts . Eichendorff hat diese Zeitschriftenfassung als quasi in sich abgeschlossenes Werk veröffentlicht, und aus dem Titel sollte nicht zwingend hervorgehen, dass auf das eine Kapitel aus dem Leben eines Taugenichts noch etliche weitere folgen sollten. Denn es war ja ein Kapitel, nicht das erste Kapitel, und das in der Zeitschrift Veröffentlichte ist in sich so zusammenhängend und gut durchkomponiert, dass es als kleine Novelle durchaus überzeugt. Doch Eichendorff wollte aus der Geschichte mehr machen, dachte an eine Fortsetzung. Aber wie sollte das bislang Erzählte fortgeführt werden? Er hatte dem Publikum am Schluss der Zeitschriftenfassung eine verheiratete Gräfin vorgeführt, die erzählte Oper war an ein überzeugendes Ende gekommen, die Täuschung aufgehoben, der Vorhang hatte sich geschlossen. Überzeugend weitererzählen ließ sich das eigentlich nicht. Sollte der neue Troubadour die geliebte schöne Frau etwa aus Italien weiter besingen, blieb es bei der quasi ins 18. Jahrhundert versetzten hohen Minne, oder sollte die Begegnung mit ihr Episode sein, sollte nun ein neues Liebesabenteuer dem anderen folgen, Amouröses derberer Art ins Spiel kommen? Oder sollte sich nur einfach ein Wanderleben anschließen, wie es einem vagierenden Musikanten angemessen war? Denn von einem war der 6 Vgl. dazu Polheim (wie Anm. 2), Bd. 2, 82ff. 7 Literarhistorische Schriften von Freiherrn Joseph von Eichendorff. III. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Hg. Wolfram Mauser . [Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff . Historisch-Kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch]. Regensburg 1970. 68. Helmut Koopmann 96 Taugenichts überzeugt: dass die angebetete schöne junge Frau schon lange verheiratet war und an alles denken mochte, nur nicht an ihn, den neuen Troubadour. Die Geschichte geht, wie wir wissen, aber dennoch fast bruchlos weiter. Der Taugenichts findet sich in seinem ja von Haus aus sonnigen Gemüt mit der Enttäuschung ab, als habe er Thomas Manns Satz gekannt, dass man zuweilen das Negative positiv lesen müsse. So steigt er denn ein zweites Mal aus, „so überaus fröhlich, wie ei[nen] Vogel, der aus seinem Käfig ausreißt“ (110). Und weil ihn, wenn ihm trotz allem wieder wohl ist, Musik begleiten muss, so nimmt er zunächst einmal seine Geige vor und singt die vierte Strophe jenes Liedes, mit dem er sich schon aus seiner Heimat verabschiedet hatte: Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Lerchen, Bächlein, Wald und Feld Und Erd’ und Himmel thut erhalten, Hat auch mein Sach’ auf’s Best’ bestellt! (110) Und dann geht es „zwischen den grünen Bergen und an lustigen Städten und Dörfern vorbei gen Italien hinunter“. Er begegnet mancherlei Figuren. Ein Bauer, den er nach dem Weg nach Italien fragt, hat wenig Verständnis und will ihm mit Gewalt aus seinem Gras hinaushelfen, in das sich der Taugenichts für einen Schlummer einquartiert hatte. Eine Szene wie aus der „Commedia dell’Arte“ - und doch mit tieferem Hintergrund: in dem Grobian, dem Knollfinken (so wird der Bauer vom Taugenichts tituliert) meldet sich noch einmal die Arbeitswelt, die wohlgeordnete Bürgerlichkeit, die es am Sonntag nach einem Kirchgang verlangt und für die der Taugenichts ein Faulenzer ist, anders gesagt, ein zur bürgerlichen Pflichterfüllung gänzlich ungeeigneter „outcast“. Dazu überfallen ihn Anwandlungen von Heimweh und das Gefühl, unrettbar in der Fremde verloren zu sein, aber wie im Lustspiel geht es glücklich weiter. Der Taugenichts trifft auf zwei Maler, den Herrn Leonhard und den Herrn Guido - die kennen ihn (in Eichendorffs Novellen begegnen die wunderlichsten Zufälle, ohne dass der Leser sich darüber verwundert) und nehmen ihn wieder eine Weile mit, bis sie eines Morgens verschwunden sind und die Kutsche dem Reisenden allein gehört, und so wird weitergereist, Tag und Nacht, bis sich der Beutel mit Geld, den die beiden Maler dem Taugenichts hinterlassen haben, geleert hat - und dann kommt er wiederum in einem prächtigen Haus an, das aber kein neues Wirtshaus ist, sondern ein Schloss. Nun, da lässt er es sich wohl sein; er ist wieder einmal ins Schlaraffenland geraten. Dieses festliche Einerlei unterbricht dann aber ein Brief: er ist von der schönen Frau, und sie schreibt ihm, dass er doch zurückkehren solle: „Es ist so öde hier und ich kann kaum mehr leben, seit Sie von uns fort sind. Aurelie.“ (144) Nun hat die schöne Frau endlich auch einen Namen. Der Taugenichts liest das Liebesbriefchen noch einmal, und da hat er eine Idee, die ihn nur zu vergnügt macht: „Ist sie am Ende gar nicht verheirathet gewesen? dachte ich, war der fremde Offizier damals vielleicht ihr Herr Bruder, oder ist er nun todt, oder bin ich toll, oder “. Nun, das kann er alles nicht wissen, aber das will er auch gar nicht wissen, er lebt ja noch und: „‚Das ist alles einerlei! ‘ rief ich endlich und sprang auf, ‚nun ist’s ja klar, sie liebt mich ja, sie liebt mich! ‘“ Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 97 Wir erkennen: Eichendorff hatte offenbar einen genialen Einfall gehabt: die Geschichte des verliebten und dann so bitter enttäuschten Troubadours konnte dann weitergeführt werden, wenn Aurelie nicht Gräfin und verheiratet war, und eben dahin hat Eichendorff die Fabel gleichsam gedreht, und so konnte die Liebesgeschichte weitergehen. 8 Aber zunächst einmal neue Konfusionen. Man ist dem falschen Schlossbewohner inzwischen auf die Schliche gekommen, weiß, dass er nicht der ist, der er zu sein scheint, und als zwei Gestalten mit einem langen Messer unter seinem Zimmer verdächtig flüstern, er sich auch plötzlich eingesperrt findet, gefangen in der Fremde, da befreit er sich mit Hilfe eines Studenten, der zu den Schlossbewohnern gehört und ihm heraushilft. Doch als der ihm, auf den Knien zurutschend, offensichtlich eindeutige Avancen macht, da verschwindet er endgültig und hört dann, nach einer tagelangen Flucht, dass er kurz vor Rom sei: Das Meer leuchtete von weiten, der Himmel blitzte und funkelte unübersehbar mit unzähligen Sternen, darunter lag die heilige Stadt, von der man nur einen langen Nebelstreif erkennen konnte, wie ein eingeschlafner Löwe auf der stillen Erde, und Berge standen daneben, wie dunkle Riesen, die ihn bewachten. (150f.) Er war angekommen - vorerst. Rom, die Stadt der Paläste, der rauschenden Brunnen und der stillen Plätze. Er hört Musik aus einem der Gärten, und siehe da (wie könnte es anders sein? ), es ist die Stimme der schönen gnädigen Frau; sie singt ein Lied, das sie oft zuhause gesungen hat. Und mehr als das: er klettert über den Zaun und sieht sie selbst, will hin, aber er hat sich unseligerweise den Fuß verknackst - und so kann die schlanke weiße Gestalt sich in ihr Haus flüchten. Was bleibt dem Taugenichts? Immer das Gleiche: Wenn es besonders schön oder auch besonders schwierig ist in seinem Leben, schläft er auf der Schwelle vor der Haustür ein. Doch die Schöne zeigt sich auch am nächsten Morgen nicht, wohl aber ein deutscher Maler, der ihn fragt, was er in Rom treibe, und der Taugenichts kann nur antworten, dass er sich ein bisschen herumtreibe, um die Welt zu sehen. Da nimmt der Maler ihn unter seine Fittiche, und weil die Welt der Komödie ja doch eine begrenzte ist und immer wieder die gleichen Gestalten auf der Bühne erscheinen, ist bald die Rede von dem berühmten Meister Leonardo da Vinci und Guido Reni - und der einfältige Taugenichts meint, dass er diese wie seine Westentasche kenne, denn er sei ja mit ihnen eine Weile zu Pferde, zu Fuß und im Wagen gereist, worauf der deutsche Landsmann die Namen zurechtrückt und ihm klar macht, dass er nicht mit den Genannten, wohl aber mit zwei Malern namens Guido und Leonhard gefahren sei - ja, der Taugenichts bejaht das, und als er dann noch hört, dass eine Gräfin aus Deutschland dagewesen sei, die sich in allen Winkeln Roms nach den beiden Malern und nach einem jungen Musikanten mit der Geige erkundigt habe, und der Maler ihm noch ein Bild zeigt, auf dem die schöne gnädige Frau in einem Garten zu sehen ist, da hält es den Taugenichts nicht mehr, er springt in die Stadt hinaus. Die Botschaft, dass er am Abend wiederkommen solle und dann vielleicht mehr erfahren könne, hört er noch - aber schließlich hat er in 8 Dazu Polheim (wie Anm. 2) 186. Helmut Koopmann 98 seiner freudigen Trunkenheit den Namen des Platzes vergessen, und so legt er sich in der Mittagshitze erneut vor einem schönen großen Hause hin und schläft vor Ermüdung bald ein. Er träumt von Blumen, die wie Regentropfen auf ihn fallen - und als er aufwacht, fallen wirklich Blumen: ein Papagei hat sie ausgerupft, und wieder, wie in der „Commedia dell’Arte“, gibt es eine lustige Einlage, denn der Taugenichts zankt sich mit dem Papagei herum, der ihn einen furfante schimpft und auf italienisch auf ihn losgurgelt. Da aber lacht jemand, und, wie könnte es anders sein: es ist der Maler, der ihn am Morgen beköstigt hatte. Er führt ihn am Abend in einen anderen Garten; da ist eine andächtige musikalische Gesellschaft versammelt, bis ein ganz erhitztes junges Mädchen und ein junger Mensch hineinstürzen und einer der Anwesenden ausruft: Barbar! […] Du rennst da mitten in das sinnreiche Tableau von der schönen Beschreibung hinein, welche der seelige Hoffmann, Seite 347 des ‚Frauentaschenbuchs für 1816’, von dem schönsten Hummelschen Bilde giebt, das im Herbst 1814 auf der Berliner Kunstausstellung zu sehen war! (162) Ein Spaß Eichendorffs wie jener mit Leonardo da Vinci und Guido Reni, aber der Streit zwischen den jungen Leuten geht weiter, bis das Mädchen plötzlich an die Brust des Taugenichts stürzt und ihm einen Zettel gibt: Du abscheulicher Einnehmer! um Dich muß ich das alles leiden. Da steck’ den fatalen Zettel geschwind zu Dir, Du findest darauf bemerkt, wo wir wohnen. Also zur bestimmten Stunde, wenn Du in’s Thor kommst, immer die einsame Straße rechts fort! (163) Niemand geht in Eichendorffs Romanen und Erzählungen verloren, und das junge Mädchen, so erkennt der Taugenichts, ist die schnippische Kammerjungfer vom Schloß, die ihm damals eine Flasche Wein gebracht hatte, aber das Fest geht weiter, es wird gesungen und getanzt, bis alles müde wird. Das ist der Moment, wo die Kammerjungfer zu ihm sagt: „Sei kein Narr […] Du springst ja wie ein Ziegenbock! Studiere Deinen Zettel ordentlich, und komm bald nach, die schöne junge Gräfin wartet.“ Und da war geschrieben: „Elf Uhr an der kleinen Thüre.“ (166) Er ist schon vorher da, aber was sich dort abspielt, sind erneut Konfusionen; die Gräfin, so hört er, sei längst wieder in Deutschland, eine Gestalt mit einem weißen Mantel, die der Taugenichts für einen fremden Maler hält, enthüllt sich als die Kammerjungfer, und am Ende hat der Taugenichts, der nichts mehr versteht, nur noch einen Wunsch: er will dem falschen Italien mit seinen verrückten Malern, Pomeranzen und Kammerjungfern auf ewig den Rücken kehren. Das tut er denn auch - wir sind inzwischen im neunten Kapitel -, er trifft auf drei andere Musikanten, gesteht ihnen, dass er eigentlich ein Einnehmer sei, der aber schon längere Zeit nichts mehr eingenommen habe, und so habe er sich denn nur mit der Violine durchgeschlagen: ‚Bringt nicht viel heut zu Tage! ‘ sagte der Waldhornist, der unterdeß wieder an den Wald zurückgetreten war, und mit seinem Dreistutzer ein kleines Feuer anfachte, das sie dort angezündet hatten. ‚Da gehn die blasenden Instrumente schon besser‘, fuhr er fort; ‚wenn so eine Herrschaft ganz ruhig zu Mittag speißt, und wir treten unverhofft in das gewölbte Vorhaus und fangen alle drei aus Leibeskräften zu blasen an - gleich kommt ein Bedienter Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 99 herausgesprungen mit Geld oder Essen, damit sie nur den Lärm wieder los werden. Aber will der Herr nicht eine Collation mit uns einnehmen? ‘ (175) Es sind Prager Studenten, und der Taugenichts hat vor ihnen ordentlichen Respekt, „besonders da ihnen das Latein nur so wie Wasser vom Munde floß“. Er wird gefragt, ob er auch ein Studierter sei, und erwidert, dass er immer besondere Lust zum Studieren, aber kein Geld gehabt habe. „‚Das thut gar nichts‘, rief der Waldhornist, ‚wir haben auch weder Geld, noch reiche Freundschaft. Aber ein gescheuter Kopf muß sich zu helfen wissen‘“ (177). Und so ziehen sie denn weiter, man reist mit einem Postschiff, wie könnte es anders sein, auf der Donau zum Schloss der schönen Gräfin. Auf dem Schiff neue Konfusionen: der Taugenichts meint, dass er derjenige sei, auf den die Gräfin warte, und schließlich findet sich die Gesellschaft in eben dem Schlosse ein, das der Taugenichts früher verlassen hatte, um in die Welt, um nach Italien zu ziehen. Erneut kommt alles wieder zusammen: die schöne gnädige Frau erkennt ihn, ein junger Mann in feiner Jägerkleidung taucht auf - es ist der fröhliche Herr Leonhard, und nun scheint alles einem guten Ende zuzueilen, zumal der Maler Leonhard allen eine Säkularpredigt auf die Liebe hält: Die Liebe - darüber sind nun alle Gelehrten einig - ist eine der kuragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder, die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist eigentlich ein Poeten-Mantel, den jeder Phantast einmal in der kalten Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. (190) Und dann wird der Herr Einnehmer zum Bräutigam erklärt, die feine fremde Dame ist eigentlich der junge Herr Maler Guido, und schließlich erfährt der Taugenichts, dass er in der großen Konfusion der Herzen mitgespielt habe, und hört, was er in Wahrheit erlebt hatte: Leonhard, der eine der beiden Maler, dem der Taugenichts rechtzeitig genug begegnete, ist der Gutsnachbar der Schlossfamilie; er war mit der jungen Gräfin Flora auf der Flucht gewesen, und die Geliebte war von ihm als Maler Guido ausgegeben worden. Leonhard hat Schlösser in Italien, und in eines dieser Schlösser geriet der Taugenichts. Die alte Gräfin wiederum war mit Aurelie nach Rom gereist, weil sie Flora, ihre Tochter, suchte, die ja mit Leonhard quasi durchgebrannt war, und sie hatte sich in Rom nach den beiden Malern und einem jungen Musikanten mit der Geige erkundigt und sie suchen lassen. Anders gesagt: die Erzählung ist bis aufs genaueste durchkomponiert, es gibt keine dunklen Reste. Alles treibt aufs Ende zu, „wie sich’s von selbst versteht und einem wohlerzognen Romane gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhnung, wir sind alle wieder lustig beisammen, und übermorgen ist Hochzeit“. (194) Und zuletzt erfährt der Taugenichts durch die schöne Gräfin, dass damals auf dem Balkon tatsächlich jemand gestorben sei - nämlich „der Herr Gemahl von Ew. Gnaden“ es sei ja doch nur der Sohn der Gräfin gewesen, der eben von einer Reise zurückgekommen sei; sie selbst habe Geburtstag gehabt, und deswegen habe auch sie ein Vivat bekommen. Und dann ist da noch ein weißes Schlösschen, das im Mondschein glänzt, das hat ihnen der Graf geschenkt, und der Taugenichts kann nur noch rufen: „Mein Gott, schönste, gnädigste Gräfin, […] ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht vor lauter unverhofften Neuig- Helmut Koopmann 100 keiten; also der Herr Leonhard? “ Ja, erfahren wir zum Schluss, der heiratet nun die Tochter der Gräfin, die schöne Flora. Und dann sieht die vermeintliche Gräfin den Taugenichts an und fragt: „Aber was nennst Du mich denn Gräfin? “ Erst da gibt es die Auflösung der großen Konfusion, denn sie sagt: „Ich bin ja gar keine Gräfin, […] unsere gnädige Gräfin hat mich nur zu sich auf’s Schloß genommen, da mich mein Onkel, der Portier, als kleines Kind und arme Waise mit hierher brachte“ (197). Und nun fällt dem Taugenichts endlich ein Stein vom Herzen, nun kann er seine Angebetete heiraten, und er weiß auch, was dann geschehen wird: ‚[…] gleich nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom, da gehn die schönen Wasserkünste, und nehmen die Prager Studenten mit und den Portier! ‘ Sie lächelte still und sah mich recht vergnügt und freundlich an, und von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf - und es war alles, alles gut! (197) Ja, es war alles, alles gut, der kundige Leser von damals hat die Bibelzitate natürlich verstanden; verstanden haben dürfte er übrigens auch die mythologischen Anspielungen, verstanden haben, dass die Mutter der Gräfin, die korpulente mächtige Dame, alle Tribute der Venus parodiert an sich trägt. Und die Nähe von Maria und Venus dürfte ihm ebenfalls aufgegangen sein, zumal auch von erotischen Gefährdungen im Taugenichts deutlich genug die Rede ist und Eichendorff seine Erzählung Das Marmorbild zur gleichen Zeit veröffentlichte. Und so bekommt das Geschehen nachträglich doch noch so etwas wie einen doppelten Boden. Am Schluss aber ist alles wieder beisammen, am Ende steht eine Heirat oder vielmehr deren zwei, die Liebeskomödie ist gut ausgegangen, auch wenn das Fernweh geblieben ist: denn der Taugenichts will ja mit seiner frisch Angetrauten wieder nach Italien. Aber von dieser neuen Reise nach Süden erfahren wir nichts mehr: der Roman, der Herzensroman ist an ein Ende gekommen, das Glückskind ist am Ziel, der Troubadour hat ausgesungen, und trotz aller schlechten Prognosen ist aus dem Taugenichts doch noch etwas geworden - freilich kein Bürger, auch das will der Schluss besagen. Keine andere Erzählung hat unser Romantikbild stärker geprägt als diese, und kein Geringerer als Thomas Mann hat das Bild vom derart romantischen Eichendorff nachhaltiger geprägt. Seine Charakteristik, nicht zufällig 1916, in einem schlimmen Kriegsjahr niedergeschrieben, kann es, was sprachlichen Glanz angeht, durchaus mit Eichendorffs Taugenichtsprosa aufnehmen. Der kleine Roman, so heißt es bei Thomas Mann, ist wie sein Held „nichts weniger als wohlerzogen, er entbehrt jedes soliden Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozialkritischen Willens und jeder intellektuellen Zucht“ 9 ; aber dieses Manko werde weit aufgewogen durch das, was dieser kleine romantische Roman biete, und Thomas Manns Sätze aus den Betrachtungen eines Unpolitischen seien hier zitiert, weil sie sich so lange schon mit dem Eichendorff-Bild ebenso untrennbar wie nachhaltig verbunden haben: der Roman also, er ist 9 Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden , Frankfurt a.M., 1974. Bd. XII. 376. Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 101 nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung. Aber er ist auch Volkstanz im Sonntagsputz und wandernde Leierkasten, ein deutsch-romantisch gesehenes Künstler-Italien, fröhliche Schiffahrt einen schönen Fluss hinab, während die Abendsonne Wälder und Täler vergoldet und die Ufer von Waldhornklängen widerhallen, Sang vazierender Studenten, welche ,die Hüt’ im Morgenstrahl schwenken‘, Gesundheit, Frische, Einfalt, Frauendienst, Humor, Drolligkeit, innige Lebenslust und eine stete Bereitschaft zum Liede, zum reinsten, erquickendsten, wunderschönsten Gesange... Ja, die Weisen, die da erklingen, die überall eingestreut sind, als sei es nicht weiter viel damit, - es sind nicht solche, die man nur eben in Kauf nimmt, es sind Kleinode der deutschen Lyrik, hochberühmt, unserm Ohr und Herzen alt und lieb vertraut. 10 Und dann nennt er als „non plus ultra, eine betörende Essenz der Romantik“, ein Gedicht: Schweigt der Menschen laute Lust: Rauscht die Erde wie in Träumen Wunderbar mit allen Bäumen, Was dem Herzen kaum bewußt, Alte Zeiten, linde Trauer, Und es schweifen leise Schauer Wetterleuchtend durch die Brust. Als Thomas Mann einmal gefragt wurde, was denn sein Lieblingsgedicht sei, da nannte er Eichendorffs „Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküßt“ - es war für ihn „die Perle aller Perlen“. Aber es ist nicht nur der Erzromantiker Eichendorff und sein Taugenichts, der so schöne Lieder zu singen versteht; sein Menschentum sei „bestimmt eigentlich nur im nationalen Sinne, - dies allerdings sehr stark; es ist überzeugend und exemplarisch deutsch, und obgleich sein Format so bescheiden ist, möchte man ausrufen: wahrhaftig, der deutsche Mensch! “ 11 Bei letzterem wird man Abstriche machen müssen. Wir sehen heute anderes: Aufbruch, Kritik an allem Philistertum, Jugend, Freiheit von allen Lebenszwecken, ein endloses Spiel mit einer Wirklichkeit, die nicht ernst genommen wird, da man sie so leicht überwinden kann. Es ist wohl der Triumph der Poesie über das Leben. Spiegelt sich Eichendorffs Leben in seiner Novelle, ist sie ein Gegenentwurf zu seinem Dasein? Eichendorff war über Jahre hin und eigentlich sein ganzes Leben hindurch ein Gescheiterter, kam schon in seiner Militärzeit immer zu spät, und bereits 1814 schrieb er an den Grafen Loeben, dass seine Pläne und seine Wünsche auf fast beispiellose Weise misslungen seien. So war das wohl. Und das Misslingen zieht sich eigentlich durch sein ganzes Leben hindurch. Die frühe Heirat mit Luise von Larisch: Finanziell gesehen fast eine Katastrophe, denn die wirtschaftlich ruinierte Familie Eichendorff hätte eine reiche Schwiegertochter gebraucht. 1815 bittet er den späteren Kultusminister Eichhorn um die Vermittlung einer dotierten Beamtenstelle, 10 Ebd., 376. 11 Ebd., 381. Helmut Koopmann 102 um seine Familie ernähren zu können - vergeblich. In Breslau bewirbt er sich bei der Regierung um eine Anstellung als Referendar - ohne Gehalt. 1817 bittet er Savigny um die Vermittlung einer Professur für Geschichte an einer der rheinischen Universitäten - vergeblich, ebenso vergeblich die Hoffnung auf eine Landratsstelle im oberschlesischen Kreis Rybnik. 1819 bewirbt er sich erfolglos um eine Landratsstelle im Kreise Pless. Im gleichen Jahr 1819 wird er Assessor bei der königlichen Regierung in Breslau - wiederum ohne Gehalt. 1820 wird er mit der kommissarischen Verwaltung der Stelle eines katholischen Kirchen- und Schulrats in Danzig betraut - das aber auch nur, weil der preußische Kultusminister Freiherr vom Stein zum Altenstein dahinter stand. 1821 wird er Regierungsrat in Breslau, bekommt endlich auch ein jährliches Gehalt von 1200 Reichstalern. 1823 ist er in Berlin, vertritt eine Stelle am Kultusministerium. Im gleichen Jahr 1823 werden Schloss und Gut Lubowitz zwangsversteigert. 1824 geht Eichendorff nach Königsberg, 1826 ist er wieder einmal in Berlin, 1827 bemüht er sich vergebens um eine vakante katholische Schulratsstelle in Koblenz, 1828 sucht Görres vergeblich in München ihm eine Anstellung in Bayern zu vermitteln - und so geht das weiter. Er sucht 1831 nach einer Planstelle in einem der Ministerien, wird aber nur als beamteter ministerieller Hilfsarbeiter eingesetzt, mit wechselnden Aufgaben und vor allem mit nicht ausreichenden Bezügen. 1832 wird sein Antrag auf eine feste Anstellung im Außenministerium abgelehnt, er bleibt Hilfsarbeiter im Kultusministerium. 1834 folgt wieder eine vergebliche Bewerbung im Außenministerium, 1835 eine weitere vergebliche um eine feste Anstellung im Kultusministerium, 1837 das gleiche. 1839 verwendet Altenstein sich umsonst um eine Stelle beim Oberzensurkollegium, und als Altenstein gestorben ist, stellt ihn Friedrich Wilhelm IV. vor die Wahl: entweder Rückkehr nach Königsberg oder weiter Hilfsarbeiter unter dem neuen Kultusminister Eichhorn. Eichendorff entscheidet sich für Berlin. 1843 stellt Eichendorff mehrere Pensionsgesuche - erst das dritte hat Erfolg, 1844 wird er pensioniert. Was folgt, sind unruhige Wanderjahre, und zuletzt lebt er bei seinem Schwiegersohn in Neiße. Aber es wäre völlig falsch, die Taugenichts -Novelle als einen Gegenentwurf zu dem im ganzen miserablen Dasein des ministeriellen Hilfsarbeiters Eichendorff zu sehen, und erst recht ist die Novelle nicht das Ergebnis eines jahrzehntelangen Berufsfrustes. Was in der Erzählung beschrieben wird, spielt in einer eigenen Welt, und wenn die wirkliche auch einigermaßen dürftig war, so war die poetische Welt doch frei davon, auch wenn den Taugenichts manchmal eine geradezu existentielle Angst befällt, wenn er sich in der Fremde weiß und Heimweh ihn quält, Einsamkeit und Wehmut ihn bedrohen und wir einen Satz lesen wie „Alles das versenkte mich recht in einen Abgrund von Nachsinnen“ (108). Wir ahnen, dass es in diesem Dasein des Taugenichts auch Dunkelheiten geben könnte, doch wenn er traurig ist, dann wird ihm gleich wieder fröhlich, denn: sein Reich ist nicht von dieser Welt. Es ist eher ein poetisches Reich. Eichendorff hat einiges zitiert, neben Hoffmanns Erzählung Die Fermate vor allem einiges in den eingestreuten Liedern, so etwa aus Des Knaben Wunderhorn , auch aus Karl Maria von Webers Oper Der Freischütz , dazu finden sich lateinische Sprichwörter des Mittelalters. Aber sehr viel, alles in allem, ist es Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 103 nicht. Ahnung und Gegenwart , sein erster Roman, hat viel mehr zeitgenössische literarische Querbezüge aufzuweisen. Der Taugenichts ist also eine freie romantische Erzählung, spielend in einem Lande Nirgendwo, auch wenn Wien, die Donau, Rom und Rhein genannt sind. In der Tat: Von dieser Welt ist des Taugenichts Reich nicht. Etwas anderes steht noch im Hintergrund, und auch das könnte darlegen, warum die Eichendorffsche Erzählung nicht als Gegenerzählung zu seinem mehr oder weniger tristen Beamtendasein gelesen werden darf. Zweifellos ist der Taugenichts ein Hans im Glück, ein Fortunatus, ein Gotteskind, dem in seiner Naivität alles, auch das Schlechte und Böse, schließlich zum Guten ausschlägt. Aber man wäre schlecht beraten, würde man seine Geschichte in die Nähe des Kunstmärchens rücken, wie es sich bei Brentano oder E. T. A. Hoffmann findet. Märchenhaft ist die Welt nicht, in der sich der Taugenichts bewegt, denn wir hören ja von den Ländern und Orten, an die und in die er reist; es ist Österreich und die Donaulandschaft, es sind italienische Städte. Im Märchen haben die nichts zu suchen, und wenn am Schluss die Konfusionen aufgelöst werden, wenn die befremdlichen Ereignisse nachträglich ihren Sinn bekommen und die Figuren sich entlarven, wenn der Taugenichts aus seinen Träumen schließlich erwacht, dann hat auch das mit dem Märchen nichts zu schaffen. Verhüllung und Enthüllung, nach diesem Schema pflegt Eichendorff auch anderswo zu erzählen, aber vor allem: alles ist auf ihn, auf den Taugenichts bezogen, es ist seine Perspektive, die die Welt verdreht oder auch in einem höheren Sinne wieder zurechtrückt. Und es ist dieses sein Verhältnis zur Welt, das eine andere Ätiologie wahrscheinlicher macht. Eigentlich sind die Merkmale deutlich genug. Der Taugenichts, jung und schön („Come è bello! “ 125, meint der junge Maler nicht zu Unrecht), berufslos und ohne festen Wohnsitz, mit einer unsinnlichen und doch nahezu leidenschaftlichen Beziehung zu schönen Frauen, ein naiver Egozentriker, der sich gerne und ausgesprochen selbstgefällig in einem großen Spiegel betrachtet, als er auf so kuriose Weise ins italienische Schloss kommt, reiselustig und in den Tag hineinlebend - manches spricht dafür, dass wir es hier mit der romantischen Version des Schelmenromans zu tun haben, dass der Taugenichts also ein legitimer Nachfolger jener langen Reihe von Narren und Abenteurern ist, die die pikaresken Romane bevölkern. Dem Pikaro fehlt es, wie dem Taugenichts, an einer geschlossenen Individualität, und charakteristisch ist auch anderes: die niedere Abkunft des Schelmen ebenso wie der vorübergehende Aufstieg in höchste soziale Schichten - das kennzeichnet auch den Taugenichts. Er ist und bleibt immer und überall ein reisender Schelm, ein Vagant, der sich durch die Welt hindurchabenteuert. Auch der Schelmenroman ist immer ein Reiseroman, und nicht weniger typisch ist vom barocken Schelmenroman bis zu Thomas Manns Felix Krull die erotische Attraktivität des zumeist jungen und schönen Helden. Nun ist der Taugenichts auch in diesem Bereich eine bis zum Komischen naive Figur, aber eben diese Art von überlegener Naivität prägt schon Grimmelshausens Simplicissimus wie den Helden von Günter Grass’ Blechtrommel. Bezeichnend für den Typus dieses Schelmenromans ist auch, dass die Reise, die er antritt, häufig eine Lebensreise oder doch ein Teil davon ist, und noch bezeichnender, dass er in das Milieu zurückkehrt, aus dem er hochge- Helmut Koopmann 104 kommen ist, gelegentlich sogar an den Ort, von dem er ausgegangen war. Eines scheint dem Taugenichts zu fehlen: Zeit- und Weltkritik aus der Sicht des sozial Niedrigen. Aber der Taugenichts hat auch die Philisterkritik und das hochmütige Niedersehen auf die Welt der Arbeit und der sozial geordneten Verhältnisse mit anderen Schelmen gemeinsam, am deutlichsten vielleicht mit Thomas Manns Felix Krull - und es ist sicherlich kein Zufall, dass Mann bewegende und eindringliche Worte für diesen Eichendorffschen Roman gefunden hat. Woher diese Nähe zum Schelmenroman? Eichendorff hat 1810 schon den Simplizissimus von Grimmelshausen erwähnt, „den herrlichen Simplicissimus“, er hat ihn sich selbst gekauft. Natürlich kannte er Cervantes und seinen Don Quichote , wohl auch Lazarillo de Tormes , das Urbild des Schelmenromans. Noch in seiner späten Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands ist aber vor allem vom Simplicissimus als dem einzigen wahrhaftigen großartigen Roman jener Zeit die Rede, die wichtigste Brücke vom Mittelalter zum modernen Roman, keine elegische Klage, sondern ein „humoristisches“ Werk. 12 Das Närrische, das gibt es auch in der Welt des Taugenichts, ebenso das Motiv von der vertauschten Welt, bis der Tausch schließlich aufgehoben wird und die Konfusion endet: das ist bei Grimmelshausen so deutlich zu erkennen wie in Eichendorffs Novelle. In seiner Literaturgeschichte hat Eichendorff schließlich ebenfalls den Eulenspiegel erwähnt, und er kennt noch einen anderen Schelm, der in Münchhausen seinen letzten Urenkel habe, nämlich den zwischen Schelm und Prahlhans schwankenden Schelmuffsky. Das war zu Eichendorffs Zeit bekannter Stoff. Immermanns Münchhausen entstand 1838/ 39; 1834 war das Fragment eines Schelmenromans von Heinrich Heine erschienen mit dem Titel Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski - eine kaum verhüllte Nachdichtung des Schelmuffsky von Christian Reuter, 1696 geschrieben. Daraus darf man auf ein allgemeines zeitgenössisches Interesse am Schelmenroman schließen, das offenbar zusammenhing mit dem Interesse an der spanischen Literatur überhaupt. Der Taugenichts als Glückskind, dem alles gelingt, der die Schatten, die gelegentlich aufsteigen, einfach beiseite wischt. Aber in Eichendorffs Welt gibt es auch noch etwas anderes, gleichsam einen Anti-Taugenichts, einen Anti-Helden, ein Anti- Glückskind. Ein erzählerisches Fragment Eichendorffs handelt vom Unstern , und das ist der Pechvogel, dem nichts gelingt. „Ich habe in der That überall unmenschliches Glück“, sagt der Unstern über sich: Im entscheidenden Moment aber überrumpelt mich jedesmal unwiderstehlich hinreißend mein poetisches, oder vielmehr tiefhumoristisches Naturell, das immer zur Unzeit schla- 12 Literarhistorische Schriften von Freiherrn Joseph von Eichendorff. II: Abhandlungen zur Literatur . Aufgrund von Vorarbeiten von Franz Ranegger Hg. Wolfram Mauser. [ Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff . Historisch-Kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch. Bd. VIII] Literaturhistorische Schriften II. Regensburg, 1965. 61. Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 105 gend gegen jederlei verdrehte u. versteckte Affectation der Welt heiter-wüthend, plötzlich, unversehens u. fast jauchtzend ausbricht, […] so daß mir jedesmal, […] Fortuna’s Haarzopf im letzten Moment wieder entwischt […]. 13 Ihm missglückt, wie Eichendorff selbst, eine Anstellung im Anschluss an einen Besuch bei einem Minister. Wir lesen in diesem Unstern -Fragment: […] ich muß gleich zu Tische bleiben, sitze neben dem Fräulein Tochter des Herrn M[inister]: […] eine große Vase mit Blumen auf der Tafel vor mir. ‚Wer ist der feine junge Mann? ‘, heißt es. Ich werde vorgestellt rechts u. links, sponsire mit dem Fräulein […] aber ich bin schon hier überall humoristisch-übertrieben in meinen Komplimenten p: . Nun stirbt bei der Tafel selbst plötzlich zum Glück unverhofft ein Rath o. dgl., der bei eben diesem Diner zuviel Austern gegeßen. Großer Rumor, der Minister deutet sogleich an, daß ich die Stelle haben soll, u. empfiehlt mich dem anwesenden betreffenden Präsidenten. - Ich begleite nun als Leidtragender den verstorbenen Rath zu Grabe, entsetzliche Floskeln, u. Lobhudeleien über die erstaunlichen, unsterblichen Verdienste des Dahingeschiedenen, […] mache vielleicht gar selber eine humoristische Rede am Grabe […], wobei ich das Leben des Verewigten mit einer stillen Auster vergleiche, die ruhig in sich saugt. […] so daß der Präsident mich entrüstet stehn läßt […] u. die gantze prächtige Anstellung, zum Verdruß des Herrn M: , mir an der Nase vorbeigeht. 14 Eichendorff hat sich mit dem Unstern-Thema seit 1837 beschäftigt, den Stoff aber endgültig aufgegeben; manches ist in sein Incognito eingegangen, anderes sollte in sein Bilderbuch aus meiner Jugend hineingenommen werden. Ist der Taugenichts die humoristische Form der Weltsicht, so beherrscht den Unstern die Satire, aber beiden ist gemeinsam, dass ihr Reich nicht von dieser Welt ist. Vielleicht ist der Unstern liegengeblieben, weil der Taugenichts nicht noch ein zweites Mal, auch nicht in seiner Umkehrung, geschrieben werden konnte. Die wohl schönste Erzählung der deutschen Romantik, die zugleich Schelmenroman ist und Reiseroman, in der Opernszenen begegnen und wo die Welt nichts anderes ist als ein großes Theater, in dem nichts das ist, was es darstellt, die aber auch eine Kriminalerzählung von hoher Qualität ist, weil das kluge Gespinst der Verwechslungen sich am Ende dann doch wieder auflöst und die Konfusionen zurechtgerückt werden, diese Novelle enthält wohl tatsächlich, wie Thomas Mann das genannt hat, “eine betörende Essenz der Romantik“. 15 Aber der Taugenichts i st zugleich Weltliteratur, er wird überall gelesen, auch wenn er unserem Verständnis nach manchmal auf sonderbare Weise falsch gelesen wurde. Was hätte Eichendorff wohl gesagt, wenn er die Rückübersetzung einer Übertragung 13 Joseph von Eichendorff, Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente . Text und Kommentar. Hg. Dietmar Kunisch. [ Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe . Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann. Bd. V/ 4] Tübingen 1998. 24f. 14 Ebd., 27ff. 15 Thomas Mann (wie Anm. 6). 377. Helmut Koopmann 106 seiner Erzählung vom Taugenichts , dem wanderlustigen Müllerburschen, ins Chinesische gekannt hätte? Dort ist der liebenswürdige Held, der uns ja wie die Gestalt aus einer anderen Welt vorkommt, ein „leistungsunwilliger Freßsack“ und ein „Volksschädling, der sich außerhalb der maoistischen Gesellschaft befindet.“ 16 Die Übertragung des Titels in chinesische Charaktere läuft in etwa auf „Aufzeichnung von Genüßlichkeit im Leben eines Freßsacks“ hinaus. Eine absurde Überschrift, aber mit einem Hauch von Wahrheit, wenn wir uns des Erzähleingangs erinnern. Wie kommt es zu der chinesischen Lesart? Nun, die Schwierigkeiten sind im Chinesischen im wahrsten Sinne des Wortes buchstäblicher Natur: chinesische Schriftzeichen sind bekanntlich traditionell so beladen, dass sie durchaus missverständlich gelesen werden können; das beginnt schon beim Wort „Freiherr“ und endet noch lange nicht beim „Taugenichts“. Eichendorff selbst ist es im Chinesischen ähnlich ergangen wie seinem Helden: der Name des Dichters ist wiedergegeben mit Zeichen, die auf deutsch etwa lauten würden: „Sein Hang zur Freude war immerdar groß“. Nun, je nach mehr philosophischen oder mehr gefühlsbetonten Assoziationen kann es eben überall Missverständnisse geben, aber die maoistische Gesellschaft hat nicht gezögert, auch ihre Kritik an jenem treuherzigen homo viator , der mit seiner Geige durch die Landschaft streicht und dessen Reich nicht von dieser Welt ist, schon in der Übersetzung des Titels so unmissverständlich wie deutlich auszudrücken. Dennoch gibt es trotz des uns so absurd übertragenen Taugenichts Tröstliches zu vermelden: die Erzählung gilt selbst in China als Werk der Weltliteratur, und deutlichster Hinweis darauf ist die Aufnahme des Taugenichts in die Jedermann’s Bibliothek , ein chinesisches Gegenstück zur englischen Everyman’s Library -Reihe. Das hätte Eichendorff mit seinem in chinesischer Lesart „Hang zur Freude“ im Titel am Ende wohl tatsächlich Vergnügen bereitet, hätte er davon gewusst. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Joseph von Eichendorff: Erzählungen. Erster Teil. Hg. Karl Konrad Polheim. Tübingen, 1998. [ Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff . Historisch-Kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und herausgegeben von Hermann Kunisch (†) und Helmut Koopmann. Bd. V/ 1]. 16 Dazu Helmut Koopmann, Eichendorff in der Fremde. Seine Wirkung in Europa und der nichteuropäischen Welt. In: Aurora 52, 1992. 85-100. Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 107 Forschungsliteratur: Alewyn, Richard: „Eine Landschaft Eichendorffs.“ In: Paul Stöcklein (Hg.). Eichendorff heute. Stimmen der Forschung . München, 1960. 19-43. (zuerst in Euphorion 51. 1957. 42- 60) Kohlschmidt, Werner: „Die symbolische Formelhaftigkeit von Eichendorffs Stil.“ In: Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte und Wirkung der deutschen Klassik und Romantik . Bern, 1955. 177-209. (zuerst in Orbis litterarum, T. 8. Kopenhagen, 1950. 322- 354) Mauser, Wolfram (Hg.): Literaturhistorische Schriften von Freiherrn Joseph von Eichendorff. III. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. [ Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe. Begründer Wilhelm Kosch und August Sauer. Hg. Hermann Künisch] Regensburg, 1970. 68. Polheim, Karl (†) und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des ‚Taugenichts‘. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist . Erster Band: Text. Zweiter Band: Textgeschichte. Tübingen, 1989. Polheim, Karl Konrad: Neues vom „Taugenichts“ . In: Aurora 37. 1977. 21-32. Seidlin, Oskar: Der Taugenichts ante portas . In: Ders. Versuche über Eichendorff . Göttingen, 1965. 14-31. [zuerst in: Journal of English and Germanic Philology 52, 1953. 509- 524]. Ders.: Die symbolische Landschaft. In: Ders. Versuche über Eichendorff. Göttingen, 1965. 32-53. [zuerst in: Publications of the Modern Language Association of America 72. 1957. 645-661, als Eichendorff’s Symbolic Landscape]. Wiese, Benno von: Joseph von Eichendorff: „Aus dem Leben eines Taugenichts.“ In: Ders. Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen I. Düsseldorf, 1962. 79-96. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche : Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen (1842) Sabine Doering-Manteuffel Im Februar 1783 erschlug der Bauernknecht Hermann Georg Winkelhagen den Juden Soistmann Berend in einem Waldstück nahe der Ortschaft Bökendorf im westfälischen Landkreis Höxter. Es ging um die Rückzahlung von Schulden für ein Gewand, die der Bauernknecht nicht pünktlich leisten konnte. Der Täter entzog sich der Strafverfolgung durch Flucht nach Algerien, kehrte aber im April 1806 in sein Heimatdorf zurück. Im September des selben Jahres fand man ihn abseits des Dorfes tot an einem Baum hängend. Winkelhagen hatte Selbstmord begangen. 1 Der Urgroßvater der Dichterin Annette von Droste-Hülshoffs, Caspar Moritz von Haxthausen zu Abbenburg, war zu jener Zeit oberster Gerichtsherr dieser Provinz. Die Schriftstellerin erhielt vielleicht schon 1805, noch als Kind, das erste Mal Kenntnis von dem Judenmord bei Höxter - die literarische Verarbeitung des Vorfalls zu einem „Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen“, wie der Untertitel des 1842 erschienenen Werkes „Die Judenbuche“ lautet, dauerte über Jahrzehnte an. Die Geschichte, die Annette von Droste-Hülshoff aus den Gerichtsakten erarbeitet hat, sei im Folgenden kurz wiedergegeben: Das Dorf B. war ein „Fleck, so schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge des Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht, [...] kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab“ 2 , schrieb die Droste, in dem gute und schlechte Menschen, Bauern, Händler und Wilderer im Gefüge der alteuropäischen Wirtschafts- und Lebensweise ihr Auskommen hatten. Prekär blieb das Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung, Außenseiter, die sie waren, im Ständegefüge der ländlichen, christlich geprägten Welt. Die Rollen waren verteilt, die wechselseitigen Geschäfte gingen ihren Gang. Doch die Ruhe sollte nachhaltig gestört werden. Im Dorf wuchs ein Junge zum Mann heran, Friedrich Mergel, Sohn eines Quartalstrinkers, ein schwieriger Fall. Er lebte mit seiner Mutter Margreth nach dem Tode des Vaters in einer Kate am Rande der dörflichen Gesellschaft und verdiente sein Brot als Hirte und Gelegenheitsarbeiter. In einer stürmischen Gewitternacht nach einer Hochzeitsfeier sah man eine Frau in das Treppenhaus des Guts- und Gerichts- 1 Horst-Dieter Krus: Mordsache Soistmann Berend. Zum historischen Hintergrund der Novelle „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff . Münster, 1994. 2 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche . S. 11. In: Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke . Hgg. Bodo Plachta und Winfried Woesler, Bd. 2. Darmstadt, 1998. S. 11-62. Sabine Doering-Manteuffel 110 herrn hetzen und die Worte hinausschreien: „Gerechtigkeit! mein Mann ist erschlagen“! 3 Das war die Frau des Juden Aaron, den sein Hund tot im Wald liegend aufgefunden hatte. Der Verdacht fiel zwar auf Mergel, doch der Mann war nicht aufzufinden, und blieb auch für die nächsten Jahre verschwunden. Die jüdische Gemeinde, voran der Rabbiner, kaufte bald darauf vom Grundherrn die Buche, unter der Aaron erschlagen worden war. In einem feierlichen abendlichen Ritual ritzten sie in deren Rinde einen hebräischen Sinnspruch ein. Die Tat schien gesühnt. Jahrzehnte später tauchte im Dorf ein Mann auf - Friedrich Mergel war aus Heimweh, aber unter falschem Namen zurückkehrt. Tage später fand man den Mörder Aarons an der „Judenbuche“ hängend. Die Inschrift in ihrer Rinde lautete: „Wenn du dich diesem Ort nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ 4 Niemand, so die Botschaft, wird seiner gerechten Strafe entkommen. Das ist die Version der Geschichte, wie sie die Droste erzählt hat. Sie handelt von mehr als von einem gewöhnlichen Mord. Sie spricht von Schuld und Sühne, von Toleranz und Humanität, vom Leben und vom Sterben, vom Zusammenleben der Religionsgemeinschaften auf engem Raum, vom Zeichen und Symbol. Das sind große Themen - durch eine großartige Sprache ins Bild gesetzt. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, was der Ausdruck „ein Sittengemälde“ bedeutet, den Annette von Droste-Hülshoff als Untertitel gewählt hat. Diese Bezeichnung klingt nach einer geschlossenen Welt, in der feste Regeln herrschten, Regeln, an die jedermann gebunden war. Unsere heutige Kenntnis der ländlichen Sitten und Gebräuche jener Zeit, also des frühen 19. Jahrhunderts, beziehen wir aus Sachzeugnissen und volkskundlichen Beschreibungen über das Leben der bäuerlichen Bevölkerung Westfalens. Quellen und Forschungen sind reichlich vorhanden. Die Volkskunde als Wissenschaft ist in Westfalen sehr gut vertreten: das Institut für Volkskunde der Universität Münster forscht seit Jahrzehnten über Haus und Hof, Möbel und Inventar, Wohnen und Wirtschaften, religiöse Einstellungen und Brauchformen. Zudem gibt es eine ganze Reihe von namhaften Freilichtmuseen, z.B. das Niedersächsische Freilichtmuseum Cloppenburg, das älteste seiner Art in Deutschland, und das Freilichtmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Detmold mit dem Schwerpunkt Historisches Bauen, Alltagskultur und Landschaft, Tiere, Gärten. Hier spielen die sozialen Schichten und der kulturökologische Gesichtspunkt eine besondere Rolle. Man rekonstruiert das Verhältnis von Mensch und Umwelt in den historisch gewachsenen Kulturlandschaften Westfalens. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse geben den Rahmen für das Verständnis der Judenbuche als „Sittengemälde“ vor. 5 3 Wie FN 1, S. 46. 4 Wie FN 1, S. 62. 5 Das Niedersächsische Freilichtmuseum Cloppenburg wurde 1934 gegründet und umfasst rund 50 originale Wohn- und Wirtschaftsgebäude sowie Mühlen und Handwerksbetriebe aus der Zeit zwischen dem 16. und 20 Jahrhundert. Nähere Informationen siehe: <http: / / www.museumsdorf.de/ > (Aufgerufen am 1.9.2009). Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 111 Die Judenbuche gehört zu den kanonisierten Schullektüren. Generationen von Schülern haben sie gelesen und waren von dem Text fasziniert. Dennoch bleibt er in der Rückschau eigentümlich fremd. Das ist kein Zufall. Für Schüler mag es schwierig sein, die komplexen Zusammenhänge zu verstehen, die das christlich-jüdische Zusammenleben auf dem Land geprägt haben. 6 Annette von Droste-Hülshoff hat zudem mächtige Bilder in die Vorgänge um den Mord an dem Juden Aaron eingeflochten. Farbig und lebendig sind die Schilderungen von Hochzeiten, von Landschaftseindrücken, von Land und Leuten. Man spricht heute viel vom „iconic turn“. Die Bedeutung von Bildern für das Verständnis unserer Welt ist in den vergangenen zwanzig Jahren gewachsen. Unser Bewusstsein „denkt“ nicht nur über sprachliche Kommunikationsmittel, sondern auch über gespeicherte Bilder, die aus der Erinnerung abgerufen werden können. Die „Judenbuche“ ist ein Text, in dem solche Bilder verwoben sind. Die Kulturwissenschaften können sie, zumindest teilweise nach Quellenlage, sichtbar machen. Land und Leute - das Dorf B., seine Lebensgrundlage „Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B.“ 7 So beginnt der Text. Diese Zeilen werden als Aufforderung verstanden, sich mit Land und Leuten vertraut zu machen. Das Dorf Bellersen, von dem hier die Rede ist, liegt im ehemaligen Hochstift Paderborn in Höhe des Ortes Brakel. 8 Diese malerische Gegend ist bemerkenswert. Es gab neben der katholischen Bevölkerung, welche die grundbesitzenden Bauern stellt, das Landjudentum mit seiner ganz anderen Binnengliederung und sozialen Schichtung. Über dieses Landjudentum wusste man lange Zeit sehr wenig, ebenso wie über die ärmeren Schichten der christlich-bäuerlichen Gesellschaft. Armut und Elend sind in den vergangenen Jahrzehn- Das Freilichtmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Detmold wurde 1960 gegründet und umfasst neben historischen Bauten zahlreiche Zeugnisse aus der Lebenswelt Westfalens zwischen 1500 und Heute. Nähere Informationen siehe: <http: / / www.lwl.org/ LWL/ Kultur/ LWL-Freilichtmuseum-Detmold/ > (Aufgerufen am 1.9. 2009). 6 Von den zahlreichen didaktischen Einführungen über die „Judenbuche“ seien genannt: Annette Coen: Literatur-Kartei zur Novelle von Annette von Droste-Hülshoff „Die Judenbuche“ . Mühlheim a.d. Ruhr, 1997. S. 20ff. Johannes Diekhans (Hg.): Die Judenbuche. Unterrichtsmodell . Erarbeitet von Doris Hönes und Johannes Diekhans. Paderborn, 1999. Arbeitsblätter 1-8. Heinz Rölleke: Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. Interpretation . München, 1989. 7 Wie FN 1. 8 Ludwig Maasjost: Paderborner Land. Ein Bildband der Kreise Büren, Höxter, Paderborn und Warburg . Iserlohn, 1968. Georg Vockel: Land und Leute, gestern und heute. Streiflichter aus dem Hochstift . S. 31-35. In: Josef Drewes (Hg.): Das Hochstift Paderborn. Porträt einer Region . Paderborn, 1997. Sabine Doering-Manteuffel 112 ten aber mehr und mehr ein Thema für kulturhistorische Regionalmuseen und Studien geworden, auf deren Material man nun zurückgreifen kann. Die Judenbuche ist zwar ein literarisches Produkt, aber dennoch kann man sie sozialgeschichtlich und ethnologisch lesen. Das ist deshalb möglich, weil sie nicht nur auf literarischer Produktion, sondern auch auf ländlichen Rechtsquellen beruht, eine bevorzugte Quellengattung der Volkskunde, in der sich das soziale Leben und die Konflikte einer Gesellschaft widerspiegeln. Diese Quellen ermöglichen es, ein „Sittengemälde“ zu zeichnen, das ganz neue Akzente des Textes zum Vorschein bringt. Eine Einschränkung sei gleich vorweggenommen. Die „Judenbuche“ hätte auch in anderen Regionen spielen können, da die Probleme sich durchaus nicht auf Westfalen beschränken lassen, wie die Einzigartigkeit und Popularität der Novelle suggerieren. Aus der Rhön oder aus Franken, aber auch aus Schwaben, kennen wir ähnliche Darstellungen der Rolle des Landjudentums im 19. Jahrhunderts, und eben auch jener Konflikte, die sich aus dem Zusammenleben der Konfessionen und Religionsgemeinschaften ergeben. 9 Die ländliche Ständegesellschaft - Arm und Reich auf engem Raum In der Vormoderne war Europa agrargesellschaftlich geprägt. Ein Großteil der Bevölkerung lebte auf dem Lande, was sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung und Verstädterung änderte. Die besitzenden Bauern waren ihrem Grundherrn durch verschiedene Dienste, Abgaben und Pflichten verbunden, die Tagelöhner und Knechte verdingten sich beim Grundherrn selbst oder in den bäuerlichen Wirtschaften, die ihnen ein schmales Auskommen boten. Die Bevölkerung im Hochstift Paderborn war einheitlich katholisch, die Bräuche und Sitten dementsprechend geprägt von den Jahrskreisen im Kirchenkalender und den Zyklen und Übergangsritualen im Lebenslauf, die von der Wiege bis zur Bahre das Leben begleiteten. Jeder Stand hatte bestimmte Repräsentationsformen, die sich in der Kleidung, in den Gaben, in der Ausstattung von Mitgiften und vielen anderen Verrichtungen widerspiegelten. Die wichtigste und augenfälligste Demonstration von Macht und Besitz boten Haus und Hof. Details des Hausschmuckes oder der Inneneinrichtungen orientierten sich häufig am nächst höheren Stand, an den Schaugiebeln städtischer Patrizierhäuser, am schweren, eichernen Mobiliar des Adels, an Bewahrmöbeln wie Truhen und Schränke, die Besitzstolz repräsentierten. Annette von Droste-Hülshoff entstammt einer alten katholischen Adelsfamilie. Auf dem Adelssitz Hülshoff im Münsterland, der ihrem Vater, Clemens-August von Droste-Hülshoff gehörte, verbrachte sie ihre Kindheit. Ihre Mutter, Therese Louise, geb. von Haxthausen, stammte aus dem Hochstift Paderborn. Das Hülshoffsche Wasserschloss und die anderen ländlichen Adelssitze, auf denen sich Annette von 9 Ralf Salamander: Die jüdische Welt von gestern 1860-1938 . Wien, 1990. Wolfgang Brückner: Rhöner Schnitzfiguren aus dem 19. Jahrhundert . Petersberg, 2008. Darin die Juden-Figuren ab S. 105ff. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 113 Droste-Hülshoff von Kindesbeinen an bewegte, dienten als Vorbild für den Grundherrnbesitz aus der „Judenbuche“. Diesem Stand unterlag die ländliche Gerichtsbarkeit. Auf das Anwesen flüchteten sich die Bauern bei drohendem Unheil. In der „Judenbuche“ passiert das mehrfach: bei Unwettern, wenn ein Mord geschieht oder wenn jemand Schutz sucht. Hier finden auch die Gerichtsverhandlungen bei Straftaten statt, bei denen die Bauern aber kaum den Mund aufbekommen, da zwischen Adel und Bauern eine gewisse Distanz herrscht. Abb. 1: Annette von Droste-Hülshoff, Porträt. Gemälde von Johann Joseph Sprick (1838) Abb. 2: Wasserburg Hülshoff in Havixbeck bei Münster. Hier verbrachte die Dichterin ihre Kindheit. Fahren wir nun mit den reichen Bauern fort. Die Höfe der reichen Bauern zeugen vom Besitzstolz und vom Wohlstand der Familien, die unter Umständen jahrhundertlang dasselbe Land ihr Eigen nannten. Die Abbildungen stammen aus einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme westfälischer Volkskundler aus den 1960er Sabine Doering-Manteuffel 114 Jahren. Hier sieht man sehr deutlich das Selbstbewusstsein dieser grundbesitzenden Bauern. 10 Abb. 3: Quadmannshof aus Elsten, Oldenburger Münsterland, erbaut 1805. Abb. 4: Kaminzimmer des Schönhofes, Wiedenbrück, erbaut um 1700 10 Matthias Zender und Wilhelm Brepohl et al. (Hg.): „Der Raum Westfalen. Wesenszüge seiner Kultur.“ Bd. IV/ 2. In: Beiträge zur Volkskunde und Baugeschichte . Münster, 1965. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 115 Friedrich Mergel, der Judenmörder, gehört nicht in diese Schicht, sondern in eine Kuhhirten- und Tagelöhnerfamilie mit geringem Pachteinkommen, weshalb der Junge noch etwas dazu verdienen muß. Er verdingt sich als Hirte und Handwerker. In dieser Problematik liegt auch der Grundkonflikt begründet. Mergel spürt, dass er ein Außenseiter ist, was den jungen Mann zutiefst kränkt. Die soziale Durchlässigkeit war sehr gering. Er hatte keine Chance, in die gut situierte Bauernschaft aufzusteigen. Arbeit und Fleiß konnten den fehlenden Landbesitz und den Familienhintergrund nicht ersetzen. Mergel versucht es auf seine Art. Er kauft sich vom Juden Aaron eine Uhr, um den Mädchen zu imponieren. Auf einer Hochzeitsfeier, auf der es wild zugeht, zeigt er sie stolz vor. Doch plötzlich steht der Jude Aaron in der Tür und verlangt nach dem noch ausstehenden Geld. Er ruft aus: ‚O weh mir! warum hab’ ich nicht gehört auf vernünftige Leute! Haben sie mir nicht hundertmal gesagt, Ihr hättet all Eu’r Gut am Leibe und kein Brod im Schranke! ‘ - Die Tenne tobte vor Gelächter; manche hatten sich auf dem Hof nachgedrängt. - ‚Packt den Juden! wiegt ihn gegen ein Schwein! ‘ riefen einige, anderen waren ernst geworden. 11 Mergel ist vor den reicheren Mädchen bodenlos blamiert und es hilft ihm auch nichts, dass er der beste Tänzer und einer der hübschesten Jungen des Dorfes ist. Was zählt, ist allein der Besitz und die Tradition. Schönheit und andere Tugenden waren sekundär, sozialer Aufstieg kam selten vor. Was hatte diese Uhr zu bedeuten? Sie steht als Symbol für Prestigegüter, wie sie im ländlich-bessergestellten Haushalt des 18. Jahrhunderts Einzug hielten. Dazu gehörten Standuhren, Spiegel und Himmelbetten, während in den ärmeren Schichten die Schlafbank oder die Strohschütte üblich waren. Eine goldene Uhr bedeutete zwar viel, aber sie war auch modisch und flüchtig und stand für die neue Zeit, in der die alten Werte kaum noch Gültigkeit hatten. Sie kann jedenfalls mit den über Generationen überlieferten Eichentruhen und Eichenschränken, mit dem schweren Leinenzeug aus der Aussteuer der wohlhabenden Mädchen, mit den Silber- und Goldknöpfen, den Litzen und Bändern, nicht konkurrieren. Besitz bedeutet Tradition, Dazugehören, und die engen Heiratskreise anzuerkennen, die den Erhalt des Standes und des Landes über viele Generationen erst ermöglichen. Im 19. Jahrhundert kamen neue Prestigegüter in diese Häuser, das Sofa und das Klavier, der Ohrensessel und die Kommode. In der Inneneinrichtung, wie auch bei den Schaufassaden und beim Giebel, richten sich die reichen Bauern nach dem Geschmack der Stadt. Deelen wie jene aus der „Judenbuche“, auf der die Hochzeit mit der für Friedrich Mergel so peinlichen Uhren-Szene stattgefunden hat, bildeten den Mittelpunkt des sozialen Lebens. Dort wurde gearbeitet, etwa gedroschen, dort wurde geheiratet und die Totenbahre aufgestellt. 11 Wie FN 1, S. 45. Sabine Doering-Manteuffel 116 Abb. 5: „Dodenbeer“ im Oldenburgischen: Gemälde von B. Winter 1910 Das Leben der ärmeren Schichten war hingegen geprägt von Entbehrungen, sozialer Ausgrenzung und kargem Einkommen. Die Quellen fließen schon spärlicher, und selbst in den Freilichtmuseen finden sich kaum Sachzeugnisse der ärmeren Landbevölkerung, die in Katen gelebt hat. Meist ist es ein Zweiständerhaus ohne Abseiten, da kein Vieh aufgestellt werden musste. Ein Ziegenstall im Wohnbereich bot den Unterstand für die wenigen Nutztiere. Mensch und Tier lebten in unmittelbarer Nähe unter einem Dach. Eine Tenne gab es zwar, aber keine repräsentative Deele, und weitere Wirtschaftsgebäude waren selten. Ein kleiner Hausgarten umgab solche Anwesen. Das spiegelt sich in der „Judenbuche“ wieder. Wir erfahren, dass sich Margreth einmal neben einen Erdhaufen im Gärtchen warf, um ihr Elend zu beweinen, nachdem ihr Mann sie im Vollrausch geschlagen hat. Ein Teil der Ernährung stammte aus diesen kleinen Krautäckern, und viel anderes außer Brot und Ziegenkäse gab es nicht auf dem Speiseplan. Das Sprichwort sagt zwar, „In Westfalen hängt der Himmel voller Schinken“, was sich auf die Räucherdeele bezieht, aber für diese Katen trifft das nicht zu. Die Deele, die bei den Großbauern den sozialen Mittelpunkt darstellte, ist hier klein und dunkel. 12 Und man hätte auch kein Geld gehabt, um eine große Hochzeit auszurichten, auf der tagelang gefeiert worden wäre, keine Feierlichkeiten mit Pomp und Zurschaustellung der Prestigegüter. Den Tagelöhnern und Köttern blieb die Teilhabe an den repräsentativen Ereignissen verwehrt. Doch die Toten wurden genauso wie in den feineren Häusern in der Küche aufgebahrt. Friedrich, so heißt es, habe seinen Vater „auf dem Stroh gesehen“ 13 . Immerhin, so weiß es der Text, habe das Tagelöh- 12 Dietmar Sauermann und Gerda Schmitz: Damals bei uns in Westfalen. Alltag auf dem Lande. Bilder und Berichte aus dem Archiv für westfälische Volkskunde . Rheda-Wiedenbrück 1986. S. 11 (Holzschuhmacherfamilie). 13 Wie FN 1, S. 18. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 117 nerhaus Friedrich Mergels „die stolze Zugabe eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben“, und zudem gab es noch einen „holzichten Rosenstock“ im Garten „aus besserer Zeit“, ansonsten aber „mehr Unkraut als Kraut“ 14 . Die Familie gehörte nicht zur untersten Gruppe der Landarmen, denn Margreth, die Mutter, trank Tee, Friedrich hatte ein Butterbrot in der Hand. Die alte Breinahrung war bereits in eine modernere Kost übergegangen. Adel, Bauern und Tagelöhner bildeten die christliche Lebensgemeinschaft, die trotz aller sozialer Unterschiede vereint war in ihren religiösen Überzeugungen. Das Landjudentum hingegen lebte am Rande. Die jüdische Bevölkerung war nicht in die Binnenhierarchie der bäuerlichen Welt eingebunden. Sie hatte an der Verteilung und Nutzung des Besitzes und des Bodens sowie an den sozialen Ereignissen, Sitten und Bräuchen keinen Anteil. Die Landjuden lebten in einer nahen Kleinstadt, häufig in eigenen Wohnvierteln. Ihr Geschäft war der Handel, oft auch nur das Tagelöhnerwesen. Man sprach sie an als Krämerjuden und Ziegenhändler, als Kleiderjuden und Bänderjuden. Sie zogen als Altwarenhändler, Schlächter und Geldverleiher über das Land. Abb. 6: Jüdischer Viehhändler, Kupferstich 1811. Im Umland von Höxter waren Ovenhausen und Fürstenau die Ortschaften mit der größten Ansiedlung jüdischer Familien aufgrund von kaiserlichen Werbern seit dem 17. Jahrhundert. Doch viele waren es nicht, die hier als sogenannte Schutzjuden 14 Wie FN 1, S. 13. Sabine Doering-Manteuffel 118 lebten, d.h. mit einem Brief der Hochfürstlichen Regierung auf freie Religionsausübung versehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es in Fürstenau fünf Familien, allesamt Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute. Mitte des 19. Jahrhunderts waren im jüdischen Viertel etwa 50 Personen jüdischen Glaubens ansässig, die in der Zwischenzeit auch wegen der in Preußen zunehmenden Gleichberechtigung besseren Berufen nachgehen konnten. Deren Lebensstandard wurde angehoben. In Fürstenau war der Sitz der jüdischen Gemeinde und der Synagoge für die umliegende jüdische Bevölkerung. Ende des 18. Jahrhunderts wurde bereits ein Gebetsraum erwähnt und die Lage des jüdischen Friedhofs benannt. Auch heute noch ist das Wohnhaus des Bauernknechts Winkelhagen erhalten, der die Vorlage für Friedrich Mergel abgab. Nicht weit davon liegt der mögliche Tatort im Ort Joelskamp, und ein Stück in den Wald hinein, dort soll die echte Judenbuche gestanden haben. Sie wurde nach historischen Quellen bereits zwei Jahre nach dem Mord Winkelhagens an Soistmann Berend gefällt, und es ist auch nicht historisch belegt, ob es die Ritzzeichen in der Rinde wirklich gegeben hat. Annette von Droste-Hülshoff hat die Tat, wie auch viele Stränge von Nebenerzählungen, in das Brederholz verlegt. In unmittelbarer Nähe, in Ovenhausen, fand sich das Fachwerkhaus der Familie Soistmann, das im Jahr 2000 ins Freilichtmuseum nach Detmold transloziert wurde. 15 Zusammenfassend wird deutlich, dass die vier Statusgruppen, der Adel, die besitzenden Bauern, die Tagelöhner als Teil der ländlich-christlichen Schichtung und die jüdische Randgruppe, durch ihre Wohnorte und ihre Heiratskreise in ein festes Gefüge eingebunden waren. Es wurde deutlich, dass die jüdische Bevölkerung auf eigenen Wegen übers Land zog, eigene Wohnviertel in der Stadt besaß und eigene Friedhöfe außerhalb der Dörfer und Städte betrieb. Der Konflikt - Ehre und Schande Wie hat Annette von Droste-Hülshoff diese Abgrenzungen verarbeitet? Sie war sich aus eigener Anschauung sehr wohl bewusst, dass nicht nur die Standesgrenzen innerhalb der christlichen Bevölkerung undurchdringliche soziale Barrieren bildeten, sondern auch, dass die Landjuden gar keinen Zugang zu deren Kreisen hatten. Was Friedrich Mergel, den Tagelöhnersohn, besonders geschmerzt hat, war die Tatsache, dass er sich mit einem nur den gehobenen Schichten zustehenden Prestigegut, einer Uhr, lächerlich gemacht hat bei den Töchtern aus den wohlhabenderen Bauernhäusern. Mergel hatte versucht, sich hochzuarbeiten. Er hatte das Geld, was er bei seinem Onkel verdiente, gespart, aber dennoch reichte es wohl nicht zum Bezahlen der 15 Die umfangreichste Dokumentation des jüdischen Lebens in Höxter und Corvey befindet sich auf der website der Jacob Pins Gesellschaft Kunstverein Höxter e.V. unter der Rubrik „Jüdische Bürger in Höxter“. <http: / / www.jacob-pins.de/ > (Aufgerufen am 1.9.2009). Ulrich Schmidt: „Sie waren Juden“. Das Haus Uhlmann im LWL-Freilichtmuseum Detmold . Detmold, 2008. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 119 Uhr. Diese Schmach sollte Aaron, den Hausierhändler, das Leben kosten. In dem Moment, in dem Mergel schon beinahe am Ziel war, tat er allen Anwesenden kund, dass der Junge Schulden hat und diese nicht bezahlen kann. Für Mergel brach eine Welt zusammen. Sein stummer Hass auf Aaron schien grenzenlos, ein Hass, der aus verlorener Ehre herrührte. Die Ehre zu verlieren, war nicht nur eine persönliche Beleidigung, sondern fußte auf dem eingewurzelten Rechtsverständnis des sozialen Gefüges. Die Droste behauptet sogar, die katholische Bauernschaft würde sich stärker nach Sitte und Tradition, und nach einem anerkannten Moral- und Ehrenkodex richten als nach geschriebenem Recht, das eine geringere Bedeutung habe. Nun ist gerade die Sitte oft das abgelegte Recht von gestern, was einst in den alten Landordnungen festgeschrieben war. Gewohnheiten und mündliche Überlieferung legitimierten manch eigenartige und auch widersprüchliche Rechtsauffassung als Verhaltensmaßstab. Das hatte eine gewisse Festigkeit und Unerschütterlichkeit. Im Dorf B. duldete man nicht nur überholtes Recht, das in die Sitten übergegangen war, sondern auch Rechtsüberschreitungen, z.B. den Holzfrevel, der von den sogenannten Blaukitteln verübt wurde, und große Schäden an den Forsten anrichtete. Man duldete sogar den Mord am Förster, der nie aufgeklärt wurde, weil die Bevölkerung sich wortkarg gab und es für besser hielt, dem Grundherrn keine Auskünfte über die Händel zu geben, die sich hinter dessen Rücken abspielten. Man duldete ebenso das Verleugnen unehelicher Kinder, und glaubte, wie so oft in der Rechtsgeschichte, an das moralische Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht zwischen den Lebenden, sondern zwischen Himmel und Erde. Wer sich auf Erden so benahm, dass er seinen Mitmenschen Schaden zufügte, so die Auslegung, dem blieb eben das Tor zum Himmel verschlossen und darauf war allemal Verlass. Das Rechtsgebaren der kleinen Leute, wie in der „Judenbuche“ beschrieben, ist eine wichtige Komponente des ländlichen Sittengemäldes. Zudem waren Recht und Frömmigkeit in dieser Gegend ein unzertrennbares Gemeingut. Vier Beispiele mögen belegen, wie sich Recht und Frömmigkeit ineinander verschränken. 1. Margreth, die Mutter des späteren Mörders Friedrich Mergel, bezichtigt ihren Bruder Simon, ein uneheliches Kind zu haben, das er überdies verleugnet. Der Junge heißt Friedrich Niemand, und er dient bei Simon als Knecht. Das mag für diese Zeit kein seltener Brauch gewesen sein. Doch Margreth fürchtet, dass ihr Bruder nach seinem Tode wegen dieser Lügen keinen Eingang in den Himmel finden könnte, dass er als Arme Seele ruhelos über das Land wandern müsse. „Ein falscher Eid, ein falscher Eid“, stöhnte sie, „Simon, Simon, wie willst Du vor Gott bestehen“ Und rasch wird der Rosenkranz gebetet, dass man „Gott vor Augen halte.“ 16 2. Man fürchtet sich vor den Armen Seelen. Auch der Vater Friedrich Mergels, ein ortsbekannter Alkoholiker und Schläger, den sie, als Friedrich neun Jahre alt war, tot in die Stube trugen, wurde als Arme Seele, als Geist mit glühenden Augen, mehrfach im Brederholz gesichtet, dem nahen Wäldchen. Die Bauern 16 Wie FN 1, S. 26f. Sabine Doering-Manteuffel 120 suchten sogar nach einem bewährten Abwehrzauber gegen diesen Geist, ein Pferdegerippe, das unter einer Fontäne im Garten des Schlosses vergraben war. 17 Der Grundherr konnte all dieses Gebaren nicht verstehen. Er zählte sich bereits unter die aufgeklärten Zeitgenossen, während die Bauern noch dem alten Fegefeuerglauben verhaftet waren. 