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Der französische Roman der Aufklärung

2009
978-3-7720-5336-8
A. Francke Verlag 
Friedrich Wolfzettel

Der Roman der Aufklärung, der als ,illegitimes Kind' des überkommenen humanistischen Gattungssystems den Beginn der Moderne markiert, erscheint als Träger einer Emanzipationsbewegung, die sich in den Generationenkonflikten der Romanhandlungen spiegelt und ein konfliktreiches Verhältnis zu väterlichen Instanzen, zur Figur des Vaters und zur Tradition begründet. Die vorliegende Gattungsgeschichte, deren Gewicht auf exemplarischen Einzelinterpretationen liegt, fokussiert diese typisch aufklärerische Problematik, die ausgehend von den Lettres persanes Montesquieus über den Memoirenroman, den Roman der Empfindsamkeit, den Schicksalsroman und den mondänen Roman zu den großen Gestalten der Hochaufklärung (Voltaire, Rousseau, Diderot) führt und das Panorama über den libertinistischen Roman und den Marquis de Sade bis zu den problematischen Idyllen von Bernardin de Saint Pierre und Mercier verfolgt. Die gattungsgeschichtliche Typologie ist so in die chronologische Behandlung von Autoren und Werken integriert.

Friedrich Wolfzettel Der französische Roman der Aufklärung Vatermacht und Emanzipation Der französische Roman der Aufklärung 0I_IV.indd I 19.10.2009 15: 27: 46 Uhr 0I_IV.indd II 19.10.2009 15: 27: 47 Uhr Friedrich Wolfzettel Der französische Roman der Aufklärung Vatermacht und Emanzipation A. Francke Verlag Tübingen und Basel 0I_IV.indd III 19.10.2009 15: 27: 47 Uhr Titelabbildung: Prise de la Bastille von Jean-Pierre Louis Laurent Houël (1789). Bibliothèque nationale de France. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8336-5 0I_IV.indd IV 19.10.2009 15: 27: 48 Uhr 1 INHALTSVERZEICHNIS Teil 1: Frühaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I. Aufklärung, Emanzipation und Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 II. Neugier und Experiment: Krise der Autorität und die utopische Restitution bei Fontenelle und La Hontan . . . . . . . 23 III . Montesquieu: Der Briefroman als Medium der Aufklärung und das Versagen der Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 IV. Roman und Emanzipation der Söhne: Reiseroman und Pikareske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Fénelons Télémaque und Terrasson: Der abwesende Vater oder der Ersatz des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Memoirenroman und adlige Pikareske: Emanzipation als Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Lesage: Bürgerliche Pikareske, Emanzipation, Geschichts- mächtigkeit und Vaterwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 V. Der empfindsame Memoirenroman als Medium der Selbstbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Marivaux und die Selbstfindung der Jungen . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Weibliches Schreiben als Selbstbefreiung (Madame de Tencin, Madame de Grafigny, Madame Riccoboni) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 VI. Der Abbé Prévost: Der Schicksalsroman der gescheiterten Emanzipation in der Welt der Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 VII. Crébillon fils und Duclos: Negativer Entwicklungsroman oder mondäne Emanzipation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Teil 2: Hoch- und Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 VIII. Hochaufklärung und Encyclopédie oder die Wette auf die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 IX. Voltaires conte philosophique oder der Verzicht auf väterliche Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2 X. Jean-Jacques Rousseau: Liebesroman, Erziehungsroman, Confessions oder mit Gott gegen Väter und Tradition . . . . . . 193 XI. Diderot: Der dramatisierte Roman und das Rechten mit dem Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 XII. Libertinistische Autonomie zwischen Briefroman, Memoiren und exemplarischem Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Laclos: Die Selbstermächtigung der Jungen . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Rétif de la Bretonne: Der ideale und der dämonische Vater . 270 3. Loaisel de Tréogate und Louvet de Couvray: Jugendliche Identitätsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 4. Der Marquis de Sade oder die Revanche der Väter . . . . . . . . 284 XII. Bernardin de Saint-Pierre und Louis Sébastien Mercier: Fallbeispiele der tragischen vaterlosen und der missglückten väterlichen Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1. Bernardin de Saint-Pierre und die idealen Mütter . . . . . . . . . 293 2. Lonis Sébastien Mercier und die idealen Väter . . . . . . . . . . . . 301 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3 Vorwort Ungeachtet des deutlich gewachsenen Interesses an der Literatur der Aufklärung gibt es u. W. noch immer keine zeitgemäße Einführung in die Geschichte des französischen Romans der Aufklärung, obwohl dieser als ‚illegitimes Kind‘ das humanistischen Gattungssystem durchbricht und in gattungsgeschichtlicher Hinsicht den Beginn der Moderne markiert. Der Roman der Aufklärung erscheint so auch als Träger einer Emanzipationsbewegung, der der zusätzliche psychosoziale Fokus der hier vorgelegten Interpretationen Rechnung tragen soll. Aus Vorlesungen an den Universitäten Gießen und Frankfurt/ M. hervorgegangen, bemüht sich diese Einführung daher auch, zusätzlich zu den notwendigen gattungsgeschichtlichen Informationen die psychosoziale Funktionsgeschichte des aufklärerischen Romans in den Blick zu rücken. Letztere spiegelt sich in den Generationskonflikten der Romanhandlungen und generell in den konfliktreichen Verhältnis zur väterlichen Instanzen, zur Figur des Vaters, aber auch zur Tradition insgesamt. Das heißt, dass es nicht der Ziel war, die typologischer Entwicklung der Gattung in ihrer vollen Breite darzustellen; vielmehr sollten die repräsentativen Autoren und Werke die Geschichte einer Emanzipationsbewegung veranschaulichen, die sich strukturell und thematisch in der jeweiligen Handlungsstruktur spiegelt. Auf dem Wege einer solchen psychosozialen Werkdeutung sind Einzelstudien schon vorangegangen, und vor allem hat die großangelegte und sehr materialreiche Arbeit des belgischen Aufklärungsforschers Paul Pelckmans, Le Sacre du Père, schon 1983 die ödipalen Konstanten in Roman und Drama der französischen Aufklärung zusammengestellt. Freilich erscheint die Titelthese problematisch, ganz abgesehen davon, dass Pelckmans das späte 18. Jahrhundert nicht mehr berücksichtigt. Eine gewisse Ergänzung hierzu bildet jetzt die komparatistische Arbeit von Judith Frömmer, die das Paradigma der Vaterfiktionen (2008) in der Empfindsamkeit der Spätaufklärung verortet. Uns kam es darauf an, eine möglichst vollständige psychohistorische Entwicklungslinie zu zeichnen, die allerdings unentschieden endet, denn von einem „sacre du père“ ist sicherlich - mit Einschränkungen - erst im sog. bürgerlichen Jahrhundert zu sprechen, das als patriarchalisches Jahrhundert seinen bestimmenden Ausdruck im Code Civil Napoleons fand. Unsere gattungsgeschichtliche ‚Psychohistorie‘ bleibt naturgemäß eine versuchte Annäherung, die nicht thematisch gegliedert ist, sondern die übliche Gliederung nach Autoren und Werken beibehält. Ausgehend von den Lettres persanes Montesquieus über den Memoirenroman, den Roman der Empfindsamkeit, den Schicksalsroman und den mondänen Roman führt die Darstellung zu den großen Gestalten der Hochaufklärung (Voltaire, Rousseau, Diderot) und von hier über den libertinistischen Roman und den Marquis de Sade bis zu den problematischen Idyllen 4 von Bernardin de Saint Pierre und Mercier. Die monographische Gliederung der Einzelkapitel, vor allem bei den großen Autoren, soll diese Gattungsgeschichte auch unabhängig von dem ‚roten Faden‘ der Psychohistorie lesbar machen. Abschließend noch ein Wort des Dankes. Ich freue mich, dass Herr Gunter Narr die seit Jahren versprochene, aber erst jetzt fertig gestellte Arbeit in das Programm des Francke Verlags aufgenommen hat, und danke der Lektorin, Frau Christina Esser, für konstruktive Vorschläge und Anregungen. Bei der Literaturrecherche war mir Frau Martina Groß eine wichtige Hilfe. Für die Erstellung der Bibliographie und gründliche redaktionelle Überarbeitung bin ich Frau Mercedeh Golriz herzlich verbunden. Ein ganz besonderer Dank gebührt Frau Christine Meixner, die sich auch nach meiner Entpflichtung und ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst als Sekretärin dieser Arbeit angenommen und die wiederholten Überarbeitungen klaglos akzeptiert hat. Ohne ihre wahrhaft uneigennützige Hilfe wäre diese endgültige Fassung nie entstanden. Frankfurt am Main, im März 2009 5 Teil 1: Frühaufklärung I. Aufklärung, Emanzipation und Roman Die französische Aufklärung steht für das Phänomen Aufklärung schlechthin. Man kennt die berühmten Sätze von Kant. In seiner Schrift Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung? spricht er vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und begreift die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies als Anfang eines historischen Prozesses der Emanzipation und Selbstbewusstwerdung. Denn: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen“. „Sapere aude“, lautet der Wahlspruch. 1 Friedrich Schiller nimmt den Gedanken 1790 auf und bezeichnet den Weg aus dem Paradies als einen Weg aus „einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft“ zu einem „Paradies der Erkenntnis und der Freiheit“. 2 Der Sündenfall, nach Schiller „ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte“ 3 , das Heraustreten aus der Bewusstlosigkeit der mütterlichen Natur, ist der erste Schritt zur Aufklärung. „Selbstherrschaft“ ist das Stichwort, welches Emanzipation, d. h. auch das Heraustreten aus väterlich traditionaler Vormundschaft meint und mit der Entstehung des neuzeitlichen Subjekt- und Subjektivitätsbegriffs zusammenhängt. Hans Sanders hat hierfür die Formel „tiefes Subjekt“ eingeführt, das er als „ein aus dem Rahmen der großen Institutionen heraustretendes Subjekt“ definiert. 4 Es sei daran erinnert, dass der große Mittelalterhistoriker Jacques Le Goff die These eines „long Moyen Age“ vertreten hat, das im Sinne einer neuen, mentalitätsgeschichtlichen Gliederung der Epochen in sog. longues durées bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts gedauert habe. Erst mit der Aufklärung habe die Neuzeit begonnen, die Paul Hazard in seinem kontroversen Buch von 1961, La crise de la conscience européenne, 5 in die Periode zwischen 1680 1 Immanuel Kant, Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, Bd. IX, Teil I, S. 53. 2 Friedrich Schiller, „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“, Schillers Sämtliche Werke. Säkularausgabe, Stuttgart/ Berlin, Cotta o. J., Bd. XIII, S. 25. 3 Ebd., S. 26. 4 Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischenKlassik und Aufklärung, Tübingen, Niemeyer 1987 (Mimesis, 1), S. 30 ff. und S. 45. Vgl. hierzu Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Tübingen, Niemeyer 1997 (Mimesis, 29). 5 Paul Hazard, La crise de la conscience européenne. 1680-1715, Paris, Fayard 1961, 2 Bde. 6 und 1715 verlegt. Es ist die Periode, die auf die Entstehung eines neuen Kritik-Begriffs und die Ausbildung des esprit d’examen verweist. Die Krise der großen Institutionen ist u. a. geprägt durch die Stichworte Dezentralisierung und Kosmopolitisierung. So entsteht gegenüber dem national-humanistischen Ideal des siècle classique eine neue, kosmopolitische république des lettres, die nur noch wenig mit dem früheren Begriff der Gelehrtenrepublik zu tun hat. Die Salons und Clubs (der Salon der Mme de Lambert, 1710-1735, der Club de l’Entresol, 1724-1731, der Salon der Mme de Tencin 1726-1749, der Salon der Mme de Deffand 1740-1780 usw.) bilden die Voraussetzung für die Herausbildung des sog. homme de lettre und weltläufigen philosophe, dessen geringe soziale Verankerung die allmähliche Auflösung des ständischen Kulturideals belegt und zugleich die Voraussetzung für das neue Potential gesellschaftskritischer „freischwebender Intelligenz“ (Karl Mannheim) bildet, welche sich paternalistischer Bevormundung entzieht. Diese neue Intelligenz entfaltet sich in der Komplementarität von hauptstädtischen Zirkeln und einem neuen internationalen Lesepublikum. Letzteres wiederum erklärt die Entstehung einer „literarischen Öffentlichkeit“ der Gleichen, welche die autoritär und hierarchisch geprägte „repräsentative Öffentlichkeit“ des 17. Jahrhunderts ablöst und wesentlich durch das Aufkommen von Zeitschriften gefördert wird: Le Spectateur français, nach dem englischen Vorbild von Spectator und Tatler, seit 1721, oder der Mercure françois (seit 1724). Diese Zeitschriften richten sich an ein allgemeines, gebildetes Publikum und treten neben gelehrte Blätter wie die Nouvelles de la République des Lettres (von Pierre Bayle, seit 1684) oder den Journal des savants (seit 1701). Um 1750 gibt es dann etwa 80 Periodika in Frankreich (173 in ganz Europa). Journalismus, Buchhandelskultur und die sich ausbreitende Caféhauskultur - das erste Pariser Café öffnet 1667; 1715 zählt man bereits 300 Lokale - erscheinen insofern als zusammengehörige Phänomene, als damit auch die Entstehung einer kritischen, „räsonierenden Öffentlichkeit“, 6 der professionellen Literaturkritik und die beschleunigte Entwicklung des Buches zur Ware verbunden sind. Die moderne Dialektik des Buches, zugleich Konsumgut und kritisches Instrument, vollendet sich bereits im 18. Jahrhundert. und lässt die einstige Kritik eines Boileau an den schimpflich käuflichen Autoren, welche, wie es im Art poétique (IV, V. 123) heißt, „font d’un art divin un métier mercenaire“, obsolet erscheinen. Das moderne Copyright freilich setzt sich, verspätet gegenüber England, erst am Ende des Jahrhunderts durch, was im Übrigen ein bezeichnendes Licht auf den Übergangscharakter der französischen Kultur der Aufklärung wirft. Gerade der nicht mehr mäzenatisch gebundene, sich selbst erhaltende Schriftsteller ist Wegbereiter auch der Autonomie der Künste. 6 Hierzu Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied und Berlin, Luchterhand 1962. 7 Denn der eingangs genannte Übergangscharakter markiert zugleich den eigentlichen Beginn der Moderne, der mit einer neuen emanzipatorischen Funktion von Kunst und Literatur verbunden ist. In systemtheoretischer Perspektive bezeichnet die république des philosophes die allmähliche Ausdifferenzierung der lettres und deren Emanzipation von den höfisch-humanistischen Zwängen des mäzenatischen Systems. Am Ende dieser Entwicklung, die erst in der Romantik ganz zu sich kommt, steht die Geburt des Autonomiegedankens, der die Befreiung der lettres von kirchlicher und staatlicher Bevormundung und Indienstnahme impliziert. Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Vorgang gerade in der Gestalt des Prometheus, der gegen das Verbot des Vatergottes Jupiter den Menschen das Feuer bringt, seinen eigentlichen Ausdruck findet. 