3. Das Wallfahrtswesen war ebenfalls eine typische Komponente der ländlichen Frömmigkeit. Man ging zur Muttergottes nach Werl, wenn man fürbittend etwas erreichen wollte. Die Wallfahrt zu einem wundertätigen Marienbild stammt aus dem Jahr 1661. In Werl, einem Ort im Landkreis Soest, gibt es auch heute noch einen Franziskanerkonvent. In der „Judenbuche“ heißt es nach dem Tod von Margreths Mann, dem Vater von Friedrich Mergel: „Margreth, zieh dir das nicht zu Gemüt; wir wollen Jeder drei Messen lesen lassen, und um Ostern gehen wir zusammen eine Bittfahrt zur Muttergottes von Werl.“ 18 4. Gebetet wird häufig und ausgiebig, vor dem Einschlafen zwei Rosenkränze. Man hat eine eigene Meinung vom Teufel, weiß aber nicht so recht, wie er eigentlich aussieht. Friedrich sinniert über dieses Problem in seinen stillen Stunden, wenn er das Vieh auf den Waldtriften hütet. Das Recht der kleinen Leute zerfällt in der „Judenbuche“ in einen moralischen und einen kanonischen Teil. Es heißt im Text: Unter den höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstanden Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten Urkunden nachzuschlagen. 19 Hier ist von einem zweiten Recht die Rede, das nichts anderes bedeutet als die Regeln von Sitte und Anstand. Bei der katholischen Bevölkerung ist dieses zweite Recht aus zwei Quellen gespeist. Zum einen handelt es sich um abgelegte ältere Gesetzeslagen, die aber nur noch in „staubichten Urkunden“ vorhanden sind, zum anderen aus eingeschliffenen Gewohnheiten und Absprachen. Volkskundlich gesprochen ist der Unterschied zwischen Sitte und Brauch ohnedies schwer auszumachen. Volksbrauch sei, so heißt es in älteren Lehrwerken, nichts anderes „als in die Tat umgesetzter Gemeinschaftsglaube und verwirklichtes Recht. Jener bestimmt das Verhältnis zum Übernatürlichen, ‚zu dem, was man dafür hält‘“, zu Kräften und Mächten. Diese regeln die Beziehungen im sozialen Raum und das Verhältnis zu den 17 Wie FN1, S. 45f. 18 Wie FN 1, S. 17. 19 Wie FN1, S. 12. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 121 Mitmenschen. Vielfach sei das zwingende Recht eher auf Volksglaubensvorstellungen beruhend als auf kodifizierten Texten. 20 Gewohnheitsrecht wird nicht selten ausschließlich mündlich weitergegeben. Bräuche begleiten das Rechtsleben auf dem Land. Man kennt Binde- und Lösebräuche, die Eide, die Vorstellungen vom Gottesurteil, die Schandgerichte, den Pranger, die Bann- und Verbotszeichen, die Hauszerstörungen wie das Backofenzerstören, das Brunnenzuschütten oder den Strafesel ein spitzwinkliges Doppelbrett mit hölzernem Eselskopf, auf das die Delinquenten (streitende Ehepaare) aufgebunden wurden. 21 Man vergrub symbolisch die Hofstadt, indem ein Graben um den Besitz gezogen wurde. Es gehörte zu diesen ländlichen Sitten das Feilschen und Bieten bei Verlobungen durch einen Hochzeitsbitter 22 , oder das Todansagen an das Vieh beim Versterben des Hofbesitzers als Einleitung des Erbgangs, die Grenzbegehung des Landbesitzes mit Gedächtniszeugen bei der Hofübergabe, oder die Grußsitten bei der Feldarbeit und im Wirtshaus. Eigentümlich sind die aus dem Mittelalter überkommenen Wurfmaße, wie das Hühnermaß. Man warf ein Huhn vom Dach und bis dahin, wo es fiel, herrschte eine Art Bannmeile um die Hofstadt. 23 Uns heute fremd sind auch die unsichtbaren Grenzen in den Innenräumen, die Fremde nicht überschritten, wenn sie ein Haus betraten, wieweit blieb man vor dem Tisch des Bauern stehen? 24 Die meisten Strafen nach Sitte und Gewohnheitsrecht sind Ehrstrafen und einige davon finden sich auch heute noch in den Hochzeits- und Junggesellenbräuchen ländlich-katholischer Gemeinden in ganz Deutschland und im Alpenraum. Das ist also gemeint, wenn Annette von Droste-Hülshoff vom Recht der öffentlichen Meinung und der Gewohnheit erzählt. Auf diese Weise wurde eine gewisse Balance innerhalb der christlichen Gemeinde aufrecht erhalten. Das sind Regelungsmechanismen des sozialen Zusammenlebens, die aus einer Zeit vor der schriftlichen Fixierung der Landordnungen stammen, welche die Bauernschaften unter kanonisierte Formen des Rechtslebens gestellt haben. In vielen Gegenden Deutschland wurden die Landordnungen erst im 17. Jahrhundert verschriftlicht. Man spürt allerdings, dass auch nicht-kodifiziertes Recht hart urteilt und die Rechtsbräuche aus älteren Zeiten lange nachwirken, gar Mentalitäten herausbilden. Oft steht die Ehre auf dem Spiel, droht Schande und Ausgrenzung. Die „Judenbuche“ handelt vom Umgang mit dem Recht und seiner Auslegung. Der eigentliche Konflikt, der ausgebreitet wird, ist nicht innerhalb der katholischen 20 Richard Beitl und A. Erich Oswald: Wörterbuch der deutschen Volkskunde . 3. Aufl. Stuttgart, 1974. Stichwort Recht, S. 666 und Stichwort Volksbrauch (Sitte, Ritus), S. 863. 21 Ernst Fischer: Die Hauszerstörung als strafrechtliche Maßnahme im deutschen Mittelalter . Stuttgart, 1957. 22 Josef Schepers: Haus und Hof westfälischer Bauern . 7. Aufl. Münster, 1994. S. 514 (Hochzeitsbitter). 23 Eberhard v. Künßberg: „Hühnerrecht und Hühnerzauber.“ S. 128f. In: Wilhelm Fraenger: Die Volkskunde und ihre Grenzgebiete . Berlin, 1925. S. 126-138. 24 Dietmar Sauermann: „Thomasesel, Eselritt und Strafesel.“ In: Hessische Blätter für Volkskunde 61/ 1970. S. 69-78. Sabine Doering-Manteuffel 122 Bauern mit ihrem markanten Gefälle zwischen Arm und Reich zu suchen, sondern im christlich-jüdischen Zusammenleben. Friedrich Mergel rüttelt an den Standesgrenzen, er möchte aufsteigen, und das gelingt ihm nicht. Doch die Ausgrenzungsmechanismen sind zwischen katholischen Bauern und jüdischen Kleinhändlern noch stärker. Die Juden, das waren die Luftmenschen, wie sie sich um 1900 selbst nannten, die nirgends wirklich zuhause waren, weder einen Ort ihr eigen nennen konnten, noch soziale Integration erfuhren. 25 Deren Welt war sogar im Raum eine andere als die der angestammten Bevölkerung. Sie entkamen der Diaspora nicht. Sie hatten eigene Wege entlang der Täler und Flüsse, hatten eigene Friedhöfe, die nach jüdischem Recht verfielen und der Vergänglichkeit anheim fielen, sie hatten eigene Wohnviertel, eigene Berufe, eine eigene Sprache, eine andere Religion. Mehr Anderssein ging nicht. Es gehörte ihnen wenig bis gar nichts, und das, was ihnen zum Leben blieb, wurde wie in anderen Regionen Westfalens, durch den Kleinhandel erworben: Vieles [...] lässt sich auch im Paderborner und Corveyer Land wiederfinden: Auch hier zeigt sich überwiegend ein Beharren in den traditionellen Berufen, sprich: vor allem im Handelssektor. Die Gewerbetätigkeit der Dorf- und Kleinstadtjuden bezog sich nach wie vor - wie schon im 17./ 18. Jahrhundert - sehr stark auf die bäuerliche Bevölkerung. 26 1817 berichtete der Landrat, dass die meisten Juden im Pferde- und Viehhandel, im Kleider- und Gewürzhandel sowie im Geldverleih tätig waren. „Der Landrat beurteilte Art und Abwicklung dieser Geschäftsbeziehungen negativ, räumte jedoch ein, die Juden seien an vielen Orten für den Landmann ein nicht zu entbehrendes Übel .“ 27 Anerkennung durch die besitzstolzen Bauern des Hochstiftes Paderborn war nicht zu erwarten. Kenntnisse der jüdischen Religion mochte man nicht vermuten. Es hatte sich lediglich ein Alltagsverhältnis herausgebildete, was die Versorgung der Bauern mit Krämerwaren gewährleistete, die so rasch auf keinem anderen Wege zu beschaffen waren. Es gab zwar ein christliches Krämerwesen, das aber keine wesentliche Rolle spielte. Die Juden kamen weit herum, erfuhren viel und waren doch nirgends wirklich zuhause. 28 Über Sitte und Brauch in der katholischen Welt erfährt man einiges. Doch was berichtet die „Judenbuche“ über das Rechtsverhältnis zwischen Juden und Christen? „Aug um Aug, Zahn um Zahn! “ dies waren die einzigen Worte, welche die Witwe 25 Nikolas Berg : Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen, 2008. 26 Dina van Faasen: „Landjuden im Paderborner und Corveyer Land (1800-1930).“ S. 128. In: Stefan Baumeier und Heinrich Stiewe (Hg.): Die vergessenen Nachbarn. Juden auf dem Lande im östlichen Westfalen. Bielefeld, 2006. S. 121-133. 27 Ebd., S. 128. 28 Jüdisches Museum Berlin: „Händler, Hausierer und Bankiers. Land- und Hofjuden.“ S. 56f. In: Zwei Jahrtausende deutsch-jüdischer Geschichte. Geschichten einer Ausstellung . Berlin, 2002. Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. S. 60ff (Das tägliche Leben). Köln, 1997. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 123 Aarons zuweilen hervorstieß. 29 Das war keineswegs eine Aufforderung, es dem Mörder gleichzutun und Rache zu üben. Dieser Rechtssatz aus dem Bundesbuch in der Tora (2. Buch Moses) fordert vielmehr eine Vergeltungsstrafe. Es handelt sich um eine altorientalische Rechtstradition, die in unserem Verständnis eine Art Schadenseratzforderung darstellt. Es geht also nicht um Blutrache, sondern um Sühne. Im Rechtsverständnis der Juden bedeutet der Grundsatz, dass Konflikte gerade nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Jeder hat seinen Teil dazu beizutragen, dass wieder Frieden einkehre. Damit wird verständlich, was den Rabbiner bewegt haben mochte, die Buche zu kaufen, unter der Aaron ermordet worden war. Nach dem Ende der ergebnislosen Gerichtsverhandlung, so heißt es im Text, erschien im Schloß beim Gutsherrn „eine Anzahl der angesehensten Israeliten“, um dem Herrn einen Handel anzutragen. „Der Gegenstand war die Buche, unter der Aarons Stab gefunden und wo der Mord wahrscheinlich verübt worden war.“ 30 Sie boten 200 Taler. Was wie ein Handel aussah, war in Wirklichkeit eine kultische Handlung. Denn die Juden gingen daraufhin schweigend in einer Prozession zu ihrer Buche, um in ihre Rinde einen Spruch einzugravieren. Für die christliche Gemeinde war dieser Spruch zwar unverständlich, aber auch deren Ehrverständnis besagte, dass der Handel die Unantastbarkeit der Buche umschloß, und der Bann, den der Kult geschaffen hat, nicht gebrochen werden durfte. Der Text endet in einer gemeinsamen Moral, die Juden und Christen teilen. Derjenige, der den Mord verübt hat, soll dafür seine gerechte Strafe vor Gott empfangen, ganz gleich, auf welchen Wegen es dazu kommt. Sowohl die Juden, welche die Buche erwarben, als auch die katholischen Bauern glaubten letztlich an eine schicksalhafte Instanz, welche die Tat zu sühnen imstande ist. Diese Macht vergisst niemals ein geschehenes Unrecht. Die „Judenbuche“ endet versöhnlich - Mord ist Mord, er wird sich von selbst aufklären. Das Gewissen des Mörders wird ihn an den Ort seiner Tat zurückzwingen. Wie von unsichtbarer Hand zieht ein Faden den Mörder zu sich selbst, in sein Innerstes. Er wird beinahe magisch von jenem Bannspruch angezogen, den die Juden in die Rinde geritzt hatten. Das Schicksal, die alte Macht, hat ihn gezwungen, sich selbst an jenem Ort zu richten, an dem er einen anderen gerichtet hatte. Was kein Gerichtsherr vermochte, vermochte das Gewissen. Der Mörder Aarons hat an sich selbst Hand angelegt, weil er mit der Schuld sein Leben lang nicht fertig wurde. 31 Das ist ein beinahe biblischer Stoff aus den Denkwelten Alteuropas. Unsere moderne Einstellung garantiert die Grundrechte für alle. Das Schicksal ist keine Instanz, die uns hilft, Unrecht zu heilen, und das ist gut und richtig. Aber wir müssen unsere Rechte auch nicht aus staubigen Urkunden herauslesen, sondern verfügen über ein schriftlich fixiertes, kommentiertes und nachvollziehbares Rechtswesen. 29 Wie FN1, S. 47. 30 Wie FN1, S. 50. 31 Detlef Kremer und Andreas Kilcher: „Romantische Korrespondenzen und jüdische Schriftmagie in Drostes ‚Judenbuche‘.“ In: Dialoge mit der Droste. Hg. Ernst Ribbat. Paderborn, 1998. S. 249-261. Sabine Doering-Manteuffel 124 Recht ohne Gewissen, und das mag die Botschaft sein, die auch heute noch gültig ist, kann es dennoch nicht geben. Eine Gesellschaft braucht, um es altmodisch auszudrücken, Sitte, Anstand und Moral. Eine ethische Grundlage für den Umgang der Menschen miteinander ist unerlässlich. Die „Judenbuche“ ist einer der zeitlosen Schlüsseltexte unseres Sprachraums, die uns vor allem den toleranten und versöhnlichen Umgang zwischen Christen und Juden als gesellschaftliche Aufgabe ins Gedächtnis schreiben. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Droste-Hülshoff, Annette von: „Die Judenbuche.“ In: Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke . Hg. Bodo Plachta und Winfried Woesler, Bd. 2. Darmstadt, 1998. S. 11-62. Forschungsliteratur: Baumeier, Stefan und Heinrich Stiewe (Hg.): Die vergessenen Nachbarn. Juden auf dem Lande im östlichen Westfalen . Bielefeld, 2006. Beitl, Richard und Oswald A. Erich: Wörterbuch der deutschen Volkskunde . 3. Aufl. Stuttgart, 1974. Berg, Nikolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher . Göttingen, 2008. Brückner, Wolfgang: Rhöner Schnitzfiguren aus dem 19. Jahrhundert . Petersberg, 2008. Coen, Annette: Literatur-Kartei zur Novelle von Annette von Droste-Hülshoff „Die Judenbuche“ . Mühlheim a.d. Ruhr, 1997. Diekhans, Johannes (Hg.): Die Judenbuche. Unterrichtsmodell . Erarbeitet von Doris Hönes und Johannes Diekhans. Paderborn, 1999. Drewes, Josef (Hg.): Das Hochstift Paderborn. Porträt einer Region . 2. Aufl. Paderborn, 1997. Fraenger, Wilhelm: Die Volkskunde und ihre Grenzgebiete . Berlin, 1925. Fischer, Ernst: Die Hauszerstörung als strafrechtliche Maßnahme im deutschen Mittelalter . Stuttgart, 1957. Gidal, Nachum T.: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik . Köln, 1997. Hessische Vereinigung für Volkskunde: Hessische Blätter für Volkskunde 61 . Marburg, 1970. Jüdisches Museum Berlin (Hg.): Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte. Geschichten einer Ausstellung . Berlin, 2002. Krus, Horst-Dieter: Mordsache Soistmann Berend. Zum historischen Hintergrund der Novelle „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff . Münster, 1994. Maasjost, Ludwig: Paderborner Land. Ein Bildband der Kreise Büren, Höxter, Paderborn und Warburg . Iserlohn, 1968. Meiners, Uwe und Christoph Reinders-Düselder (Hg.): Fremde in Deutschland - Deutsche in der Fremde. Cloppenburg, 1999. Annette von Droste-Hülshoff Die Judenbuche 125 Menneken, Kirsten und Andrea Zupanic (Hg.): Jüdisches Leben in Westfalen . 1. Aufl. Essen, 1989. Ribbat, Ernst (Hg.): Dialoge mit der Droste . Paderborn, 1998. Rölleke, Heinz: Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. Interpretation . München, 1989. Salamander, Ralf (Hg.): Die jüdische Welt von Gestern 1860-1938 . Wien, 1990. Sauermann, Dietmar und Gerda Schmitz: Damals bei uns in Westfalen. Alltag auf dem Lande . Rheda-Wiedenbrück, 1986. Schmidt, Ulrich: „Sie waren Juden“. Das Haus Uhlmann im LWL-Freilichtmuseum Detmold . Detmold, 2008. Schepers, Josef: Haus und Hof westfälischer Bauern . 7. Aufl. Münster, 1994. Zender, Matthias et. al. (Hg.): Der Raum Westfalen. Wesenszüge seiner Kultur . Bd. IV/ 2. Münster, 1965. Abbildungsnachweis: Abbildung 1: Annette von Droste-Hülshoff, Porträt von J. Sprick, 1838. In: <http: / / www.zeno.org/ Literatur/ I/ drostpor>, Stand: 15.09.2009 Abbildung 2: Wasserburg Hülshoff in Havixbeck bei Münster, Stammsitz der Familie Droste zu Hülshoff seit 1417, Geburtsort der Dichterin 1797. In: <http: / / grossedrenkpohl.de/ wp-content/ gallery/ burg-hulshoff/ img_1064.jpg>, Stand: 15.09.2009 Abbildung 3: Quadmannhof Elsten im Oldenburger Münsterland. Niederdt. Hallenhaus von 1805 mit Zweiständer-Dachbalkengerüst und Fettdeelengliederung, Wucht spätmittelalterlicher städt. Schaugiebel des westfälischen Südostens (Museumsdorf Cloppenburg). In: Zender, Matthias/ Brepohl, Wilhelm/ Schepers, Josef/ Mummenhoff, Karl E.: Der Raum Westfalen. Wesenszüge seiner Kultur, Bd. IV/ 2 in: Beiträge zur Volkskunde und Baugeschichte. Münster 1965, S. 272. Abbildung 4: Kaminzimmer des Schönhofes, erb. um 1700; innerer Umbau im spät. 18.Jh. zu Patrizier-Saalzimmer. In: Zender, Matthias/ Brepohl, Wilhelm/ Schepers, Josef/ Mummenhoff, Karl E.: Der Raum Westfalen. Wesenszüge seiner Kultur, Bd. IV/ 2 in: Beiträge zur Volkskunde und Baugeschichte. Münster 1965, S. 276. Abbildung 5: „Dodenbeer“ (Totenbier) im Oldenburgischen, Gemälde von B. Winter, 1910. Ein Rückgriff des Malers zu älteren Generationen, als Tracht und Brauch einer Leichenfeier noch hohe Würde gaben. Der Sarg befindet sich auf dem Dodenlaken unter der Dachbodenluke der Deelenhalle. In: Zender, Matthias/ Brepohl, Wilhelm/ Schepers, Josef/ Mummenhoff, Karl E.: Der Raum Westfalen. Wesenszüge seiner Kultur, Bd. IV/ 2 in: Beiträge zur Volkskunde und Baugeschichte. Münster 1965, S. 274. Abbildung 6: Jüdischer Viehhändler, Kupferstich, 1811 In: Menneken, Kirsten/ Zupancic, Andrea (Hg.): Jüdisches Leben in Westfalen. Essen 1998, S. 56. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne Markus May Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung. Søren Kierkegaard 1. Ein Kultbuch der Jahrhundertwende „ Niels Lyhne , wie glühend, wie leidenschaftlich haben wir in den ersten wachen Jahren der Jugend dieses Buch geliebt: es ist der Werther unserer Generation gewesen.“ 1 Dieses bekenntnishafte Diktum Stephan Zweigs, rückblickend in einem dem erstgenannten Roman und dessen Autor gewidmeten Essay geäußert und auf die innovative und identifikatorische Wirkung abzielend, welcher der Text auf die junge Generation der Jahrhundertwende ausübte, ist keineswegs übertrieben, obwohl der Roman heute nicht mehr im Bereich des Bewusstseinshorizonts des allgemeinen, nichtakademischen Lesepublikums liegen dürfte - ganz im Gegensatz zu Goethes Werther . Man könnte behaupten, seine Kanonisierung im deutschsprachigen Raum ist nur kurz-, maximal mittelfristig erfolgreich gewesen, jedoch nicht auf jene lange Sicht, auf die es bei der Kanonisierung denn doch letztlich entscheidend ankommt. 2 Und dennoch war Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne ohne Zweifel eines der ‚Kultbücher‘ der Zeit um 1900 im deutschsprachigen Raum, wofür ja auch Zweigs Vergleich mit dem ‚Kultbuch‘ schlechthin aus der konstitutiven Phase des Sturm und Drang spricht. Dies zeigt sich an der bemerkenswerten Rezeption, die diesem Buch des frühverstorbenen dänischen Autors vor allem seitens der Literaten unterschiedlichster Couleur zuteil wurde. Und wie es sich für den Umgang mit einem Kultbuch gehört, das ja gemäß der Bestimmung von Roland Barthes ein „schreibbarer“, d.h. ein ‚über- und weiterschreibbarer‘ Text ist, 3 liefen die häufig identifikatorischen, 1 Stefan Zweig: „Jens Peter Jacobsens ‚Niels Lyhne‘.“ In: Ders.: Das Geheimnis künstlerischen Schaffens . Essays. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1984. 287-308; hier 287. Vgl. auch Klaus Bohnen: Nachwort: „Zur Rezeption des ‚Niels Lyhne‘ im deutschen Sprachraum.“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne . Übersetzt von Marie von Borch. Mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland. Hg. von Klaus Bohnen. Stuttgart: Reclam, 2002, 256-267; hier 258. Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe des Romans. 2 Zur Konzeptualisierung des Kanonbegriffs siehe Simone Winko: „Literarische Wertung und Kanonbildung.“ In: Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft . München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996, 585-600. 3 Zur Bestimmung von Kultbüchern als „schreibbare Texte“ nach Roland Barthes siehe Markus May: „Die Aktualität des Mythischen und der Absolutismus der Wirklichkeit: Hans Blumen- Markus May 128 bisweilen auch sich abgrenzenden Rezeptionsprozesse der deutschsprachigen Autoren durchaus im Sinne ihrer je eigenen literarischen Programmatiken. Arthur Schnitzler etwa empfahl, oder sollte man sagen, ‚verordnete‘ die Lektüre vorzugsweise seinen weiblichen Bekanntschaften; in einem Brief an die gefeierte Schauspielerin Adele Sandrock vom 23. Januar 1894 findet sich der den autoritärpräskriptiven Ton des Arztes nicht verleugnende Satz: „Lies Niels Lyhne.“ 4 Hugo von Hofmannsthal beschäftigte sich nachweislich bereits ab 1891 mit dem Roman, 5 von Mai 1893 sind ausführliche Notizen des jungen Wiener Autors zu dem Text Jacobsens vorhanden, die sich vor allem mit der Form der psychologischen Betrachtung und Darstellung in Niels Lyhne befassen. 6 Für Hofmannsthals intensive Auseinandersetzung mit dem Roman im Kontext eigener Arbeiten sprechen auch Aufzeichnungen, in denen er mehrfach Personen aus seinem 1892 entstandenen Drama Der Tod des Tizian Personen aus Jacobsens Roman zuordnet. 7 Und auch in dem Essay über Die Menschen in Ibsens Dramen von 1893 finden sich Verweise auf Niels Lyhne als Erläuterung zu dem Motiv der Sehnsucht in Ibsens dramatischen Figurenkonzeptionen. 8 Ebenso ist der Roman im Briefwechsel mit dem Freund und literarischen Wegbegleiter Leopold von Andrian einer der diskutierten Gegenstände. Andrian war ebenfalls ein Bewunderer des Romans, es scheint, als habe Hofmannsthal ihn auf den Text erst aufmerksam gemacht. In einem Brief aus dem Jahr 1894 konstatiert Andrian sogar eine gewisse ‚Verwandtschaft‘ zwischen Jacobsen und Hofmannsthal: Ich muß Dir nur schnell eine Zeile schreiben, lieber Freund, um Dir zu sagen wie wunderschön Niels Lyhne ist, und was für ein großer, großer Künstler der Jacobsen. Übrigens bist Du etwas verwandt mit ihm. Ich komme mir wie ein Zwerg neben ihm vor. 9 Diese Zuordnung qua ‚Familienähnlichkeit‘ kehrt in erweiterter Form in einem Brief Andrians an Hofmannsthal vom 20. Juli 1898 wieder, als Andrian die sechs Autoren nennt, die ihn beeinflusst hätten: „Diese 6 sind: Nietzsche, Loti, Jacobsen, (ein wenig: Dostojewski), Flaubert und Du.“ 10 Rainer Maria Rilke begleitete Jens Peter Jacobsens Werk und insbesondere Niels Lyhne über einen langen Schaffenszeitraum, wie Rilke insgesamt ja eine besondere bergs Arbeit am Mythos .“ In: Rudolf Freiburg, Markus May, Roland Spiller (Hg.): Kultbücher . Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, 101-116, hier 108f. 4 Zitiert nach Bengt Algot Sørensen: Jens Peter Jacobsen . München: H.C. Beck, 1991, 125. 5 Vgl. Bengt Algot Sørensen: „Dekadenz und Jacobsen-Rezeption in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende.“ In: Ders.: Funde und Forschungen. Ausgewählte Essays . Hg. Steffen Arndal. Odense: Odense University Press, 1997, 285-306, hier 296 sowie 305 Anm. 25. 6 Ebd., 296. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Hugo von Hofmannsthal/ Leopold von Andrian: Briefwechsel . Hg. von Walter A. Perl. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1968, 22. 10 Ebd., 104. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 129 Affinität zu Skandinavischem und speziell Dänischem attestiert werden kann 11 - er bereiste das Land und lernte Dänisch, nicht zuletzt um Kierkegaard und Jacobsen im Original lesen zu können; sogar eine Monographie über Jacobsen, dessen Gurrelieder Rilke 1904 übertrug, war zeitweilig geplant. 12 Während seiner Reise nach Schweden und Dänemark machte Rilke dadurch Eindruck auf seine Gastgeber, dass er selbst bei der Entenjagd seine Ausgabe des Niels Lyhne bei sich trug. 13 Bemerkenswert ist aber auch der deutliche Wandel in der Bewertung und der Deutung, der in Rilkes Jacobsen-Rezeption auszumachen ist. So steht Rilkes Verständnis des dänischen Autors in den 1890ern zunächst unter dem Zeichen der Dekadenz, wie das von Rilke in sein Exemplar von Frau Marie Grubbe , Jacobsens erstem Roman, eingetragene Gedicht An Jens Peter Jacobsen aus dem Jahr 1896 belegt: 14 Er war ein einsamer Dichter, ein blasser Mondpoet, ein stiller Sturmverzichter, vor dem die Sehnsucht lichter, als vor den Lauten geht. Ein Weihen war sein Kranken. Er sah versöhnt und ohne Gram, wie früh ein Fremdes ihm die schlanken Hände aus den Ranken des Lebens lösen kam... 15 Überdeutlich wird hier das Bild eines durch die Krankheit verfeinerten, sublimierten Dekadenzdichters entworfen; doch dabei blieb es nicht. Denn die lebensphilosophische Wende ebenso wie die Erfahrungen der erwähnten Skandinavien-Reise rückten Jacobsen für Rilke in ein neues Licht, in dem der Konnex von Naturerfahrung und Lebenszusammenhang wesentlicher wird; hierzu gehört - von Nietzsche wie von Kierkegaard her zu denken - auch die Todesproblematik. Signifikant lässt sich dies neben den Jacobsen-Verweisen in Rilkes Briefen an einen jungen Dichter von 1903 16 an den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nachweisen. In jenem Ro- 11 Zu Rilke und Skandinavien siehe zusammenfassend den Artikel von Theodore Fiedler: „2.1. Kulturräume und Literaturen: Skandinavien.“ In: Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch . Leben - Werk - Wirkung . Unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach. Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler, 2004, 116-124. 12 Ebd., 118. 13 Ebd., 119. 14 Siehe Sørensen: „Dekadenz und Jacobsen-Rezeption.“ 291f.; vgl. auch Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes . Erster Band: 1875-1920. Frankfurt a.M.: Insel, 1990, 58f. 15 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke . Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber- Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Dritter Band. Wiesbaden: Insel, 1959, 566. 16 In dem Brief vom 5. April 1903 aus Viareggio legt Rilke in einem an Emphase kaum zu übertreffenden Bekenntnis zu Jacobsen dem jungen Dichter Franz Xaver Kappus ebenfalls die Lektüre der Novellen und des Niels Lyhne nahe: „Von meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind Markus May 130 man ist, wie in Niels Lyhne , der Protagonist ein dänischer Dichter, der in eine existentielle wie künstlerische Krise gerät, aber anders als Niels, diese Krise am Ende meistert und zu einem neuen Lebenswie Dichtungsentwurf findet. Dabei sind auch im Detail zahlreiche Anspielungen und Verweise auf Jacobsens Roman auszumachen; beispielsweise heißt der Freund des Dichters in beiden Texten Erik, und die Schilderung des lang andauernden Sterbens des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge, Maltes Großvater, auf dem heimischen Gut Ulsgaard endet in dem Satz: „Er starb seinen schweren Tod.“ 17 - eine klare Anspielung auf den letzten Satz des Niels Lyhne : „Und endlich starb er dann den Tod, den schweren Tod.“ (218). 18 In Anbetracht seiner literarischen Interessen und Dispositionen wie seiner Herkunft ist es nicht verwunderlich, dass sich auch Thomas Mann mit Jacobsen und dem Niels Lyhne beschäftigt und diese als einen frühen Einfluss benannt hat, am emphatischsten in einem späten Brief vom 22. Mai 1951 an Victor Ford. Nachdem er in Zusammenhang mit den Buddenbrooks die Familien- und Kaufmannsromane von Alexander Lange Kielland und Jonas Lie erwähnt hat, fährt er fort: Jacobsen, of course, plays a special role. As a writer, he seems to me far above the aforementioned naturalists, and books like Niels Lyhne and Frau Marie Grubbe , as well as his shorter novels, constitute a permanent part of my intellectual and artistic inventory. 19 [Jacobsen kommt natürlich eine besondere Rolle zu. Als Schriftsteller scheint er mir so sehr den genannten Naturalisten [Kielland und Lie] überlegen, und Bücher wie Niels Lyhne und Frau Marie Grubbe , als auch seine kürzeren Erzählungen, bilden einen konstanten Teil meines geistigen und künstlerischen Inventars.] Neben den Buddenbrooks ist in der neueren Forschung zu Manns Jacobsen- Rezeption auch auf die Novelle Tonio Kröger als eines Textes verwiesen worden, der Spuren der Auseinandersetzung mit Niels Lyhne aufweist; dies betrifft nicht allein die Problematik des sich nach dem Leben sehnenden Künstlers, wie ihn auch der Protagonist von Manns Erzählung verkörpert, sondern ebenso die Symbolzu- auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen . [...] Verschaffen Sie sich das Bändchen ‚Sechs Novellen‘ v. J.P. Jacobsen und seinen Roman: ‚Niels Lyhne‘, und beginnen Sie des ersten Bändchens erste Novelle, welche ‚Mogens‘ heißt. Eine Welt wird über Sie kommen, das Glück, der Reichtum, die unbegreifliche Größe einer Welt. Leben Sie eine Weile in diesen Büchern, lernen Sie davon, was Ihnen lernenswert erscheint, aber vor allem lieben Sie sie. Diese Liebe wird Ihnen tausend- und tausendmal vergolten werden und, wie Ihr Leben auch werden mag -, sie wird, ich bin dessen gewiß, durch das Gewebe Ihres Werdens gehen als einer von den wichtigsten Fäden unter allen Fäden Ihrer Erfahrungen, Enttäuschungen und Freuden.“ (Rainer Maria Rilke: Werke . Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften . Hg. von Horst Nalewski. Frankfurt a.M.: Insel, 1996, 514-548; hier 518f.). Vgl. dazu auch Sørensen: „Dekadenz und Jacobsen-Rezeption“, 298. 17 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . Hg. und kommentiert von Manfred Engel. Stuttgart: Reclam, 1997, 17. 18 Vgl. Fiedler: Skandinavien, 120. 19 Zitiert nach Sørensen: „Dekadenz und Jacobsen-Rezeption“, 299. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 131 schreibungen des dänischen Ambientes und der Personen während Tonios Dänemark-Aufenthaltes. 20 Denn schon die frühe deutschsprachige Kritik hatte Niels Lyhne als Ausdruck einer dänischen National-Charakteristik gedeutet, die in dem Stereotyp der „Hamlet-Naturen“, 21 träumerisch und handlungsunfähig, ihre Signatur erhielt. Die genannten Beispiele offenbaren nicht zuletzt auch die geistes- und literaturgeschichtlichen Kontexte und Diskurse, in denen diese erste Phase der Rezeption Jacobsens und seines Niels Lyhne verlief und die man mit Begriffen wie Dekadenz, Symbolismus, Neuromantik, Lebensphilosophie, ‚Nervenkunst‘ (im Sinne Hermann Bahrs als neuer Psychologismus verstanden) 22 und Jugendstil umreißen kann, und dokumentieren die intensive Wirkung, die der Roman auf deutschsprachige Autoren um 1900 ausgeübt hat. Dabei profitierten Autor und Roman von dem breiteren Interesse, das im deutschsprachigen Raum vor und um 1900 der neueren skandinavischen Literatur insgesamt entgegengebracht wurde. Denn zu keinem anderen Zeitpunkt erlebte skandinavische Literatur in Deutschland eine derartige Konjunktur. Schriftsteller wie Henrik Ibsen, Herrman Bang, Bjørnstjerne Bjørnson, August Strindberg, die bereits erwähnten Alexander Lange Kielland und Jonas Lie, Knut Hamsun (um nur die wichtigsten zu nennen) übten einen ungeheueren Einfluss auf die junge Generation - und nicht nur auf jene, die den Naturalismus im engeren Sinne propagierten - aus; es lässt sich konstatieren, dass in der Wahrnehmung des literarisch interessierten Publikums die skandinavischen Autoren neben die bislang tonangebenden französischen und russischen Schriftsteller getreten waren und die nun maßgebliche Avantgarde repräsentierten. Eine zentrale Rolle bei der Vermittlung und dem Popularisieren der damals neusten Literatur aus den nordeuropäischen Ländern spielte der dänische Literaturwissenschaftler und -kritiker Georg Brandes, der über beste Verbindungen sowohl zu den tonangebenden skandinavischen Autoren wie auch zu den Hauptvertretern der progressiven deutschsprachigen Literatur- und Kulturszene verfügte (so machte er etwa auch die nordeuropäische Intellektuellenszene mit den Lehren Friedrich Nietzsches vertraut). Brandes hatte beginnend im Wintersemester 1871 an der Universität Kopenhagen seine bahnbrechenden Vorlesungen über „Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts“ gehalten, in denen er in provokanter Weise für die säkularen, aufklärerischen, realistischen Tendenzen der neueren Literatur eintrat und diese auch als für die skandinavischen Autoren verbindlich propagierte. Was er verkündete, war die Botschaft einer emanzipatorischen Vernunft, die sich zu den überlieferten moralischen, religiösen und ästhetischen Werten des Bürgertums kritisch 20 Vgl. ebd., 299-303. 21 So etwa Hermann Menkes in seinem in der Wiener Rundschau 1897 (H. 1) erschienenen Artikel J.P. Jacobsens Lyrik . Zit. nach Bohnen: „Zur Rezeption des ‚Niels Lyhne‘“, 258. 22 Vgl. Herrmann Bahr: „Die Überwindung des Naturalismus.“ In: Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung . Hg. Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt. Bd. 13: Impressionimus, Symbolismus und Jugendstil . Hg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart: Reclam, 1994, 121- 126. Markus May 132 verhielt. Die Form, in der er diese Botschaft kleidete, war die der gezielten Provokation. Hier konnten die Dänen erfahren, daß ihr Volkscharakter einen Zug der Kindlichkeit und ihre Poesie dementsprechend ein Element der Naivität besäße, womit Brandes vor allem auf den biedermeierlichen Charakter eines großen Teils der nachromantischen dänischen Literatur zielte. Die dänische Literatur leide vor allem an einem abstrakten Idealismus[.] 23 Brandes hatte sich auf seinen Reisen mit den Lehren und Exponenten der neuen positivistischen Wissenschaft und der ihr folgenden literarischen und kulturellen Größen vertraut gemacht; so kannte er etwa Hippolyte Taine, Ernest Renan und John Stuart Mill persönlich; über die Ästhetik Taines, die ja auch für die französischen Naturalisten von virulenter Bedeutung war, hatte er sich 1870 habilitiert. 24 Von ihm stammte auch der Begriff des sogenannten „Modernen Durchbruchs“, der zunächst zur Kennzeichnung der jene neuesten Strömungen der skandinavischen Literatur repräsentierenden Autoren wie Bjørnson, Ibsen, Holger Drachmann, Edvard Brandes, Erik Skram und ebenso Jens Peter Jacobsen reserviert war, später dann als literarhistorischer Terminus für diese gesamte Epoche der skandinavischen Literaturen Verwendung fand. Ähnlich wie etwa Hermann Bahr war Georg Brandes also ein wesentlicher Programmatiker und Propagator der neusten Stiltrends als auch ein international wirkender Kulturvermittler. Und in der Tat erreichten die skandinavischen Literaturen im Gefolge jener Jahre nicht nur den Anschluss an europäische Entwicklungen, sondern wurden selbst zu wesentlichen Impulsgebern, vor allem im deutschsprachigen Kulturraum. Georg Brandes war auch wesentlich an der Verbreitung und Popularisierung von Jacobsens Schriften und insbesondere von Niels Lyhne in diesem Kulturraum beteiligt. Erst dieser Roman brachte Jacobsen seinen Durchbruch beim deutschen Lesepublikum. Zwar waren seine Erzählungen wie Mogens , Ein Schuss im Nebel [ Et Skud i Taagen ], Die Pest in Bergamo [ Pesten i Bergamo ], Frau Fönß [ Fru Fönß ] sowie sein Erstlingsroman Frau Marie Grubbe [ Fru Marie Grubbe ] bereits in deutschen Übersetzungen erschienen (die Erzählungen zunächst meist in Zeitschriften), 25 sie wurden aber keineswegs mit dem gleichen Enthusiasmus rezipiert wie die Werke anderer zeitgenössischer skandinavischer Autoren. Und auch das erste Erscheinen einer deutschen Übersetzung von Niels Lyhne in der Zeitschrift Grenzboten 1888 rief noch keine nennenswerten Reaktionen hervor. Erst mit der von Theodor Wolff besorgten, 1889 im Leipziger Reclam-Verlag erschienenen Buchausgabe wurde der Roman von einem breiteren Publikum zur Kenntnis genommen. 26 Theodor Wolff, 23 Sørensen: Jens Peter Jacobsen , 19. 24 Vgl. ebd. 25 Zu den Daten der deutschen Erstveröffentlichungen siehe die Zeittafel von Klaus Bohnen: „Daten zu Leben und Werk Jens Peter Jacobsens.“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne , 221- 223. 26 Zur Publikationsgeschichte von Niels Lyhne siehe die von Klaus Bohnen besorgte Dokumentation „Vorgeschichte der ersten deutschen Ausgabe des ‚Niels Lyhne‘ (1889)“ sowie den Briefwechsel zwischen Theodor Wolff und Georg Brandes in Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne , 224-234 u. 235-246. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 133 Mitbegründer der Freien Bühne in Berlin, dem maßgeblichen Forum naturalistischer Dramatik in Deutschland, ist der dann folgende kommerzielle wie wirkungsgeschichtliche Erfolg des Romans zu einem guten Teil mit zu verdanken. Er hatte sich mit äußerstem Engagement dafür eingesetzt, dass der Text in der wohlfeilen und auflagenstarken Reclam-Reihe publiziert werden konnte. Wolff kann für sich durchaus beanspruchen, der ‚Entdecker‘ des Romans in Deutschland zu sein, der als Erster seine große künstlerische Bedeutung und Aktualität erkannte. Während der Vorbereitung der Reclam-Ausgabe wandte sich Wolff brieflich an Georg Brandes, um von diesem Informationen über Jacobsens Leben für einen einleitenden biographisch-literaturkritischen Essay zu erhalten, der dann dem Text des Romans als Vorwort beigefügt wurde. Auch dieses Vorwort trug mit seiner Deutung einiges zur Konstituierung des frühen Jacobsen-Bildes beim deutschsprachigen Publikum bei, ebenso wie die stilistischen Besonderheiten der Übersetzung, die von Marie von Borch besorgt worden war. 27 So betont Wolff die Aspekte des Träumerischen, der gesteigerten Sensibilität und des Naturbezugs, um sie als Ausdruck einer dänischen National-Charakteristik zu werten, die in Jacobsens Texten mit ihren Figuren besonders unverfälscht zur Darstellung käme (und hier sind - dies sei in Parenthese erwähnt - noch die Folgen von Herders im 19. Jahrhundert seitens der Nationalphilologie fortgeschriebenen Theorie über die Bedeutung von Klima, Landschaft und Nation für das „Wesen“ der jeweiligen „National-Literatur“ deutlich zu spüren): Jacobsen hatte ein Recht zu behaupten, daß in Niels Lyhne das Dänentum besonders rein zum Ausdruck gelange. Das dänische Volk hat in seinem Wesen etwas, das an die weichen Uferlinien von Seelands Küsten gemahnt so etwas traumhaft sich Verlierendes, im Nebel Verschwimmendes, Zerrinnendes. Und so sind auch Jacobsens Menschen. Niels Lyhne ist so und Mogens und Marie Grubbe und viele andere, sie sind weich und träumerisch und hingebend, sie haben so wenig Wirklichkeitssinn und leben am liebsten in haltlosen Nebelbildern, sie haben zu viel zarte, überzarte Empfindung und geraten darum mit der bestehenden Gesellschaftsordnung in Konflikt, stoßen überall an und fallen auf Schritt und Tritt. Vielleicht kommt dieses nationale Element bei Jacobsen auch im Stil zum Ausdruck. Man sieht das am besten, wenn man diesen Stil demjenigen der neueren norwegischen Schriftsteller entgegenhält. Bei dem Dänen alles rund und weich und nebelhaft, bei den Norwegern eckig und schroff und bestimmt. 28 Hier deutet sich nicht zuletzt ein weiteres Klischee des frühen Jacobsen-Bildes an, das - wie im vorhin zitierten Widmungsgedicht Rilkes gezeigt - charakteristisch ist für diese Phase der Rezeption, nämlich die Identifikation des Dichters mit seinen Figuren. Jacobsens Krankheit und früher Tod haben das ihrige dazu beigetragen, um 27 Zu den deutschen Übersetzungen der Erzählprosa Jacobsens siehe Sabine Strümper-Krobb: Impressionistische Erzählverfahren im Spiegel der Übersetzung. Zu deutschen Übersetzungen von Prosawerken Jens Peter Jacobsens zwischen 1877 und 1912 . Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1997. 28 „Th. Wolffs Einleitung zur ersten deutschen Ausgabe.“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne , 247-255; hier 248f. Markus May 134 im Sinne eines autobiographischen Kurzschlusses gerade die Gestalt des Niels Lyhne vorbehaltlos als alter ego seines Autors zu identifizieren. 2. Darwin und die Literatur: Biographische Kontexte Betrachtet man jedoch die Biographie Jacobsens genauer, so erkennt man neben gewissen Zügen, die er mit dem Protagonisten seines Romans teilt, auch signifikante Unterschiede. Jens Peter Jacobsen wurde am 7. April 1847 in Thisted, einer vor allem vom Seehandel lebenden Kleinstadt in Nordjütland geboren. Er stammte, anders als sein Protagonist Niels Lyhne, aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen. 29 Sein Vater, Chresten Jacobsen, war in seiner Jugend zur See gefahren, bevor er sich mit einigem Erfolg als Kaufmann versuchte. Seine Frau, Bente Marie, geborene Hundahl, mit der er seit 1844 verheiratet war, scheint eine eher einfache, wenig gebildete Frau gewesen zu sein, die allerdings für die Sensibilität ihres ältesten Sohnes durchaus Verständnis hatte. Neben seiner Mutter hatte er ein äußerst enges Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder William, welcher jedoch wohl wenig intellektuelle Ambitionen hatte; er war in der Landwirtschaft tätig. Als Kind wird Jacobsen als ein „lebensfroher, aufgeweckter Junge“ charakterisiert, 30 wenn auch als ein wenig sich auszeichnender Schüler, sein bestes Fach war bezeichnenderweise Turnen. Doch zeigten sich schon früh jene zwei beherrschenden Interessen, die auch sein späteres Leben maßgeblich prägen sollten: Seine Liebe zur Dichtung und sein Begeisterung für Botanik. Bereits als Schüler übte sich Jacobsen im Verfassen von Gedichten, von denen einige im Nachlass erhalten geblieben sind. Wenngleich diese eher als juvenile Stilübungen und Gelegenheitsdichtungen zu betrachten sind, offenbaren sie dennoch ein ernsthaftes Interesse an Poesie. Dies wurde nicht in seinem Elternhaus gefördert, sondern im Hause von Jensine Michelsen, der benachbarten, literarisch interessierten Witwe eines Arztes, mit deren Tochter Anna ihn eine Freundschaft verband, die durchaus die Züge einer nichtausgelebten Jugendliebe trug. Dieses Modell einer nichtrealisierten Liebesbeziehung wird dann in Variationen in Niels Lyhne wiederkehren. Jacobsens Interesse an der Welt der Pflanzen wurde durch die 1859 erfolgende Einführung des Unterrichtsfachs Botanik an der Thisteder Realschule, die Jacobsen besuchte, weiter befördert. 1863 fuhr Jacobsen nach Kopenhagen, um sich auf einem Gymnasium für die Reifeprüfung vorzubereiten. Für den Provinzler war die Erfahrung der Großstadt eine Art Kulturschock, doch wurde Kopenhagen für seine persönliche wie künstlerische Entwicklung bedeutsam, da Jacobsen dort wichtige Kontakte knüpfte. So befand sich unter seinen Mitschülern am Privatgymnasium etwa der spätere Schriftsteller Erik Skram. Auch hier interessiert sich Jacobsen vor allem für Botanik und wenig für die anderen Unterrichtsfächer, so dass er bei den Abschlussprüfungen beim ersten Mal durchfiel und sich erst 1877 an der Universität Kopenhagen für das Fach Botanik immatrikulieren konnte, das er mit großem Enga- 29 Die Angaben zur Biographie Jacobsens folgen Sørensen: Jens Peter Jacobsen . 30 Ebd., 12. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 135 gement studierte. Bemerkenswert ist, dass er zwar keinen akademischen Abschluss absolvierte, aber im Jahr 1872 eine von der Universität ausgelobte Preisaufgabe über Desmidiaceen, einzellige mikroskopische Grünalgen, mit einer Schrift gewann, die von der Universität in französischer Sprache unter dem Titel Aperçu systématique et critique sur les Desmidiacées du Danemark sogar gedruckt wurde. Die Arbeit verriet Jacobsens Talent zur genauen Beobachtung und präzisen Beschreibung von Naturphänenomen, eine Eigenschaft, die seine späteren literarischen Arbeiten ebenfalls in hohem Maße prägen sollte. In Kopenhagen fand Jacobsen auch Anschluss an die literarischen Zirkel. Die für seine weitere schriftstellerische Entwicklung wichtigste Bekanntschaft, die er in jenen Jahren machte, war sicherlich die der Brüder Georg und Edvard Brandes, jener beiden unermüdlichen Verfechter einer progressiven Literatur und Kultur in den skandinavischen Ländern. Jacobsen, der sich mit beiden befreundete, schloss sich ihrem Kreis an, ohne jedoch sich zu sehr von ihnen vereinnahmen zu lassen; dies gilt insbesondere hinsichtlich des von den Brüdern Brandes propagierten Stilideals, das eine nüchterne und sachliche Sprache favorisierte. Jacobsen hingegen pflegte einen Stil, der von den Brandes-Brüdern als zu manieriert erachtet und deshalb bisweilen auch kritisiert wurde - hier zeichnet sich schon die Demarkationslinie zwischen dem naturalistischen und dem impressionistischen Erzähldiskurs ab, ebenso wie die latente Spannung zwischen aufklärerisch-modernem Rationalismus und der aus Naturstudium und Naturkult erwachsenden Irrationalität, die zu der Naturmystik des Jugendstils führte. Wesentlich für Jacobsen war allerdings die Haltung eines entschiedenen Atheismus, den die Brandes-Brüder vertraten; dies wird dann eines der zentralen Themen in Niels Lyhne . Für die Ausweitung von Jacobsens geistigem und literarischem Horizont sind die Lektüren jener Zeit von großer Relevanz; er beschäftigt sich u.a. mit der deutschen Literatur, vor allem Goethe, Schiller, Wieland, Heine sowie - ebenfalls für die Atheismus-Problematik höchst bedeutsam - den Schriften Feuerbachs. Aber auch die anglo-amerikanische Literatur, Shakespeare, Byron, Tennyson, Swinburne und Poe, geraten in Fokus seines Interesses, ebenso die führenden Vertreter der positivistischen Richtung der Literaturkritik in Frankreich, Taine und Sainte-Beuve. Ebenfalls von Bedeutung sind Lektüren des frühexistentialistischen dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Das einschneidendste intellektuelle Erlebnis dieser Jahre ist allerdings die Bekanntschaft mit der Evolutionstheorie Charles Darwins, die Jacobsen als Naturwissenschaftler in besonderem Maße anzog und faszinierte. Nicht allein verfasste Jacobsen zahlreiche Artikel, die sich mit den Lehren Darwins auseinandersetzten, er übertrug auch als Erster Darwins wichtigste Werke On the Origins of Species by Means of Natural Selection von 1859 und The Descent of Man von 1871 ins Dänische. Für Jacobsen verbanden sich die Lehren Darwins mit seiner schon zuvor vorhandenen atheistischen Grundeinstellung. Doch mehr als das, wie Bengt Algot Sørensen formuliert: Das Darwin-Erlebnis scheint den negativen Atheismus des jungen Jacobsen in eine positive Lebensauffassung verwandelt zu haben. [...] Was den jungen Jacobsen vornehmlich beeindruckte, war Darwins Überzeugung von der Einheit und von dem Zusammenhang alles Lebendigen, einschließlich des Menschen. Dieser Aspekt scheint für Jacobsen wichtiger gewesen zu sein als Ideen wie survival of the fittest [Überleben des Bestangepassten], Markus May 136 struggle for life [Kampf ums Dasein] und wie die Darwinschen Formeln alle lauten, die in den kommenden Jahrzehnten in einem Teil der europäischen Literatur eine so wichtige Rolle spielen sollten. 31 Die Thematik der Natur und ihr Übertrag auf das menschliche und zwischenmenschliche Miteinander ist denn auch bereits Gegenstand der Novelle Mogens , mit der Jacobsen 1872 als Schriftsteller debütierte. Durch den Erfolg der Erzählung wie durch seine mit der Goldmedallie ausgezeichnete Preisschrift über Desmidiaceen in seinem Selbstbewusstsein gestärkt, machte sich Jacobsen an weitere Arbeiten und unternahm im Sommer 1873 eine erste viermonatige Auslandsreise, die ihn über Berlin, Dresden, Prag, Wien nach Verona, Bergamo, Mailand, Venedig und Florenz führte, und bei der er teilweise von den Brüdern Brandes begleitet wurde. „Reisen - das ist das Leben und das Glück“, heißt es in einem Brief an seine Eltern. 32 Dieses Glück nimmt ein jähes Ende, als er im September 1873 in Florenz einen Blutsturz erleidet - die ersten Anzeichen der Tuberkulose, die in den nächsten Jahren sein Leben bestimmen und zu seinem frühen Tod mit gerade einmal sechsunddreißig Jahren führen wird. Jacobsen kehrt zunächst nach Thisted in den Kreis seiner Familie zurück, die ihn auch in den folgenden Jahren bis zu seinem Tod pflegen wird. Trotzdem gelingt es ihm 1875 seinen ersten Roman Frau Marie Grubbe [ Fru Marie Grubbe ] zu beenden, der ein Frauenschicksal aus dem 17. Jahrhundert zum Gegenstand hat, ein historischer Stoff, der vor Jacobsen bereits von Ludvig Holberg und Steen Steensen Blicher gestaltet worden war. 33 Schon 1874, noch während der Arbeit an Frau Marie Grubbe , beginnt Jacobsen mit einem neuen Romanprojekt, das ursprünglich den Titel „Die Atheisten“ tragen sollte und das dann 1880 als Niels Lyhne erschien. Danach war ein größeres Romanunterfangen aufgrund der fortschreitenden Krankheit kaum mehr möglich; in den letzten fünf Lebensjahren veröffentlichte Jacobsen noch eine Reihe von Gedichten sowie einige Erzählungen; ein letztes Prosaprojekt, eine Verarbeitung des literarisch so bedeutsamen Faust-Stoffes, blieb fragmentarisch. 34 Am 30. April 1885 stirbt Jacobsen in Thisted im Kreise seiner Familie. 3. Lebenslauf nach absteigender Linie: Niels Lyhne Niels Lyhne wird, wie der Blick auf die Rezeptionsgeschichte gezeigt hat, mit guten Gründen als Jacobsens Hauptwerk angesehen. Der Roman erzählt in vierzehn Kapi- 31 Ebd., 27f. 32 Zit. nach Sørensen: Jens Peter Jacobsen , 46. 33 Ludvig Holberg hatte die historische Marie Grubbe persönlich kennen gelernt und verwies auf ihr Schicksal als warnendes Exempel in seinen moralphilosophischen Episteln; ihre in den nordischen Ländern wohlbekannte Geschichte firmiert dann als Teil von Steen Stensen Blichers Erzählung Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Landküsters [ Brudstykker af en Landsbydegns Dagbog , 1824], die als Beginn des Genres der Dorfgeschichte in der dänischen Literatur betrachtet werden kann. 34 Siehe Bohnen: „Daten zu Leben und Werk Jacobsens“, 223. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 137 teln die Lebensgeschichte der titelgebenden Hauptfigur, dabei durchaus sich an den Traditionen und Mustern des Entwicklungsromans orientierend, jenem Genremodell, das seit der aufkommenden Problematik der neuzeitlichen Subjektivität im 18. Jahrhundert zu den Hauptformen des europäischen Romans gezählt werden kann. 35 Ein entscheidendes Moment der Darstellung liegt allerdings im Episodenhaften, das die Erzählstruktur dominiert; d.h. es gibt verhältnismäßig häufig Erzählsprünge, was dazu führt, die eigentlich bei einem Entwicklungsroman erwartbare Kontinuität in der Darstellung der Lebensgeschichte der Person aufzubrechen. Dies gepaart mit einer hochentwickelten, nuancierten Beschreibungskunst, die Jacobsen den einzelnen episodischen Szenen angedeihen lässt, verstärkt den Eindruck des Impressionistischen. Das Faszinierende ist hierbei, dass Jacobsens Stil ein ästhetisches Äquivalent zur Charakteristik seiner Hauptfigur schafft, dem übersensiblen, den Augenblick in allen Farbtönen wahrnehmenden Ästheten, dem es aber im Leben an der nötigen Stetigkeit und Kontinuität gebricht, die für eine nennenswerte (künstlerische) Leistung, welche Bestand hätte, unabdingbar wäre. Da die an einzelnen Punkten fein nachgezogene Lebenslinie des Protagonisten in der Deszendenz, im Abstieg mündet, im Verlust seiner Hoffnungen, Träume, Ideale, und dem abschließenden Tod, hat Georg Lukács Niels Lyhne in seiner Theorie des Romans treffend als „Desillusionierungsroman“ bezeichnet. 36 Der Roman beginnt mit der Schilderung von Niels Eltern. Dieses genealogische Vorspiel scheint zunächst der Topik naturalistischer Texte zu folgen, da durch die Darstellung der Persönlichkeitsmerkmale der Vorfahren bestimmte erbliche Dispositionen im Sinne eines genetischen Determinismus erklärt werden sollten, die sich dann mit erbbiologischer Gesetzlichkeit in der späteren Generation wieder auswirkten, wie etwa der Hang zu Gewalt und Trunksucht in den Familienzweigen der Rougon-Macquart in Emile Zolas gleichnamigen Romanzyklus. Da Jacobsen die Schriften Darwins ja aus erster Hand kannte, verwundert dieses genealogische Vorspiel keineswegs, doch erscheint es differenzierter in der Darstellung, da es einen zu plump und zu mechanisch suggerierten Determinismus meidet. Dennoch ist die Kombination der Charaktereigenschaften und Dispositionen des Vaters und der Mutter, die bei Niels auftreten wird, klar erkennbar und wird auch in Hinblick auf die Eltern schon mit dem Stigma des im Sinne der Evolutionsbiologie Dekadenten versehen. So wird Niels Vater vom Erzähler als „der letzte männliche Sproß eines Geschlechts“ apostrophiert (5). Hatten seine Vorfahren zu denjenigen gezählt, die sich in der Provinz durch die Übernahme öffentlicher Ämter ausgezeichneten, so ist Niels Vater zufrieden, der klar und eng begrenzten landwirtschaftlichen Arbeit auf seinem Gut Lönborggaard nachzugehen. Zwar hatte er wie seine Vorfahren in seiner Jugend ausgedehnte Bildungsreisen unternommen, doch lässt er später keinen inne- 35 Zu Niels Lyhne im Kontext des Genres Entwicklungsroman siehe Uwe Ebel: Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne. Eine Entwicklung seiner Aktualität aus seinem historischen Stellenwert . Metelen: Verlag Dagmar Ebel, 1988, 102-105. 36 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik . Darmstadt: Luchterhand, 1984, 106. Markus May 138 ren Bezug mehr dazu erkennen; sein Interesse und seine auf den Reisen erworbene, aber nicht lang anhaltende Weltläufigkeit reicht zunächst gerade noch aus, die Liebe seiner zukünftigen Frau Bartholine zu gewinnen, später legt er alle intellektuellen Prätentionen zugunsten einer bäuerischen Existenz ab, er degeneriert geradezu und sinkt auf eine frühere Kulturstufe zurück: Es fiel ihm niemals ein, die Kenntnisse zu verwerten, die er sich in früherer Zeit angeeignet hatte; dazu hatte er viel zu wenig Vertrauen zu dem, was er Theorie nannte, und allzu großen Respekt vor den bewährten und durch die Länge der Zeit ehrwürdig gewordenen Erfahrungssätzen, welche die andern das wirklich Praktische nannten. Im ganzen genommen war nichts an ihm, was darauf hindeutete, daß er nicht Zeit seines Lebens hier und so gelebt hatte. Eine Kleinigkeit jedoch ausgenommen. Er konnte nämlich oft eine halbe Stunde lang an einer Heckentür oder an einem Grenzstein sitzen und in seltsam vegetativer Ergriffenheit auf den üppig grünenden Roggen oder den goldenen, ährenschweren Hafer starren. Das hatte er anderswoher; es erinnerte an den früheren Lyhne, den jungen Lyhne. (11) Genau wie er wird sein Sohn Niels wird später auch, nachdem er das väterliche Gut übernommen und allen seinen vormaligen Ambitionen entsagt hat, in „seltsam vegetativer Ergriffenheit auf den goldenen Weizen oder den ährenschweren Hafer“ starren (199). An dieser Parallel-Stelle schlägt sich der Grundgedanke von der Einheit der Natur, den Jacobsen an Darwin so bewunderte, besonders prägnant nieder. Niels Mutter Bartholine werden ebenfalls geradezu topische Elemente des Dekadenten zugeschrieben, so ihre bleiche Haut, Züge sinnlicher Nervosität sowie eine „matt[e]“ und „klanglos[e]“ Stimme (3). Von formativer Bedeutung für das Leben ihres Sohnes ist allerdings ihr Hang zu einem träumerisch-romatischen Idealismus, der sich besonders in ihrer identifikatorischen Lektüre von Poesie niederschlägt (ich erinnere an die vorhin skizzierte Kritik Georg Brandes an der dänischen Literatur vor dem „modernen Durchbruch“). Während sie in der Ehe mit ihrem Mann gerade dieses Moment zunehmend vermissen muss, überträgt sie es projektiv auf ihren Sohn, der ihr jedoch nicht gänzlich darin zu folgen bereit ist (und hier kommt die ganze psychologische Subtilität Jacobsens zum Tragen): Die Eigenschaft des Sohnes, durch welche die Mutter auf ihn einwirken suchte, war seine Phantasie, und Phantasie hatte er vollauf. Aber als er noch ganz klein war, zeigte es sich bereits, daß für ihn ein bedeutender Unterschied bestand zwischen der Fabelwelt, die sich aus dem Wort der Mutter entfaltete, und der wirklichen Welt; denn es geschah mehr als einmal, wenn die Mutter ihm ein Märchen erzählte und schilderte, wie groß die Bedrängnis des Helden war, daß Niels, der absolut aus all diesem Jammer keinen Ausweg finden und nicht abzusehen vermochte, wie all diesem Elend abgeholfen werden könne, das sich in undurchdringlichem Kreise enger und enger um ihn und seinen Helden auftürmte ja, es geschah manches Mal, daß Niels plötzlich seine Wange gegen die der Mutter drückte und mit Tränen in den Augen und bebenden Lippen flüsterte: „Aber all dies ist doch wohl nicht wirklich wahr? “ Und wenn er dann die tröstende Antwort erhalten hatte, die er erhoffte, so seufzte er erleichtert auf und hörte die Geschichte in behaglicher Sorglosigkeit bis zu Ende an. Aber der Mutter war diese Fahnenflucht eigentlich nicht recht. (13) Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 139 Hier zeigt sich nicht zuletzt die durch väterliche wie mütterliche Dispositionen und deren Widerstreit hervorgerufene Dichotomie in Niels Wesen. Der von der Mutter instigierte Idealismus wird später in Niels artistischen Aspirationen und atheistischen Überzeugungen geeignete Bezugsfelder finden; dabei figuriert die Metapher der ‚Fahne‘ durchgängig und quasi leitmotivisch als Symbol für den Bereich des ‚Idee‘ im Roman. Die Mutter eröffnet den Reigen der Frauengestalten als den zentralen Bezugspersonen in Niels Leben; in den Beziehungen zu ihnen, die letztlich alle auf z.T. unterschiedliche Weise scheitern, offenbart sich Niels Persönlichkeit mehr als in allem anderen. Als Niels zwölf Jahre alt ist, treten mit dem Hauslehrer, einem Kandidaten der Theologie namens Bigum, und Niels schöner junger Tante Edele zwei neue Personen in seinen Gesichtskreis. Niels Empfindungen gegenüber seiner Tante Edele werden mit großer Feinfühligkeit und erstaunlicher psychologischer Präzision als Erwachen der Sexualität und der schwärmerischen, sich selbst nur unbewußt wahrnehmenden jugendlichen Liebe dargestellt. Zugleich erlebt Niels aber auch, wenn auch nur als Beobachter, die Zurückweisung eines Liebenden durch das Objekt seines Begehrens. Denn Herr Bigum, der als ein eingebildeter, megalomaner Möchtegernphilosoph porträtiert wird (und hierin den Helden von Knut Hamsuns frühen Romanen ähnelt), 37 hat sich ebenfalls in Edele verliebt, die seinen Antrag jedoch kühl ablehnt. In ihrer Begründung verweist sie auf die unbezwingbare Macht der Wirklichkeit, die den Träumen entgegensteht und die eben nicht durch die Träume außer Kraft gesetzt werden kann. Das Desillusionierungsprinzip des Romans wird hier schon ziemlich zu Beginn mustergültig formuliert: Wir schließen die Augen vor dem wirklichen Leben, wir wollen das Nein nicht hören, welches es unseren Wünschen entgegenruft; wir wollen den tiefen Abgrund vergessen, den es uns zeigt, den Abgrund, der zwischen Sehnsucht und dem liegt, wonach wir uns sehnen. Wir wollen unseren Traum nun einmal verwirklichen. Aber das Leben rechnet nicht mit Träumen; nicht ein einziges Hindernis läßt sich aus der Wirklichkeit hinausträumen; und so liegen wir schließlich jammernd an jenem Abgrund, der sich nicht verändert hat, der ist, wie er immer war. Wir selbst sind verändert, denn mit unseren Träumen haben wir all unsere Gedanken erregt, unsere Sehnsucht, unser Verlangen bis zur höchsten Spannung hinaufgetrieben; aber der Abgrund ist nicht schmäler geworden, und alles in uns sehnt sich so schmerzlich danach hinüberzugelangen. Aber nein, immer nein, weiter nichts. (38f.) Für den jungen Niels, der die Worte seiner Tante als unbemerkter Zeuge mit anhört, ist es ein Schock, der ihn erstmals mit Angst vor dem Leben erfüllt, da er begreift, dass es auch ein Leidzusammenhang sein kann und eben nicht die Erfüllung der kindlichen Wünsche und Träume: Zum erstenmal hatte er Furcht vor dem Leben empfunden, zum erstenmal wirklich begriffen, daß, wenn das Leben einen zum Leiden verurteilt, dieses Urteil weder erdichtet noch angedroht ist - man wird zur Folterbank geschleppt und dann wird man gefoltert, es 37 Etwa dem namenlosen Ich-Erzähler in Hunger [ Sult , 1890] oder Johan Nagel in Mysterien [ Mysterier , 1892]. Markus May 140 kommt keine märchenhafte Befreiung im letzten Augenblick, kein plötzliches Erwachen wie aus einem bösen Traum. Das war es, was er in ahnungsvoller Angst begriff. (40) Als Edele im darauf folgenden Frühjahr im Sterben liegt, betet Niels für ihre Rettung, die aber nicht erfolgt. Daraus resultiert Niels Hass auf Gott, der schließlich in seinem leidenschaftlichen Atheismus mündet. Nach Edeles Tod kommt der Waise Erik Refstrup, ein Verwandter Niels, nach Lönborggard, zu dem der gleichaltige Knabe Niels eine große Zuneigung empfindet, er wird sein bester Freund und Gefährte jener Tage der Adoleszenz. Anders als Niels ist Erik keine träumerische Natur, sondern praktisch veranlagt (eine Konstellation, die im Übrigen der von Tonio Kröger und Hans Hansen in Thomas Manns Novelle entspricht). Erik geht später nach Kopenhagen, um sich zum Bildhauer ausbilden zu lassen, und Niels folgt ihm, in der Absicht zu studieren und Dichter zu werden. Im Atelier von Mikkelsen, dem Lehrer Eriks, lernt Niels Tema Boye kennen, eine junge Witwe mit künstlerisch-intellektuellen Ambitionen. Das Gespräch im Atelier kreist um die Kunst; Frau Boye gibt sich als entschiedene Anhängerin des „Natürlichen“, also als Parteigängerin einer realistischen, mithin ‚modernen Kunst‘, zu erkennen; ihr Ideal ist Shakespeare, während sie Öhlenschläger, den romantischen dänischen Nationaldichter, als zu idealisierend ablehnt. Das Kunstgespräch kontrastiert beide Postionen der dänischen Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die veraltetete, idealistische und nationalistische, an Saga und Märchen orientierte Literatur, für die Öhlenschläger bzw. seine Anhänger stehen, und die progressive antiidealistische, realistische Kunst, für die Shakespeare als Kronzeuge angerufen wird. Hinzu kommt, und dies ist für die Thematik der Beziehungen zwischen den Geschlechtern wesentlich, dass Frau Boye gerade an der Darstellung der Meerfrau in Öhlenschlägers Versepos Helge Anstoß nimmt, da hier ein idealisiertes Frauenbild, mit dem sie sich nicht identifiziert wissen möchte, zum Ausdruck komme. Sie reklamiert für sich, so wahrgenommen zu werden, wie sie sei, ohne Prätentionen. In der folgenden Zeit, in der Niels zwar auch über die Kunst reflektiert, aber nichts schreibt, verliebt er sich in Frau Boye, allerdings mit einer Liebe, die die Facetten ihrer Persönlichkeit, so wie er sie wahrnimmt, nicht damit in Einklang bringen oder sie erringen kann: Er fühlte, daß er das in ihrer Seele, was ihrer Schönheit das Üppige, Blühende, Sinnlich- Weiche gab, niemals zu sich würde herüberziehen können, daß es ihn niemals mit blendenden Junoarmen umfangen, den wollustatmenden Nacken in aller Ewigkeit nicht der Gewalt seiner Küsse liebesschwach hingeben würde. Er sah wohl ein, daß er das junge Mädchen in ihr erringen konnte, schon errungen hatte, und sie, die üppige Schöne, hatte gefühlt - er glaubte es gewiß -, wie die junge Schönheit, die in ihr gestorben, sich geheimnisvoll in ihrem lebenden Grabe gerührt hatte, um ihn mit schlanken Jungfrauenarmen zu umfangen, ihn mit bangen Jungfrauenlippen zu küssen. Aber so war seine Liebe nicht. Er liebte nur das, was nicht zu erringen war [...]