7 In zweiter Linie geht es dann auch um die Emanzipation des Künstlerischen selbst und die Geburt des modernen Kunst- und Literaturbegriffs, durch die sich der Bereich des sog. Ästhetischen als eigenständiger Gegenstandsbereich etabliert und die bisher selbstverständliche Einheit des Schönen und des Nützlichen zerbricht. Auch dieser bekannte systemtheoretische Vorgang der Ausdifferenzierung der Künste lässt sich in emanzipatorischer Sicht als Bruch mit einer paternalistischen Einheitsfront deuten, die keine ‚freie‘ Entwicklung und keine Sonderwege erlaubt. Einen dritten zentralen Aspekt stellt die sog. Querelle des anciens et des modernes (Der Streit der Altertumsfreunde und der Anhänger der Moderne) 8 dar, die nicht weniger als einen Aufstand der ‚Jungen‘ gegen das an der Nachahmung der ‚Alten‘ geschulte Literatursystem darstellt. Die Debatte zog sich durch das gesamte 18. Jahrhundert hin und kann als paradigmatischer Ausdruck des neuen historisch relativistischen Denkens gegen das zyklische Denken der humanistischen Episteme verstanden werden. 9 Dass ausgerechnet eine panegyrische Akademierede von Charles Perrault auf den Herrscher, Le siècle de Louis le Grand (im August 1687), den Anlass dieser Revolte bildete, gehört zu den Paradoxien dieses an Widersprüchen 7 Oskar Walzel, Das Prometheussymbol von Shaftesbury bis Goethe, München, Hueber 1932 2 . 8 Zur Entwicklung der erst durch Werner Krauss „Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes“, in: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Werner Krauss und Hans Kortum, Berlin, Akademie-Verlag 1965, S. IX-LX, und in W. K., Essays zur französischen Literatur, Berlin/ Weimar, Aufbau-Verlag 1968, S. 130-194) und Hans Robert Jauß (Hrsg.), „Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Parallèle des Anciens et des Modernes, hrsg. von Hans Robert Jauß, München, Fink 1964, S. 8-64, wieder in den Mittelpunkt gerückten Bewegung siehe F. W., Einführung in die französische Literaturgeschichtsschreibung, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft 1982, S. 42-59. 9 Hierzu Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München, Fink 1992. 8 reichen Ablösungs- und Emanzipationsprozesses zwischen Spätklassik und Frühaufklärung. In unserem Zusammenhang mag noch ein symbolisches Detail angesprochen werden. Perrault hat seine Position in den Jahren 1688 bis 1697 in den Parallèles des Anciens et des Modernes in Form eines humanistischen Streitgesprächs weiter systematisiert, und ein wesentliches Paradigma bildet hier der Vergleich zwischen dem merveilleux der antiken ‚Fabeln‘ und der einheimischen Märchentradition, zu deren Entdeckung er selbst beitrug. Märchen aber waren nach gängiger Vorstellung ‚Ammenmärchen‘ für Kinder, und für die Mode der contes de feés stehen die Feen, die den Märchenheldinnen und -helden in ihrem Initiationsprozess beistehen. Weiblich naturhaftes Imaginaire verbunden mit den Konnotationen des Mütterlichen und Kindhaften steht so gegen das väterliche Erbe der Antike; eine einheimische ‚junge‘ Tradition wendet sich gegen die ältere Kulturtradition, die als ‚Überfremdung‘, als nicht mehr zeitgemäß und veraltet begriffen wird: „il nous faut un nouvel art pour entrer dans le goût et dans le génie du siècle où nous sommes“, lautet eine von Dietmar Rieger 10 zitierte Kernstelle von Saint-Évremond aus dem schon 1658 entstandenen Essay Sur les poèmes des anciens, der bereits Argumente der Querelle vorwegnimmt. Den zentralen Bezugspunkt bildet in beiden Fällen der aufklärerische Naturbegriff, der als gesellschaftliches und ästhetisches Regulativ fungiert und Freiheit von falsch verstandener Regelhaftigkeit verspricht. Von der physiokratischen Wende der Nationalökonomie bis zur Anthropologie der Ganzheitlichkeit 11 und dem dramaturgischen Ideal der „natürlichen Gestalt“ 12 reicht das Spektrum des Naturbegriffs. Im Namen der Natur, dem eigentlichen Zauberwort des Zeitalters der Aufklärung, können etablierte Normen im sittlichen und sozialen Leben, in den staatlichen und kirchlichen Institutionen ebenso auf den Prüfstand gebracht werden wie die der klassischen Kunst und Literatur. In der klassischen Ästhetik hatte das Natürliche die Rolle eines Korrektivs gespielt, um Allgemeingültigkeit, Vernünftigkeit und Maß gegen jede Übertreibung, Verzerrung und Unvernunft zu gewährleisten. Jetzt dagegen wird Natürlichkeit zum Kampfbegriff gegen das gesellschaftlich Vorgegebene und soll Natürlichkeit die Natur selbst zur Anschauung bringen; die Ideale der Ursprünglichkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit der Gefühle verweisen auf alles, was noch nicht durch die Zivilisation verdeckt und entstellt wurde. Die Entdeckung der Berge und die Landschaftsästhetik des sog. englischen Gartens wären hier ebenso zu nennen wie 10 Dietmar Rieger (Hrsg.), 18. Jahrhundert. Roman, Tübingen, Stauffenburg 2000, „Einführung“, S. 21. 11 Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Metzler 1994. 12 Vgl. Günter Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/ M./ Basel, Stroemfeld 2000. 9 der Kult der natürlichen Gefühle in der sog. Empfindsamkeit. Natur, das ist die Legitimität der Gefühle jenseits sozial vorgegebener Rollenbilder und traditionaler Einschränkung, die Sehnsucht nach Glück. 13 Aber es ist Gefühls- und Jugendkult vor dem Hintergrund der noch funktionalisierenden „großen Institutionen“. Die sich emanzipierenden ‚Jungen‘ sind sich des väterlichen Halts sicher und kehren nicht selten dahin zurück. Als Vorläufer des romantischen Menschen, der ennui und tragische Entfremdung erfunden hat, situiert sich der aufgeklärte Mensch so in einem bipolaren Spannungsverhältnis zwischen Natur und Gesellschaft, ohne dass man bereits von Zügen der Entfremdung sprechen könnte. Erst bei Rousseau und in der Nouvelle Héloïse und in den Leiden des jungen Werthers hat z. B. Maurice R. Funke 14 Anzeichen psychotischer Identitätsstörung sehen können. Insgesamt aber überwiegt noch das Moment der Befreiung und genussvollen Selbsterfahrung einer intellektuellen ‚Klasse‘, die ihre Überlegenheit eben aus der selbstverständlichen Verwurzelung in ihrer Gesellschaft ableitet. Der berühmte Optimismus der Aufklärung, die nicht nur die Legitimität des Glücksverlangens, sondern auch den Begriff des Glücks voraussetzt, dürfte auf diesem Schwebezustand beruhen. Nie zuvor, aber auch nie danach konnte sich eine intellektuelle Klasse in dieser Weise eine Art Diskurshoheit sichern, um sich in eine noch offene, gleichsam utopische Zukunft zu entwerfen. Wie Michel Foucault 15 gezeigt hat, vollzieht sich diese Infragestellung des Alten und der klassischen Episteme der représentation als ein allmählicher Prozess der Historisierung in allen Bereichen der lettres und führt erst in der Französischen Revolution zu einem brutalen Erwachen, in der das emanzipatorische Pathos seine beunruhigende Kehrseite zeigt. Foucault spricht von „cette ouverture profonde dans la nappe des continuités“ 16 : „De sorte qu’on voit surgir, comme principes organisateurs de cet espace d’empiricités, l’Analogie et la Succession.“ 17 In anderen Epochen, in der Renaissance, im 17. Jahrhundert, oder im 19. und 20. Jahrhundert, sind die großen geistigen und kulturellen Einschnitte an soziale und geschichtliche Umbrüche gebunden; man denke nur an die Epoche Heinrichs II., an die Fronde und den Beginn des Siècle classique oder an die Bedeutung von 1848 im sog. bürgerlichen Zeitalter. Nicht so in der französischen Aufklärung. Sie vollzieht sich in langsamer Progression vor dem Hintergrund des Siechtums des Absolutis- 13 Vgl. Robert Mauzi, L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIII e siècle, Paris, 1969 4 . 14 Maurice R. Funke, From Saint to Psychotie. The Crisis of Human Identity in the Late 18th Century, New York/ Frankfurt/ M., Bern, Peter Lang 1983. 15 Michel Foucault, Les Mots et les Choses, Paris, Gallimard 1966, Kap. VII: „Les limites de la représentation“. 16 Ebd., S. 229. 17 Ebd., S. 230. 10 mus und der von Ludwig XIV. ererbten sozialen Probleme. Die Vollendung von Versailles 1695 hatte zugleich in fast makabrer Weise das Ende eines ganzen Zeitalters bezeichnet. Zur Erinnerung die Todesdaten: 1695 La Fontaine, 1696 La Bruyère, 1699 Racine, 1704 Bossuet, 1711 Boileau. Eine ganze Generation tritt ab und hinterlässt eine Leere, in der bereits die Keime der Frühaufklärung aufgehen. Beim Tod Ludwigs XIV. 1715, der sich gleichsam selbst überlebt hat, droht der Staatsbankrott, dessen Gespenst das französische Königtum bis zur Revolution 1789 verfolgen wird. Nach der beengenden und bigotten Atmosphäre der letzten beiden Jahrzehnte der Herrschaft des Sonnenkönigs steht die kurze Regentschaft des Herzogs von Orléans im Zeichen der moralischen Entfesselung und der hektischen Spekulation und Bereicherung. Der Versuch einer finanzpolitischen Reform und der Einführung von Papiergeld durch den Schotten John Law missglückt gründlich und führt 1720 zu Inflation und Staatsbankrott. Aber in diesen turbulenten Jahren des Aufbruchs und der Befreiung werden auch die Voraussetzungen für die libertinistische Frühaufklärung geschaffen. Die lange Regierungszeit Ludwigs XV., von 1723 bis 1774, ist dann im Grunde auch eine Restaurationsepoche. Die politische Konsolidierungspolitik durch den Kardinal Fleury 1726-1743 wird in der Folge durch den Widerstand von Adel und Klerus und durch außenpolitische Misserfolge - 1748 Frieden von Aachen - wieder in Frage gestellt. Beim Tod des Herrschers sind die Schulden des Staates doppelt so hoch wie um 1740. Die versuchte Reformpolitik Ludwigs XVI. (1774-92) unter den Ministerien Turgot und Necker scheitert an der Hofpartei der Königin. Die Dauerkrise des Ancien Régime schafft so in gewisser Weise den Hintergrund für das geistige Profil der Aufklärung selbst. Gliederungsversuche bezeichnen Einschnitte, aber keine Wendepunkte. Gemeinhin wird die Publikation der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert, 1751, als Beginn der zweiten Phase oder auch der Hochaufklärung gewertet. Doch setzt dieses Unternehmen lediglich eine Tendenz fort, die mit dem Dictionnaire critique von Pierre Bayle 1697 begonnen hatte. Beliebt ist auch die Gegenüberstellung von Aufklärung und Empfindsamkeit; Victor Klemperer sprach von einem Zeitalter Voltaires und einem Zeitalter Rousseaus. 18 Doch abgesehen von der Beinahe-Zeitgleichheit nicht der Lebens-, aber der entscheidenden Werk- und Wirkdaten dieser beiden Autoren gehen aufklärerische und empfindsame Tendenzen in Wirklichkeit Hand in Hand und können als dialektische Phänomene begriffen werden. Aufklärung entdeckt sich als Empfindsamkeit, Empfindsamkeit als Aufklärung; die empfindsamen ‚Söhne‘ sind zugleich die aufgeklärten ‚Söhne‘. Denn die Entdeckung der Ge- 18 Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, Bd. I: Das Jahrhundert Voltaires, Bd. II: Das Jahrhundert Rousseaus, Halle, Niemeyer VEB 1954- 1966. 11 fühle 19 nimmt aufklärerische ratio nicht zurück; sie ist selbst Voraussetzung für den aufklärerischen Prozess, in dem sich Subjektivität 20 und Individualität als Grundlagen von Psychologie und Anthropologie konstituieren. Dass die Entdeckung des Individuums selbst ein mühsamer Prozess war, hat Jean François Lecoq 21 jüngst gezeigt. Richtig ist allerdings, dass Rousseaus erster Discours 1750 erstmals auch die aporetischen Seiten des ‚Unternehmens‘ Aufklärung reflektiert und dass Leben und Werk des Autors in Richtung Frühromantik weisen. Der Einschnitt 1750/ 51 - mit Rousseaus Discours und dem ersten Band der Encyclopédie - beleuchtet Progression und Dialektik des aufklärerischen Denkens und dessen Autarkie oder Autonomie. Dem Beharrungsvermögen des längst abgewirtschafteten Ancien Régime im Schwebezustand zwischen Tradition und Moderne scheint das Beharrungsvermögen einer Literatur zu entsprechen, die nach außen nur geringe gattungsgeschichtliche Entwicklung aufweist, doch die Neuerungen nach 1700 konsequent weiterentwickelt. Style rococo. Style des lumières, hat Roger Laufer seine einflussreiche stilgeschichtliche Arbeit von 1963 betitelt, die nicht nur dem bis dahin wenig gebräuchlichen Rokoko-Begriff in Frankreich Anerkennung verschafft, sondern auch die stilgeschichtliche Einheit einer ganzen Epoche postuliert. Briefroman und Memoiren, dialogische Auseinandersetzung und die neue Erfahrungsperspektive des Ich, bilden bis zur Revolution neben den spätklassischen conte und histoire die beiden großen, miteinander konkurrierenden und sich ergänzenden Formen der fiktionalen Bewältigung der Wirklichkeit. Über alle Dynamik im Einzelnen weisen sie - vielleicht erstmals - ein ganzes Jahrhundert als zusammenhängende Epoche aus. Entscheidend ist, dass die Literatur insgesamt über einen langen und kontinuierlichen Zeitraum zum Sprachrohr und Instrument aufklärerischen Gedankenguts wird, sich also nicht mit der Nachahmung der Wirklichkeit begnügt, sondern im steten Austausch mit der philosophie kritische, d. h. experimentelle und auch utopische Züge trägt. Dies unterscheidet das Literatursystem der Aufklärung wesentlich von dem des romantisch bürgerlichen Zeitalters und weist dem Autor - ungeachtet seines gesellschaftlichen Status - eine führende Rolle zu. Reisebericht, utopischer Reiseroman, Erziehungsroman, bürgerliches Drama, conte (de fée) und conte philosophique stehen im Dienste der Aufklärung; sie repräsentieren den esprit philosophique, während die philosophie umgekehrt auf literarische Techniken zu- 19 Vgl. Pierre Trahard, Les maîtres de la sensibilité française au XVIII e siècle (1715-1789), Genève, Slatkine Reprints 1933. 20 Vgl. Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Tübingen, Niemeyer 1997 (Mimesis, 29). 21 Jean-François Lecoq, L’Individu empêché. Recherches sur les fondements et les limites de la représentation de l’individuel dans le permier dix-huitième siècle, Paris, Champion 2004 (Moralia, 11). 12 rückgreift. Insbesondere den conte philosophique und den davon abgeleiteten philosophischen Roman hat Frederick M. Keener 22 als dialektisches Instrument der Aufklärung begriffen. Die Literatur der Aufklärung reflektiert das Aufbrechen ‚väterlicher‘ Gewissheiten in der Erfahrung der Unbestimmtheit und Vielfalt und Orientierungslosigkeit der sich beschleunigenden Welt. 23 Das ‚experimentelle‘ Verhalten ist die Antwort auf das, was man mit Hans Blumenberg als „unverbürgte Realität“ 24 definieren kann; diese unverbürgte Realität garantiere - gegenüber der „verbürgten Realität“ früherer Epochen - die „Legitimität der Neuzeit“ und zugleich den Schwellencharakter der frühen Aufklärung. Mit dieser „Unverbürgtheit“ wird jedoch der heilsgeschichtliche Providenzbegriff problematisch, den Bossuet noch in seiner großangelegten (wenngleich inhaltlich beschränkten) Histoire universelle triumphal postuliert. Die Krise des europäischen Bewusstseins ist so gesehen vor allem eine Krise des klassischen Theodizeegedankens, den Leibniz zusammen mit der väterlichen Vorsehung noch in seiner Theodizee von 1710 zu retten versucht; in Wirklichkeit ist auch diese Theodizee ein Indiz der Krise des Vorsehungsgedankens und der Autonomie der Welt. 25 Dessen Vulgarisierung durch den Philosophen und Leibnizschüler Wolff wird Ausgangspunkt der wütenden Attacken Voltaires in dem satirischen Abenteuer- und Reiseroman Candide. Die Infragestellung erfolgt seit den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts aus verschiedenen Richtungen - in den Pensées diverses sur la comète (1682) von Pierre Bayle sowie in den einschlägigen Artikeln seines Dictionnaire critique (1697) oder in der Histoire des oracles (1797) von Fontenelle. Die klassische Konzeption hatte Bossuet am Schluss seines Discours sur l’histoire universelle folgendermaßen zusammengefasst: „où l’on montre qu’il faut tout rapporter à une providence“, und weiter: „C’est ainsi que Dieu règne sur tous les peuples. Ne parlons plus de hasard ni de fortune; ou parlons-en seulement comme d’un nom dont nous couvrons notre ignorance. Ce qui est hasard à l’égard de nos conseils incertains est un dessein concerté dans un conseil plus haut [...]