. (79f.) Während dieser unerfüllt-platonischen, nicht ausgelebten Beziehung, die sich ein Jahr lang hinzieht, erreicht ihn ein Brief seiner Mutter, dass sein Vater schwer krank sei. Als er auf Lönborggaard ankommt, ist sein Vater bereits gestorben; Niels macht Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 141 sich Vorwürfe, seine Sohnespflichten vernachlässigt zu haben. Kurz nach dem Begräbnis erkrankt auch seine Mutter. Bei ihrer Genesung bekennt sich Niels noch einmal zu seiner Berufung als Dichter, der sich der höchsten Kunst verschrieben habe, wenngleich er noch nichts vorzuweisen hat, das diesen Anspruch rechtfertigen würde. Nachdem sich die Mutter erholt hat, begeben sich die beiden auf eine Reise in den Süden, der allerdings die Erwartungen, die Frau Lyhne in ihrer träumerischen und durch die Literatur beflügelten Phantasie genährt hat, enttäuscht. Sie verbringen den Winter in Clarens, dem Ort Rousseaus und Schauplatz seiner Nouvelle Héloïse , doch im Frühjahr stirbt die Mutter dort. Niels kehrt nach Kopenhagen zurück, wo er erfahren muss, dass sich Frau Boye verlobt hat und kurz vor der Eheschließung steht. Es kommt zu einem letzten Treffen und einer Aussprache in Frau Boyes Wohnung, wobei Frau Boye, die sich immer gegen die Konvention ausgesprochen hatte, sich letztlich doch zu ihr bekennt, was in Niels Augen einen Verrat der progressiven Ideen darstellt, welche Frau Boye bis dahin propagiert hatte. Trotzdem mündet das Gespräch in einer Kussszene, in der sich die bisher unterdrückten Emotionen ihre Bahn brechen, bevor Niels sich endgültig von Frau Boye verabschiedet. Am Weihnachtsabend trifft Niels in einer Gaststätte den jungen Arzt Doktor Hjerrild, der wie Niels Atheist, in politischen Fragen aber ein Konservativer ist. Es kommt an dieser zentralen Stelle im Roman zu einem ausgedehnten Gespräch über den Atheismus. Während Niels den Atheismus idealistisch als die um jeden Preis zu verwirklichende Befreiung der Menschheit von falschen Vorstellungen vertritt, warnt der pragmatischere Doktor Hjerrild vor den Folgen einer solchen Form atheistischer Aufklärung, da der Atheismus wesentlich größere Forderungen an die Menschheit stelle als das Christentum, denn er biete anstelle Gottes nichts, nur Desillusionierung - und in diesem Zusammenhang erscheint dieser Begriff nun wörtlich: Der Atheismus ist doch grenzenlos nüchtern, und sein Ziel ist ja schließlich auch nichts anderes als eine desillusionierte Menschheit. Der Glaube an einen lenkenden, strafenden Gott ist die letzte, große Illusion der Menschheit, und was, wenn auch diese verloren ist? Dann ist sie klüger geworden; - aber reicher - glücklicher? Das glaube ich nicht. (124) Doch Niels widerspricht, er ist der Meinung, dass der Atheismus genügend starke Individuen sich heranerziehen würde, eine Vorstellung, die Hjerrild ironisch als eine Art „pietistischen Atheismus“ bezeichnet (126). Im folgenden Sommer kehrt Erik Refstrup von einem zweijährigen Italienaufenthalt zurück und versteht sich nun mehr als Maler denn als Bildhauer. Während eines Urlaubsbesuch beim Konsul Claudi in Fjordby lernen die beiden die Tochter des Konsuls, Fennimore, kennen und verlieben sich beide in sie. Sie entscheidet sich für Erik, den sie mit einer bedingungslosen, bis zur Selbsterniedrigung gehenden Liebe liebt. Drei Jahre später, Niels dichterische Studien sind immer planloser geworden, erreicht ihn ein Brief Eriks, der ihn um Hilfe bzw. einen Besuch bittet. Erik steckt in einer Schaffenskrise, und Niels ist in die Vorstellung vernarrt, eine eigene Belange hintanstellen zu können (wofür er nicht undankbar ist), um dem Freund zu helfen. Niels mietet sich Mariagerfjord gegenüber des Hauses von Erik und Fennimore ein. Er muss erkennen, dass die Ehe zwischen Erik und Fennimore in einer Markus May 142 fundamentalen Krise steckt, da Erik kaum arbeitet und statt dessen meist mit zwielichtigen Personen der Nachbarschaft zu Trinkgelagen unterwegs ist. Erik spricht mit Niels über das Ausbleiben der Schaffenskraft als einer Krise, von der man nicht wisse, wie sie zu bekämpfen sei oder ob sie überhaupt wieder vorüber gehe, auch er ist als Künstler gescheitert. Durch Eriks Touren und seine damit verbundenen langen Abwesenheiten verbringen Niels und Fennimore viel Zeit miteinander. Zunächst empfindet Niels noch primär Mitleid mit der in dergestalt herabwürdigenden Zuständen lebenden Fennimore. Allmählich entwickelt sich eine beiderseitige Liebe, deren Entstehen und Wachsen Jacobsen in Metaphern kleidet, die wiederum der Natur(-Wissenschaft) entnommen sind (was in der Tat an Goethes Wahlverwandtschaften gemahnt), so dass sich auch hier die monistische Lehre der Einheit der Natur in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen bestätigt sieht - die Liebe als ein Katalysations- und Kristallisationsprozess: Aber die Liebe war in ihren Herzen, und war auch wieder nicht da, gleich wie die Kristalle in übersäuerten Lösung sind und doch nicht da sind; nicht, bevor nicht ein Splitter oder nur eine Faser des Richtigen sich in die Flüssigkeit senkt und gleichsam mit einem Zauberschlag die schlummernden Atome ausscheidet, so daß sie sich entgegenfliegen, sich nach unerforschlichen Gesetzen ineinanderkeilen, Niet in Niet, und in einem Nu Kristall sind... Kristall. (173f.) Schließlich bekennen sich beide zu dieser Liebe und leben sie heimlich und mit schlechtem Gewissen Erik gegenüber aus. Als Fennimore eines Tages die Nachricht vom Tode ihres Mannes bei einem Kutschunfall überbracht wird, überwältigen sie Gefühle der Schuld und der Reue. Sie klagt sich an und macht Niels hasserfüllte Vorwürfe: „Hörst du denn nicht, daß ich dich hasse? ” jammerte sie, “ist denn nicht soviel vom Gehirn eines ehrlichen Mannes in dir, daß du das begreifst. Wie blind muß ich gewesen sein, daß ich dich liebte, du zusammengelogener Mensch, während ich ihn zur Seite hatte, der zehntausendmal besser war als du. Ich werde dich hassen und verachten bis an mein Lebensende. Als du damals kamst, war ich rechtschaffen; ich hatte nie etwas Böses getan, aber da kamst du mit deiner Poesie und deinem Dreck und logst mich hinunter zu dir in den Schmutz.“ (189f.) Nach diesem katastrophalen Ende der Beziehung mit Fennimore reist Niels zwei Jahre ziellos und völlig vereinsamt im Ausland umher. Endgültig setzt sich bei ihm die Erkenntnis durch, dass sein Talent keine Form gewinnen kann. Nach einer flüchtigen Begegnung mit einer Opernsängerin in Riva am Gardasee kehrt Niels auf das väterliche Gut Lönborggaard zurück, das er von nun an bewirtschaftet. Man könnte behaupten, er sei mit den mütterlichen Ambitionen ausgezogen, nur um letztendlich zur väterlichen Existenzweise zurückzukehren. Bei gesellschaftlichen Besuchen der Familien seiner Nachbarschaft lernt er die siebzehnjährige Gerda, die älteste Tochter des Kanzleirats Skinnerup, kennen. Diese verliebt sich in Niels, in dessen weltgewandtem Auftreten sie ihr Ideal erkennt. Ähnliches hatte auch schon Niels Vater in den Augen seiner zukünftigen Frau anziehend gemacht. Niels heiratet das noch junge Mädchen, das in jeder Hinsicht zu ihm aufblickt. So schwört sie auch dem Glau- Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 143 ben ihrer Kindheit ab und folgt dem Atheismus ihres Gatten mit proselytenhaftem Eifer. Im zweiten Jahr ihrer Ehe bekommt Gerda einen Sohn (bis hierher scheint sich das Muster von Niels Eltern zu wiederholen). Doch im vierten Jahr erkrankt Gerda schwer. Nicht allein muss Niels ihren Tod verkraften, sondern auch, dass sie im Augenblick des Sterbens seinem Ideal des Atheismus abgeschworen und nach einem Priester verlangt hatte. Niels erkennt schmerzhaft und gedemütigt, dass ihre Sehnsucht nach einem Gott größer war als ihre Liebe zu ihm. Als letzter Schicksalsschlag, der Niels trifft, stirbt auch noch sein kleiner Sohn. Die Verzweiflung, die dessen fieberkrampfgeschütteltes Sterben beim Vater auslöst ist nun so groß, dass er in einem schwachen Moment selbst die „Fahne“ der Idee des Atheismus verlässt und zu Gott betet. Diese letzte Demütigung kann er, obwohl es keine Zeugen für den Vorfall gab, sich selbst nicht vergeben; er ist nach dem Tod seines Kindes ein gebrochener Mann. Er meldet sich als Freiwilliger im Deutsch-Dänischen Krieg und wird schwer verwundet. Doktor Hjerrild, der in dem Lazarett als Arzt Dienst tut, bietet Niels an, einen Geistlichen holen zu lassen, was Niels jedoch ablehnt. In seinem sich über Tage hinziehenden Sterben wird Niels die große existentielle Einsamkeit vollends bewusst, dann werden die Schmerzen immer schlimmer, er beginnt im Fieber zu phantasieren. „Und endlich starb er dann den Tod, den schweren Tod.“ (218). Gerade die Darstellung der sich schon früh manifestierenden Lebensangst, die hier am Schluss in absolute Verzweiflung umschlägt, lässt stark den Einfluss der Kierkegaardschen Schriften, insbesondere von Der Begriff Angst [ Begrebet Angest , 1844] und Die Krankheit zum Tode [ Sygdommen til Døden , 1849], erkennen, ohne dass dem Atheisten Niels Lyhne der erlösende Weg in den errettenden Glauben, den der frühe Existentialphilosoph Kierkegaard propagierte, offen stünde - Jacobsen hat die Figur in aller Konsequenz bis an ihr bitteres Ende geführt. 38 4. Exemplarische Totalität und Zeitdiagnose Der Kontrast zwischen der dürftigen Inhaltsangabe und den eingestreuten Zitaten aus dem Roman dürfte klar vor Augen geführt haben, dass die Wirkung und Bedeutung des Romans weniger von der Handlung, dem Was, als vielmehr von der Darstellungsweise, dem Wie, und von seinem Protagonisten ihren Ausgang genommen haben. Die Nuanciertheit der Schilderungen und Beschreibungen der äußeren wie der inneren Natur hat nicht nur die Zeitgenossen beeindruckt. Hinzu kommt eine äußerst differenzierte psychologische und anthropologische Dimension, welche die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft (insbesondere der Biologie und der Neurologie) aufnimmt, ohne in jene bisweilen holzschnittartige Charakterzeichnung zu verfallen, die der Bezug auf deterministische Modelle bei manch naturalistischem Text bedingt hat. (Darin ähnelt Niels Lyhne übrigens dem sogenannten „roman 38 Siehe Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst . Übers. Hans Rochol. Hamburg (Felix Meiner) 2005 sowie Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode . Übers. Hans Rochol. Hamburg: Felix Meiner, 2005. Markus May 144 psychologique“, der in Frankreich als Reaktion auf den Naturalismus von Autoren wie Paul Bourget oder Guy de Maupassant entwickelt wurde.) Diese nuancierte Charakterzeichnung gestaltet der Text unter extensivem Einsatz moderner erzähltechnischer Mittel der Introspektion wie erlebte Rede oder Bewusstseinsbericht. Als Figur erscheint Niels einerseits zwar durch die Dispositionen der Eltern geprägt, anderseits zeichnet er sich durch eine außergewöhnliche Sensibilität aus. In seiner immer wieder vorgeführten Wahrnehmung und Reflexion seiner selbst, der Umwelt, der Frauen, der Kunst, die doch letztlich nicht zu Handlungen und konkreten Ergebnissen führt, ist er nicht allein ein Vertreter des Typus des Dekadenten (wie etwa Thomas Buddenbrook), sondern vor allem auch ein Vertreter des Typus des „Ästheten“ im Sinne Kierkegaards - eines Typus, der für die Literatur der Moderne wie des 20. Jahrhunderts allgemein dann ganz zentral werden wird (und hierin liegt ein guter Teil der wegweisenden Wirkung des Romans über die Epoche des Fin de siècle hinaus begründet). Der Ästhet ist der immer Wahrnehmende, die Wahrnehmung Reflektierende, und das Reflektieren Reflektierende, was ihn letztlich davon abhält, irgendwann zu einer konsequenten Entscheidung und Handlung zu gelangen. Er ist ein impressionistischer Mensch, der von der Außenwelt und ihren Tendenzen abhängt, statt sich ihr gegenüber als autonom in Bezug zu setzen. Dies führt zu einer existentiellen Trennung von Ich und Welt, die als unüberwindbar erfahren wird, wie auch Niels Erkenntnis seiner tiefen existentiellen Einsamkeit während des Prozess seines Sterbens nahelegt. Es gehört zu den Leistungen Jacobsens, dass er diese existentielle Entfremdung, die Leben und Welt den Schleier des Unwirklichen verleiht, im Niels Lyhne in einer Form gestaltet hat, die in die Moderne weist, wie Claudio Magris konstatiert: Jacobsen ist einer der ersten und einer der großen Dichter der Unwirklichkeit, die das moderne Leben wie mit einem Zauber verhext zu haben scheint, es abstrakt werden läßt und es den Menschen raubt, die es doch als ihr eigenes, nicht entfremdbares Leben leben sollten. 39 Dennoch gibt es auch Urteile, die Niels Lyhne als eigentliches Scheitern der Form des Romans betrachten, wobei sein impressionistischer Protagonist wie der impressionistische Stil des Romans als „unepisch“ erachtet wird. So etwa in der schon erwähnten Theorie des Romans von Georg Lukács, seinem 1914/ 15 verfassten, an Hegel orientierten „geschichtsphilosophische[n] Versuch über die Formen der großen Epik“ (so der Untertitel). Lukács schreibt: Jede Form muß irgendwo positiv sein, um als Form Substanz zu bekommen. Die Paradoxie des Romans zeigt ihre große Fragwürdigkeit darin, daß die Weltlage und die Menschenart, die seinen formellen Anforderungen am meisten entgegenkommen, für die er die einzig angemessene Form ist, die Gestaltung vor fast unlösbare Aufgaben stellen. Jacobsens Desillusionierungsroman, der die Trauer darüber, daß ‚es so viel sinnlose Feinheit in der Welt gibt‘, in wundervollen, lyrischen Bildern ausspricht, zerfällt und zerflattert; 39 Claudio Magris: „Nihilismus und Melancholie. Jacobsen und sein Niels Lyhne.“ In: Ders.: Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur . Aus dem Italienischen von Christine Wolter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987, 91-120; hier 91. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 145 und der Versuch des Dichters in dem heldenhaften Atheismus Niels Lyhnes, in dem kühnen Aufsichnehmen seiner notwendigen Einsamkeit, eine verzweifelte Positivität zu finden, wirkt als eine von außerhalb der eigentlichen Dichtung herbeigeholte Hilfe. Denn dieses Leben, das zur Dichtung werden sollte und zum schlechten Fragment wurde, wird in der Gestaltung wirklich zu einem Scherbenberg; die Grausamkeit der Desillusion kann nur den Lyrismus der Stimmungen entwerten, den Menschen und Geschehnissen kann sie doch keine Substanz und Schwere des Daseins verleihen. Es bleibt eine schöne aber schattenhafte Mischung von Schwelgen und Bitterkeit, von Trauer und Hohn, aber keine Einheit; Bilder und Aspekte, aber keine Lebenstotalität. 40 Lukács verkennt die Leistung des Romans, weil er das Scheitern des Protagonisten und seines Lebensentwurfs kurzschlüssig mit dem Scheitern des ästhetischen Objekts des Romans identifiziert und weil sein von Hegel her konzipiertes Verständnis von epischer Totalität Breite der Darstellung verlangt, dort wo der Roman Niels Lyhne exemplarische Tiefe bietet. Im Gegenteil erweist sich der Roman gerade darin als geglückt, da es ihm gelingt, jene ästhetische Doktrin - die man als postidealistisch und post-romantisch bezeichnen könnte - umzusetzen, um die sein Protagonist vergeblich gerungen hatte. So hatte Niels nach dem Tode seiner Mutter und der Hochzeit Tema Boyes die Notwendigkeit einer ‚neuen Kunst‘ und ihrer Beziehung zur vorherigen durchaus erkannt, ebenso wie seine eigene bisherige dominante Dependenz vom Althergebrachten: Früher hatte er seine Zeit auch nicht gerade vergeudet, aber man macht sich so leicht vom väterlichen Bücherschrank abhängig, und es liegt so nahe, sich auf denselben Wegen vorwärtszuarbeiten, die andere zum Ziel geführt haben; und deshalb hatte er sich in der weiten Welt der Bücher kein eigenes Weinland gesucht, sondern war gegangen, wie seine Väter gegangen waren. Er hatte autoritätsgetreu seine Augen vor manchem, das lockte, geschlossen, um besser die große Nacht der Edda und der Sagen sehen zu können; er hatte sein Ohr manchem verschlossen, das ihn rief, um den mystischen Naturlauten des Volksliedes zu lauschen. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß es keine Naturnotwendigkeit sei, entweder altnordisch oder romantisch zu sein; daß es einfacher sei, sich selbst seine Zweifel zu sagen, als sie Gorm Lokedyrker in den Mund zu legen; vernünftiger, Laute für die Mystik seines eigenen Wesens zu finden, als die Klostermauern des Mittelalters anzurufen und echomatt dasselbe zurücktönen zu hören, was er selbst gerufen hatte. Für das Neue der Zeit hatte er ja ein Auge gehabt; aber er hatte sich immer mehr damit beschäftigt, darauf zu lauschen, wie das Neue dunkel in dem Alten ausgesprochen worden war, als auf das zu horchen, was das Neue in ihm selbst deutlich genug sagte [...]. (114) Und genau diese Gestaltung des „Neuen“, des „Eignen“, die seinem Protagonisten verwehrt bleibt, gelingt dem Autor des Romans. Denn der Protagonist von Niels Lyhne war von Jacobsen weniger als ein alter ego als vielmehr als eine exemplarische Figur für die Generation der Nachromantik in Dänemark konzipiert. So wie sich Flaubert mit seiner Madame Bovary von den eigenen romantischen Träumen und Prätentionen seiner Jugend distanzierend freischrieb, so arbeitete Jacobsen die Problematik seiner Generation bzw. der etwa zehn bis zwanzig Jahre Älteren auf. Dass Niels in der Tat als ein exemplarischer Vertreter seiner Generation zu verstehen ist, 40 Lukács: Theorie des Romans , 106. Markus May 146 wird nicht nur an der Atheismus-Debatte deutlich, die um die Mitte des Jahrhunderts in Dänemark mit Virulenz geführt wurde. 41 Ein noch viel deutlicherer Hinweis sind die Umstände von Niels’ Tod. Er stirbt als Freiwilliger im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864. Dieses Datum markiert das endgültige Ende Dänemarks als einer nordeuropäischen Macht, das Ende des Prozesses seines staatlichen Niedergangs. Hatte sich Preußen noch im Schleswig-Holsteinischen Krieg von 1848 bis 1851 um die Unabhängigkeit der beiden Herzogtümer von Dänemark nach anfänglichem militärischem Engagement zurückgezogen und dadurch Dänemark diese Territorien zunächst weiterhin überlassen, so erlangen diese nach der Niederlage Dänemarks gegen die von Preußen geführte Koalition 1864 nun ihre Unabhängigkeit. Dies ist der Grundstein zur Schaffung des Deutschen Reiches von 1871, mithin der Aufstieg Deutschlands als neuer Großmacht in Mitteleuropa, und der Grabstein der dänischen Hegemonialbestrebungen. Dänemark ist danach nichts mehr als eine unbedeutende Randprovinz im europäischen Konzert der Mächte. Niels Lyhne nun suggeriert, dass dieses Scheitern Dänemarks als eine Folge von Entwicklungstendenzen zu sehen ist, welche durch den Protagonisten exemplarisch verkörpert werden: leerer Idealismus statt wirklichkeitszugewandtem Pragmatismus, impressionistische Grunddisposition, träumerische Handlungsunfähigkeit, Mangel an Konsequenz in der Durchsetzung eigener Ziele. Darin liegt der Anspruch des Romans begründet, eine „exemplarische Totalität“ zum Ausdruck zu bringen. Niels Lyhne ist also nicht nur der Werther der Generation von Zweig, Rilke, Mann, er ist auch der Roman jener dänischen Generation, die den endgültigen Untergang Dänemarks als territorialer Macht maßgeblich mit zu verantworten hatten. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Jacobsen, Jens Peter: Niels Lyhne . Übersetzt von Marie Borch. Mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland. Hg. von Klaus Bohnen. Stuttgart: Reclam, 2002. Bahr, Hermann: „Die Überwindung des Naturalismus.“ In: Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung . Hg. von Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil . Hg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart: Reclam, 1994. 121-126. Hofmannsthal, Hugo von/ Leopold von Andrian: Briefwechsel . Hg. von Walter A. Perl. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1968. Kierkegaard, Søren: - Der Begriff Angst . Übersetzt von Hans Rochol. Hamburg: Felix Meiner, 2005. - Die Krankheit zum Tode . Übersetzt von Hans Rochol. Hamburg: Felix Meiner, 2005. 41 Eine ausführliche Darstellung der Atheismus-Debatte in Dänemark Mitte des 19. Jahrhunderts sowie dieser Thematik in Jacobsens Roman bietet Uwe Ebel: Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne , 31-61. Jens Peter Jacobsen Niels Lyhne 147 Rilke, Rainer Maria: - Sämtliche Werke . Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Dritter Band. Wiesbaden: Insel, 1959. - Werke . Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Band 4: Schriften . Hg. von Horst Nalewski. Frankfurt a.M.: Insel, 1996. - Die Aufzeichnungen des Malte Laurdis Brigge . Hg. und kommentiert von Manfred Engel. Stuttgart: Reclam, 1997. Zweig, Stefan: „Jens Peter Jacobsens ‚Niels Lyhne‘.“ In: Ders.: Das Geheimnis künstlerischen Schaffens . Essays. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1984. 287-308. Forschungsliteratur: Bohnen, Klaus: „Zur Rezeption des ‚Niels Lyhne‘ im deutschen Sprachraum.“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne . Übersetzt von Marie von Borch. Mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland. Hg. von Klaus Bohnen. Stuttgart: Reclam, 2002. 256-267. Ders.: „Daten zu Leben und Werk Jens Peter Jacobsens.“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne . Aus dem Dänischen von Marie von Borch. Mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland. Hg. von Klaus Bohnen. Stuttgart: Reclam, 2002. 221-223. Ders.: „Vorgeschichte der ersten deutschen Ausgabe des ‚Niels Lyhne‘ (1889).“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne . Aus dem Dänischen von Marie von Borch. Mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland. Hg. von Klaus Bohnen. Stuttgart: Reclam, 2002. 224-234. Ebel, Uwe: Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne. Eine Entwicklung seiner Aktualität aus seinem historischen Stellenwert . Metelen: Verlag Dagmar Ebel, 1988. Fiedler, Theodore: „2.1. Kulturräume und Literaturen: Skandinavien.“ In: Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach. Stuttgart: J.B. Metzler, 2004. 116-124. Lukács, Georg: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik . Darmstadt: Luchterhand, 1984. Magris, Claudio: „Nihilismus und Melancholie. Jacobsen und sein Niels Lyhne.“ In: Ders.: Der Ring der Clarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur . Aus dem Italienischen von Christine Wolter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987. 91-120. May, Markus: „Die Aktualität des Mythischen und der ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘: Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos. “ In: Rudolf Freiburg, Markus May, Roland Spiller (Hg.): Kultbücher . Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. 101-116. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes . Erster Band: 1875-1920. Frankfurt a.M.: Insel, 1990. Sørensen, Bengt Algot: Jens Peter Jacobsen . München: C.H. Beck, 1991. Ders.: „Dekadenz und Jacobsen-Rezeption in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende.“ In: Ders.: Funde und Forschungen. Ausgewählte Essays . Hg. von Steffen Arndal. Odense: Odense UP, 1997. 285-306. Markus May 148 Strümper-Krobb, Sabine: Impressionistische Erzählverfahren im Spiegel der Übersetzung. Zu deutschen Übersetzungen von Prosawerken Jens Peter Jacobsens zwischen 1877 und 1912 . Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 1997. Winko, Simone: „Literarische Wertung und Kanonbildung.“ In: Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft . München: DTV, 1996. 585-600. Wolff, Theodor: „Th. Wolffs Einleitung zur ersten deutschen Ausgabe.“ In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne . Aus dem Dänischen von Marie von Borch. Mit Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Rezeption des Romans in Deutschland. Hg. von Klaus Bohnen. Stuttgart: Reclam, 2002. 247-255. F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain Till R. Kuhnle Prolog Im März 2008 wurde in einem feierlichen Staatsakt im Hôtel des Invalides Lazzaro (Lazare) Ponticelli zu Grabe getragen. Unter den Trauergästen befanden sich der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und andere hochrangige Politiker. Seit dem 8. November 2008 gibt es in Paris eine Rue Lazare Ponticelli. Die Liste bedeutender italienischer Namen in Frankreichs Geschichte und Kultur - Catharina di Medici, Napoleone Buonaparte und Carla Bruni Tedeschi, um nur einige zu nennen - ist um einen weiteren bereichert worden. Der in Italien geborene und dann in Frankreich eingebürgerte Ponticelli, der im Alter von 110 Jahren verstarb, war le dernier poilu , der letzte Veteran jenes Krieges, den man in vielen Teilen der Welt noch immer la Grande Guerre oder the Great War nennt - nicht nur wegen der zahlreichen von den Alliierten erbrachten Opfer in den mit modernstem Material geschlagenen Schlachten, sondern weil er im kollektiven Gedächtnis für eine Epochenschwelle steht. Dem Ersten Weltkrieg war die lange Agonie einer alten Ordnung vorausgegangen, aber auch die sich entfesselnden Kräfte der das 20. Jahrhundert einläutenden Innovationen. In den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg drängte das intellektuelle Leben zu einem Bruch mit dem Überkommenen - und vor allem zum Bruch mit jener sozialen Schicht, die bis vor kurzem noch für Fortschritt gestanden hatte und nun zu einer Klasse von Besitzstandswahrern avanciert war, deren kulturelle und politische Trägheit in scharfem Kontrast zu einer aggressiven ökonomischen Expansion stand: die Bourgeoisie. Diese Befindlichkeit verstand ein italienischer Schriftsteller zu nutzen, um in Frankreich eine literarische Karriere zu beginnen, die nach dem Krieg in Italien durch eine politische im Schoß der faschistischen Bewegung und schließlich der Regierung Mussolini abgerundet werden sollte: Felippo Tomasso Marinetti, geboren 1876 in Alexandria als Sohn eines italienischen Anwalts und aufgewachsen im frankophonen Milieu der ägyptischen Metropole. Seine - trotz kleiner Anfangserfolge zunächst nicht gerade viel versprechende - Karriere als Schriftsteller begann im Paris der Jahrhundertwende im Umkreis der Symbolisten. Die Gunst der Stunde erkennend, veröffentlichte er am 20. Februar 1909 in der Pariser Zeitung Le Figaro das Manifest des Futurismus - Le Manifeste du futurisme - und lancierte damit einen Begriff, der zugleich zum Topos fortschrittsapologetischer Rhetorik als auch zum Schibboleth für die Anfangsjahre der so genannten historischen Avantgarde werden sollte. Till R. Kuhnle 150 Noch im selben Jahr erschien der von ihm in französischer Sprache verfasste Roman Mafarka le futuriste. Roman africain , wenige Monate später die von seinem Sekretär Cinti besorgte italienische Version - Mafarka il futurista. Romanzo africano . Völlig vom französischen und italienischen Buchmarkt verschwunden, scheint der Roman nicht gerade in den Kanon der Großen Werke zu gehören. Indes unterstreicht die vor wenigen Jahre erschienene und mit einem bemerkenswerten Apparat ausgestattete deutsche Neuübersetzung (Marinetti: 2004) den Rang eines Buches, für das immerhin der Futurismus-Kritiker Döblin lobende Worte fand (Döblin: 1989a, 118; vgl. Richard: 1976, 241; Ehrlicher: 2001, 102). Das in Mafarka enthaltene und in zahlreichen Anthologien zum Futurismus abgedruckte „zweite Manifest“, der Discours futuriste , erhebt die mit dem Manifeste du futurisme inaugurierte Bewegung in den Rang einer neuen Religion. Zahllose weitere Manifeste sollten folgen. Der hundertste Jahrestag der Veröffentlichung des Manifeste du futurisme und des Romans Mafarka ist Anlass genug, den Blick auf die (Patho-) Genese des 20. Jahrhunderts zu richten. Doch sei zunächst einmal einem der großen prophetischen Redner der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts das Wort erteilt: L’aéroscaphe suit son chemin […] Le saint navire court par le vent emporté/ Avec la certitude et la rapidité/ Du javelot cherchant la cible […] (Hugo: 1950, 722) 1 Und mit dem triumphalen Flug des Luftschiffes sei nunmehr ein neuer Äon angebrochen: Ce saint navire là-haut conclut le grand hymen […]/ Il est le vaste élan du progrès vers le ciel; / Il est l’entrée altière et sainte du réel/ Dans l’antique idéal farouche (Hugo: 1950, 731). 2 Diese Zeilen verfasste Victor Hugo, Schöpfer der prophetischen Vision von einem neuen Zeitalter, in dem der Mensch von der erdrückenden Last der anankè , von den unerbittlichen Gesetzen der Natur und damit vom Wille wie Würde raubenden Fatum befreit werde. Vor allem in seinem großen epischen Projekt La Légende des siècles / La Fin du Satan , dem auch die hier zitierten Verse entnommen sind, schmiedete er die Mythen der Völker und die heilsgeschichtlichen Visionen der großen monotheistischen Religionen zu einer Synthese, die er in eine pathetische Eschatologie der Moderne münden ließ. Die Visionen der Offenbarung des Johannes auf Patmos finden bei Hugo durch Menschenhand ihre Vollendung: Die Dampfkraft habe die Meere und das Land erobert, von jetzt an werde sich der Mensch durch ein gigantisches Luftschiff von diesen Elementen befreien, die dem wahren Fortschritt noch entgegenstünden. Übrigens zeichnet sich das gesamte Werk Hugos durch einen 1 „Unbeirrt setzt das Luftschiff seinen Weg fort […]/ […] Vom Wind getrieben eilt das Heilige Schiff dahin,/ Mit der Sicherheit und der Geschwindigkeit/ Eines Speers der sein Ziel sucht; […]“ (Übersetzung TK). 2 „Dieses Schiff dort oben vollzieht die Himmlische Hochzeit […]/ Es ist der große Aufbruch des Fortschritts gen Himmel; / Es ist das stolze und heilige Vordringen des Wirklichen/ In das beharrliche antike Ideal“ (Übersetzung TK). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 151 dezidiert rhetorischen Charakter aus. Mit Fug und Recht dürfen viele seiner Schriften als avantgardistische Manifeste avant la lettre angesehen werden. Nur wenige Jahre vor der Veröffentlichung seines Manifeste du futurisme huldigte Marinetti in einem Sonett dem eschatologischen Visionär der Romantik: „Mais j’adore entre tous, le lourd fracas d’amarre - Brisée par la rafale et cette immense voile - Larguée par ton génie, Hugo, vers les Étoiles! “ (Lista: 1977, 31). 3 Und bald sollten die battaglie futuriste (vgl. Salaris: 1997, 76) mit den grandes batailles romantiques verglichen werden (Lista: 1973, 90), gemeint sind jene von Hugo angeführten literarische Kontroversen, mit denen der Klassizismus endgültig seine dominierende Rolle im französischen Literatursystem zu Gunsten einer neuen, die tradierten Gattungsgrenzen sprengenden Literatur verloren hatte (Kuhnle: 2005). Mit Spott überschütten sollte 1929 Döblin die avantgardistische Rhetorik der Zäsur: „Der Zug zu sprengen ist verbreitet; die Malerei sprengt seit langem. Es sind offenbar Menschen gewachsen, denen allerhand zu eng ist“ (Döblin: 189b, 137). So beging das Centre Pompidou den hundertsten Jahrestag der Veröffentlichung von Marinettis Manifest auch mit einer Retrospektive zur Malerei aus den Jahren 1908 bis 1914 (Ottinger: 2008). Le Manifeste du futurisme und Mafarka Das 19. Jahrhundert entwickelte in vielen Bereichen eine dezidiert apokalyptisch gefärbte Rhetorik der Zäsur: Victor Hugo rechnete in seiner Préface de Cromwell (1827) mit der Tradition des klassizistischen Theaters ab, Marx und Engels riefen in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei (1848) die proletarische Revolution aus - um nur zwei der bekanntesten Beispiele zu nennen, die in Marinettis Manifeste eingegangen sind. Schnell begannen sich in diesem rhetorischen Genre nicht nur die Grenzen zwischen Politik und Literatur zu verwischen; vielmehr drängten die Manifeste danach, sich das rhetorische Potential aller Künste zu unterwerfen, getragen von dem Willen, Kunst und Gesellschaft aus einer einzigen Topik heraus zu formen (Kuhnle 2005). Die Veröffentlichung des Manifest du futurisme war ein seit dem Spätherbst 1908 sorgfältig vorbereiteter Mediencoup, der durch mehrere parallel erscheinende Schriften flankiert werden sollte. Zunächst brachte das Medieninteresse um das Erdbeben von Messina vom 28. Dezember die Initiative ins Stocken; doch durch die Katastrophe wurde das Publikum für apokalyptische Rhetorik besonders empfänglich. Auch der Umstand, dass nunmehr zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Figaro das Manifest einem größeren Kreis bekannt war, trug eher noch zum Gelingen des ‚Ereignisses‘ bei, das mit dem Erscheinen des Romans Mafarka zu Ende des Jahres 2009 ‚abgerundet‘ werden sollte (Lista: 2008). Die propagierte Erneuerung sah in der modernen Stadt den nunmehr von der Poesie zu besingenden und zu gestaltenden Lebensraum des neuen, futuristischen 3 „Aber von ihnen allen bewundere ich das schwere Getöse der Ankerkette, - gesprengt vom kräftigen Windstoß und jenem riesengroßen Segel - das von Deinem Genie, Hugo, zum Aufbruch nach den Sternen losgemacht“ (Übersetzung TK). Till R. Kuhnle 152 Menschen. Für den Futuristen bildete die Stadt eine gigantische Fabrik mit dem Eigenleben eines Organismus, durchblutet von den Strömen des mit modernsten Transportmitteln organisierten Verkehrs: Nous chanterons les grandes foules agitées par le travail, le plaisir ou la révolte; les ressacs multicolores et polyphoniques des révolutions dans les capitales modernes; la vibration nocturne des arsenaux et des chantiers sous leurs violentes lunes électriques; les gares gloutonnes avaleuses de serpents qui fument; les usines suspendues aux nuages par les ficelles de leurs fumées; les ponts aux bonds de gymnastes lancés sur la coutellerie diabolique des fleuves ensoleillés; les paquebots aventureux flairant l’horizon; les locomotives au grand poitrail, qui piaffent sur les rails, tels d’énormes chevaux s’acier bridés de long tuyaux, et le vol glissant des aéroplanes, dont l’hélice a des claquements de drapeau et des applaudissements de foule enthousiaste ( Manifeste ). 4 Die ehrwürdige Evangelische Akademie Tutzing nahm das hundertjährige Jubiläum des Manifeste du futurisme zum Anlass, um über die Bedeutung des Automobils in unserer Gesellschaft nachzudenken. Immerhin klingen noch in allen Ohren die markigen Worte des Manifests , wonach „une automobile rugissante, qui a l’air de courir sur de la mitraille“/ „ein aufheulendes Auto, das auf Kartäschen zu laufen scheint“ schöner sei als die Nike von Samothrake. Alle Harmonie ist dieser Ästhetik gänzlich fremd: Il n’y a plus de beauté que dans la lutte. Pas de chef d’œuvre sans un caractère agressif. La poésie doit être un assaut violent contre les forces inconnues, pour le sommer de se coucher devant l’homme ( Manifeste ). 5 Der millenaristische Diskurs Marinettis verkündet das neue Zeitalter: „Nous vivons déjà dans l’absolu, puisque nous avons créé l’éternelle vitesse omniprésente“/ „Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen“ ( Manifeste / Manifest , 186). Geschwindigkeit bedeutet für den Futuristen das Freisetzen ungeahnter Kräfte. Alles habe sich diesem Gebot unterzuordnen, weshalb für den futuristischen Künstler gelte: 4 „Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breibrüstigen Lokomotiven, die auf Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitendenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie ein Fahne im Wind knattert und Beifall zu klatschen scheint eine begeisterte Menge“ ( Manifest , 186). 5 „Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen“ ( Manifest , 186). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 153 Nous voulons glorifier la guerre - seule hygiène du monde -, le militarisme, le patriotisme, le geste destructeur des anarchistes, les belles Idées qui tuent, et le mépris de la femme ( Manifeste ). 6 Das Manifest e du futurisme inauguriert einen neuen Kult der Jugend; es verdammt das Althergebrachte; es verkündet die Zeitenwende. Doch der neue Äon im Bann des Absoluten, der „beauté de la vitesse“/ „Schönheit der Geschwindigkeit“, fordert auch einen neuen Menschen, den futuristischen Übermenschen: Au nom de l’Orgueil humain que nous adorons, je vous annonce que l’heure est proche où des hommes aux tempes larges et au menton d’acier enfanteront prodigieusement, d’un seul effort de leur volonté exorbitée, des géants aux gestes infaillibles… Je vous annonce que l’esprit de l’homme est un ovaire inexercé… C’est nous qui le fécondons pour la première fois! ( Mafarka , 17). 7 Also sprach Marinetti in der Vorrede zu Mafarka le futuriste, einem Roman, an dessen Titelgestalt das Menschengeschlecht jenen Grad der Vollkommenheit erreicht, von dem aus der neue Mensch überhaupt erst denkbar wird. Dieser möge einer vom „Menschlich-Allzumenschlichen“ (Nietzsche) verdorbenen See entrinnen: - Ô mer puante et tapageuse, encombrée de vie humaine, suant et criant le commerce et la ladrerie économique des hommes! …. Mer écrasée par la vanité sournoise des navigateurs! Je te souhaite d’être bientôt tarie par la gloutonnerie de leurs yeux de marchands ! Je ne te livrerai pas mon fils, comme une balle de coton ou un sace de farine! ... Car il te narguera en volant à tire-d’aile, la bouche offertes aux étoiles! … ( Mafarka , 209f). 8 Also spricht der Futurist Mafarka - der sich anschickt auf seine Weise den großen Gedanken von Nietzsches Zarathustra in die Tat umzusetzen: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll“ (Nietzsche: KSA 4, 14; Arnold: 1971, 69). Mafarka il futurista löste in Italien einen Skandal aus: Einige der anstößigen Passagen riefen sofort die Justiz auf den Plan (Lucini: 1975, 105-117; Salaris: 1997, 31). Die juristische bataille wurde flankiert von den serate futuriste / soirées futuristes in italienischen Theatern und Literatencafés - regelrechten Happenings. Der Schwerpunkt futuristischer Aktivitäten hatte sich nun von der dahindämmernden Troisième 6 „Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“ ( Manifest , 186). 7 „Im Namen des menschlichen Stolzes, den wir anbeten, verkündige ich euch: die Stunde ist nah, in der Männer mit hohen Schläfen und einem stählernen Kinn auf wunderbare Weise, mit einer einzigen Anstrengung ihres aus den Augenhöhlen getretenen Willens, unfehlbare Riesen sachaffen werden … Ich verkünde Euch, daß der Geist des Menschen ein ungeübtes Ovarium ist. …Und wir werden es zum ersten Mal befruchten“ ( Mafarka , dt. 10). 8 „O du stinkendes und lärmendes Meer voll menschlichen Lebens, schwitzt und den Handel und Geiz der Menschen herausschreit! … Meer, erdrückt von der heimtückischen Eitelkeit der Seefahrer! Ich wünsche dir, daß die Gier ihrer Händleraugen dich bald austrocknet! Ich werde dir meinen Sohn nicht wie einen Baumwollballen oder einen Sack Mehl liefern! … Denn er wird dich verhöhnen, wenn er mit kraftvollem Flügelschlag über dich hinwegfliegt, den Mund den Sternen dargeboten…“ ( Mafarka , dt. 156). Till R. Kuhnle 154 République in die noch immer im Werden begriffene Nation Italien verlagert. Das Zentralorgan der Bewegung wurde die italienische Zeitschrift Poesia , die sich anschickte, einen futuristischen Kanon zu schaffen. Marinettis Roman Mafarka erwartete indes ein eigentümliches Schicksal: das eines aus dem Kanon getilgten, verfemten Klassikers. 9 Die futuristische Bewegung nahm mannigfache Einflüsse des Fin de siècle auf: die Lebensphilosophie von Henri Bergson, die Réflexions sur la violence des Anarchosyndikalisten Georges Sorel, die vers libres von Gustave Kahn, die Revolution der Bildersprache durch Fauvismus und Kumbismus - um nur einige zu nennen. Das Idol der Futuristen der ersten Stunde hieß indes Gabriele d’Annunzio; in dessen Gefolge verschrieben sich viele junge italienische Literaten dem Denken Nietzsches. Und wie für Trionfo de della morte etwa liefert Also sprach Zarathustra auch den ,Subtext‘ zu Mafarka le futuriste (Schmidt-Bergmann: 2003). Mafarka-el-Bar, der maurische Feldherr und König von Tell-el-Kibir, der sich das Volk der „Neger“ und somit ganz Afrika Untertan macht, wird zum mythischen Wegbereiter des zur „einzigen Hygiene der Welt“ verklärten Krieges. Sein Mut und sein strategisches Genie erheben ihn über alle: Er beherrscht den Krummsäbel ebenso wie neuere Waffentechniken; „Kriegsgiraffen“, von denen man nicht weiß, ob sie noch Tier oder nur noch Maschine sind, werden von ihm perfektioniert. Auch die Kräfte der Natur versteht er als Kampfinstrumente zu nutzen: Wind und Sturm werden genauestens berechnet. Allerdings wissen auch seine Gegner - die „Neger“ - die Kräfte der Wildnis im Kampf einzusetzen. Um ein Haar scheitert sein Eroberungsfeldzug an Meuten zu todesmutiger Kampfeslust angestachelter Hunde. Selbst die Bedrohung der Truppe durch die Macht des Geschlechtstriebes wird von dem umsichtigen Feldherren pariert. Als der Eroberungszug vorüber ist, stellt sich Mafarka die Frage nach dem Danach. Es beginnt eine initiatorische Suche, wobei ihn der Auftrag seiner Mutter leitet, einen würdigen Nachkommen zu zeugen. Auf seiner Suche gelangt er auch in das unterirdische Reich, das dereinst sein Vater geschaffen hat, um dort einen grausamen Kult um ein Aquarium mit gefährlichen Fischen zu zelebrieren. Dorthin zieht sich Mafarka für kurze Zeit zurück; er ist aber bald angewidert von der Selbstgenügsamkeit, mit der dieser dionysische Kult zelebriert wird. Als er die Gefahr erkennt, durch die Orgien von seiner höheren Berufung abgelenkt zu werden, lässt er die lasziven Dienerinnen in das Aquarium werfen und bricht auf. Doch dieser Anflug von Keuschheit soll ihn nicht daran hindern, immerfort seine Männlichkeit am Weibe unter Beweis zu stellen. Alle seine Hoffnungen setzt er in seinen geliebten Bruder Magamal. Dieser aber wird im Kampf mit den Hunden verletzt und stirbt an einer Infektion. Mafarka hüllt den Leichnam in eine Nilpferdhaut und schifft sich auf eine nächtliche Seefahrt ein. Die Trauer scheint ihm die Kräfte zu rauben, der Lebensekel sich seiner Seele zu bemächtigen. Doch in der Nacht - in 9 Auch die Forschung interessierte sich zunächst eher sporadisch für diesen Roman (z.B. Arnold: 1971, 69-80; Hinz: 1985; Spackman: 1996, 53-76); allerdings ist seit der Jahrtausendwende Mafarka wieder im Gespräch (z.B. Vinken: 2000; Ehrlicher: 2001, 100-112; Schmidt- Bergmann: 2003; Miretti 2005; Tiller: 2006). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 155 der er auch um den Leichnam, den er von da an als Reliquie mit sich führt, kämpfen muss - gelingt es ihm, den Versuchungen der Melancholie zu widerstehen und seine Bestimmung als futuriste , als futuristischer Übermensch anzunehmen. Er schwingt sich auf zum Propheten und verkündet im Discours futuriste eine neue Religion. Es ist eine Rede, deren Pathos von den entfesselten, viele seiner Jünger in den Tod reißenden Naturgewalten sekundiert wird. Auch Mafarka gelobt ein Opfer: Sein Leben wolle er von nun an ganz der Zeugung seines Sohnes ohne den trügerischen Schoß des Weibes widmen. In einem Käfig hält er nun einen künstlichen Menschen mit Flügeln - den Sohn, den er mit Hilfe von kräftigen „Negern“ und schmächtigen Webern zu vollenden gedenkt. Als es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Gruppen kommt, nimmt er die Schwachen in Schutz. Diese danken es ihm damit, dass sie den Käfig zu sabotieren trachten. Noch gegen viele andere Gefahren muss er den Käfig mit seinem ‚heranwachsenden‘ Sohn Gazourmah verteidigen. Insbesondere aber gegen seine einstige Geliebte Coloubbi, die - in Umkehrung der Verhältnisse - die Mutterschaft für sich beansprucht und beim Anblick des Gemächts von Gazourmah in Spasmen ausbricht. In einem pathetischen Szenario, in dem ihm noch einmal die Mutter erscheint, öffnet Mafarka den Käfig und haucht ihm in einem Kuss seinen Willen, sein Leben ein. Gazourmah, der Held ohne Schlaf / le Héros sans sommeil , fliegt der Sonne entgegen - er, den Mafarka die schöne Frucht meines Willens / beau fruit de ma volonté genannt hat ( Mafarka , 211 - dt. 157). Doch weshalb verfasste Marinetti, der selbsternannte Prophet einer futuristischen Moderne, ausgerechnet einen roman africain , der mitunter in einem Atemzug mit dem Orientalismus von Flauberts Salammbô genannt wird (Spackman: 1996, 53)? Marinetti selbst verwies auf seine „sensibilità italiana nata in Egitto“ / „in Ägypten geborene Neigung zu Italien“ (Marinetti: 1969, 201-210); doch in erster Linie führte er mit seinem wohl schon vor 1905 konzipierten Roman jenen Exotismus fort, der Spätromantik und Symbolismus einte und von dem auch viele seiner vor 1909, häufig in vers libres verfassten Gedichte durchdrungen sind (vgl. u.a. Mariani: 1970). In seiner 1911 verfassten ,Reportage‘ La Bataille de Tripoli rechnete Marinetti zwar mit dem romantischen Orientalismus ab - „il est temps de remiser avec le fratras de la poésie romantique tous les vieux clichés enthousiastes sur la splendeur arabe“ / „es ist an der Zeit, zusammen mit dem Kram der romatischen Dichtung auch mit all den überkommenen enthusiastischen Klisches von der Pracht Arabiens aufzuräumen“ (Marinetti: 1912, 76). Indes erscheint in dem letztlich den Wendepunkt vom Symbolismus und Futurismus markierenden Roman Mafarka Afrika als der utopische Ort, an dem die Moderne auf die ungebrochene Gewalt des Archaischen trifft, als der Projektionsraum einer Literatur und Kunst der „existentiellen Revolte“ (Clerici: 2004, 254) - und dies in einer besonders sexualisierten Form, wie etwa in Les Démoiselles d’Avignon (1907) von Picasso (Salaris: 1997, 48). Nichtsdestotrotz schauderte Marinetti vor dem Ort, an dem eine vormals mächtige Rasse durch die Prostitution ihrer Frauen die Angehörigen der inzwischen bürgerlich-dekadent gewordenen Kolonialmächte mit in den Untergang reiße - eine offensichtlich verdiente Strafe: „[…] Till R. Kuhnle 156 nous avons subi la sanction fatale de notre stupide humanitarisme colonial“/ „uns hat die unausweichliche Strafe für unseren dummen Kolonialhumanismus ereilt“ (Marinetti: 1912, 77). Der Drang nach viriler Bestätigung, nach Unterwerfung der Frau, der auch vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt, bildet in Mafarka so etwas wie ein Leitmotiv: Des soldats s’étaient assis en formant un grand cercle tout autour de l’étang. Accroupis jambes croisées, ils balançaient leur torse, d’avant en arrière, en tapant dans le creux de leurs mains […] pour rythmer le mouvement cadencé de leurs frères en rut. Ceux-là avaient couché dans la vase toutes les négresses frétillantes et meurtries, et ils pointaient des verges noires et boucanés […]. On voyait les ventres lisses et luisants des jeunes femmes et leurs petites mamelles couleur de café brûlé se tordre de douleur sous les poings lourds des mâles, dont les reins de bronze se levaient et s’abaissaient infatigablement parmi le flic-flac dansant des pourritures vertes ( Mafarka, 39f). 10 Zwar schreitet der angewiderte Mafarka gegen die Massenvergewaltigungen an den négresses ein, indes nicht etwa aus höheren ethisch-moralischen Gründen, sondern weil er in dieser entfesselten Vergewaltigungsorgie ein Manöver des Feindes zur Schwächung seiner Krieger erkennt. Man beachte in der soeben zitierten Passage die assoziative Verknüpfung zwischen der noch im Augenblick ihrer Erniedrigung als lasziv geschilderten Frauenkörper mit dem Feuchten und dem Fauligen (Blum: 1996, 57). Den Abscheu vor dem den Leib in seinen Umrissen Affizierenden hat Theweleit als das zentrale Moment angstbesetzter Männerphantasien ausgemacht. Dieses Perhorreszieren von Schmutz, Schlamm, Schleim und ähnlichem - gemeint sind die „Vermischungszustände der Körperränder“ (Theweleit 1995, 401-424; vgl. Spackman: 1996, 69f.; Littell: 2008) - geht einher mit Gewaltphantasien, die zur notwendigen Abwehr des Zersetzenden hypostasiert werden und so ihre gesellschaftliche Legitimation suchen, mithin also den Ausgang faschistischer Diskurse bilden. So gesehen stellt Mafarka sicherlich mehr als die bloße „Erprobung einer écriture fasciste “ (Riesz: 1983) dar. Das Feuchte, Faulige und Kotige versinnbildlicht in Marinettis Roman eine dem Streben nach Höherem zuwiderlaufenden Kreatürlichkeit - eine ins Perverse getriebene Dämonisierung der Hugoschen anankè. Dem steht eine neue Virilität gegenüber, die von sich behauptet, die Liebe getötet und durch die erhabene Wollust des Heldentums ersetzt zu haben: „[…] j’ai tué l’Amour, en le remplaçant par la sublime volonté de l’Héroïsme“ ( Mafarka , 169 - dt. 125). Mafarkas Pathos wird getragen von der Sehnsucht nach der erhabenen Distanz einer dem Mensch- 10 „Soldaten saßen in einem großen Kreis um den Teich. Mit gekreuzten Beinen dahockend bewegten sie ihren Oberkörper vor und zurück und schlugen in ihre hohlen Hände […], um die rhythmischen Bewegungen ihrer brünstigen Brüder zu unterstützen. Diese hatten all die zappelnden, übel zugerichteten Negerinnen in den Schlamm gelegt und richteten gegerbte Schwänze auf sie […]. Man sah, wie die glatten, glänzenden Bäuche der jungen Frauen und ihre kleinen kaffeebraunen Brüste sich vor Schmerz unter den schweren Fäusten der Männer krümmten, deren bronzefarbenen Lenden sich im tanzenden Klitschklatsch der grünen Fäulnis unermüdlich hoben und senkten“ ( Mafarka , dt. 26). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 157 lich-Allzumenschlichen enthobenen Position. Vor der Bedrohung des höheren Menschen durch das Feuchte und Kreatürliche warnt Mafarka die „Stimme“ der Sonne: „Oh! le Soleil est bien notre premier laboureur, le plus grand et le plus important laboureur africain“/ „Die Sonne ist wirklich unser oberster Bauer, die Sonne ist der größte und bedeutendste Ackermann Afrikas“ ( Mafarka , 26 - dt. 16). 11 Der Heerführer huldigt daher der Sonne im Zenith und erkennt in der Wüste den großen Lebensraum des höheren Menschen. Die Sonne erscheint ihm als jene Macht, die das Feuchte überwindet; und hier stellt sich Mafarka die Frage nach der Bestimmung des Menschen: „Que restera-t-il de nous, quand le soleil nous aura absorbés comme des flaques d’eau? “/ „Was wird von uns bleiben, wenn uns die Sonne wie Regenpfützen aufgesaugt hat? “ ( Mafarka , 79 - dt. 57). Die Macht der Sonne ist ein wiederkehrendes Motiv schon in den unter dem Titel La Ville charnelle vereinten Gedichten Marinettis (Mariani 1970, 6-10); und in Mafarkas Sonnendiskurs ist der Ton der Rede „Von den alten und den neuen Tafeln“ zu vernehmen, in der Zarathustra, der Künder vom höheren Menschen, von sich sagt, er sei „eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen- Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! O Wille, Wende aller Not, du meine Notwendigkeit! spare mich auf zu einem großen Siege! “ (Nietzsche: KSA 4, 269). Dem Krieg - und seinem obersten Ziel, dem Sieg - ordnet der maurische Feldherr alles unter. Mafarka ist hier noch Heerführer, auch wenn ihn schon die Ahnung von dem Höheren befällt, das seine eigentliche Bestimmung sein wird. Mafarka, der vom „stolzen Rausch eines Erfinders“ / „la fière ivresse d’un inventeur“ ( Mafarka , 82 - dt. 59) erfasst wird, sucht das Maximum aus Kriegsgerät und Truppe herauszuholen, indem er Mensch, Kreatur und Apparatur gleichrangig dem Mechanismus einer gigantischen Kriegsmaschine unterordnet. Der Futurist evoziert das Archaische als ein übermächtiges Prinzip, an dem alle Aporien zerschellen, insbesondere jene einer vom Kapitalismus gestalteten Moderne: la guerre est la seule hygiène du monde. Die Systemfrage stellt sich hier dem Futuristen weder von einer ökonomischen noch im engeren Sinne politischen Warte aus; vielmehr gilt sein ganzes Streben dem optimalen Zusammenwirken der mit immer größerer Geschwindigkeit nach Verausgabung drängenden Kräfte: Heerscharen von krummsäbelbewehrten Reitern, aufgehetzte Meuten von Hunden und phantastische Kriegsgiraffen ebenso wie um 1909 das Fließband, die Boliden auf den Rennstrecken und die mit Flugzeugen für die kommenden Materialschlachten bestens gerüsteten Armeen. Mensch und Maschine verstricken sich in ein unausweichliches Quidproquo, sie werden zu unablässig produzierenden Massen zusammengeschweißt, letztlich dazu bestimmt, sich selbst aufzuzehren in dem großen kollektiven Akt des Krieges: Der Mensch wird dem Menschen Ersatzteil! Mafarka der „Erfinder“, der rational handelnde Kriegsherr gewinnt durch diese Perfektion die Aura eines charismatischen Charakters, denn nur ein 11 Hier weicht unsere Übersetzung ab! Die Übertragung mit von laboureur mit „Bäurin“ steht sicherlich gegen die Intention des Textes, auch wenn sie übersetzungstechnisch logischer erscheint. Till R. Kuhnle 158 solcher vermag die Kriegs-Maschinerie wirklich zu gestalten. Allerdings muss der perfekte Kriegsherr auch mahnende Worte vernehmen: „Souviens-toi, Mafarka, que malgré tes conquêtes tu rouleras toujours autour de cet implacable Moi, qui arrose ton corps d’un peu de volonté sanguine et nerveuse… “/ „Vergiß nicht, Mafarka, daß du dich trotz Deiner Eroberungen immer um dieses unerbittliche Ich drehen wirst, das deinen Körper mit etwas sanguinischem und nervösem Willen tränkt…“ ( Mafarka , 28 - dt. 18). Bei Mafarka wird daher der unbändige Wille erst in einer anderen Gestalt zur höchsten Vollendung drängen - in der des als beau fruit de ma volonté geborenen Sohnes. Zu Beginn des Romans aber ist der Feldherr noch nicht so weit; die Initiation des futuristischen Menschen - des futuristischen Übermenschen - steht ihm noch bevor. Dies lehren Mafarka die im Zenith stehende Sonne und schließlich die initiatorische Nacht an der Seite seines toten Bruders. Das Thema des Discours futuriste , mit dem dann der zum futuristischen (Über-) Menschen herangereifte Mafarka seine neue Religion verkündet, findet sich in den Reden von Nietzsches Zarathustra vorgegeben: Und das ist der große Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen (Nietzsche: KSA 4, 102). Le Discours futuriste Mafarka der Siegreiche wird von seinem Volk bejubelt, das ihn zu seinem Führer erheben will ( Mafarka , 163 - dt. 121). Wie dereinst Zarathustra vor den Toren der Großen Stadt verwahrt sich Mafarka gegen seine allzu willfährigen Anhänger! Gehuldigt wird hier dem rationalen Heerführer, der unverwundbar scheint, der zielsicher die höchsten Stufen politischer Macht zu erklimmen wusste. Doch politische Macht ist es nicht, was den wahren Willen zur Macht Nietzsches auszeichnet, was den wahren Schöpfer ausmacht, dem das Streben des Futuristen gilt. So fragt Mafarka seine Kampfgenossen, wozu sie nach dem Krieg seine unbändige Kraft, seinen allmächtigen Arm überhaupt noch benötigten - und verkündet der staunenden Menge, er sei nunmehr Erbauer mechanischer Vögel ( Mafarka , 166 - dt. 123). Nein, Mafarka ist kein Mechaniker geworden, sondern von dem Wunsch eines Zarathustra durchdrungen: „Der Strahl eines Sternes glänze in eurer Liebe! Eure Hoffnung heiße: Möge ich den Übermenschen gebären ! “ (Nietzsche: KSA 4, 85; Hervorhebung TK). Mafarka hat die Niederungen hinter sich gelassen, wo der Gemeine sich mit schalen Siegen zufrieden gibt; er hat sich vom Feldherrn zum alles transzendierenden Schöpfer gewandelt. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, erklimmt er die Höhen der Klippen, von wo er noch einmal alle politische Macht von sich weist: „[…] ce ne sont pas des sujets que je veux, mais des esclaves“ / „ich will keine Untertanen, sondern Sklaven! “ ( Mafarka , 167 - dt. 124). Ein gewaltiger Sturm kommt F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 159 auf, der seine Anhänger in ihren Booten zu vernichten droht. Doch diese zeigen sich unerschrocken angesichts eines bereits gewissen Todes. Da erkennt Mafarka sie für würdig, die Stimme der Sonne - „la voix du Soleil“ ( Mafarka , 168 - dt. 125) - zu vernehmen. Diese lehre, den Willen vom Körper zu lösen, ihn auszuatmen. Oder um es mit den Worten Victor Hugos auszudrücken: Sie sollen sich auf immer von der unerbittlichen anankè befreien. Und diesen Willen werde er, Mafarka, seinem Sohn einhauchen, einem alle überragenden Riesen. In einem einzig vom Willen vollbrachten Geburtsakt soll der Triumph über die Natur besiegelt werden, denn er geschehe ohne Zutun der natürlichen Vulva - „sans le secours de la vulve! “ ( Mafarka , 168 - dt. 125). Man müsse an die absolute Macht des Willens glauben und ihr mit unerbittlicher Disziplin dienen, bis zu jenem Augenblick, an dem der Wille aus uns herausbreche und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit aus den Umgrenzungen unseres Leibs herauslöse. Die alles hinter sich lassende Macht des Willens macht für Marinetti den wahrhaften Schöpfer, den uneingeschränkten Herrn über die Materie aus - und seinen Helden befällt eine grenzenlose Lust, mit der er sich einem neuen, bisher ungeahnten Rausch hingibt: Notre esprit, qui est la manifestation supérieure de la matière organisée et vitale, accompagne dans toutes ses transformations la matière elle-même, en conservant dans ses nouvelles formes les sensations de son passée, les vibrations ténues de son énergie, exercée antérieurement… Divinité et continuité individuelle de l’esprit volontaire et tout-puissant qu’il faut extérioriser, pour modifier le monde! … Voilà la seule religion! ... Poussons en splendeur toutes les minutes de notre vie par des actes de volonté impétueuse, de risque en risque, courtisant continuellement la Mort qui immortalisera d’un rude baiser les fragments de notre matière souvenante dans toute leur beauté ! ... ( Mafarka , 170). 12 Hier ist nicht mehr allein vom völlig entäußerten Willen Nietzsches die Rede, sondern auch von einem nach außen gewendeten Bergsonismus. Henri Bergson erkannte im freien Zusammenwirken von Materie und Gedächtnis - Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) und Matière et Mémoire (1896) - das einzig authentische Moment individueller Erfahrung, das sich dem diskursiven Denken entziehe und das an das Wesen wahrer Dauer ( durée ) und damit an den Strom des Lebens ( élan vital ) heranreiche. Jeder Versuch, Erinnerung eine feste Form zu geben, ist für Bergson Verrat, jede narrative Identiätskonstituierung ein Akt der Entfremdung. Weiter angestachelt durch Ernest Renans Streitschrift L’Avenir de la science , 12 „Unser der Geist, der die höchste Manifestation der organisierten Materie des Lebens ist, begleitet die Materie selbst in allen ihren Wandlungen, indem er in seinen neuen Formen die Eindrücke seiner Vergangenheit und die schwachen Vibrationen seiner vorher aufgewendeten Energie bewahrt… Göttlichkeit und individuelle Kontinuität des willentlichen und allmächtigen Geistes, den man nach außen kehren muß, um die Welt zu verändern! … Das ist die einzige Religion! … Lassen wir alle Minuten unseres Lebens durch starke Willensakte erstrahlen, von Risiko zu Risiko, ständig den Tod hofierend, der mit einem rüden Kuß die Fragmente unserer erinnernden Materie in all ihrer Schönheit unsterblich machen wird! ...“ ( Mafarka , dt. 126). Till R. Kuhnle 160 pensées de 1848 leitete der Anarchosyndikalist Sorel daraus den im revolutionären Bild des Generalstreiks kulminierenden „Mythos der Katastrophe“ ab ( Les Illusions du progrès und Réflexions sur la violence , beide 1908). Bei Marinetti fügen sich die lebensphilosophischen Ansätze Bergsons zu einem trügerischen Kollektivismus: Gemeint ist ein Kollektiv von Sklaven, über das sich der höhere Mensch als der überlegene Ausdruck einer sowohl organisierten als auch vor Lebensenergie strotzenden Materie ( manifestation supérieure de la matière organisée et vitale ) erhebt. Auf dem Höhepunkt der Jugend zeige sich der neue heroische Mensch der vergöttlichenden Wollust ( la volupté divinisante ) des Todes würdig. Mit dieser Apologie von Jugend und Tod vindiziert der geistiges und körperliches Altern verabscheuende Futurist für sich die Zukunft: „Les jours à venir sont là, devant moi, fixés, droits et parallèles, comme des routes militaires biens tracées pour les armées de mes désirs! “/ „Die kommenden Tage liegen vor mir, gerade und parallel wie die befestigten Heeresstraßen für meine Wünsche“ ( Mafarka , 171 - dt. 127). Lust sei das Privileg einer virilen Jugend, die den Tod suche, damit sie niemals durch einen dereinst siechen Leib um diese Erfahrung betrogen werde - la guerre est la seule hygiène du monde . Nur der höhere Mensch, der Übermensch und schließlich der Futurist verspüren wahre Lust, der sich alles unterzuordnen habe: Die renitente Natur, die dem Menschen die Imperative von Selbsterhaltung und Fortpflanzung aufdrängt, wird auf Linien reduziert und durch atemberaubende Geschwindigkeit in ihren Zyklen überlistet; das Heer der Sklaven enthebt den futuristischen Übermenschen jeder Verantwortung und ist im Krieg, la seule hygiène du monde , zu verbrauchen. Dies ist die martialische Antwort auf die Bedrohung durch das Feuchte und Weibliche! Doch zugleich bleibt die hier zelebrierte Lust eine durch und durch sexualisierte (z.B. Marfarka , 172-174 - dt. 127-129). Der futuristischen Menschwerdung geht zunächst die Totalisierung des Menschen in Gestalt des inventeurs voraus. Der Erfinder oder Ingenieur steht für eine zur Perfektion getriebene deontologische Ethik: Jedes Handeln hat sich in den Dienst der großen Maschine zu stellen, die den Krieg führt. Diese Ethik erfährt ihre Imperative von außen - dem Feind oder der Natur. Sie macht letztlich auch den Herrscher zum Untertan. Die Ethik des futuristischen Übermenschen kennt daher nur noch eine setzende Instanz: den Willen (zur Macht). Diese Ethik gehorcht keinem von außen herangetragenen Imperativ mehr, erkennt keine Macht des Schicksals an, verweigert sich erfolgreich der anankè . Jeder vom Willen getragene Akt ist Gründungsmythos: Er setzt Archetypen, statt sie zu aktualisieren . Mafarka hat den Weg der futuristischen Menschwerdung gezeigt: Sie setzt ein mit dem genialen Kriegs-Herren und Erfinder, dem vollendeten Beherrscher aller Kriegs-Techniken und der Naturgesetze; schließlich mündet sie in die Überbietung des Ich durch die Frucht des Willens. Der zum Bezwinger des Kreatürlichen sich aufschwingende Erfinder erscheint als eine Antwort auf Nietzsches Parabel vom Seiltänzer: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch - ein Seil über einem Abgrunde“ (Nietzsche: KSA 4, 16). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 161 Für Nietzsche steht Mensch zwischen animalischer Kreatürlichkeit und einem Höheren, dessen Wesen sich indes erst aus der Position dieses Höheren heraus bestimmt. Sowohl das Tier als auch der Übermensch sind an sich irrationale Größen: Menschwerdung heißt, sich der Vernunft hingeben; Übermenschwerdung dagegen, sich einem höheren Irrationalen ergeben. Die irrationale Kraft des Animalischen im Menschen ist der Trieb, der im Dienste der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung steht, der also einem dem Menschen äußeren Imperativ gehorcht - die nach Höherem strebende irrationale Macht dagegen heißt Wille; der Wille zur Macht schließlich speist sich aus der wahrhaft anthropologischen Position, in der bei Nietzsche allein der Mensch über jede weitere Setzung bestimmt. Es ist die Position des Übermenschen, aus der heraus die Affekte eine Umwertung erfahren mögen (vgl. Kuhnle: 1999). Trieb und Wille sind also aufs Engste miteinander verbunden: Die Kraft des einen begründet die Wirkungsmacht des anderen. Allerdings gilt auch, dass die Gewalt der Triebe, die sich der Wille einverleibt, eine diesem zuwiderlaufende Energie entfaltet. Diese Lesart drängt sich jedenfalls mit Marinetti auf, bei dem die animalische Triebhaftigkeit der négresses den Willen der nach Höherem strebenden arabischen Herrenrasse zu unterlaufen drohen. Marinettis beau fruit de la volonté demonstriert das Ringen um ein Unterwerfen der Triebe unter den Willen - ohne die Ratio, die ihnen auf dem Weg der Sublimierung die Kraft raubt, nicht jedoch ohne jene Ratio, die sich für die Realisierung des futuristischen Projekts als unverzichtbar erweist: die Ratio einer durchorganisierten und radikale Unterwerfung fordernden Arbeitsteilung. Daher wird in Mafarka die Schilderung der Überwindung des Menschen durch die Hervorbringung eines höheren Wesens in einem Akt der Parthenognese paradoxerweise von sexualisierten Pathosformeln begleitet: Im neuen Wesen bündelt sich die Energie des vom Zeugungsauftrag befreiten Eros. Mit der Parthenogenese von Gazourmah hat sich der Wille über den Trieb erhoben. Trieb und Wille sind die wesentlichen antagonistischen Wirkungsmächte in dieser Weltanschauung, die Nietzsches Dualismus noch radikalisiert - jenen Dualismus, der dem orgiastischen und damit zerstörerischen Dionysischen auf einer höheren Ebene das Apollinische entgegentreten ließ, die Welt des Scheins und des auf Ewig gerechtfertigten Daseins (Nietzsche KSA 1, 47). Marinettis Auffassung dagegen ist die der entfesselten Bewegung, die immerzu nach vorne drängt. Der in der Gestalt von Mafarka und schließlich seinem Sohn verabsolutierte Wille, der alle Kraft des Triebes in sich aufnimmt, kennt keine Welt des Scheins, die sich der destruktiven Gewalt des Dionysischen entgegenstellt. Aus diesem Grund bezichtigt Marinetti später auch Nietzsches „Übermenschen“ als eine bürgerliche Fiktion: An ihm scheine der schale Utopismus auf, der im Namen eines bürgerlichen Fortschritts die durch neue Technologien freigesetzten Kräfte zu neutralisieren trachte (vgl. Kuhnle: 2004). Marinettis beau fruit de la volonté ist also mehr als ein bloßer Homunkulus. Nicht der Roboter als willfähriger Helfer des Menschen ist das Ziel, sondern der roboterhafte Mensch, dessen mit Hilfe von Technik perfektioniertes Wesen sich Till R. Kuhnle 162 über das der Vollendung des höheren Menschen entgegenwirkende Kreatürliche hinwegsetzt. Die Flügel, die Mafarkas Sohn vom Vater verliehen wurden, befreien endgültig aus den Fängen der anankè . Der Mythos von Mafarka strukturiert die via argumentorum , die der futuristischen Topik Marinettis eingeschrieben ist. Der futuristische Mensch erobert nicht den Raum, vielmehr zerstört er die diesen markierenden Dichotomien: Es gibt kein Oben und kein Unten mehr, kein Innen und kein Außen. Die Bewegung ist alles! Der Futurismus will die von der Moderne überbotene Neuzeit radikalisieren, indem er eine Theologie ohne Gott postuliert, indem er die Evidenz des Faktischen im Artefakt an die Stelle des Begriffs setzt und sich die letzte göttliche Instanz untertan macht: Ô Soleil mon esclave (Mafarka 226 - dt. 168). Mafarka ist in gewalttätiges Buch: pornographisch, frauenfeindlich und rassistisch. Gewalt übt es jedoch vor allem durch das entfesselte Pathos seiner Sprache aus. Mafarka ist die zur Gewalttat angeschwollene Rede, die keinen Widerspruch duldet, die jedes Argument zerschellen lässt - und die unermüdlich Arbeit am phallischen Mythos der futuristischen Religion leistet. Wie sich Elemente literarischer Rhetorik an der Sprache der Bilder ausmachen lassen, deren Pathos den Beobachter nicht minder zu rühren vermag als die flammende Rede, kann Lebenswelt durch die Macht der Rhetorik strukturiert werden. Der Krieg gerät zur wirkungsmächtigsten aller Hyperbeln, so in La Bataille de Tripoli , wo der 1911 geführte „heroische“ Kampf italienischer Soldaten um die libysche Hafenstadt als eine „Symphonie von Granaten“ gefeiert wird. Dort heißt es, die Schlachtrosse suchten im Sperrfeuer einen Halt, um auf den Aufschüttungen der Schützengräben den eloquenten Mund ( la bouche éloquente ) der Redner des Gefechts ( orateurs de la bataille ) zu hissen wie eine Fahne. Die Rede wird von jetzt an nicht mehr von der Macht der Worte, sondern von der Macht des vergossenen Blutes getragen: Il s’agit bien d’orateurs et de discours! C’est avec du sang, et non des mots que le corps de cet artilleur tué arrose abondamment et baptise le premier canon pointé, gueule tendue, sur un ennemi à cent mètres (Marinetti: 1912, 30). 13 1909 - das große Jahr der Avantgarde? In das Jahr 2009 fällt der hundertste Jahrestag des Manifeste du futurisme und von Mafarka le futuriste . Zum 25. Jahrestag wurde der Verfasser mit folgenden Worten gepriesen: Welche ungeheuren Folgen hatte Ihr berühmtes Manifest […], welche ungeheure Verwandlung des europäischen Geschlechts drückt es aus! […] Sie hatten, Herr Marinetti, das 13 „Es handelt sich wahrlich um Redner und Reden! Mit Blut und nicht mit Worten übergießt und tauft der getötete Schütze den ersten Lauf, der mit zugespitzter Schnauze, auf einen hundert Meter entfernten Feind gerichtet ist“ (Übersetzung TK). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 163 ungeheure Glück, das vielleicht keinem Künstler zuteil ward, zu erleben, wie die Gesetze Ihres inneren Gesichts in Ihrem Volk das Ideal der Geschichte wurden (Benn 2, 1044). Der Redner, der mit dieser Ansprache Marinetti in Nazi-Deutschland willkommen hieß, war kein geringerer als Gottfried Benn, der an anderer Stelle den Futurismus wegen seine revolutionären Potentials, zur wichtigsten Strömung innerhalb des Expressionismus bezeichnet hatte (Benn: 2, 805). Hier sei eine kurze Digression eingefügt: Lange konkurrierten die Termini „Futurismus“ und „Expressionismus“ als Sammelbegriff zur Bezeichnung einer Vielzahl der Strömungen, die später unter dem Etikett „historische Avantgarde“ zusammengefasst werden sollten. Als Beispiel hierzu sei eine Bemerkung von Georg Simmel aus dem Jahr 1918 zitiert: „Aus den durcheinanderlaufenden Bestrebungen, deren Ganzheit als Futurismus bezeichnet wird, scheint sich nur die als Expressionismus charakterisierte Richtung mit einer einigermaßen bezeichenbaren Einheit und Deutlichkeit herauszuheben“ (Simmel: 1999, 190). Das Jahr 1909 darf wohl mit Fug und Recht als das Jahr der Avantgarde gelten, das durch Marinettis Manifeste du futurisme eingeläutet wird. Igor Stravinsky arbeitet mit Nachdruck an seinem Feuervogel (Uraufführung am 25.07.1910); Wagners Rheingold feiert seine französische Premiere an der Opéra de Paris , und schließlich leitet Arnold Schönbergs Opus 11 eine Revolution in der Musik ein. Gerade ein Jahr ist es her, dass ein französischer Kunstkritiker einer neuen, den Übergang von Gegenständlichen zum Abstrakten vollziehenden Richtung in der Malerei ihr mot de combat beschert hat: der Kubismus, da kommt es in Deutschland zur Gründung der Neuen Künstlervereinigung München , die dem Blauen Reiter den Weg bereitet; in Paris wiederum arbeitet Henri Matisse an seinem berühmtes Gemälde Danse II . Es ist geradezu eine Ironie des Schicksals, dass Theodor Herzls 1902 getätigter Ausruf „Wenn ihr wollt, dann ist es kein Märchen“ (Motto zu AltNeuLand , Herzl: 2004) schon 1909 in der Gründung der Stadt Tel Aviv, zukünftiges Eldorado der Bauhausarchitektur, seine Antwort findet. In den Händen tätiger Bürger und findiger Ingenieure scheint nichts mehr unmöglich: Die Freigabe der Manhattan Bridge , einer kolossalen Stahlkonstruktion, beschließt das Jahr 1909 - das Jahr der Avantgarde. „Wenn ihr wollt, dann ist es kein Märchen“, dieser Ausruf gilt nun für die Eroberung des Raums durch neue Kommunikationsmittel. Nur ein Jahr zuvor hat Henry Ford sein Modell Tin Lizzy auf den Markt gebracht und die automobile Revolution ausgelöst. Der Dromologe Paul Virilio erkennt im Verlassen des Wassers den Beginn der sich emanzipierenden Geschwindigkeit - und er verweist süffisant darauf hin dass es eine synekdochische Verbindung zwischen der von Marinetti geschmähten Nike von Samothrake und dem als Inbegriff einer futuristischen Moderne verherrlichten Rennwagen gebe: beide seien schließlich so etwas wie Transportmaschinen - engins de transport (Virilio: 1977, 52). Bei Nietzsche heißt es: „Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten“ (KSA 1, 33). In seinen Dithyrambes à mon Pégase (erschienen u.a. in La Ville charnelle von 1908) - italie- Till R. Kuhnle 164 nische Fassung: All’ automobile da corsa - feiert Marinetti die erotische Vereinigung des Rennfahrers mit seinem zum mythologischen Ross verklärten Boliden: die lustvolle Hingabe an die Maschine und die ultimative Klimax durch die reißenden Bremsen … Parallelen zum Abgang eines österreichischen Rechtspopulisten in einem Phaeton drängen sich förmlich auf. Aus der Perspektive von Virilios „Dromologie“ (Virilio: 1977) genannten Wissenschaft der Geschwindigkeit wird deutlich, dass nicht nur der Kraftwagen selbst, sondern der auch dessen Herstellung eine Revolution einleitet: Die massive Motorisierung Nordamerikas wäre ohne die neue Fließbandtechnik unvorstellbar, die das Zusammenwirken von Mensch und Maschine im Dienste beschleunigter Produktion perfektioniert hat. Das erhabene, um nicht zu sagen: aristokratische Pathos eines Marinetti am Lenkrad seines Steuers soll bald zu einem Massenphänomen werden. Und Marinetti kann 1909 noch nicht ahnen, dass hundert Jahre später die Regierungen der liberalen Welt danach lechzen werden, für die futuristische Kopulation von Mensch und Automobil die Alimente zu übernehmen… Noch ist der Ausruf des hingebungsvollen Rennfahrers am Steuer seines zum neuen Pegasus hypostasierten Boliden nicht verhallt - „Urrà! Non più contatti con questa terra immonda” / „Hurra! Nie wieder Berührung mit dieser ekligen Erde“ 14 - schon feiert die Technik ihren Triumph über die Macht der anankè : Wie schon in der eschatologischen Vision des Romantikers Hugo tritt der Mensch des 20. Jahrhunderts aus den - wie es bei Peter Slotedijk heißt - „nautischen Ekstasen“ (Sloterdijk: 2005, 124) und macht sich an die Eroberung der Lüfte. 1909 ist die Menschheit im 20. Jahrhundert angekommen! Für den 23. Februar ist der erste Flug des legendären Silver Dart in Kanada belegt; nur wenige Monat später, am 25. Juli, überquert Blériot den Ärmelkanal; am 10. Juli beginnt in Frankfurt am Main die Internationale Luftschiff-Ausstellung , am 25. September in Paris der Salon de la Locomotion aérienne . Marinettis die großen Mythen der europäischen Kultur synthetisierender Roman Mafarka (Vinken: 2000), der das Gründungsjahr des Futurismus beschließt (Ingold: 1982, 75), der sich als Kontrafaktur des homerischen Epos gebärdet (vgl. hierzu mehrere Kapitel in Mireti: 2005), liest sich wie ein Abgesang auf die großen Schöpfer und Herausforderer der Götter in der antiken Mythologie: Prometheus, Hephaistos, Pygmalion sowie Daedalus und Ikarus, haben nun an den Ingenieur und Flugzeugpiloten den Stab überreicht, um an ihnen ihre „Remythisierung“ (frei nach Blumenberg: 1889, 688) im Zeichen der Moderne zu erfahren. Schon 1910 erscheint - nicht nur im italienischen Original, sondern auch schon in der vom Rennwagen- und Flug- 14 Das Gedicht À mon Pégase erscheint 1905 erstmals in der Zeitschrift Poesia ; 1908 findet es Eingang in die Sammlung La Vie charnelle ; 1919 veröffentlicht Marinetti die von ihm selbst verfasste italienische Version in Scelta di poesie . Einen Abdruck der französischen Fassung findet sich in F.T. Marinetti, Scritti francesi (hg. von Pasquale A. Jannini), Mailand 1983, in beiden Sprachen bei Luciano De Maria (1981, 310-315). Eine einführende Analyse zur italienischen Fassung dieses Gedichts (dort abgedruckt mit einer deutschen Übersetzung) bietet Volker Steinkamp (2000, 33-42). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 165 pionier Karl Gustav Vollmoeller besorgten deutschen Übersetzung - Gabriele d’Annunzios Fliegerroman Forse che si, forse che non , der die Pionierleistungen der Aviatik zum Thema erhob - und das Schicksal des modernen Menschen schilderte: „prigione del mostro da lui partorito“ / „der Gefangene des Ungeheuers, das er erzeugt“ (D’Annunzio: 1989, 574; dt. D’Annunzio: 1989b, 73). Das Pathos seiner Schilderung der tollkühnen Männer in ihren - noch - primitiven Flugmaschinen klingt wie ein verzerrtes Echo auf die millenaristischen Prophezeiung Hugos: „Il cielo era divenuto il suo terzo regno“ / „Der Himmel war jetzt zum dritten Reich geworden“ (D’Annunzio: 1989, 574; D’Annunzio: 1989b, 73). Mit dem neuen Jahrhundert habe die Seele Menschheit die Zeit beflügelt und zu einer tiefen Einsicht in die Zukunft gefunden. Und d’Annunzio bringt jenes mythopoetische Projekt auf den Punkt, das in Marinettis Mafarka als die alle bisherigen Mythen überbietende Arbeit am futuristischen Mythos aufscheint: „Il mondo dei miti e dei sogni rioccupava la cavità del cielo, evocato dal nuovo sogno, dal nuovo mito“ / „Die Welt der Mythen und der Träume, vom neuen Mythus und vom neuen Traum beschworen, erfüllte die Wölbung des Himmels“ (D’Annunzio: 1989, 591; dt. D’Annunzio: 1989b, 91). Doch dieser neue Mythos ist kein Mythos des Friedens, sondern steht im Zeichen des Mars - so die hellsichtige Analyse des Traktats Die Entwicklung des Luftmilitarismus (Scheerbart: 1909). Die Geschichte von Mafarkas Sohn stiftet den futuristischen Gründungsmythos: Die perfekte Beherrschung der Technik macht den höheren Menschen aus, indes noch nicht den futuristischen. Erst der reine Wille, der das schale Ich abstreift und aus dem heraus alle Gestalt entsteht und von dem aus alles Sein seine Bestimmung erfährt, bricht die Macht der anankè , die Macht eines kreatürlichen Schicksals. Die Geschwindigkeit rafft alle Bindungen dahin; in der Sprache lassen die freigesetzten Wörter - les mots en liberté / parole in libertà - die Syntax hinter sich und entfalten ihr ureigenes semantisches Potential. Mit diesem Anspruch führt Marinetti sein Projekt zur Erneuerung der poetischen Sprache fort und überwindet auch den vers libre seines Vorbildes Gustave Kahn, dem er in La Vie charnelle (1908) noch folgte. Mit der onomatopoetischen Dichtung Zang Tumb Tumb (1912-1914) etwa wird eine Schlacht regelrecht fühlbar. Das den Zwängen der Syntax und Lexik entledigte sprachliche Material wird zur gestaltbaren Masse. Dass im Jahr der Veröffentlichung von Le Manifeste du futurisme und Mafarka der erste Giro d’Italia an den Start geht, ist mehr als nur eine Fußnote wert: Zusammen mit der sechs Jahre zuvor ins Leben gerufenen Tour de France trägt dieses Radrennen zur Herausbildung des Sportes als Massenphänomen bei. Denn die Masse, das Kollektiv, wird seit dem Eintritt ins 20. Jahrhundert immer mehr zu einem Faszinosum. Nicht von ungefähr feiert Jules Romains im Erscheinungsjahr des Manifeste du futurisme mit La Vie unanime die moderne Großstadt (Romains: 1909; vgl. Pinottini: 1979, 13-26; Berghaus: 1996, 36-39). Die Masse gilt es von nun an zu beherrschen, indem man ihr eine Gestalt verleiht, indem man sich ihr Energie- Potential zunutze macht! Till R. Kuhnle 166 Das Manifeste du Futurisme impliziert die Forderung nach der Überwindung der Kluft zwischen Kunst und Lebenspraxis, aber auch die Vereinigung der Künste durch die Macht der Rhetorik. Der Prozess der Zivilisation wird in sein Gegenteil verkehrt. Und wie bereits gesagt: Statt Triebe zu sublimieren und das gesellschaftliche Miteinander zu sichern, soll „Zivilisation“ die Mittel für das uneingeschränkte Freisetzen destruktiver Triebe bereitstellen. Der Rausch, der von den Futuristen zelebriert wird, der auch am Ende von Mafarkas Initiation den großen Discours futuriste hervorbringt und schließlich zur „Zeugung“ von le beau fruit de la volonté führt, ist jener, den Nietzsche in seiner Götzen-Dämmerung zur conditio sine qua non aller Kunst erhob: Der Rausch muß erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller großen Begierden […] kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, […] des Siegs […]; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung […]; oder unter dem Einfluß der Narcotika; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens (Nietzsche KSA 6, 116). Rausch und Destruktion steht beim höheren Menschen immer eine positive Setzung durch den Willen gegenüber: die Kunst. Gazourmah personifiziert Nietzsches Vision vom Triumph der Kunst: C’est ainsi que le grand espoir du monde, le grand rêve de la musique totale, se réalisait enfin dans le vol de Gazourmah… L’essor de tous les chants de la Terre s’achevait dans ses grands battements d’ailes inspirées! Sublime espoir de la Poésie! désir de fluidité! Nobles conseils des fumées et des flammes! ... ( Mafarka , 233). 15 Der aviateur futuriste , der futuristische Luftschifffahrers durchmisst sein théâtre aérien , sein Theater der Lüfte. Das theatrum mundi - das große und doch so ephemere Welttheater - findet nunmehr in den Lichtbündeln der gegen den nächtlichen Himmel gerichteten Scheinwerfer statt. Die Massen verschwinden am futuristischen Gesamtkunstwerk, einer vom Phallus - dem Vektor des Willens - regierten Phantasmagorie: Dans nos vols dialogués et nos mots en liberté aériens, le sexe des acteurs sera mis en relief par la forme des aéroplanes, la voix du moteur et le rythme spécial du vol (Tokine: 1999, 56). 16 15 „Und so fand die große Hoffnung der Welt, der große Traum von der absoluten Musik, endlich ihre Erfüllung in Garzoumahs Flug… Dieser Aufschwung aller Gesänge der Erde vollendete sich in seinen kräftigen inspirierten Flügelschlägen! ... Erhabene Hoffnung der Poesie! Sehnsucht nach Fließen! Noble Ratschläge und Flammen! ...“ ( Mafarka , dt. 173f.). 16 „In unseren dialogischen Flügen und unseren freien Wörtern im Flug - nos mots en liberté aériens - wird das Geschlecht der Schauspieler hervorgehoben durch die Form der Aeroplane, die Stimme des Motors und den eigentümlichen Rhythmus des Fluges“ (Übersetzung TK). F.T. Marinetti Mafarka le futuriste. Roman africain 167 Und doch kennt dieses Welttheater eine politische Setzung: Italia - die futuristische Nation. Nur im Zeichen einer solchen Setzung kann ein Projekt wie das des Futurismus realisiert werden. Das ästhetische Projekt des futuristischen Übermenschen wird vom Faschismus weder eingelöst noch verraten, denn einmal in der politischen Wirklichkeit angekommen sind beide lediglich zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Daher ist dem Befund Walter Benjamins wohl nichts mehr hinzuzufügen: „Fiat ars - pereat mundus“ sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Wahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour l’art (Benjamin: 1991, 508). A mio caro e grande amico Benito Mussolini - oder die erlebte Poesie des Untergangs Voilà la nouvelle Volupté qui débarrassera le monde de l’Amour, quand j’aurai fondé la religion de la Volonté extériorisée et de l’Héroïsme quotidien/ Das ist die neue Wollust, die die Welt von der Liebe befreien wird, wenn ich die Religion des nach außen gekehrten Willens und des alltäglichen Heldentums begründet haben werde ( Mafarka , 169f - dt. 126) - also sprach Mafarka le futuriste. Die neue Religion des Willens sollte bald zu ihrer Konfession finden: im Zeichen der fasci . Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte sich Marinetti für den Kriegseintritt Italiens stark. Nach einer kurzen Kriegsteilnahme an der Front engagierte er sich verstärkt politisch. Er gründete 1918 eine eigene Organisation, den Partito Futurista Italiano , die jedoch schon ein Jahr später in der faschistischen Bewegung - den Fasci italiani di combattimento - Mussolinis aufgehen sollte. Indes trennten sich 1922 vorübergehend die Wege, als die Futuristen Mussolinis Anbiederung an das Bürgertum attackierten. Doch schon 1924 kam es zu einer erneuten Annäherung: Marinetti wurde von Mussolini mit offiziellen Ämtern betraut. Mit bitterem Spott übergießt Gramsci den zum Akademiedirektor avancierten Hetzer wider den passatismo : „Marinetti è divintato accademico e lotta contro la tradizione della pastasciutta“ (Gramsci: 1975, 120) 17 . In einem Brief an Leo Trotzki erklärte der enttäuschte Marxist die futuristische Bewegung als revolutionäre Kraft im Kampf gegen den bürgerlichen Machtapparat für erledigt (Gramsci: 1975, 335). Marinettis Vitalismus findet in der deutschen Lebensphilosophie seine Entsprechung - bei einem Simmel ebenso, der den Expressionismus rühmte, wie dem allem „Gehodler“, d.h. dem Avantgardistischen, abholden Propheten des Untergangs Oswald Spengler. Dieser wollte den technischen Fortschritt ausschließlich im Dienst des Faustischen sehen, von dem allein noch die letzte tragische Herausforderung ausgehe. Und man glaubt die Stimme Marinettis zu vernehmen, wenn Spengler im 17 „Marinetti ist Mitglied der Akademie geworden und kämpft gegen die Tradition der Nudeln mit Sauce“ (Übersetzung TK). Till R. Kuhnle 168 Angesicht von Weltkrieg und Weltrevolution die Entschlossenheit verherrlicht, „durch Mittel faustischer Technik und Erfindung das Gewimmel der Menschheit zu einem Ganzen zu schweißen“ (Spengler: 1920, 23sq.). Notabene: Spengler hatte die Schriften des Anarchosyndikalisten Sorel ebenso gelesen wie Marinetti und Mussolini, dem er sich übrigens besonders verbunden fühlte. Viele Intellektuelle gerieten in den Bann des Duce. So unterschrieben 1925 neben Marinetti etwa auch Malaparte, Ungaretti und Pirandello das Manifesto degli intellettuali fascisti von Giovanni Gentile. Und Ezra Pound, der führende Kopf der britischen Vortex-Bewegung, engagierte sich in Italien für Mussolini. Die Affinität zu Faschismus und Nazismus war innerhalb der historischen Avantgarde durchaus verbreitet, so auch bei einigen wichtigen Vertretern des deutschen Expressionismus. Marinetti verfolgte zwar eine mitunter von der faschistischen Bewegung abweichende Linie - so wandte er sich gegen eine allzu willfährige Unterstützung der Nazis, den Antisemitismus und die sich abzeichnende Aussöhnung des Regimes mit dem Vatikan. Dennoch betraute der Duce den renitenten, meist vom radikalen Rand der faschistischen Bewegung her agierenden Kampfgenossen immer wieder mit öffentlichen Ämtern. 1942 zog es den 66-jährigen noch an die Ostfront. Als schließlich die italienischen Faschisten ihren Rückzug in die Repubblica di Salò antraten, folgte er wieder seinem Duce, der den am 2. Dezember 1944 in Bellagio verstorbenen Futuristen mit einem Staatsbegräbnis ehren sollte. 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Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor (7). 1 Dies ist die Eröffnung von Franz Kafkas letztem Roman „Das Schloß“. Womit der Ankömmling es in der „scheinbaren Leere“ zu tun haben wird, nachdem er das Dorf betreten hat, zeigt nicht zuletzt, in welchem Grade Gegebenes nur vorgeblich ist, was zu sein es darstellt. Bekanntlich bewegt die Erfahrung die europäische Philosophie seit ihrem griechischen Beginn, fortgehend bedacht in der Frage nach der Wahrheit begegnender Dinge. Kafkas Roman stellt die Frage, wenn es im Blick auf eine Angelegenheit beiläufig heißt: „Vielleicht ist es nur das, vielleicht ist aber etwas ganz anderes“ (458). Das Diktum von Täuschbarkeit sich zeigender Dinge, der Fehlbarkeit des Blicks auf begegnende Angelegenheiten spricht aus dem Nachdenken, das in Kafkas Roman, im Bildraum seines Texts, in seiner Szenerie der Ereignisse und Figuren begegnet: Nachdenken darüber, wie unmittelbar Wirkliches nicht hält, was es verspricht, weil in ihm anderes ist und wirkt, Gegebenes nicht zu dem führt, worauf es zu verweisen scheint. Das ist in Kafkas „Schloß“ zu lesen, in der Schilderung der Begebenheiten, die K. widerfahren werden, im Bericht von Verhältnissen, in die er sich verwickeln wird. Geschehnisse und Gegebenheiten, worin Dinge ihre Eindeutigkeit verlieren, ihre Identität ins Zwielicht rückt, Illusionäres den Blick besetzt, im Vexierbild der Begebenheiten und Verhältnisse unentscheidbar wird, was als wahr gelten darf. Freilich: Was im Blick auf das „Schloß“ so charakterisiert wurde, bietet allein vorläufige Bestimmungen. Dies vor allem deshalb, als in den Bestimmungen, in der Rede vom Verlust von Eindeutigkeit und vom Schwund von Identität gleichwohl eine authentische Wirklichkeit vorausgesetzt scheint, wahrhaft Wirkliches im Gegenüber zu Illusionärem, im Hintergrund von Schein und Täuschung - wie es die klassisch philosophische Bestimmungstradition von „Wahrheit“ 1 Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Franz Kafka: Das Schloß . Hg. M. Pasley. Frankfurt a.M., 2 1983. Severin Müller 174 gedacht hatte. Dies jedoch verlässt Kafkas Roman in besonderen Fokus seines Texts. In der Welt des Dorfs, die im „Schloß“ zur Sprache gelangt, ist die gängig bekannte Wirklichkeit zwar nicht gänzlich aufgelöst, doch durchgreifend von Imaginationen geprägt, bestimmt von ihrem Bann und ihrer Macht - Macht, welche die Eigenart aller Dinge und Bezüge mit spürbaren Folgen durchläuft. Mit den Verhältnissen hat Kafkas Roman ein eindeutig unterscheid- und faßbares Gegenüber von Schein und authentischer Wirklichkeit aufgelöst - gerade auch dann, wenn er es ironisch, in lachhaften Begebenheiten ins Spiel bringt. Im Text des „Schloßes“ sind spezifisch verfasste Imaginationen mit spezifisch gearteten Zielen am Werk, einander bestätigend und verstärkend, nicht minder in gegensätzlichen Bewegungen und Ansprüchen. Mit den Imaginationen und ihren Zielen waltet in Kafkas Roman Imaginäres als hochgradig wirksame Realität von eigener Wirklichkeitsart - ihrerseits konfrontiert mit different Wirklichem, durchkreuzt von unverfügbarer Faktizität, die Kafka sich unbeliebig melden und zur Sprache kommen lässt. In der Typik dieser Imaginationen kann eine Bestimmung gesehen werden, die eine mögliche Blickbahn in diesen Roman Kafkas eröffnet, so, nicht zum Wenigsten, auch eine philosophische Lektüre nahe legt. Wohlgemerkt: Die philosophisch gerichtete Lektüre, ihr Blick auf das Imaginäre beinhaltet allein eine Lesart unter möglichen anderen. Unter anderen, wie der, Kafkas „Schloß“ als Frauenroman zu durchwandern, oder als Sozialroman, oder als Dorfroman, darin als ethnologischer Bericht aus dem abgelegenen Landesinnern, oder als Amts- und Behördensatire, oder, last but not least, als Erzählung von Macht, Sexualität und ihrer Verschlingung - Lektüremöglichkeiten, worin die anderen jeweils mitgelesen werden mögen. 2 In der vorgeschlagenen Lesart aber zeichnet Kafkas Roman ein Musterbild dessen, wie es in einer imaginär strukturierten Wirklichkeit, im Ineinander der Imaginationen und Faktizitäten wie ihrer Gegenspannung zugehen mag, wie es im Gravitationsfeld spezifisch verfasster Imagination um uns selbst bestellt sein kann - nicht allein in diesem Roman, sondern auch und nicht zuletzt in unserer medialen Moderne. 3 Und durchaus kann in Kafkas Roman ein Stück Hermeneutik dieser Moderne gesehen werden. Wie es aber um Menschen bestellt sein kann in Räumen derart verfassten Wirklichseins, offenbart sich bereits daran, dass der Roman solchen Nachdenkens auch ein Romans des Scheiterns ist. 4 2 Zu den differenten Interpretationsmöglichkeiten und deren Geschichte - so von M. Brods theologischer Deutung zur existenzialistischen A. Camus, W. H. Sokels psychoanalytischer Entschlüsselung, Th. W. Adornos „sozialpolitischer“ Interpretation - vgl. den Übersichtsbericht in G. Sautermeister: „Das Schloss,“ in: W. Jens (Hg.): Kindlers Literaturlexikon Bd. 9, München, 1998. 47-50; dazu ebd. im Blick auf Analogien mit Max Webers „Metaphysik des Beamten“ P. Heller, a.a.O. 50. 3 Dies die Bezeichnung von C.-S. Scheier, welche die vorangeschrittene Moderne im Blick auf die in ihr maßgebend gewordene Typik der Produktion wie der Präsenz bestimmt, damit prägnanter fasst als der Begriff einer sog. „Postmoderne“. So u.a. C.-A. Scheier: Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert. Hamburg, 2000. 4 Zur Entstehung des Romans F. Kafka: Das Schloß. Apparatband. Hg. M. Pasley, Frankfurt, 2 1983. 61-72. Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 175 Kafkas „Schloß“ als Roman des Scheiterns: Dies bezeugen die Schwierigkeiten, womit „K.“, die zentrale Figur, konfrontiert wird: So die, ein angebotenes und angemessenes Arbeitsverhältnis anzutreten, sich darin in eine spezifische Sozialität einzugliedern - Beschäftigungs- und Integrationsprobleme also, Fragen des Aufenthalts, Fragen des - so die alte griechische Bezeichnung - humanen ethos . K. soll, vom „Schloß“ gerufen, als „Landvermesser“ wirken. Doch der „Dorfvorsteher“ wird K. erklären: „Wir brauchen keinen Landvermesser. Es wäre auch nicht die geringste Arbeit für ihn da“ (95). Das ficht K. nicht an; er wird sich weiter um jene Tätigkeit bemühen, verschlagen auch, in listenreichem Kalkül. Doch keine seiner Anstrengungen führt zum Erfolg. Damit ist der Inhalt des Romans in Kurzform umrissen. Handelt er, wie in solchen Fällen gesagt wird, vom Scheitern an der Realität? Aus Vermutungen solcher Art erhebt sich freilich die Frage: An Realität welcher Art? 1. Schwierigkeiten einer Ankunft Kehren wir zum Beginn des Romans zurück, zu K.s Eintritt ins Dorf. K. sucht sein Unterkommen im nächstgelegenen Wirtshaus, dem „Brückenhof“. Dort ist kein Zimmer zu vermieten, doch der Wirt, „von dem späten Gast äußerst überrascht und verwirrt“, will K. in der Wirtsstube auf „einem Strohsack schlafen lassen“, mit ihm legt K. „sich in der Nähe des Ofens hin“ (7). Ein dürftiger Empfang, und Ruhe ist auch nicht gegönnt. 5 Nach kurzem Schlaf weckt ihn ein junger Mann - trotz später Nacht hat K.s Anwesenheit sich bereits herumgesprochen, wie sich in diesem Dorf jedwedes und immerfort alles sogleich herumspricht - am nächsten Tag schon wird man überall wissen, dass K. „der Landvermesser“ sei. Freilich heißt es hierbei: „Daß man K. kannte, schien ihn nicht zu empfehlen“ (22). Weshalb nicht, wird noch zu betrachten sein. Der junge Mann aber, Schwarzer, stellt sich K. als „Sohn des Schloßkastellans“ vor - in Wahrheit ist sein Vater (wie K. bald erfährt) „nur ein Unterkastellan und sogar einer er letzten“ (16), aber auch damit ist Schwarzer noch, was er K. demonstrieren möchte: Repräsentant einer maßgebenden Instanz zu sein. Entsprechend seine Worte: „Dieses Dorf ist im Besitz des Schloßes, wer hier wohnt oder übernachtet, wohnt oder übernachtet gewissermaßen im Schloß. Niemand darf das ohne […] Erlaubnis“ (8). Der so spricht, sagt mehr, als er sagen will. Es wird eigens zu aufzuklären sein, um Besitz welcher Art es sich denn handelt. Jedenfalls bringt Schwarzers Rede das maßgebende Verhältnis des Romans zur Sprache: Das 5 In welchem Maße Kafka die Dürftigkeit akzentuiert, wird mit dem Passus kenntlich, der dann in der zitierten Beschreibung der K. gebotenen Lagerstatt ersetzt wird. In ihm ist noch von einem „Fürstenzimmer“ die Rede, freilich auch dieses schon von bemerkenswerter Schäbigkeit: „Ein grosses Zimmer mit zwei Fenstern und einer Glastüre zwischen ihnen, quälend gross in seiner Kahlheit“, der dazu gehörige Balkon darf nicht betreten werden, der Brüchigkeit seiner Tragbalken wegen F. Kafka: Das Schloß. Apparatband . Hg. M. Pasley, S. Fischer: Frankfurt, 2 1983. 115.- Zur Typik der von Kafka im Schloß unternommenen Korrekturen vgl. M. Pasley, a.a.O. 72-77. Severin Müller 176 Zu- und Ineinander von „Dorf“ und „Schloß“ im Spannungsfeld von Unterordnung und Vorrang - und nicht allein nur in dieser Verspannung. Die „Erlaubnis“ nun kann K. nicht vorweisen, er vermag dafür anderes entgegnen: „[…] lassen Sie sich gesagt sein, daß ich der Landvermesser bin, den der Graf hat kommen lassen. Meine Gehilfen mit den Apparaten kommen morgen im Wagen nach“ (9). Die anschließende Reaktion lässt erkennen, dass dergleichen nicht erwartet wurde und nicht verstanden wird. „Landvermesser? “ hört K. die Anwesenden „hinter seinem Rücken zögernd fragen. Dann war allgemeine Stille“ (10). Schwarzer aber telefoniert mit dem „Schloß“ (11). Dessen Antwort scheint nicht sehr günstig, „denn sofort warf Schwarzer den Hörer wütend hin. ‚Ich habe es ja gesagt,‘ schrie er, ‚keine Spur von einem Landvermesser, ein gemeiner, lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber ärgeres‘“ Das wird sogleich revidiert. Es kommt ein Rückruf vom „Schloß“, der K. als „Landvermesser“ auszuweisen scheint. Es wird bei dieser ersten Verwirrung nicht bleiben. Am nächsten Tag lässt K. telefonisch im „Schloß“ nachfragen, ob er selbst denn „ins Schloß kommen dürfe“: K. möchte sich vorstellen - „weder morgen noch ein anderesmal“ (35), lautet die Antwort, entgegen vernünftiger Erwartbarkeit. Gelten, wie sich das im Brückenhof darstellt, im „Schloß“, das zugleich „Behörde“ ist, andere Auffassungen und Regeln, waltet mit diesen eine andere Art von Realität? Wie auch immer: Die maßgebende Instanz dieser Welt ist unzugänglich, zugleich widersprüchlich in ihren Aktivitäten. Nicht minder aber klingt an, was „Schloß“ und „Behörde“ seien: Von offenbar erhabenem Rang und höchster Bedeutung. 2. „Schloß“ und „Gehilfen“: Distanz und erste Verflechtung Mit dieser Realität ist K. konfrontiert. Sie steht der seinen gegenüber, wirkt auf ihn in ihrem Anspruch, versucht, K. in ihr Gewebe einzubeziehen. Die Weise, wie Kafka die Vorgänge inszeniert, beinhaltet zugleich, Schritt um Schritt die Eigenart dieser Realität, also deren imaginären Charakter vorzuführen, in ihm Kennzeichen imaginären Wirklichseins, mehr noch Signaturen spezifischer Imaginationen und ihrer Wirkungsweisen offen zu legen. Konfrontation und unmerkliche Verflechtung bestimmen schon K.s ersten Tag im Dorf. Bemerkenswert sein erster Blick auf das „Schloß“, wohin er sich aufmacht. Im „Näherkommen enttäuschte“ dessen Anblick, es zeigt sich, dass es sich hierbei „doch nur um ein recht elendes Städtchen“ handelt, „aus Dorfhäusern zusammen getragen […] der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln“ (17) - so K.s nüchtern registrierende Wahrnehmung. Der Betrachter aber wird selbst betrachtet, vom Lehrer des Dorfes. „‚Ihr sehet das Schloß an? ‘ fragte er […] in einem Ton als billige er nicht was K. tue […] ‚Das Schloß gefällt Euch nicht? ‘ fragte der Lehrer schnell […] ‚keinem Fremden gefällt es‘, sagte der Lehrer“ (19). Wer so spricht, kommentiert K.s Betrachtung als unangemessen, als Wahrnehmung eines „Fremden“, der nicht recht zu sehen weiß, diese Realität verfehlen muss - im Unterschied zum Kommentator, der die adäquate Sichtweise besitzt. Versteht K. es, ihr am Ende des Tages angemessener zu begegnen, als sich ihm Arthur und Jeremias, vom Schloß gesandt, vorstellen? Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 177 ‚Wie? ‘ fragte K., ‚Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte? ‘ Sie bejahten es. ‚Das ist gut‘, sagte K. nach einem Weilchen, ‚es ist gut, daß Ihr gekommen seid.‘ […] ‚Wo habt Ihr die Apparate? ‘ fragte K. ‚Wir haben keine‘, sagten sie. ‚Die Apparate, die ich Euch anvertraut habe‘, sagte K. ‚Wir haben keine‘, wiederholten sie. ‚Ach, seid Ihr Leute! ‘ sagte K., ‚versteht Ihr etwas von Landvermessung? ‘ ‚Nein‘, sagten sie. ‚Wenn Ihr aber meine alten Gehilfen seid, müßt Ihr das doch verstehen‘, sagte K. Sie schwiegen. ‚Dann kommt also‘, sagte K. (32). Natürlich handelt es sich bei den beiden nicht um K.s wahre „Gehilfen“. Die beiden aber geben vor, es zu sein. Ihnen ist das auftretende Problem der Identität - dass sie Personen sein sollten, die sie unverkennbar nicht sind - offensichtlich gleichgültig, auch bereitet ihnen der Widerspruch, dass sie als „alte Gehilfen“ ohne deren „Apparate“ sind, keinen Kummer. Kafka lässt K. auf die erste Auskunft der beiden, sie seien die „alten Gehilfen“, verzögert reagieren. K. antwortet erst „nach einem Weilchen. Was denkt er in dieser Pause? Zur Tätigkeit, die er anstrebt, können die beiden nichts beitragen. Wozu dann sind sie vom „Schloß“ gesandt? Später, im Gespräch mit dem „Vorsteher“ des Dorfes nennt K. die Zuordnung „bedenkenlos“ - der Vorsteher, bettlägrig, von einem Gichtanfall geplagt, hält unverzüglich dagegen: „Bedenkenlos geschieht hier nichts“, vergisst hierbei „sogar den Fußschmerz und setzte sich aufrecht“ (99f.). In der ersten Begegnung aber akzeptiert K. die Gehilfen, akzeptiert eine rätselhafte Verfahrensweise, tritt mit diesen „Gehilfen“ ein in ein ihm unbekanntes Verhältnis zum „Schloß“. Mit den Gehilfen wird K. nicht zurecht kommen, enerviert durch ihr Verhalten, ihren „immer unpassenden Diensteifer“ (120), ihre distanzlose Nähe. Sie werden am Ende gegen ihn im „Schloß“ Klage führen, hierbei auch mit einer Auskunft aufwarten, die den eigentlichen Zweck ihrer Beiordnung nennen will - mit ihm fällt ein Licht zurück auf alles Vorangehende: „Das Wichtigste […] ist“, so erläutert ein Beamter der Schloßbehörde ihren Auftrag, „daß Ihr ihn ein wenig erheitert. Wie man mir berichtet hat, nimmt er alles zu schwer. Er ist jetzt ins Dorf gekommen und gleich ist ihm das ein großes Ereignis, während es doch in Wirklichkeit gar nichts ist“ (368). 3. Brief und Gemeindevorsteher Unmittelbar nach jenem Telefonat, das K. jeden Zutritt zum Schloß versagte, erreicht K. ein Schreiben aus diesem, eigens überbracht von Barnabas, einem Boten: „Sehr geehrter Herr! Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen“. K. sei, wie im Fortgang zu lesen ist, dem „Gemeindevorsteher des Dorfes“ unterstellt, der ihm „alles Nähere über seine Arbeit“ mitteilen würde, dem er auch „Rechenschaft“ schulde. „Trotzdem werde auch ich Sie,“ heißt es gegen Schluß, „nicht aus den Augen verlieren“ (40). Die Unterschrift ist unleserlich, beigedruckt ist: „Der Vorstand der X. Kanzlei“. Es handelt sich, wie Barnabas erklärt, um „Klamm“. K. unterzieht den Brief einer sorgfältigen Deutung, er will sich dessen, was der Brief mitteilt, eingehend versichern. Und er lokalisiert „zweifellos[e] Widersprüche“. Mit ihnen wird unklar, was denn nun gelten soll. Der Text, so notiert K., „war nicht einheitlich, es gab Stellen, wo mit ihm wie mit einem Freien gesprochen Severin Müller 178 wurde“, zugleich aber andere, die ihn, im Gegensatz hierzu, „als kaum bemerkbaren Arbeiter“ behandelten. Nicht nur dies: Die „Widersprüche“ sind ihm „so sichtbar, daß sie beabsichtigt sein mussten“ (41). Gezielte Mehrdeutigkeit also? Der „Vorsteher“ des Dorfes, an den er verwiesen wurde, erläutert dann, es sei dieser Brief „überhaupt keine amtliche Zuschrift, sondern ein Privatbrief.“ Es wäre in ihm „mit keinem Worte gesagt“, dass K. „als Landvermesser aufgenommen“ sei, nur von „herrschaftlichen Diensten“ wäre „die Rede“, auch besagte die Wendung „wie Sie wissen“, es sei die „Beweislast“ für diese Aufnahme ihm selbst „auferlegt“ (114). Eine Aufklärung mit bezeichnender Folgerung. Sie widerruft, was jener Brief zunächst nahe legte, dementiert, was als beabsichtigt angenommen werden mochte. „Sie sind eben“, lässt der Vorsteher dann wissen, „noch niemals wirklich mit unseren Behörden in Berührung gekommen“ (115). Wer aber ist der Absender des Briefs, Klamm? Mit ihm präsentiert Kafka die zentrale Bezugsgestalt des Romans, in seiner Person ist die Realität des „Schloßes“, wie sie sich dem Dorf darbietet, exemplarisch versammelt. Sein Name hält einen bemerkenswerten Hinweis bereit: In ihm ist (worauf Libuse Monikova aufmerksam macht) 6 das tschechische Wort „klam“ enthalten, zu deutsch „Trug und Schein“. Damit ist ein erster Fingerzeig geboten - entscheidend aber wird werden, was der „Trug“ enthält, worin der „Schein“ besteht, woher beides kommt. Klamm wird K. einen zweiten Brief schreiben, seltsamer noch als der erste. K. ist inzwischen vom „Vorsteher“ der Gemeinde die Stelle des „Schuldieners“ zugewiesen worden. Klamm aber schreibt: „Die landvermesserischen Arbeiten, die Sie bisher ausgeführt haben, finden meine Anerkennung […] Lassen Sie nicht nach in Ihrem Eifer! […] Eine Unterbrechung würde mich erbittern […] Ich behalte Sie im Auge“ (187). Wie sieht das Auge, das K. so gesehen hat? Mit der Rede von den „landvermesserischen Arbeiten“ unterstellt der Brief als wirklich, was nicht existiert. Seine Aussagen beziehen sich auf Nichtbestehendes und Nichtgeschehenes, verhandeln solches, das allein in diesem Brief, seiner Replik auf Ansprüche K.s gegenwärtig ist. Bloße Vorstellung, Phantasie also, die hier am Werk war, Imaginäres erbringt, die Fiktion einer Arbeit erzeugt, die realiter gar nicht unternommen wurde. 4. Wünsche, Aktenlage, Probleme einer Bestallung Bezieht die Imagination von K.s „landvermesserischen Arbeiten“ sich ihrerseits auf eine Fiktion - dass K. nämlich gar nicht ist, was zu sein er behauptet, bzw. was jenes Berufungsschreiben ihm zuspricht? K. gibt im Gespräch am ersten Abend im Brückenhof vor: „Meine Gehilfen mit den Apparaten kommen morgen im Wagen nach“ (9). Freilich trifft nie ein, was ihn zweifellos als Landvermesser ausweisen würde. Stehen also den Imaginationen, wie sie im Feld von Dorf und Schloß kenntlich wurden, K.s eigene imaginäre Vorstellungen gegenüber, mischt dessen Spiel mit fiktiven Wünschen sich ein in das Gewebe, welches sich nicht zuletzt in den Kommentaren des Dorfvorstehers abzeichnet? Folgt K.s Ansinnen, „als kleiner Landvermesser bei 6 Libuse Monikova: Schloß, Aleph, Wunschtorte . Essays . München, 1990. 70. Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 179 einem kleinen Arbeitstisch ruhig zu arbeiten“ (107) schlicht der Absicht, sich in dieser Gegend reputabel zu installieren, mit einer Profession, welche einen eigenen Überblick über das Ganze ausübt? Allerdings: Die Imaginationen, mit denen K. im Brief und in den Reden des Dorfvorstehers konfrontiert ist, werden sich, so wird kenntlich werden, als entschieden wirkungsvoller erweisen. Zunächst freilich ist K. einer Erzählung des Vorstehers ausgeliefert. Der Dorfvorsteher berichtet von einem „Erlaß“ der Schloßbehörde - „von welcher Abteilung“, ist ihm nicht mehr erinnerbar - „daß ein Landvermesser berufen werden solle und der Gemeinde aufgetragen war, alle für seine Arbeiten notwendigen Pläne und Aufzeichnungen bereit zu halten“. Freilich war das „vor vielen Jahren“, so konnte „der Erlaß“ „natürlich nicht“ K. „betroffen haben“ (96). Es bestehe aber ein Akt darüber, er trage „das Wort ‚Landvermesser‘ blau unterstrichen“ (97). In der Stube des Vorstehers wird sogleich eine Suche nach der Akte gestartete. Wozu freilich? Keineswegs handelt die Akte von K. Die Suche bleibt auch ergebnislos. Nicht minder eigentümlich sind weitere Erläuterungen des Vorstehers. Der größte Teil dieses Akts sei sowieso, wie der Vorsteher weiß, im Verkehr mit der Schloßbehörde entschwunden, es kam „nur ein Aktenumschlag an, auf dem nichts weiter vermerkt war, als daß der […] leider in Wirklichkeit fehlende Akt von der Berufung eines Landvermessers handle“ - was zudem nicht an die „ursprüngliche Abteilung“, sondern „irrtümlicherweise an eine andere“ gelangte (100). In den Vorgängen wird Sordini von der Schloßbehörde, der im Fortgang mit der Angelegenheit befasst ist, erklären, es „existiere“ überhaupt keine den „Erlaß“ betreffende „Zuschrift“, also auch nicht diese. Dem habe er, so erinnert der Vorsteher, entgegengehalten, die Zuschrift bestehe allein deshalb nicht, weil sie mit dem Akt verloren gegangen sei (103). Überdies habe man damals die Schloßbehörde wissen lassen, „dass für einem Landvermesser […] kein Bedarf sei“ (102). Was teilen diese Erinnerungen des Vorstehers in aller Komik mit? Worum es in den Begebenheiten geht, bietet über das vorgeführte Zeugnis solcher Amtsprozeduren hinaus ein Bild sich entziehender Geschehnisse und nicht identifizierbarer Gegebenheiten. Was eigentlich war der Fall in dem Gewebe, das der Vorsteher in der Weise seiner Erinnerung vorträgt - im Schwund des „Akts“, worin der Vorsteher nicht zu entscheiden weiß, ob „er auf dem Weg verloren gegangen“ ist oder ob der „Akteninhalt“ bei ihm „zurückgeblieben“ sei (100)? Was war, was ist der Fall? Widmet K. auch deshalb, angesichts solcher Unentscheidbarkeiten dem Brief Klamms intensivste Lektüre? Mit ihr gelangen weitere Charakteristika der hier waltenden Gegebenheiten in den Blick, exemplarisch in den „Widersprüchen“ und Mehrdeutigkeiten, die K. entdeckt. Kann nämlich in der Widersprüchlichkeit der Aussagen („Freier“ versus „Arbeiter“) nur eine Aussage auf wahrhaft Gegebenes Bezug nehmen, muss die alternative Aussage imaginär sein. Wird jedoch unentscheidbar, bei welchen der Aussagen dies jeweils der Fall ist - welche sich also auf faktisch Bestehendes bezieht, welche von nur Vorgestelltem handeln - präsentiert Wirklichkeit sich in solcher Rede als unlösbares Gewirk von Imaginärem, das beansprucht, faktische Gegebenheiten darstellen, verwoben mit faktisch Wirklichem, das im Verdacht steht, imaginär zu sein. Das Ineinander verflüchtigt die Identität der Dinge, lässt zweifelhaft werden, was etwas in Wahrheit ist. Severin Müller 180 Im Gewirk von Faktizität, Imagination und verschwimmender Identitäten, im Spielfeld solcher Vorgänge zerfällt der Zusammenhang des Wirklichen in dessen gängiger Auffassung. In eins wird, was in ihr als gültig und bedeutsam angesehen wurde, desorientiert. Die Phänomene bestimmen die von Kafka gezeichnete Realitätsart imaginären Wirklichseins, sie bekunden mehr noch den spezifisch imaginären Charakter dieser Welt in näherem Sinne. Sind die Phänomene dem „Schloß“ zuzuschreiben - oder ist, was an Verwirrung entgegentrat, im Blick auf dessen „Behörde“ als Desorientierung begegnete, auch durch Sicht- und Verstehensweisen des Dorfes, so durch den „Vorsteher“ bestimmt? 7 5. Im Spiegel des Dorfs: Geschäftsgang einer „Behörde“ Die notierten Phänomene sind gegenwärtig im Auge K.s, aber auch in Berichten und Kommentaren des Dorfes, damit in einem Spiegel von eigentümlicher Optik. Wie die Optik funktioniert, gelangt in den Ausführungen des „Vorstehers“ zu deutlicherem Vorschein. Es muss, so wird K. belehrt, die von ihm beklagte, angebliche Wirrnis angemessen betrachtet werden: In einer so großen Behörde wie der gräflichen kann es einmal vorkommen, daß eine Abteilung dieses anordnet, die andere jenes, keine weiß von der andern, die übergeordnete Kontrolle ist zwar äußerst genau, kommt aber ihrer Natur nach zu spät (96). Stets jedoch sind es, wenn denn in dieser „großen Behörde“, in der Vielzahl ihrer Abteilungen und Büros etwas fehlläuft, „nur winzigste Kleinigkeiten“ (96). Zudem, so lässt Kafka vom Vorsteher vortragen, wäre ein „Arbeitsgrundsatz der Behörde, daß mit Fehlermöglichkeiten überhaupt nicht gerechnet wird.“ Und das sei durchaus „berechtigt durch die vorzügliche Organisation des Ganzen“, überdies auch „notwendig, wenn äußerste Schnelligkeit in der Erledigung erreicht werden“ solle (104). Unmerklich lösen die Erläuterungen des „Vorstehers“ auf, was K. als Mängel erfahren hatte, minimalisiert sich die aufgetretene Wirrsal. Die Mängel zeigen sich am Ende, in Rücksicht auf die Vorzüglichkeit dieser Behörde als Bagatellen. Freilich: In der Klärung, welche der „Vorsteher“ K. zuteil werden lässt, erweist die bedächtig beschriebene Anstalt sich zunehmend als befremdliches Gebilde. So wirken und wachen in ihm nicht nur „Kontrollbehörden“, sie besteht vielmehr, wie der „Vorsteher“ erklärt, überhaupt nur aus diesen (104). Allerdings, lässt der „Vorsteher“ weiter wissen, sind sie „nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor und selbst wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf dann sagen, daß es ein Fehler ist“ (104), schon wegen der unvergleichlichen „Strenge“, „welche die Behörde gegen sich selbst anwendet.“ (104). Gewiss: Hochgradige Satire, die Kafka in solchen Ausführungen veranstaltet. 7 Dazu auch, im detaillierten Vergleich mit Nietzsches Konzept des Imaginären (wie der ihm verbundenen Bestimmungen seiner Produktion und Wirkungen, so seiner Bestimmung von „Interpretation“): Ch. Meese: Wirklichkeit als Schein und Deutung im Werke Franz Kafkas und Friedrich Nietzsches . Würzburg, 1999. Darin zum Schloß : 195-292. Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 181 In ihr aber wird in eins fassbar, wie der Spiegel wirkt. Seine Optik rückt zurecht, will die Behörde in einem Bild reiner Makellosigkeit aufscheinen lassen. Bild einer Behörde freilich auch, worin unermüdliche Sorgfalt, Umsicht und Genauigkeit der Arbeit durchkreuzt werden vom Lineament einer Organisation, deren Ratio in der Absurdität der Geschäftsgänge nicht zu ermitteln ist - darin zu stets neuen Erläuterungen ihrer Perfektion führt, Einwänden in nicht nachlassenden Immunisierungsverfahren entgegentritt, so im Vorwurf gegenüber K., er sei „noch weit entfernt vom Verständnis für die Behörde“ (107). 8 Der Vorwurf enthält auch eine Forderung: Es in diesem „Verständnis“ weiter zu bringen. In der Hinsicht geht es in den Ausführungen des Vorstehers gewiss nicht nur darum, die Schloßbehörde als makelloses Gebilde darzubieten. Die Eindringlichkeit der Erklärungen ist auch von der Absicht durchzogen, K. in diese Sichtweise einzuführen, ihn einzubinden in diese Auffassungsart. 6. Leere Arbeit, Nachahmung, Entfernung Für die Arbeit dieser Behörde und die ihr zugewiesenen Qualitäten aber ist zunächst fest zu halten: In deren Geschäftsgängen wird rastloser Eifer vermutet - was sonst sollte den Auskünften über das Arbeitszimmer des Schloßbeamten Sordini entnommen werden, der sich der Vorgänge um die frühere Berufung eines Landvermessers eigens annimmt? Es ist dem Vorsteher „so geschildert worden, daß alle Wände mit Säulen von großen, aufeinander gestapelten Aktenbündeln verdeckt sind, es sind dies nur die Akten die Sordini gerade in Arbeit hat, und da immerfort den Bündeln Akten entnommen und eingefügt werden, und alles in großer Eile geschieht, stürzen diese Säulen immerfort zusammen und gerade dieses fortwährend kurz aufeinander folgende Krachen ist für Sordinis Arbeitszimmer bezeichnend geworden“ (106). Was wird gearbeitet im unablässigen Tumult solcher Arbeit? Dem „kleinsten Fall“, nämlich dem K.s, sagt der Vorsteher, „widmet er die gleiche Sorgfalt wie dem größten“ (106). Freilich besteht der „Fall“ K.s, genau betrachtet, aus einem Fehllauf der Behörde, ist von dieser selbst erzeugt. 9 Was nun verwaltet diese Behörde, worin besteht ihr Zweck? Davon spricht der Roman kaum - und wenn es geschieht, sind die Auskünfte seltsam, lassen, was sie erklären sollen, diffus und ungeklärt. Momus, der „Dorfsekretär“ Klamms, weilt im Dorf, um für die „Klammsche Dorfregistratur eine genaue Beschreibung des […] 8 In einer gestrichenen Textpassage, bemerkenswert auch im Hin und Her ihrer internen Korrekturen - Franz Kafka: Das Schloß. Apparatband. Hg. M. Pasley, Frankfurt, 2 1983. 210f. - gilt die verschwimmenden Identität, wie der Vorsteher selbst erklärt, auch für die von ihm gebotenen Erläuterungen: „‚Gewiss‘ sagte der Vorsteher, ‚amtlich habe ich nicht mit Ihnen gesprochen, man kann es etwa halbamtlich nennen.[ ] Sie [über]<unter>-schätzen [Herr L] das [<Nicht> ] Amtliche wie ich schon sagte, aber Sie unterschätzen [es] auch das <Amtliche>.“ 9 Und Sordini muss am Ende seiner Recherchen nach jener „Landvermesser-Akte“ „erkennen, dass er in diesem Fall nicht zuständig gewesen war und, freilich schuldlos, so viele unnütze nervenzerrüttende Arbeit geleistet hatte.“ (111). Severin Müller 182 Nachmittags zu erhalten“ (180). Klamm wird sie aber nicht lesen, weil er „überhaupt keines“ diese Protokolle liest, wie Momus berichten kann: „‚Bleibt mir vom Leib mit Euren Protokollen! ‘ pflegt er zu sagen“ (182). Steht gleichwohl der Gedanke penibler Überwachung des Dorfs im Hintergrund - Überwachung freilich, worin das Dorf sich vom „Schloß“ beachtet fühlen, sich in dessen Bedeutung einbezogen sehen kann? Oder erfolgt auch darin nur scheinhaftes Tun, illusionärer Betrieb? Nicht allein diese Frage bleibt ungelöst. Schon in ihr begegnet eine bemerkenswerte Leerstelle - nicht die einzige des Romans, wie sich zeigen wird. Bemerkenswert ist die Leerstelle auch deshalb, weil ihrer Unbestimmtheit die unbeirrbare dörfliche Überzeugung von der eminenten Wichtigkeit dieses Betriebs gegenüber steht, verbunden mit entsprechenden Versuchen, an diesen Geschäftsverläufen teilzuhaben bzw. solche nachzuahmen, in ihrerseits illusionären Aktionen, 10 in Handlungen von nicht erschließbarem Inhalt und Zweck, darin mit überbordendem Aktenausstoß - eine Leerstelle, die so als Spielfeld und Spiegelfläche vielfacher Vorstellungen walten kann. Konsequent erklärt der „Vorsteher“, als er bei sich nach jener Akte suchen lässt - die „Papiere bedeckten schon den halben Boden“ -: „Viel Arbeit ist geleistet worden“. Wovon handeln die Schriftstücke? Von ihnen ist zudem festzustellen: „Die Hauptmasse habe ich in der Scheune aufbewahrt und der größte Teil ist allerdings verloren gegangen. Wer kann das alles zusammenhalten? “ (97). 11 Mit der Leere und Unbestimmtheit solcher Geschäftsverläufe verbindet der Roman ein weiteres Charakteristikum. „Sie sind noch weit entfernt vom Verständnis für die Behörde“ (107), musste K., wie schon erwähnt, sich vom Vorsteher sagen lassen, nach umstandsreicher Schilderung dieses Betriebs. Der aber rückt in den Schilderungen, den in ihnen unermüdlich gegebenen Minimalisierungen möglicher Defizite ins nicht Fassbare, was immer K. an präzisierenden Nachfragen bereithält. Exemplarisch begegnet der Zug ins nicht Fassbare mit der Erläuterung, die der Vorsteher dem vorgelegten Schreiben Klamms widmet: „Ein Privatbrief Klamms hat natürlich viel mehr Bedeutung als eine amtliche Zuschrift, nur gerade die Bedeutung die Sie ihm beilegen hat er nicht“ (115). Welche Bedeutung eignet ihm dann? Das wird nicht gesagt, verbleibt im Unbestimmten - schon deshalb, weil man „Äußerungen des Schloßes nicht 10 Z.B. wird der Lehrer über das Gespräch beim Vorsteher, nachdem dessen Belehrung bei K. auf keinen fruchtbaren Boden fiel, „ein kleines Protokoll“ aufsetzen, nach dem „Diktat“ des Vorstehers. Er hat „daraus über die Güte des Vorstehers und über die Art ihrer [K.s] Antworten genug erfahren.“ Nach Rückfrage K.s zum Charakter der Besprechung: „War es denn eine amtliche Handlung? “ erwidert der Lehrer „Nein […] eine halbamtliche, auch das Protokoll ist nur halbamtlich, es wurde nur gemacht, weil bei uns in allem strenge Ordnung sein muß.“ (143). 11 Entsprechend die Szenerie, als beim Vorsteher nach dem Schreiben des „Schloßes“ gesucht wird, das in der Tat von der Berufung eines Landvermessers. Mit den aus dem Schrank im Zimmer verstreuten Schriftstücken und Akten nämlich wird wie folgt verfahren: Die Gehilfen und Mizzi, die Frau des Vorstehers hatten „alles wieder in den Schrank sperren wollen, aber es war ihnen wegen der Überfülle der Papiere nicht gelungen. Da waren wohl die Gehilfen auf die Idee gekommen, die sie jetzt ausführten. Sie hatten den Schrank auf den Boden gelegt, alle Akten hineingestopft, hatten sich mit Mizzi auf die Schranktüre gesetzt und suchten jetzt so sie langsam niederzudrücken.“ (112f.). Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 183 wortwörtlich hinnehmen darf“ (118). Schritt um Schritt entziehen die Ausführungen des Vorstehers „Schloß“ und „Behörde“ gängiger Bestimmbarkeit. Kafka vergegenwärtigt den Vorgang eigens, bezeichnend visualisiert, im Blick auf eine konkret optische Wahrnehmung K.s: „Das Schloß, dessen Umrisse sich […] aufzulösen begannen, lag still wie immer […] das frühe Dunkel, je länger er hinsah, desto weniger erkannte er, desto tiefer sank alles in Dämmerung“ (156f.). In welchem Maße „Schloß“ und „Behörde“ ins Unbestimmte entrückt werden, zeigen weitere Erklärungen des Vorstehers. Sie folgen einer bezeichnenden Linie: Sie lassen wissen, was von der Behörde nicht gesagt werden könne und dürfe, bieten demgegenüber keinerlei Auskünfte, was denn in Wahrheit der Fall sei. Es waren also, eröffnet der Vorsteher, alle „diese Berührungen“ mit der Behörde, die K. vorbringt, „nur scheinbar“: „Sie aber halten Sie infolge Ihrer Unkenntnis der Verhältnisse für wirklich“ (115). Welche Berührung mit dem „Schloß“ ist es dann, welche Verbindung hat der „Vorsteher“ im Sinn, der „doch wahrlich“, wie er von sich selbst sagen kann, „genug mit den Behörden zu tun“ hat (115), sich zu den Eingeweihten zählt? Endgültig wird das Ausmaß der Entrückung an einer (wiederum eminent erheiternden) Wendung deutlich. Im „Schloß“ werde, erklärt der Vorsteher, wie man ihm berichtet habe, „ununterbrochen telefoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt“. Die Telefonate höre man „in den hiesigen Telefonen als Rauschen und Gesang.“ Beides aber sei das „einzig Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telefone übermitteln“, alles andere „trügerisch“ (116). „Es gibt“, so sagt er, „keine bestimmte telefonische Verbindung mit dem Schloß“ (16). Der Vorsteher behauptet die Verbindung als Schein, schließt eine weitere Erläuterung an, die das Telefon als Exempel nicht feststellbarer Identität darbietet: „Ich begreife auch nicht wie selbst ein Fremder glauben kann, daß wenn er z.B. Sordini anruft, es auch wirklich Sordini ist, der ihm antwortet“ (116f.). Der Vorsteher begreift nicht, dass man diese Unbestimmtheit nicht begreift, und bekundet so sein Einverständnis. Ein Einverständnis, wie sich zeigen wird, mit alle dem, was der „Schloßbehörde“ an Bedeutung und Gewicht zugewiesen, was ihr an entsprechenden Erläuterungen gewidmet wird. Die Behörde wird hierbei am Ende entrückt in „Rauschen und Gesang“. In dem Einverständnis aber wirkt die Leerstelle als Vexierspiegel, worin unentscheidbar wird, was in den Erläuterungen von der „Schloßbehörde“ selbst ausgeht, von dieser veranlasst und in Gang gesetzt wurde, was dörflich von ihr vermutet, was ihr zugeschrieben wird und was ihr nicht zugeschrieben werden darf. 7. Frieda und der Herrenhof: Eigenarten einer Annäherung Bei dem Gespräch mit dem „Vorsteher“ aber hatte K. schon einen eigenen Zugang zu Klamm, und damit zum „Schloß“ gesucht, und zwar über Barnabas, den Boten. In seiner Begleitung gelangt er freilich nicht dorthin, wohin zu gelangen er hofft, sondern nur zu dessen Familie. Immerhin: Mit Olga, einer der Schwestern, kommt er zum „Herrenhof“. Dort jedoch darf er nur bis zum „Ausschank“, nicht weiter, denn, so unterrichtet ihn der Wirt, „Sie scheinen es noch nicht zu wissen, das Haus ist Severin Müller 184 ausschließlich für die Herren vom Schloß bestimmt“ (56). Ein Außenposten, der die Unzugänglichkeit des „Schloßes“ in seiner Weise wiederholt, zugleich eine Schnittstelle von Dorf und Schloß. Im „Ausschank“ aber ergibt sich für K. eine entscheidende Begegnung. Er trifft auf „Frieda“, die hier Dienst tut: „Ein unscheinbares kleines blondes Mädchen mit traurigen Zügen und mageren Wangen,“ dazu allerdings mit einem „Blick von besonderer Überlegenheit“ (59f.). Woraus der sich speist, wird K. bald erfahren: „Ich bin doch seine Geliebte“, eröffnet sie ihm, die Geliebte Klamms nämlich. Da sei sie, wie K. ihr sofort erwidert, „eine sehr respektable Person“. Friedas Antwort ist mehrfach aufschlussreich: „Nicht nur für Sie“ (60). Sie bestätigt die ihr zugesprochene Bedeutung, die aus dem Verhältnis erwächst, sich aus ihrer Teilhabe am „Schloß“ ergibt. Und sie bekräftigt: Nicht allen im Auge K.s sei es so, sondern, wie ihre knappe Replik andeutet, bei allen, die um diese Dinge wissen. In welchem Grade K. dies erfasst, zeigt sein weiteres Vorgehen. Umstandslos wird ihm ihre entstandene Zuneigung zum Mittel. Sie wird noch diese Nacht seine Geliebte, und K. ist überzeiugt, ein wichtiges Ziel erreicht, auf diesem Weg den Zugang zu Klamm gewonnen zu haben. 12 Das erweist sich bald als Täuschung, nicht zuletzt deshalb, weil Klamm im Nebenraum residiert. Als spätnächtlich aus Klamms Raum „mit tiefer befehlend-gleichgültiger Stimme“ nach ihr gerufen wird, ruft sie zurück: „Ich bin beim Landvermesser! Ich bin beim Landvermesser! “ (69). Dementsprechend K.s trüber Kommentar: „Was konnte er nun von Frieda erwarten, da alles verraten war? “ (69f.). Frieda tut ihren Wechsel kund, man wird ihn noch eigens kommentieren. Hat auch sie selbst einen Hintergedanken: Den, mit K. aus dieser Welt von Dorf und Schloß ausbrechen zu können? Sie spricht mehrfach davon. 13 Freilich geht es ihr auch um Besitznahme. Sie setzt K., den sie unterm Ausschank versteckt hat, „ihren kleinen Fuß auf die Brust“, ehe sie sich zu ihm begibt (67). Rückt er in solcher Besitznahme ein in diese Welt von Dorf und Schloß? In dieser Nacht wird K. an ihrer Seite, in der Situation intimster Nähe in tiefe Andersheit und Ferne gezogen. Er hat „in den Stunden […] gemeinsamen Atmens, gemeinsamen Herzschlags […] immerfort das Gefühl […] er verirre sich oder sei soweit in der Fremde wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft“ hatte (69). Wohin er geraten ist, zeigt sich am nächsten Morgen in einem Gespräch. In ihm gelangen, nach den bislang sichtbar gewordenen einzelnen Elementen, maßgebende Züge dieser Welt, der ihr eigenen imaginären Realität und des besonderen Charakters solcher Imaginationen zur Sprache. 12 Dass sie für K. nur Mittel zum Zweck gewesen sei, wird Frieda K. nach der Trennung detailliert entgegenhalten (vgl. Kap. 14). - Eine verworfene Variante formuliert den Sachverhalt in direkter Deutlichkeit: „Nur aus Berechnung schmutzigster Art hat K. sich an Frieda herangemacht und wird nicht von ihr lassen, solange er noch irgendwelche Hoffnung hat, dass seine Rechnung stimmt. Er glaubt nämlich, in ihr eine Geliebte des Herrn Vorstandes erobert zu haben und dadurch ein Pfand zu besitzen, das nur zum höchsten Preise ausgelöst werden kann.“ (Franz Kafka. Das Schloß. Apparatband . 273). 13 So in Kapitel 12: „Von Klamm ist hier ja eine Überfülle, zu viel Klamm; um ihm zu entgehen, will ich fort.“ (216); ebenso 398f. Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 185 8. Wirtin und Enthobenheit Klamms An dem Morgen verlässt Frieda mit K. den „Herrenhof“, um beim „Brückenwirt“ eine Unterkunft zu finden. Dort kommt es zu einem denkwürdigen Gespräch mit der Wirtin. In ihm offenbart sich Friedas enge Beziehung zu dieser Frau, sie wird sie zwischendurch sogar mit „Mutter“ anreden - „Gardena“ ist ihr Name, nicht minder aufschlussreich als der Name „Klamm“: Ihr Name deutet darauf, dass sie etwas zu hüten hat. Denkwürdig aber ist das Gespräch vor allem in der Wendung, die es nimmt. K. eröffnet der Wirtin zunächst, Frieda heiraten zu wollen, so bezeichnet die Wirtin ihn als „Ehrenmann“, bekundet ihm ihre „Achtung“, fügt jedoch hinzu, er wäre allerdings „ein Fremder“ und könne „sich auf niemanden berufen“, „Sicherungen“ seien „also nötig“, er wisse zudem selbst, „wieviel Frieda durch die Verbindung mit ihm […] verliere“ (77f.). So stehen Erwartungen im Raum, mit ihnen, was in der Gemeinschaft dieser Welt angemessen sein mag und der Verlust, den Frieda im Weggang von Klamm erleide. Gardena wird ihn gleich deutlicher erläutern - es hat das Gespräch sich inzwischen auch gewendet: „Hören Sie Herr Landvermesser. Herr Klamm ist ein Herr aus dem Schloß, das bedeutet schon an und für sich sehr viel, ganz abgesehen von Klamms sonstiger Stellung, seinem sehr hohen Rang. Was sind nun aber Sie“ (79f.). Der Schlusssatz, nicht fragend, sondern als Feststellung gesagt, lässt unverholen wissen, welch ein Abstand zwischen ihm und Klamm walte. Freilich ist die Distanz noch zurückhaltend charakterisiert. Ihr volles Ausmaß wird in weiteren Äußerungen ans Licht kommen. Die Wendung aber, worin die Wirtin K. augenblicklich ihre „Achtung“ entzieht, hat dieser selbst veranlasst, durch seine Erklärung, „vor der Hochzeit“ noch unbedingt Klamm sprechen zu wollen, und wenn das nicht gelänge, solle Frieda es tun (78). Schon am Grad der Erregung, den das Ansinnen hervorruft, wird vermutbar, es müssten Rang, und Bedeutung Klamms noch entschieden höher sein, als bislang angesprochen. „‚Ich kann nicht, ich kann nicht,‘ sagte Frieda, ‚niemals wird Klamm mit Dir reden […] nicht mit Dir, nicht mit mir, es sind bare Unmöglichkeiten.‘ Sie wandte sich an die Wirtin mit ausgebreiteten Armen: ‚Sehen Sie doch nur, Frau Wirtin, was er verlangt‘“ (78). Die Wirtin teilt Friedas Erregung: „Nun aber stellen Sie sich eigentlich vor, was Sie verlangen. Ein Mann wie Klamm soll mit Ihnen sprechen.“ (80) Weshalb die Empörung - in welchen Höhen denn siedelt Klamm? Sie müssen beträchtlich sein, blickt man auf folgende Klage der Wirtin: „Und nur eines, nur eines kann ich nicht verstehen mit meinem armen Kopf, daß ein Mädchen, von dem man sagt, es sei Klamms Geliebte […] sich von Ihnen auch nur berühren ließ“ (81). Beträchtlich auch, sieht man auf den Nachsatz, den die Wirtin ihrer Feststellung - „Was sind nun aber Sie“ - folgen lässt: „Sie sind nichts“ (79). Beträchtliche Höhen schließlich deshalb, dass K., wie die Wirtin noch erläutert, „ja gar nicht imstande“ wäre, Klamm „wirklich zu sehen“, sie selbst sei es auch nicht (80). Severin Müller 186 9. Wahrnehmung, imaginäre Entrückung, Totalität der Imagination Das überrascht endgültig, öffnet aber den Einstieg ins Innere dieser Realität des Imaginären. Durchaus nämlich hat K. Klamm schon gesehen, durfte ihn betrachten, weil Frieda im Herrenhof ein Guckloch öffnete. Und dies sah er: Ein mittelgroßer, dicker, schwerfälliger Herr. […] Der schwarze Schnurrbart war lang ausgezogen. Ein schief aufgesetzter, spiegelnder Zwicker verdeckte die Augen […] die rechte Hand, in der er eine Virginia hielt, ruhte auf dem Knie. Auf dem Tisch stand ein Bierglas (60). Der Passus erinnert nicht zufällig an den Blick K.s, auf das „Schloß“. Wiederum begegnet in der Vergegenwärtigung dessen, was K. sieht, ein Beispiel differenziert notierender Wahrnehmung. Mit ihr wird das Bild eines Herrn gegenwärtig, der nach seinen Amtsgeschäften behaglich ruht, würdig, keineswegs aber von der Enthobenheit, wie Frieda und Wirtin dies nahe legten. Dazu aber ist zu fragen: Weshalb sollte K. ihn nicht „wirklich“ sehen? Liegt es daran, dass K., „einer,“ wie die Wirtin nun deutlich sagen muss, „einer, der unsere liebe kleine Frieda verführt hat“ (80), dass K. also „hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse entsetzlich unwissend“ ist (90)? Ist K. denn nicht, wie seine Erwägungen mit der Fähigkeit klaren Urteilens und kritischen Nachdenkens versehen? 14 Dennoch wird er als „entsetzlich unwissend“ beurteilt „hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse“. Deshalb kann Gardena auch klagen: „Mit Schmerz habe ich gehört, daß Frieda Sie hat durch das Guckloch sehen lassen“, schon da „war Sie von Ihnen verführt“ (80). Will sie andeuten, das sei die wahre Verführung gewesen - diesen Einblick zu ermöglichen? Worum es demgegenüber Wirtin und Frieda (und nicht nur den beiden) geht, offenbart die Eigenart der Erhabenheit Klamms, in ihm die Enthobenheit des „Schloßes“ und seiner „Behörde“. So bezieht sich die Wirtin im Wort von K.s entsetzlicher Ignoranz auf etwas, das von dem Wissen, das K. besitzt, nicht erreicht werden kann, ihm unvergleichbar sein soll. Was ist es, worin besteht dessen Unvergleichbarkeit? „Es ist gewiss so“, sagt Frieda im Gang dieses Gesprächs, „Klamm will nichts mehr von mir wissen. Wohl aber glaube ich ist es sein Werk, daß wir uns dort unter dem Pult zusammengefunden haben, gesegnet, nicht verflucht sei die Stunde“ (83f.). Friedas Bekenntnis unterstellt, was geschehen ist, ganz und gar dem Walten Klamms, übereignet, was eigentlich ihr (und K.) zugehört, dessen Macht. Zeichnet der Roman Klamm denn wie jemanden, der, seine „Virginia in der rechten Hand“, solches veranstalten kann? Frieda aber schreibt ihm zu, was ihre Begegnung mit K. eigentlich bedeutet. So sind wir mit Friedas Rede Zeugen, wie Phantasie auf den Plan tritt, Imaginäres sich bildet, sich spezifisch formiert und inszeniert. In ihrem Bekenntnis - „gesegnet, nicht verflucht 14 In einem verworfenen, hier zugehörigen Passus spricht die Wirtin dies ausdrücklich an: „Die Wirtin seufzte ‚Was sind Sie für ein Mensch’ sagte sie, ‚scheinbar klug genug, aber dabei bodenlos unwissend.‘“ Klugheit freilich, die für die Wirtin, eben im Imaginationszusammenhang von Dorf und Schloß, ihrerseits als Schein bewertet wird. Konsequent offenbart die Wirtin in dem Passus zum Weiteren: „Wie weise ist es eingerichtet, dass Sie niemals die Möglichkeit haben werden mit Klamm zu reden.“ (Franz Kafka. Das Schloß. Apparatband 224f.). Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 187 sei die Stunde“ - wird ihr Zusammensein unterm Ausschank imaginär überhöht, weil es von Klamm her gedeutet wird, aus dessen umfassender Bedeutung sich nährt. Woher stammt dessen Bedeutung? Ihr Ausmaß übersteigt die fassbare Person Klamms aufs Entschiedenste. Woraus resultiert sie? Die vorangegangen Phänomene und Geschehnisse legen einen Schluss nahe: Sie ist ihrerseits phantasiert und imaginär, wurde Klamm zugewiesen, auf ihn projiziert. Eine Projektion, die Frieda unternimmt, darin aber auf schon geschehene zurückgreift, schon unternommene bestätigt, mit diesen den entscheidenden Vorgang wiederholt und fortführt: Klamm in imaginäre Realität zu verwandeln, in dieser Realität aber die wahrhaft wirkliche, die einzig bedeutsame Realität zu behaupten, diesen Imaginationszusammenhang als alleinig gültigen darzubieten. Eine imaginäre Realität, welche zurückstrahlen soll, die erlaubt, sich in der der projizierten Bedeutung zu spiegeln, teilhaben lässt an der entworfenen Überhöhung. In ihren Imaginationen durchwirken Projektion und Spiegelung das Spannungsfeld von Dorf und Schloß, bilden in ihm eine Topographie des Scheins und der imaginären Bedeutungen. Die Topographie positioniert, wer im Spiegel des Schloßes was ist, was jemand also darstellt in der Gemeinschaft des Dorfes. Im Blick auf dessen Lage und Verhältnisse wird ein Grund für Entstehung, Ausfaltung und Installation jener Imaginationen kenntlich, wird eine einsehbar authentische Bedingung imaginärer Realität und deren Genese sichtbar: Aus der Armseligkeit und Abgelegenheit dieses Dorfes, seiner faktischen Gegebenheiten, seiner Zustände und Verhältnisse, wie Kafkas Roman es vorführt, heraus- und in eine bedeutungsvollere Wirklichkeit einzutreten. Deutlich wird damit auch eine maßgebende Bedingung dafür, weshalb dieser Imaginationszusammenhang seine Bedeutung und Geltung erlangen kann - Eigenarten, die, gerade auch in ihren Konsequenzen, noch zu betrachten sein werden. 