. De cette sorte tout concourt à la même fin; et c’est faute d’entendre le tout, que nous trouvons du hasard ou de l’irrégularité dans les rencontres particulières.“ 26 Dreht 22 Frederick M. Keener, The Chain of Becomig, The Philosophical Tale, the Novel and a Neglected Realism of Enlightenment. Swift, Montesquieu, Voltaire, Johnson and Austen, New York, ColumbiaUniversity Press 1983. 23 Hierzu Rolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1976. 24 Hans Blumenberg, Der Prozess der theoretischen Neugierde (urspr. Die Legitimität der Neuzeit, Teil III), Frankfurt/ M., Suhrkamp 1973, S. 17. 25 Vgl. Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670-1770), Tübingen, Niemeyer 1994 (Mimesis, 17). 26 Jacques-Bénigne Bossuet, Discours sur l’histoire universelle, Paris, GF 1966, S. 427 f. (= Teil II, Kap.8). 13 man die Argumente dieser Verteidigungsschrift um, so findet man sämtliche entscheidenden Stichwörter, die nicht allein die Literatur prägen, sondern zugleich auch das Ende und die Krise einer theologisch legitimierten Philosophie bezeichnen: hasard - fortune, irrégularité - rencontres particulières; aus ihnen wird eine breite Literatur der Aufsteiger und Glücksritter hervorgehen, die den „roman d’ascension sociale“ 27 bevölkern. Wissenschaftssystematisch würde man von der Verselbständigung der GESCHICHTE, aber auch der Geschichten im partikulären Sinn sprechen. Im klassischen Wissenschaftssystem (man vergleiche etwa noch das Novum Organum von Francis Bacon) steht die Theologie an oberster Stelle und hält Philosophie und Geschichte(n) zusammen, denn die Geschichte als neuzeitliche Kategorie existiert, wie u. a. Foucault in Les Mots et les Choses gezeigt hat, als solche noch nicht. Erst mit der Emanzipation von der Theologie und ihrer Providenzvorstellung rückt die Geschichte zur innerweltlichen, nicht mehr metaphysisch hinterfragbaren Größe auf, die keiner göttlichen Rechtfertigung mehr bedarf. Hier liegt einerseits die Wurzel des modernen Fortschrittsbegriffs, wie er sich erstmals bei Fontenelle und dann in der Geschichtsphilosophie seines Schülers Voltaire im Essai sur les mœurs um die Jahrhundertmitte manifestiert; zum andern wird damit das Private als Leerstelle des Systems sichtbar, in dem die Kontingenzerfahrung und die Ängste des modernen Individuums festgemacht sind. Der Schauerroman und der Kult des Schreckens im Ausgang des 18. Jahrhunderts resultieren nach Michael Bernsen 28 aus dem „Auflösungsprozess der theologisch-teleologischen Weltanschauung“, in deren Zeichen das Jahrhundert begonnen hatte. Die Hinterfragung der göttlich-väterlichen Providenz setzt aber auch jene „Selbstbestätigungsmotorik“ in Kraft, die Hans Blumenberg mit dem „Übergang von der ‚naiven Neugierde‘ zur ‚selbstbewussten‘“ verband. 29 Die Rechtfertigung von „Glücksanspruch und Neugierde“ 30 verweisen auf die verborgenen ödipalen Wurzeln des Wissen-Wollens, welches nach Barbara Vinken 31 den psychologischen Roman der Aufklärung bestimmt. Als ‚neugierige‘ Gattung par excellence heftet sich der Roman an die „Lesbarkeit“ der Welt 32 und vor allem das Verhältnis von Körpersprache (Physio- 27 Marie-Hélène Huet, Le Héros et son double. Essai sur le roman d’ascension sociale au XVIIIe siècle, Paris, Corti 1975. 28 Michael Bernsen, Angst und Schrecken in der Erzählliteratur des französischen und englischen 18. Jahrhunderts. Wege moderner Selbstbewahrung im Auflösungsprozess der theologisch-teleologischen Weltanschauung, München, Fink 1996 (Beihefte zur Poetica, 20). 29 Hans Blumenberg, Der Prozess der theoretischen Neugierde, S. 17 . 30 Ebd., Kap. IX, S. 184 und Kap. X, S. 214. 31 Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugierde - Die Weltverfallenheit des Romans. Richardsons „Clarissa“, Laclos‘ „Liaisons dangereuses“, Freiburg, Rombach 1991. 32 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1986. 14 gnomie) und Psychologie, die „Leibzeichen“ 33 , welche selbst libertinistische, obszöne, oder pornographische Werke noch einer experimentellen Neugierde zuzuordnen erlauben. Tatsächlich bildet ja das Phänomen des Libertinismus die extremste Aufgipfelung der Selbst- und Fremderfahrung. Aus dem ursprünglichen Freidenkertum 34 des 16. und 17. Jahrhunderts wird im 18. Jahrhundert eine Lebens- und Geisteshaltung bedingungsloser Emanzipation, in der Neugier zum ‚Bemächtigungstrieb‘ (Freud) gesteigert wird. In ihrer Studie über den libertinistischen Roman spricht Michèle Bokobza- Kahan von „une volonté délirante de maîtrise de soi“ 35 , die „une part d’introspection et d’autocritique continuelle“ 36 enthalte. Die Überlegenheitsattitüde, gespeist aus der Angst vor dem Selbstverlust, gründet auf der Vorstellung des prometheisch „selbstvollendeten“ Ich und impliziert die Abwertung der anderen zu Objekten sadistischer Neugier. Der narzisstische Libertin/ die narzisstische Libertine hat alle Verbindungen zur elterlichen, speziell väterlichen Autorität abgebrochen. Unter dem Titel The Wish to be Free haben Fred Weinstein und Gerald Platt 37 die wachsende Bedeutung unabhängigen Handelns und der Zurückweisung aller festen Bindungen im Roman des 18. Jahrhunderts untersucht, und der belgische Forscher Paul Pelckmans 38 hat das 18. Jahrhundert als ödipales Zeitalter beschrieben. Exerzierfeld der neuen aus der Krise der Tradition und der Neugier auf das Ich und die Gesellschaft erwachsenen Haltung der Suche und des Erprobens ist, neben dem Theater und vielleicht noch stärker als dieses, der Roman, dem auf diese Weise weit vor der eigentlichen Moderne eine experimentelle Rolle zufällt. 39 Philosophischer Roman und conte philosophique sind nach Frederick M. Keener eine neue Gattung, weil sie das Nachdenken 33 Vgl. Rudolf Behrens/ Roland Galle (Hrsg.), Leib-Zeichen. Körperliche Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Würzburg, Königshausen & Neumann 1993. 34 Vgl. Gerhard Schneider, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart, Metzler 1970. Vgl. auch René Pintard, Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle, Paris/ Genève, Slatkine Reprint 1983. 35 Michèle Bokobza-Kahan, Libertinage et folie dans le roman du XVIII e siècle, Leuven, Peeters 2000, S. 112. 36 Ebd., S. 137. 37 Fred Weinstein/ Gerald Platt, The Wish to be Free. Society, Psyche, and Value Change, Berkeley University of California Press 1969. Vgl. auch Gabriele Schwab, Entgrenzungen und Entgrenzungs-Mythen. Zur Subjektivität im modernen Roman, Stuttgart, Steiner 1987. 38 Paul Pelckmans, Le Sacre du Père. Fiction des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983. 39 Vgl. A. Kibédy-Varga, „La désagrégation de l’idéal classique dans le roman français de la première moitié du XVIIIe siècle“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 26 (1963), S. 965-998. 15 über Wirklichkeit befördern. 40 Ungeachtet der Vorformen ist der aufklärerische Roman eine neue, junge Gattung, ein im traditionellen Gattungskanon heimatloser „Bastard“, der aber gerade darum für neue Möglichkeiten offen ist und erst jetzt in das sich öffnende Gattungssystem integriert wird. Denn trotz der langen Vorgeschichte seit der Antike, dem hellenistischen und seiner Wiederentdeckung in Renaissance und Barock, der Blüte des Romans in Mittelalter und Spätmittelalter, dem „humanistischen Roman“ 41 , dem heroisch-galanten Roman und den Sonderformen der novellesken histoire im Umkreis von Madame de Lafayette 42 , wird der Roman erst jetzt zum - quantativ und qualitativ - hervorragenden Instrument der Beziehung zwischen Ich und Welt, zum eigentlichen Medium des genannten Emanzipationsprozesses. Als Inbegriff der Autoemanzipation verhilft der Roman, wie Dietmar Rieger betont hat, auch dem Schriftsteller zu einem neuen Rollenverständnis, das nicht selten mit dem des philosophe zusammenfällt und die religiöse Stellung des Priesters in säkularisierter Form beerbt. 43 Der sog. „Roman des Philosophen“ 44 belegt diese neue gesellschaftliche Funktion der bis dahin verachteten Gattung. Der Roman ist im heutigen, neuzeitlichen Sinn ein Produkt und wohl auch eine Voraussetzung der Aufklärung, und so erhält die Gattung erst jetzt - gegenüber dem höfischen Theater - jenen qualitativen und quantitativen Stellenwert, den sie bis heute nicht verloren hat. Gattungstheoretisch noch kaum verankert, verdrängt der Roman in immer stärkerem Maße die epische Poesie, die nach wie vor die Spitze der Gattungspyramide einnimmt und wird zum eigentlichen Erben des Epos 45 . Die Entwicklung zum Roman bezeichnet damit auch die eigentliche Wegscheide zwischen traditionaler und moderner Gesellschaft, kollektiver Sinnverankerung und individueller Sinnsuche, Moralität und Psychologie. 46 In seiner berühmten Theorie des Romans (1920) unterschied Georg Lukács seinerzeit, ausgehend von Hegels Definition des Romans als „bürgerlicher Epopöe“, 40 Frederick M. Keener, The Chain of Being. The Philosophical Tale, the Novel and a Neglected Realism of Enlightenment: Swift, Montesquieu, Voltaire, Johnson and Austen, New York, Columbia University Press 1983, bes. S. 85. 41 Pascale Mounier, Le Roman humaniste: un genre novateur français 1532-1564, Paris, Champion 2007 (Bibliothèque littéraire de la Renaissance, LXII). 42 Siehe Jürgen von Stackelberg, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München, Beck 1970 sowie Winfried Engler, Geschichte des französischen Romans. Von den Anfängen bis Marcel Proust, Stuttgart, Kröner 1982, und Fritz Peter Kirsch, Epochen des französischen Romans, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986 (Grundzüge, 64). 43 D. Rieger, a. a. O., S. 23. 44 Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen. Diderot - Rousseau - Voltaire, Tübingen, Narr Verlag 1985 (Romanica Monacensia, 23). 45 Vgl. hierzu auch Siegbert Himmelbach, L’épopée ou la ‚case vide‘. La réflexion poétologique sur l’épopée nationale en France, Tübingen, Niemeyer 1988 (Mimesis, 3). 46 Vgl. Roman et Lumières au XVIII e siècle, Paris, Editions sociales 1970. 16 zwischen der „gegebenen Totalität“ des epischen Weltzustands und der verlorenen und gesuchten Totalität des Romanzeitalters und definierte den Roman als Form der „transzendentalen Heimatlosigkeit“. 47 Der Held - eine Bezeichnung, die im Roman eigentlich nur noch metaphorisch zu verstehen ist - ist nicht mehr, wie im Epos, Vertreter einer kollektiven Wertwelt, sondern sich selbst entdeckendes Subjekt gegenüber einer „diskreten“ Außenwelt: „Kontingente Welt und problematisches Individuum“, folgert Lukács daher, „sind einander wechselseitig bedingende Wirklichkeiten.“ 48 Der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf Abenteuern und Heldentaten, sondern auf einem Handeln, das als Verstehensprozess, als Versuch, „gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen“ 49 , begriffen wird. Im Sinn der Hegelschen Subjekt-Objekt-Dialektik spricht Lukács dann von einem Aufeinanderzubewegen von Ich und Welt. Beruht der höfische heroisch-galante Roman auf der Unterordnung des Zufalls unter die Vorsehung, „l’ordre“, und lässt sich insofern unmittelbar mit der providentiellen Geschichtsphilosophie Bossuets in Beziehung setzen, gegen die sich Montesquieu wendet, so macht der aufklärerische biographische Roman den Zufall selbst zur lebensweltlichen Kategorie einer offenen Geschichte. Höchstens rückblickend - und das ist die eigentliche raison d’être der aufblühenden Autobiographie und Reiseliteratur - können dann noch Notwendigkeit und Stimmigkeit gerettet werden, freilich nur auf der je individuellen Ebene der Normabweichung. Letztere wiederum setzt die Kategorie der ENTWICKLUNG voraus. Und das heißt nichts anderes - wie schon Lukács klar gesehen hat -, als dass der Roman die Zeitlichkeit entdeckt, ja in gewisser Weise zum Medium innerweltlicher Zeitlichkeitserfahrung wird. Der Spannungsbogen des Erzählens bemisst sich nach dem Abstand zwischen Vorher und Nachher, Einst und Jetzt, und nicht mehr, wie vorwiegend in der klassischen Erzählkunst, nach der Dialektik von Offenheit und Verborgenheit, Schein und Sein. Die Untergattungen der klassischen nouvelle historique und der histoire secrète stehen im Schnittpunkt dieser Entwicklung zwischen histoire und mémoires, Verborgenheit und Offenheit. Von hier führt ein direkter Weg zu der neuen Rolle des Abenteuerbegriffs, den Michael Nerlich mit der Formel der „Unaufhebbarkeit experimentellen Handelns“ 50 charakterisiert hat. Memoiren und Pikareske ergänzen sich wechselseitig. 47 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied/ Berlin, Luchterhand 1965, S. 591. 48 Ebd., S. 76. 49 Ebd., S. 57 f. 50 Michael Nerlich, Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne. Von der Unaufhebbarkeit experimentellen Handelns, Berlin, Gerling, Akademie Verlag 1997. 17 Emanzipation und Mündigwerden des Subjekts, Suche und Versuch - das sind Stichwörter, die auf die Entstehung eines neuen Kritik-Begriffs und die Ausbildung des esprit d’examen verweist. Man bedenke nur die normale Bedeutung des Wortes „aufklären“. Deshalb kann Lukács den Roman als „die Form der gereiften Männlichkeit im Gegensatz zur normativen Kindlichkeit der Epopöe“ und das heißt auch, als Gattung des Erwachsenwerdens 51 apostrophieren. Der Infragestellung von Norm und Tradition im lebensweltlichethischen ebenso wie im ästhetischen Bereich entspricht die Aufwertung der persönlichen Erfahrung und ineins damit die Erfahrung des Nicht-Einheitlichen, Nicht-Vorhersehbaren und Verschiedenen. Ersterem entspricht philosophiegeschichtlich der Siegeszug des Empirismus und Sensualismus, eingeleitet durch John Lockes Essay Concerning Human Understanding, 1690, der den Übergang vom synthetischen Denken der Klassik zum analytischen Denken der Aufklärung markiert und menschliches Bewusstsein als Produkt individueller Erfahrung und Sinneswahrnehmung definiert; letzteres betrifft die Pluralismusdebatte, die 1686 durch Fontenelles Schrift Entretiens sur la pluralité des mondes eingeleitet wird. Pluralisierung und Perspektivierung gehen Hand in Hand. So gewinnt mit einemmal auch der Descartesche Discours de la méthode, von 1637, im höfischen Zeitalter als Grundlegung verbindlicher Rationalität begriffen, eine neue aufklärerische Dimension; ja in Anbetracht des autobiographischen Duktus des philosophischen Werks möchte man fast vom ersten Roman der Aufklärung sprechen: Das berühmte „Cogito, ergo sum“ setzt nämlich bereits den Subjektbegriff voraus, auch wenn es nicht um die Erkenntnis des je Eigenen, sondern noch immer - im Sinn der klassischen Norm - um allgemeine Erkenntnislehre, Methode, geht. Doch wird Philosophieren - Montaigne nicht unähnlich - als individueller Akt und Teil der eigenen Biographie begriffen, und das Ich „ne cherche pas d’autre science que celle qui se pourrait trouver en moi-même, ou bien dans le grand livre du monde“. 52 Das eigene Ich und das „große Buch der Welt“ - in diese Polarität scheint bereits der gesamte aufklärerische Roman beschlossen, der die Lebenspraxis (z. B. in der Form des Reisens) unter das Postulat der natürlichen Vernunft (lumière naturelle) stellt. Die diversité der Sitten und Gebräuche - ein Leitmotiv der Pluralitätserfahrung - ist nicht abtrennbar von der mündigen eigenen Beobachtung: „m’éprouver moimême dans les rencontres que la fortune me proposait“, „pour voir vrai en mes actions et marcher avec assurance en cette vie“ - „sitôt que cette vie me permit de sortir de la sujétion de mes précepteurs“ 53 - der Satz umschreibt bereits ein zentrales Thema im Roman der Aufklärung. 51 Ebd., S. 69. 52 Descartes, Discours de la méthode, éd. par Louis Liard, Paris 1960 (Les Classiques Garnier), S. 40. 53 Ebd. 18 Das eingangs genannte Stichwort Öffentlichkeit erhält seinen Sinn nur durch dessen dialektische Kehrseite, Entstehung und Aufwertung der Privatsphäre, in der öffentliche Strukturen gespiegelt werden. Die ‚private‘ Romanhandlung erlaubt so einen Ausblick auf öffentliche Probleme. Der Roman wird zum Sprachrohr und Reflexionsinstrument im Hinblick auf ein sich ständig erweiterendes Lesepublikum. In der Tat verweist die oben genannte Polarität zwischen aufklärerischem Kreis (mit seinen Formen der Mündlichkeit) und einem anonymen Massenpublikum (als Leserschaft) auf einen tiefgreifenden Wandel der Funktion und Verbreitung des Lesens und der Leserschichten sowie des Leseverhaltens. Rousseau hat dies in den Vorworten zu seinem Roman La Nouvelle Héloïse thematisiert, und die moderne Leseforschung situiert spätestens um die Jahrhundertmitte die Indizien eines mentalitätsgeschichtlichen Umbruchs, der das Lesen zum privaten Konsum werden lässt. D. h., das herkömmliche Lesen und Vorlesen in einem größeren Kreis, bzw. die häufige Lektüre einiger weniger Werke weichen der häufigen emotionalisierten einsamen Lektüre vieler Werke. Dieser Übergang von intensivem zu extensivem Leseverhalten 54 zieht den Verlust der Aura des Buches nach sich und bereitet dem massenhaften Konsum den Weg. Soziologisch sind dabei zwei Phänomene zu betonen: Verbürgerlichung und Feminisierung. Ersteres hat schon Daniel Mornet in seiner berühmten Enquête über die Privatbibliotheken zwischen 1750 und 1780 55 untersucht. Danach entfallen auf den Adel 43 v. H. und auf das Bürgertum 57 v. H. der Bestände - bei steigender Tendenz zur Einbeziehung auch der niederen Stände und vor allem der Provinz. Gegen Ende des Jahrhunderts stellt Sébastien Mercier in seinem Tableau de Paris (1782-88) fest, dass mittlerweile in fast allen Schichten der Bevölkerung gelesen werde. In wachsendem Maße ist die Lektüre mithin nicht mehr nur Freizeitvertreib gebildeter adliger Müßiggänger, sondern auch der Gewerbetreibenden, Kaufleute, Handwerker und der sog. liberalen Berufe, ist sie nicht nur Bildungsvergnügen, sondern Feierabendbeschäftigung, Lebensersatz und Evasion aus dem Alltag, aber zugleich (fiktionale) Orientierungshilfe in einer immer komplexeren Welt, fiktionale Erprobung von Wirklichkeitsmodellen. 56 Gerade letzteres gilt für die Romanlektüre, von der ein zeitgenössischer Betrachter sagt, dass die Fiktion als Ersatz für die gelebte Wirklichkeit diene. 57 Der Unterschied zwischen viel und wenig Muße wirkt dann schließlich auf die Romanproduktion und 54 Vgl. hierzu Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500- 1800, Stuttgart, Metzler 1974. 55 Daniel Mornet, „Les enseignements des bibliothèques privées (1750-1780)“, in: Revue d’histoire littéraire de la France 17 (1910), S. 449-496. 56 Im Sinne von Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München, Fink 1972, S. 330. 57 Vgl. Horst Wagner (Hrsg.), Texte zur französischen Romantheorie des 18. Jahrhunderts, Tübingen, Niemeyer 1974, S. 85. 19 Rezeptionserwartung zurück. Man unterscheidet zwischen den grands ouvrages für Leute mit viel Zeit und den petits ouvrages, die für die Leute mit wenig Zeit - Berufstätige, würde man heute sagen - bestimmt sind. Zielvorgaben wie Kürze, Spannung hängen damit zusammen und können - seit der Entstehung des petit roman und der Roman-Novelle gegen Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur allgemein mit verändertem Lesergeschmack erklärt werden. Das Stichwort Feminisierung steht im Zusammenhang einerseits allgemein mit der aufkommenden Empfindsamkeit sowie der führenden Rolle gerade adliger Frauen in der Salonkultur der Aufklärung; andererseits ist jedoch nicht zu übersehen, dass Verbürgerlichung und Feminisierung der Lektüre insofern zusammenhängen, als die bürgerliche Frau nur in sehr eingeschränktem Maße an dem Öffentlichkeitscharakter der Kultur partizipiert, sich jedoch in den Romanheldinnen wiedererkennt. 58 Ihr Heim ist der Bereich des Privaten, aus dem gerade der Roman eine willkommene Fluchtmöglichkeit eröffnet. In der Schrift Des romans konstatiert La Harpe gegen Ende des Jahrhunderts bereits ganz aus bürgerlicher Perspektive, der Roman sei eine im Wesentlichen weibliche Gattung und das heißt, die Lektüre der ‚Töchter‘, nicht der ‚Väter‘. Der Roman ist hier - noch vor dem Drama und dem Reisebericht zum Aufklärungssurrogat geworden. Denn der Vater erzählt nicht. Georges May hat in seiner klassischen Studie Le dilemne du roman au XVIIIe siècle 59 diesen Weg der versuchten Selbstrechtfertigung und der Angriffe der Kritik auf ein illegitimes Wirklichkeitspostulat verfolgt, und Hans Rudolf Picard 60 konnte in seiner Arbeit über den Briefroman zeigen, wie sehr Herausgeberfiktion und die scheinbar nichtliterarische Form des Briefes von Montesquieu bis Rétif de la Bretonne die spätere Durchsetzung auktorialen Erzählens verzögern. Eine Ausnahme bilden die weiblich konnotierten Gattungen der histoire und des conte de fées. Umgekehrt ergibt sich aus dem Misstrauen gegen jede auktoriale Illusionstechnik 61 eine weder zuvor noch danach je wieder erreichte Vielfalt und Intensität der Ich-Aussprache und der Beschreibung des eigenen Ich, 62 die Briefroman und Autobiographie zu Schwestergattungen macht. Libertinisti- 58 Vgl. Pierre Fauchery, La Destinée féminine dans le roman européen du dix-huitième siècle, 1719-1807, Essai de gynécomythie romanesque, Paris, Colin 1972. 59 Georges May, Le dilemme du roman au XVIII e siècle. Etude sur les rapports du roman et de la critique (1715-1761), New Haven / Paris, Presses Universitaires 1963. Vgl. auch Werner Krauss, „Zur französischen Romantheorie des 18. Jahrhunderts“, in: W. K., Aufklärung II: Frankreich, hrsg. von Rolf Geißler, Berlin/ Weimar, Aufbau-Verlag 1987, S. 442-462. 60 Hans Rudolf Picard, Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des 18. Jahrhunderts, Heidelberg, Winter 1971 (Studia Romanica, 23). 61 Vgl. Vivienne Mylne, The Eighteenth-Century French Novel, Techniques of Illusion, Manchester, University Press 1965. 62 Hierzu auch Jean Rousset, Narcisse romancier. Essay sur la première personne dans le roman, Paris, Corti 1973. Zur vielperspektivischen Sicht und dem uneigentlichen Sprechen des Briefromans und dem Wahrheitsanspruch der Ich-Perspektive vgl. auch Victor Lange, 20 scher und empfindsamer Roman haben dieselben Wurzeln. 63 Doch es geht nicht allein um die Legitimität der Fiktion. Eine entscheidende Rolle hat der Vorwurf mangelnder Moral, der mit der neuen experimentellen Offenheit und Ehrlichkeit verbunden war. Bekannt ist der lange Widerstand der Kirche gegen ein angeblich unmoralisches Genre. Die zwar konservative, aber in Teilen dennoch wegweisende und maßgebliche Studie von Lenglet-Dufresnoy 64 , 1734 mitten in einer Zeit des Aufbruchs verfasst, hat Sanders daher einer erneuten Prüfung im Rahmen der zeitgenössischen Stimmen unterzogen; er konnte feststellen, dass „der Affront des Buchs [...] der einer laizistischen und in diesem Sinne modernen Moral gegen diejenige historische Form der Sittlichkeit, die wir als traditional bezeichnet haben“, 65 darstellt und so, wie Sanders folgert, „auf einen ‚modernen‘ Erfahrungsstand reagiert“ 66 . Voraussetzung für die Überwindung des Unsittlichkeitsverdachts scheint der Zerfall der „klassischen Überhöhungskultur“ (Sanders) und ihres sowohl moralischen wie ständischen Normensystems zu sein. Damit erst ist Platz für das Vordringen des Privaten, Alltäglichen und Partikulären, das zu einer Problematisierung individuellen Handelns führt. Wie vor allem Dieter Steland in seinem Buch über das Verhältnis von Moralistik und Erzählkunst gezeigt hat, „wird das, was einmal als autonomieverwehrend galt, als Ermöglichung von Autonomie erkennbar“ 67 . Vereinfacht gesagt, wird damit die Darstellung der Liebe und normbedrohender Affekte nicht mehr unter dem Blickwinkel von bienséance und vertu, d. h. im Rahmen des Gelten-Sollenden, möglich, sondern unter dem Aspekt der psychologischen Wahrheit und damit auch Belehrung. Crébillon wird den Roman mit der Komödie vergleichen und als tableau de la vie humaine charakterisieren; Rétif de la Bretonne spricht von einer „morale vivante“, und noch La Harpe definiert die Gattung, die längst umstandslos mit der Liebe gleichgesetzt wird, als „un tableau moral et animé de la vie humaine“. Sieht man einmal von der möglichen Nutzbarmachung solcher Definitionen zur Tarnung gefährlicher oder libertinistischer Inhalte ab, so bleibt die Umwertung des Moralismusbegriffs zu einem quasi-experimentellen und pragmatischen Verständnis festzuhalten. Ein Rétif de la Bretonne behauptet sogar die Überlegenheit des Romans über die essayistische Moralistik. Der malende „Erzählformen im Roman des 18. Jahrhunderts“, in: Stil- und Formprobleme der Literatur, hrsg. von Paul Böckmann, Heidelberg, Winter 1950,S. 224-230. 63 Vgl. R. F. Brissenden, Virtue in Distress. Studies in the Novel of Sentiment from Richardson to Sade, London, Macmillan 1974. 64 N.-A. Lenglet-Dufresnoy, De l’usage des romans, Genève, Slatkine Reprint 1970. 65 H. Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen, Niemeyer 1987, S. 88-104, hier S. 91. 66 Ebd., S. 104. 67 Dieter Steland, Moralistik und Erzählkunst von La Rochefoucauld und Mme de Lafayette bis Marivaux, München, Fink 1984, S. 346. 21 Charakter des Mediums Roman, seine Fähigkeit zur sinnlichen peinture begründet seine Überlegenheit, übrigens auch gegenüber Drama und Komödie. Denn der moralistisch-psychologische Roman vollzieht insofern einen Paradigmenwechsel, als er sich nicht mehr an Epentheorie u. ä. orientiert, sondern sich explizit als Variante des Dramas definiert und - im aristotelischen Sinn - gleich der Komödie die Kritik der Sitten betreibt. Folgerichtig kann La Harpe am Ende des Jahrhunderts feststellen, dass der Roman anders als das Drama auch die kleinen Dinge des Lebens zeigen könne. Diese emphatische Aufwertung verweist bereits voraus auf Balzac und den bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts. Der Roman erscheint in dieser Perspektive als Medium der mentalitätsgeschichtlichen Umbruchserfahrung par excellence; er ist ‚modern‘, weil er selbst Ausdruck eines neuen Verhältnisses zur Wirklichkeit ist und sich - ähnlich wie die vielen Aufsteigerhelden, die er thematisiert 68 - gegen traditional geprägte Sittlichkeit, gegen Vorbehalte und gattungsgeschichtliche Missverständnisse durchsetzen muss. Fasst man die genannte Umbruchserfahrung in einen vage psychoanalytischen Generationsrahmen, so wird der emanzipatorische Gestus von Form und Inhalt in emblematischer Sicht als Ausdruck eines Generationenkonflikts fassbar, in dem naturgemäß - in einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur - der Vater-Sohn-(Vater-Tochter-) Konflikt bzw. das Vater-Sohn-und Eltern-Kind-Verhältnis die Rolle eines Paradigmas übernimmt - als ins Psychologische übersetzte Traditionskrise, die vom Glauben an die göttliche Providenz über gesellschaftlich sanktionierte Normen bis in den ästhetischen Bereich hineinreicht. Umgekehrt ist es dann nicht verwunderlich, dass Familienkonstellationen in Drama und Roman, vor allem im Zeichen der Rührästhetik, im Laufe des Jahrhunderts ständig an Bedeutung gewinnen, bis sie in dem breiten, immer autobiographisch unterlegten Romanwerk eines Rétif de la Bretonne die Rolle einer Krisenchronik annehmen. 69 Die nur zum Teil erforschte Geschichte des Vater-Sohn-Motivs 70 vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert erhält mithin in der Aufklärung eine besondere, weil kulturhistorische Virulenz, die im Ganzen erst neuerdings behandelt worden ist. In seiner großangelegten Stu- 68 Vgl. Marie-Hélène Huet, Le Héros et son double. Essai sur le roman d’ascension sociale au XVIII e siècle, Paris, Corti 1975. 69 Vgl. z. B. Rudolf Behrens, „Diderots Père de famille. Oder: Wie lässt sich die Problematisierung gesellschaftlicher Leitwerte erfahrbar machen? “, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (1985), S. 41-77. 70 Verwiesen sei auf die Doppelstudie von Kurt K. T. Wais, Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung bis 1880, Berlin/ Leipzig, De Gruyter 1931 und Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung von 1880-1930, ebd. (Stoffe und Motivgeschichte der deutschen Literatur, 10 und 11). Alexander Fischer, Das Vater-Sohn-Verhältnis in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Diss. München 1963; Claudia Mauelshagen, Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre, Frankfurt/ M. u. a., Peter Lang 1995 (Marburger Germanistisches Studien, 16). 22 die Le Sacre du Père hat der belgische Aufklärungsforscher Paul Pelckmans 71 die „poussée œdipienne“ bis 1775 in Roman und Drama verfolgt. Freilich legt die These eines „Sacre du Père“ erhebliche Einschränkungen nahe. Denn so sehr es richtig ist, dass das ganze Jahrhundert, wie Maurice Daumas 72 argumentiert, von dem „Syndrom“ des bei Prévost vorgebildeten Vater-Sohn- Komplexes geprägt sei, so deutlich ist auch, dass die Konfliktgeschichte eine vorerst offene Geschichte ist. Die Emanzipationsgeschichte kennt keine eindeutigen Sieger. Im Übergang von älteren Familienstrukturen zur heute üblichen bürgerlichen Kleinfamilie wird der Vater selbst zur Verkörperung der Tradition, und jeder Akt des Heraustretens aus dem Schutzraum der Tradition ist zugleich eine symbolische Absage an die väterliche Autorität. 73 In Verkommene Söhne, missratene Töchter hat Peter von Matt solche Krisenmomente im Kontext traditionaler Familienstrukturen vor allem in der deutschen Literatur zusammengetragen, 74 ohne sie freilich epochenspezifisch zu gewichten. In ihrer rezenten Studie Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literutur der Aufklärung 75 hat Judith Frömmer den Konnex zwischen Vaterkult und Empfindsamkeit in der deutschen und französischen Literatur der Spätaufklärung untersucht. Weniger konkrete Motivgeschichte als ein Epochenparadigma im gattungsgeschichtlichen Kontext ist angesagt. Wenn der Roman, wie Lukács betont, eine Epoche der „gereiften Männlichkeit“ 76 prägt, dann geht es überdies nicht allein um Krisensymptome, sondern zuallerst um die Art, wie emanzipatorische Ansätze symbolisch verarbeitet werden, das heißt, auch wie weit und unter welchen Bedingungen die Gattung Roman ihren emanzipatorischen Anspruch durchzusetzen vermag. 71 Paul Pelckmans, Le Sacre du Père. Fictions des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983 (Faux Titre, 12), S. 46. 72 Maurice Daumas, Le syndrome Des Grieux. La relation père-fils au XVIIIe siècle, Paris, Seuil 1990. 73 Vgl. besonders Klaus Heitmann, „Der Vater in Gesellschaft und Literatur des Ancien régime in Frankreich“, in: Hubertus Tellenbach (Hrsg.), Das Vaterbild im Abendland, 2 Bde., Stuttgart u. a., Kohlhammer 1978, Bd. II, S. 127-141. 74 Peter von Matt, Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München, Hanser DTV 1995. 75 Frömmer, Judith: Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung, München, Fink 2008. 76 Georg Lukács, Die Theorie des Romans , S. 69. 