10. Imaginäre Erhöhung: Projektion und Leere Worin aber besteht die Bedeutung Klamms? Dazu vorab Gardena: Dass „er Frieda manchmal rief, muß gar nicht die Bedeutung haben, die man dem gerne zusprechen möchte […] wer kennt seine Absichten? “ (81). Die Überlegung erläutert die Unvergleichbarkeit Klamms: Was er darstellt und tut, darf nicht aus üblich Bekanntem begriffen, nicht darauf zurückgeführt werden, ist gängiger Logik entzogen -- „er rief einfach den Namen Frieda“, dass sie dann „ohne Widerspruch zu ihm eingelassen wurde, war Klamms Güte“ (81). Wenn er sie rief, weshalb hätte er denn Widerspruch einlegen sollen, weshalb war der Einlass dann „Güte“? Klamms Bedeutung hat von solchen Bestimmungen, auch Forderungen logischer Stimmigkeit frei zu bleiben. So eben vermag die ihm zugewiesene Bedeutung allem enthoben zu sein, weil sie als solche leer ist. Eine Leerstelle also, wie sie schon in Hinsicht auf die Arbeit der Behörde begegnete. In der Leere aber, nicht zum wenigsten in ihrer Entfernung von Erfordernissen einsehbarer Stimmigkeit und Plausibilität ist diese Bedeutung zugänglich für alles nur Mögliche, auch Widersprüchliches und Gegensätzliches. Die Bedeutung Klamms aber teilt sich allem weiteren mit. Exem- Severin Müller 188 plarisch, was die Wirtin K. über Momus zu sagen weiß: „Bedenken Sie, dass Klamm ihn ernannt hat, daß er im Namen Klamms arbeitet, daß das was er tut, wenn es auch niemals zu Klamm gelangt, Klamms Zustimmung hat“ (183). 15 Inszeniert Kafka im Geschehen der phantastischen Erhöhung ein Stück Personenkult? Unverkennbar ist Klamm die maßgebende Bezugsfigur für die Vorgänge - dies allerdings als zentraler Repräsentant des Schloßes und seiner „Behörde“, und darin nicht einziger Adressat der Prozesse. Imaginationen und Projektionen gelten weiteren Akteuren, so den „Dorfsekretären“ als direkten Abgesandten, gelten am Ende dem Schloß im Ganzen. 16 Gleichermaßen ist nicht nur Klamm Thema jener vielfältigen Gespräche, die um das „Schloß“ kreisen. „Werden Schloßgeschichten erzählt? […] Es gibt hier Leute, die sich von solchen Geschichten nähren, sie setzen sich zusammen und traktieren sich gegenseitig“ (323), bemerkt Amalie, Olgas Schwester - und es sind nicht nur einige, die der Beschäftigung obliegen. Wie nun hatte K. es erblickt, „aus Dorfhäusern zusammen getragen“? Sollte es, im Anblick des Dorfes, eben nicht nur daraus bestehen? So waltet das „Schloß“ im Ganzen, über die Figur Klamms hinaus, als Bezugspol aller jener Projektionen, als Projektionsfläche aller Imagination des Dorfes. „‚Zwischen den Bauern und dem Schloß ist kein Unterschied‘, sagte der Lehrer“ (20) zu K. Was besagt die vorgewiesene Identität? Offenbart der Lehrer, dass das eminente Ansehen des Schloßes maßgebend vom Dorf selbst erzeugt wird, keineswegs allein vom Schloß hervorgerufen wird? Ob dessen unvergleichbare Bedeutung ausschließlich aus dem Dorf stammt, scheint im Blick auf den Text dieses Romans Kafkas nicht entscheidbar. 17 Bemerkenswert ist freilich, dass signifikant viele Aussagen zur Bedeutung des „Schloßes“ von Dorfbewohnern vorgetragen werden. Aussagen, denen wiederum Auftreten und Habitus der Beamten entsprechen, welche im „Herrenhof“ gegenwärtig sind, herrschaftlich sich umtun und wirken. 18 In Hinsicht auf das Dorf aber ist unverkennbar: Es errichtet jenen Spiegel, 15 Deshalb führe auch, so Gardena, der einzige Weg zu Klamm „durch die Protokolle des Herrn Sekretär“ (177). 16 So berichtet Olga aus der Familie Barnabas, der doch (wie noch eigens anzusprechen sein wird) ganz anderes widerfahren ist, vom „Schloß“ und dessen „höheren Dienern“, es solle, wie sie gehört hat, „ein wunderbarer Anblick sein, diese auserlesenen großen Männer langsam durch die Korridore gehen zu sehen“ (274). 17 Dies ist im Unterschied zu G. Sautermeister festzuhalten, dessen differenzierte Darstellung des Romans die Negativität der gezeichneten Welt distinkt hervorhebt, den Akzent dann auf die Schloßbehörde und deren Verwaltung als maßgebende Größen legt. 18 Beispielhaft etwa die Einvernahme K.s durch Erlanger. K. soll, um Irritationen Klamms zu vermeiden, Frieda - „diese Frieda hat manchmal Klamm das Bier serviert“ - sofort wieder freigeben (eine überflüssige Forderung - sie hat K. ja bereits verlassen). Dagegen Erlangers Rede: „Sie leben mit ihr, wie man mir gesagt hat, veranlassen sie daher sofort ihre Rückkehr. Auf persönliche Gefühle kann dabei keine Rücksicht genommen werden, das ist ja selbstverständlich, daher lasse ich mich auch nicht in die geringste Erörterung der Sache ein: Ich tue schon viel mehr als nötig, wenn ich erwähne, dass, wenn Sie sich in dieser Kleinigkeit bewähren, Ihnen dies in Ihrem Fortkommen gelegentlich nützlich sein kann. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe“ (428). Entsprechend Erlangers Aufforderung an K. zur Unterredung: „Ein kurzer einmaliger Wink mit dem Zeigefinger“ (427). Was aber beinhaltet die Rede vom Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 189 indem es ein Imaginationsgeflecht entwirft, als Imaginationskollektiv wirkt, mit besonderen Akteuren und Trägern - um sich in solcher Spiegelung anders begegnen zu können. Eben deshalb - und das öffnet die Sicht auf das entscheidende Charakteristikum des dörflichen Imaginationsgewebes - muss diese Spiegelung, dies in ihr wirkende Gewerbe als einzig und umfassend gültige dargeboten werden: Behauptet als totaler Imaginationszusammenhang. Mehr noch muss das Imaginationsgewebe, in totalitärer Weise praktiziert werden. 11. Turm und Wahn Im Blick auf das „Schloß“ sichtet K. nicht nur eine Ansammlung von „Dorfhäusern“, sondern einen Bau, der als Signum eines Schloßes gelten kann: Dessen „Turm“. Ein Turm also, von dem vorab gesagt werden könnte, er überrage alles, sei weithin kenntlich, Merkzeichen eines herrschenden Blicks übers Ganze? In K.s Betrachtung ist noch anderes offenbar. Die „Mauerzinnen“ dieses Turms erscheinen „unsicher, unregelmäßig, wie von ängstlicher Kinderhand gezeichnet […] Es war wie wenn irgendein trübseliger Hausbewohner, der gerechter Weise im entlegensten Zimmer des Hauses sich hätte eingesperrt halten sollen, das Dach durchbrochen und sich erhoben hätte, um sich aller Welt zu zeigen“ (18). Bietet Kafka in der Szenerie auch einen Hinweis, wie die folgenden Vorgänge und Verhältnisse des Romans aufzufassen, worin sie einzuordnen wären? Wer ist es denn, der separiert gehalten wird, nicht präsentabel ist in der Öffentlichkeit des „Schloßes“? Verborgen bleiben muss, wer sich in inakzeptablem Grade von der Normalität entfernt - der Wahnsinnige. Oder jener, der ein Unwesen treibt, dies im Verborgenen veranstaltet, es im Dunklen, Unsichtbaren, Nächtlichen umtreibt. 19 Legt Kafka in dem Bild eine Spur in den Kern der geschilderten Realität und ihrer Phantastik: Im „Turm“, dem Merkzeichen, worin die Ansammlung jener „Dorfhäuser“ mehr sein soll, den Wahn zu erkennen, der, zwar „wie von ängstlicher Kinderhand“ gezeichnet, gleichwohl auf- und hervorbricht - und nicht nur hervorgebrochen ist, sondern sich bestimmend installiert hat? Freilich: Wie Kafkas Roman dies zum Weiteren vorführt, erzählt keineswegs nur von „Blendwerken“ (um an die Formel Kants zu erinnern 20 ). Mehr noch ist der Roman „Fortkommen“? Ist sie ernsthaft gemeint, oder allein gängige Floskel, herablassend zudem, weil sie an jemanden adressiert ist, der mit dem Dorf nicht zurechtkommt? 19 André-Peter Alt erörtert im Feuilleton der SZ, dass als wahrscheinliches Vorbild für Kafkas Schloß die in der Westlichen Tatra bei Dolný Kubín gelegene Burg Oravský hrad anzunehmen sei, die Kafka selbst gekannt haben könnte. Hierbei verweist André-Peter Alt auf eine bemerkenswerte Korrelation: Oravský hrad ist in Murnaus „Nosferatu“ das Schloß der Grafen Orlok, worin dieser als Vampir wirkt - das Schloß als Stätte nächtlich und heimlich betriebener Blutsaugerei also (André-Peter Alt: Die Burg des Grauens. Murnaus ‚Nosferatu‘ wohnte einst in Kafkas ‚Schloß‘ . SZ, Nr. 276. Donnerstag, 27. November 2008. 11). 20 Immanuel Kant Kritik der reinen Vernunft . A238/ B297. F. Meiner: Hamburg 19456, 289. Severin Müller 190 als Traktat von den Mechanismen solchen Wahns, also den Mechanismen eines totalitär verfassten Imaginationszusammenhangs zu lesen. 21 12. Mehrdeutigkeit, kollektive Geltung, Agenten Kann Klamm, wie die Wirtin sagte, „nicht wirklich“ gesehen werden, bietet er gleichwohl einen vielfältigen Anblick: „Er soll ganz anders aussehen; wenn er ins Dorf kommt und anders wenn er es wieder verlässt, anders ehe er Bier getrunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders im Schlafen […] und, was hienach verständlich ist, fast grundverschieden oben im Schloß“. Diese Unterschiede sind „keine Zauberei“, sondern natürlich zu erklären: Sie entstehen durch die „augenblickliche Stimmung“, den „Grad der Aufregung, die unzähligen Abstufungen der Hoffnung oder Verzweiflung“, in welchen sich „der Zuschauer gerade befindet“, der, was noch hinzukommt, Klamm „meist nur augenblicksweise […] sehen darf“ (278). Die Erklärung vergegenwärtigt, dass und wie Imagination und Projektion Differentes ergeben, Widersprüchliches erbringen mögen. Jeder Anblick ist vom Betrachter und spezifisch bedingt, er bildet sich perspektivisch. In der Charakteristik ist freigelegt, wie die Projektion verfährt - Klamm mit derartigen Perspektiven zu identifizieren. Allerdings: Der Betrachter kann nicht sicher sein, dass, wie es vom „Schloß“ heißt, „der Beamte, der dort als Klamm bezeichnet wird, wirklich Klamm ist“ (276), ob es Klamm war, den er gesehen hat, wiewohl er den Gesehenen als Klamm in spezifischem Anblick erblickt haben will, freilich nur „augenblicksweise“? Man könne überdies, wie Olga sagt, „im Dorf Leute finden, die beschwören würden, daß Klamm Momus ist und kein anderer“ (286). Mehrdeutigkeit, zweifelhafte Identitäten also im Gefolge differenter Imagination. Denn: In die Leerheit der umfassenden, Klamm wie „Schloß“ und „Behörde“ zugewiesenen Bedeutungsimagination ist im Einzelnen vielerlei einzuzeichnen - diese Leere bildet einen Spielplatz differenter, gegensätzlicher, einander durchkreuzender Projektionen. Und deshalb, vor der Projektionsfläche und ihren Rückspiegelungen, kann man im Dorf nicht sicher sein, ob etwas so ist, wie es sich zeigt oder wie gesagt wird, dass es sei. So bemerkt Gardena zwischendurch, Frieda als Klamms Geliebte anzusprechen, sei eine „sehr übertriebene Bezeichnung“, der Lehrer rühmt den „Vorsteher“ als „alten verdienten viel erfahrenen ehrwürdigen Mann“ (143), Gardena weiß dagegen, es handle sich bei ihm um 21 Der Sicht des Turm steht eine weitere Wahrnehmung zur Seite, in K.s Begegnung mit der real existierenden Behörden im „Herrenhof“, als er dort zu einem der Sekretäre, zu Erlanger einbestellt ist. Der Weg zu ihm führt in einen „niedrigen, ein wenig sich senkenden Gang“, er „genügte knapp, aufrecht in ihm zu stehen“, aus den Zimmer der hier logierenden Sekretäre hörte man „Stimmen, Hammerschläge, Gläserklingen“, ohne besondere „Lustigkeit“. Und Erlanger geht, als er K. unterrichtet hat, „schnell aber ein wenig hinkend den Gang hinab“ (429). Pepi schließlich, Nachfolgerin Friedas im Ausschank, berichtet K.: Wenn „die Herren mehrere Tage in den Zimmern wohnen, überdies auch die Knechte, dieses schmutzige Pack, drin herumhantieren,“ seien diese Gelasse am Ende in einem Zustand, „daß nicht einmal eine Sündflut sie reinwaschen könnte“, man „muß kräftig seinen Ekel überwinden“ (456f.). So der Ort der „Nachtverhöre“ - markiert mit Signaturen einer Unterwelt. Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 191 „eine ganz belanglose Person. Er könnte keinen Tag in seiner Stellung bleiben, wenn nicht seine Frau wäre, die alles führt“ (138). 22 Gewiss, Dorfgerede, indessen ausgerichtet auf das „Schloß“, verwoben in das Imaginationsgeflecht, das ihm und seiner „Behörde“ gilt - ein Gespinst der „allgemeinen Meinung“, wie Amali, vereinfachend und gezielt rationalisierend bemerkt. 23 Mit dem Sachverhalt steht eine weitere Eigenart dieser imaginär bestimmten Realität zur Debatte, ist nicht zuletzt die Rolle angesprochen, die die Wirtin spielt, als „Gardena“, geht es am Ende um K.s Schicksal in diesem Dorf. Ihn bezeichnet die Wirtin im ersten Gespräch, als er in die Reden von der Erhabenheit Klamms nicht einstimmen will, sich ihrer Initiation verweigert, als „trotzig und kindlich“, als zurückgeblieben also (84). Dem folgt die Ankündigung, ihn „aus dem Hause“ zu werfen. Aufschlussreicher noch wird Gardenas Ergänzung - in dem Fall fände er nirgendwo sonst im Dorfe „ein Unterkommen“, und sei es nur „in einer Hundehütte“ (85). Nicht nur die Wirtin vermag K.s verweigerte Einstimmung zu ahnden. Sie verweist auf die kollektive Strafe, welche K.s Weigerung auf sich zieht. So demonstriert die Wirtin, wie die kollektive Geltung jener Imaginationen und deren Anspruch als allein gültiger verschränkt ist mit Sanktionen - sie treten ein, wird das Gewirk der Imaginationen missachtet oder verletzt. Die Wirtin freilich nimmt in den Verhältnissen eine besondere Stellung ein. Betrachten wir ihren ersten Auftritt: „Die Tür der Küche hatte sich geöffnet, türfüllend stand dort die mächtige Gestalt der Wirtin, auf den Fußspitzen näherte sich ihr der Wirt, um ihr zu berichten.“ (10). Mächtig aber nicht nur in ihrer Gestalt, sondern - das Gebaren des Gemahls wirft ein Schlaglicht - maßgebend in dem, was sie zu befinden hat: Sie hütet, mit anderen, dem Vorsteher, dem Lehrer, nicht zuletzt mit Frieda die kollektive Imagination. Sie garantiert Präsenz und Geltung des Imaginationsgewebes, sieht sich dafür in der Verantwortung. Dies weist ihre Stellung aus, im Ganzen des Dorfs, nicht nur gegenüber ihrem Mann, dem sie in Bezug auf K. gleich befohlen hatte: „Halt Dich von ihm fern“ (84). 24 22 Den Eindruck hat man von „Mizzi“, der Frau des Vorstehers allerdings nichts, wenn sie im Raum hin- und herhuscht, grau und unscheinbar „auf dem Bettrand“ des Vorstehers sitzt, „sich an den starken, lebenerfüllten Mann drückt[e]“ (113). Allerdings: Der Vorsteher erläutert den Brief erst, nachdem er ihn mit Mizzi gelesen und sich mit ihr beraten hat: „Mizzi ist völlig meiner Meinung und nun kann ich es wohl auszusprechen wagen“ (113f.). 23 Eine Strategie, die bei Amalie mehrfach begegnet - ihr Mittel, sich gegen den Imaginationsbann, der mit dem „Schloß“ verbunden ist, zu wehren. Sie erzählt „Schloßgeschichten“ auf ihre Weise: „[…] ich hörte einmal von einem jungen Mann, der beschäftigte sich mit den Gedanken an das Schloß Tag und Nacht alles andere vernachlässigte er, man fürchtete um seinen Alltagsverstand, weil sein ganzer Verstand oben im Schloß war, schließlich aber stellte sich heraus, dass er nicht eigentlich das Schloß, sondern die Tochter einer Aufwaschfrau in den Kanzleien gemeint hatte, die bekam er nun allerdings und dann war alles wieder in Ordnung.“ (323f.). Es wird sich aber zeigen, dass Trivialisierungen dieser Art gegen die Macht der Imaginationsgeflechte hilflos sind. 24 Gegenüber ihrem Mann freilich mit einem Charakteristikum, das den Roman im Generellen durchzieht: Der dominanten Stellung der Frauen als maßgebender Figur, im Gegensatz zur wiederholt und prägnant demonstrierten Inferiorität der Männer, so der „Kindlichkeit“, die K. Severin Müller 192 13. Scheiternde Messkunst K. aber hatte sie erklärt, er sei einer, „wegen dessen man immerfort Scherereien hat“ (80). Nicht allein dies. Nach dem ersten Gespräch mit K. ist „sie sehr aufgeregt und unglücklich“, kann K.s wegen „nicht arbeiten“ (121). Weshalb die Irritation, worin bestehen „die Scherereien“? „Scherereien“, weil er in seinen Reden auf dem Recht kritischer Gegenfragen, eigener Auffassungen und Erwägungen besteht, umstandslos eigene Erfahrung und eigenes Urteil einbringt? 25 Wer ist er nun eigentlich, in aller Unklarheit seines Anspruchs, Landvermesser zu sein, in der Profession allein durch einen seinerseits zweifelhaften und verwirrenden Brief Klamms bestätigt? Was immer er ist, auch in seiner Herkunft, im Dorf bleibt er Außenseiter und Eindringling, ein lästiger, nicht besserbarer Störenfried. 26 Als Landvermesser will er wirken, also schon früh an den Bauern im Brückenhof bemerkt: „Kaum war K. eingetreten, erhoben sich die Bauern, um sich ihm zu nähern, es war schon ihre Gewohnheit geworden ihm immer nachzulaufen.“ (43f.). Aber „kindlich“ erscheint K. auch der Wirt, „der ein Glas Bier, das er irgendeinem Gast bringen sollte, mit beiden Händen hielt“ (45). Und in den Augen der Wirtin, ihren Äußerungen gegenüber K. ist der Wirt als exemplarisch inferiore Gestalt dargetan, kontinuierlich und in fortgehenden Bemerkungen. Etwa, als beim zweiten Gespräch K.s mit Gardena alle aus der Küche in den Schlafverschlag der Wirtin drängen, um bei der Unterredung dabei zu sein, doch hinausgeschickt werden, fragt ihr Mann: “Ich soll auch fortgehen, Gardena? “ Sie antwortet „Natürlich […] Warum solltest denn gerade Du bleiben? “ (122f.). Er ist, sagt Gardena, zwar „ein guter Junge, aber […] was Verantwortlichkeit ist, wird er nie begreifen“, so „verdankt“ K. es auch nur „seiner Nachlässigkeit“, dass er im Dorf weilt. (79). Verachtung schließlich in ihrer Erklärung: „Sie glauben vielleicht, daß ich viel älter als Hans bin, aber in Wirklichkeit ist er nur zwei oder drei Jahre jünger und wird allerdings niemals altern, denn bei seiner Arbeit - Pfeife rauchen, den Gästen zuhören, dann die Pfeife ausklopfen […] altert man nicht“ (132). In der Überlegenheit, den entsprechenden Ansprüchen - man vgl. auch die Szenen mit Gisa, der Lehrerin (202f.) - präsentiert Kafkas Roman den Vorrang von Frauen. Als Frauenroman kann das „Schloß“ aber auch im Blick auf den geschilderten Umgang von Frauen miteinander gelesen werden - ein Umgang, der in großer Schwingungsbreite gezeichnet ist. Zum einen das Verhältnis Frieda - Gardena: „Die Wirtin kam eigens […] um Frieda zu begrüßen, wurde von Frieda Mütterchen genannt, es gab eine unverständlich herzliche Begrüßung mit Küssen und langem Aneinanderdrücken“ (71). Zum anderen die Äußerungen Pepis über Frieda, Musterbeispiele gezielt übler Nachrede, um K. gewissermaßen die Augen zu öffnen, Frieda als Rivalin auszuschalten. „Niemand weiß genauer als Frieda selbst, wie kläglich sie aussieht; wenn man z.B. zum ersten Mal sie ihre Haare auflösen sieht, schlägt man vor Mitleid die Hände zusammen, ein solches Mädchen dürfte, wenn es rechtlich zugienge, nicht einmal Zimmermädchen sein; sie weiß es auch und manche Nacht hat sie darüber geweint, sich an Pepi gedrückt und Pepis Haare um den eigenen Kopf gelegt.“ (460). Und dennoch, so Pepi weiter: „[…] sie hält sich für die Allerschönste und jedem weiß sie es auf die richtige Weise einzuflößen.“ (460f.) - kundig eben in imaginativen Praktiken. 25 Ohne Zögern bemerkt K. etwa in der Erzählung des Dorfvorstehers zu den Vorgängen um die Landvermesserakte, er betrachte dies als „lächerliche[s] Gewirre“, das freilich „unter Umständen über die Existenz eines Menschen entscheide[t]“ (102). 26 Beispielhaft die wechselseitigen Reaktionen bei den Darlegungen der Wirtin, welche K. Bedeutung und Würde von Momus, dem Dorfsekretär vors Auge führen wollen: „Als K., noch wenig ergriffen von den Dingen, die Wirtin mit leeren Augen ansah, fügte sie halb verlegen hinzu: ‚So ist es eingerichtet, alle Herren auf dem Schloß haben ihre Dorfsekretäre‘“ (175). Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 193 eine „Topographie“ dieser Gegend erstellen - Topographie am Ende von der Art, wie sie im Brockhaus von 1898 bestimmt wird: „[…] Beschreibung einer geogr. Örtlichkeit“, darin „[…] die möglichst genaue Verzeichnung […] besonders […] der Wohnstätten sowie ihrer Verbindung untereinander durch Verkehrswege aller Art“? 27 Was erbrächten solche Vermessungen der „Verbindung untereinander“, nämlich zwischen „Dorf“ und „Schloß“, was die „Verzeichnung“ der „Verkehrswege aller Art“ zwischen beiden - würde die Land-Vermessung am Ende die waltende Topographie des Scheins linieren müssen, also aufklären, wie es um Dorf und Schloß im Imaginations- und Spiegelungszusammenhang, in dieser Verbindungs- und Verkehrsart, in Leere, Wahn und totalitärem Anspruch bestellt ist? Freilich: Wäre die skizzierte Topographik dazu überhaupt in der Lage - angesichts sich entziehender Identitäten, der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Imaginationsgeflechts? Indessen, was K. mit der vorgegebenen Messkunst präsentiert, in seinen Wünschen, ihren fallweise eigenen Imaginationen, ist eine Auffassungs- und Erörterungsart, welche Dinge und Geschehnisse distant zum Imagionationsgeflecht des Dorfes sieht, im Horizont gängiger Erfahrung sichtet, im Fokus seines „Alltagsverstandes“ betrachtet und beurteilt. 28 Mit eben dem „Alltagsverstand“ verbindet K, was auch seine Tätigkeit als Landvermesser fordert, was Vernunft und Kunst topographischer Vermessung auf ihre Weise üben: Eine auf rationale Stimmigkeit gerichtete Betrachtung, die jedenfalls Widersprüchliches und unklare Identitäten auszumachen versteht, mangelnde Plausibilität und fehlende Begründungen markieren kann, die Wirrsal mancher Verhältnisse zu diagnostizieren vermag. Dies immerhin, um Licht in jenen „Dämmer“ zu bringen, der das „Schloß“ immer wieder umgibt, Licht einer Erhellung also, welches kenntlich werden lässt, womit man konfrontiert ist im herrschenden Imaginationszusammenhang. Eben die Möglichkeiten mögen in der Figur K.s gesichtet, als Gefahren erkannt sein: Möglichkeiten des Einbruchs ins kollektive Imaginationsganze, Gefahr der Entwertung imaginärer Bedeutung, Gefahr der Destruktion ihrer umfassenden und ausschließlichen Geltung. So wird im Blick auf das, was im Dorf zu gelten hat, konstatiert, es habe „K. nicht den richtigen Sinn dafür“ (175). 29 Gewiss kann es da nichts werden mit der Anstellung als „Landvermesser“. Was er zunächst noch werden kann: Schuldiener, aber auch dies währt nicht lange. Am Ende tritt er als Pferdeknecht in den Dienst, findet da „Kost und Wohnung“, nachdem er die vorangehenden Unterkünfte alle verloren hatte. Und Frieda wird ihn auch verlassen. Ein Prozess fortgehender Deklassierung also. Er erzählt die Geschichte von K.s vielfältigem Scheitern an der Realität des Dorfes - Scheitern an dessen Imaginationsgeflecht, in verhinderter Messkunst, welche der herrschende Imaginationszusammenhang in seiner Leere, im Vexierbild seiner Ver- 27 Brockhaus Konversationslexikon . Bd. 15. Leipzig, 1898. 14. Auflage. 903. 28 So auch das Raisonnement Amaliens, dazu Anmerkung 19. 29 In einem gestrichenen Passus lässt Kafka die Wirtin unverhohlen äußern, was von seinen Erwägungen zu halten sei, im Kontext der dörflichen Gemeinschaft: „Sie aber stecken voll ‚gefährlichster‘ Irrtümer und werden Sie nie verlieren“ (F. Kafka. Das Schloß. Apparatband . 227f.). Severin Müller 194 hältnisse, der Behauptung seiner unübertreffbaren Bedeutung abweist, damit die Aufklärung seiner Eigenart blockiert. 14. Die Familie Barnabas: Austreibung, Gewalt totalitärer Imagination K.s Scheitern verweist auf die Mechanik der Macht, welche dem Imaginationsgeflecht eignet. In der Oberfläche - und nicht allein in dieser - ist K.s Deklassierung auch Folge seiner Verbindung mit der Familie Barnabas. An deren Schicksal aber wird jene Mechanik weiter offenbar. Mehr noch: In der Wendung zur Familie Barnabas versammelt Kafka die Verhältnisse dieser imaginären Realität in einem Brennspiegel, eröffnet in dem Fokus einen abschließenden Einblick in diese Realität - gerade in dem, was in ihr sich zudem und unbeliebig bekundet. Für K. beginnt die Bekanntschaft mit der Familie Barnabas, mit den Schwestern Olga und Amalie früh - erstere führt K. ja zum „Herrenhof“, es wird dann heißem, Frieda hätte sich ihm hingeben, um ihn vor „Olga“, der „schamloseste[n] von allen“ (387) zu retten, ein „Opfer“, wie man zudem sagt, das er nicht zu würdigen wusste (369). 30 Schon allein, dass er diese Familie besucht, nach der Rückkehr „den Geruch ihrer Stube noch in den Kleidern“, ist Frieda „eine unerträgliche Schande“ (389), und bedingt am Ende, dass sie sich von K. trennt: „Geh doch zu Deinen Mädchen, im bloßen Hemd sitzen sie auf der Ofenbank zu Deinen Seiten, wie man mir erzählt hat […]“ (400). Wie muss es um diese Familie bestellt sein, als Adressat solcher Auffassungen - und es sind solche, die im Dorf umlaufen, Teil des immerwährenden imaginären Diskurses: Dass sie an seiner „Seite“ im „bloßen Hemd“ gesessen hätten - davon erzählt der Romans nicht, es wäre auch unwahrscheinlich angesichts der Person Amaliens und ihrer seelischen Verfassung. Bei seinen Besuchen der Familie Barnabas sehen wir K. am Tisch bei Olga, Amalie im Hintergrund des Raums, mit der Pflege der Eltern beschäftigt. Was Olga berichtet, führt die Sicht auf die Nachseite dieser Art des Imaginären. Nach einem Feuerwehrfest, worauf Amalie vom Schloßbeamten Sortini erblickt wurde, erhält sie von diesem noch nachts einen Brief, „in den gemeinsten Ausdrücken gehalten. […] Wer Amalie nicht kannte, musste das Mädchen, an das jemand so zu schreiben gewagt hatte, für entehrt halten, auch wenn es gar nicht berührt worden sein sollte“ (302f.). Bricht in den Zeilen ein Charakteristikum faktischer Wirklichkeit des „Schloßes“ durch? Im Schreiben Sortinis ist das „Schloß“ auch als Ausgangsort sexueller Begierde offenbar. 31 Was so sich meldet, ist freilich, 30 So auch die Anklage der Wirtin: Frieda hat „in ihrem kindlich übertriebenen Mitleid es nicht ertragen können, daß Sie an Olga’s Arm hingen […] der Barnabasschen Familie ausgeliefert schienen. Sie hat Sie gerettet und sich dabei geopfert“ (88). 31 Gewiss nicht erst mit dem Schreiben Sortinis. Unübersehbar ist das „Schloß“ den ganzen Romanverlauf hindurch auch sexuell konnotiert - zunächst schon in dessen „Dienern“ und „Knechten“; vgl. dazu etwa in Kapitel 3 die Szene im „Herrenhof“, worin Klamms „Dienerschaft“ ihr Spiel mit Olga treibt: „Sie taumelte nur noch mit aufgelöstem Haar von einem zum anderen“ (64f.). Frieda beendet die Szene mit der „Peitsche“: „‚Im Namen Klamms‘, rief sie, ‚in den Stall, alle in den Stall‘“ (66); am nächsten Morgen wird auch Olga aus diesem hervorkommen, „lebendig wie am Abend, so übel ihre Kleider und Haare auch zugerichtet waren.“ Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 195 das zeigt die Antwort des Dorfes auf Amaliens Reaktion, schon ins Imaginationsgeflecht verwoben und legitimiert. Das Geflecht verletzt Amalie aufs entschiedenste: In Gegenwart des Boten zerreißt Amalie das Schreiben, wirft ihm das Zerrissene ins Gesicht. Was hierauf aus dem Dorf folgt, demonstriert Macht und Gewalt des Imaginationsgeflechts, kann in den Konsequenzen als Phänomenologie totalitär veranstalteter Austreibung gelesen werden. Die Familie verliert alle Einkünfte, zur Verarmung gesellt sich kompromisslose Ächtung (319ff.). Die dörfliche Imaginationsgemeinschaft verwandelt die Familie in Parias. Und die Macht des kollektiven Imaginationszusammenhangs schlägt durch ins Innere der Familie selbst. Mit Ausnahme von Amalie sind alle Mitglieder der Familie von einem getrieben, „Verzeihung zu bekommen“ (336): Sie sehen Amaliens Weigerung in Blickbahnen des dörflichen Imaginationsgewebes als Schuld und Verfehlung. Der Vater, Olga und Barnabas verfolgen die Rehabilitation der Familie bis zur Selbstzerstörung. Vater und Mutter erkranken tödlich bei ihrem unablässigen Bemühen, Sortini die „Bitte um Verzeihung vorzubringen“ (336). Barnabas versucht sich illusionär im Botendienst. Olga schließlich führt, wie es heißt, „ihr Leben mit den Knechten“ (351f.), prostituiert sich im „Herrenhof“ mit der vergeblichen Hoffnung, wenigstens den (70). Maßgebend in der Komponente aber ist, dass - wie schon Frieda demonstrierte - die Frauen des Dorfes ihre Beziehung zum „Schloß“ in sexuellen Beziehungen realisieren wollen, in diesen dann wesentlich ihre Bedeutung und Position im Dorf begründen. So wird Jeremias, mit dem Frieda sich am Ende zusammengetan hat, von ihr sagen: „Eine gewesene Geliebte Klamms, also respektabel in jedem Fall“ (374). Geliebte Klamms gewesen zu sein, gilt in dem Sinne mehr noch und exemplarisch für Gardena, begründet, zwar nicht allein, doch in maßgebender Weise die Stellung, die sie einnimmt. Und in ihrem Fall steht in besonderer Deutlichkeit fest, dass diese Beziehungen alles andere als Liebesverhältnisse sind, sich vielmehr aus anderen, eben den bekannten Motiven einer Teilhabe speisen - das legt auch das Foto nahe, das sie K. im zweiten Gespräch zu Betrachtung vorlegt. K. soll, von der Wirtin eindringlich gefordert, erklären, was das Foto darstellt, obwohl „nicht leicht etwas auf dem Bild zu erkennen“ war, „vom Alter ausgebleicht, vielfach gebrochen, zerdrückt und fleckig“ (124). In seiner Interpretation - nicht allein ein Musterstück imaginativ phantastischen Umgangs mit Wirklichkeit, sondern darin auch eine Miniatur, welche die imaginären Prozesse des Romans noch einmal in einem „Bild“ versammelt - ‚erkennt‘ K. am Ende, was er sehen soll und zur Befriedigung Gardenas auch sieht: Ein junger Mann, nämlich, so erläutert die Wirtin dann, „der Bote, durch den Klamm mich zum ersten Mal zu sich berief“. Aufschlussreicher ist Gardenas Kommentar: Es „war ein schöner Junge, ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen und werde ihn nie vergessen.“ (125). Bekundet das Geständnis solcher Unvergesslichkeit, wohin ihre Neigung in Wahrheit fiel? Klamm bleibt in anderem Sinne gegenwärtig: „Dreimal hat Klamm mich rufen lassen und zum vierten Mal nicht mehr und niemals mehr zum vierten Mal! Was beschäftigte mich damals mehr? “ Dass es, was sie derart „beschäftigte“, nicht ihre (fortan unerwiderte) Liebe sein mochte, sondern ein Verlust anderer Art, ein Verlust an Bedeutung und Position, muss mit der folgenden Erklärung vermutet werden, dass sie dies nämlich nächtens mit ihrem Mann besprach: „Jahrelang drehten sich unsere Gespräche nur um Klamm und die Gründe seiner Sinnesänderung. Und wenn mein Mann bei diesen Unterhaltungen einschlief, weckte ich ihn und wir sprachen weiter.“ (129). - Zu K.s Deutung jenes Photos auch S. Müller: „Friedrich Nietzsche. Sprache und erfundene Wirklichkeit“. In: H. V.Geppert und H. Zapf (Hgg.). Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. I. Tübingen, 2003. 89-104. Severin Müller 196 Boten Sordinis zu finden. Bezeichnend sind zudem Olgas Überlegungen zur Suche des Briefboten und ihrer Absicht, zumindest diesen zu finden: „[…] wenn die allgemeine Meinung, sei es auch nur scheinbar, nur von der Botenbeleidigung weiß, ließe sich, sei es auch wieder nur scheinbar, alles wieder gut machen, wenn man den Boten versöhnen könnte“ (346). Olgas Erwägung spricht explizit vom Schein der „allgemeinen Meinung“, stellt diesen in ihrem Kalkül Rechnung, versucht mit diesem selbst zu agieren, in ihrem Plan „alles wieder gut zu machen“, und „sei es auch nur scheinbar“. 32 Das Raisonnement demonstriert, woher der „Fluch“ (305), welcher über die Familie verhängt wurde, im Letzten stammt. 33 Bemerkenswert in Olgas Erinnerung ist darüber hinaus: Ihre Erzählung oszilliert, schwingt auch nach der Seite des „Schloßes“, lässt in der Wendung eine besondere Eigenart des Imaginären und seiner Mechanik der Macht offenbar werden. Amalie argumentiert auch für den Brief Sortinis: „Auch muß man doch bedenken, daß zwischen einem Beamten“ und einem Mädchen wie Amalie „ein großer Abstand besteht, der irgendwie überbrückt werden muß, Sortini versucht es auf diese Art, ein anderer mags anders machen“ (309). Derart holt das Netzwerk der Imaginationen sie wieder ein und zurück. Zu dem Prozess, dem Ausgriff imaginären Wirklichseins kommt ein weiterer Vorgang. Olgas Erwägungen zeigen, wie der Imaginationszusammenhang ihre Auffassung des Briefs reguliert, dessen Verständnis vorzeichnet und bestimmt, wie das Imaginationsgeflecht sich also in Wahrnehmung und Denken eingeschrieben hat. 15. Entschwindendes Außen und Unbeliebigkeit faktischer Gegebenheiten Mit dem kenntlich gewordenen Imaginationsgeflecht und seinen Wirkungen wird die Frage unerlässlich, ob und wie es in der Welt dieses Dorfes noch ein Außerhalb geben kann, ob und wie Realitäten von anderer Art, Beschaffenheit und Herkunft im dörflichen Imaginationsgewebes sich bekunden und zeigen können, möglicherweise von einem „Außen“ berichten, darin eine Grenze des scheinbar allumfassend waltenden Imaginationszusammenhangs bezeugen. Das mögliche „Außen“ meldet sich in einer Erklärung Friedas, die sie K. gibt: „Ich werde dieses Leben hier nicht ertragen. Willst du mich behalten, müssen wir auswandern, irgendwohin. Nach Südfrankreich, nach Spanien.“ (215). Die Rede nennt nicht allein andere, außerhalb der Vorstellungswelt des Dorfes konkret gegebene Gegenden und Länder. Der einleitende Satz „Ich werde dieses Leben hier nicht ertragen“ artikuliert Distanz zu den obwaltenden Imaginationsverhältnissen, erzählt von einem Durch- und Ausbruch, berichtet indirekt vom Rekurs auf anders geartete Realität. Freilich nur kurz und übergängig, wie der Fortgang des Romans zeigt - und in dem Maße, als Frieda in das 32 Analog Olgas Überlegung in Bezug auf Amalie: „Hätte sie nur irgendwie zum Schein gefolgt […] das Verhängnis hätte sich abwenden lassen“ (306). 33 Umgekehrt heißt es zu den Versuchen des Vaters, das „Schloß“ selbst zu versöhnen: „Aber um Verzeihung zu bekommen, musste er erst die Schuld feststellen und die wurde ihm ja von den Ämtern abgeleugnet“ (336). Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 197 geltende Imaginationsgeflecht zurückfindet, entschwinden andere Realitäten und Gegenden unter dem Horizont. 34 Was indessen sich auch und gerade in der Immanenz des dörflichen Imaginationszusammenhangs bekundet, zeigt eine Erwägung Olgas in ihrem Bericht an K. Ihr werde „ganz wehmütig“, gesteht sie, „wenn Barnabas früh […] ins Schloß geht. Diese […] verlorenen Tage […] Was soll das alles? Und hier ist Schusterarbeit aufgehäuft, die niemand macht […]“ (281f.). So kommt die faktische Lebenswirklichkeit zur Sprache, gibt Kunde von sich, durch alle Verschleierungen des Imaginären hindurch, erinnert vergessene Verhältnisse und Bedingungen - Verhältnisse und Bedingungen, so die lebensermöglichender Arbeit, welche in keiner Imagination übersteigen und zurückgelassen werden können, als weitgehend unaufhebbar und unbeliebig sich bezeugen. Dies ist nur eine der Weisen, worin unaufhebbare Realitäten und unbeliebige Bedingungen sich melden. Sie begegnen in eigener Gestalt in jenem Brief Sortinis an Amalien, welche - wie notiert - das „Schloß“ auch als Ausgangsort sexueller Begierde enthüllt, Sexualität, die im „Herrenhof“, der Schnittstelle von Dorf und Schloß sich ungehemmt entfaltet, worin pure Natur alle imaginäre Erhöhung und Verklärung durchstößt und zerteilt. 35 In welcher Gewalt in der Form naturaler Gegebenheiten eine eigene Realität ins totalitäre Imaginationsgeflecht einbricht, demonstriert das Schicksal der Eltern Barnabas - ein Einbruch, den beide freilich in ihrem Bemühen „Verzeihung zu erlangen“ allein erleiden. In der Hoffnung, Sordini begegnen zu können, platziert Vater Barnabas sich Tag für Tag auf einer Zufahrtsstrasse zum Schloß, sitzt dort „auf den regennassen Steinen, dann wieder im Schnee“. Am Ende begleitet ihn die Mutter, beide warten dort, „zusammengesunken und aneinanderlehnend auf ihrem schmalen Sitz, gekauert in eine dünne Decke, die sie kaum umschloß, ringsherum nichts als das Grau von Schnee und Nebel“ (344). Den unbeliebigen Gegebenheiten und Verhältnissen der umgebenden Natur entspricht - von dieser bedingt und hervorgerufen - die Unbeliebigkeit körperlicher Zustände, Konsequenzen in der inneren Natur der Wartenden: Beide erkranken, erleiden unaufhebbare leibliche Schäden. 16. „Hiesige Verhältnisse“ und ihre Folgen: Faktizität des Imaginären Im Gegen- und Ineinander solcher Realität aber entfaltet der totalitäre Imaginationszusammenhang eine zusätzliche, wiederum bezeichnende Wirkung. Worin sie be- 34 Neben dem momentan, doch aktiv unternommenen Ausbruch findet sich im „Schloß“ u.a. der Vorgang unmerklichen Ab- und Hinweggleitens. Beim Gespräch mit dem Dorfvorsteher hatte dessen Frau Mizzi - wie zu erinnern ist - Klamms Brief an K. zunächst in gebotener Ehrfurcht betrachtet: „Kaum hatte sie den Brief erblickt, faltete sie leicht die Hände. ‚Von Klamm‘, sagte sie“ (113). Das scheint im Fortgang vergessen und entglitten, als sie „traumverloren mit Klamms Brief spielte, aus dem sie ein Schiffchen geformt hatte“. „Erschrocken nahm es ihr K. jetzt fort“ (119). 35 So heißt es an später Stelle des Romans von der Dienerschaft des „Schloßes“: „[…] im Schloß, wo sie sich unter seinen Gesetzen bewegen, still und würdig […] im Dorf […] ein wildes, unbotmäßiges […] von ihren unersättlichen Trieben beherrschtes Volk. Ihre Schamlosigkeit kennt keine Grenzen […]“ (348). Severin Müller 198 steht, demonstriert eine Szenerie an früher Stelle des Romans. Auf seiner ersten Wanderung zum „Schloß“, als K. den Weg zurück ins Dorf bei „Gerbermeister Labemann“ kurz auszuruhen sucht, sieht er in dessen Stube auch ein Frau, die „tief in der Ecke in einem hohen Lehnstuhl müde fast lag“, ihr Kleid in einem „Schein wie von Seide“, gegenwärtig in „Müdigkeit und Krankheit“ (23). Als K. fragt, wer sie sei, antwortet sie wegwerfend, und „es war undeutlich, ob die Verächtlichkeit K. oder ihrer eigenen Antwort galt […] ‚Ein Mädchen aus dem Schloß‘“ (25). Die Szenerie, erhellt von „bleiche[m] Schneelicht“, meldet Erschöpfung und Auszehrung. Pendelt die gegebene Antwort zwischen beiden Möglichkeiten - der Verächtlichkeit gegenüber dem inferioren, unerwünschten Fremden wie der Verächtlichkeit gegenüber ihrer eigenen, dubiosen Identität, dubios in ihrer Zugehörigkeit, von illusionärem Rang, illusionär wie ihr Kleid, nämlich nur im „Schein wie Seide“? Resultiert die Auszehrung im Grunde aus dem Gegenüber, das in der Pendelbewegung waltet, folgt sie auch daraus, dass das Imaginäre auf der Faktizität unbeliebiger Gegebenheiten auflastet, auch - wie schon bei den Eltern Barnabas - körperliche Bedingtheiten trifft. Mögliche Folgen, denen ein abschließender letzter Blick zu widmen ist, nämlich zu den „hiesigen Verhältnissen“, zum Dorf. Es behandelt die Familie Barnabas ohne Mitleid, drängt sie an den Rand der Vernichtung - und in eben dem Geschehen gelangt eine Wahrheit über diese Realität des Imaginären ans Licht: „Nun sprach man von uns nicht mehr wie von Menschen, unser Familienname wurde nicht mehr genannt“ (333). Der Vorgang enthüllt den Bann des Imaginationsgeflechts, damit den Verlust, welchen der Zwang bedingt. Die ihm, dem Imaginären verpflichtete Gemeinschaft stößt Mitbürger ins Namenlose, hat den Blick für die Familie Barnabas als Menschen verloren. Was lässt der Verlust wissen? Er legt offen, was den Mitgliedern dieser Gemeinschaft selbst widerfahren ist: Sie alle sind geblendet vom eigenen Erzeugnis, haben sich diesem übereignet, wurden von diesem angeeignet, sind ihm verfallen. Die Blendung enthüllt, wie also der Besitz zu verstehen sei, in dem das Dorf sich nach den Worten Schwarzers befindet. Nicht im Besitz des „Schloßes“, im Besitz vielmehr dessen, was das Dorf selbst imaginiert und projiziert. Im „Schloß“ ist das Dorf besessen vom selbst erzeugten Blendwerk. in der Besessenheit beschädigt in seiner Humanität. So dies die abschließende Wahrheit, die Kafkas Roman im Blick auf die vorgeführte Realität des Imaginären bereithält: Sie deformiert. Zur Deformation kommen weitere Wirkungen - solche, welche die Frau in Gerbermeister Labemanns Stube vors Auge führt: Erschöpfung, Auszehrung - und, damit verknüpft, seltsame Müdigkeiten, auffällig häufiger Schlaf. Die Wirtin ist „am Abend schon müde zum Zusammenbrechen“, K. verfällt im Gespräch mit dem Schloßbeamten Bürgel trotz aller Gegenwehr in Schlaf. 36 Resultieren Müdigkeit, 36 Obgleich dieser ihm wohlwollend begegnet, Verständnis für seine Lage bekundet, seine Nichtverwendung als Landvermesser beklagt: „eine fachliche Kraft ungenützt lassen […] Und auch für Sie muß es doch kränkend sein, leiden Sie denn nicht darunter? “ (408f.) Eine andere Frage ist, weshalb auch die Herren vom „Schloß“ bei ihren Aufenthalten im Dorf so viel schlafen müssen: Die „Herren schlafen sehr viel, das kann man kaum verstehen“, sagt Frieda zu K. in Bezug auf Klamm (65f.). Woher solche Müdigkeiten? Reagiert ihr Schlaf auf den „Anblick“ Kafkas Das Schloß , philosophisch gelesen 199 Erschöpfung und Auszehrung, wie sie der Wirtin und dem „Mädchen aus dem Schloß“ widerfahren, aus der Mühe, das Imaginationsgeflecht zu präsentieren und zu garantieren, geschieht der Verzehr der Kräfte zugleich in der Anstrengung, im Imaginationsgeflecht wie der in ihm sich meldenden, mit andrängenden Realitäten und deren Unbeliebigkeit Stand zu halten? Mit den Möglichkeiten gelangt vors Auge, was Kafkas Roman mit der Deformation der Personen auch demonstriert: Wie imaginäre Realität in aller Unfassbarkeit, in aller möglichen Mehrdeutigkeit, aller möglichen Leere, allem möglichen Wahn gegenwärtig sein mag, ihrerseits wirksam nämlich in unbeliebiger Härte, damit im Gewicht eigener und eigens sich durchsetzender Faktizität. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Kafka, Franz: Das Schloß. Hg. M. Pasley. Frankfurt a.M., 2 1983. F. Kafka: Das Schloß. Apparatband. Hg. M. Pasley, Frankfurt, 2 1983. Forschungsliteratur: Brockhaus Konversationslexikon: Bd. 15. 14. Auflage. Leipzig, 1898. Meese, Christa: Wirklichkeit als Schein und Deutung im Werke Franz Kafkas und Friedrich Nietzsche . Würzburg, 1999. Müller, Severin: „Friedrich Nietzsche. Sprache und erfundene Wirklichkeit.“ In: Hans Vilmar Geppert u. Hubert Zapf (Hgg.). Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven . Bd. I, Tübingen, 2003. 89-104. Scheier, Claus Arthur: Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert. Hamburg, 2000. Sautermeister, Gerhard: „Das Schloss.“ In: W. Jens (Hg.). Kindlers Literaturlexikon Bd. 9. München, 1998. 47-50. vorsprechender Dorfbewohner, der ihnen „bei Tag völlig unerträglich“ sei? (443) Dass sie sich solcher Inferiorität im Schlaf entziehen müssen, kann am Ende auch daran liegen, das Imaginationsgewebe, womit sie bei wachem Bewusstsein konfrontiert sind, zu meiden. Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) Georg Langenhorst 1. Erbspuren: Literarische Erinnerungen an katholische Prägung Drei Blitzlichter: 1. Ein junger Mann gelangt zufällig in eine Kirche und erinnert sich an die Automatismen aus seiner Kindheit. „Er zündete eine Kerze an, bekreuzigte sich flüchtig und staunte; es war eine Wohltat. Er bekreuzigte sich noch mal. Es blieb eine Wohltat.“ Das ist mehr als die Schilderung einer überraschenden Heimkehr in ein wohltuendes katholisches Ritual. Er reflektiert: Wenn es ihm, dem Liebhaber und Geliebten des Augenscheins, tatsächlich einmal gelang, seine automatische und wohl darum schon fragwürdige Skepsis zum Schweigen zu bringen, wenn er in einem Gottglauben mehr als nur neue, aufgeschreckte Religiosität und panische Besinnung von Verseuchten auf dem Sterbebett sehen konnte, empfand er ihn als gewaltigen Trost, als Kraft, mit der sich alles, selbst das eigene Ende, bestehen ließ. 1 2. Eine Frau erinnert sich an ihre Kindheit. Prägend, so heute im Rückblick, wurde vor allem die Lektüre der Bibel. Warum prägend? Was war das Besondere der Bibel im Vergleich mit den anderen faszinierenden Lesestoffen der Kindheit? Zunächst nichts: Es waren nicht die Geschichten, die Hexer, Holmes und Märchen den Rang abliefen. Erkannte Jesus, dass die Tochter des trauernden Vaters nur schlief, lag der Fall wie bei Schneewittchen. Scheintot. Jesus verwandelte Wasser in Wein, mit fünf Broten und zwei Fischen machte er fünftausend Menschen satt; ‘Tischlein, deck dich’, sagte das Schneiderlein; Sterntaler regnete es Geld ins Hemd, und die Müllerstochter spann Stroh zu Gold. Nein, nicht der Inhalt macht das Besondere aus, sondern die Form, die Magie der hier eben einzigartigen Sprache: Die Geschichten waren es nicht. Es waren die Sätze. ‚Ich bin das Brot der Welt‘, sagte Jesus. ‚Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben‘. ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben‘. Wo immer ich das Buch aufschlug, seine Wörter und Sätze waren schön und geheimnisvoll, voller Zauber und Kraft. 2 3. Und noch einmal die Reflexionen eines Mannes in literarisch stilisierter Selbstbesinnung: 1 Beide Zitate: Ralf Rothmann: Der Windfisch. Erzählung 1 1988 (Frankfurt 1994), S. 19. 2 Beide Zitat: Ulla Hahn: Das verborgene Wort. Roman (Stuttgart 2001), S. 88. Georg Langenhorst 202 Langsam wird er wieder katholisch. Gedanklich hatte er sich von seiner Kindheitsreligion seit Jahrzehnten entfernt, vielleicht ist er aber in seiner Seele so etwas geblieben wie ein zeitfremder Katholik des Mittelalters. (…) Im Grunde, dachte er plötzlich, sehnt er sich nach der puristischen Schönheit des Glaubens, nach dem Zusammenspiel von Gebäuden, Gesängen und Worten, nach einem tridentinischen Dreiklang aus früher Romanik, Gregorianik und lateinischer Demut. 3 Drei literarische Besinnungen auf Religion, drei Beispiele eines Nachdenkens über die positive Prägekraft einer kirchlichen, einer katholischen Kindheit und Jugend. Keines davon stammt von Heinrich Böll (1917-1985), dem Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972. Und doch steht Böll im Hintergrund aller drei literarischen Szenen, im Hintergrund der jeweiligen Werke und Autorenbiographien. Böll selbst mag heute eher vergessen sein. Eine literarische ‚Schule‘ hat er nicht gegründet, niemand schrieb, niemand schreibt wie er. Und doch gibt es in unserer Gegenwart eine Art literarischer Enkelgeneration, die Elemente der böllschen Welt geerbt haben, transformieren, umschreiben, in die Gegenwart hinein ästhetisch fruchtbar machen. Die erste Szene stammt von Ralf Rothmann aus seiner 1988 veröffentlichen frühen Erzählung „Der Windfisch“. Rothmann, vielfach preisgekrönter Erzähler der mittleren Generation, hat immer wieder Versatzstücke seiner religiösen Prägung literarisch ausgestaltet, am deutlichen im Erfolgsroman „Junges Licht“ (2004). Die zweite Szene stammt aus Ulla Hahns 2001 erschienenem Roman „Das verborgene Wort“, in dem die befreiende Kraft der Entdeckung von Literatur und Religion wie in der 2009 erschienenen Fortsetzung „Aufbruch“ zu einem Struktur gebenden Grundmuster wird. Der letzte Abschnitt schließlich geht auf Hanns-Josef Ortheil zurück und ist seinem Skizzenbuch „Blauer Weg“ (1996) entnommen. Auch bei Ortheil wird die Besinnung auf bleibend wichtige Elemente katholischer Prägung mehr und mehr zu einem produktiven Motiv des literarischen Schaffens, am deutlichsten im autobiographisch motivierten Roman „Die Erfindung des Lebens“ (2009). Die allesamt im Rheinland aufgewachsenen Hahn (*1946), Ortheil (*1951) und Rothmann (*1954) stehen für eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die die lange Zeit verpönte Dimension Religion, nein: Konfession in die Gegenwartsliteratur zurück- oder neu hineinschreiben. 4 Auf katholischer Seite wären noch Autoren wie Arnold Stadler oder in aller Gebrochenheit Thomas Hürlimann , als Autorinnen Felicitas Hoppe oder Petra Morsbach zu nennen, auf evangelischer Seite in völlig unterschiedlichen Ansätzen etwa Patrick Roth , Sibylle Lewitscharoff oder Michael Krüger . Vor allem die katholischen Autoren stehen dabei in unmittelbarer oder gebrochener Erblinie zu Böll. Kein anderes Werk der deutschen Literatur des 20. Jahrhundert ist so sehr vom Katholizismus geprägt wie das des Kölners. Böll ohne Köln und das Rheinland, Köln und das Rheinland ohne Katholizismus - undenkbar! 3 Hanns-Josef Ortheil: Blauer Weg (München 1996), S. 146-148. 4 Vgl.: Georg Langenhorst: „Ich gönne mir das Wort Gott,“ Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur (Freiburg 2009). Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 203 2. Böll - Vergessen und verdrängt? Dass die Beziehung Bölls zum Katholizismus spannungsvoll war und bis zum Ende blieb, ist dabei bekannt. Sein Verhältnis zum Katholizismus ist durch eine „Ambivalenz von Distanz und bleibender Verhaftetheit“ 5 bestimmt. Bis heute streitet man so in und um Köln darum, ob es erlaubt war, Böll - der aus der Amtskirche ausgetreten war, aber seinem Verständnis nach Katholik blieb - kirchlich zu beerdigen. 6 Von „rechts“ sieht man darin einen Verstoß gegen das Kirchenrecht, von „links“ eine kirchlicher Anmaßung gegen den Willen des Verstorbenen. Dies ist bis heute umstritten. Aber das ist nur die eine Seite der Böll-Präsenz. „Wo ist Böll? “ - Die Ausgabe des „ZEITmagazin Leben“ vom zweiten August 2007 ist Heinrich Böll gewidmet. Unter der zitierten Überschrift begeben sich die Verfasser Christiane Grefre und Adam Soboczynski auf eine kreative Spurensuche in Köln, stellen aber lapidar fest: „Die Deutschen haben ihren Nobelpreisträger vergessen“, er ist „aus dem Bewusstsein der Deutschen gerückt“ 7 . Denn tatsächlich: Trotz der seit 2002 erscheinenden, 27bändigen epochalen „Kölner Ausgabe“ der kommentierten „Werke“ Bölls im Verlag Kiepenheuer & Witsch, deren Abschluss für 2010 anvisiert wird, ist es im Feuilletonbetrieb, auf dem Buchmarkt und in den Abteilungen der Germanistik still geworden um Heinrich Böll. Nicht einmal mehr zum Spott taugt der Verweis auf Böll, der jahrzehntelang als satirisch gezeichneter ‚Gutmensch‘, als Repräsentant des ‚anderen Deutschen‘ 8 , als ‚ehrenwerter Mann‘ oder ‚Gewissen der Nation‘ herhalten musste. Nein, selbst der sprichwörtliche „Böll-Spott“ ist „abgeklungen wie ein angefaultes Klischee“ 9 . Die zuminderst vermutliche Vernichtung großer Teile seines Nachlasses beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs im Frühjahr 2009 hatte so letztlich kaum mehr als ein öffentliches Schulterzucken zur Folge. Fast scheint es so, als sei sein Werk heute für Theologen interessanter als für Literaturwissenschaftler: im Grenzgebiet von Religion und Literatur sind gleich vier Dissertationen 10 um die theologische Bedeutung seines Werkes entstanden, daneben 5 Hans Küng: Ein heimatloser Katholik? Heinrich Böll und die Sehnsucht nach Humanität. In: Ders./ Walter Jens: Anwälte der Humanität. Thomas Mann/ Hermann Hesse/ Heinrich Böll (München 1989), S. 241-317, hier: S. 250. 6 Vgl. die Predigt von Herbert Falken anlässlich der kirchlichen Bestattung. In: Georg Langenhorst (Hg.): 30 Jahre Nobelpreis Heinrich Böll. Zur literarisch-theologischen Wirkkraft Heinrich Bölls (Münster 2002), S. 57-61. 7 Christiane Grefre/ Adam Soboczynski: „Die Deutschen haben ihren Nobelpreisträger vergessen,“ in ZEITmagazin Leben 32/ 07, S. 12-21, hier: S. 14. 8 Heinrich Vormweg: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie (Köln 2000). 9 Grefel/ Soboczynski, a.a.O. 10 Volker Garske: Christus als Ärgernis. Jesus von Nazareth in den Romanen Heinrich Bölls (Mainz 1998); Melanie Helm, Spes contra spem. Ansätze zu einem Kirchenbild der Zukunft bei Heinrich Böll (Münster 2004); Heinrich Jürgenbehring: Liebe, Religion und Institution. Ethische und religiöse Themen bei Heinrich Böll (Mainz 1994); Frank Witze: Die Dame im Gruppenbild als christlicher Gegenentwurf zum repressiv-asketischen Traditionsstrang des Christentums. Eruierung, Vergleich und Bewertung zweier theologisch-ethischer Konzepte: Georg Langenhorst 204 stehen Würdigungen 11 und einzelne ausführliche theologisch reflektierte Werkporträts 12 . 37 Jahre nach der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis - als erster deutschsprachiger Schriftsteller katholischer Provenienz - steht sein Werk somit auf dem Prüfstand: Gehören die Erzählungen und Romane Heinrich Bölls bleibend zur Weltliteratur, oder waren sie nur in ihrem Zeit- und Gesellschaftskontext bedeutsam? 3. Eine bleibende Spannung: Böll und Religion Vor allem die Rolle der literarisch gespiegelten Religion ist dabei umstritten. Bei keinem anderen deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts spielt die Auseinandersetzung mit Religion, konkret mit dem Katholizismus als Idee, als Milieu und historische Realität, bei keinem anderen Autor spielt Kirchenkritik von Anfang bis Ende eine so entscheidende Rolle wie im Werk Heinrich Bölls. Diese Doppelgesichtigkeit von Religion bestimmt Person und Werk. Katholisch die Familie, katholisch die Schule, katholisch die Stadt, katholisch das prägende Gesicht des Christentums. Wie gern er auf der einen Seite die romanischen Kirchen seiner Stadt besichtigte, davon erzählte Böll später immer wieder in den zahllosen Interviews über sein Aufwachsen, aber „die Pflicht-Gottesdienste, der Katechismus-Unterricht“? „Dieser ganze fürchterliche Wahnsinn des 19. Jahrhunderts wurde über einem abgerollt“ 13 , so Böll in „Eine deutsche Erinnerung“ von 1976. Und eben doch „natürlich trotz allem katholisch, katholisch, katholisch“ 14 sei die Welt seines Aufwachsens gewesen, so Böll erneut im autobiographischen Rückblick „Was soll aus dem Jungen bloß werden“ von 1981. Wie tief sein Leben bei aller Distanz wirklich bestimmt war von echter Spiritualität, wie fest Böll verwurzelt war in diesem rheinischen Katholizismus, das haben in ungekannter Tiefe die erst 2001 veröffentlichten Briefe des jungen Soldaten aus dem Krieg nachdrücklich bewiesen: „Wenn ich nicht an Christus glaubte, an die Wahrheit, die Wirklichkeit und das Wesen des Kreuzes, dann lebte ich einfach nicht, dann litte ich nicht, dann wäre ich einfach NICHTS“ 15 , schreibt der Vierundzwanzigjähri- Heinrich Böll Gruppenbild mit Dame, Sören Kierkegaard: Der Liebe Tun (Frankfurt u.a. 2000). Vgl. auch die publizierte Diplomarbeit: Stephan Güstrau: Heinrich Böll „Sie sagt, ihr Kuba ist hier und ihr Nicaragua“ (Frankfurt 1990). 11 Vgl. Manfred Nielen: Frömmigkeit bei Heinrich Böll (Annweiler 1987); Georg Schwikart: Heinrich Böll. Ein Heiliger gegen den Strich. Auf der Suche nach der eigenen Lebensspur (Würzburg 1996). 12 Neben Küng (Anm. 5) vgl. etwa: Christoph Gellner: „…nachdenken über einen, der in den Sand schrieb“: Heinrich Böll, in: Ders.: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Darmstadt 2004), S. 111-127; Karl-Josef Kuschel: Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur (München/ Zürich 1985) - Gespräch mit Böll: S. 64-76. 13 Heinrich Böll: Interviews I: 1961-1978, Hg. Bernd Balzer (Köln 1980), S. 504-665, hier: S. 538. 14 Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe Bd. 21: 1979-1981, Hg. Jochen Schubert (Köln 2006), S. 388-440, hier S. 434. 15 Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg 1939-1945, Hg. Jochen Schubert (Köln 2001), S. 403. Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 205 ge etwa am 24. Juli 1942 an seine Frau Annemarie. Und am 17. August desselben Jahres: „mein Leben soll keinen anderen Sinn haben, als für Christus, für das Kreuz zu leben und zu arbeiten“ 16 . Was für ein weiter Weg von hier über die ungezählten literarischen Auseinandersetzungen mit der Institution Kirche, ihren Repräsentanten, ihren Dogmen und Moralvorstellungen, ihren gesellschaftlichen und politischen Verflechtungen, was für ein weiter Weg bis hin zum offiziellen Austritt aus der Amtskirche im Januar des Jahres 1976! Böll wurde dabei nicht müde immer wieder zu betonen, dass sein Austritt sich nur auf die römische Amtskirche bezog, die in seinen Augen zunehmend unglaubwürdige und korrumpierte Institution. Ein Christ, ein praktizierender Katholik, ist er bis zu seinem Tod geblieben. Wie alle großen Schriftsteller war Böll zu Lebzeiten umstritten, umso mehr, da er sich immer wieder vehement in das tagespolitische und kirchenpolitische Geschehen einschaltete. Seine Provokationen trafen auf heftigste Gegenwehr. Offizielle Vertreter der Kirche, der Stadt Köln, der Bundesregierung, der Presse bekämpften und diffamierten ihn, um ihn erst lange nach seinem Tod stillschweigend zu rehabilitieren und vereinnahmend für sich zu reklamieren. Heinrich Böll als vorzeigbarer kritischfrommer Katholik, als gefeierter Köln-Repräsentant, als in seinem solidarischhumanen Engagement modellhafter Bundesbürger? - Im Leben des Schriftstellers selbst wären solche Etikettierungen undenkbar gewesen. Seine Lebens- und Werkgeschichte spiegelt den in seinem öffentlichen Vollzug einzigartigen Prozess eines Ringens um die Umsetzung großer Utopien: um die Vision einer wahrhaft demokratischen und menschlichen Gesellschaft auf der einen, die Vision einer frommen, christusförmigen Kirche auf der anderen Seite. Beide Utopien blieben unerfüllt, an beiden zusehend zerbröckelnden Visionen arbeitete er sich ab, unermüdlich, ohne Kompromiss, ohne Resignation. Aus heutiger Sicht drängt sich die Frage auf: Ist das alles nur ein Zeitphänomen gewesen, heute längst überholt und der umständlichen Erklärung und Kontextualisierung nicht mehr wert? Neu stellt sich vor allem aber auch die Frage nach der literarischen Qualität der Erzählungen Bölls: War die Verleihung des Literaturnobelpreises im Nachhinein eine richtige, zukunftsweisende Entscheidung? Umfragen zur Bekanntheit und aktiven Leseerinnerungen bei jüngeren LeserInnen - etwa bei Studentinnen und Studenten - führen meistens zu ernüchternden Ergebnissen. Der Zugang zu Böll steht vor folgendem Dilemma: Böll wird einerseits nicht mehr oder kaum noch als Gegenwartsautor gelesen, andererseits noch nicht als lesenswerter Meilenstein der deutschen Literaturgeschichte betrachtet wie Thomas Mann oder Hermann Hesse . Das mag zum Teil daran liegen, dass die Generation der von Böll geprägten LeserInnen - unter KritikerInnen, WissenschaftlerInnen und LehrerInnen - noch ganz im Sinne einer Zeitgenossenschaft zu ihm und seinem Werk geprägt ist, die zwar für sie selbst stimmig sein mag, nicht aber für die jüngeren Generationen. Die Notwendigkeit der Vermittlung und die Überbrückung der eben schon historischen Distanz sind noch nicht ausreichend erkannt. Weltkriegserfahrung, 68-er Ge- 16 Ebd., S. 440. Georg Langenhorst 206 neration, RAF, Friedensbewegung - all das sind nicht mehr zeitgenössische Phänomene, sondern als schon historische Ereignisse erklärungsbedüftig. Zu den Sperrigkeiten im Zugang zum Werk Heinrich Bölls zählt aber sicherlich auch die enge Konzentration auf den rheinischen Lebensraum um Köln und Bonn, der zwar nicht alle Erzählungen, Romane oder essayistische Werke prägt, aber doch letztlich als böllscher Kosmos in Erinnerung bleibt. Kann das gelingen: Große Literatur zu verfassen in brennspiegelartiger Konzentration auf eine kleine begrenzte Welt? Zwar lassen sich erfolgreiche Beispiele für solche Versuche nennen: das „Dublin“ des James Joyce; das „Macondo“ bei Gabriel Garcia Marquez ; das „Berlin“ von Alfred Döblin ; schließlich das „Danzig“ bei Günter Grass - dem zweiten literaturnobelpreisgekrönten deutscher Katholik nach Böll. Das Besondere des böllschen Werkes liegt jedoch in der engen Verschränkung von Regionalismus und konfessioneller Religiosität. Böll beschreibt eine Region, die entscheidend vom Katholizismus geprägt ist. Und so wie die eben benannten Elemente der politischen Zeitgeschichte, so sind auch die Rahmendaten der von Böll vorausgesetzten Kirchlichkeit inzwischen erklärungs- und übersetzungsbedürftig. Das Gottes- und Menschenbild, das Sündenverständnis, die Sicht auf Liturgie und Sakramente, Angst vor Hölle und Fegefeuer, die Einstellung zu Sexualität - all diese Faktoren, gegen die er anschreibt, von denen er sich produktiv freischreibt, sind heute bestenfalls noch als Erinnerung präsent. Konsequenz: Da die Folie seiner Werke zunehmend unbekannt wird, lassen sich auch die kreativen Gegenbewegungen immer mehr nur noch erahnen. Auch die Rezeptionsgeschichte des böllschen Werkes bleibt ambivalent. Einerseits ist er nach wie vor einer der im Ausland am meisten gelesen deutschen Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gerade weil sich in seinem Werk die Zeitgeschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaft über Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Staatskrisen ideal nachzeichnen lässt. Auch liegen für den schulischen Einsatz seiner Werke zahlreiche didaktisch gut aufbereitete Lektürehilfen 17 in hohen Auflagen bereit. Andererseits schreckt gerade die religiöse Dimension seines Werkes viele DeutschlehrerInnen ab, da breiten Teilen der GermanistInnen an deutschen Universitäten und Schulen jegliches positives Bekenntnis zu Religion von Vornherein suspekt erscheint, vor allem wenn es sich um die vermeintlich ‚reaktionäre’ christliche Religion in römisch-katholischer Ausprägung handelt. Überprüfen wir all diese Überlegungen anhand eines Blicks auf den Roman, der letztlich wie kein anderer für Bölls Werk steht: „Ansichten eines Clowns“. 17 Vgl. zu „Ansichten eines Clowns“: Bernd Balzer: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Grundlagen und Gedanken (Frankfurt 1999); Wilhelm Große: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Interpretationen und unterrichtspraktische Vorschläge (Hollfeld 2001); Bernd Matzkowski: Erläuterungen zu Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns (Hollfeld ³2008); Marianne Meid: Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns (Stuttgart 2001); Reiner Poppe: Erläuterungen zu Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns: Zu den clownesken Elementen des Romans (Hollfeld 1999); Christiane Rogler: Ansichten eines Clowns. Heinrich Böll: Inhalt, Hintergrund, Interpretation (München 2006); Cerstin Urban: Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns: Anregungen für produktionsorientiertes Lesen (Hollfeld 2001). Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 207 4. Vorgeschichten und Nachwirkungen 45 Jahre alt war Heinrich Böll, als „Ansichten eines Clowns“ im Jahre 1963 erschien, längst etabliert als einer der führenden deutschsprachigen Schriftsteller. Dass seine enge Beziehung zur katholischen Kirche von tiefen Konflikten geprägt war, war ebenfalls kulturpolitisches Allgemeinwissen der Zeit. Aber der Katholizismus befand sich im Umbruch. Das Zweite Vatikanische Konzil tagte seit 1962 in Rom und würde das Erscheinungsbild der Kirche drastisch und dauerhaft verändern. Karlheinz Deschner hatte im Vorjahr das erste Buch seiner grundsätzlichen Abrechnung mit den Gräueltaten der Kirchengeschichte veröffentlicht: „Abermals krähte der Hahn“ 18 . Rolf Hochhuth hatte soeben ein Tabu gebrochen und in seinem skandalträchtigen „christlichen Trauerspiel“ „Der Stellvertreter“ 19 die heftigst diskutierte Frage in die Öffentlichkeit gebracht, welche Rolle die katholische Kirche und speziell der Papst in der Judenvernichtung der Nationalsozialisten gespielt hatten. Das Stück war am 20.03.1963 in Berlin uraufgeführt worden. Carl Amery schließlich hatte wie Hochhuth ausgerechnet im kirchenkritischen Rowohlt-Verlag seine Kampfschrift „Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute“ 20 herausgebracht, zu der Böll ein Nachwort verfasst hatte. In diese aufgeladene Stimmung hinein veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung mit Beginn der Palmsonntagausgabe vom 06./ 07. April 1963 sechs Wochen lang die „Ansichten eines Clowns“ als Vorabdruck, jenen Roman, der den Niedergang eines einzelnen Zeitgenossen an den unmenschlichen Lebensbedingungen im Katholizismus der Zeit zum Thema hatte. Schon das ein Wagnis und eine Provokation mit Vorgeschichte! Bislang waren Bölls Werke zum Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Aber dieser Text war den zuständigen Redakteuren zu heiß. Die FAZ sei „nicht der Platz, wo man dieses Buch offen hätte zur Diskussion stellen können“, so teilt man ihm mit im Blick auf deren „200 000 Leser“, von denen eine „erdrückende Mehrheit“ mit „Missverständnis, Unvermögen zu verstehen und wohl auch nutzlosem Ärger“ 21 reagieren würde, so prognostizierte man. Eine Einschätzung, die sich durchaus bestätigen sollte. Sofort nach Ablauf der Sperrfrist erschienen nicht weniger als 50 Rezensionen des somit schon bekannten Romans, die eine heftige Debatte widerspiegeln: War das ein Roman, der die Lebenswirklichkeit der 60er Jahre realistisch wiedergab? Oder bloß ein literarisch ausgekleidetes Gesinnungszeugnis, eine narrativ verkleidete Kampfschrift? Eine skurril aufgeblähte Provinzposse oder ein exemplarisches Paradigma menschlicher Existenz, in einem konkreten Kontext situiert und ausgestaltet, aber parabelhaft übertragbar auf andere Konstellationen, Zeiten und Lebenssituationen? Marcel Reich-Ranicki vertrat in einer Besprechung der ZEIT die erste Position, indem er schrieb: „Der 18 Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte (Stuttgart 1962). 19 Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel (Reinbek 1963). 20 Carl Amery: Die Kapitualtion oder Deutscher Katholizismus heute (Reinbek 1963). 21 Heinrich Böll: Werke 21, S. 265f. Georg Langenhorst 208 katholische Klüngel von Bonn und Köln verstellt dem Autor den Blick in die Welt“ 22 . Andere beklagten vehement vor allem die „Angriffe gegen alles Katholische und Kirchliche, gegen kirchliche Lehren, Institutionen, gegen das Handeln der Kirche und kirchlicher Persönlichkeiten“ 23 , die zudem ästhetisch missglückt seien, weil der Roman schlicht „im Ressentiment versackt“ 24 . Wagen wir uns aus heutiger Perspektive an eine eigene Betrachtung! 5. Handlungslinie des Romans Eines ist gewiss: „Ansichten eines Clowns“ (1963) ist bis heute ein Schlüsselroman Bölls, schon bis 1981 mehr als eine Million Mal verkauft, bis heute als DTV- Taschenbuch in der 58. Auflage erhältlich, in alle wichtigen Sprachen übersetzt, 1970 in einer vom Autor miterstellten Bühnenfassung zum Theaterstück umgearbeitet, 1976 verfilmt. Die Handlung ist auf einen einzigen Tag des Jahres 1962 zusammengeschmolzen, von hier aus eröffnen Rückblenden und Vorausvisionen ein weites Zeitpanorama. Der entscheidende, von vielen Kritikern übersehene Kunstgriff des Autors besteht darin, das Geschehen aus der Ichperspektive eines Außenseiters zu präsentieren. Nicht um objektive Darstellung geht es, sondern um extreme perspektivische Zuspitzung, die - unabhängig von manchen Übereinstimmungen - explizit nicht diejenige des Autors ist. Böll blickt auf seine Zeit, die bundesrepublikanische Adenauer-Epoche, seine Gesellschaft, auf Politik und Kirche durch die Augen eines nichtpolitischen, nichtkatholischen, nichtliterarischen Menschen, eben durch den „Clown“. Hans Schnier, Jahrgang 1935 und an jenem Märztag des Jahres 1962 27 Jahre alt, stammt aus einer reichen „strenggläubigen“ 25 evangelischen Oberschichtsfamilie, die ihr Geld vor allem mit dem Braunkohleabbau verdient hat, und die über einen Seitenzweig mit dem deutschen Adel verbunden ist. Mit der Generation von Hans wird ihre Existenz freilich beendet sein. Henriette, die von Hans so geliebte große Schwester, war noch in den letzten Kriegstagen von den Eltern als Flakhelferin in den sinnlosen Tod geschickt worden. Leo, der jüngere Bruder, wie Hans auf eine katholische Schule geschickt, war zum Entsetzen der Eltern zum Katholizismus konvertiert, studiert nun Theologie mit dem Ziel, Priester zu werden. „Es war“, gibt Hans’ Vater zu, „so schmerzlich für mich wie Henriettes Tod - es hätte mich nicht so geschmerzt, wenn er gesagt hätte, er würde Kommunist“ (S. 167). Hans selbst war stets ein Rebell, lebte im Streit mit der als naiv und falschzüngig durchschauten Mutter, dem heuchlerischen Vater, der von ihnen repräsentierten Gesellschaft. Mit 21 Jahren hatte er ohne Abschluss das Gymnasium verlassen, ohne auch nur entfernt daran zu denken, den ihm zugedachten Weg der Familiennachfol- 22 Ebd., S. 356. 23 Ebd., S. 361. 24 Ebd., S. 366. 25 Alle Textzitate aus: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Roman 1 1963 (München: DTV 2007), hier S. 10. Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 209 ge einzuschlagen. Clown wollte er werden, Komödiant, Komiker, Pantomime, um so der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. „Nicht religiös“ sei er, „nicht einmal kirchlich“, stattdessen bediene er sich „der liturgischen Texte und Melodien aus therapeutischen Gründen“ (S. 11). Diese Therapie benötigt er auch, leidet er doch an einer seltsamen Veranlagung. „Mein fürchterlichstes Leiden ist die Anlage zur Monogamie“ (S. 18). Warum Leiden? Nun, als 21-jähriger hatte er sich mit der zwei Jahre jüngeren Marie Derkum zusammengetan, hatte mit ihre eine Art Naturehe geschlossen, die für ihn eine unerschütterliche Geltung besitzt. Jahrelang waren sie von Auftritt zu Auftritt durch Deutschland gezogen, erfolgreich, gut entlohnt, auch wenn das Geld sofort wieder ausgegeben wurde. Aber die in seinen Augen so idealtypisch gut begonnene und geführte Liebesbeziehung stand unter keinem guten Stern. Marie hatte einige Fehlgeburten erlitten und diese zumindest indirekt mit ihrem ‚sündigen‘ Zusammenleben in freier, wilder Ehe zusammengebracht. Für sie als gläubige und praktizierende Katholikin wurde es auf Dauer immer unerträglicher, in diesem Zustand weiter zu leben. Gewiss, Hans und Marie wollten Kinder, und ja doch: nach langem Ringen und Argumentieren hätte Hans nichts mehr dagegen einzuwenden gehabt, wenn Marie sie katholisch taufen lassen würde. „Wir waren uns in allen Punkten einig, bis auf die katholische Erziehung.“ (S. 82) Doch auch hier lenkt er schließlich ein. Um seine Beziehung zu ihr zu retten, würde er zur Not „sogar regelrecht zur katholischen Kirche übertreten“ (S. 83f.), doch kommen diese Beteuerungen zu halbherzig und zu spät. Marie hatte Kontakt zum „Kreis fortschrittlicher Katholiken“ (S. 19) aufgenommen, einer lockeren Verbindung der aufgeschlossenen, aufgeklärten, kulturoffenen und demokratisch gesinnten Führungsgruppe des deutschen Reformkatholizismus in Bonn. Diese Gruppe steht unter der Leitung von Prälat Sommerwild - einem Charakter, der stark von Prälat Bernhard Hannsler , langjährigem Leiter der Bischöflichen Studienstiftung „Cusanuswerk“ und Geistlicher Direktor des Zentralkommitees der deutschen Katholiken inspiriert ist. 26 Sommerwild habe - so Schniers Eindruck - „genausogut Kur- oder Konzertdirektor, Public-Relations-Manager einer Schuhfabrik, ein gepflegter Schlagersänger“ (S. 124) sein können. Seine rhetorisch ausgefeilten Predigten seien wie „eine Art Honigwasser“, in denen „Rilke, Hofmannsthal, Newman“ (S. 124) süßlich destilliert würden. Mehr und mehr hatte diese Gruppe um Sommerwild Druck auf Marie ausgeübt, Schnier zu verlassen und eine ordentliche katholische Ehe einzugehen, auch wenn dies in den Augen Hans Schniers die Aufforderung zu Treue- und Ehebruch beinhaltete. Am Ende hatten sie Erfolg. Nach sieben Jahren verließ Marie ihren Clown, um Heribert Züpfner zu heiraten, einen zentralen Laienvertreter der Gruppe. Für Hans, den krankhaft Monogamen, eine Katastrophe! Seine Welt stürzt zusammen, er wird depressiv, greift zu Alkohol. Auf der Bühne versagt seine Ausstrahlung, man buht ihn aus, ja: das Publikum hat Mitleid mit ihm, dem versagenden Clown. Als er bei einem Auftritt stürzt und sich sein Bein verletzt, ist den Tiefpunkt erreicht. Er 26 Erich Garhammer : Tod eines Predigers. Eine Skizze zu Prälat Sommerwild, In: Georg Langenhorst (Hg.): 30 Jahre Nobelpreis Heinrich Böll, a.a.O., S. 163-166. Georg Langenhorst 210 sagt alle Auftritte ab, begibt sich mit letzter Kraft und letztem Geld in seine - von einem reichen Onkel geschenkte - Wohnung in Bonn. Allein, ohne eine müde Mark, ohne Gegenwart, ohne Zukunft. Diesen Märztag mitten im rheinländischen Karneval erzählt das Buch. Hans Schnier in seiner Wohnung. Einen nach dem anderen Weggefährten ruft er in Erinnerung, ruft er an mit der Bitte um Hilfe. Wo ist Marie? Woher kann er Geld zum Überleben auftreiben? In Erinnerungsströmen und Gesprächen entfaltet sich das Leben Hans Schniers. Freunde und Bekannte? Die meiden ihn, den Versager, den Verlierer. Marie? Die befindet sich mit Züpfner auf Hochzeitsreise in Rom. Geld? Letztlich bleibt ihm doch nur die entwürdigende Hoffnung auf Ströme aus des Vaters so ungeliebtem wie unerschöpflichem Reichtum. Am Ende nimmt er seine Gitarre, setzt sich als Narr unter Karnevalsnarren in seinem abgerissenen Clownskostüm und in zerlaufener Maske auf die Treppe des Bonner Bahnhofs und intoniert das Lied vom „armen Papst Johannes“ (S. 285). 6. Satire, nicht Sozialprotokoll Ist der mit dieser knappen Skizze umrissene Roman realistisch, ein Abbild seiner Zeit, ein getreues Zeugnis von Lebenswirklichkeit? Wenn man ihn so liest - und das haben Rezensenten und LeserInnen von Anfang an getan - wird man ihn für misslungen halten. Nicht Gestalten bevölkern diesen Roman, „sondern aufrechtgehende Namen“ 27 , so etwa die Kritik von Marcel Reich-Ranicki. Selbst Marie erhalte ja kein rundes und vor allem eigenständiges Profil, so wird bemängelt. Und Hans in seiner manischen Monogamie sei völlig ins Irreale überzeichnet. All das stimmt. Ist aber Konsequenz der durchgängigen Figurenperspektive, in welcher der Roman verfasst ist. Hier kann es nicht um eine faire und objektive Darstellung von Personen und Institutionen gehen, nicht um analytische Aufdeckung von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Verflechtungen. Ein Verzweifelter, Gescheiterter, am Boden Liegender schildert die Geschichte seines Niedergangs. Seine Optik bestimmt die Darstellung. Auf seine Perspektive müssen wir Lesenden uns einlassen. So gesehen wird es kaum überraschen, dass all diejenigen negativ überzeichnet werden, die für den Niedergang verantwortlich gemacht werden. Nein, das ist kein liebender Blick, der auf die Eltern und ihre Welt des Großbürgertums fällt. Ja, das ist ein extrem wütender Blick, mit dem der Katholizismus, vor allem der „Kreis fortschrittlicher Katholiken“ beschrieben wird. Und ebenfalls ja, diese Darstellungen triefen vor Selbstgerechtigkeit, mangelnder Distanz und Selbstkritik. Aber diese Elemente gehören zu der Figur, sie steigern deren Glaubwürdigkeit. Hier geht es nicht um ein wissenschaftliches Essay, sondern um fiktionale Literatur. Und deren vorrangiges Stilmittel ist bei Böll die Satire. In einem kurz vor seinem Tod verfassten Nachwort zu einer Neuauflage des Romans beklagt er so mit Recht die „völlige Verkennung des literarischen Mittels der Satire“ (S. 288). Perspektivität, Emotionalität, 27 Heinrich Böll: Werke 21, S. 372. Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 211 Überzeichnung - nur unter der Beachtung dieser Vorgaben wird man „Ansichten eines Clowns“ gerecht. Schauen wir vor diesem Hintergrund auf die Darstellung des Katholizismus. Er habe - so Schnier, der Clown - „dem Katholizismus große Sympathien entgegengebracht“ (S. 19), und so wird er durchaus auch beschrieben, auch wenn es „grauenhaft“ sei, „was in den Köpfen von Katholiken vor sich geht“ (S. 44). Ihre Liturgie, überzeugend lebende und wirkende einzelne Pfarrer, die selbstverständlich gepflegte Fürsorge - all das wird warmherzig miterzählt. Im Zentrum steht freilich die Abrechnung mit dem Gremienkatholizismus. „Katholiken machen mich nervös“, gibt Schnier zu. Warum? „Weil sie unfair sind.“ Aber andere kommen auch nicht besser weg: Protestanten? „Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel.“ Und Atheisten? „Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.“ (S. 107) Trotzdem bleibt der berechtigte Eindruck, dass die Katholiken am schärfsten kritisiert werden. Nur vier richtige Katholiken kenne er auf der Welt, so Hans Schnier: „Papst Johannes, Alec Guiness, Marie, und Gregory, einen altgewordenen Negerboxer“ (S. 81f.) Dem auf Regeln und Gesetzen beruhenden Glaubenssystem des Katholizismus wird in der Person Hans Schniers und in seinem Eheverständnis eine Vision von Ursprünglichkeit und Reinheit entgegengestellt. Fast möchte er sagen, so selbst Prälat Sommerwild in einem langen Telefongespräch mit Hans, dass Sie „ein reiner Mensch“ (S. 149) sind. Im Spiegel dieser lebensuntüchtigen Reinheit fällt das Bild der Kirche schonungslos aus: Katholiken? Sie sind „die eingebildetste Menschengruppe, die ich kenne. Sie bilden sich auf alles was ein: auf das, was stark ist an ihrer Kirche, auf das, was schwach ist an ihr, und sie erwarten von jedem, den sie für halbwegs intelligent halten, dass er bald konvertiert.“ (S. 150f.) Dagegen steht Hans Schnier, „Komiker, keiner Kirche steuerpflichtig“ (S. 258), der von sich sagt: „Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke“ (S. 277). Wer wollte von ihm Objektivität erwarten? 7. Ein Roman mit Zukunft? Wenn nicht Objektivität, so doch Bedeutsamkeit. Was soll das, dieses Sichverbohren in eine Kritik an der Kirche, an Zeitumstände, die heute sphärenhaft fern scheinen? Ist „Ansichten eines Clowns“ nicht lediglich ein literarisches Dokument von zeitbedingter Bedeutung? Hat der Roman nicht seine Wirkkraft verloren? Heinrich Böll war sich dieser möglichen Nachfragen selbst bewusst. 1985, also in seinem Todesjahr, fügt er einer Neuausgabe des Romans ein Nachwort an und räumt dort ein, dass „Nachgeborene“ wohl kaum begreifen werden „wieso ein so harmloses Buch seinerzeit einen solchen Wirbel hervorrufen konnte“ (S. 287). Schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sei der Grundkonflikt, das Zusammenleben von Unverheirateten, längst weithin akzeptierter Normalfall; um so mehr heute, noch einmal 25 Jahre später. Es möge deshalb schon sein, so Böll weiter, dass der Roman so nur „als eine ironisch-satirische Zeitskizze“ (S. 291) überleben werde. Georg Langenhorst 212 Diese Prognose erwies sich einerseits als richtig, andererseits aber als falsch. Gewiss, dass die katholische Kirche, dass ihre Sexuallehre, dass ihr Sakramentenverständnis so ernst genommen wurden, so sehr das alltägliche Leben einer Gesellschaft bestimmten, das liest sich heute wie der Bericht von einer anderen Seinsform. Entscheidend jedoch: In dieser Konstellation spiegelt sich - von Böll ungeahnt - ein paradigmatischer, bei aller konkreten Ausformung in andere Kontexte übertragbarer Konflikt. Dass und wie eine innig erzählte Liebesgeschichte an institutionellen Sperrmauern scheitern kann; dass und wie man in einem System zum Außenseiter wird; dass und wie man wütend, zornig und enttäuscht in einer solchen Situation mit den vermeintlichen Schuldigen innerlich abrechnet - das wird in „Ansichten eines Clowns“ anschaulich erzählt. Hans Schnier liebt eine konkrete Frau, lebt in einer konkreten Welt, leidet an konkreten Begrenzungen - aber je konkreter diese Elemente erzählt werden, um so glaubwürdiger lassen sie sich analog auf andere Situationen übertragen. Das macht auch das dem Roman vorangestellte Motto deutlich, ein Zitat aus dem paulinischen Römerbrief (15,21), das wiederum einen Spruch des alttestamentlichen Propheten Jesaja aufnimmt: „Die werden es sehen, denen von Ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben“: Die Beziehung vom Motto zum Text sind umstritten: Handelt es sich um eine implizite Zusage an Hans Schnier, dass er die Botschaft Jesu besser verstanden hat und lebt, als all diejenigen, die sich explizit auf ihn berufen? Oder wendet sich das Motto an uns Lesende im Sinne einer Aufforderung, die jesuanische Botschaft besser zu leben als dies den im Buch geschilderten Zerrbildern christlicher Existenz gelingt? Der zumindest auch parabolische Charakter von „Ansichten eines Clowns“ wird im biblischen Motto auf eigene Art und Weise deutlich. Der Roman lässt sich so bleibend auf zwei Ebenen lesen: wie gerade umschrieben als Schilderung einer menschlichen Grundsituation, aber darin auch als konkrete Zeitgeschichte. Als Katholik der Gegenwart des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert kann man so Spuren jener Geschichte nachspüren, die eine heutige, im Kontext der Postmoderne völlig veränderte Situation erklärt und nachvollziehbar macht. So wie ein Roman, der in der Weimarer Republik spielt, heutigen LeserInnen die Einfühlung in eine andere Zeit zumutet und ermöglicht, so auch hier. Diese Welt des rheinischen Katholizismus der 60er Jahre ist uns fremd, bleibt uns fremd. Über ihre Paradigmen und Probleme mögen wir aus heutiger Sicht die Köpfe schütteln. Fremdheit bietet aber immer die Doppelchance, sich einerseits selbst in Absetzung neu und anders wahrzunehmen, wie auch andererseits sich in andere Welten einzufühlen. Lesende haben zwar niemals einen direkten Zugriff auf Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken anderer, handelt es sich doch stets um gestaltete, gedeutete, verfremdend geformte Erfahrung. Über den doppelten Filter der schriftstellerischen Gestaltung eines Heinrich Böll einerseits und der stets individuellen Deutung der Lesenden andererseits ist aber zumindest ein indirekter Zugang zu Erfahrungen anderer möglich. Was für eine Erweiterung der selbst erfahrenen Wirklichkeit! Was für ein Reiz, sich als Lesender in der Phantasie an die Vorgaben anderer anzuschließen und sie Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 213 durchzuspielen! Mit dem Clown tauchen wir ein in diese seltsam enge, seltsam aufstrebende, seltsam zerbröckelnde Welt des rheinischen Katholizismus und der Bonner Republik der 50er Jahre. Mit literarischen Texten werden aber nicht nur Erfahrungen fiktiv ausgestaltet, in ihnen wird auch immer wieder neu der jeweilige Blick auf die Wirklichkeit ausgedeutet. Mit Hans Schnier, diesem „modernen Propheten“ 28 , teilen wir Lesende den Blick auf eine Wirklichkeit von Ungerechtigkeit, Lebensverweigerung, Sehnsucht und Hoffnung. In den Dialogen seiner Figuren „kommt geschluckte, gesehene, gehörte Realität zur Sprache“ 29 , so Böll in einem Gespräch mit Karl-Josef Kuschel über Religion und Literatur. Ob wir seine Sicht auf Realität, auf Wirklichkeit teilen, ist dabei zweitrangig. Der wohl reizvollste Aspekt des Lesens von Literatur geht jedoch noch einen Schritt weiter. Blicken wir dazu auf eine weitsichtige Unterscheidung von Robert Musil (1880-1942). Am Beginn seines zweitausendseitigen Jahrhundertromans „Der Mann ohne Eigenschaften“ 30 (1930-1943) stellt er eine Forderung auf, ohne deren Einlösung Literatur undenkbar wären: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“. Zunächst, so Musil, benötigen alle Menschen den „Wirklichkeitssinn“ - „und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat“. Wirklichkeitssinn, das ist ein Gespür für die Wahrnehmung und Deutung von Fakten, Tatsachen, Empirie. Und Zugänge zu schaffen zur Deutung von Wirklichkeit ist - wie eben dargelegt - ein grundlegender Reiz von Literatur. Ohne diesen Sinn keine Kultur, keine Bildung, keine Wissenschaft! Ohne Wirklichkeitssinn keine Verankerung der Lebenswelt des Clowns Und trotzdem: Dieser erste zu fördernde Sinn ist nur Grundlage für das, was das einzigartig Besondere von Literatur ausmacht. Musil nennt dies den „Möglichkeitssinn“. Damit bezeichnet er die zentrale Fähigkeit, „alles, was ebensogut sein könnte“ wie das Bestehende, „zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Das so benannte, fiktiv erahnte Mögliche könne man - so Musil weiter in erstaunlich theologischer Begrifflichkeit - sogar „die noch nicht erwachten Absichten Gottes“ nennen, denn es habe „etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt“. Gerade das sensible Nachspüren dessen, was sein könnte , was möglich wäre , zeichnet also den Möglichkeitssinn aus. Nicht um eine Zurückweisung der Wirklichkeit geht es dabei, sondern um ein Erweitern, Vertiefen, Übersteigen. Konkret: Mit Hans Schnier spielen wir die Gedanken durch, wie eine reine Liebe jenseits von institutionellen Zwängen möglich sein könnte; wie eine Gesellschaft aussehen würde, in der Verantwortung, Mitbestimmung und Fairness als Grundregelen akzeptiert würden; wie eine Kirche ausse- 28 Volker Garske: Christus als Ärgernis. Jesus von Nazareth in den Romanen Heinrich Bölls (Mainz 1998), S. 164. 29 Karl-Josef Kuschel: Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur (München/ Zürich 1985); Gespräch mit Böll: S. 64-76, hier S. 64. 30 Alle Zitate: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman (Reinbek 1987), S. 16. Georg Langenhorst 214 hen sollte, in der Bescheidenheit, Zärtlichkeit, Demut, Zuwendung zum Nächsten und Authentizität gelebt würden. Im Spektrum von derart profilierter Erfahrung, Wirklichkeit und Möglichkeit lässt sich „Ansichten eines Clowns“ zeitüberdauernd lesen. 8. Reden und Schweigen von Gott Schauen wir abschließend noch einmal zurück auf die Rolle, die Religion im Werk von Heinrich Böll spielt. So unverzichtbar der Katholizismus als Nährboden, Milieu und Kontext seiner Erzählungen ist, so sehr er mit der Institution Kirche ringt, so intensiv er auch eine andere Form von Sakramentalität beschreibt und verdichtet, so wenig zentral ist für ihn die direkte Rede von Gott selbst. Als „Wort der menschlichen Sprache“ - resümiert Heinrich Jürgenbehring in einer fachbezogenen Untersuchung - ist „Gott“ eher „selten ein Wort der Sprache Bölls“ 31 . Das Wort selbst finde er schrecklich, so Böll einmal in einem Interview. In „Ansichten eines Clowns“ etwa werden wir es kaum finden. Böll stellte sich bewusst gegen die inflationäre missbräuchliche Nennung Gottes. Am deutlichsten wird dies in der bis heute aus theologisch-literarischer Perspektive reizvollsten seiner Satiren, „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ von 1955. Bur- Malottke, eine weithin anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet von Kunst und Kultur und „in der religiösen Begeisterung des Jahres 1945 konvertiert“ 32 , hatte zwei Radiovorträge über das Wesen der Kunst gehalten. Vor der Ausstrahlung überkommen ihn Zweifel: Habe er nicht all zu oft von „Gott“ gesprochen? Er richtet die Bitte an das Funkhaus, dieses Wort aus den Reden herauszuschneiden und „durch eine Formulierung zu ersetzen, die mehr der Mentalität entsprach, zu der er sich vor 1945 bekannt hatte“: nämlich „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ (ebd.). Dr. Murke, aufstrebender Redakteur der Abteilung Kulturwort, erhält den Auftrag, die dazu notwendigen 27 Ersetzungen entsprechend vorzunehmen quer durch alle grammatikalischen Varianten des jeweiligen Redekontextes. Angewidert von den Usancen des Radiobetriebs auf der einen, der Scheinheiligkeit und dem Opportunismus von Gestalten wie Bur-Malottke auf der anderen Seite pflegt Dr. Murke ein seltsames kompensatorisch wirkendes Hobby: „Ich sammle eine bestimmte Art von Resten“, gesteht er, angefragt in Bezug auf den Inhalt einer Dose mit Bandschnipseln. „Schweigen (…) ich sammle Schweigen.“ (S. 322) Deutlich wird hier ein Grundzug des religiösen Sprachgebrauchs nicht nur der Figur Dr. Murke, sondern auch des Autors Heinrich Böll: Wenn er das Wort „Gott“ direkt verwendet, dann verfremdend, ironisierend, entlarvend. Eigentlich jedoch zieht er das bewusste Schweigen vor. In dem bereits zitierten, 1983 geführten Gespräch mit Karl-Josef Kuschel über Religion und Literatur bezieht Böll klar Stellung: 31 Heinrich Jürgenbehring: Liebe, Religion und Institution. Ethische und religiöse Themen bei Heinrich Böll (Mainz 1994), S. 78. 32 Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausgabe Bd. 9: 1954-1956, hrsg. von J. H. Reid (Köln 2006), S. 303-326, hier: S. 304. Heinrich Böll Ansichten eines Clowns (1963) 215 „Ich glaube eher, dass man das Wort ‚Gott‘ für eine Weile aus dem Verkehr ziehen sollte; nicht Gott selbst, nicht das, was mit diesem Wort gemeint ist.“ Warum? Es sei nur noch „ein Füllwort“, denn wenn „einem gar nichts anderes mehr einfällt, dann sagt man ‚Gott‘. Gott ist dann oft ein Abladeplatz für viele Probleme, die wir Menschen lösen könnten.“ 33 Zu viel, zu oberflächlich, zu funktionalisiert wird ihm von Gott geredet - darin spiegeln sich Erfahrungen aus den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. „Das Wort Gott für eine Weile aus dem Verkehr ziehen“ - diesem Impuls sind neben Böll seit diesen Jahren viele SchriftstellerInnen bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt gefolgt. Was Böll nicht ahnen konnte, was auch gegen eine seiner Grundüberzeugungen verstoßen hätte, war die Folgeentwicklung, dass mit dem Verstummen der literarischen Benennung des Wortes „Gott“ dann tatsächlich oft genug auch ein Verstummen der Sache verbunden sein sollte, für die dieses Wort steht. Die Welt Bölls, das religiös getränkte Milieu, die ständig und auch noch durch Opposition betonte Bedeutung von Kirche, Pfarrern und Bischöfen, das Verständnis von Sakramentalität - all das versank in eine Welt, die heute tatsächlich für viele vergessen ist, verloren, vergangen, fremd. Es brauchte einige Jahrzehnte, es brauchte Distanz, es brauchte kirchliche und gesellschaftliche Veränderungen paradigmatischen Ausmaßes, bis ein Anknüpfen an die literarische Welt Bölls unter ganz anderen Vorzeichen und im Modus der Transformation möglich wurde. In den 90er Jahren begann die damals mittlere AutorInnengeneration über ihre eigenen Wurzeln und Prägungen nachzudenken und diese Prozesse literarisch zu gestalten. Eine literarisch-religiöse Verankerung wie bei Böll, ein immer wieder neues Kreisen um ein zutiefst konfessionell geprägtes Milieu wird es dabei nicht mehr geben. Dass es die anfangs aufgezeigten Erbspuren gibt - bei Stadler, Hahn, Ortheil, Rothmann oder Hürlimann - zeigt jedoch, dass sie weiterleben, die „Ansichten eines Clowns“: als Fenster in eine konkrete Vergangenheit, als in satirischer Zeichnung paradigmatisch abgestecktes Urmuster menschlicher Existenz, als Ansichten, die in anderer Zeit und anderem Kontext andere Konturen bekommen könnten. Reizvoll sich auszumalen, wie es ihm heute erginge, dem Clown und Komiker Hans Schnier. Was er heute ansehen, beklagen, besingen würde… Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns . 1 1963. München: DTV, 2007. oder in: Werke. Kölner Ausgabe Bd. 13. Hg. Árpád Bernáth. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004. 33 Karl-Josef Kuschel: Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen, a.a.O., S. 68. Georg Langenhorst 216 Forschungsliteratur: Balzer, Bernd: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Grundlagen und Gedanken . Franfurt am Main: Diesterweg, 4 1999. Garske, Volker: Christus als Ärgernis. Jesus von Nazareth in den Romanen Heinrich Bölls Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1998. Gellner, Christoph: „‚…nachdenken über einen, der in den Sand schrieb‘: Heinrich Böll“, in: Ders.: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts . Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. 111-127. Götze, Karl Heinz: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Text und Geschichte . München: Fink, 1985. Große, Wilhelm: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Interpretationen und unterrichtspraktische Vorschläge . Hollfeld: Beyer, 8 2001. 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Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung. 1 So lautet der erste Satz des Romans Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, geschrieben im Jahrzehnt zwischen 1971 und 1981, erschienen in drei Bänden 1975, 1978 und 1981. Ein anonymer Ich-Erzähler beschreibt eine Szenerie, deren Realitätsstatus sich nicht sofort erschließt: Zusammen mit anderen scheint er umgeben von Kämpfenden, die angreifen, ausweichen, zurückschnellen und sich decken, die aber nicht einfach da sind, sondern, wie es zu Beginn heißt, „sich aus dem Stein“ heben, also gewissermaßen aus dem Stein herauswachsen und auf merkwürdige Weise fragmentiert sind: Die Rede ist von „einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte“, also von beschädigten und zerstückelten Körpern, die nichtsdestotrotz weiter kämpfen, „hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung“ - eine groteske Szenerie kämpfender Körperteile, in deren Mitte sich der Sprecher befindet. Und so geht es weiter: Ferse im Sprung, umflattert vom Rock, geballte Faust am nicht mehr vorhandnen Schwert, zottige Jagdhunde, die Mäuler verbissen in Lenden und Nacken, ein Fallender, mit dem Ansatz des Fingers zielend ins Auge der über ihm hängenden Bestie, vorstürzender Löwe, eine Kriegerin schützend, mit der Pranke ausholend zum Schlag, mit Vogelkrallen versehne Hände, Hörner aus wuchtigen Stirnen ragend, sich ringelnde Beine, mit Schuppen besetzt, ein Schlangengezücht überall, im Würgegriff um Bauch und Hals, züngelnd, die scharfen Zähne gebleckt, einstoßend auf nackte Brust. (I, 7) Wilde Tiere mischen sich in die Schlacht, ja die Kämpfenden sind z.T. selbst Mischwesen aus Mensch und Tier, Monstren mit Vogelkrallen, Hörnern und Schlangenbeinen. Und der Kampf scheint sich in ständiger Veränderung zu befinden, ein me- 1 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands. Bd. 1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1983, 7. Im fortlaufenden Text nachgewiesen mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl. Günter Butzer 220 tamorphotisches Geschehen, das mehr an einen surrealen Traum als an eine reale Schlacht erinnert. Erst nach eineinhalb großformatigen Seiten tritt eine erste Unterbrechung dieser Schilderung ein, wenn es heißt: Ein leises Klingen und Rauschen tönte auf hin und wieder, das Hallen von Schritten und Stimmen umgab uns Augenblicke lang, und dann war aufs neue nur diese Schlacht nah, unser Blick glitt über die Zehen in der Sandale, sich abstoßend vom Schädel eines Gestürzten, über den Sterbenden, dessen lahmwerdende Hand zärtlich auf dem Arm der Göttin lag, die ihn am Schopf hielt. (I, 8) Damit wird erneut die Beobachtungsperspektive dieses anonymen Subjekts in der ersten Person Plural markiert, das sich offenbar in einem Raum befindet, in dem es von der geschilderten Schlacht umgeben ist, in dem sich aber anscheinend auch noch andere Personen befinden, und dieser Raum nimmt allmählich Konturen an: Der Boden der Kämpfenden wird als „Sims“ benannt, unter dem Schriftzeichen in den Stein graviert sind, die zwei Figuren, Coppi und Heilmann, „mit Hilfe eines mitgebrachten Buchs“ zu entziffern suchen: Coppi wandte sich ihm [Heilmann, G.B.] zu, aufmerksam, mit breitem, scharfgezeichnetem Mund, großer, vorstoßender Nase, und wir gaben den Gegnern in diesem Gemenge ihre Namen und besprachen, im Schwall der Geräusche, die Anlässe des Kampfs (I, 8). So kristallisiert sich zusehends die Situation heraus, die wir hier vor uns haben: Drei junge Männer im Alter zwischen 15 und 21 Jahren befinden sich am 22. September 1937 im Berliner Pergamonmuseum und betrachten den monumentalen Fries des Pergamonaltars aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, auf dem, wie es heißt, „die gesamte, von Zeus geführte Götterschar zum Sieg schritt über ein Geschlecht von Riesen und Fabelwesen“ (I, 9; ausführlich zu dieser Eingangspassage des Romans Reulecke 2002: 84-126). Es handelt sich hierbei um die sog. Gigantomachie, den Aufstand erdgeborener Gestalten, die, so Hesiod in der Theogonie , aus dem Blut des von Kronos entmannten Himmelsgottes Uranos entstanden sind, das auf Gaia, die Göttin der Erde, getropft war: „in strahlender Rüstung und mit langen Speeren in der Hand“ (Hesiod 1999: V. 186). Diese Giganten, „die Söhne der klagenden Ge, vor deren Oberkörper wir standen“ (I, 9), hatten sich, einer Prophezeiung des seinerseits von Zeus entmachteten Kronos gemäß, gegen diesen und die neuen olympischen Götter erhoben und wurden in einer gewaltigen Schlacht von den Olympiern vernichtend geschlagen, wodurch die Herrschaft der olympischen Götter erst endgültig gefestigt war. Der Pergamonaltar, der dieses Geschehen in bislang nicht gekannter Ausführlichkeit präsentiert, wurde - was auch in Weiss‘ Roman thematisiert wird - im Jahr 1871 von dem deutschen Ingenieur Carl Humann im türkischen Bergama entdeckt und in den folgenden Jahren bis 1886 nach Berlin verbracht, wo er als Kernstück der Antikensammlung im nach ihm benannten Museum bis heute ausgestellt wird. Es handelt sich um den einzigen erhaltenen Fries, der ein Bauwerk vollständig umgibt (vgl. zum Folgenden Schalles 1986). Im Vergleich mit ähnlichen - vorbildhaften - Darstellungen der Gigantomachie, insbesondere derjenigen auf den Ostmetopen des Parthenon auf der Akropolis, ist der Pergamonfries mit seinen rund 50 Göttergestal- Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 221 ten wesentlich umfangreicher. Am beeindruckendsten erscheint der Ostfries, den der Besucher des pergamenischen Tempelbergs zuerst erblickte und der in seiner pyramidalen Komposition dem Westgiebel des Parthenons folgt (also ein Zeugnis klassizistischer Imitatio aus der Zeit des Hellenismus darstellt). Es ist dieser Ostfries, den Peter Weiss im Roman vor allem beschreibt und der auf besondere Weise wahrgenommen wird: Im Berliner Pergamonmuseum wurde nämlich der Altar mit seinem monumentalen Treppenaufgang an die eine Wand des Raumes gestellt, so dass nur der Fries der Westseite und Teile des Nord- und Südfrieses an ihrem Platz verblieben, während die restlichen Teile des Nord- und Südfrieses und der gesamte Ostfries vom Altar weggenommen und an den drei anderen Wänden des Museumsraumes angebracht wurden - so dass das Kampfgeschehen den Betrachter tatsächlich, wie Weiss es eingangs beschreibt, von allen Seiten umgibt. Abb. 1: Pergamonfries, Zeus-Gruppe Die Götterfiguren auf dem Fries sind nach einem genealogischen Prinzip angeordnet, d.h. nah verwandte olympische Götter kämpfen benachbart; so befindet sich die gut erhaltene Zeus-Gruppe neben der ebenfalls gut erhaltenen Athena-Gruppe, und diese werden wiederum eingerahmt von zwei Reitergespannen, die von der Zeus- Gattin Hera bzw. von dem Zeus-Sohn Ares gelenkt werden. Zwar ist der Kampf auf dem Fries noch in vollem Gang, es besteht aber auch für den der Mythologie Unkundigen kein Zweifel daran, dass die Olympier den Sieg davontragen werden. So streckt Zeus, dessen muskulöser Körper von einem herabsinkenden Mantel eingefasst ist (die Götter sind allesamt bekleidet, während die Giganten nackt gezeigt werden) gleich drei Gegner nieder (Abb. 1): Der linke ist bereits kampfunfähig (in seinem Oberschenkel steckt ein Blitz), der zweite Gegner ist rechts von ihm in die Knie gebrochen, weil er einen Schlag von seiner Ägis erhalten hat. Ins Visier genommen hat Zeus eine mächtige schlangenbeinige Gestalt, die, in Rückansicht dar- Günter Butzer 222 gestellt, in kompositionellem Gegensatz zu ihm steht: wahrscheinlich Typhon, den Anführer der Giganten, der wiederum Zeus mit dem Blick fixiert (über ihm sind Reste des Adlers erkennbar, der auf ihn niederstößt). Betont wird die Wildheit des Erdgeborenen durch den zottigen Bart und die oben spitz zulaufenden Tierohren. Abb. 2: Pergamonfries, Athena-Gruppe Die rechts anschließende Athena-Gruppe (Abb. 2) wiederholt die Bewegungsmotive der Zeus-Gruppe im Gegensinn: Athena, die Ägis mit dem Gorgoneion über der Brust, hält den Schild in der Linken und reißt mit der rechten Hand einen Gegner - es ist der Gigant Alkyoneus - am Haar zurück, welcher wiederum von einer Schlange der Göttin in die Brust gebissen wird. Die linke Hand des Giganten streckt sich Hilfe suchend einer weiblichen Gestalt entgegen, die als Halbfigur aus dem Sockel des Reliefs emporsteigt und bei der es sich um die Erdmutter Gaia handelt (in der Ästhetik des Widerstands heißt es dazu: „hier stieg die Dämonin der Erde auf“, I, 8). Mit aufgelöstem Haar - und, so Weiss, „das Gesicht weggehackt unter den Augenlöchern“ (ebd.) - fleht sie Athena um Gnade für ihren Sohn Alkyoneus an, der so lange als unsterblich galt, wie er die Erde berührte. Von rechts schwebt bereits die geflügelte Siegesgöttin Nike heran, um Athena zu bekränzen. In Entsprechung zu Nike war links neben Zeus Herakles dargestellt; seine Gestalt ist jedoch bis auf eine Tatze des Löwenfells um seinen Schultern (Abb. 1, Mitte links) verloren - was für die Ästhetik des Widerstands eine zentrale Rolle spielt, da Herakles der einzige Menschengeborene war, der an der Gigantomachie teilgenommen hat, und von den Figuren des Romans als Allegorie des Widerstands verstanden wird. Bei der Betrachtung der Ausschnitte dürfte deutlich werden, was Weiss meint, wenn er über den Pergamonfries schreibt: „Ein riesiges Ringen, auftauchend aus der grauen Wand, sich erinnernd an seine Vollendung, zurücksinkend zur Formlosigkeit“ Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 223 (I, 7). Gerade der fragmentarische, zerstückelte Charakter, in dem sich der Fries heute befindet, wird von ihm zur Beschreibung der Brutalität des Kampfgeschehens genutzt, wodurch aus dem klassizistischen Kunstwerk eine Groteske wird - ein Verfahren, das später noch genauer zu beschreiben ist (siehe Abschnitt IV). Doch, so der Erzähler weiter, „andre Kämpfe [...], die über Pergamons Reich hingegangen waren, lagen unter dieser Darstellung verborgen“ (I, 9). Die Fixierung des mythischen Geschehens begreifen die Betrachtenden als eine Art Palimpsest: als Überschreibung und Verklärung historischer Ereignisse, nämlich des Kriegs der pergamenischen Attaliden-Dynastie gegen die von Norden eindringenden gallischen Völker im späten dritten und frühen zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Es ist dieser geschichtliche Kampf mit dem Sieg des pergamenischen Reiches, den, wie die drei jungen Männer (und auch die gegenwärtige Forschung) vermuten, das wahrscheinlich zwischen 180 und 160 v. Chr. entstandene Kunstwerk des Pergamonaltars verherrlicht, indem es ihn auf die mythologische Ebene transponiert, die Attaliden mit den olympischen Göttern und die gallischen Barbaren mit den monströsen Giganten identifiziert und so aus dem historischen Ereignis einen „Triumph adliger Reinheit über wüste und niedrige Kräfte“ (I, 9) macht. Die mythologische Darstellung wird also auf klassisch-ideologiekritische Weise interpretiert: In mythischer Verkleidung erschienen historische Ereignisse, ungeheuer greifbar, Schrecken, Bewundrung erregend, doch verständlich nicht als von Menschen hervorgerufen, sondern hinnehmbar nur als überpersönliche Macht, die Geknechtete, Versklavte wollte, in Unzahl, und wenige in der Höhe, die mit einem Fingerzeig die Geschicke bestimmten. (I, 9) Indessen: Wenn Kunst nicht mehr wäre als die „Verkleidung“ und Verherrlichung historischer Machtverhältnisse, wäre sie gerade für die drei Proletarier, die hier vor dem Pergamonaltar stehen, nicht von Interesse. Die Kunstwerke haben jedoch - und dies gilt für alle im Roman behandelten, vom Pergamonaltar über Dante und Giotto, die Renaissance-Malerei eines Mantegna oder Sassetta, die flämischen Meister Brueghel und Bosch, die Werke Goyas, Géricaults und Kafkas bis hin zu den der Romanhandlung zeitgenössischen Gemälden wie dem Guernica -Bild Picassos - immer eine zweite Ebene, die für diejenigen lesbar ist, die sich mit den Machtlosen, den Unterdrückten und Unterlegenen - kurz: den Verlierern des geschichtlichen Prozesses - identifizieren können: Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch. (I, 9) Was also für die Gebildeten einen Gegenstand ästhetischer Kontemplation darstellt, ist für die Ungebildeten und Unterdrückten eine unmittelbare sinnliche Erfahrung: Den Fries betrachtend, spüren sie selbst „den Schlag der Pranke im eignen Fleisch“. Das heißt: Für sie ist das festgehaltene Geschehen weder ein bloß mythologisches, noch ein verborgen historisches, sondern es wird in einem eminenten Sinn aktuell: als gegenwärtige Wahrnehmung des Schmerzes der Unterlegenen. Günter Butzer 224 Aus diesem eingangs entworfenen Modell lassen sich grundlegende Thesen zur Konzeption der Beziehung von Ästhetik und Widerstand in Peter Weiss‘ Roman ableiten: 1. Der Text unternimmt eine Zusammenschau von Kunst und Politik derart, dass Kunstwerke als Ausdruck historischer Machtverhältnisse aufgefasst werden. Dabei zeigt sich, mit einem Satz Walter Benjamins, dessen Geschichtsauffassung zahlreiche Parallelen zur derjenigen des Romans - bis hin zum kryptischen Zitat - aufweist, dass es kein „Dokument der Kultur“ gibt, „ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (Benjamin 1980a: 696), weil es unter Bedingungen sozialer Unterdrückung und Ausbeutung zu Stande kommt - oder, wie der Pergamonaltar, als Beutekunst im kolonialistischen Zeitalter angeeignet wurde. 2 Im Roman wird das so formuliert: „Indem die Ausgeplünderten ihre Energien in ausgeruhte und aufnahmebereite Gedanken übertrugen, entstand aus Herrschsucht und Erniedrigung Kunst“ (I, 14). 2. Das Kunstwerk ist aber nicht einfach eine ideologische Überhöhung und damit Rechtfertigung von geschichtlichen Machtverhältnissen, sondern es bewahrt zugleich den Schmerz und das Leiden der Widerständigen und Unterdrückten auf, die sich denjenigen, die in derselben Lage sind, unmittelbar mitteilen. Kunst ist aus dieser Perspektive eine kondensierte Darstellung menschlichen Leidens, die ein energetisches Potential (die ‚Energien der Ausgeplünderten‘) beinhaltet, das sich auf den Betrachter überträgt, sofern dieser sich - wiederum mit einer Formel Benjamins - „als in ihm gemeint“ (Benjamin 1980a: 695) erkennt. Die Gesten des Kampfes, näherhin der körperlichen Gewalt und des Schmerzes fungieren demnach im Sinne des Kunstwissenschaftlers Aby Warburg als Pathosformeln, in denen sich menschliche Energie kondensiert, die in der Rezeption erneut freigesetzt wird. 3 3. Die Rezeption der Pathosformeln folgt dem Modus der sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere im Feld des Taktilen, also dessen, was körperlich spürbar ist oder gar unter die Haut geht und derart reizt, dass es Schmerzen hervorbringt - weniger des Visuellen und Auditiven. Auf diese Weise wird eine Nahbeziehung von Werk und Betrachter hergestellt, die die mediale Grenze zwischen Realität und Bild aufhebt: Der Rezipient befindet sich, wie die drei Figuren zu Beginn des Romans, mitten in einem „Leib- und Bildraum“ (Benjamin 1980b: 309), der keine Differenz zwischen Körper und Bild mehr enthält. Damit verbunden ist ein 2 Der Pergamonaltar wurde unter kulturimperialistischen Vorzeichen nach Berlin gebracht: als Kernstück der Berliner Antikensammlung, die in Konkurrenz zum British Museum und zum Louvre den Kulturanspruch des deutschen Reiches unterstreichen sollte (vgl. Schalles 1986: 6- 15). 3 Warburg sieht im „packenden Ausdruck der leidenden Gestalten“, den zunächst die Antike- Rezeption der Renaissance fokussiert hat, eine „pathetische Strömung“ in der neuzeitlichen Kunst am Werk, der er mit seinem Projekt des Mnemosyne -Atlasses nachzuspüren sucht. Vgl. Warburg 1998; dazu Port 1999, Zumbusch 2004 u. 2007; zur Anwendung des Warburgschen Terminus der Pathosformel auf die Ästhetik des Widerstands vgl. Herding 1983. Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 225 Konzept von Kunst, das an die Stelle der idealistischen Auffassung von Ästhetik als Theorie (von griech. ‚theoria‘: Betrachtung) des Schönen das Programm einer Ästhetik als vorreflexiver sinnlicher Wahrnehmung des Dargestellten (von griech. ‚aisthesis‘: ‚Wahrnehmung‘) setzt. 4 4. Dieser aisthetische Modus der Wahrnehmung von Kunst wirkt sich auch auf die allgemeine Wahrnehmung der Realität aus, die letztlich nicht mehr von derjenigen der Kunstwerke unterschieden wird: Kunst und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich zu einem homogenen Wahrnehmungs- und Handlungsraum. Dabei fungieren gerade die Kunstwerke als Speicher geschichtlicher Zeit. So gerät der Weg des anonymen Protagonisten ausgehend vom nationalsozialistischen Berlin im September 1937 über die Tschechoslowakei nach Spanien, wo er in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg mitkämpft, von dort 1938 nach Paris und schließlich ins Exil nach Schweden, wo er Kontakt mit dem schwedischen und deutschen antifaschistischen Widerstand aufnimmt und schließlich die Niederlage Deutschlands im Mai 1945 erlebt - so gerät dieser Weg über die Rezeption der Kunstwerke zu einem Weg in die Jahrtausende währende Geschichte der Klassenkämpfe, die nicht nur den europäischen, sondern über Vietnam und Mexiko einen weltweiten Raum umspannt (vgl. Butzer 1993: 57-61). II. Bevor ich diese Thesen näher ausführe, sind einige allgemeine Bemerkungen zu diesem durchaus kontrovers diskutierten Text angebracht, den trotz der Angabe auf dem Titelblatt viele gezögert haben, einen Roman zu nennen. Denn außer dem Erzähler selbst ist hier ausschließlich von historischen Personen die Rede. Die Reihe reicht von Künstlern wie Picasso und Brecht über Politiker wie Lenin und Herbert Wehner oder Wissenschaftler wie den Sexualforscher Max Hodann bis hin zu den antifaschistischen Widerstandeskämpfern der sog. Roten Kapelle um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen - um nur einige wenige zu nennen (vgl. hierzu ausführlich Cohen 1989). Das geht so weit, dass auch der anonyme Ich-Erzähler, als einzige nicht-authentische Figur des Textes, zahlreiche Lebensdaten und -fakten des Autors Peter Weiss zugeschrieben bekommt, so dass sich das Werk als autobiografischer Text anbietet - obschon der Autor weder, wie der Erzähler, aus proletarischen Verhältnissen stammt, noch am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hat. Weiss selbst hat hier einige Verwirrung gestiftet, indem er den Roman kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes in einem Interview mit Rolf Michaelis als „Wunschautobiographie“ bezeichnet hat: 4 Zu dieser seit geraumer Zeit wieder in den Blick gerückten, bei Kant noch präsenten, seit dem Idealismus jedoch verschütteten Bindung des Ästhetischen an die sinnliche Wahrnehmung vgl. die grundlegende Untersuchung von Wolfang Welsch 1987, zur aisthetischen Konzeption in der Ästhetik des Widerstands vgl. Butzer 1998: 171-183. Günter Butzer 226 Es ist eine Wunschautobiographie. Eine Selbstbiographie, die in sehr vielem meiner eigenen Entwicklung folgt, die aber gleichzeitig das Experiment macht: wie wäre ich geworden, wie hätte ich mich entwickelt, wenn ich nicht aus bürgerlich-kleinbürgerlichem Milieu käme, sondern aus proletarischem. (Michaelis 1975) Es handelt sich indessen, auch wenn Weiss das Wort verwendet, weder um eine Autobiografie noch um reine Erfindung. Vielmehr benutzt Weiss die eigene Vita, wie so manches Dokumentarische, darunter auch die Biografien anderer Personen, als Material für die künstlerische Fiktion; Manfred Haiduk hat dem entsprechend in Bezug auf den Autor vom „Materialwert des eigenen Lebens als assoziative Grundlage für das literarische Werk“ (Haiduk 1983: 61) gesprochen. Der Erzähler erhält nun eine ganz spezifische Funktion innerhalb des Romans, die diese hybride Konstruktion rechtfertigt: Inmitten einer Umwelt von authentischen Orten, Geschehnissen und Personen stehend, bildet er den „Bewusstseinsschirm“ (Lindner 1983: 89), der all dies Faktische, diese „Welt um das Ich“ (Arnold 1983: 14) auf sich und durch sich vereint. Dadurch werden einerseits die realen Figuren ins Fiktive erhoben - Weiss spricht in seinen Notizbüchern von „ Chiffren “ (Weiss 1981: 117) - andererseits gewinnt der Ich-Erzähler an Authentizität. Dabei versuchte Weiss, den Figuren „nichts anzudichten, was sie nicht hätten tun oder sagen können“ (ebd.: 927). Die Konsequenz dieses Verfahrens: Eine Trennung zwischen Erfundenem und Authentischem ist nicht mehr möglich. In seinen Notizbüchern schreibt Weiss über die „Notwendigkeit: die Phantasie auf dem Boden der Wirklichkeit zu errichten, der Erfindung jede nur irgendmögliche Realität zu geben“ (ebd.: 701). Das zeigt sich in der größtmöglichen Intensität der Erfassung jener Orte, an denen sich die Figuren des Romans bewegen. Weiss ist ganz offenbar an einem Festhalten an den Dingen, einer möglichst genauen Situierung und damit an der Konkretisierung von Geschehen und Gedanken im Raum gelegen (vgl. Rector 1983). Zugleich werden diese Orte jedoch, wie noch genauer zu zeigen sein wird, in die surreale Welt der Indifferenz von Fiktion und Wirklichkeit integriert - weshalb Karl Heinz Bohrer den Roman als surrealistische „Katastrophenphantasie“ (Bohrer 1976) bezeichnen konnte. Als Raum dieser Phantasie benennt der wesentlich vom französischen Surrealismus beeinflusste Weiss den Traum: Ich bin überall dort gewesen, wo ich mein Ich, im Buch, hinstelle, habe mit allen, die ich nenne, gesprochen, kenne alle Straßen u Räumlichkeiten - ich schildre mein eignes Leben, ich kann nicht mehr trennen zw. Erfundnem u Authentischem - es ist alles authentisch (wie im Traum alles authentisch ist) - (Weiss 1981: 872f.). Der Referenztext für dieses traumanaloge Schreibprojekt ist kein geringerer als Dantes Divina Commedia . Wie dieser die drei Reiche des christlichen Jenseits - Inferno, Purgatorio und Paradiso - durchschreitet und davon seinen Lesern Bericht erstattet, so durchschreitet der Ich-Erzähler bei Weiss das Reich des europäischen Faschismus der 1930er und 1940er Jahre - vom nazistischen Deutschland über das umkämpfte Spanien und Frankreich bis zum besetzten Schweden -, um am Ende in der Hinrichtungsstätte von Berlin-Plötzensee das absolute Ende des Widerstands zu beschreiben. Dabei geht die Auseinandersetzung von Peter Weiss mit Dantes Commedia bis Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 227 in die frühen sechziger Jahre zurück und bildet den Hintergrund für nahezu die gesamte literarische Produktion des Autors in dieser Zeit, insbesondere für das auf den Protokollen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses beruhende dokumentarische Drama Die Ermittlung aus dem Jahr 1965 (vgl. Krause 1982, Birkmeyer 1994). Weiss unternimmt zahlreiche Anläufe zu einer monumentalen Dramatisierung von Dantes Epos, die vermutlich gerade wegen ihrer intendierten Monumentalität zum Scheitern verurteilt waren. So mündet das Projekt 1969 in eine „Prosa-Version“ (Weiss 1982: 665) der Commedia , aus der schließlich einige Zeit später die Ästhetik des Widerstands hervorgehen sollte. Allerdings erweist sich die von Dante vorgegebene topologische Strukturierung in Inferno, Purtagorio und Paradiso als unhaltbar. Dantes Gliederung des Jenseits in ein Reich der Verdammten, der zu Läuternden und der Erlösten erscheint Weiss nicht brauchbar zur Beschreibung einer Welt, die er als konsequent diesseitige versteht. So sucht er zwar einerseits immer wieder nach Parallelen zwischen den drei Jenseitsorten und seiner eigenen Wirklichkeit und verwendet somit Dantes Topologie „als eine allumfassende, strukturell ausgreifende Metapher“ (Scherpe 1987: 92), doch konstatiert er andererseits immer häufiger die Unhaltbarkeit einer solchen Übertragung. So ist, wie Weiss bereits 1964 formuliert, für die Armen „das Paradies die Hölle“ (Weiss 1982: 218), und auch das Purgatorio erscheint ihm 1969 als „Teil der Hölle“ (ebd.: 668). Das Projekt einer Prosa-Fassung der Divina Commedia verkürzt sich dadurch letzten Endes auf das Modell der Katabasis: der Hadeswanderung. Dementsprechend führt der Weg der Figuren in der Ästhetik des Widerstands nicht durch die Hölle über den Läuterungsberg ins Paradies, sondern schraubt sich immer weiter ins Inferno hinab. Derart nahezu aller Perspektiven auf Erlösung beschnitten, fungiert Dantes Werk jedoch als dominantes Schreibprogramm von Weiss‘ Roman. 5 Diese intertextuelle Beziehung bestimmt nicht nur die Struktur des Weissschen Textes, sondern wird von den drei Protagonisten noch einmal reflektiert, die sich im Jahr 1937 - neben dem Pergamonaltar - auch der intensiven Lektüre der Divina Commedia widmen. Ihre Lektüre erfahren sie als eine „Bewegung des Sichvortastens zu einem bestimmten, in der Welt der Wahrnehmung aber nicht wiederfindbaren Ort“ (I, 80), und dieser Ort ist kein anderer als derjenige des Todes. Die Konfrontation mit dem Tod unter „Anspannung aller Lebenskräfte“ (I, 81) wird als das grundlegende ästhetische Programm der Commedia verstanden. Und tatsächlich präsentiert sich Dantes Höllenreise nicht nur als touristische Veranstaltung (mit dem Reiseführer Vergil), bei der der Erzähler eine Besichtigung des Jenseits und seiner 5 Was am Ende, nach all den Niederlagen, bleibt, ist eine Leerstelle, in die hinein der Befreiungskampf imaginiert wird: der leere Raum des Herakles auf dem Pergamonfries: „[...] und ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten“ (III, 267f.). Günter Butzer 228 Bewohner vornimmt und ein paar Worte mit ihnen wechselt; vielmehr erweist sich Dantes Unternehmen mehrfach als für den Reisenden durchaus lebensgefährlich. So macht ihm sein Führer Vergil mit deutlichen Worten klar, dass die Begegnung mit der Medusa, deren Blick versteinert, vor der Höllenstadt Dite sein Ende sein könnte. Vergil warnt ihn: Volgiti in dietro e tien lo viso chiuso; ché se il Gorgòn si mostra e tu ‘l vedessi, nulla sarebbe del tornar mai suso. (Dante 1989: Inferno IX, 55-57) 6 Neben dieser Situation existiert eine Reihe von Szenen, in denen Dante ohnmächtig zu Boden sinkt, weil er den Schrecken, den er wahrnimmt, nicht mehr zu ertragen vermag. Während die spätere Beschreibung des Paradieses in der Divina Commedia von einer Topik der Unsagbarkeit und der gefährdeten Erinnerung geprägt ist - mithin von dem Problem, wie dies alles zu behalten und zu beschreiben wäre 7 - geht es in der Hadeswanderung also tatsächlich um Leben oder Tod. Genau diese Konfrontation mit dem absoluten Ende ist es aber, die Weiss interessiert und die er für sein eigenes Werk in Anspruch nimmt. Es geht ihm um die, wie es im Roman heißt, „Auslieferung an eine Situation, aus der es kein Entrinnen gab“ (I, 83). Deshalb ist der Weg des Romans „zwischen Pergamon und Plötzensee“ (Lindner 1981: 150) nicht nur ein Weg vom Kampf zur Niederlage, sondern zugleich ein Weg von der Kunst in den Tod. Und doch ist der Tod nicht das Ende, jedenfalls nicht für den Erzähler. Wie Dante seine Jenseitsreise überlebt, um seinen Lesern davon berichten zu können, so bleibt auch die Ich-Figur der Ästhetik des Widerstands am Leben, um vom faschistischen Inferno zu erzählen. Und wie schon Dantes Werk, dessen Gattungs- und Wirklichkeitsstatus ja im Rahmen der damaligen Poetik ein durchaus prekärer war und etwa von dem italienischen Literaturkritiker Anselmo Castravilla als eine Art Traum bzw. als Vision in der Tradition der christlichen Jenseitsvisionen verstanden wurde (vgl. Weinberg 1961: 831-834), so operiert - wie bereits ausgeführt - auch Weiss mit der Kategorie des Traums, um den Status dessen zu bezeichnen, was hier beschrieben wird. Die Überwindung des Todesschreckens im Inferno teilt der Erzähler - wie auch Dante - mit einer mythologischen Figur, nämlich mit dem griechischen Heros Perseus. Auch dieser ist im Rahmen seiner Heldentaten - wie Herakles - in die Unterwelt gereist, um dort das Haupt der Gorgone Medusa zu holen, eines titanischen Wesens, Tochter von Phorkys und Keto, dessen Haar aus lebenden Schlangen besteht und das jeden, der es erblickt, zu Stein erstarren lässt (vgl. Hesiod 1999: V. 6 Das ist, nebenbei bemerkt, auch eine komische Passage in dieser Göttlichen Komödie, da Dante ja der einzig Lebendige in der jenseitigen Welt ist, mithin auch als einziger im Reich des Todes noch zu sterben vermag. Den anderen Figuren kann Medusa nichts mehr anhaben. 7 Auch dieser Gedanke wird von Weiss aufgenommen, dessen Ich-Figur die eigenen Erfahrungen wiederholt auf ihre Beschreibbarkeit bzw. Erzählbarkeit hin befragt. Vgl. insbesondere die Schlusspassagen der drei Bände des Romans (I, 305; II, 306; III, 260-268); dazu Butzer 1993: 78-81. Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 229 270-286). Perseus konnte die Medusa nur besiegen, weil er sie nicht direkt anschaute, sondern mit Hilfe des Spiegelbilds auf seinem Schild bekämpfte. Wie sich Perseus durch den abgewandten Blick in den Spiegel der Bedrohung stellt und zugleich verstellt, um sie zu besiegen, so verbirgt sich auch Dante im 9. Gesang des Inferno vor dem tödlichen Antlitz, um davon berichten zu können. Die Bewältigung der Todesbegegnung mündet demnach in die Produktion von Kunst - so, wie aus dem Hals der enthaupteten Medusa der geflügelte Pegasos, als Sinnbild künstlerischer Phantasie, entsteigt. Daher erfahren die drei Freunde in der Ästhetik des Widerstands die Lektüre der Divina Commedia nicht nur als „Bewegung des Sichvortastens zu einem bestimmten, in der Welt der Wahrnehmungen aber nicht wiederfindbaren Ort“, sondern zugleich als „Schritt in den Mechanismus der künstlerischen Arbeit“ (I, 80), und diese wird wiederum mit dem Traum analogisiert: Die Marter des Traums und der Dichtung, hatte Heilmann gesagt, sei die Auslieferung an eine Situation, aus der es kein Entrinnen gab, alles würde uns dort widerfahren, als ob es wirklich wäre, nur führe im Traum das nicht mehr Erträgliche zum Erwachen, so wie es sich in der Dichtung durch die Übertragung ins Wort befreie. (I, 83) Das Ertragen aller Martern und Torturen hat nur dann einen Sinn, wenn es in die Artikulation des Erfahrenen und damit letztlich ins Kunstwerk überführt wird. Der Todesschrecken, „der Schreck vorm Vergehn“, muss sich selbst überwinden, „indem er Zeichen [hinterlässt], die das eigne Leben überdauern“ (I, 81f.). An diesem Punkt fallen aber auch die Produktion von Kunst - als Hinterlassen von Lebenszeichen angesichts des Todes - und der politische Widerstand zusammen, denn auch dieser wandelt die „Schreckenslähmung“ um „in jene Aggressivität, die notwendig ist, um die Ursachen des Alpdrucks zu beseitigen“ (I, 83). Diese Konzeption bildet den Kern der ‚Ästhetik des Widerstands‘ (als Roman wie als dessen inhärentes Programm) - der Widerstand wird selbst ästhetisch, und die künstlerische Arbeit wird, unabhängig von ihrer konkreten Thematik, politisch - und sie erklärt zugleich, warum gerade die Szenen des Kampfes, wie schon in der anfänglichen Beschreibung der Gigantomachie des Pergamonfrieses, eine so bedeutende Rolle im Roman spielen: Widerstand und Kunst entspringen beide der Konfrontation mit einer Todesgefahr und deren endlicher Überwindung. III. Dieses Programm soll nun anhand eines weiteren kanonischen Werks der bildenden Kunst genauer erläutert werden: Théodore Géricaults monumentalem Gemälde Le radeau de la Méduse , ausgestellt im Pariser Salon im Jahr 1819. Das Ich des Romans widmet sich diesem Bild während seines Aufenthalts in Paris, wo es 1938 nach der Niederlage der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg vorübergehend Exil findet und sich wiederholt im Louvre aufhält (wo das Bild bis heute hängt). Diese Beschäftigung mit Géricaults Gemälde vollzieht sich auf eine indirekte Weise. Das Ich liest zunächst den dokumentarischen Bericht vom „Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal, im Jahr 1816“ (in der zeitgenössischen Günter Butzer 230 deutschen Übersetzung), den zwei Überlebende, der Wundarzt Henri Savigny und der Ingenieur Alexandre Corréard, kurz nach dem Unglück veröffentlicht haben und der auch Géricault als Anlass und Grundlage für sein Gemälde diente. Die Rezeptionssituation erscheint einigermaßen komplex: Bei der Lektüre des durch zahlreiche Zitate und Paraphrasen in den Roman integrierten Berichts identifiziert sich die Ich- Figur mit Géricault, der sich im November 1817 in dasselbe Buch vertieft, das von einem zeitgenössischen Skandal handelt: Die Passagiere der Fregatte Méduse mit Kurs auf französische Kolonien in Westafrika müssen ohnmächtig miterleben, wie sich durch fortgesetzte Fehlentscheidungen und haarsträubende Unfähigkeit der Schiffsführung vermeidbare Fehler zur Katastrophe auswachsen. Als das Schiff auf eine Sandbank läuft, zögert man, die Ladung und die Kanonen über Bord zu werfen, verliert kostbare Zeit und versäumt, das Schiff noch während der Flut wieder flottzukriegen. Bei Ebbe und aufkommendem Sturm bricht das Schiff auseinander. Da, wie sich nun zeigt, nicht genügend Rettungsboote vorhanden sind, wird ein Floß zusammengezimmert, das man, anstatt es mit den Ruderbooten an die nahe Küste zu schleppen, aussetzt und ohne ausreichend Nahrung und Ausrüstung an Bord seinem Schicksal überlässt. Auch später macht sich niemand auf die Suche nach möglichen Überlebenden. Als das Floß durch puren Zufall nach siebzehn Tagen entdeckt wird, sind von den 149 Schiffbrüchigen, die man nach der Unglücksnacht vom 2. Juli 1816 zurückgelassen hatte, noch fünfzehn am Leben, und auch sie sind dem Tode nahe. Die anderen sind verdurstet und verhungert, an ihren Wunden und am Fieber gestorben oder haben einander gegenseitig umgebracht. (Savigny/ Corréard 1987: 129) Der Schiffbruch der Méduse , eines der Prachtschiffe aus der Zeit Napoleons, wurde zeitgenössisch als humanitäre Katastrophe und zugleich als politisches Menetekel aufgenommen. Nicht nur schadete der politische Skandal dem internationalen Ansehen der französischen Restaurationsregierung, zugleich erschien - so das Dictionnaire pittoresque de la marine von 1833 - das Unglück dieser „Königin der Meere“ als eine jener „dunklen und entsetzlichen Episoden, in denen sich offenbart, wie gefährdet und zerbrechlich die Menschlichkeit ist“ (ebd.: 131). Damit wird angespielt auf die detaillierte Beschreibung, die der Bericht Savignys und Corréards vom Erleiden einer menschlichen Extremsituation gibt, die von Hunger und Durst über Gewalt bis hin zur Anthropophagie reicht. 8 Diesen Bericht liest das Ich mit den Augen Géricaults, und dieser identifiziert sich wiederum während der Lektüre zusehends mit den Schiffbrüchigen. Der zugleich nüchterne und eindrückliche Text ruft „in Géricault Phantasien hervor, die ihn die Isolation empfinden ließen, in die er sich selbst versetzt hatte“ (II, 10): Mit solcher Greifbarkeit waren die Bestürzung und Verzweiflung, die Wirrnis und Erstarrung geschildert, daß der Lesende sich mitten zwischen den Gestrandeten dünkte. Er hörte das Geschrei, das Donnern der Brandung an den Schiffsrumpf. (II, 11) 8 Implizit wird damit ein Bezug zu Dantes Commedia hergestellt, wo im 8. Kreis des Inferno der schiffbrüchige Odysseus erscheint, der von Dante zum Inbegriff menschlicher Hybris und Curiositas stilisiert wird, die notwendig ins Scheitern münden. Vgl. Malinowski 2009: 244f. Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 231 Als das Floß schließlich steuerlos und ohne Hilfe auf dem Meer dahintreibt, äußert das Ich, sich nunmehr selbst mit Géricault und den Schiffbrüchigen auf dem Meer wähnend: „Mächtige Fluten überrollten uns. Bald vor, bald zurückgeschleudert, um jeden Atemzug ringend, die Schreie der über Bord Gespülten vernehmend, ersehnten wir den Anbruch des Tags“ (II, 13). Im Ich entsteht ein Zustand von „Rausch“ und „Besessenheit“ (II, 15), der sich mit dem von Durst und Fieber verursachten Delirium der Schiffbrüchigen mischt, und von Géricault heißt es: „Mehr und mehr wurde das Floß zu seiner eignen Welt“ (II, 16). Abb. 3: Théodore Géricault, Le radeau de la Méduse (1819), 4,19 x 7,16 m, Paris, Louvre Entlang der verschiedenen Skizzen und Entwürfe, die der Maler von den Ereignissen auf dem Floß machte, zeichnet der Erzähler dieses allmähliche Versinken Géricaults in der Welt des Floßes nach - bis hin zum Kannibalismus: Die ersten begannen damit, die umherliegenden Leichname mit ihren Messern zu zerteilen. Einige verschlangen das rohe Fleisch auf der Stelle, andre ließen es in der Sonne dörren, um es auf diese Art schmackhafter zu machen, und wer es jetzt noch nicht über sich brachte, die neue Kost zu sich zu nehmen, der wurde am folgenden Tag doch vom Hunger gezwungen. [...] [Géricault] versuchte, sich vorzustellen, wie dies war, das Hineinschlagen der Zähne in den Hals, den Schenkel eines verendeten Menschen [...]. Die nackten, auf dem Floß zusammengekauerten Gestalten befanden sich in einer Welt, die von Fieber und Wahn deformiert war, die noch Lebenden wuchsen mit den Toten zusammen, indem sie diese sich einverleibten. Dahintreibend auf dem Plankengefüge, [...] fühlte Géricault das Eindringen der Hand in die aufgeschnittne Brust, den Griff um das Herz desjenigen, den er am Tag zuvor zum Abschied umarmt hatte. (II, 16) Auf diese Weise nähert sich Géricault, immer wieder neue Entwürfe zeichnend, dem Augenblick, in dem die totale Verzweiflung auf dem Floß mit dem Erblicken eines nahenden Schiffs sich in Hoffnung auf Rettung verwandelt. Es ist die „Sekunde [...], in der, mit dem gellenden Schrei beim Erscheinen der Brigg, die völlige Umstellung Günter Butzer 232 eintrat, und die Körper, die schon bereit waren, ihr Verderben hinzunehmen, noch einmal aufschnellten und zu einem Keil wurden gegen die Welt der Vernichtung“ (II, 22) (Abb. 3). Die letzte Formulierung zeigt wieder jene Abstraktion körperlicher Energie, für die das letzte Aufbäumen vor dem Tod identisch wird mit dem Akt des Widerstands. Die „Welt der Vernichtung“, das ist der Kolonialismus der französischen Regierung des frühen 19. Jahrhunderts (im Bild präsent durch die Figur des Afrikaners an der Spitze) ebenso wie der europäische Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die einen ‚Triumph des Todes‘ bezeichnen, eine „Gewalt des Hades“, der man nur durch einen unbändigen „Lebenswille[n]“ (II, 22) begegnen kann. Das gilt auch für den Maler selbst: Géricault, durch eine Infektion nach dem Sturz von einem Pferd lebensbedrohlich erkrankt, „verweste bei lebendigem Leib“; doch „war ihm auch nichts andres mehr gewiß als das Ertragen von Schmerzen, sah er auch nur im Leiden noch Realität, so hatte er das Sterben doch immer wieder durch das Erdenken von Bildern überwunden und seinem Siechtum äußerste Glut abgewonnen“ (II, 27). Dieses Sterben bleibt auch im Floß der Medusa sichtbar: als Gruppe der Toten im Vordergrund des Gemäldes, dominiert von der Figur eines Melancholikers, der offenbar trotz der nahenden Rettung alle Hoffnung aufgegeben hat. So sucht das Ich des Romans in den Kunstwerken immer wieder nach dem Moment, in dem sich die totale Hoffnungslosigkeit und Melancholie der Todesbegegnung in den Impuls zum Widerstand verwandelt, in dem „mit der Gestaltung von Visionen der Melancholie Abhilfe“ (II, 33) geleistet werden kann; denn es ist genau diese in den Werken angestaute visionäre Energie, die sich auf den Betrachter überträgt und das widerständige Potential von Kunst bildet. Es stellt daher sicherlich keinen Zufall dar, dass Géricaults Gemälde denselben pyramidalen Aufbau zeigt wie die Gruppen der Kämpfenden auf dem Pergamonfries; in beiden Fällen symbolisiert er jenen „Keil [...] gegen die Welt der Vernichtung“ (II, 22), der den Inbegriff von Widerstand bei Weiss ausmacht. Doch während die Gigantomachie am Beginn des Romans ein Kampfgeschehen präsentiert, das - wider das bessere Wissen desjenigen, der mit dem Mythos vertraut ist - noch nicht entschieden scheint, obschon die erdgeborenen Giganten allenthalben als die Unterlegenen gezeigt werden; während auf dem Fries selbst die Toten noch in die Bewegung des Kampfes integriert werden, zeichnet sich die individuelle Begegnung des Ich mit Géricaults Gemälde durch die weitestgehende Annäherung an den absoluten, den starren Tod aus, der visionär vorweggenommen wird (wie die Begegnung Dantes und Perseus mit der Medusa in der Unterwelt). Damit ist der Roman bereits ein großes Stück ins Inferno vorgedrungen, in dessen tiefstem Zentrum bei Weiss wie bei Dante die anorganische Leblosigkeit wartet. 