23 II. Neugier und Experiment: Krise der Autorität und utopische Restitution Der esprit critique oder esprit philosophique ist gekennzeichnet durch zwei Stichwörter: Historisierung und Dezentrierung. Beide sind Voraussetzungen für die Entstehung einer autonomen Romankunst und beide stehen dem providentialistischen Weltbild und dem statischen, zentralistischen und ordnungspolitischen Denken der Klassik diametral entgegen. Beide Stichwörter hängen im übrigen eng zusammen, denn die historische Infragestellung des Bestehenden befördert zugleich ein antiautoritatives dezentriertes Denken. Vertreten wird dieses Denken vor allem durch die beiden Frühaufklärer Pierre Bayle und Fontenelle, die - altersmäßig nur wenig unterschieden - gemeinsam in der Kultur des Siècle classique wurzeln und die z. T. sogar zusammenarbeiteten. Zunächst zu dem protestantischen Gelehrten Bayle, 77 der 1647 bei Foix als Sohn eines kalvinistischen Pastors geboren und schon 1706 in Rotterdam gestorben ist. 1669 konvertiert er zum Katholizismus, um bald darauf wieder abzuschwören und in Genf Theologie zu studieren. In Sedan wird er 1675 Professor für Philosophie, geht nach der Streichung seiner Stelle nach Holland, wo er 1682 die Lettre sur la Comète veröffentlicht; die 1683 unter dem Titel Pensées diverses sur la Comète publizierte zweite Auflage macht ihn europaweit bekannt und erlaubt ihm, 1684 die Monatszeitschrift Les Nouvelles de la République des Lettres zu gründen. Es folgen kleinere theologische Arbeiten und 1686 - unter einem englischen Pseudonym - die große Schrift über die Toleranz, Commentaire philosophique sur les paroles de Jésus-Christ. 1696 endlich erscheint das seit 1692 angekündigte Dictionnaire historique et critique, 78 nach Leibniz „le plus beau des dictionnaires“ und Vorläufer der Encyclopédie. Der Autor, zeitlebens in materieller Bedrängnis konnte es nur durch die private Unterstützung seines Verlegers fertig stellen, nachdem ihm die holländische Regierung die Lehrerlaubnis entzogen hatte. Am Ende seines Lebens ist Pierre Bayle ein Gelehrter, der zwischen allen Stühlen sitzt. Die Kritik hat in ihm die exemplarische Gestalt eines neuen Intellektuellentypus der Aufklärung gesehen. Man darf ihn freilich, wie etwa Alain Niders betont hat, nicht mit dem Typus des Libertinisten verwechseln, der die Entwicklung der Frühaufklärung zwischen Saint-Evremond und Montesquieu maßgeblich geprägt hat. Gerade in seinen letzten Jahren ist Bayle - ähnlich übrigens wie der Leibniz der Theodizee - ein Suchender 77 Werner Krauss, Die Literatur der französischen Frühaufklärung, Berlin, Athäneums-Verlag 1971. 78 Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique. Préface et notes par Alain Niderst, Paris, Editions sociales 1974. 24 gewesen, der weniger mit Diderot als mit Pascal verglichen werden müsste. Vor allem darf man sein Dictionnaire nicht von der zeitgenössischen Erudition, dem Grand Dictionnaire historique et géographique (1688) eines Louis Moreri, und den Anfängen historischer Bibelkritik isolieren. Doch Bayle geht weiter: Er wahrt den Anschein der Orthodoxie, ja er beruft sich auf gängige Lehrmeinungen, um die Folgen durch die fortschreitende Logik der Gedanken bloßzustellen, die man fast mit einer erzählerischen Logik gleichsetzen könnte. Die essayistische Form der Argumentation lässt diese gleichsam ins Leere, Bodenlose laufen. So wenn in einem scheinbar unverfänglichen Artikel, „Xenophanes“ überschrieben, vom Teufel und von der Verdammnis die Rede ist und Gott am Ende mit den wenigen Erwählten fast allein dasteht. Oder wenn danach die Unveränderlichkeit Gottes gegen die ständige Veränderung der Schöpfung ausgespielt wird und der Autor hinzufügt: „c’est un signe que la vérité est une chose incompréhensible et impénétrable.“(S. 231) Das zur Aufklärung dienende Dictionnaire ist so ein Wörterbuch der Aporien, und das verbindet Bayle ebenso mit Pascal und seinem verborgenen Gott wie mit der Aufklärung. Denn eben die Häufung der Absurditäten und Aporien, mit logischen und mit historischen Methoden bewiesen, kann auch als historische Kritik an der Geschichte der Religionen begriffen werden oder ist zumindest so verstanden worden. In der Schrift über die Toleranz bildet die Unmöglichkeit, die Wahrheit zweifelsfrei zu erkennen, die Voraussetzung des Toleranzgedankens, 79 wie ihn noch Lessing in der berühmten Ringparabel (Nathan der Weise) formulieren wird. Der Autor beruft sich auf die Gewissensfreiheit, um den orthodoxen Verfolgungswahn zu entlarven, und eben diese Gewissensfreiheit (conscience) weist dann nicht nur die Religion in ihre Schranken, sie führt in der Logik auch zur Trennung von Religion und Ethik, Religion und Macht. Die historischen Irrtümer bilden dabei den Hintergrund einer logischen Demonstration, die die Überholung einer solchen Art von Geschichte gleichsam impliziert. Bayle benützt noch nicht den aufklärerischen Wortschatz von Aberglaube, Vorurteil, Schimäre, Fabel usw., aber er suggeriert gewissermaßen hinter der historisch-theologischen Kontroverse die Möglichkeit der Überwindung der durch geschichtliche Absurditäten entstandenen Verhältnisse. Der von der Kritik meist betonte Fortschrittsgedanke ist implizit, nicht explizit, ähnlich wie auch die historisch-kritische Methode nur als Gehilfin der theologischen Argumentation in Erscheinung getreten war. Die Historisierungsdebatte situiert sich im Ausgang des Grand Siècle vor allem im Umkreis der schon genannten Querelle des Anciens et des Modernes, die 1687 von Perrault angestoßen worden war und bald über die ästhe- 79 Pierre Bayle, De la tolérance. Préface et commentaire par Jean-Michel Gros, Paris, Presses Pockett 1992. Vgl. auch Gisela Schlüter, Die französische Toleranzdebtte im Zeitalter der Aufklärung. Materiale und formale Aspekte, Tübingen, Niemeyer 1992 (Mimesis, 15). 25 tisch-poetologische Diskussion hinaus das gesamte Denken der Aufklärung weiter beschäftigte. Die entscheidende Frage war die nach dem wissenschaftlichen Fortschritt und ineins damit nach der perfection des menschlichen Denkens, d. h. nach der Geschichtlichkeit von Kultur und kulturellen Weltbildern überhaupt. M. a. W., es geht erstmals um eine epistemologische Fragestellung. Nur ein Jahr nach Perrault verorten die Digressions sur les Anciens et les Modernes (1688) von Fontenelle den Fortschrittsgedanken 80 in allen Bereichen des Wissens und sogar der Künste und relativieren die Vorbildhaftigkeit der Antike. Im Zeichen einer Kritik der Vorurteile relativiert Fontenelle auch, was vielleicht noch entscheidender ist, den Gedanken eines Vorbilds selbst und hält Geschichtlichkeit und geschichtlichen Wandel als zentrale Kategorie fest, die das Gegensatzpaar alt/ neu, ancien/ moderne fragwürdig macht. „Préjugé pour préjugé, il serait plus raisonnable d’en prendre à l’avantage des modernes, qu’à l’aventage des anciens. Les modernes sont les modernes et naturellement ils ont dû enchérir sur les anciens [...].“ 81 Kulturentwicklung ist ein unaufhörlicher Prozess, dessen einzelne Momente von der jeweiligen historischen Beschränktheit des Wissens zeugen. Das Weltbild eines Aristoteles sei obsolet, aber auch die Festschreibung etwa der kartesianischen Philosophie vertrage sich nicht mit dem offenen geschichtlichen Horizont. In der Schrift Sur l’Histoire geht der Autor daher auf die Historiographie selbst ein, unterscheidet zwischen der „histoire fabuleuse des premiers siècles“ und einer „histoire vraisemblable ou véritable“ und weist der Geschichtsschreibung die Rolle fortschreitender Aufklärung von ursprünglicher sottise / ignorance zu. Gleichzeitig entwirft er die weltgeschichtliche Vision eines ständigen Wandels der Sitten und Verhältnisse und des Kampfes der Nationen um Vorherrschaft: „Je vois d’une vue générale les nations répandues sur la surface de la terre, se la disputant incessamment, et se poussant et repoussant les uns les autres comme des flots ...“ 82 Montesquieu und Voltaire werden an dieser weltgeschichtlichen Konzeption ansetzen. Offene Geschichte hat, wie wir sehen, zwei gleichsam vertikale Stoßrichtungen, die Kritik der Vergangenheit und die utopische Projektion in die Zukunft; in horizontaler Hinsicht impliziert sie eine vergleichende, relativierende Methode, wie sie für das ganze Aufklärungsdenken charakteristisch sein sollte. In beiden Bereichen hat Fontenelle, 83 der Neffe Corneilles, die Grundlagen der Aufklärung noch auf dem Höhepunkt des Siècle classique 80 Vgl. Arnoldo Pizzorusso, „Fontenelle e l’idea di progresso“, in: Belfagor 18 (1963), S. 150- 180. 81 Fontenelle, Textes choisis, publ. par Maurice Roelens, Paris, Editions sociales 1966 (Les Classiques du peuple), S. 253 f. 82 Fontenelle, S. 431. 83 Noch immer maßgeblich Werner Krauss, Fontenelle und die Aufklärung, München, Fink 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste). Vgl. auch Alain Niderst, Fontenelle à la recherche de lui-même (1657-1702), Paris, Nizet 1972. 26 geschaffen. 1657 in Rouen als Sohn eines Notars geboren und 1757 als lebendes Denkmal des neuen Geistes gestorben, hat der Lehrer Voltaires das wesentliche Werk in den zwei Jahrzehnten zwischen 1680 und 1700 vollendet, in denen er als Mitarbeiter am Mercure Galant seine vielseitigen schöngeistigen, literarischen und philosophischen Neigungen entfalten konnte. 1691 wurde er in die Académie Française berufen, 1699 wurde er zum Generalsekretär der Akademie des Sciences ernannt und gab diesen Posten, der seinen wissenschaftlichen Interessen entsprach, erst 1740 auf. Das sog. Alterswerk, Dramen, ein Opernlibretto, wissenschaftliche und philosophische Abhandlungen, eine Corneille-Biographie u. a., ist durchaus beachtlich, spielte aber nicht mehr die geistesgeschichtliche Rolle wie das Jugendwerk. Immerhin veröffentlichte noch der 95-Jährige eine naturwissenschaftliche Abhandlung über die Anziehungskraft. Fontenelle, in seinen Jugendjahren ein eleganter und gewandter Salonheld, den z. B. ein La Bruyère gründlich verachtete, hat nicht nur das Geschichtsbild im Umkreis der Querelle wesentlich mitgeprägt; er hat auch die literarischen ‚Waffen‘ der Aufklärung bereitgestellt: Brief, Dialog, Entretien und das, was Jean-R. Carré in der ersten wichtigen Monographie über den lange fast vergessenen Autor, „le sourire de la raison“ 84 genannt hat. Erich Köhler sah Fontenelles Verdienst in dem Versuch, den Graben zwischen Gelehrsamkeit und dem Menschheitsideal der honnêteté auszufüllen und die gefährdete Einheit der Bildung wiederherzustellen. 85 Noch direkter als Bayle geht Fontenelle tatsächlich die großen Fragen an und entmystifiziert, an ein zeitgenössisch mondänes Publikum gewandt, scheinbar selbstverständliche Wahrheiten. Die Nouveaux Dialogues des Morts (1683) 86 , nach dem Vorbild der Totengespräche Lukians, stellen historische Mythen in Frage, indem sie kontrafaktische Geschichte romanhaft fortspinnen und die auftretenden Personen in ihrer Bedingtheit und Widersprüchlichkeit vorführen: Plato gegen Epikur, Augustus gegen Pietro Aretino, den Verfasser der anzüglichen Hetärengespräche, Cortez, den Eroberer von Mexiko, gegen Montezuma, usw. Weltgeschichtliche Größe und Vorbildhaftigkeit werden auf ihre menschliches Maß zurückgeführt; große geschichtliche Gestalten stellen ihre eigene geschichtliche Rolle und ihre angeblichen Verdienste in Frage. Es ist eine typische Technik der Entmystifizierung und Relativierung, die der Autor in der Histoire des Oracles (1687) auch auf das aufklärerische Denkschema des Priestertrugs anwendet. Der Schlag gegen den Orakelglau- 84 Jean-R. Carré, La Philosophie de Fontenelle ou le sourire de la raison, Thèse Paris 1932. 85 Erich Köhler, Frühaufklärung, hrsg. von Dietmar Rieger, Stuttgart u. a., Kohlhammer 1983, S. 24. 86 Vgl. Gerhard Hess, „Fontenelles Dialogues des morts“, in: Romanische Forschungen 56 (1942), S. 345-358. 27 ben der so gepriesenen Antike „de cette antiquité si vantée“ 87 , erweist sich hier auch als Auseinandersetzung mit dem christlichen Providenzgedanken. Grundgedanke ist eben die Beharrungskraft von Sitte und Tradition, die dem geschichtlich Gewordenen den Anstrich des Geheiligten und Selbstverständlichen verleiht. Wie der Autor sarkastisch bemerkt: „Quelque ridicule que soit une pensée, il ne faut que trouver moyen de la maintenir pendant quelque temps: la voilà qui devient ancienne, et elle est suffisamment prouvée.“ 88 Die falsche, angemaßte Autorität der Väter wird hier selbst als historisches Missverständnis entlarvt. Vor allem die Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) sind ein Markstein in der Relativierung der Geschichte und Entmystifizierung historischer Größe. Sie nehmen die kopernikanische Wende ernst und stellen einen wesentlichen Baustein zu jener Dezentrierung und Selbstrelativierung dar, die man als den fremden Blick auf das Eigene definieren könnte. Utopie, Reisebericht, Montesquieus Lettres persanes oder Voltaires Micromégas wären hier zu nennen. Der Spaziergang mit einer Marquise in einer Sommermondnacht dient als Hintergrund und Anlass für ein Gespräch über die Erde, den Kosmos und die Möglichkeit anderer bewohnter Welten. Im Rahmen einer Wissens- und Kulturgeschichte des Fernrohrs seit dem 17. Jahrhundert hat Jan-Henrik Witthaus das Motiv der Pluralität der Welten bei Borel, Fontenelle, und Huygens verfolgt 89 und insbesondere auf die Vorläuferrolle des Arztes Pierre Borel und seinen Leitbegriff der curiosité 90 hingewiesen. Die kosmische Meditation entlarvt „notre folie, à nous autres [...] de croire aussi que toute la nature, sans exception, est destinée à nos usages“ (I, S. 33). Traditionelle Gewissheiten geraten ins Wanken: „voilà l’univers si grand que je m’y perds; je ne sais plus où je suis; je ne suis plus rien.“ (V, S. 105), ruft die Marquise beim Gedanken an die eigenen Welten der Fixsterne aus. Gegen Ende des 6. Abends nähert sich der Autor einer - auch in der Wortwahl - an Montaigne erinnernden Theorie der Relativität: „Cependant tout est dans un branle perpétuel, et par conséquent tout change.“ (VI, S. 129) Und dann entwickelt er erste Ansätze auch zu einer Historisierung der Erde selbst: Versteinerte Muscheln und Fische verwiesen auf eine andere, frühere Gestalt der Erde, und als lügenhaft zurückgewiesene Fabeln der Alten enthielten vielleicht doch eine Wahrheit: „Les fables ne sont point tout à fait des fables; ce sont des histoires des temps reculés, mais qui ont été défigurées ou par l’ignorance des peuples, ou par l’amour qu’ils avaient pour le merveilleux“ 87 Fontenelle, Entretiens sur la pluralité des mondes suivi de Histoire des oracles. Présentation de Jacques Bergier, Verviers, Editions Gérard 1973 (marabout université), S. 163. 88 Ebd., S. 189. 89 Jan-Henrik Witthaus, Fernrohr und Rhetorik. Strategien der Evidenz von Fontenelle bis La Bruyère, Heidelberg, Winter 2005 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, 28), S. 109 ff. 90 Ebd., S. 118 ff. 28 (VI, S. 130). Aufklärerische Entlarvung des Vorurteils vergangener Zeiten und ein neues historisches Verstehen stoßen hier aufeinander. In De l’origine des fables (1689) wird diese Argumentation fortgeführt. Die erdgeschichtliche Evolutionstheorie, die noch von Voltaire verworfen wurde, sollte erst 1749 in der Histoire naturelle von Buffon weitergeführt werden. Dem Angriff auf den Normcharakter der Kultur der ‚Väter‘ entspricht gleichsam seitenverkehrt die utopische Restitution einer durch die Vernunft legitimierten Autorität, die durch die ‚Söhne‘ entdeckt und verwirklicht wird. So in dem utopischen Reise-Roman Histoire des Ajaoïens, der wohl gegen 1682 verfasst, aber erst postum, 1768 in Genf veröffentlicht wurde. 91 Als direktes Vorbild der für die Frühaufklärung typischen Gattung, die bis 1650 zurückreicht und von Bettina Dietz 92 untersucht worden ist, kommt der Roman daher nicht in Frage, wohl aber als Modell der genannten Tendenzen. Der unter einem holländischen Pseudonym abgefasste Reisebericht schildert eine Entdeckungsfahrt in Richtung Japan, einem damals noch weitgehend unbekannten Land. Aber die Insel der Ajaoïens ist nach Sprache und Sitten offenbar chinesischer Herkunft, und die dort verwirklichte Utopie ist dem positiven China-Mythos des 17. Jahrhunderts verpflichtet. Das berichtende Ich, das fünf Jahre auf der Insel verbracht hat, beschreibt ein perfekt durchstilisiertes Utopia, das keine Religion und kein Priestertum kennt und ganz nach den Prinzipien der seule Nature (S. 22) organisiert ist. Es ist eine brüderliche Gesellschaft ohne Privateigentum, in der jeder mit 20 Jahren die Ehe eingeht, alle Beziehungen durch einen Souverain Magistrat geregelt sind und auch der Tod öffentlich erbauliche Züge trägt. Aber es ist auch eine wehrhafte Gesellschaft mit Sklaven, bei deren Beschreibung der sonst so antikeskeptische Fontenelle sich offensichtlich - wie später Rousseau in seinem Contrat social - an die spartanische Gesellschaft erinnert. Auf die Profession de foi du vicaire savoyard in Rousseaus Emile verweist übrigens der abschließende, deistische „Discours sur l’existence de Dieu“, den das Ich vor der Assemblée Générale des Peuples hält. Wie später Télémaque ist der junge Held in die Welt gezogen, um sich ein Urteil bilden zu können und zieht am Ende seiner Wissens- und Bildungsreise Bilanz. Entscheidend sind jedoch nicht die Einzelheiten dieser im übrigen betont kurzen, fast lakonischen Darstellung, die von Hans-Günter Funke 93 analysiert worden ist, sondern die Art, wie Europa und den habgierigen europäischen Nationen der Spiegel vorgehalten wird. Die Ajaoïens sind als Abkömmlinge einer früheren holländischen Kolonie mit Europa vertraut; ihre Gesellschaftsordnung ist ein 91 Fontenelle, Histoire des Ajaoïens, éd. crit. par Hans-Günter Funke, Oxford, Voltaire Foundation 1998. 92 Bettina Dietz, Utopien als mögliche Welten, Mainz, von Zabern 2002. 93 Hans-Günter Funke, Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung: Fontenelles „Histoire des Ajaoïens“, Teil I und II, Heidelberg, Winter 1982 (Reihe Siegen). 29 bewusster, auf die Natur gegründeter Gegenentwurf, nicht die Utopie eines Naturzustands, und verweist so nicht zurück, sondern in die Zukunft. Es geht um die Reformierbarkeit der Gesellschaft. Bleiben wir noch kurz bei dem Stichwort ‚Dezentrierung‘ und dem fremden Blick auf das Eigene. Es geht um den Mythos des edlen Wilden, der erstmals in dem Essay Des Coches von Montaigne anklingt und den Voltaire später im Ingénu problematisieren wird. In den Dialogues avec un sauvage des Barons La Hontan (1703) dient die Perspektive des ‚Wilden‘ nun dazu, die europäische Zivilisation, das heißt: das Eigene aus der Sicht des Fremden in Frage zu stellen. 94 Die Schrift steht damit am Anfang einer polemischen Tradition, welche die gesamte Aufklärung prägen wird. Dezentriert ist nicht nur der Blick des Autors, dezentriert ist in gewisser Weise auch sein abenteuerliches und unangepasstes Leben, das durchaus romanhafte Züge trägt. 1666 kommt er in Mont-de-Marsan als Sohn einer verarmten adligen Familie zur Welt und entdeckt zwischen 1683 und 1693 als junger Marineoffizier das damals noch französische Kanada. Doch die militärische Laufbahn passt nicht zu seinem Temperament, zumal er offensichtlich die französische Innenpolitik gegen die einheimischen Indianerstämme verurteilt. Nach Reibereien und Verstößen gegen die Disziplin flieht La Hontan 1693 aus Neufundland und führt ein unstetes Leben als intellektueller Abenteurer, auch in diesem Fall einer der ersten eines neuen, typisch aufklärerischen Typus. Er stirbt, europaweit bekannt geworden, 1715 am Hof des Kurfürsten von Hannover. Die genannten Dialogues 95 sind eigentlich ein Supplément zu den Nouveaux Voyages dans l’Amérique Septentrionale (1703), einer Briefsammlung, deren zweiter Teil die Mémoires darstellen. Der volle Titel lautet: Dialogues curieux entre l’Auteur et un Sauvage de bon sens qui a voyagé. Zwei junge Reisende vergewissern sich mithin der Grundlagen ihrer Kultur, und während Reisebriefe und Memoiren eine rechtfertigende Funktion für den scheinbar zu Unrecht der Gesellschaft entfremdeten Autor haben und zugleich das Umfeld der freien Natur beschreiben, aus dem der ‚Wilde‘ stammt, dient das abschließende Supplément zur Legitimierung des fremden Blicks auf das Eigene und die Umkehrung der üblichen missionarischen Perspektive. 96 Die Werte der Väter und der ererbten zivilisatorischen Normen werden so in Frage gestellt. Denn, wie es in der Préface heißt: „J’ai passé les plus 94 Hierzu auch Vf., Le discours du voyageur. Le récit de voyage en France, du Moyen Age au XVIII e siècle Paris, PUF 1996, S. 252-260. 95 La Hontan, Dialogues avec un sauvage, publ. par Maurice Roelens, Paris, Editions Sociales 1973 (Les Classiques du peuple). 96 Hierzu auch Hans-Günter Funke, „Der ‚bekehrte Missionar‘ - Das Motiv des kontroversen Religionsgesprächs in der französischen Reiseutopie der Frühaufklärung“, in: Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk, hrsg. von Hinrich Hudde und Udo Schöning, Heidelberg, Winter 1997, S. 375-397. 30 beaux jours de ma vie avec les Sauvages de l’Amérique [...].“ Die Suche nach dem individuellen natürlichen Glück impliziert das Fremdwerden jener unnatürlichen gesellschaftlichen Welt, die durch den Blick des - freilich nicht mehr naiven, sondern gebildeten - Indianers, eines Huronenhäuptlings, bloßgestellt wird. In polemischer Wendung insbesondere gegen die klassische Tradition der (jesuitischen) Missionsbriefe, die mit dem Ziel der Bekehrung naturgemäß den Blick des Eigenen auf das Fremde thematisieren, begreift La Hontan den Reisebrief als Mittel der Einübung des Anderen, Fremden, um zu schreiben „comme s’il n’avoit ni Patrie, ni Religion“ (Préface). Der Umkehrung der Perspektive entspricht dann die Umkehrung der Reiserichtung: nicht nur des ‚Abendländers‘ zu den ‚Wilden‘, sondern auch des ‚Wilden‘ ins Abendland, das damit in ironischer Weise zum Objekt eines umgedrehten Exotismus wird. Allein die Tatsache, dass La Hontan einen gleichberechtigten philosophischen Dialog inszeniert, in dem sich die Dialogpartner als ‚Bruder‘ anreden, ist kennzeichnend. Dabei übernimmt das Autor-Ich, ein Ich, das nicht erwachsen werden will und sich allen Disziplierungsversuchen entzogen hat, scheinbar die Rolle des Verteidigers der zivilisierten Wertewelt der Väter - ähnlich wie Pierre Bayle sich orthodoxe Haltungen zu eigen macht, um diese am Ende fragwürdig erscheinen zu lassen. Z. B. in Bezug auf die Religion: „Ecoute, mon cher Adario, ton aveuglement est extrême et l’endurcissement de ton coeur te fait rejeter cette foi et ces Ecritures, dont la vérité se découvre aisément lorsqu’on veut un peu se défaire de ses préjugés.“ (S. 87) Ironisch verteidigt der Autor das scheinbar Eigene, um es desto besser relativieren zu können; in der Diskussion steht er insgeheim auf der Verliererseite, und die „préjugés“ und „chimères“, die er dem „système sauvage“ (S. 96) seines Dialogpartners anlastet, fallen in Wirklichkeit auf ihn selbst zurück. Anders als bei Bayle untergräbt nicht die Absurdität der Geschichte dogmatische Gewissheiten, sondern der Naturzustand und das natürliche Denken führen das geschichtlich Gewordene ad absurdum, ganz abgesehen davon, dass Adario die manifesten Widersprüche zwischen Worte und Taten, Religion, Wertsystem und realen Sitte der Europäer anspricht (S. 99). Fazit: „vous autres Français prétendez ... avoir de la foi et vous êtes des incrédules; vous voulez passer pour sages et vous êtes fous, vous vous croyez des gens d’esprit et vous êtes de présomptueux ignorants.“ (S. 100) Dem gespaltenen Bewusstsein der Kolonialherren, ihrem vom „intérêt“ geleiteten Handeln und ihrer ständigen Sucht nach Mehr (Geld, Sexualität, Macht ...) setzt Adario das Ideal ursprünglicher Unschuld und Bedürfnislosigkeit entgegen: „L’innocence de notre vie, l’amour que nous avons pour nos frères, la tranquillité d’âme dont nous jouissons par le mépris de l’intérêt sont trois choses que le Grand Esprit exige de tous les hommes en général. Nous les pratiquons naturellement dans nos villages, pendant que les Européens se déchirent, se volent, se diffament, se tuent dans leurs villes, eux qui, voulant aller au pays des âmes, ne songent jamais à leur créateur que 31 lorsqu’ils en parlent avec les Hurons“. (S. 109) Der Leser der Dialogues wird Zeuge eines allmählichen Rollentauschs, nach dem der Zivilisierte die Überlegenheit des Naturmenschen anerkennen muss. Mit Adario: „Ah! Vivent les Hurons qui, sans lois, sans prisons et sans tortures, passent la vie dans la douceur, dans la tranquillité, et jouissent d’un bonheur inconnu aux Français. Nous vivons simplement sous les lois de l’instinct et de la conduite innocente que la Nature sage nous a imprimés dès le berceau.“ (S. 116) Die Utopie Fontenelles ist in den Worten des ‚Wilden‘ von La Hontan in gewisser Weise Wirklichkeit geworden. 32 III. Montesquieu: Der Briefroman als Medium der Aufklärung und das Versagen der Väter Montesquieu repräsentiert die Frühaufklärung wie Voltaire die Hochaufklärung und Rousseau deren Krise. 1689 in La Brède (bei Bordeaux) als Sohn einer alteingesessenen parlamentsadligen Familie geboren, kauft Charles- Louis de Secondat nach dem Jurastudium das Amt eines Parlamentsrats, heiratet 1710 in eine kalvinistische Familie und wird kurz darauf in die Académie von Bordeaux gewählt. Nach dem Tod des Onkels erhält er die Baronswürde. Kleinere naturwissenschaftliche und historische Arbeiten, darunter wahrscheinlich auch erste Entwürfe zu den Lettres persanes, markieren den Beginn einer intensiven wissenschaftlich schriftstellerischen Tätigkeit nach dem Vorbild der wohlsituierten englischen Dilettanti. Es folgen regelmäßige Reisen nach Paris, wo der nach der Publikation der Lettres persanes 1723 berühmt gewordene Autor im libertinitischen Club de l’Entresol und im Salon der Mme de Lambert verkehrt. Von Fontenelle eingeführt, wird Montesquieu ein Vertrauter des Premierministers, des Herzogs von Bourbon. Nach der Ernennung zum Mitglied der Académie Française macht er sich auf eine ausgedehnte Europareise, weniger Bildungsreise als vergleichende Bestandsaufnahme, und verfasst anschließend - 1731-33 - die Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, das erste große Beispiel wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. 1734 zieht er nach Paris, wo er den Salon der Mme de Tencin frequentiert, später auch den der Mme Deffand. Bereits unter dem Druck drohender Erblindung schreibt er sein großes politologisches Werk, den Esprit des lois, eine historisch vergleichende Systematik der Regierungsformen (1748), die alsbald von der Sorbonne angefeindet und 1751 auf den Index gesetzt wird. Als Mitglied der Société royale des sciences et belles-lettres von Nancy stirbt Montesquieu 1755, ein Jahr nach dem Erscheinen einer erweiterten Auflage der Lettres persanes. Für die eben begründete Encyclopédie konnte er 1753 noch den Essai sur le Goût verfassen. Die Werke Montesquieus korrespondieren miteinander, nicht zuletzt indem sie vorurteilslos den Bruch mit der Tradition einleiten. Die Lettres persanes nehmen bereits den Esprit des lois vorweg, der seinerseits Lehren aus den historischen Arbeiten zieht. Die Reiseberichte ratifizieren die Erkenntnisse des Reisebriefromans. Die Geschichtsschreibung bildet gleichsam ein Kapitel des Esprit des lois, der das wesentliche Stichwort vorgibt: die Suche nach den Gesetzen im doppelten Sinn, denn es geht vor allem um die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Abläufe und der entstandenen Herrschaftsformen. Die Considérations fragen nach den Ursachen für Aufstieg und Niedergang des römischen Reiches, und stellen dabei nicht nur das providentialistische Schema eines Bossuet in Frage, sondern auch den humanis- 33 tischen Kult der sog. großen Männer. Wie der Einzelne sind auch die historischen Gestalten der geschichtlichen Entwicklung unterworfen. Das ganze Werk, schreibt Erich Köhler, „atmet die menschliche Ohnmacht vor dem Schicksal, das sich im unverrückbaren Determinismus aufeinanderfolgender Kreisläufe von Aufstieg, Verfall und Untergang vollzieht“. 97 Und Köhler erinnert einmal an Kap. XV, wo die Entmystifizierung der ehemaligen Heilsgeschichte zugleich durch das Fehlen einer Perspektive erkauft scheint: C’est ici qu’il faut se donner le spectacle des choses humaines. Qu’on voie dans l’histoire de Rome tant de guerres entreprises, tant de sang répandu, tant de peuples détruits, tant de grandes actions, tant de triomphes, tant de politique, de sagesse, de prudence, de constance, de courage! 98 Die gleichsam ohnmächtigen Tugenden stehen am Ende des Klagemonologs. Es ist verständlich, dass die Aufklärer der nächsten Generation, vor allem Voltaire, einem solchen Verzicht auf den Fortschrittsgedanken wenig Sympathie entgegenbrachten. Aber die Considérations sind auch ein historisches Exempel; sie zeigen die Überdehnung des Machtanspruchs und richten sich so auch gegen zeitgenössische, vor allem koloniale Tendenzen. Und sie sind eine Studie der Regierungsformen, Monarchie, Republik, Diktatur, Caesarismus, durch deren vorurteilsfreies Studium das Wesen und die Relativität von Herrschaft und Autorität durchschaubar wird. Im Grunde erreicht die Querelle des Anciens et des Modernes mit den Considérations eine neue Stufe der Auseinandersetzung mit der Autorität der Antike, die nicht nur entmystifiziert wird, sondern in ihren Analogien und Parallelen mit der Moderne auch zum warnenden Beispiel wird. Die Parallelisierung der römischen Republik mit der konstitutionellen englischen Monarchie, diejenige des Zäsarentums mit dem französischen Absolutismus. Stichwörter wie „bigoterie universelle“ und „intolérance“, die auf zeitgenössische religiöse Auseinandersetzungen und die Macht der Kirche verweisen, die Beschreibung von Korruption und Dekadenz, die auch die höfische Gesellschaft trifft, Augustus, der Ludwig XIV. vorwegnimmt und weit davon entfernt ist - wie später bei Voltaire - als der Große verherrlicht zu werden - Montesquieu zeigt, was man aus der Geschichte lernen kann und entzaubert die ‚Väter‘. Er versucht, Strukturen und institutionelle Voraussetzungen durchschaubar zu machen, nicht Geschichte zu erzählen, und die innere Logik der Ereignisse aus diesen Voraussetzungen abzuleiten. Das je Besondere ist immer dem Allgemeinen untergeordnet und unabhängig von den einzelnen Personen. „Si César et Pompée avaient pensé comme Caton“, schreibt er 97 Erich Köhler, Frühaufklärung, hrsg. von Dietmar Rieger, Stuttgart u. a., Kohlhammer 1983, S. 47. 98 Montesquieu, Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, éd. par Jean Ehrard, Paris, Garnier-Flammarion 1968, S. 119. 34 in Kap. IX, „d’autres auraient pensé comme firent César et Pompée, et la République, destinée à périr, aurait été entraînée au précipice par une autre main.