9 Doch solange dieser absolute Nullpunkt nicht erreicht ist, ist Wi- 9 Bei Dante befindet sich, in ironischer Umkehrung, im tiefsten Zentrum, dem letzten Kreis des Infernos, das ewige Eis, in das die Verräter und mit ihnen Lucifer eingefroren sind (Dante 1989: Inferno, 32. und 33. Gesang); bei Weiss ist es ein anorganisches „metallisches System“ (III, 125), das den absoluten Nullpunkt des Widerstands bezeichnet. Ziel des Texts ist es, das ‚Metallische‘ wiederum in den organischen Körper zu integrieren. Vgl. Samuel 1990: 290. Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 233 derstand möglich, und dieses Feld lotet der Roman so weit wie möglich aus - wie anhand eines letzten Beispiels gezeigt werden soll. IV. Bereits beim Floß der Medusa wurde deutlich, dass Géricault in seiner Annäherung an den Tod einen Indifferenzpunkt ansteuert, an dem noch das Tote selbst ins Leben integriert und für dessen Zwecke fruchtbar gemacht werden kann. Dies vollzieht sich im Akt der Anthropophagie, in dem der lebende Organismus sich den toten menschlichen Körper einverleibt und so seine Reproduktion gewährleistet („die noch Lebenden wuchsen mit den Toten zusammen, indem sie diese sich einverleibten“; II, 16). Einen Schritt weiter geht dieses Konzept, wenn auch das Tierische, das Pflanzliche und schließlich das Anorganische selbst in den menschlichen Körper zu integrieren versucht wird. So entsteht ein grotesker Kollektivleib, der zwar der Kunst - diesmal derjenigen Pieter Brueghels d.Ä. - entlehnt ist, aber zugleich der Beschreibung der unmittelbaren Wirklichkeitserfahrung der Widerstandskämpfer dient. 10 Abb. 4: Pieter Brueghel d.Ä., Der Streit zwischen Karneval und Fasten , vmtl. 1559 An die gängige kunsthistorische Forschung anknüpfend, sieht Weiss die Besonderheit Brueghels in der „Einbildung der Spukvisionen des Bosch in die Welt des All- 10 Pieter Brueghel d.Ä. war neben Hieronymus Bosch eine der wesentlichen Bezugsfiguren des Malers Peter Weiss in den 1930er Jahren. Vgl. Hiekisch-Picard 1984. Die Funktion der Ikonografie Brueghels in der Ästhetik des Widerstands habe ich ausführlicher untersucht in Butzer 2005. Günter Butzer 234 täglichen“ (Sedlmayr 1934: 148), also der Verknüpfung von Realismus und Phantastik. Das Fremde, Beunruhigende und Gefährliche dringt hier in die Alltagswelt ein und zerstört deren Ordnung, indem es sie in ein infernalisches Chaos transformiert. Das Ich der Ästhetik des Widerstands liest dieses Umkippen des Vertrauten ins Fremde bereits den scheinbar harmlosen volkstümlichen Bildern Brueghels ab, z.B. dem bekannten Streit zwischen Karneval und Fasten (Abb. 4). Das zentrale Thema des Karnevals ist das der verkehrten Welt; demgemäß interpretiert das Ich in der Ästhetik des Widerstands das Bild als Verkehrung des Gewohnten: Die Fastenden tragen die verbotenen Lebensmittel versteckt unter ihrer Kleidung, und die Völlerei der Feiernden erscheint armselig und traurig. Daraus schließt der Betrachter, nunmehr entgegen den geläufigen Interpretationen: „Von Vergnügen und Geselligkeit gab es in den Gemälden, die das Volksleben schilderten, nicht eine Spur“ (I, 174). Dadurch wird eine aufschlussreiche Transformation der Karnevalsthematik vollzogen. Steht in deren Zentrum eine durchgängige Ambivalenz der Bilder, die die festen Hierarchien der gesellschaftlichen Symbolik auf den Kopf stellt (mithin ein mundus perversus) und fungiert der Karneval demnach als „Fest der alles vernichtenden und alles erneuernden Zeit“ (Bachtin 1985: 139), erstarrt in Weiss‘ Roman diese Zyklik von Vernichtung und Erneuerung zu einem ambigen Bild: „Der Ausdruck des Rausches war von dem des Schmerzes nicht zu unterscheiden“ (I, 174). Abb. 5: Pieter Brueghel d.Ä., Der Bethlehemitische Kindermord , ca. 1566/ 67 Diese Auffassung ermöglicht es Weiss bzw. seiner Ich-Figur, eine direkte Beziehung zwischen dem Karnevalsbild und einem anderen Gemälde Brueghels, nämlich dem Bethlehemitischen Kindermord (Abb. 5), herzustellen. Brueghel versetzt hier das biblische Thema in seine eigene zeitgenössische Wirklichkeit der spanischen Niederlande: Aus den Soldaten des Herodes ist die gedungene Soldateska der Spanier ge- Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 235 worden, die in einem kleinen Brabanter Dorf die neugeborenen Kinder brutal niedermetzelt. Was Weiss hier interessiert, ist das plötzliche Umkippen der scheinbaren ländlichen Idylle, wie sie aus zahlreichen Genre-Bildern Brueghels bekannt ist, in das Grauen einer Gewaltszenerie: Das Dorf, von fern gesehn ein in sich ruhender Ort des Gewöhnlichen und Überlieferten, wurde dem Nähertretenden zum Schauplatz namenloser Verzweiflung [...]. Was sich abspielte zwischen den Bewohnern und den Söldnern, die ihresgleichen waren, die nur, wie immer, den Befehl ihrer Oberen ausführten, war nicht zu ertragen, und es stand doch, in seiner andauernden Gestik des Entsetzens, des kalten Abschlachtens, eingestanzt für immer in der ikonenhaft weißen Fläche. (I, 174) Die Rede von der „ikonenhaft weißen Fläche“, in der die unerträgliche „Gestik des Entsetzens“ - eine Pathos-Formel - für immer „eingestanzt“ sei, macht deutlich, dass es hier um ein pervertiertes Heilsgeschehen geht: um die zeitlose Stillstellung nicht des Heiligen, sondern des Grauens (vielleicht auch eines ‚heiligen Grauens‘ im Sinne Batailles). Doch gerade diese Ikonografie des Grauens nutzt Weiss dazu, das Konzept eines grotesken Kollektivleibs zu entwerfen, das der Ästhetik des Widerstands dienstbar gemacht wird. Denn es ist der alptraumhafte Schrecken, der allein noch die Erfahrungen des Kampfes zu erfassen vermag, denen eine realistische Darstellung nicht mehr gerecht wird. Nur die „ungeheuren Landschaften“ (II, 147) Brueghels, äußert pikanterweise Brecht im Roman, könnten die Erlebnisse der Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg ausdrücken, die sich in einem Raum bewegen, der im eigentlichen Sinn als surreal zu bezeichnen ist und in dem die Beschreibung der Brueghelschen Bilder übergangslos mit der Beschreibung der wahrgenommenen Wirklichkeit in eins fällt. Abb. 6: Pieter Brueghel d.Ä., Dulle Griet , ca. 1562/ 63 Günter Butzer 236 In Bezug auf Brueghels Gemälde D ulle Griet (Abb. 6) hebt das Ich eben jenen Wiedererkennungseffekt der eigenen Schreckenserfahrungen in Spanien hervor. Dabei beschreibt Brueghel durchaus ein Kriegsgeschehen, allerdings eines, bei dem die gesamte Natur außer Rand und Band geraten zu sein scheint: Auf dem gitterartigen Rondell im Bildhintergrund sieht man tanzende Teufelswesen, darunter, aus dem Ei herausbrechend, eine Spinne, die Harfe spielt und daneben im Boot eine schwarze Figur mit leeren Mund- und Augenlöchern. Aggressive Tiere (Fische, Affen) verschlingen die Menschen, dazwischen bewegen sich gedrungene Körperklumpen mit Schwänzen und Gliedmaßen. Die dulle Griet selbst kommt, so der Erzähler in Weiss‘ Roman, wie eine „Marketenderin“ (II, 151) und eine Kriegsgöttin in einem daher und rafft mit ihrem Schwert alles zusammen, dessen sie habhaft werden kann. Um sie herum tummelt sich teuflisches Getier von Kröten, Eidechsen und Salamandern, über ihr befindet sich eine Gestalt, die in aggressiver Manier das Hinterteil zeigt. Schließlich treibt der ganze grotesk-infernalische Zug einem Zielpunkt entgegen: dem geöffneten Höllenschlund am linken Bildrand, der alles zu verschlingen bereit ist. Weiss‘ Ich-Figur sieht in diesem ver-rückten Bild eine präzise Darstellung der eigenen Kriegserfahrungen: Die Verbindung der Ausgeburten des Wahns mit den Gesten und Bewegungen aufgescheuchter, gemarterter Menschen stellte einen Zustand her, der jener Verrückung und Hellsichtigkeit nahkam, die wir manchmal, sekundenlang, empfunden hatten. So waren beim Starren auf Sanddünen und Steinhaufen aus Rillen und Löchern Gesichter hervorgetreten, so hatten sich Wurzeln, verkohlte Balken in lauernde Körper verwandelt, so waren staubgraue Wegstauden zu angehobnen Schußrohren geworden, und aus diesem Übergang zwischen blitzhaften Eindrücken und Täuschungen wucherten weitre Erscheinungen hervor, gezeichnet von dem Ekel, der stets der Furcht nah war. Versetzt in den Zwang, aus Notwehr zu morden, hatten wir um unsre Vernunft gekämpft, daß sie nicht verunstaltet werde, angesichts dieses Bilds drang das Unnatürliche ungehemmt auf uns ein, beleckte, betastete uns, strich uns grauenhaft über die Haut, streckte uns Borsten, Rüssel, Saugnäpfe, Hauer und Krallen entgegen. (II, 149f.) Die Beschreibung folgt dem grotesken Prinzip der Metabzw. Anamorphose, d.h. der fortwährenden Veränderung und Vermischung der dargestellten Formen und Gestalten, wie sie bereits in den Mischwesen der Giganten auf den Pergamonfries vorgeprägt ist. Die scheinbar stabile Oberfläche der Wirklichkeit wird durchbrochen von einer Unnatur, die sich durch Gestaltlosigkeit, oder vielmehr: durch anamorphotisch wuchernde Übergänge zwischen Organischem und Anorganischem auszeichnet. Damit entspricht die Funktion dieser Beschreibung, die auf die Realitätserfahrung der Spanienkämpfer zielt, genau derjenigen, die der Kunsthistoriker Ernst Guldan für die Metamorphosen Brueghels in Ansatz bringt: „Wie Fleisch und Gestein, Lebendiges und Totes sich mengen, so werden Inhalte pervertiert. Die aus den Fugen geratene Wirklichkeit, die verkehrte Welt, die heil-lose Welt, ist die säkularisierte Hölle“ (Guldan 1969: 244). In gleicher Weise ist in der Ästhetik des Widerstands vom „Einbruch der höllischen Herrschaft“ die Rede, und weiter heißt es: „War die Schwelle zum Irrealen einmal überschritten, so nahmen die Erscheinungen, wie Brueghel sie wiedergegeben hatte, eine unmittelbare Faßbarkeit an“ (II, 150). Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands 237 Diese „unmittelbare Faßbarkeit“ ist im Kontext der Bildlichkeit des Romans durchaus wörtlich zu nehmen, denn die augenblickshafte, zunächst auf optischen Eindrücken beruhende Wahrnehmung grotesker Gestalten kulminiert schließlich in der taktilen Erfahrung des Unnatürlichen auf der eigenen Haut: Belecken, Betasten, Saugen, Beißen und Kratzen sind die Modi dieser als visionär charakterisierten Erfahrung, die ihre ikonografischen Elemente (Borsten, Rüssel, Saugnäpfe, Krallen usw.) ebenso wie das diesen zu Grunde liegende Prinzip der Anamorphose von Brueghel (und natürlich auch von Hieronymus Bosch) entlehnt. Es ist diese groteske Körperlichkeit, die als adäquate Beschreibung der Kriegserlebnisse in Spanien herausgestellt wird. Auf diese Weise erscheint das gesamte Kollektiv der Kämpfenden, ja darüber hinaus die spanische Landschaft selbst, als ein einziger grotesker Leib: Unser Leib, der Leib des Lands, war ein einziger Schmerz, blutüberströmt, zerhackt war er, doch überall entwickelte er ein neues Zugreifen, ein neues Zurückschlagen [...], für uns gab es den Begriff des Abstands kaum mehr, was draußen Kriegsschauplatz genannt wurde, ein Stück Geographie, dem ein zerstreuter Blick sich zuwenden mochte, war unsre bloßgelegte Haut, da wurden Gräben eingeschnitten, da grub sich das Messer bis tief an die Knochen, Sand barst hervor, die Finger verkrampften sich im Sand, Sand knirschte zwischen den Zähnen. Ein schnell gesprochner Hinweis auf Truppenverschiebungen, das war für uns ein unendlicher Weg von Erdwall zu Erdwall, bei dem wir mit dem knorpligen Stamm eines Olivenbaums, mit einem Felsblock verwuchsen, bei dem Gebüsch und Gras unser Gesicht überwucherte. (I, 308f.) Man sieht deutlich, was hier mit der Brueghelschen Ikonografie geschieht: Die zunächst bedrohlichen Elemente des „Unnatürlichen“ werden zur Konstitution eines grotesken Kollektivkörpers benutzt, der auf demselben Prinzip der Anamorphose beruht wie die Bildlichkeit Brueghels. 11 Die Ästhetik des Widerstands zielt hier offenbar auf die Formierung eines kollektiven Leibs, der seine Grundlage in der Verschmelzung von Menschen und organischer wie anorganischer Natur hat (wie in der Beschreibung von Géricaults Floß der Medusa der tote Organismus den Lebenden einverleibt wird). Der groteske Körper, so noch einmal Bachtin, kann „mit der Natur verschmelzen, mit Bergen, Flüssen, Meeren, Inseln und Planeten“ (Bachtin 1987: 360). Genau das wird in Weiss‘ Roman für das Kollektiv des Widerstands vorgeführt. Damit existiert letztlich kein Unterschied mehr zwischen den Werken der Kunst und den Taten des Widerstands: Die Energie zirkuliert frei vom einen zum andern. Der Widerstand ist in diesem Sinn endgültig ästhetisch geworden - weshalb im letzten Teil des Romans auch keine Kunstwerke mehr interpretiert werden. Vielmehr mündet die Erzählung des Ich in den Entschluss, die eigenen Erlebnisse aufzuzeichnen und damit jenen Roman zu schreiben, den der Leser vorliegen hat. Der Widerstand geht mithin in Kunst über und produziert jene Indifferenz, die im Verlauf des Textes immer wieder nicht nur diskursiv verhandelt, sondern, wie zu zeigen war, regelrecht ins Werk gesetzt wird. 11 Zur Konstitution eines monströsen „Großorganismus, der sogar sprechen, schreien, bluten, eitern und Schmerz empfinden kann“, vgl. Schieb 1997: 309. Günter Butzer 238 Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Savigny, J.B. Heinrich/ Alexander Corréard: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal, im Jahr 1816 . Nördlingen: Greno, 1987. Weiss, Peter: - Die Ästhetik des Widerstands. Roman . 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Abbildung 4: Roberts-Jones, Philippe, Pieter Brueghel der Ältere, München: Hirmer, 1997. 115. Abbildung 5: Roberts-Jones, Philippe, Pieter Brueghel der Ältere, München: Hirmer, 1997. 129. Abbildung 6: Roberts-Jones, Philippe, Pieter Brueghel der Ältere, München: Hirmer, 1997. 90f. Uwe Timm ROT Hans Vilmar Geppert Uwe Timms Roman ROT erschien 2001, als Taschenbuch (dtv 13125) 2003. Und zu den „Großen Werken“ gehört er, um es gleich vorneweg zu sagen, für mich aufgrund meines persönlichen Urteils. Eigenwillig ist vielleicht auch meine These für den heutigen Vortrag: Dies ist ein „postmodern“ transformierter Bildungsroman - mit allen Widersprüchen und aller Selbstironie, die so ein Begriff einschließt und die nicht zuletzt zur Tradition des Bildungsromans gehören. Auch dass ROT den vorläufigen Abschluss einer Trilogie von Romanen bildet, stützt sogleich diese These. Es geht um einen Lebens-Bildungs-Roman, um eine Kontinuität von erzählten Erfahrungs-Entwürfen, die jeweils eigens strukturiert und v.a. identitäts- und wirklichkeits-„bildend“ entworfen sind. Und „weil die Rechnungen offen, die Hoffnungen unerfüllt und die Toten nicht tot sind“ (Greiner 2001 in Die Zeit ), gilt dies gerade auch für einen Roman, in dem die Erinnerung an die 68-Revolution im Mittelpunkt steht. Hier kann dann auch die Frage nach der Kontinuität dieses Erzählens einsetzen. Der erste Roman dieser Trilogie erschien 1974. Sein Titel Heißer Sommer bezieht sich im engeren Sinn auf den in der Tat recht heißen Sommer 1967, im weiteren Sinn auf die Anfänge der 68-er Studentenbewegung. Die folgende kleine Szene aus einem „germanistischen Hauptseminar“, das von einem „Großordinarius“ geleitet wird, gibt das Klima an einer damaligen Universität wieder: Er betritt den Seminarraum. Sogleich wird es ruhig. Während er nach vorn zu dem Tisch geht, klopfen alle. Hinter ihm geht sein Assistent, hinter dem geht seine wissenschaftliche Hilfskraft. Vorn am Tisch geht sein Assistent schnell an ihm vorbei und zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor, auf den er sich setzt, ohne dabei den Assistenten anzusehen. Dann setzt sich der Assistent rechts und die wissenschaftliche Hilfskraft links von ihm an den Tisch. Er wartet, bis es ganz ruhig und auch das Scharren der Stühle nicht mehr zu hören ist. Dann sagt er: Wir werden heute versuchen, das Problem, das wir in der letzten Seminarsitzung schon angeschnitten haben, nochmals zu entfalten […]. Jemand hustet. Er spricht nicht weiter und blickt in die Richtung aus der gehustet wird. Dabei runzelt er die Stirn. […] Derjenige der gehustet hat, wird jetzt von allen angesehen. Er redet weiter […]. (HS 35/ 36) „Wie er den universitären Lehrbetrieb schildert, das könnte man Karikatur nennen, wüsste man nicht, dass es wirklich so war“, so schrieb Ulrich Greiner nach Erscheinen von Heißer Sommer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (und so zitiert ihn Hans Vilmar Geppert 242 der Klappentext der dtv-Ausgabe). Ullrich, der Held dieses Romans, wird sein eigenes Referat zu diesem Seminar nicht zu Ende schreiben, das nächste auch nicht, das übernächste auch nicht. Er bringt auch sonst nicht viel zu Stande: Seine Freundinnen verlassen ihn, die eine wegen ihrer abgebrochenen Schwangerschaft, die andere wegen eines dynamischen Wirtschaftsjuristen und Sportwagenfahrers - zwei bedeutsame Motive, die später in Kerbels Flucht (1980) und vor allem in ROT (2001) wieder aufgenommen werden -, sein Engagement im Rahmen der Studentenproteste von 1968 bleibt sporadisch; bis in den innersten Zirkel der SDS-Aktivisten dringt er nie vor, nur ein wenig und fast schlagwortartig arbeitet er sich in „Revolutionäre Theorie“ ein. Als einer der Wortführer der Studentenbewegung in Hamburg, inzwischen promovierter Hilfsarbeiter in einer Fabrik, Ullrich endlich ernst nimmt, ist dieser bereits völlig desillusioniert. Ganz am Ende des Romans allerdings fängt er in einer Fabrik, dann mit einem Studium als Volksschullehrer und, wie sein Autor, im Zeichen der DKP ganz neu an. Interessant ist hier auch die „freie indirekte“ Erzählform, in der dieser Roman Heißer Sommer erzählt wird. Sie erzeugt Nähe der Erfahrung und zugleich Distanz im Urteil. Der Held stellt seine Umwelt radikal in Frage und wird selbst in Frage gestellt. Es ist kein Zufall, dass Flaubert, vor allem in seinem Roman L´Éducation sentimentale / Lehrjahre des Gefühls (1870) als ihr erster Meister gilt. Auch dies war ja in seinem dritten Teil ein Roman verfehlter Revolution - und verfehlter Liebe gewesen. So wie Flaubert sich damals kritisch mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/ 96) auseinander setzte, so hat auch Timm im Grunde einen in die Jahre 1968/ 69 transponierten Bildungsroman, freilich einen in der Tradition des 19. Jahrhunderts - das Stichwort heißt: Bildung durch Desillusion - geschrieben. Und diese Transformation des Bildungsromans wird er in Kerbels Flucht (1980) und vor allem in ROT (2001), immer wieder auch im Rückgriff auf Goethe und das 19. Jahrhundert fortsetzen. Schon Ullrich aus Heißer Sommer ist ja nicht einfach ein Versager, so wenig wie Balzacs Lucien ( Illusions perdues/ Verlorene Illusionen, 1837-1839) oder Kellers „grüner“, unreifer aber auch hoffnungserfüllter Heinrich ( Der grüne Heinrich, 1845/ 55; 1879/ 80) oder Dickens’ Pip ( Great Expectations, 1861) oder Flauberts Frédéric ( L´Éducation sentimentale, 1870). Alle diese Titel würden ja auch zu Timms erstem Roman passen. Ullrich ist ein Vermittler von Erfahrungen: Er nimmt an den 68-er Ereignissen etwa so peripher teil wie Frédéric an der Pariser Februar-Revolution von 1849, und sein Autor sieht ihn kritisch. Aber wie Kellers Grüner Heinrich (v.a. in der Zweitfassung, 1879/ 80) oder die Bildungs-Helden bei Dickens, z.B. David Copperfield (1849/ 1850), oder etwa Balzacs David Séchard (im dritten Band von Illusions perdues, 1843) lernt er ganz am Ende des Romans aus seinen Erfahrungen und fängt neu an. Die Bildungs-Idee, die „Zweckmäßigkeit des Ganzen“ (so Schiller seinerzeit zu Goethe, dazu später mehr), die Idee einer bewussten Fort-Bildung von Individuum und Gesellschaft, geben weder Roman-Held noch -Autor auf. Nicht nur wird Ullrich bezeichnenderweise „Volks-Schul-Lehrer“, so wie Uwe Timm ROT 243 Goethes Wilhelm (ganz am Ende der Wanderjahre , 1829) Wundarzt wird. Auch das Bild des „Wanderns“, des „Reisens“ (auf einem „realistischen Weg“) stellt sich ein: Wenn wir uns nicht selbst ändern, was soll sich dann ändern? […] Arbeiten, dachte Ullrich, endlich richtig arbeiten […]. Zum erstenmal seit seiner Kindheit hatte Ullrich wieder geweint. […] Er versuchte sich vorzustellen, was er in zehn oder zwanzig Jahren machen würde. War er es, der sich verändert hatte? […] Das rhythmische Rattern der Räder. Das knatternde Dröhnen des Fahrtwindes. Die Sonne ließ die Tannen leuchten. In den Gräben schmale weiße Streifen, schmutzige Schneereste. Auf einem Feld ein Traktor mit einer Egge. Die Schraffur der Furchen. (HS 247, 249, 256, 259, 327, 340) Man hört geradezu, wie zuletzt in dieser Zitat-Montage die „Stimmen“ des Romanhelden und die des Autors schon fast prosa-lyrisch verschmelzen. Der Romanheld bildet sich, man beachte, wie perspektivisch genau er sieht, zu der Sicht der Dinge hin, die der Autor auch für sich selbst sucht. Die „Bewegung durch Zeit und Raum“ wird zur „Bildungserfahrung“, zur Suche nach „etwas Neuem, so noch nicht Dagewesenem“ ( Erzählen und kein Ende, 1993 , 90 und 75). Ullrich hatte mit seinem Straßentheater-Projekt zuletzt eine durchaus gelungene „ästhetische Erziehung“ durchgemacht - ein klassisches Bildungsthema (das z.B. an Wilhelm Meisters Zeit beim Theater erinnert) - er hat ganz praktisch bei seiner Arbeit in der Fabrik Anerkennung gefunden, sich ökonomisch und emotional emanzipiert - auch diese Verbindung hat etwas Klassisches - er hat die ganze Biographie seines Antagonisten- Freundes gehört, ja geradezu gelernt (was in ROT wieder aufgenommen wird); zuletzt ist er bezeichnenderweise im Zuge unterwegs zu einem neuen Ziel und neuer Gemeinschaft. Und auch diese Situation des Reisens und Unterwegsseins ist bezeichnend. Sie ist die Signatur jenes „realistischen Wegs“, den der immer neu transformierte Bildungsroman seit Karl Philipp Moritz` A nton Reiser (1785-1790) und Goethes Wilhelm Meister nimmt - der ja auch „Wilhelm Reiser“ oder „Wilhelm Wanderer“ hätte heißen können -, und der dann v.a. im 19. Jahrhundert zum wesentlichen Träger einer Bildungsidee wurde: Die Reise, damals oft die Wanderung zu Fuß, von einem Leben in ein anderes, ist ein immer wiederkehrendes Schlüssel- Motiv, in dem sich das literarisch-intellektuelle Unterwegssein der Autoren reflektiert. Die Romandiskurse, ihr „realistischer Weg“, müssen jene individuelle wie gesellschaftliche „Zweckmäßigkeit des Ganzen“, eben die klassische (nach Kant, Schiller u.a. „pragmatische“) Bildungsidee am Leben erhalten, die die Romanhelden allenfalls in Teilen oder ironisch oder auch scheiternd, also lediglich in der den Lesern vermittelten Einsicht erreichen. Dazu gehört es, dass diese sich transformierenden Bildungsromane zur „Kunst immer neu zu beginnen“ streben, zur Versuchsanordnung, zur Serie, in der immer neue narrative Konstruktionen und Realitätsgrammatiken einander wie Frage, Antwort und neue Frage folgen. Schon bei Goethe oder Karl Philipp Moritz, dem eigentlichen Vorläufer des 19. Jahrhunderts, erst recht bei Balzac, Charlotte Brontë, Dickens, Keller, Raabe, Hardy und anderen hatte dies die Form eines immer neu ansetzenden fiktionalen Gedankenexperiments mit der eigenen Biographie gefunden. Hans Vilmar Geppert 244 Genau das prägt, so meine These, offensichtlich auch Uwe Timms so genannte 68-er Trilogie: Heißer Sommer (1974), Kerbels Flucht (1980) und ROT (2001), wobei dann für ROT zweierlei gälte: Einerseits wäre dies ein ganz abstrakter, spielerischer Schlussentwurf dieser Versuchsanordnung, eben ein Roman, in dem die Diskurse die Handlung aufheben. (Das ist etwas ganz anderes als lediglich ein Abschied „von den großen knallroten Hoffnungen“ und die Einsicht, dass „kein Gedanke mehr zugreift“, so Eberhard Rathgeb 2001 in der Frankfurter Allgemeinen, und es ist auch nicht einfach „reflektierte Ratlosigkeit“, Albrecht in Finlay/ Cornils 2006, 30). Vielmehr ist es bezeichnend, dass erst nach diesem „Sich-Frei-Schreiben“ in einem spielerisch erneuerten Bildungsroman Uwe Timm die beiden Autobiographien Am Beispiel meines Bruders (2003) und Der Freund und der Fremde (2005) ganz wörtlich „ver-öffentlicht“, also öffentlich zugänglich gemacht hat. Auf alle Fälle sieht man spätestens jetzt, wie in allen drei Romanen Elemente der Biographie Timms, verfremdet aber doch erkennbar wiederkehren. (Sie sind leicht zu erkennen, wenn man die fiktionalen Texte beispielsweise mit dem Portrait Uwe Timm von Martin Hielscher, 2007, vergleicht). Und schon immer muss es aufmerksamen Lesern aufgefallen sein, wie bestimmte Personen- und Konfliktkonstellationen immer wieder aufgenommen und ganz wörtlich neu durchgespielt werden. Kerbels Flucht (1980) wirkt dann wie ein nachgetragener Werther -Roman, auf alle Fälle wie die tragische Variante des Programms: „Bildung durch Desillusion“. Der Held - er will sich selbst sehen wie Kleist, aber sein Autor sieht ihn anders - hat wie Werther die Liebe an die Stelle der Welt gesetzt. Und deren Enttäuschung kann er nicht überleben: Der Sarg wurde auf einem kleinen Wagen zur Grube gefahren. Auf einem Weg, weit hinten, aber in Sichtweite, stand ein Funkwagen der Polizei. Man hatte befürchtet, dass viele von Kerbels ehemaligen Freunden kommen könnten. Es waren jedoch - außer Karin und Oberhofer - nur ein paar Verwandte gekommen. Und alles blieb ruhig. (K 196) Der alte Amtmann […] folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht’s nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. (J. W. v. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, 1774, HA 6.124) Hört man nicht die Ähnlichkeit im Tonfall? Wie am Ende des Werther, und ebenso ja auch im abschließenden Wechsel von der Ich-Form zur Er-Erzählung, prägt entschiedene Distanz den Romanschluss. Die Gleichsetzung der „Selbsthelfer“- Generation von 1968 mit der Unbedingtheit im Denken und Fühlen der „Stürmer und Dränger“ - „Warum soll dieser hässliche Riss in mir nicht auch durch den ganzen Kosmos gehen? “ (K 40) -, noch mehr mit dem „Weltschmerz“ der europäischen Werther -Nachfolge - „Ich kann von dieser Zeit in mir nichts finden, außer dem faden Gefühl, Zeit vertan zu haben“ (K 20) - scheint mir sprechend. Das ist ein sehr markantes Buch. Ein bestimmter subjektiv-allgemeiner Weltentwurf, „einzig aus den eigenen radikalen Bedürfnissen“ heraus (K 112), wird bei allem Verständnis und aller narrativen Empathie verabschiedet. Unter diesen nicht mehr nur kritischen sondern trennenden Vorzeichen - „Wie kommt es, dass mir, denke ich an die Zukunft, nichts einfällt als schon Bekanntes“ (K 78) - stehen auch die deutlichen Motivparallelen zu Uwe Timm ROT 245 Heißer Sommer : Kerbel wirkt wie ein späterer Doppelgänger von Ullrich; er hat seine Zulassungsarbeit nicht zu Ende geschrieben, lässt sich als Taxifahrer von seinem Chef ausbeuten, seine Freundin hat eine Affäre mit einem progressiven, Kabrio fahrenden Architekten, für den sie ihn dann verlässt; Kerbel grübelt verzweifelt über sich und die Welt; vor allem hat er einen der Revolution treu gebliebenen Freund, einen älteren Mentor, der unbeirrt politisch weiterarbeitet (allerdings: „Er deckt im Reden auch seine eigenen Zweifel zu“, K 49) und so fort. Alles wird sich, zu einer neuen Versuchsanordnung variiert, in ROT wieder finden. Dort kehren nicht nur die konträr-komplementären Protagonisten wieder. Auch das tragische Moment aus Kerbels Flucht findet sich ja spielerisch aufgehoben: Kerbel hatte seinen Führerschein wegen Alkohols am Steuer verloren und durchbricht im „Deutschen Herbst“ 1977 eine Straßensperre; die Polizei vermutet einen Terroristen und erschießt ihn; Thomas in ROT kommt bei einem Verkehrsunfall um. Andererseits versammeln sich in Kerbels Flucht bereits viele jener Überlebensformen von inzwischen Alt-Achtundsechzigern, bzw. ausgestiegenen oder umfunktionierten oder tragikomischen, kritischen Intellektuellen, die in ROT und überhaupt in Uwe Timms Erzählwerk immer wieder auftreten. Man kann nun wirklich von experimenteller Kontinuität sprechen: Der Tennislehrer, der einmal über Stifter promovieren wollte, versteht es jetzt, seine Schülerinnen richtig „anzufassen“ (K 15), der zynische, „irgendwie auch links“ (K 37) gebliebene Print- und Medien-Manager liest bestenfalls noch nachts Zettels Traum (K 140), ein anderer früherer Revolutionär „überwintert (bei) einem Job im Kirchenfunk“ (K 193), die inzwischen grün-alternativ gewordenen Kommunarden können sich, wie schon in Heißer Sommer, gegen die Haschisch-Raucher nicht durchsetzen (vgl. 191 ff.), andere „Veteranen der 68-er Jahre“ sind nur noch dem Bart und der Kneipe, bezeichnenderweise heißt sie „Alter Ofen“ (K 22), treu geblieben, und so fort. Was Kerbel von Ullrich aus Heißer Sommer unterscheidet - dieser wird in ROT ebenfalls angepasst wieder auftauchen: Er hat ein Haus erworben mit einem „Bausparvertrag“ von eben der „Bank, deren Scheiben er vor dreißig Jahren eingeworfen hat“ (289) - was in die weitere Versuchsanordnung der Trilogie, ja überhaupt des Oeuvre hinüberleitet, ist Kerbels Erzähltalent. Bezeichnenderweise wird dessen (in der erzählten Zeit) früheste, ganz kindliche Manifestation, das Spiel „Geschichtenball“ (K 180/ 181), in dem Kerbel erfolgreich und beliebt war - es handelt sich um ein Stück Erinnerung an Timms eigene Kindheit (vgl. z.B. Römische Aufzeichnungen, 2005, 69) - dieses Erzählspiel wird (in der Erzählzeit) sehr spät, wie eine verfehlte Alternative zu „Kerbels späterer Tat“ (K 182) eingefügt. Der Erzähler identifiziert sich mit Kerbels (und Timms eigener) Kindheit, er setzt dessen Erzählfreude fort und trennt sich zugleich von dem verfehlt unbedingten Konflikt. Erst in ROT werden Erzähler und Romanheld wieder, allerdings auf ganz neue Weise, zusammenfinden. Dann lässt sich auch der weitere transformierte „realistische Weg“ in diesem langen Erzählexperiment, einem Experiment mit der eigenen Biographie im genauen Kontext der deutschen Wirklichkeit, einer „Chronik der Bundesrepublik“ (Hielscher Hans Vilmar Geppert 246 2007, 132 - auch das ist weitergeschriebener „Realismus“), zumindest prinzipiell strukturieren. Das narrative Ich Kerbels überlebt in den Erzählerfiguren; man kann auch sagen, es flieht und „rettet“ sich in sie hinein; am deutlichsten erkennbar ist dies in den als Figuren konturierten Erzählern von Die Entdeckung der Currywurst (1993) und Johannisnacht (1996) sowie mancher Erzählungen in Nicht morgen nicht gestern (1999). Und dieser transformierten „ästhetischen Erziehung“ entspricht, bzw. das ist ihre Praxis, eine neue „étude de moeurs“, „comedy of manners“ - wie auf andere Weise etwa bei Balzac, Dickens oder auch Keller -, eine vielfache, kritische Moralistik der deutschen Geschichte und Gesellschaft, also eben das, was ein wesentliches Prinzip von Uwe Timms Erzählen bildet. So multiplizieren sich noch einmal die Figuren distanziert und nie ganz angepasst überlebender, kritischer Intellektueller - bis etwa zu dem raffinierten Koch und linken Wirtschafts-Journalisten in Kopfjäger (1991), wo ja auch der Romanheld etwas Anarchisches und eine Utopie Suchendes hat, oder etwa auch zu dem arbeitslosen Ägyptologen und prima Pappi im berühmten Kinderbuch Rennschwein Rudi Rüssel (1989) und anderen, v.a. dann wieder in ROT. So verschieden sie entworfen sind, sie setzen immer wieder ihren Willen zur Veränderung in vielen kleinen Aktionen fort, sie leben ihre Sinnlichkeit befreit aus, sind erfolgreich bei vielen interessanten Frauen, überschreiten kulturelle und soziale Grenzen, und die Hoffnung auf eine bessere, gesellschaftlich konkrete Humanität geben sie nicht auf. Das bedeutet natürlich auch viel Ironie und Skepsis, ja immer neues Scheitern; aber es bedeutet keine Resignation; diese wird vielmehr ganz wörtlich in ein immer neues „Wieder-Bezeichnen“ der Realität übersetzt. Die Logik des Kapitals domestiziert die Wirklichkeit, und diese Logik wird von der Gewinn-Maximierung, das heißt vom Profit bestimmt. Das ist der momentan allgemeine und zugleich lähmende Konsens. Mich interessieren darum besonders die Desperados, die moralischen, die ästhetischen, die ökonomischen […], die Einzelgänger, die allein für sich, abseits von Konventionen und herkömmlichen Moralbegriffen, ihren Weg suchen. […] Sie leben diese alltägliche Destruktion. Die Destruktion des Selbstverständlichen. ( Erzählen und kein Ende, 106) Produktive, aber auch skeptisch-ironische, in ein „Spiel der Zeichen“ übersetzte „Re- Signation“ (wörtlich: immer neues Bezeichnen) gegenüber der deutschen Gegenwart und Vergangenheit und ineins damit „alltägliche Destruktion“ ihres „lähmenden Konsens“: Das wäre fast schon eine Umschreibung des Romankonzepts von ROT , in dem nicht nur die „Trilogie“, sondern auch große Teile von Uwe Timms Erzählwerk „aufgehoben“, also verändert, ja diametral konträr durchgespielt und zugleich bewahrt werden. Nur ein paar Schlüsselmotive und wichtige Konstellationen für diese Kontinuität möchte ich nennen. Das Anfangs- und Schluss-Motiv: „Ich schwebe“ (geradezu kontrapunktisch zu den „dunklen“ und „stürzenden“ Motiven der ersten beiden Fassungen des Romananfangs, vgl. Uwe Timm Lesebuch 2005, 412-417) und „der Engel dort. (…) Er schwebt“ (7 und 393), erinnert etwa an das Schlusskapitel, den Ballonflug in Morenga (1978) oder an die rauschhafte Befreiungsfahrt in Der Mann Uwe Timm ROT 247 auf dem Hochrad (1984). Und es wird vor allem in doch recht deutlich utopischer Funktion wieder aufgenommen im Flug-Thema von Uwe Timms letztem Roman Halbschatten (2008): „Der Flug ist das Leben wert“ ( Halbschatten , 9). Das Thema der Alltagsästhetik, Essen, Einrichtung, Mode, Design, findet sich vielfach in Uwe Timms Oeuvre, am deutlichsten vielleicht in den Geschmacks-Tonalitäten und - Symphonien in Die Entstehung der Currywurst (1993) und den Kartoffel-Diskursen in Johannisnacht (1996). Und dort tritt ja auch der spätere Romanheld von ROT einmal nachts eben an einer Currywurst- und Fritten-Bude auf. Ist nicht der in Zeitschichten „diahistorisch“ zerlegte Wohnhügel der deutschen Kolonie in Südamerika in Der Schlangenbaum (1986) - die kolonialen Gründer, dann die geflohenen und emigrierten Juden, dann die Nazi-Größen, die sich hierher gerettet haben, dann die Nachkriegs-Unternehmer, die auch und gern in Militärdiktaturen investieren - ist dies nicht in seiner Zeit-Schichtung eine Art Exil-Form der Geschichts-Perspektivik der Berliner „Siegessäule“, die in ROT so zentral ist und die in der multipel „diahistorischen Zeit-Zone“ des Berliner Invalidenfriedhofs in Halbschatten (sie, also die „Siegessäule“, erhält ihre „Bedeutung […] von den hier Versammelten“, Halbschatten, 92) ihre Kontrast-Entsprechung finden wird? Natürlich ist auch die Symbolik der Farbe „rot“ lange vorbereitet. Erinnert sei etwa an die fast komplementären, auf alle Fälle eng verbundenen Erzählungen „Screen“ und „Der Mantel“ aus Nicht morgen, nicht gestern (1999): einerseits der Lebenskünstler, Minimalist wie später Thomas in ROT, fliegender, sehr gut bezahlter Ein-Mann-Computer-Not-Dienst mit seinem „geilen Rad“ (einem rot-grün transformierten Sportwagen), „das Beste (…), hat gute 7800 gekostet (…), Knallrot. Meine Farbe: Rot. Klar (…). Dieses irre Rot. Wunderschön“ ( Nicht morgen, 59/ 60 und 72), andererseits die gealterte, verarmte, ehemalige Pelznäherin, eine Art Don Quijote der Kürschnerkunst - Uwe Timm hat selbst die Lehre als Kürschner mit „sehr gut“ abgeschlossen - die von irgendwelchen flippig engagierten Mädchen einen „großen roten Fleck (…) ein leuchtendes Rot“ (ebd., 90) auf ihr selbst genähtes, nur wegen der Kälte getragenes, anachronistisch gutes Stück geschmiert bekommt. Und wie das Blut am Anfang des Romans ROT breitet sich dieser Fleck am Ende der Erzählung immer weiter aus. Und noch klarer sind eben die Kontinuitäten zu Heißer Sommer und Kerbels Flucht. Aber man muss immer wieder darauf hinweisen: Es geht um spielerisch variierte und zu neuen Versuchen angeordnete Kontinuitäten. Ullrich in Heißer Sommer - jetzt kommt ein wichtiges Strukturelement des Entwicklungs- und Bildungsromans zur Sprache: die Erfahrung der sich verlierenden Zeit - spürt plötzlich, dass er älter wird an einer dünnen Stelle in seinem Haar und versucht „sich vorzustellen, was er in zehn oder zwanzig Jahren machen würde“ (HS 258); Thomas in ROT, mehr als zwanzig Jahre älter, erschrickt viel tiefer, wenn der Arzt an seiner Prostata und den entsprechenden Blutwerten etwas Alarmierendes findet (195). Die Freundin von Kerbel warf sich mit einer bestimmten charakteristischen Kopfbewegung die Haare über die Stirn (K 46), und genau dieselbe Geste ist das erste, was Thomas in ROT an Hans Vilmar Geppert 248 seiner Iris auffällt (20). Aber jetzt verläuft die Handlung ganz anders, wie eine jener Wunsch-Begegnungen - Natalie in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/ 1796), Dorothea in Der grüne Heinrich (1854-1880), Natalie, der Aspenhof und seine Bewohner in Der Nachsommer (1875) -, die für die Tradition des Bildungsromans so bezeichnend waren. Hatten früher in Heißer Sommer und Kerbels Flucht die wirtschaftlich erfolgreichen Sportwagenfahrer die Mädchen bekommen, so verlässt jetzt Iris ihren sympathischen Jungmanager mit dem Vintage-Porsche-Cabriolet zugunsten des viel älteren Romanhelden mit seinem Gary-Cooper-Appeal, intellektuellem Charme und - nur schwarze Kleidung, weiße, fast leere Wohnung, etc. - seiner kunstvoll reduzierten Alltagsästhetik. „Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an? Sagt Philine, diese wunderbare Frauengestalt im Wilhelm Meister “ (22). Dieser Romanheld und Ich-Erzähler nennt gleich selbst das modellhaft sprechende Zitat. Worum geht es denn nun eigentlich in ROT ? Ich versuche zunächst den Handlungskern zu skizzieren, wobei sich immer wieder zugleich die Hauptthese dieses Vortrags bestätigen wird: Wie so oft im Entwicklungs- und Bildungsroman geht es um eine mehrfache „krisenhafte Situation“, die „das Leben in Frage (…) stellt“ ( Erzählen und kein Ende, 64) und zu einem neuen Anfang zwingt. Der Romanheld, für ihn eine verstörende Erfahrung, verliebt sich. Und Iris, die im Gegensatz zu seiner Unentschlossenheit „diese Liebe in aller Umfassenheit ernst“ nimmt (Hielscher 2007, 162), ist nicht nur sinnenfroh und verspielt wie die bereits genannte Philine aus Wilhelm Meister , sie ist auch rätselhaft und abenteuerlustig wie Mariane aus dem selben Roman - ausdrücklich könnte sie sich auch ein Leben als „Edelnutte“ vorstellen (132) - zugleich aber ist sie aufrichtig gegen sich und andere wie die „schöne Seele“, tüchtig in ihrem Beruf wie Therese, künstlerisch kreativ wie Mignon oder Aurelie, gesellschaftlich gewandt, „performativ begabt“ (30) wie die Gräfin und vor allem - man sieht wie Timm an die „Frau als Paradigma des Humanen“ bei Goethe, Keller, Stifter, Dickens (Agnes in David Copperfield , 1850) und vielen anderen anknüpft - sie ist auch entschieden mütterlich gesinnt, eben schließlich auch so eine Licht-Gestalt, sie ist Licht-Designerin, wie Natalie im Wilhelm Meister , Agnes in David Copperfield , Dorothea im Grünen Heinrich und viele andere es gewesen waren. Iris eröffnet dem Romanhelden gleich am Anfang des Romans, dass sie schwanger ist - damit kommt er wie Ullrich in Heißer Sommer überhaupt nicht zurecht - und dass sie, was er noch weniger eingeplant hatte, das Kind auf alle Fälle behalten will. Zu dieser Lebenskrise, die ja auch eine Krise der Persönlichkeitsbildung ist, kommt zeitlich nur wenig früher der schon genannte Verdacht auf ein Prostata- Karzinom hinzu, also die jähe Erfahrung des Alterns und der Hinfälligkeit. Und die dritte, ebenfalls gleichzeitige Krise des Selbstbewusstseins bringt einen ausgesprochenen Bildungs-Ratgeber und -Mahner ins Spiel, den für Timms Oeuvre typischen Revolutionär, der, wie weltfremd immer, sich treu geblieben ist: Petersen aus Heißer Sommer , der wie Timm selbst über den zweiten Bildungsweg bis zur Promotion gekommen ist, Oberhofer aus Kerbels Flucht oder auch jener anarchische und asketi- Uwe Timm ROT 249 sche Schriftsteller aus der vorletzten Geschichte von Nicht morgen, nicht gestern, der allein seinem „utopischen Kommunismus“ lebt ( Nicht morgen , 97). Ist nicht gerade auch er eine Spielfigur, in der sein Autor eigene Probleme, Wünsche und Forderungen verarbeitet? Auf alle Fälle kann man so viel sagen: So wie dieser schreibende, asketische, kommunistische Utopist aus Nicht morgen, nicht gestern (1999) Züge beider Alternativ-Helden aus ROT vorweg genommen hat, so haben - wie Wilhelm und Werner bei Goethe, Lucien und David bei Balzac, Frédéric und George bei Flaubert, Heinrich und Lys bei Keller oder die gegensätzlichen Freunde in Wilhelm Raabes Braunschweiger Trilogie (1879, 1891, 1896) - auch die beiden alten Genossen aus der SDS-Kommune, die sich bei Timm wieder treffen, viel gemeinsam. Gemeinsam haben sie nicht nur ihre revolutionäre Jugend, kritisch-theoretische Bildung, also die vielen Bücher, die sie gelesen haben und zitieren: Marcuse, Adorno, Althusser, Bloch oder Gramsci. Antonio Gramsci (1891 - 1937) beispielsweise wäre ein für Timm - und die These dieses Vortrags - wichtiger Autor, der einen anti-stalinistischen Sozialismus vertrat, eine „revolutionäre Theorie, die immer wieder das Bewusstsein und das Selbst-bewusst-Werden in den Mittelpunkt stellt“ (Timm, Römische Aufzeichnungen , 2000, 97), einen humanen Kommunismus als alltägliches Bildungsprogramm: „ Der Mensch ist vor allem Geist, geschichtliche Schöpfung (…). Schritt für Schritt, Schicht um Schicht (muss) die Menschheit (…) das Bewusstsein des eigenen Werts erlang(en)“, zitiert Timm Gramsci (ebd.). Gemeinsam haben die alternativen Helden von ROT ihr Nischen- und Außenseiterdasein, den Hang zu minimalistischer, fast asketischer Lebensform und so fort. Und was sie am entschiedensten prägt und verbindet ist ihre retrospektive, der Vergangenheit zugewandte Wirklichkeitssicht. Beide sind Alltags-Historiker, jeder ein moderner Antiquary (nach einem Romanhelden Walter Scotts, 1916) und spezialisiert auf Erinnerungen. Thomas Linde, ein „Zweifler“ und nur noch von „lindem“ Elan erfüllt, ist von Beruf Beerdigungsredner. Aschenbrenner hat in seinem Testament gewünscht und vorweg dafür bezahlt, dass Thomas die Rede bei seiner Beerdigung hält. Er selbst veranstaltete „alternative“ Stadtführungen; er führte Berlin- Besucher an die Orte „linker“ Tradition, aber auch die von Schuld und Warnung in der deutschen Geschichte: den Landwehrkanal, die Siegessäule, das Grab von Bert Brecht, alte Arbeiterquartiere und so fort. So lebt auch er in Erinnerungen. Ist auch bei ihm jedes revolutionäre Feuer zu „Asche verbrannt“? Ganz gewaltsam wollte er noch „ein Zeichen setzen“ (220), ein drastisches. Thomas, von Aschenbrenners letztem Willen gerufen, findet ein Paket Sprengstoff, genaue Berechnungen und einen detaillierten Zeitplan für den Count-Down. Auch die Löcher sind schon an den richtigen Stellen gebohrt. Aschenbrenner wollte am Tag des Umzugs der gesamtdeutschen Regierung von Bonn nach Berlin die Berliner Siegessäule sprengen. Thomas „erbt“ nun auch diesen Auftrag. Und es bleibt ausdrücklich offen, wie er sich entscheiden wird. Es bleibt überhaupt vieles offen in diesem Roman. Thomas, Dr. phil. wie Timm selbst, ist wie gesagt Beerdigungsredner, aber auch Jazz-Pianist und -Kritiker und er Hans Vilmar Geppert 250 will ein Buch über die Farbe „rot“ schreiben. Da geht er bei „rot“ über eine Kreuzung, und der Unfall verläuft tödlich. Das ist neben vielem anderen (Benjamin und so) auch eine sehr drastische Einführung in eine Semiotik des Alltags: die Einsicht, dass Polysemie und Arbitrarität der Zeichen deren singulare Indexikalität allenfalls theoretisch aufheben. („Vielleicht […] schöpft […] die Semiotik eines Umberto Eco ihren Reichtum“ nicht zuletzt aus der italienischen „Volkskultur“, dass alle Zeichen, gerade auch die Verkehrszeichen „immer neu interpretiert werden können“, Römische Aufzeichnungen, 72-74). Das ist auch interessant im Hinblick auf den Umgang der Postmoderne und ihrer Zeichenspiele mit der Geschichte. Wie auch immer, der ganze Roman ROT ist eine lange Erinnerung im Augenblick des Sterbens. Er ist auf weite Strecken im Stil einer Beerdigungsrede erzählt. Nichts wird, so weit es die fiktive Handlung betrifft, noch geschehen. (Aber daraus zu folgern: „Es gibt kein Danach […]. Eine Perspektive in die Zukunft fehlt“ usw., Durzak in Malchow 2005, 77, zeigt eine viel zu eng an der Handlung klebende Lektüre.) Alles ist auf die Ebene der Erzählung, der Erinnerung und Vorstellung, des Denkens und Hoffens, nicht zuletzt - die Farbe „rot“ als typisches postmodern-vieldeutiges Superzeichen - auf die Ebene von Zeichenspielen gehoben. Das ist das eigentlich Charakteristische an diesem Roman. Und genau diese narrative Idee, die letztliche Passivität des Helden und die Übersetzung, ja „Aufhebung“ seines Lebens in Erzählung, Vorstellung und Reflexion macht ROT , so meine These, zu einem interessanten „postmodernen Bildungsroman“. Meisters Lehrjahre sind […] eine Art von Experiment. […] Lehrjahre sind ein Verhältnisbegriff, sie fordern ihr Korrelatum, die Meisterschaft, und zwar muß die Idee von dieser letzten jene erst erklären und begründen. Nun kann aber diese Idee der Meisterschaft […] den Helden des Romans nicht selbst leiten, sie kann und darf nicht als sein Zweck und sein Ziel vor ihm stehen; denn sobald er das Ziel sich dächte, so hätte er es eo ipso auch erreicht; sie muß also als Führerin hinter ihm stehen. Auf diese Art erhält das Ganze eine schöne Zweckmäßigkeit, ohne daß der Held einen Zweck hätte. (J.W.v. Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe 7.633) So hatte Schiller in seinem Brief vom 8.7.1769 an Goethe scharfsinnig Problem und Möglichkeit des Bildungsromans anhand des klassischen Paradigmas der Gattung, eben Wilhelm Meisters Lehrjahre beschrieben. Einerseits hatte er so das Unbefriedigende im erreichten Bildungs-Ziel Wilhelms produktiv interpretiert. Das achte und letzte Kapitel des Meister hat ja in der Tat etwas Ironisches und teilweise fast Komödienhaftes. Und andererseits wurde von Schiller das Prinzip dieses Erzählens analysiert, meiner Überzeugung nach wegweisend bis heute. Es kommt, modern gesprochen, darauf an, die Diskurse des Romans so zweckmäßig zu führen, dazu gehört auch das freie ästhetische Spiel der Phantasie bzw. Einbildungskraft, dass die in ihnen implizite Idee von Bildung, Bildung des Individuums und der dieses bedingenden Gesellschaft, beides im klassischen Sinn eine Bildung zur Humanität, als allgemeiner Zweck aus dem Textganzen hervorgeht - auch und gerade wenn der Romanheld dieses Bildungsziel in der Romanhandlung nicht erreicht. Schiller verwendet hier, allerdings ohne ihn zu nennen, den Kantischen Begriff der „reflektie- Uwe Timm ROT 251 renden Urteilskraft“, die eben jene „gereiften und vollendeten Erfahrungen“ unter einem Zweckbegriff der Humanität zusammenzufassen erlaubt, dessen Realisierung, da es sich ja lediglich um einen Zweck handelt, noch nicht gegeben sein muss. Und dieser Begriff selbst, eben die „Idee“ gebildeter Humanität, kann dann, so darf man Schiller weiter folgen, nicht ein moralisches Gesetz oder notwendiges Postulat sein, das „vorgegeben“ wäre, sondern eine „regulative“ bzw. „pragmatische“ Idee, die als „Zweckmäßigkeit (eines) Ganzen“ gefolgert werden kann und „hinter ihm“ steht, aber nicht auf ein reales bzw. „empirisches“, schon gar nicht auf ein fiktiv lediglich behauptetes „Bildungs-Happy-Ending“ angewiesen ist. Wenn das bereits für den Wilhelm Meister gilt (meine Thesen dazu, vgl. genauer Verf. 1994, 468ff., sind allerdings umstritten), dann ist es erst recht fruchtbar, wenn man die „desillusionierenden Bildungsromane“ etwa von Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen angemessen verstehen will. Und nach vielen weiteren Umformungen, aber auch im bewussten Rückgriff auf Goethe und das 19. Jahrhundert, steht auch Uwe Timms ROT noch bzw. wieder in dieser Tradition. Der Schlussroman der „68er Trilogie“ führt einerseits deren experimentellautobiographische Kontinuität, andererseits die konsequent eingearbeitete Postmoderne und drittens eben die vielen strukturellen und motivischen Fortsetzungen und Wiedererneuerungen des Bildungsromans zu einer als Zweck verfolgten „ästhetischen Erziehung“ des Helden und noch mehr der Leser zusammen. Der Romanheld erinnert sich, wie gesagt, oft in der Form einer Beerdigungs- Rede, an seine Geliebte, die „Frau als Paradigma des Humanen“, an Freunde und „Ratgeber“ und parallele und alternative Lebensentwürfe. Vor allem aber erinnert und erzählt er, der Besichtigung einer Stadt oder eines Bauwerks oder einer Bibliothek vergleichbar, deutsche Geschichte, Kunst, Musik, Design und viele Bücher. Und alles an dieser „ästhetischen Erziehung“ ist „zweckmäßig“ aufeinander bezogen - Humanität im Sinne Schillers als „regulative Idee“ - ohne dass es ein beruhigendes, ein erreichtes oder auch nur ein sicher absehbares Ziel gäbe. Anders gesagt: Dies ist ein durchaus postmodernes „Spiel von Zeichen“, aus dem durchaus kritischaufklärerische, „human“ engagierte Impulse hervorgehen sollen. Geschichte, Kunst, Musik, Literatur als ein zweckmäßig vernetztes „Spiel der Zeichen“? Wie hängt das zusammen? Dass es - um beim ersten Stichwort zu beginnen - viel um Geschichte geht, macht ROT durchaus zu einer Art von historischem Roman, einem Roman aus vielen kleinen deutschen Geschichten. Die Arbeit des Romanhelden als Begräbnisredner, die er ernst und engagiert wahrnimmt - selbst wenn es sich um einen Hund handelt -, wirkt wie ein postmodernes „metafiktionales“ Medium und ermöglicht viele und ganz verschiedene, doch jeweils von Einzelnen erlebte Zeit-Geschichten, lauter kleine und kleinste historische Romane: Gewürdigt in Trauer wird beispielsweise die Geschichte einer Frau, die eine Zeit lang, aber letztlich erfolglos, eine jüdische Nachbarin im Keller versteckt hatte, versteckt vor der allgegenwärtigen Verfolgung; und der Sprung in der Marmorplatte des Schranks („war so Feucht im Keller“), wird denn zur historischen Signatur, zur signifikanten „Spur“ eines Stücks deutscher Geschichte (87-92). Ein anderer kleiner historischer Roman könnte beginnen mit: „Es waren einmal drei Brüder, die haben die Hans Vilmar Geppert 252 Bundesrepublik aufgebaut“ (118), und sie, insbesondere der Architekt und seine sachlich-kommerziellen Flachbauten „von beachtlicher Hässlichkeit“ (120) haben sie auch geprägt. Einen gegenläufigen (wie bei Walter Scott pars pro toto synekdochischen) Doppelroman entwirft ein Erzählanfang wie: „Es gab mal einen Mann, der hieß Karl Löffler, und der war Gestapoleiter, zuständig für die Judenfrage in Köln. Und es gab einen Mann, der hieß Josef Mahler, der war Kommunist und Jude und wurde von der Gestapo verhört“, bis er daran starb. Der andere aber „bekam seine Pension und fand im hohen Alter einen sanften Tod. Das war (…) die Geburtsstunde der Bundesrepublik“ (125). So könnte man weiter zitieren, bis zu der atmosphärisch dichten, quälenden Szene (370-376), in der ein Prozesstag gegen Erich Honecker, seinerzeit ein Machthaber in der DDR, hineingeschnitten die Geschichte einer „wegen versuchter Republikflucht“ (371) inhaftierten ehemaligen Lehrerin in diesem Staat - „ich wollte die sehen, die mein Leben zerstört haben“ (372) - und die ganz nah an die Szene heranführende, bis zum physischen Erbrechen intensiv erlebte Abrechnung des Ich-Erzählers mit den eigenen kommunistischen Überzeugungen von einst ineinander verzahnt sind; selbst der „geschichtsträchtige“ (373) Gerichtssaal, der schon seit der Kaiserzeit viele Prozesse gesehen hat, wird dabei, wie die Siegessäule - dazu gleich - oder der schon erwähnte Sprung in einer Marmorplatte, oder etwa die Gedächtniskirche (vgl. 196) zur „diahistorischen“, verschiedene Zeitschichten durchschneidenden Zeitsignatur. Eine, ja vielleicht die diahistorische Zeitsignatur, ein Ort wie der Wohnhügel in Timms Roman Der Schlangenbaum (1986) oder jetzt der Berliner „Invalidenfriedhof“ in Halbschatten (2008), der mehrere Schichten der Vergangenheit zugleich erschließt und ROT zu einem postmodernen historischen Roman macht, ist die durchaus zu einer Roman-Person stilisierte Berliner „Siegessäule“. (Auf dem Titel der dtv-Ausgabe von 2003 ist sie als schwarzer Schatten abgebildet unter dem rot gedruckten Titel und vor dem Hintergrund eines ebenfalls leuchtend roten Abend- oder Morgenhimmels und einer auf- oder untergehenden Sonne): Die Säule ähnelt einem Fabrikschornstein, auf den dieser vergoldete unförmige Siegesengel gesetzt wurde, die Goldelse. Es kommt einem Wunder nahe, daß gerade dieser Klops stehengeblieben ist, im Krieg nicht von Bomben, nicht von der Stalinorgel getroffen und später nicht von den Rotarmisten gesprengt wurde. Nach der Kapitulation haben die Russen dem Engel eine rote Fahne in die Hand gedrückt, das war alles. […] Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864, von dem preußischen König Wilhelm in Auftrag gegeben, mußte die Säule zwei Jahre später, nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg, vergrößert werden, fünf Jahre danach, nach dem Sieg über Frankreich, befahl König Wilhelm, inzwischen zum Kaiser aller Deutschen ausgerufen, die Säule abermals zu vergrößern, und der Bau konnte endlich beginnen. So war mit der territorialen Ausdehnung auch dieser steinerne Zeuge des neuen Deutschen Reiches gewachsen und zeigte, wie sehr die Deutsche Gesellschaft unter dem Primat des Militärischen stand. […] Wer die Säule sieht […], die eingelagerten vergoldeten Beutekanonen, die im Säulengang angebrachten Mosaike mit ihrem Schlachtengetümmel, mit der dickbusigen Germania, dem Hurra, den Uniformen, der versteht, was dann kam: die Blutpumpe, Verdun im Ersten Weltkrieg, die Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg. (93/ 94) Uwe Timm ROT 253 In diesem Sinn wird die Siegessäule noch mehrmals und viel detaillierter als in diesem Zitat beschrieben und kritisch analysiert: Ihre Lage in Berlin wird „gelesen“ als Zentrum von Aufmärschen des Kaiserreichs, dann der Nazis, dann der Alliierten, später des gleichgültig aggressiven Großstadtverkehrs und der nicht weniger beliebig humanen Love-Parade; ihre Korrespondenz zu anderen markanten Bauwerken wird untersucht (ein „Schnittpunkt deutscher Geschichte“, 98), der Engel gibt in imaginierten Dialogen eigene Kommentare („Ich, der Engel, zeige euch, wohin es führt, Krieg löst alles, Krieg bewegt alles“, 358), viele Urteile kreisen um das Bauwerk: „Ein Geschichtspanorama von ästhetischer Idiotie“ (97), oder: Dies sei (nach einem viel zitierten Aphorismus von Walter Benjamin) der wahre „Engel der Geschichte (…) ja der fliegt fast, rückwärts, und vor sich läßt er die Ruinen, die Arbeitslager, Genickschuß, wer nicht auf der Parteilinie ist“ (192), oder: „Hier die Siegesparaden (…), dann die Vereinigung, Feuerwerk, und wenn das so weitergeht, die Paraden der Bundeswehr, achten Sie mal darauf“ (280/ 281) und so fort. „Vielleicht hätte sich Joseph Beuys der Berliner Siegessäule annehmen müssen“ (96). Denn wenn dieses Bauwerk zur diahistorischen Geschichtssignatur auserzählt wird, dann ist es nur folgerichtig, dass sich die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte immer konsequenter, zuletzt ausschließlich, auf die Ebene der Zeichen verlagert und noch entschiedener auf die der Kunst. Das gilt bereits für den Plan, die Säule zu sprengen, eine weder gegen Personen noch gegen Sachen, sondern genau gegen diese Geschichtssignatur gerichtete, rein „symbolische Tat“ (389). Auch das dafür geplante „Datum (…), der Tag als die Regierung von Bonn nach Berlin zog“ (315), ist signifikant gewählt. Die Sprengung sollte „ein Zeichen setzen“ (220), das die Bedeutung eines anderen Zeichens, eben einer Geschichtssignatur, für immer verändern sollte: „Die Siegessäule als Ruine, wie die deutsche Geschichte“ (ebd.). Und die Aktion von Zeichen gegen Zeichen setzt sich sehr genau fort in die Sprach- Zeichen-Aktionen des Romantextes selbst hinein und so auch in die der Lektüre (der „Sprengstoff“ soll „in unseren Köpfen deponiert“ bleiben, Ecker in Marx 2007, 201; der Roman „setzt (…) durchaus den ‚Sprengstoff’ in die Form um“, Hielscher 2007, 167). Denn erst als Ruine, also in ihrer Chance der zerstörten Kontinuitäten begriffen, entspräche die so gesehene deutsche Geschichte den erzählten fiktiven Geschichten in diesem Roman. Auch hier zeigt sich der Veränderungsauftrag von Kunst, sofern ja auch die Rhetorik eine „Kunst“ ist. Thomas als Beerdigungsredner spricht weniger darüber, was die Verstorbenen erreicht und geleistet, sondern was sie gesucht, angefangen und gewollt haben, z.B. über eine alte Frau, die kurz vor ihrem Tode und zum Entsetzen ihrer Familie ihre Wohnung noch einmal komplett neu eingerichtet hat, oder eben über das Licht und die Farben, die eine Fotografin in ihren Bildern suchte, oder eben über die Frau mit der gesprungenen Marmorplatte, die eine kleine alternative deutsche Geschichte gewollt hatte. Vergleichbares gilt auch für Aschenbrenners „Zeichen“: Die Sprengung der Siegessäule soll sie in eine Möglichkeit ihres Andersseins versetzen. So beginnt dann in der Tat in der Schlussvision des Romans, die fiktiv und literarisch und imaginativ die Sprengung der Säule erzählt, der Engel sichtbar zu fliegen: „Dieses kleine Wölkchen unter den Füßen (das soll an Fotos gesprengter Fabrikschornsteine erinnern). Der geht auf einer Wolke. Hans Vilmar Geppert 254 Der schwebt ja. Er schwebt, da, er hebt ab, er fliegt, endlich“ (399). Einen „Augenblick lang“ (ebd.), aber nur fiktiv-visionär, nur als Traum eines Sterbenden, ist aus der Signatur von Siegen, also der Signatur von vielen Kriegen, ein Zeichen des Friedens, ja, eines der „Erlösung“ (394) geworden. Sehr genau, als künstlerische, spielerisch überredende Montage, nimmt ein anderer Diskurs das Thema Siegessäule auf. Iris, die Lichtkünstlerin schlägt vor: Genau, sagte sie plötzlich, genau, und fuhr mit der Faust durch die Luft. Weißt du, was hierher muß? Licht! Kein Sprengstoff! Mit Laserschrift auf die Säule projizieren: Auszüge aus den Reden von Bismarck, aus Briefen von Kriegsfreiwilligen, Zitate aus Mein Kampf . Genau wiederholte sie und lachte begeistert, genau das ist es. (102) „Genau. Gewissen braucht Licht“ (105), setzt der Erzähler wenig später hinzu. Referentiell, auf die Handlung bezogen, haben die beiden Aussagen nichts miteinander zu tun. Der Erzähler meint seine „Gewissensbisse“ (ebd.), einen Freund mit dessen Frau zu betrügen. Aber semantisch und konzeptionell (im „Wertediskurs“) ist ihr „im Ganzen zweckmäßiger Zusammenhang“ nicht zu übersehen. Die dem Diskurs anvertraute „ästhetische Erziehung“ soll zum ethisch-ästhetischen Umgang mit Geschichte führen: Verantwortung und Hoffnung, „Gewissen“ und „Licht“ auf die deutsche Geschichte „projiziert“, ein solches Spiel der Sprache und der Zeichen muss die in Zufälle und Fragmente auseinanderstrebende Handlung aufheben. Iris, die Geliebte des Romanhelden, ist wie gesagt Licht-Designerin und Licht-Künstlerin. Und ihre immer wieder ausführlich vorgestellten Projekte, die vom schieren Kitsch bis zu spielerisch durchdachter Kunst reichen - „wie überzeugt, wie zäh, wie gnadenlos sie ihre Lichtinstallationen durchsetzt“ (174) - diese Kunst aus Licht bildet ebenso wie ja auch Iris’ Lebensmut (ich erinnere: die „Frau als Paradigma des Humanen“) einen deutlichen Gegendiskurs zu zwei ihrerseits untereinander antagonistischen Verhaltensweisen: zur rückwärtsgewandten, vom deutschen „Gewissen“ belasteten, in der „Verzweiflung“ (163) nur noch mit - wohlgemerkt hilflosem - „Sprengstoff“ argumentierenden Position Aschenbrenner, aber ebenso auch zur zynischen Indifferenz - „und ich nahm mir vor, in Zukunft ein Wort nicht mehr zu benutzen: Hoffnung“ (154) - beim Romanhelden selbst, seinem immer neuen „Gefühl des Selbstekels, des Selbsthasses“ (149), das erst in der Schlussvision des Sterbenden mit dem Ausblick: „Und darüber das Licht. Licht“ (394), in sein Gegenteil umschlägt. Licht ist ein Aufklärungs- und Freiheits-Symbol und ein, wenn nicht das - „das Licht scheint in der Finsternis“ (Johannes 1.1) - Symbol von Hoffnung. Ein weiteres, kontinuierlich den Roman durchziehendes „symbolisches Feld“ ästhetischer Erziehung, ein Spiel künstlerischer Zeichen mit der und gegen die Geschichte, wäre dann wohl der Jazz. Entscheidend ist, dass dieser Diskurs hier überhaupt so konsequent geführt wird, und das von der zweiten Seite an: „Und noch etwas, ich höre Charlie Parker spielen, sehr deutlich, den Einsatz seines Solos in Confirmation “ (8), so schließt die Sterbeszene, mit der der Roman beginnt. So ein Solo ist der freieste, improvisierteste Teil der Komposition, einerseits höchst individuell, ein einmaliges (selbst-referentielles) Ereignis, andererseits, qua medialem Tonträger, „type“ bzw. Uwe Timm ROT 255 „code“ seiner selbst und so inzwischen vielfach erzählter Teil der Musikgeschichte: ein ästhetisches Zeichen, das zu einem markanten Wendepunkt dieser „ästhetischen Erziehung“ wird. Man sieht erneut, wie das Leben des Romanhelden, also hier sein zum bürgerlichen Musik-Konsum zumindest teilweise alternativer Bildungsweg als Jazzpianist (davon haben frühere Helden der Trilogie allenfalls geträumt, vgl. z.B. K 45), ein fragmentarischer Bildungsweg, wie er aufgehoben wird in einen Bildungsdiskurs für Leser. Denn Jazz, in seinen Voraussetzungen wesentlich geprägt durch die Sklavenkultur, ist per se eben auch ein Freiheitssymbol. Für die Nazis war er ein rotes Tuch. Auch literarisch wurde er immer wieder so emanzipatorisch begriffen (klassisch z.B. in E. L. Doctorovs Ragtime , 1975, oder Toni Morrisons Jazz , 1992: „music […] to embrace them all, encourage them all to live“, 188, um nur eine Stelle zu zitieren). Aber im Gegensatz zu den Personen dort („the click of dark and snapping fingers“, noch einmal Morrison, 227) lebt dieser Romanheld nicht im Sinne dieser Musik. Jazz ist für ihn lediglich „Frei-Zeit“. Wer dagegen jazz-musikalische Formen aufgreift, ist der Erzähler: in den rhythmischen, sozusagen synkopierten Verzögerungen des Erzählens, in der lockeren Polyphonie weniger immer neu variierter Themen, im Gegeneinander der Tonalität, in den relativ kurzen Erzählpassagen, die von bestimmten „Stimmen“ geprägt sind, in den assoziativen Abschweifungen, die aber immer wieder zur tragenden thematischen Geschichte zurückkehren, im Zusammenklang des Finales und sicher noch vielem mehr. Aber Jazz, ebenso die Licht-Kunst sind nicht nur in der Handlung, sondern auch diskursiv lediglich symbolisch-ästhetisch mit dem historischen Diskurs verbunden, einerseits qua kultureller Tradition (z.B. was das Licht betrifft, Goethe, Schelling, Ernst Bloch u.a.), andererseits abstrakt, aber darin doch wieder präzise: Licht und Ton sind Schwingungsphänomene, ihre Kunst spielt mit Zeitrhythmen, wenn auch minimalen. Dieses Spiel der Zeichen gegen die Geschichte - „Licht! Kein Sprengstoff! “ (102) - ändert nichts, verspricht nichts und kann auch nichts beweisen oder gar befehlen. Aber es kann erinnern, erinnern vor allem an noch nicht eingelöste Forderungen und Hoffnungen, und so kann es auch Perspektiven für die Zukunft zumindest offen halten. Insofern sind weder Jazz noch Licht, sondern ist die Farbe „rot“ als solche das postmoderne Hyperzeichen dieses Romans (vgl. Verf. 2009, 342ff. und 352ff.). Dieses Zeichen ist unaufhebbar vieldeutig und widersprüchlich, aber in seinen verschiedenen Kontexten alles andere als beliebig. (Von „rot wie tot“ zu reden und einer „Kunstwelt, in der das Sein im Schein schon verschwunden ist“, Friedrich in Finlay/ Cornils 2006, 31 und 43, scheint mir, mit Verlaub, ein bisschen dumm). Die Vielfalt möglicher Bedeutungen von „rot“ wird seitenlang besprochen und gegeneinander ausgespielt. Das ist interessant zu lesen, lässt sich aber überhaupt nicht referieren. Wenn „Rot […] die dialektische Farbe“ schlechthin ist (50 und oft), dann sicher nicht im Sinne einer die Gegensätze letztlich synthetisch aufhebenden Dialektik. Es bleibt nur jener dialektische Gedanke fruchtbar, dass das Ausspielen von Gegensätzen und überhaupt von vielfältigen Bedeutungen Möglichkeitssinn freizusetzen vermag. Und wo Möglichkeiten erkannt werden kann auch Hoffnung entstehen. In dieser ganz prinzipiellen, wenn man will abstrakten, immer erst noch zu füllenden Hans Vilmar Geppert 256 utopischen Perspektive, als „utopische Funktion“ (Ernst Bloch 1967, v.a. 1.166ff.), ist Rot die […] Farbe der Freiheit. Farbe der Erweiterung, Farbe der Revolution in der reinen Form, an ihrem Anfang, Wunsch nach einer anderen, weit radikaleren Sinnhaftigkeit - der Anspruch auf ein sinnerfülltes Leben (360). Das steht nahezu am Ende des Romans. Und so wie auch dieses „rot“ an dieser Stelle nur für den ersten „Augenblick des Aufstand, der Revolte, der Revolution“ galt, „bevor sie in den neuen Macht- und Herrschaftszwängen des Parteiapparats erstarrte“ (ebd.) - gemeint ist die russische Oktoberrevolution - so hebt auch der Roman ROT die Erinnerung, wenn man will, die Begräbnisrede auf die 68-er revolutionäre Bewegung, hebt er überhaupt vielfach erzählte traumatische deutsche Geschichte auf in eine „ästhetische Erziehung“: Erziehung zum Möglichkeitssinn freigelegter widersprüchlicher Pluralität und Erziehung dazu, in ihr revolutionärutopisches Potential zu entdecken. Der revolutionäre Impetus ist also keineswegs aufgegeben, aber jede Gewissheit ist ihm genommen: „Die Welt ist eine Ansammlung von Entwürfen, die alle irgendwann auf die Müllhalde wandern“ (268), diese Anmerkung zur skeptischen Perspektive jeden pluralen Möglichkeitssinns gehört auch in den Kunst-Diskurs in diesem Roman. Und erinnern wir uns, der Roman beginnt damit, dass der Held tödlich verunglückt, weil er „bei Rot über die Straße gelaufen“ war. Danach sieht er „ein großes Puzzle, aber alles in Schwarzweiß. Seltsamerweise gibt es keine Farbe“. Zwar hält „jemand (…) sehr behutsam, eine Frau, sie kniet neben (ihm, seinen) Kopf“ (7), was ikonographisch sowohl an eine Pietà als auch an das berühmte Foto des erschossenen Benno Ohnesorg erinnert, mit dem Uwe Timm persönlich befreundet war und dessen Tod die 68-er Bewegung wesentlich verstärkte. Aber entwirft, ja beschwört der erste Satz „Ich schwebe“ ein Prinzip des Möglichkeitssinns oder bereits eine Haltung jenseits davon? Löst der den Anfang wieder aufnehmende Schluss des Romans das revolutionäre „Rot“ auf in ein „sanftes Grau“: die Mischung aller Farben, Indifferenz, lediglich ein Abwarten, das auch ein Durchstreichen nicht ausschließen kann? Solche ironischen Schlüsse - die „Zweckmäßigkeit des Ganzen“ sagt mehr als das Ende der Handlung - gibt es oft, um die These noch einmal aufzugreifen, in der Tradition des Bildungsromans. Braucht die Hoffnung auf „Licht“ den Glauben daran, eine Art Theologie, wie sie der Romanschluss denn doch wohl auch suggeriert - wohlgemerkt in der Stimme des durch eine visionäre Sprengung vom Siegeszum Friedensengel mutierten „wahren Engels der Geschichte“ auf der Berliner Siegessäule? Ich fliege, endlich, Gegenwart, Sturz, Allgegenwart, Gewölk, sanftes Grau und darüber das Licht. Licht. (394) Im Roman steht hier ein Punkt. Mitlesen sollte man aber auch ein skeptischsebstironisches Fragezeichen. Damit jedoch wird der Schluss keinesfalls beliebig. Die Forderungen und Impulse bleiben, das kritische Ungenügen an Zeit und Geschichte erst recht. Nicht zuletzt schreibt ja Uwe Timms jüngster Roman Halbschatten Uwe Timm ROT 257 (2008), in dem die beiden Protagonisten aus ROT als Wiedergänger über den Berliner Invalidenfriedhof irren, solche utopischen und aufklärerischen Tendenzen fort, ein zähes, skeptisches Festhalten sowohl am Licht der Aufklärung als auch am frei geträumten Flug der Utopie: Wir können […] vielleicht ein wenig Licht bringen, einen Halbschatten, ein Zwielicht. […] Der Flug ist das Leben wert. Vielleicht. Ich denke eher nicht. Wer weiß. ( Halbschatten , 171 und 267) Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Timm, Uwe: - ROT. München: dtv, 2003 (dtv. 13125). Diese Ausgabe wird im Text zitiert. - Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1993. - Heißer Sommer. München: dtv, 1998 (dtv. 12547). Abgekürzt HS. - Kerbels Flucht. München: dtv, 2000 (dtv. 12765). Abgekürzt K. - Römische Aufzeichnungen. München: dtv, 2000 (dtv. 12766). - Nicht morgen, nicht gestern. Erzählungen. München: dtv, 2001 (dtv.12981). - Uwe Timm Lesebuch. Die Stimme beim Schreiben. Hg. Martin Hielscher, München: dtv, 2005 (dtv. 13317). - Halbschatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. Forschungsliteratur: Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung . Wissenschaftliche Sonderausgabe, 3 Bde., Frankfurt: Suhrkamp, 1967. Finlay, Frank/ Cornils, Ingo (Hg.): „(Un-)erfüllte Wirklichkeit.“ Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006. Geppert, Hans Vilmar: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 1994. Ders.: Der historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart . Tübingen: Francke, 2009. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz, 14 Bde., Hamburg: Wegner, 1948-1960. Greiner, Ulrich: „‚Verlorene Utopien. Der Wiedergänger.‘ Uwe Timm erzählt in seinem Roman ‚Rot‘ von der Liebe, vom Älterwerden und vom Sterben und erinnert en die Geschichte der verlorenen Utopien.“ In: Die Zeit , Nr. 41 vom 4. 10. 2001 (Literaturbeilage). Hielscher, Martin: Uwe Timm. München: dtv, 2007. Hans Vilmar Geppert 258 Malchow, Helge (Hg.): Der schöne Überfluss. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005. Marx, Friedhelm (Hg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Göttingen: Wallstein, 2007. Morrison, Toni: Jazz. London: Vintage, 1990. Rathgeb, Eberhard: „‚ Die Gans in der Revolte. ‘ 1968 hat Uwe Timm stark geprägt.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09. 10. 2001, 23. Richard Powers The Time of Our Singing Hubert Zapf Richard Powers’ The Time of Our Singing , erstmals publiziert im Jahr 2003, ist in mehrerer Hinsicht ein außergewöhnlicher Roman. Er ist zunächst rein quantitativ ein umfangreicher Roman, der sich in der neueren amerikanischen Literatur in eine Reihe mit Don DeLillos Underworld, Geoffrey Eugenides Middlesex , Philip Roths The Human Stain , Siri Hustvedts What I Loved, Thomas Pynchons Against the Day oder Marc Estrins Insect Dreams stellt und der wie diese am Ausschnitt individueller Schicksale und Familiengeschichten zugleich eine breit angelegte epische Darstellung der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft bietet. Über die amerikanische Literatur hinaus stellt Powers Roman intertextuelle Bezüge her zu modernen Klassikern wie Prousts A la Recherche de Temps Perdue , Robert Musils Mann ohne Eigenschaften , James Joyces Ulysses oder Thomas Manns Doktor Faustus . Der Roman führt verschiedene, scheinbar ganz heterogene Themen zusammen - vor allem die Themen der Zeit und der Musik, aber auch die Rassenkonflikte in den USA im 20. Jahrhundert, den Holocaust, das Verhältnis von Alter und Neuer Welt und viele mehr. Es ist ein historischer Roman, ein Generationenroman, ein interkultureller Roman, ein Wissenschaftsroman, ein Zeitroman, ein Musikroman und ein Künstlerroman, der trotz der Komplexität seiner Thematik und Sprache zugleich ungemein lesbar ist, der Kulturkritik mit ästhetischer Selbstreflexion, historisch-politisches Engagement mit einer ausgesprochenen Lust an der Sprache und am Text verbindet. The Time of Our Singing ist dabei ein zutreffenderer Titel als die deutsche Übersetzung Der Klang der Zeit , denn es geht um eine Zeitkonzeption, die gerade nicht eine bloß objektive Größe darstellt, sondern an die je individuellen Raum-Zeit- Koordinaten der einzelnen Figuren und ihrer Lebensgeschichten gebunden ist; und es geht auch nicht allein um das Phänomen des Klangs an sich, sondern um den Klang, den der menschliche Gesang als eine je persönliche und doch mit anderen teilbare Aktivität und kulturelle Form des Selbstausdrucks erst hervorbringt - The Time of Our Singing - heißt es. Freilich werden diese kulturell erzeugten Klangwelten im Roman dann doch auch wieder mit den vorkulturellen Klängen der natürlichen Welt in Zusammenhang gebracht, so wie das Singen, das im Mittelpunkt des Romans steht, eine sowohl natürliche als auch höchst kunstvolle Form des menschlichen Selbstausdrucks in der Form der Musik darstellt. Der Titel des Romans bezieht sich also nicht auf Zeit und Musik als objektive Phänomene, sondern als Phänomene, die erst aus der Wechselbeziehung von Subjektivität und Objektivität, von historischen und transhistorischen Prozessen, von Kultur und Natur verstehbar sind. Und es ist anzunehmen, dass es genau diese relationale Dynamik komplexer Wechselwirkungen ist, die eine besondere Nähe zum Hubert Zapf 260 Genre des Romans hat und die dessen kognitiven und kreativen Möglichkeiten einen produktiven Spielraum eröffnet. Die Gattung des Romans, der seit einigen Jahrzehnten immer wieder das historische Verschwinden oder mindestens die ästhetische Irrelevanz vorausgesagt wurde, behauptet sich in solchen Entwürfen auf eindrucksvolle Weise als fiktionales Medium der Diagnose einer Epoche oder Kultur, das ein übergreifendes Bild soziohistorischer Prozesse zu zeichnen und diese zugleich in der Perspektive und im Bewusstseinshorizont einzelner Individuen zu konkretisieren und differenzieren vermag. Diese neue epistemologische und kulturgeschichtliche Selbstpositionierung des Romans bedeutet keine einfache Rückkehr zu einem vermeintlich naiven Erzählen vor der Postmoderne, sondern thematisiert durchaus auch selbstreflexiv die Möglichkeiten des Mediums und nimmt sowohl die Vorgeschichte der amerikanischen und europäischen Literatur wie die Herausforderungen der zeitgenössischen Kultur, etwa der Medienkonkurrenz, der Intermedialität, der kulturellen Globalisierung und der zeitgenössischen Wissenschaften in sich auf. Im hochgradig interdiskursiven Spannungsfeld zwischen medialer Selbstreflexion und der Renaissance des Erzählens, in dem sich der zeitgenössische Roman bewegt, geht Richard Powers seinen ganz eigenen Weg. Dies möchte ich im Folgenden an einigen Aspekten und Textpassagen zeigen. 1. Kurze Vorbemerkung zum Autor Lassen Sie mich zunächst einige kurze Bemerkungen zum Autor vorausschicken. Richard Powers wurde 1957 in Evanston, Ill. geboren, und lebte dann von 1968- 1974 in Bangkok, wo sein Vater als Lehrer an einer internationalen Schule arbeitete. Er war also früh der interkulturellen Erfahrung ausgesetzt, die auch seine Romane prägt. Als Jugendlicher bereits hatte er eher ungewöhnliche wissenschaftliche Interessen wie Ozeanographie und Archäologie, aber auch Literatur und Musik - er singt selbst und spielt Cello, Gitarre, Klarinette und Saxophon. Nach der Rückkehr in die USA begann er das Studium der Physik, wechselte dann zur Literaturwissenschaft, und arbeitete nach dem Studium zunächst eine zeitlang als Programmierer in Boston. Zu seinem Erstlingsroman Three Farmers on Their Way to a Dance wurde er inspiriert durch eine Fotografie von August Sander im Boston Art Museum, die drei Bauern aus dem Westerwald 1914 auf dem Weg zu einem Fest zeigt und die ihn so faszinierte, dass er seine Arbeit kündigte und sich fortan dem Romanschreiben widmete. Er ging 1985 nach Holland, von dort für ein Jahr nach Cambridge und kehrte 1993 in die USA zurück, wo er Creative Writing und Multimedia-Seminare an der University of Illinois unterrichtet. Seine Romane zeigen deutliche Spuren dieser realen und intellektuellen Biographie - vor allem in ihrer transnationalen und transkulturellen Ausrichtung und ihrer jeweils unterschiedlich gewichteten Verbindung von Politik, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Von seinen bisher neun Romanen seien hier zwei kurz erwähnt: The Gold Bug Variations (1991), der bisher nicht ins Deutsche übersetzt ist, wobei die Richard Powers The Time of Our Singing 261 Doppeldeutigkeit des Titels darin besteht, dass es im Roman um Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der Kompositionsform der Goldberg-Variationen von J.S. Bach, der Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe, The Gold Bug , der Goldkäfer, und der gerade entdeckten DNA-Struktur des Erbmaterials von Organismen geht. Musikalische und literarische Strukturen werden also gewissermaßen in Analogie gesetzt zur Schrift des Lebens, wie sie sich im mikrobiologischen Bereich in der Doppelhelix des DNA-Moleküls manifestiert, und diese Inszenierung literarisch-künstlerischen Wissens als einer Form des kulturellen Lebenswissens ist generell eine wichtige Ebene von Powers Romanen. Ein zweites Beispiel ist The Echo Maker (2006), ins Deutsche übersetzt als Das Echo der Erinnerung , der am Fall eines gehirngeschädigten Unfallopfers und dessen mühsamen Versuchen einer Rekonstruktion der gelöschten Erinnerungen, sowie an der Figur des behandelnden Neurologen die Zugangsweise, aber auch die Grenzen des neurowissenschaftlichen Menschenbilds thematisiert und dieses mit einer größeren, Mensch und Natur verbindenden ökologischen Perspektive kontrastiert. Charakteristisch für seine Bücher ist also die literarische Auseinandersetzung vor allem mit dem Wissenschaftsdiskurs der Gegenwart, aber auch mit den Möglichkeiten der Kunst und Literatur, sich als eigenständige Wissens- und Kommunikationsform in diesem Dialog jeweils neu zu positionieren. 2. The Time of Our Singing - Leserwirkung Der nachhaltige Eindruck, den der Roman auch und erst recht beim mehrmaligen Lesen hervorruft, ist sicher zuallererst bedingt durch seine Sprache . In The Time of Our Singing gewinnt die Sprache und Erzählweise eine Intensität und Appellkraft, die in ihrer Prägnanz und dem überbordenden Bilderreichtum, ihrer Virtuosität, Vielseitigkeit und Lebendigkeit ihresgleichen sucht. Sie stellt somit eine wichtige Ebene dar, auf der sich der „Klang der Zeit“ das Thema von Dauer und Vergänglichkeit im Medium der Musik, unmittelbar im Text manifestiert. Der Roman schreibt nicht nur über Musik, sondern integriert sie in seine Textur, so dass er selbst zu einer Art intermedialen Form der Sprachmusik und der narrativen Performance wird. Er bildet Klangteppiche von Wörtern und Wortfolgen, von Wiederholungen und Variationen, Steigerungen und Abbrüchen, Konsonanzen und Dissonanzen, die er in immer neuer Weise auseinander entwickelt, gegeneinander wendet und ineinander verschränkt. Auf diese Weise wird der Text dynamisch durchrhythmisiert und es entsteht eine Sprachkomposition, die sich zwischen Klang und Text, Improvisation und Partitur, Tradition und Avantgarde, klassischen Formen und verbaler Jazzpoetik bewegt und die damit der grundlegenden Konzeption und Ästhetik des Romans entspricht. Zum zweiten entsteht der nachhaltige Eindruck des Romans auf den Leser durch das enorme Wissen , das er in narrativer Form verarbeitet - das zeitgeschichtliche Wissen über die amerikanische und transatlantische Geschichte von den 40er bis zu den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, von denen der Roman handelt und die er mit einem besonderen Blick auf die Geschichte der Diskriminierung und mühsamen Hubert Zapf 262 Emanzipationsbemühungen der Afroamerikaner beleuchtet; das Wissen über Naturwissenschaften, insbesondere über Physik, Relativitätstheorie und neuere Theorien der Zeit; und schließlich das Wissen über nahezu die gesamte Geschichte der abendländischen, aber auch der afroamerikanischen Musik, das ebenso wie die Thematik der Zeit in die Struktur des Romans eingearbeitet wird. Die besondere Appellkraft des Romans entsteht aber zum dritten auch daraus, dass dem Autor über das hohe sprachlich-ästhetische und intellektuelle Anspruchsniveaus hinaus eine psychologisch eindringliche, emotional bewegende Gestaltung der Personen, ihrer Beziehungen und Schicksale gelingt, in der die Widersprüchlichkeit und Vielgestaltigkeit menschlicher Selbstbehauptungs- und Überlebensformen angesichts schockierend dehumanisierender gesellschaftlicher Verhältnisse überzeugenden Ausdruck findet. Trotz der charakterlichen Unterschiede und teilweise lebenszerstörenden Mißverständnisse zwischen den Figuren bis in die Privatsphäre der Familie hinein findet der Erzähler eine Haltung der Empathie, die nicht vereinnahmt, eines Verstehens des Anderen, das die eigenen Grenzen nicht nur anerkennt, sondern immer schon voraussetzt, und trifft damit den Ton einer Humanität, die sich jenseits oder vielmehr diesseits ideologischer Formen der Geschichts- und Menschheitsdeutung bewegt. 3. Handlungsstruktur Will man die Handlung des Romans zusammenfassen, so muss man vorausschicken, dass das Geschehen nicht chronologisch erzählt wird, sondern mit zeitlichen Umstellungen arbeitet, sich vorwärts und rückwärts in der Zeit bewegt, Szenen teilweise ineinanderblendet, so dass der lineare Kausalnexus des Geschehens erst aus der Vielzahl der Episoden rekonstruiert werden muss. Als Erzählerstimme fungiert zum einen, überwiegenden Teil Joseph oder Joey Strom, der jüngere der beiden Söhne der Familie Strom, die im Mittelpunkt der Handlung steht. Darüber hinaus gibt es einen auktorialen Erzähler, der gegenüber der Einzelperspektive von Joey die Innenperspektiven anderer Charaktere sowie eine stärker übergreifende und verallgemeinernde Beobachterperspektive zur Geltung bringt. Der Grundriss der Handlungsstruktur ergibt sich aus einer zentralen Ausgangsszene, nämlich der Begegnung des weißen, aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Physikers David Strom mit der schwarzen Amerikanerin Delia Daley bei einem Open Air Konzert der schwarzen Sängerin und klassischen Altistin Marian Anderson am Ostersonntag 1939 auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington. Das Konzert, das ursprünglich im Konzertsaal der Constitution Hall stattfinden sollte, wurde, nachdem es von den Daughters of the American Revolution aus rassistischen Gründen verhindert wurde, ins Freie verlegt und entwickelte sich zur Demonstration und zum bis dahin größten Massenereignis in der amerikanischen Geschichte, zu dem 75000 Besucher kamen und das live im Radio übertragen wurde - eine Antizipation und erste Manifestation jener Bürgerrechtsbewegung, die dann zwei Jahrzehnte später eine zunehmende Dynamik gewann und deren verschiedene Richard Powers The Time of Our Singing 263 Stationen einen wichtigen politisch-historischen Kontext des Romangeschehens bilden. David Strom, der in New York an der Columbia University lehrt, ist unter den Zuhörern, weil er zum Gastvortrag im nahen Georgetown eingeladen ist, vor allem aber weil er Marian Anderson wiederhören will, die er als musikbegeisterter Europäer bereits in Wien gehört hatte; Delia Daley ist gegen den Widerstand ihrer Eltern aus Philadelphia angereist, weil sie selbst ein großes musikalisches Talent ist und Sängerin werden wollte wie ihr Vorbild Marian Anderson, aber wegen ihrer Hautfarbe nicht zum Studium am Konservatorium in Philadelphia zugelassen wurde. David wird auf Delia aufmerksam, als sie bei Andersons Konzert hörbar mitsingt, Delia auf David, als dieser sich im Anschluss an das Konzert um einen schwarzen Jungen kümmert, der in der Menge seinen Bruder verloren hat. Aus dem Treffen der beiden geht eine Ehe hervor, die in mehrerer Hinsicht ungewöhnlich ist und vor allem gegen das zentrale Tabu des segregierten Amerikas der Zeit verstößt, das Tabu einer Heirat zwischen Weiß und Schwarz. Trotz aller Widerstände heiraten die beiden schon im nächsten Jahr 1940, ziehen in ein Haus im New Yorker Stadtteil Hamilton Heights im westlichsten Teil von Harlem, und haben innerhalb weniger Jahre drei Kinder, die sie bewusst jenseits von Rassengrenzen aufziehen in einer Art familiären Utopie, die von der Überzeugung der Überwindbarkeit solcher Grenzen getragen ist und die im gemeinsamen Musizieren der Familienmitglieder ihren zentralen Ausdruck findet. Dieser Versuch einer Lebensform „beyond race“ geht nach innen hin eine Weile gut. Die Gegensätze zwischen dem theoretisch orientierten Vater, der von seinen physikalischen Reflexionen über das Wesen der Zeit absorbiert ist, und der lebenspraktisch orientierten, musikalischen Mutter werden durch gemeinsames Musizieren überbrückt, in dem unterschiedliche Stile gemischt und im improvisierenden Zusammenspiel einzelner Zitate und Stimmen verbunden werden in einem sogenannten „game of crazed quotations“, einem Spiel der verrückten Zitate -, an dem schon in ganz jungem Alter auch die Kinder teilnehmen. Als besonders großes Talent tritt dabei der älteste Sohn Jonah hervor, der nicht nur mühelos auch anspruchsvolle musikalische Stücke versteht, sondern dessen Stimme von überragender Schönheit und Ausdruckskraft ist, so dass er es mit seinem jüngeren Bruder Joey, der zu seinem Klavierbegleiter heranwächst, auf die Boylston Academy of Music in Boston, danach auf die Juilliard School of Music in New York schafft und schließlich beim Wettbewerb „America’s Next Voice“ an der Duke University den ersten Preis gewinnt - eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte als Nichtweißer im Metier der klassischen Musik, die die Probleme seiner Identität allerdings nicht wirklich löst, sondern mit denen er später immer wieder konfrontiert werden wird. Die familiäre Idylle, in der die beiden mit ihrer kleinen Schwester Ruth aufgewachsen sind, ist zum Zeitpunkt dieses Erfolgs, im Jahr 1961, schon längst auseinander gebrochen. Sie war von vornherein mit einer zutiefst rassistischen gesellschaftlichen Umwelt in Konflikt geraten und schließlich an dieser gescheitert. Zunächst hatte der Vater Delias, der es als Vertreter der schwarzen Aufsteigerschicht immerhin zum Arzt gebracht hat, schon wenige Jahre nach Beginn der Ehe die Beziehung Hubert Zapf 264 zu seiner Tochter abgebrochen, weil sie ihre Kinder im Geist der weißen Kultur erziehe. Zudem stellte sich heraus, dass die scheinbar völlig weltfremden physikalischen Forschungen David Stroms offenbar doch ganz reale Relevanz hatten, wurde er doch zum Manhattan Project hinzugezogen, dem Programm der Entwicklung der Atombombe, die unter Beteiligung deutscher Exilphysiker hergestellt wurde und der Bedrohung eines solchen Projekts in Deutschland zuvorkommen sollte, aber dann gegen Japan zum Einsatz kam - was Delias Vater ebenfalls rassistisch deutet. Der Wendepunkt und die letztlich nie aufgearbeitete Katastrophe der Handlung aber ist 1955 der Tod Delias bei einem Feuer, das das Haus der Familie zerstört. Weder David noch die Kinder kommen über diesen Tod wirklich hinweg, vielmehr sind die späteren Verhaltensweisen, Konflikte und Lebenswege nicht zuletzt auch als Reaktion auf dieses traumatische Erlebnis zu deuten. Die Söhne lassen den Vater allein mit der Tochter Ruth in dem neu bezogenen Haus zurück; Ruth wiederum, die das Feuer aus nächster Nähe miterlebte und von Rettungskräften daran gehindert wurde, ihre Mutter aus den Flammen zu retten, ist über Jahre hinweg traumatisiert und bricht dann, als sie auf College kommt, vollständig mit ihrem Vater, den sie als Repräsentanten der weißen Gesellschaft und Verfechter einer illusionären Vorstellung von Rassenharmonie verachtet. Es sind inzwischen die 1960er Jahre, die Jahre von Atomkriegsgefahr, Kubakrise, Rassenunruhen, der Morde an den Kennedys, an Martin Luther King und Malxolm X, Ruth gibt ihre Collegeausbildung auf und schließt sich den Black Panthers an, und bricht dann auch den Kontakt zu ihren Brüdern ab, als sie herausgefunden zu haben meint, dass der wahre Grund für den Feuertod der Mutter ein rassistisch motivierten Anschlag war, den diese nicht wahrhaben wollen und so das Andenken ihrer Mutter und die Sache des schwarzen Amerikas verraten. Die Lebenswege laufen also weit auseinander in entgegengesetzte Richtungen - Jonah wird ein gefeierter Sänger klassischen Lieder-Repertoires, der mit seinem Bruder von 1962-68 durch die USA tourt, und dann, und zwar zunächst, ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, in die DDR nach Magdeburg, von dort nach Leipzig und weiter in den Westen und nach Italien, Frankreich, Holland und Belgien. Er bleibt in Europa bis in die 1990er Jahre, während Joey, der lange Jahre Jonahs Klavierbegleiter gewesen war, zunächst in den USA zurückbleibt und sein Geld als Barpianist verdient, aber 1975 seinem Bruder nach Europa folgt und Mitglied der von Jonah gegründeten Gruppe Voces Antiquae wird. Die Liebesbeziehungen, die die beiden Brüder mit weißen Frauen eingehen, scheitern - Jonahs von ihm leidenschaftlich geliebte musikalische Mentorin treibt ihr Kind ab, als sie von ihm schwanger ist; bei Joey ist es umgekehrt er selbst, der die Liebe der ihn bedingungslos unterstützenden deutschstämmigen Sängerin Teresa Wierbicki letztlich nicht annehmen kann. Der Vater David, allein in New York zurückgeblieben, geht seinen einsamen Forschungen über die Zeit nach und stirbt schließlich, am Ende von Joey als einzigem begleitet, an Krebs. Die Tochter Ruth lebt im Untergrund und hat ein Mitglied der Black Panthers geheiratet und mit ihm zwei Kinder. Erst in den 1980er Jahren, nachdem die Black Panthers sich längst zersplittert haben und ihr Mann von der Polizei erschossen wurde, wendet Ruth sich der Fami- Richard Powers The Time of Our Singing 265 lie ihrer Großeltern, der Eltern ihrer Mutter Delia, zu und nimmt auch Kontakt zu Joey wieder auf, der aus Europa zurückkehrt und sich bereit erklärt, an der mittlerweile von Ruth gegründeten Schule für sozial benachteiligte Kinder in Oakland, CA, Musik zu unterrichten. Gegen Ende des Romans setzt damit eine Gegenbewegung ein, die die getrennten Lebenswege real oder symbolisch wieder näher zusammenführt. Als Jonah im Jahr 1992 aus Europa zu einer Konzerttournee nach Oakland kommt, sehen sich alle drei Geschwister nach Jahrzehnten erstmals wieder; doch kurz danach gerät Jonah unfreiwillig in die Straßenkämpfe der Rodney King Riots in Los Angeles. Die Unruhen, die 53 Tote und über 2000 Verletzte forderten, waren ausgebrochen, nachdem vier weiße Polizisten vor Gericht freigesprochen wurden, die brutal einen Schwarzen zusammengeschlagen hatten, eine Szene, die von einem Privatmann zufällig gefilmt wurde und durch ihre Dokumentation im Fernsehen eine ungeheuere Wirkung entfaltete. Jonah wird als unbeteiligter Beobachter durch einen Steinwurf schwer verletzt und stirbt in seinem Hotelzimmer, nachdem er noch seinen Geschwistern am Telefon seine Erlebnisse schildern konnte. Die private Handlung wird also stets mit der Entwicklung der öffentlichen, politischen Geschichte der USA verbunden und kontrapunktisch auf sie bezogen. Beide Handlungsstränge sind durch die Themen von Rassismus, Zeit und Musik in vielfacher Weise miteinander verwoben. Dies wird an der letzten Station in der Chronologie des Romans noch einmal deutlich, dem Million Man March zum Lincoln Memorial 1995, an dem Joey und Ruths älterer Sohn Robert teilnehmen und der Erinnerungen an das andere Großereignis an dieser Stelle nochmal aufruft, das Konzert von Marian Anderson im Jahre 1939, bei dem sich Ruths und Joeys Eltern erstmals begegneten. 4. Gesellschafts- und Charakterkonzeption Wenn man sich nun die Charakterkonstellation des Romans ansieht, so fällt unmittelbar ins Auge, wie stark das Problem des Rassismus in ihr angelegt ist. Die Familie von Delia ist schwarz, die von David weiß, die Kinder bewegen sich auf einer Skala dazwischen, von Jonah, dem hellhäutigen Ältesten, der oft für einen Weißen gehalten wird, über den dunkleren Joseph, der als Mulatto und häufig als Jonahs Diener wahrgenommen wird, bis zu Ruth, der Jüngsten, die nach der Familie der Mutter gerät und, jedenfalls äußerlich, ganz Afroamerikanerin ist. Zugleich ist aber hinzuzufügen, dass David zwar in den USA als Weißer wahrgenommen wird, aber in Deutschland ja gerade als Nichtarier und Jude ebenfalls aus rassistischen Gründen verfolgt wurde. In Delia und David treffen sich also zwei Menschen, die in unterschiedlichen Systemen Opfer von rassistischen Reinheitsideologien sind und deren Beziehung selbst ständig von der fortwirkenden Präsenz dieses Rassismus gefährdet ist. Ihre Kinder personifizieren daher in unterschiedlicher Weise jene Rassenmischung, jene miscegenation , die diesen Ideologien zuwiderläuft und die im nationalsozialistischen Deutschland, aber in anderer Weise eben auch in den USA jener Zeit als Tabubruch, ja als Verbrechen galt. Hubert Zapf 266 Ebenso hineingearbeitet in die Biographien der Charaktere sind die historischen Katastrophen, die diese Reinheitsideologien angerichtet haben. Im Fall von David Strom ist es der Holocaust, dem er selbst nur knapp entging und dem außer einer Schwester seine gesamte Familie zum Opfer fiel - eine Familie, deren einer, mütterlicher Teil auf der Flucht vor antisemitischen Progromen in der Ukraine nach Deutschland als vermeintlich tolerantes Kulturland umgesiedelt war; und deren anderer, väterlicher Teil bereits seit Hunderten von Jahren im Rheinland ansässig war. Im Fall von Delia ist es der Rassismus in den USA, der ihre Lebensbedingungen von vornherein radikal einschränkt, der ihre Karriere als Sängerin verhindert, der ihren Vater in die Verbitterung treibt, weil er als Mediziner seiner Hautfarbe wegen von einem wissenschaftlichen Kongress ausgeschlossen wird, und der direkt oder indirekt an ihrem Tod beim Feuer des Hauses mitschuldig ist. Die Erfolgskarriere Jonahs im Bereich der weißen Hochkultur und in Europa wird immer wieder durch die Rassenunruhen in den USA, die bürgerkriegsartigen Straßenkämpfe und Ausbrüche von Gewalt konterkariert, von denen er über die Medien erfährt, in die er aber mehrfach halb zufällig, halb aus innerem Drang mit hineingezogen wird und bei denen er am Ende auch umkommt. Kontrastiv hierzu wendet Ruth sich vollständig von der weißen Kultur ihres Vaters ab und der schwarzen Subkultur der Black Panthers zu, in der sie indessen ihre eigene Katastrophe im gewaltsamen Tod ihres Mannes im Konflikt mit der Polizei erlebt. Joseph, der Ich-Erzähler, steht zwischen allen Fronten. Er ist es, der zu beiden Seiten seiner Familie Kontakt hält und durch deren Tragödien in seinem Innersten zerrissen wird. Er ist ein Vermittler, der immer wieder den Kontakt zu beiden Seiten sucht und ihn schließlich auch ansatzweise herstellt. In vielerlei Hinsicht ist dies also eine posttraumatische Erzählung, in der die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die aus den ideologischen Spaltungen der Menschheit entstanden, im Mikrokosmos eines Familienschicksals gespiegelt und verarbeitet sind. 5. The Time of Our Singing als naturalistischer Sozialroman Nähme man das, was bisher zur Konzeption von Thematik, Handlung und Charaktere in Powers Roman gesagt wurde, für sich, so müsste man zu dem Eindruck kommen, es handle sich um einen primär politisch-historischen Roman, der in der Tradition von Realismus, Naturalismus und kritischem Sozialroman steht und dessen Hauptanliegen es ist, die gesellschaftliche Bedingtheit persönlicher Schicksale, die inneren Widersprüche, Defizite und zivilisatorischen Verirrungen eines Landes herauszustellen, das sich als Speerspitze des historischen Fortschritts sieht. In der Tat ist dies eine zentrale Ebene des Romans, und die historische Verortung des Geschehens in der Zeit während und nach dem 2. Weltkrieg gibt dieser radikalen Kritik des American Dream noch eine zusätzliche Brisanz, weil der gerade zu dieser Zeit scheinbar so klare moralische Gegensatz von Gut und Böse in Frage gestellt und der welthistorische Überlegenheitsanspruch der USA auf denkbar härteste Weise mit den dehumanisierenden Tendenzen der eigenen Gesellschaft konfrontiert wird. Manche Richard Powers The Time of Our Singing 267 Szenen sind in der Konkretheit und schockierenden Eindringlichkeit der Präsentation von Gewalt und Brutalität kaum zu überbieten, etwa die seitenlange Darstellung eines historischen Falls aus dem Jahr 1955, der Folter und schließlichen Tötung des 14jährigen Chicagoer Jungen Emmett Till, der in den Südstaaten von zwei Männern ermordet wurde, weil er einer weißen Verkäuferin widersprochen und zugegeben hatte, eine weiße Freundin zu haben. We never had a problem with our niggers till you Chicago vermin come down to tile them up. Don’t you know anything? Nobody ever taught you can from can’t? The boy has stopped answering. But even this silence defies them. The two men - the husband of the soiled woman and his half brother - work away on the naked body: in the truck, out of the truck, questioning, questioning, patient teachers who’ve started their lecture too late. You sorry about what you did, boy? Nothing. You ever going to do something so stupid again, the whole of what’s left of your life? More nothing. They look for compliance in his face. But by now, the impish bright oval from the Christmas photo has little face left. The boy’s silence drives the whites into whatever calm technique lies past madness. They poke their barrels into his ears, his mouth, his eyes. They will tell it all later, to Look magazine, selling their confession for petty cash. They meant only to scare. But the boy’s refusal to feel wrong about anything drives them to their obligation. (99-100) Dies ist ein Beispiel dafür, wie Powers reale historische Ereignisse in seine fiktionale Textur einbaut und den Roman damit bewusst zu einem Ort der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Entfremdung und Gewalt macht, die als dunkler Teil der amerikanischen Kultur konsequent ins Licht gerückt wird. Die Empathie mit dem Opfer, dem Jungen, geht dabei einher mit der Einfühlung in die Mentalität der Täter, die in ihrer Mischung aus Aggressivität und moralischer Selbstgerechtigkeit, von Machtrausch und fast religiösem Pflichteifer zugleich als - wenn auch besonders brutale - Repräsentanten einer allgemeineren kulturellen Mentalität erscheinen. Auf diese Weise wird das historische Ereignis sowohl aus seiner bloßen Einmaligkeit wie aus seiner öffentlichen medialen Vermarktung geholt und im Horizont zwischenmenschlicher Verhaltens- und Erlebensweisen vergegenwärtigt, womit es umso nachhaltiger ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben wird. 6. Der Roman als imaginativer Gegendiskurs Wird also die dunkle, destruktive Seite des Menschen und der Geschichte im Roman nachhaltig herausgestellt, so bleibt jedoch der Gesamteindruck der Lektüre nicht primär davon bestimmt. Im Gegenteil bietet der Text, wie bereits gesagt, schon auf der Sprachebene in der Vielfalt seiner Stilmittel, seinem Metaphernreichtum, seiner virtuosen Fabulierungskunst und seiner Mischung der Tonlagen und Register einen kreativen Überschuss an Formulierung und Reflexion, ein Spiel der Wörter und Zeichen, das einen Gegenpol zu jenen historischen Konflikten aufbaut und das Potential der menschlichen Kultur und des menschlichen Geistes wenn nicht zu deren Überwindung, so doch zu ihrer Entdogmatisierung und symbolisch-ethischen Kor- Hubert Zapf 268 rektur herausstellt. Der Text der Erzählung wird gleichzeitig zur Performanz des Erzählten, die die Themen von Geschichte, Zeit, Bewusstsein und Musik in ständig wechselnden, zeitlich vorwärts und rückwärts gehenden Wiederholungen und Variationen durchspielt. Lässt sich die um den Rassismus zentrierte Thematik des Romans als kulturkritischer Metadiskurs bezeichnen, der die determinierenden Zwänge, Widersprüche und destruktiven Spaltungen des gesellschaftlichen Systems darstellt und dabei letztlich einen death-in-life -Zustand diagnostiziert, der sich in äußerer und innerer Erstarrung, in Paralyse und einem Teufelskreis sinnleerer Aggressivität manifestiert, so lässt sich der affirmative Pol der Dynamik des Textes, der in der Sprache, den Dialogen, dem Gesang, der Emotionalität persönlicher Beziehungen zur Geltung kommt, als imaginativer Gegendiskurs bezeichnen, der die in jenem System verdrängten und unrealisierten Dimensionen menschlichen Lebens, Denkens und kreativer Selbstentfaltung zur Darstellung bringt. Vor allem die Musik erscheint als kulturelle Ausdrucksform des Menschen, die die Möglichkeit einer sinnstiftenden, ganzheitlichen Selbstentfaltung eröffnet, die in der Gesellschaft immer wieder eingeschränkt oder verhindert wird. Die Konzerte Jonahs sind Höhepunkte des Romans, die epiphanische Momente zeitlicher Entgrenzung und einer Erfahrung des Sublimen ermöglichen, das vom Menschen hervorgebracht wird und zugleich diesen übergreift, das aus dem Stoff der Zeit selbst ist und dennoch in ihrer Präsenz des je gegenwärtigen Augenblicks die Zeit auch transzendiert. „In some empty hall, my brother is still singing“ (3). So lautet der erste Satz des Romans. Es ist dieser Dialog und das Wechselspiel von Musik und Zeit, die wesentlich den imaginativen Gegendiskurs des Textes bestimmen und die kontrapunktisch den historisch-realgeschichtlichen Episoden gegenübergestellt sind. 7. The Time of Our Singing als Zeitroman Lassen Sie mich zunächst auf den Aspekt der Zeit als wichtiges Thema und Strukturprinzip des Textes eingehen. Der Roman setzt etwa in der Mitte seiner historischen Chronologie, 1961, ein mit dem Konzert an der Duke University, bei dem Jonah, begleitet von Joseph, den Wettbewerb um „America’s Next Voice“ gewann. Es ist der Zeitpunkt, als Jonah der Durchbruch als klassischer Liedersänger gelingt, an dem aber die Mutter bereits tot und die Familie der Stroms dabei ist, auseinanderzubrechen. Wie im elegischen Ton eines Nachrufs auf seinen Bruder wird die Szene vom Icherzähler aus dem Rückblick von mehreren Jahrzehnten erinnert - „this is how I see him, although he’ll live another third of a century“ - (4), und doch gewinnt sie durch das Erzählpräsens unmittelbare Gegenwärtigkeit. Die beiden Lieder, die Jonah singt, setzen zudem einen je eigenen Akzent: Franz Schuberts Vertonung von Goethes Erlkönig , in der die Musik eine alptraumhaft-romantische Todessehnsucht transportiert - „the Erl-King is hunched on ,my brother’s shoulder, whispering a blessed death“ (3) -, unmittelbar gefolgt von John Dowlands „Time Stands Still,“ Richard Powers The Time of Our Singing 269 einer Beschwörung der Zeitlosigkeit im Anblick der Geliebten, deren magisch beschworene Präsenz alle Veränderungen der physikalisch messbaren Zeit übersteht: Time stands still with gazing on her face, Stand still and gaze for minutes, hours, and years to her give place. All other things shall change, but she remains the same, Till heavens changed have their course and time hath lost his name. (3) „Her face“ dürfte in diesem Fall das Gesicht der toten Mutter sein, auf die alle anderen Familienmitglieder auch nach ihrem Tod als das emotionale Zentrum bezogen bleiben und die Jonah wie Orpheus durch seinen betörenden Gesang wieder zum Leben zu erwecken sucht. Im nächsten Kapitel folgt eine weitere Rückwendung auf das Jahr 1950, als die Familie zumindest nach innen hin intakt ist und die private Utopie eines rassenfreien Zusammenlebens zu funktionieren scheint, auf die sich die Eltern bei der Heirat eingeschworen hatten, wobei erneut herausgestellt wird, wie sehr die Musik ein von allen geteiltes Medium des Selbstausdrucks und der Kommunikation ist. Each of the three children shared the same first memory: their parents, singing. Music was their lease, their deed, their eminent domain. Let each voice defeat silence through its own vocation. And the Stroms defeated silence after their own fashion, each evening, together, in great gulps of free-playing chords. (9) Die Brüchigkeit dieser scheinbar heilen Welt ist klar; Delia und die Kinder sind außerhalb des Hauses dauernden Anfeindungen ausgesetzt; der Vater, soeben dem Holocaust entflohen, fürchtet ohnehin ständig um ihren Verlust. Doch er beteiligt sich ebenso sehr wie die andern an dem Gesang, der von Delia am Klavier begleitet wird, und an den crazed quotations , bei dem die Familienmitglieder spontan improvisierend Zitate aus verschiedenen Liedern und Musikstücken miteinander verbinden, und zwar klassische, aber auch afroamerikanische Musik, die im Sinn eines call and response pattern vom einen zum anderen weiterentwickelt wird. Die einzige Regel dieses monatlichen Rituals besteht darin, in den Text die Frage einzubeziehen: „But where will they build their nest? “ Diese Frage ist Teil eines jüdischen Sprichworts, das David aus der alten Welt mitgebracht hat und dessen vollständige Form heißt: „The bird and the fish can fall in love. But where will they build their nest? “ Wie Dennis Mahoney gezeigt hat, bildet dieses Sprichwort ein Leitmotiv, das in verschiedenen Varianten im Roman wiederkehrt und das die zentrale Frage nach der Möglichkeit der Überwindung kultureller Grenzen formuliert, die den Text bestimmt. Indem die Stroms diese Frage zum festen Bestandteil ihrer kulturell hybriden musikalischen Improvisationen machen, mit denen sie in einem eigenen Raum-Zeit- Kontinuum ihre Identität und gegenseitigen Beziehungen jenseits vorgegebener Normen neu und eigenständig bestimmen, nehmen sie bereits eine mögliche Antwort auf diese Frage vorweg. Die Frage, ebenso wie die improvisierenden Antworten darauf, die diese Urszene familiärer Musikpraxis vorgibt, wird zum Ausgangspunkt eines Prozesses der Wiederholung und Variation, der improvisierenden Kombination heterogener Erfahrungsmuster und Stilkonzepte, der den Roman als ganzen kennzeichnet. Hubert Zapf 270 Wie gesehen ist der Erzählprozess des Romans durch eine nichtlineare, nichtchronologische Anordnung gekennzeichnet, die den Eindruck erweckt, dass zwar auf einer Ebene das Geschehen irreversibel in einer Richtung abläuft, dass es aber auf einer anderen Ebene auch Knotenpunkte bildet, zu sich selbst zurückkehrt, Zeitschleifen vollzieht, ja sich zu veritablen Zeitreisen aufschwingt. Dies entspricht Vorstellungen aus dem Umkreis der neuen Physik, wie sie David Strom den Kindern schon viel zu früh beizubringen versucht, die denn auch seine Erklärungen eher als spannende Phantasiegeschichten denn als wissenschaftliche Fakten nehmen, und hochgradig phantastisch wirken denn auch manche dieser Annahmen: David’s task was to accompany the meal with the latest bizarre developments from the imaginary job he held down. Professor of phantom mechanics, Delia teased. Da, more excitable than all his children, laid into the wildest of details: his acquaintance Kurt Gödel’s discovery of loopy timelike lines hiding in Einstein’s field equations. Or Hoyle, Bondi, and Gold’s hunch that new galaxies poured through the gaps between old ones, like weeds splitting the universe’s crumbling concrete. To the listening boys, the world was ripe with German-speaking refugees, safely abroad in their various democracies, busy overthrowing space and time (11). Die Ausführungen Davids beziehen sich auf die Makrophysik wie die Mikrophysik, die Unschärferelation der Quantenphysik wie die teleskopische Erforschung von Galaxien, und aus beiden Bereichen werden im Roman immer wieder Metaphern auch zur Beschreibung der Mezosphäre des Menschen genommen. Die genannten Exilphysiker kommen manchmal zu Besuch zum gemeinsamen Musizieren, unter ihnen Albert Einstein, der zwar schlecht Geige spielt, aber nachdem er Jonah singen hört, den Eltern dringend nahelegt, ihn nicht länger wie bisher zu Hause zu unterrichten, sondern auf eine Musikschule zu schicken. Dies ist der Auslöser für die Karriere Jonahs, für die Öffnung der Familie nach außen und all die nachfolgenden Entwicklungen, die Triumphe und Tragödien, die der Roman erzählt. Die schleifenartige Struktur der Erzählung, in der die Chronologie immer wieder durchbrochen und die Zeitrichtung umgekehrt wird, wird in populärwissenschaftlich-witziger Weise veranschaulicht in der Illustration aus J. Richard Gotts Time Travel in Einstein’s Universe (vgl. unten). Die Zeit im Licht der Relativitätstheorie, wie sie David Strom erforscht, ist dadurch gekennzeichnet, dass Zeit stets mit der jeweiligen Position im Raum und mit der Geschwindigkeit seiner Bewegung verknüpft ist. Es gibt also nicht eine Zeit, sondern nur Zeit relativ auf unendlich viele sich bewegende Objekte: „every moving object in the universe had its own clock.“(468) Es gibt dadurch auch kein einheitliches Jetzt, sondern stets nur verschiedene Zustände unterschiedlicher Objekte und Beobachter. „There are as many time-series as there are selves who perceive things as in time... Strictly speaking, no time can be common to two selves.“(Taggart in Mendilow, 63) David Strom treibt seine zeittheoretischen Reflexionen auf die Spitze, indem er die Realität der Zeit überhaupt leugnet, womit er allerdings, auf einer psychologischen Ebene, letztlich auch einen Weg sucht, um den Verlust seiner Verwandten im Holocaust zu bewältigen - „if the many-worlds theory of quantum mechanics...is true, then there is already a parallel universe in which your loved one is Richard Powers The Time of Our Singing 271 okay now.“ (Gott 16). Zeitreisen sind in einer solchen Welt theoretisch prinzipiell denkbar, wenn auch praktisch letztlich unmöglich. „Your father was exploring curves in time. On such a curve, events can move continuously into their own local future while turning back onto their own past.“ (Powers 47) Durch unterschiedliche Geschwindigkeiten wird jedenfalls in der Imagination eine Zeitreise vorstellbar. David erläutert dies seinen Kindern am Beispiel von Zwillingen: „Ein Zwilling, nennen wir ihn Jonah, verlässt die Erde vierzig Jahre zuvor, mit einer Rakete, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Joey, der andere Zwilling, bleibt daheim auf der Erde. Jonah kommt zurück, und - darauf kommt ihr nie: Die Zwillingsbrüder sind nicht mehr gleich alt! Die Zeit ist für sie unterschiedlich schnell vergangen. Joey, der Bruder, der zu Hause bleibt, ist jetzt so alt, dass er der Großvater seines Bruders sein könnte. Aber unser Jonah, der Junge in der Rakete, der ist in die Zukunft seines Bruders gereist, ohne je seine eigene Gegenwart zu verlassen.“ (182-183 dt. Ausgabe) Abb. 1: Meeting a Younger Self in the Past Diese theoretische Möglichkeit wird von Powers im Erzählprozess des Romans umgesetzt, denn eine solche Vorwegnahme späterer oder Rückkehr zu früheren Zuständen des Selbst und der eigenen Entwicklung findet im Roman immer wieder statt, vom ersten Kapitel über die unterschiedlichen Phasen der erzählten Geschichte bis hin zum Ende, dem letzten Kapitel, das eine tatsächliche Zeitreise in die Handlung einbaut. Es kehrt zur Szene der ersten Begegnung zwischen David und Delia bei Marian Andersons Konzert im Jahr 1939 zurück, allerdings mit dem Unterschied, dass der kleine Junge, den die beiden in der Menge treffen und der seinen verlorenen Hubert Zapf 272 Bruder sucht, kein Fremder ist, sondern ihr eigener Enkel, Ruths Sohn Robert, der beim Million Man March anwesend ist. Es ist eine imaginäre Zeitreise, in der der Enkel den toten Großeltern und diese ihrem künftigen Enkel begegnen, die also David Stroms Ideen über die Zeit in die Romanhandlung einbeziehen. Robert kennt für die Großeltern überraschend, das Familienmantra, das jüdische Sprichwort vom Vogel und vom Fisch, und bietet der seine eigene Rap-Version einer Antwort auf die Frage nach dem gemeinsamen Nest an: „The bird and the fish can make a bish. The fish and the bird can make a fird.“ - ein Wortspiel, das die imaginative Verbindung der getrennten Sphären durch sprachlich-rhythmische Kreativität ausdrückt und das nicht nur an die crazed quotations erinnert, sondern auch rückwirkend David und Delia die Realisierung ihrer einst gescheiterten Utopie in einer Zukunft verheißt, der sie hier begegnen. Vergangenheit und Zukunft fließen diesem Moment zusammen, der eine Rückkehr zu den Anfängen ermöglicht und aus dieser Rückkehr gleichzeitig einen neuen Anfang möglich macht. Wenn auch klar ist, dass die physikalischen Theorien der Zeit hier den imaginativen Zwecken des Romans anverwandelt werden, so ist es doch erstaunlich, wie sehr es Powers gelingt, sie narrativ fruchtbar zu machen und zu den anderen Themen in Beziehung zu setzen. Es ist der Effekt dieser Struktur, dass sie nicht nur die Anfänge des Geschehens auf ihr späteres Ende bezieht, sondern dass sie vor das Ende und jenseits allen Denkens vom Ende her, mit dem der Roman beginnt, auf die Inszenierung immer neuer Anfänge angelegt ist. Im ersten Kapitel ist es der Anfang von Jonahs Karriere, im zweiten der Anfang seiner musikalischen Ausbildung, usf., und am Ende des Romans ist es ein grundsätzlich neuer Anfang für die Akteure der Geschichte, der durch die Zeitreise zwischen den Generationen symbolische Bedeutung und Beglaubigung gewinnt. 8. The Time of Our Singing als Musikroman Geht es bei der Verwendung der Physik um den transdisziplinären Dialog des Textes mit der Naturwissenschaft und somit einen Beitrag zur Überbrückung der vielbeschworenen Kluft zwischen den „zwei Kulturen“, so geht es bei der Verwendung der Musik um Intermedialität , d.h. die Einbeziehung und gegenseitige Übersetzung eines künstlerischen Mediums, der Musik, in ein anderes, der Sprache. Nun ist gerade neuerdings viel über Intermedialität geschrieben worden, und sie ist sicher ein wichtiges Merkmal vieler zeitgenössischer Romane, im Bereich der Kunst etwa in Don DeLillos Underworld oder Siri Hustvedts What I Loved , oder im Bereich des Jazz in Toni Morrisons Beloved und überhaupt in der afroamerikanischen Literatur. Ich kann hier nicht auf diese breit geführte Debatte eingehen, die die wechselseitige Interpretation und Erweiterung eines Mediums durch eines oder mehrere andere als Merkmal der Gegenwartskunst und -literatur betrifft, sondern nur einige Aspekte ihrer Relevanz für Powers Roman kurz ansprechen. Der Roman enthält Verweise auf etwa 120 Lieder, Instrumentalstücke, Messen und Opern vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (vgl. Bergert Paper), die teilweise nur Richard Powers The Time of Our Singing 273 kurz erwähnt werden, teilweise aber auch in längeren Passagen beschrieben werden, wobei verschiedene Stile, Gattungen, Techniken und Kompositionsformen einbezogen, aber auch einzelne Stücke besonders herausgehoben werden und mehrfach wiederkehren - in einer ähnlichen Struktur der Wiederholung und des Neuanfangs wie dies auf der Erzählebene generell zu beobachten ist. Diese wiederkehrenden musikalischen Bezugswerke sind vor allem Schuberts Erlkönig und der Liederzyklus der Winterreise , Dowlands Time Stands Still , das Bach zugeschriebene Lied von Gottfried Heinrich Stölzel, Bist du bei mir, und Gustav Mahlers Wer hat dies Liedlein erdacht? aus seiner Vertonung von Brentanos Des Knaben Wunderhorn . Darüber hinaus werden Hauptwerke der klassischen Musik wie Bachs Matthäuspassion und H-Moll-Messe , Mozarts Requiem sowie Opern von Gluck bis Verdi, von Mozart bis Wagner teils kurz erwähnt, teils näher besprochen. Gleichzeitig werden aber auch Songs, Spirituals, Pop-, Soul- und Jazzbeispiele aus der afroamerikanischen Musik einbezogen, wie von Miles Davis, Duke Ellington oder Fats Waller, und komplementär zu den Formen klassischer Musik verwendet, aber auch in hybriden Kombinationen mit dieser verbunden. Die Zuordnung dieser Musikstücke zu einzelnen Kapiteln ist teilweise strukturbildend und findet Korrespondenzen im Geschehen selbst, so etwa im Kapitel Orpheus der Mythos des antiken Sängers, der mit der betörenden Schönheit seiner Stimme den Tod überwand und der mit der Mission Jonahs als eines in die Unterwelt der Vergangenheit, die Schattenwelt seiner toten Mutter, zurückkehrenden modernen Sängers parallelisiert wird, der auf seine Weise ebenfalls den Tod durch Musik überwinden will. Es gibt zahlreiche solcher Entsprechungen, die die Stoffe und Motive der zitierten Musikstücke in die inhaltliche Konzeption und den Prozess des Romans einfließen lassen und damit in hohem Maß strukturbildend wirken. Die Stücke bilden so eine mitgedachte Klangwelt, die den Leseprozess des Romans begleitet und die in den eindringlich beschriebenen Momenten ihrer Aufführung imaginäre Präsenz gewinnt, zumal einzelne Passagen oder auch ganze Liedtexte dabei zitiert und in die Textur des Romans integriert werden. Der Name der Familie „Strom“ als Repräsentanten dieser Ausdruckskraft, der Vielstimmigkeit, der inneren Spannungen und der unerschöpflichen Erneuerungskraft der Musik ist daher sicher auch ein telling name , insofern er den kreativen Energiestrom bezeichnet, der den Roman über die historisch-politischen Verwerfungen der Zeit hinweg trägt und von dem er selbst immer wieder, in intermedialer Transformation, zehrt. Dass dabei der Hauptbestandteil des Repertoires der Stroms aus der „weißen“ Tradition klassischer Vokalmusik der europäischen Hochkultur stammt, ist sicher einer der im Kontext gegenwärtiger Kulturdebatten ungewöhnlichsten Aspekte des Romans, denn er stellt bestimmte Orthodoxien ethnisch orientierter Kulturauffassung in Frage. So impliziert er einen Begriff musikalischer Kultur, der zwar mit ethnischen und sozialhistorischen Prozessen zusammenhängt, aber nicht durch diese determiniert wird, sondern die Grenzen von Rasse und Nationalkultur überschreitet. Dies ist eine Herausforderung sowohl für ein weißes Publikum, das sich, wie der Roman zeigt, mit vielerlei Diskriminierungen gegen das Eindringen afroamerikani- Hubert Zapf 274 scher Künstler in das vermeintliche Hoheitsgebiet ihrer Kultur wehren, als auch für eine auf eine Black Aesthetic eingeschworene schwarze Intellektuellenschicht, die von der anderen Seite der Konfliktlinie her solche Grenzüberschreitungen ablehnt und namentlich Jonah öffentlich beschuldigt, durch seine Liederauftritte die Sache der Afroamerikaner zu verraten und das „white culture game“ mitzuspielen - eine Antithese, an der letztlich die gemeinschaftliche musikalische Aktivität der Familie zerbricht. „Mama died. Jonah turned professional. Ruth quit her angelic voice in something like disgust. So family music ended.“ (461) Der Roman betont also durchaus den Zusammenhang zwischen gelebten kulturellen Realitäten und den Formen ästhetischen Selbstausdrucks, die Menschen daraus entwickeln; aber er betont ebensosehr, dass damit gerade keine Besitz- und Identitätsansprüche verbunden sind, sondern dass sie vielmehr ein kreatives Potential bereitstellen, das seine Ursprungsbedingungen übersteigt und transkulturell von Menschen geteilt und angeeignet werden kann. Dies wird noch einmal augenfällig, als viele Jahre nach dem Tod der Mutter auch der von Joey betreute Vater David Strom im Endstadium seiner tödlichen Krankheit im Hospital liegt. Nach all den Jahren will er ein letztes Mal das gemeinsame Singen wieder aufnehmen, doch statt Monteverdi, den der Vater herausgesucht hat, singen Joseph und dessen im Krankenzimmer anwesende weiße Freundin Teresa „Satin Doll“ von Duke Ellington, was der in der europäischen Musiktradition aufgewachsene David ganz und gar akzeptiert. „This would be even better.“ (462), sagt er dazu. Music had always been his celebration of the unlikelihood of his escape, his Kaddish for those who’s suffered the fate meant for him [...] By then, Da’s face was ashen and the laugh in his eyes was glaze. But when Teresa and I hit our groove, somewhere around the second verse, he lit up one last time. For my father, music had always been the joy of a made universe - composed, elaborate, complex: various arcs of a solar system spinning in space at once, each one traced by the voice of a near relation. But the pleasure that bound him to his wife had been spontaneous treasure hunting. They both went to their graves swearing that any two melodies could fit together, given the right twists of tempo and turns of key. And that insistence, it struck me, as Teresa and I careened down the tune Ellington put down, lay as close to jazz as it did to the thousand years of written-out melodies their game drew on (462). Vor dem Hintergrund der transatlantischen, von den Katastrophen rassischer Ideologien geprägten Biographie und des physikalischen Weltbilds seines Vaters wird hier die Kultur- und Identitätsgrenzen überschreitende Dimension der Musik noch einmal deutlich, was Joseph gerade an der nur scheinbar fundamentalen Differenz der Musikstile bewusst wird. Der Roman arbeitet damit der dogmatischen Entgegensetzung von Alter und Neuer Welt wie auch diejenigen von schwarzer und weißer, von klassischer und Populärmusik entgegen. Dies bedeutet zugleich, dass der Anspruch des ästhetisch Neuen nicht dem Alten binär entgegengehalten wird, sondern erst aus dessen beständiger Neuaneignung überhaupt erst möglich ist. Die Evolution der Kunst und Musik ist - wie die Geschichte der Literatur - nicht ein Nacheinander sich ablösender Stile im Sinn eines teleologischen Fortschrittsprozesses, sondern lebt von eben Richard Powers The Time of Our Singing 275 jenen Rückkopplungssschleifen von Wiederholung und Neuaktivierung, wie sie auch den Erzählvorgang des Romans kennzeichnen. Worauf dies hinausläuft, ist nicht nur ein Plädoyer für die kreative Hybridisierung von Kulturen, sondern eine Rehabilitierung des Klassischen, nicht als fester, ein für alle mal definierter und interpretierter Kanon, sondern als ein Repertoire von Werken, die gewissermaßen eine stets erneuerbare Quelle kreativer Energie darstellen und die damit wesentlich zur Lebendigkeit, zur fortdauernden Kreativität und damit letztlich zum geistigen Überleben der Gesamtkultur beitragen. „All music is contemporary“ (539), sagt Jonah, womit er unmittelbar die Zeitthematik des Romans mit der der Musik verbindet. Er hat sich in Europa vom romantischen Liedersänger zurück zur Alten Musik bewegt und die Gruppe Voces Antiquae gegründet, wiederum eine Bewegung zurück zu Anfängen, von denen er sich eine grundlegende Erneuerung erhofft: „Imperialism is over,“ sagt er zu seinem Bruder. „We are going back to a world before domination.“ (514) Jonah strebt konsequent der Vorstellung einer „reinen Musik“ nach, die er, nach einem kurzen Ausflug in die Zwölftonmusik und die Avantgarde, in der Alten Musik repräsentiert sieht: Voces Antiquae debuted at the Flanders Festival in Brugge and followed up at the Holland Festival in Utrecht. We made our initial beachhead in the fifteenth century - Ockeghem, Agricola, Mouton, Binchois, a motley mix of regional styles. But our great signature piece was Palestrina’s Mass, Nigra sum sed formosa , a private joke between Jonah and me. … Jonah insisted we perform everything from memory. Written music is like nothing in the world - an index of time. The idea is so bizarre, it’s almost miraculous: fixed instructions on how to recreate the simultaneous. How to be a flow, both motion and instant, both stream and cross section. While you do this, you , you , and you do otherwise. The score does not really set down the lines themselves; it writes out the spaces between their moving points. And there’s no way to say just what a particular whole sums to, short of reenacting it. And so our performances rejoined all those countless marriage parties, births, and funerals where this map of moving nows was ever unrolled (537). Jonah tourt unter anderem in Deutschland und kehrt damit zu seinen Wurzeln, dem Herkunftsland und zum Geburtsort seines Vaters, nach Köln zurück. „I think he is singing Mahler in Cologne“, erzählt Joseph dem Vater, worauf dieser erwidert, „In Köln, you say. Yes, of course.“ „Da, Why ‚of course? ‘“ He looked at me strangely. „this is where his family comes from.“ (463) Gleichzeitig ist er aber dem Erbe seiner Mutter verpflichtet, die für ihn die Sängerkarriere erhofft hatte, die ihr selbst verwehrt geblieben war. Auch in dieser Hinsicht werden die Stränge am Schluß zusammengebracht. Jonah trifft Ruth und Joey ein letztes Mal kurz vor seinem Tod in ihrer Schule, in der er spontan in den improvisierenden Gesang der Schüler einstimmt, den Joey mit ihnen, im Stil der crazed quotations , veranstaltet. Umgekehrt singt Ruth bei Jonahs Beerdigung erstmals wieder das Lieblingslied ihrer Mutter, Bist du bei mir - auch dies eine symbolische Zusammenführung nicht nur der Biographien, sondern der Musikstile. Ruth ist es auch, die sich am Ende an die kryptische Botschaft ihres Vaters erinnert, die er ihr vom Sterbebett durch Joseph übermitteln ließ: „Tell her there is another wavelength everyplace you point your telescope.“ (470) Erst jetzt Hubert Zapf 276 versteht sie diese Botschaft, auf dem Flug mit ihrem Sohn Robert von Kalifornien zum Million Man March in Washington, als Robert sie, als wäre er von seinem toten Großvater dazu inspiriert, nach der Wellenlänge von Lebewesen auf anderen Planeten fragt: The message was for him , her child. Not beyond color; into it. Not or; and . And new ands all the time. Continuous new frequences. Where else should such a boy live? She bends over him and tries to say it. „More wavelengths than there are planets.“ Her voice is everywhere but on pitch. „A different one everywhere you point your telescope.“ (627) Die Themen von Rasse, Generation, Raum, Zeit und Musik werden wie gesehen im Roman hier unter dem Motiv der wavelength , der Wellenlänge noch einmal zusammengebracht und als Grundbestimmung der komplex vernetzten und doch zugleich infiniten Pluralität des Lebens in Geschichte und Kosmos beschrieben. Dieses Wissen der gleichzeitigen Vernetztheit und unverwechselbaren Individualität des einzelnen ist es, was auch die Musik, das Singen, in der Sphäre des Klangs, dem Klang der Zeit, zentral zum Ausdruck bringt, und dessen kulturübergreifende Relevanz der Roman herausstellt. Indem der Roman dieses Wissen und dieses kreative Potential an konkreten menschlichen Schicksalen entfaltet, wird The Time of Our Singing zur ebenso anspruchsvollen wie repräsentativen geistigen Selbstverortung unserer Zeit. Als hochgradig interdiskursiver und intermedialer Text, der die Neuaneignung des Klassischen mit der Einbeziehung aktueller politischer, wissenschaftlicher und ästhetischer Diskurse der Gegenwart verbindet, stellt The Time of Our Singing eine Form selbstreflexiven kulturellen Lebenswissens dar, das einen bemerkenswerten Beitrag der Literatur zur Standortbestimmung des gegenwärtigen Menschen und seiner Kultur leistet. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Powers, Richard: - The Time of Our Singing . London: Random House, 2003. - Der Klang der Zeit. Übs. Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Frankfurt/ M.: Fischer, 2005. Forschungsliteratur: Gott, J. Richard: Time Travel in Einstein’s Universe: The Physical Possibilities of Travel Through Time. Boston: Houghton Mifflin, 2002. Mahoney, Dennis: „‚The Bird and the Fish Can Fall in Love…‘: Proverbs and Anti- Proverbs as Variations on the Theme of Racial and Cultural Intermingling in the Time of Our Singing. “ In: The Proverbial „Pied Piper“: A Festschrift Volume of Essays in Honor Richard Powers The Time of Our Singing 277 of Wolfgang Mieder on the Occasion of His Sixty-Fifth Birthday . Hg. Kevin J. McKenna. New York: Peter Lang, 2009. Mendilow, A. A.: Time and the Novel. [1952] New York: Humanities Press, 1972. Sauerberg, Lars Ole: „The Cultural Validity of Classical Music in Richard Powers The Time of Our Singing .“ Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 54.1 (2006): 9-20. Abbildungsnachweis: Abbildung 1: Gott, J. Richard: Time Travel in Einstein’s Universe: The Physical Possibilities of Travel Through Time. Boston: Houghton Mifflin, 2002. 12. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Dieser Band ist der zehnte in der Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 19. bis hin zum 20. Jahrhundert. Die Heterogenität der Autoren und Werke ist gewollt, ermöglicht sie doch den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg. Dabei finden auch Beispiele der Populärliteratur Berücksichtigung und sind immer wieder auch neueste Texte vertreten, für die ein kanonischer Status nicht ohne weiteres beansprucht werden kann, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um die kulturelle Bedeutung von Literatur beitragen können. Auch in einer Zeit verschärfter Kanondebatten und des Aufstiegs anderer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Hans Vilmar Geppert / Hubert Zapf (Hg.) Große Werke der Literatur X 2007, 255 Seiten €[D] 39,90/ Sfr 63,00 ISBN 978-3-7720-8240-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Unter welchen Voraussetzungen kann man von „dem“ Historischen Roman sprechen? Und was macht diese Hybride aus Fiktionen und Fakten so vital? Können verschiedene Literaturen einander fruchtbar wechselseitig interpretieren? Wie modern war schon das 19. Jahrhundert, wie traditionell und wieder realistisch sind Moderne und Postmoderne? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Anspruch und Unterhaltung, Bestsellern und „großer“ Literatur? Im Mittelpunkt dieser transnational angeleg ten Gattungsgeschichte stehen Einzelporträts von zahlreichen Romanen der deutschen, englisch-amerikanischen und französischen Literatur. Dazu kommen Quer- und Längsschnitte durch literarische Felder und Traditionen. Der gesuchten Vielfalt der Aspekte entgegen steht die systematisch orientierte, zugleich viele weitere Beispiele erschließende Skizze einer Poetik des historischen Romans, seiner paradoxen Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort. Hans Vilmar Geppert Der Historische Roman Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart 2009, VIII, 434 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-7720-8325-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Literatur theorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt damit eine grundlegende, kritisch-reflektorische und systematisch-orientierende Funktion für künftige Lehre und Forschung zu. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ,Theorien der Literatur‘ konzipiert. Band III enthält Beiträge zu folgenden Themenbereichen: Theorien literarischer Kreativität, kulturwissenschaftliche Erzählforschung, Bachtins Erzähltheorie, Metapherntheorie, Theorien lyrischen Sprechens, Geschmackstheorie, Regionalismus, Allegorie, Aphoristik und Essayistik, italienischer Verismo, theologische Hermeneutik und Adornos ästhetische Theorie. Hans Vilmar Geppert / Hubert Zapf (Hg.) Theorien der Literatur III 2007, 288 Seiten, €[D] 39,90/ SFr 63,00 ISBN 978-3-7720-8222-X