“ (S. 94) D. h., das weltgeschichtliche Personal ist austauschbar und tritt hinter den Gesetzen zurück. Und nicht Zufälle, sondern eben die Gesetzmäßigkeit regiert den Lauf der Dinge: Ce n’est pas la Fortune qui domine le Monde. [...] Il y a des causes générales, soit morales, soit physiques, qui agissent dans chaque monarchie, l’élèvent, la maintiennent, ou la précipitent; tous les accidents sont soumis à des causes [...]. En un mot, l’allure principale entraîne avec elle tous les accidents particuliers. (XVIII, S. 145). Zur Darstellung dieser „causes morales“ greift der Autor auf den Stil der Moralistik zurück, den Voltaire ihm als „style bizarre“ zum Vorwurf gemacht hat. Die Gesetzmäßigkeit artikuliert sich in knappen Sätzen und Kapiteln exemplarischen Charakters, die vorzugsweise in Form von Maximen zusammengefasst werden. Es geht um die Durchschaubarkeit von Geschichte in klassisch gültiger Form. In den Reiseberichten interessiert sich Montesquieu nicht für Bauwerke, Sehenswürdigkeiten oder Landschaften, sondern für die jeweilige Regierungsform, ihren Bezug zu den geographischen Gegebenheiten und den Grad der persönlichen Freiheit. De l’Esprit des Lois 99 ist die wissenschaftliche Umsetzung dieses Programms, die Frage nach den Möglichkeiten der Emanzipation. In Buch XI lautet die Antwort auf diese Frage, „Ce que c’est que la liberté“. La liberté est le droit de faire tout ce que les lois permettent“ (I, S. 167). Von daher die Notwendigkeit, die Gesetzmäßigkeit der Gesetze, d. h. der sie konstituierenden Herrschaftsformen zu untersuchen. Deren Voraussetzung wiederum ist die Einsicht in die menschliche Natur und die Gesetze des Zusammenlebens: „Je n’ai point tiré mes principes de mes préjugés, mais de la nature des choses“, heißt es in der Préface, und weiter: „J’appelle ici préjugés, non pas ce qui fait qu’on ignore de certaines choses, mais ce qui fait qu’on s’ignore soi-même.“ (S. 6) Selbsterkenntnis ist unabtrennbar von dem Wissen um die „rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses“, wie es der einleitende Satz umschreibt: Die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens sind nur ein Teil einer allgemeinen, den gesamten Kosmos umschließenden Gesetzmäßigkeit, weshalb die gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen und vor allem die Gesellschaftsbildung selbst als „lois de la Nature“ (S. 10) begriffen werden. Auf ihnen bauen die „lois positives“ auf, die den speziellen Gegebenheiten Rechnung tragen. Hat der Autor bis dahin universalistisch, kartesianisch argumentiert, so kommt jetzt der dezentrierte Ansatz zum Tragen. Ein wesentliches Erklärungsmodell ist 99 Montesquieu, De l’Esprit des Lois, éd. par Robert Derathé, Paris 1973 (Les Classiques Garnier), 2 Bde. 35 die sog. Klimatheorie, die Montesquieu von Aristoteles, Bodin u. a. übernimmt: die Vorstellung wonach die Gesetze „relatives au physique du pays“ sind und Lebensformen, Sitten, Erwerbsformen usw. aus diesen speziellen Voraussetzungen ergeben. Weitergehend gründen darauf die drei wesentlichen Herrschaftsmodelle: Republik, Monarchie, Despotie, denen verschiedene Mentalitäten (vertu, honneur und Furcht) und verschiedene Entartungstendenzen zugeordnet werden. Doch wenn es um den Grad der Freiheit geht, kann das Ziel nicht nur in dem Aufweis einer Systematik liegen. Eigentliches Ziel muss sein, vor Gefahren zu warnen und tragfähige Modelle des sozialen Ausgleichs zu erarbeiten, in denen sich gerechte Gesetze gegen historisch-klimatische Gesetzmäßigkeiten durchsetzen. Erich Köhler 100 hat in dieser Polarität zwischen vergleichender wissenschaftlicher Analyse und in die Zukunft weisendem Ideal einen - fruchtbaren und historisch notwendigen - Grundwiderspruch der frühen Aufklärung gesehen, in der es um beides gehen musste: die gesetzmäßige Analyse des Bestehenden in einem neuen, globalen Maßstab, der alle Epochen und Kulturen einbezieht, und der Erarbeitung eines tragfähigen Modells der Zukunft, das auf die Utopie verzichtet. Mit seiner Lehre der Gewaltentrennung (Exekutive - Jurisdiktion - Legislative) ist Montesquieu bekanntlich der Begründer des Demokratiegedankens geworden, den er selbst in der konstitutionellen Monarchie (nach englischem Vorbild) am besten gewährleistet sieht. Die Kritik am Absolutismus basiert auf dem Grundgedanken des Gleichgewichts und der Toleranz. All dies ist in den Lettres persanes gedanklich vorweggenommen, doch nicht logisch entwickelt, sondern in den philosophischen Dialog der Frühaufklärung zurückübersetzt. Unter dem Stichwort „révolution sociologique“ hat Roger Caillois 101 einen Topos der Montesquieu-Kritik wiederaufgenommen, wonach der Autor eigentlich nur ein einziges Buch in Varianten verfaßt habe. Abgesehen von den inhaltlichen Leitmotiven wie individuelle Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend- und Glückssuche und Abwehr von Tyrannei gehe es nämlich immer um einen soziologischen Blick, „la démarche de l’esprit qui consiste à se feindre étranger à la société où l’on vit, à la regarder du dehors et comme si on la voyait pour la première fois.“ 102 Denn Montesquieu hat den fremden Blick mittels der Briefromanfiktion in verschiedene Blicke/ Stimmen aufgespalten und die kritische Perspektive auf diese Weise zusätzlich relativiert, ganz abgesehen davon, dass die Romanhandlung einen dynamischen Erkenntnisprozess nahelegt, den die systematisierende Diskursivität der Abhandlungen nicht abbilden kann noch will. So gesehen sind 100 E. Köhler, Frühaufklärung, S. 42. 101 Montesquieu, Œuvres complètes, éd. par Roger Caillois, Paris, Gallimard 1949 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. I, S. V. 102 Ebd. 36 die Lettres persanes keine bloße Vorstufe, sondern gehen sogar über das spätere Werk noch hinaus, da sie eine hermeneutische Problematisierung von Geschichtsschreibung und Soziologie in der experimentellen Umsetzung des abstrakten Erkenntnispotentials in individualisierte, lebensweltlich konkretisierte Zusammenhänge darstellen. Anders als der wissenschaftliche Diskurs führen sie die Bedingungen des Erkennens vor, welche die sukzessive Anpassung und Adjustierung des eigenen Weltbilds und Selbstkritik (einschließlich des Scheiterns) einschließt und diesen dynamischen Vorgang gleichsam vervielfältigt. Aufklärerisches Denken wird so im wörtlichen Sinn zum Prozess der ,Aufklärung‘ und erscheint als multiperspektivischer, implizit dialektischer Prozess in einem Konzert subjektiver Brechungen. Der Brief ersetzt hier das direkte Gespräch, während der wissenschaftliche Blick durch den Blick von außen ersetzt wird. Zwischen 1721 und 1754 rahmt der mehrfach überarbeitete Briefroman so in gewisser Weise das Gesamtwerk des Autors. Er inauguriert die Entwicklung der Gattung, ohne deren spätere psychologische Tendenz selbst vorzugeben. Er ist Diskussion um Aufklärung, indem er selbst den dialogischen und relativierenden Geist der Aufklärung vertritt. Er thematisiert die sich überkreuzenden Blicke auf das Eigene und das Fremde. Und er spiegelt die angesprochenen Probleme im Wesentlichen in der Perspektive zweiter Protagonisten, die symbolisch jenen Generationsabstand zeigen, der in der Zweiteilung des historischen Hintergrunds des späten Zeitalters Ludwigs XIV. und der Régence seine Entsprechung hat. Der Prozess der Aufklärung aber gipfelt am Ende im Versagen des VA- TERS. Das Erscheinen der Lettres persanes 103 1721, der fiktiven Reisebriefe zweier persischer Edelleute, Usbek und Rica, in Frankreich, deren geistiges Abenteuer in dem Fiasko einer Haremsrevolte endet, stellt ein ,Medienereignis‘ der französischen Frühaufklärung dar. In themen-, ideologie-, gattungs- und stilgeschichtlicher Hinsicht steht der als Jugendwerk begonnene und als Alterswerk beendete Roman des libertinistischen Autors im Kreuzungspunkt der Entwicklung, gibt den Anstoß zu einer eigenen Tradition des Briefromans 104 , ist das Vorbild für eine ganze Reihe von Werken, die das Schema des dezentrierten fremden Blicks auf die europäische Wirklichkeit und das Eigene übernehmen 105 , und und stellt ein Modell in der Vermittlung 103 Zitate nach der Edition von Laurent Versini, Paris, Garnier-Flammarion 1995. Ich übernehme in der Folge Teile meines Beitrags in: 18. Jahrhundert. Roman, hrsg. von Dietmar Rieger, Tübingen, Stauffenburg 2000, S. 41-84. Standardmonographie ist noch immer die Arbeit von Charles Dédéyan, Montesquieu ou l’alibi persan, Paris, SEDES 1988. 104 Vgl. Pierre Testud, „Les lettres persanes, roman épistolaire“, in: Revue d’histoire littéraire de la France 60 (1966), S. 642-656. 105 Hierzu Winfried Weishaupt, Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der „Lettres persanes“ in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/ M./ Bern/ Las Vegas, Peter Lang 1979. 37 von Diskursivität und Fiktionalität durch die Ästhetisierung aufklärerischer Tabukritik 106 dar. Der Erfolg des aus naheliegenden Zensurgründen 107 in Amsterdam unter einem Pseudonym veröffentlichten Werkes im In- und Ausland war ungewöhnlich, und noch im selben Jahr 1721 wurde eine leicht veränderte, z. T. gekürzte und z. T. ergänzte Auflage ,nachgeschoben‘, deren Status übrigens in der Forschung noch immer umstritten ist. Montesquieu war sich seiner Originalität offensichtlich bewusst. Angesichts der zahlreichen Nachahmungen 108 und Plagiate betont er in der späteren Vorrede, dass die Briefe „ne sont susceptibles d’aucune suite, encore moins d’aucun mélange avec des lettres écrites d’une autre main“ (S. 34). Montesquieu folgt noch nicht der im Aufstieg begriffenen Mode des Aufsteiger- und Erziehungsromans, sondern benützt die ältere Formel des Reiseberichts (in Briefen) bzw. des Reiseromans, um einen fast unmerklichen Anpassungs- und ,Erziehungs‘-Prozess vorzuführen. Die beiden persischen Protagonisten, die aus einem durch und durch traditional geprägten, hochgradig normierten und konventionalisierten Umfeld in das sich ständig verändernde ,Chaos‘ der westlichen Welt verpflanzt werden, erleben das Abenteuer des Reisens auch als existentielle Herausforderung, das heißt als ,Aufklärung‘ im wörtlichen Sinn. Die Personen reagieren mit unterschiedlicher Intensität und Bereitwilligkeit, aber grundsätzlich in ähnlicher Weise auf das neue Umfeld, das heißt, sie führen ,Aufklärung‘ als individuellen 106 Vgl. Jean Ehrard, „La signification politique des Lettres persanes“, in: Archives des lettres modernes 116 (1970), S. 33-50, Jean-Marie Goulemot, „Questions sur la signification politique des Lettres persanes“, in: Approches des Lumières. Mélanges offerts à Jean Fabre, Paris, Presses Universitaires de France 1974, S. 213-224, Georges Benrekassa, „Le parcours idéologique des Lettres persanes“, in: Europe 574 (1977), S. 60-79. 107 Hierzu die grundlegende Arbeit von Edgar Mass, Literatur und Zensur in der frühen Aufklärung. Produktion, Distribution und Rezeption der „Lettres persanes“, Frankfurt/ M., Klostermann 1981. 108 Tatsächlich verlaufen weitere Auflagen, eine Flut von Übersetzungen und in- und ausländischen Nachahmungen parallel. In England wurden bis 1762 vier Auflagen der Übersetzung und eine Nachahmung verzeichnet. Friedrich II. soll nach dem Muster eine Relation de Phihihu, émissaire de l’Empereur de la Chine en Europe (1760), verfasst haben; in Spanien erschien noch 1793 der Gegenentwurf der Cartas marruecas von José Cadalso. In Frankreich selbst begründeten die Lettres persanes eine regelrechte Nachahmungswelle: Les Lettres chinoises (1735) des Marquis d’Argens, Les Lettres d’une Péruvienne (1747) von Mme de Grafigny, Lettres siamoises (1751) von Landon, Lettres iroquoises (1752) von Maubert de Gouvert, Lettres d’Amabad (1769) von Voltaire, Lettres d’une Turque à Paris (1780) von Saint-Foix usw. Die Liste reicht bis zu den Lettres tahitiennes (1784) von Mme de Monbart. Zehn Auflagen belegen nicht nur den Erfolg des offiziell verbotenen Romans, der zwischen 1721 und der endgültigen, postum publizierten Ausgabe von 1758 (die den heute üblichen Texten zugrundeliegt), sie zeugen auch von dem Bemühen des Autors, das Werk weiter zu überarbeiten und zu ergänzen. 1754 fügte Montesquieu den Lettres persanes z. B. weitere eigene Briefe hinzu, die sein Freund Saint-Hyacinthe 1745 unter dem Titel Le Fantasque veröffentlicht hatte, aber erst in der endgültigen Ausgabe ist dieses sog. „Supplément“ in den Text integriert. 38 Prozess vor und legitimieren damit die Gattung Roman, die allein imstande ist, diesen Vorgang nachvollziehbar zu machen, mithin selbst wieder erzieherische Funktion zu übernehmen. Während aber der jüngere Rica kaum Probleme hat - „Mon esprit perd insensiblement tout ce qui lui reste d’asiatique, et se plie sans effort aux mœurs européennes.“ (Brief LXIII, S. 139) -, bleibt der ältere Usbek nicht von Identitätskrisen verschont (Brief XXVII); das Ablegen der persischen Tracht (Brief XXX) bezeichnet freilich auch für ihn einen ersten Schritt zur Bejahung der abendländischen ,modischen‘ Kleidung und der in ihr zum Ausdruck kommenden Geschichtlichkeit, die mit dem Bewusstsein der Aufklärung untrennbar verbunden ist. Gegen Ende des Romans und bevor der Held ironischerweise in dem Haremsskandal auf eine voraufgeklärte Stufe des Bewusstseins zurückfällt, wird er diesen Prozess fast ohne Einschränkung bejahen. Der Roman macht die Überwindung der „orgueilleuse ignorance“ (Brief CXLV, S. 296) und die Einübung der aufklärerischen Fortschrittsperspektive Schritt für Schritt plausibel. Wie der orientalische Briefpartner Rhédi, inzwischen selbst in Venedig angekommen, an Usbek schreibt: [...] je serais charmé de vivre dans une ville où mon esprit se forme tous les jours. Je m’instruis des secrets du commerce, des intérêts des princes, de la forme de leur gouvernement; [...] je m’applique à la médecine, à la physique, à l’astronomie; j’étudie les arts; enfin je sors des nuages qui couvraient mes yeux dans le pays de ma naissance. (Brief XXXI, S. 88) Die angedeutete emphatische Metapher des Heraustretens aus den „Wolken“ der Unmündigkeit findet ihre prägnante Fortsetzung in Usbeks Aufforderung: „Car, enfin, défaites-vous des préjugés.“ (Brief XXXIV, S. 92), und kann mit dem Leitverb „réfléchir“ zusammengefasst werden: „As-tu bien réfléchi à l’état barbare et malheureux où nous entraînerait la perte des arts? “ schreibt Usbek an denselben Rhédi, der ungeachtet seiner Faszination für die westliche Moderne nostalgisch „la naïveté des anciens temps et la tranquillité qui régnait dans le cœur des nos premiers pères“ (Brief CV, S. 211) beschwört. Das Epitheton „barbare“, anfangs noch für das Abendland gebraucht, ist so beinahe zum Synonym für den fehlenden Progress der orientalischen Gesellschaften geworden. Montesquieu hat selbst rückblickend, in der Vorrede von 1754, diesen mehrperspektivischen hermeneutischen Vorgang 109 ungewöhnlich stark betont. „Il est prié de faire attention que tout l’agrément consistait dans le contraste éternel entre les choses réelles et la manière singulière, naïve ou bizarre, dont elles étaient aperçues.“ (S. 35) Die Initiation der orientalischen Reisenden in europäische, besonders französische Verhältnisse führt nicht nur zu 109 Vgl. Pauline Kra, „Multiplicity of voice in the Lettres persanes“, in: Revue belge de philologie et d’histoire 70/ 3 (1992), S. 694-705. 39 wachsender Vertrautheit mit diesen, das heißt, dem Abbau des fremden Blicks, sondern umgekehrt ansatzweise auch zu einem fremden Blick auf die eigene orientalische Kultur und führt auf diese Weise ein Grundmodell aufklärerischer Reflexion auf das Eigene vor. Jenseits des ersten naiven „sentiment de surprise et d’étonnement“ (S. 34), das sich natürlich trefflich für aufklärerisch-satirische oder auch nur komische Effekte instrumentalisieren ließ, zielt der Vorgang der Akklimatisierung und Eingewöhnung also nicht allein auf die Überwindung von Vorurteilen (préjugés), sondern auch auf die Entwicklung eines kritischen Selbstbewusstseins und trägt insofern der eingangs zitierten Definition im Esprit des Lois Rechnung. Reisen dient der Überwindung von Vorurteilen - dieser übliche Rechtfertigungstopos des Aufklärungszeitalters wird also gerade nicht einsinnig umgesetzt, sondern vertieft und problematisiert. Frederick M. Keener 110 sieht denn auch die Lettres persanes als Beginn einer weniger formal als methodisch definierten Gattungstradition des philosophical tale. Danach bilden der Montesquieusche Roman und der nur wenig später erschienene Swiftsche Roman Gulliver’s Travels (1726) die „actual harbingers“ der „major philosophical fictions“ 111 , deren Höhepunkt die - beide 1759 publizierten - Werke Voltaires und Johnsons, Candide und Rasselas, darstellen. Ein philosophical tale ist Keener zufolge nämlich nicht nur durch die kritische Befragung von Gegenständen, sondern vor allem durch die erkenntnistheoretische Tendenz gekennzeichnet, „a permanently double view of the hero and, through him, of his world“ 112 zu fördern. Weniger die Überwindung von Vorurteilen als die mit diesem Vorgang verbundenen Probleme wären dann das eigentliche Thema der Lettres persanes, deren orientalische Einkleidung eher instrumentelle Funktion als genuin kulturgeschichtliche Gründe hätte. Zu diesem „doppelten Blick“ gehört Einführung eines ‚doppelten‘ Helden: Die beiden persischen Reisenden, der junge anpassungsfreudige Rica und der ältere, wesentlich stärker in der Tradition verwurzelte Usbek, illustrieren - über den fremden Blick hinaus - den Unterschied der Generationen und die unterschiedliche Fähigkeit der Sohn- und der Vaterfigur, auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren. Es ist dabei bezeichnend, dass sich die eigentlich romaneske Handlung des Briefromans um die Vaterfigur bzw. das autoritative Wort des ‚Vaters‘ 113 entwickelt und die Lettres persanes zu einer Tragödie der väterlichen Autorität macht. 110 Frederick M. Keener, The Chain of Being. The Philosophical Tale, the Novel and the Neglected Realism of Enlightenment: Swift, Montesquieu, Voltaire, Johnson and Austen, New York, Columbia University Press 1983. 111 Ebd., S. 4. 112 Ebd., S. 85. 113 Vgl. G. J. Mallison, „Usbek, Language and Power: Image of Authority in Montesquieu’s Lettres persanes“, in: French Forum 18 (1993), S. 23-36. 40 Die rudimentäre ,Handlung‘, die zwischen 1711 und 1720 spielt, umfasst in der heutigen Fassung 161 Briefe, die sich in drei sehr unterschiedlich große Gruppen gliedern lassen. Teil 1, Briefe I bis XXII; entstehen auf der Reise des älteren Hochadligen Usbek, der auf der Flucht vor den Intrigen am persischen Hof seinen heimatlichen Harem verlassen hat; der jüngere Rica begleitet ihn. Die Reise dauert ein Jahr, führt über Armenien und Smyrna nach Livorno; die Briefe richten sich an Freunde, an die Haremsvorsteher und die Frauen. Von beschreibenden Reisebriefen kann bis dahin keine Rede sein. Das ändert sich erst mit der Ankunft in Europa. Von jetzt an stehen nach den ersten Eindrücken die Sitten und Verhältnisse in Frankreich und Europa im Vordergrund, ohne dass eine Hintergrundhandlung die Reihe der Beobachtungen und Reflexionen ,auflockert‘. Von der Ankunft in Paris (Brief XXIII) bis Brief CLV sorgen nur die gelegentlichen Nachrichten aus der Heimat und vor allem aus dem Harem für eine leise Spannung. Es handelt sich insofern um ,persische‘ Briefe, als die Schreibenden fast ausschließlich persischer Herkunft sind; das orientalische Kolorit wird durch die persischen Monatsnamen (aber mit westlichen Jahreszahlen) unterstrichen. Die meisten Briefe werden zwischen den getrennt wohnenden Protagonisten ausgetauscht, aber auch unter anderen und mit anderen Personen, einem Freund Ricas und Usbeks in Smyrna, Ibben, Usbeks Freund Rhédi in Venedig, Usbeks Freund Rustan in Isfahan, Usbeks Bruder und seinem Vetter, beide im Kloster. Der persische Gesandte Nargum schreibt zweimal aus Moskau; einmal schreibt Usbek an den Hüter der heiligen Stätten in Kom. Der Adressat mancher Briefe Ricas bleibt offen. Immerhin läßt die geringe Zahl der in die Korrespondenz involvierten Personen die Künstlichkeit der meist wenig persönlichen Nachrichten weniger anstößig erscheinen. In diese immer vertrauter werdende Welt, in der die Fremdheit kaum mehr als solche empfunden wird, platzt im September 1717 (Brief CXLVII) die Nachricht vom Aufruhr im Harem Usbeks. In einer Serie sich überstürzender Briefe wird der Zusammenbruch der heimatlichen Ordnung beschrieben. Usbek ist diesem Erlebnis nicht gewachsen, das ihn selbst und seine scheinbar aufgeklärte Weltsicht in Frage stellt: „Que sera-ce enfin, s’il faut que des châtiments que je prononcerai moimême soient des marques éternelles de ma confusion et de mon désespoir? “ (Brief CLV, S. 305) Dieser Brief vom Oktober scheint freilich noch in Unkenntnis der Katastrophe verfaßt, dem Freitod der Lieblingsfrau Roxane, die sterbend gesteht, Usbek bewusst betrogen zu haben. Die Bedeutung der Lettres persanes als erstem mehrstimmigen, polyphonen Briefroman hat erstmals Jean Rousset in einem kurzen formaltypologischen Überblick über die Gattung des „roman par (en) lettres“ herausgestellt. 114 Letztere erscheint als die eigentlich adäquate und charakteristische 114 Jean Rousset, „Une forme littéraire: le roman par lettres“, in: ders., Forme et signification. Essai sur la structure littéraire de Corneille à Claudel, Paris, Corti 1962, S. 65-103. Vgl. auch 41 Form der europäischen Aufklärung, gleichsam die emanzipatorische Gattung par excellence, 115 und bleibt ungeachtet einer Reihe von Beispielen aus dem 19. und 20. Jahrhundert gattungsgeschichtlich auf diese Epoche beschränkt. Offensichtlich entspricht sie dem dialogischen Denken des „esprit philosophique“ ebenso wie der neuen Funktion der Subjektivität und den damit verbundenen Modalitäten wie Aufrichtigkeit und Verstellung, Unmittelbarkeit, Intimität und Hypokrisie, die im Rahmen der sensibilité-Debatte die zentralen Register im Romandiskurs der Aufklärung bilden. Im Gegensatz zum auktorialen Roman besonders des 19. Jahrhunderts wendet sich der Briefroman nicht an den Leser, sondern wählt einen Rezeptionsmodus, der die rezeptionsästhetische ,Wende‘ und Abkehr von der produktionsästhetischen Normenästhetik seit Jean-Baptiste Dubos’ wegweisender ästhetischer Schrift, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719, erweitert 1770) gleichsam romanintern spiegelt. Der Briefroman erlaubt dem Autor, sich hinter den Briefpartnern zu verbergen und diesen die volle Verantwortung, aber auch die volle Autonomie zuzuschieben, und dient so als Medium par excellence indirekter aufklärerischer Kritik. Nicht der Autor oder Erzähler beschreibt seine Personen, vielmehr charakterisieren diese sich selbst. Nicht der Autor- Erzähler bestimmt über die Menge an Information und Vorwissen des Lesers, sondern die einzelnen Briefeschreiber, wobei die reale Chronologie von Versand und Empfang und die schiere Materialität der Transportwege und -probleme eine entscheidende Rolle spielen können. Montesquieu wird diesem Umstand z. B. am Ende des Romans gerade dadurch Rechnung tragen, dass er die Dramatik der sich überstürzenden Ereignisse in ein umgekehrtes Verhältnis zu den langen Postwegen stellt. Weiter steht nicht ein einzelner Protagonist/ eine einzelne Protagonistin im Vordergrund, sondern gewöhnlich rivalisieren zwei und mehr Schreibende um die Aufmerksamkeit des Lesers. Keine geradlinige ,Handlung‘ wird ,erzählt‘, vielmehr verständigen sich die Briefeschreiber über das jeweils Erlebte, Gehörte, Gelesene oder Gedachte: Die faktische Realität erscheint in vielstimmiger subjektiver Brechung; weniger die Handlung selbst als die Reflexion und die Reflexion über die Ereignisse bilden mithin die Handlung und bestimmen den reflexiven, sei es sentimentalen, sei es intellektuellen Duktus der Gattung; nicht die eindeutige Narration, sondern der lückenhafte, immer scheinbar zufällige und ergänzungsbedürftige Kommentar prägt die Studien von Roger Laufer, „La réussite romanesque de la signification des Lettres persanes de Montesquieu“, in: Revue d’histoire littéraire de la France 61 (1961), S. 188-203, und Roger Mercier, „Le roman dans les Lettres Persanes. Structure et signification“, in: Revue des Sciences humaines 107 (1962), S. 345-356. 115 Vgl. jetzt auch Anne Chamayou, L’Esprit de la lettre (XVIII e siècle), Paris, Presses Universitaires de France 1999 (Perspectives littéraires). 42 die Dialektik von Denken und Handeln, die aus der heutigen Sicht die ,Originalität‘ des aufklärerischen Briefromans ausmacht. Montesquieus Verdienst besteht darin, dass er diese narratologischen Möglichkeiten der Epistolarform erstmals erkannt oder besser: gefunden hat. Zugänglich war ihm nämlich nur eine unterbrochene, schon fast erschöpfte Tradition. Die Form des einsträngigen Briefromans (mit noch rudimentären romanhaften Zügen) - Vorbilder waren wohl die Epistolartradition der höfischen Salons und auch die Konvention der Reisebriefe - entstand schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das erste Beispiel sind die Lettres portugaises (1669), wahrscheinlich von Gabriel-Joseph Guilleragues, den man lange für den Übersetzer angeblich authentischer Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne hielt, doch Nachahmungen blieben spärlich und waren zunächst auf das späte 17. Jahrhundert beschränkt. Für Montesquieu jedoch erweist sie sich als ideales Medium des „esprit philosophique“ bzw. seiner relativistisch-pluralen Weltsicht. Aufklärung wird zum autonomen Drama und reflexiven Prozess, dessen Variationen von den Erlebenden selbst beschrieben werden. Man kann freilich kaum sagen, dass die Lettres persanes die neuen Möglichkeiten der Gattung Briefroman ausgeschöpft hätten. Insofern wäre den immer emphatischeren Stellungnahmen der neueren Montesquieu-Kritik mit einer leichten Skepsis zu begegnen. Montesquieu erfindet, was Jean Rousset die polyphone Struktur genannt hat, aber er spielt deren potentielle interaktionelle Dramatik nicht aus, ja er sieht vielleicht deren Möglichkeiten überhaupt nicht. An die Stelle der Interaktion und Dialektik tritt die bloße Vielzahl der Stimmen, die der Relativierung der Perspektive dient, in psychologischer Hinsicht aber defizient bleibt. Eine Reihe von Briefen sind ohne erkennbare Vernetzung gleichsam ,freischwebend‘, und nicht zufällig konnte Montesquieu immer wieder ergänzen, umgruppieren oder reduzieren, ohne dass sich daraus nennenswerte Konsequenzen ergaben. Von dem späteren Ideal des organischen Kunstwerks ist der Roman daher noch weit entfernt. Vor allem die für die Brieffiktion „konstitutive Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit“ wird nicht genützt, um einen „Innenraum seelischer Erfahrungen“ zu eröffnen. 116 Und vor allem ist die eigentlich zentrale Dialektik von Rede und Gegenrede von wenigen Ausnahmen abgesehen kaum entwickelt, und da, wo sie stattfindet, ist sie meist rein didaktisch als Abfolge von These und Gegenthese, Frage und Antwort wissenschaftlich und inhaltlich, nicht wirklich psychologisch motiviert. Erst in den dramatisch sich überstürzenden Haremsbriefen (in denen die Dauer von drei Jahren künstlich zusammengedrängt erscheint), wird am Ende etwas von der Potentialität der Gattung Briefroman spürbar, während der Leser bis dahin 116 Christoph Miething, „Die Erkenntnisstruktur in Montesquieus Lettres persanes“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 223 (1986), S. 64-81. 43 nicht selten das Gefühl hat, moralistische Beobachtungen und grundsätzliche aufklärerische Erörterungen in Briefform vor sich zu haben - eine Art ,epistolarisierten‘ La Bruyère. Wenn Montesquieu also - später entdeckte - Möglichkeiten des psychologischen Briefromans noch nicht ausschöpfte oder ausschöpfen wollte, so stehen offensichtlich andere Aspekte im Vordergrund. Da ist natürlich einmal die klassische Epistolartradition, die der Mischung aus Ernst und Scherz, Tragik und Ironie, pathetisch-orientalischem Stil und lockerem Pariser badinage besonders entgegenkommt. Dédéyan hat betont, wie sehr der neue kurze und treffsichere Satzstil der Lettres persanes, der die ältere klassischoratorische und erudite Tradition ablöst, für die kommenden Generationen der philosophes vorbildlich gewesen ist. Montesquieu inauguriert damit eine neue, betont junge Ästhetik der ,lockeren Kost‘, durch welche die transportierten aufklärerischen Werke und aufklärerisches Bewusstsein zum Massenerlebnis gebildeter Leserschichten werden und umgekehrt wieder in die Alltagskonversation eindringen konnten. Die epistolar geprägte Aufklärung in kaum verhüllt fiktionaler, praxisnaher Gestalt überführt die gelehrte Frühaufklärung eines Pierre Bayle oder eines Fontenelle in alltägliches ,Sprechhandeln‘. Nicht zufällig erwies sich Montesquieu in den ,Nachwehen‘ der Querelle des anciens et des modernes als Anhänger der modernes und überzog die Anhänger des anciens und der Antike (vgl. die Briefe CXXVIII und CXLII) mit schonungslosem Spott. Weitergehend ersetzt Montesquieu die fehlende psychologische Vernetzung der Briefe durch eine Technik der kurzweiligen Mischung, Variation und Konstrastierung sich wiederholender, ständig abgewandelter und sich überkreuzender Muster, Stile und Themen. So distanziert sich die Vorrede von 1754 charakteristischerweise von den „romans ordinaires“ (S. 33), da nur „la forme de lettres“ jene scheinbar zwanglose Mischung von „philosophie“, „politique“ und „morale“ erlaube, die sonst als lästige „digression“ (S. 34) empfunden werde. Man möchte von einer essentiell digressiven Ästhetik sprechen, die in der Form der eingestreuten Erzählungen und Exempla auch die ältere barocke Tradition des roman à tiroirs zwanglos integriert. Im Sinne von Roger Laufer hat die Kritik für diese antiklassische Form eines „tapis volant“ 117 auch den Rokoko-Begriff herangezogen. Mit dem klassischen Stil und dem klassischen Homogeneitätsprinzip wird auch der Universalismusanspruch der klassischen Episteme aufgegeben, deren Historisierung die Relativierung und Diversifizierung einschließt. Die polyphone Technik dient so bei Montesquieu dazu, eine in verschiedene Blickwinkel und Traditionen zerfallene Welt, die offene ‚unverbürgte‘ Wirklichkeit und die Relativität der sich jeder Autorität entziehenden Meinungen zu zeigen. 117 Roger Laufer, Style rococo, style des lumières, Paris, Corti 1963. 44 Eine solche offene Perspektivierung hat also weitgehende ideologische Konsequenzen und stellt ein per se dekonstruierendes Verfahren dar. Die von Montesquieu gewählte Form dient dem Aufweis einer systematisch und ideologisch nicht einholbaren Vielstimmigkeit. Indem diese essentiell gleichberechtigte Stimmen zu Wort kommen lässt, ebnet sie formaliter jede soziale Hierarchie ein. Für die Dauer des Briefes gilt die Stimme des Eunuchen so viel wie die des Herrn, die einer Haremsdame so viel wie die eines Kauzes der Pariser Kulturszene. Montesquieu reizt das Verfahren noch nicht aus, er deutet eine gewisse Ordnung noch an, aber der entscheidende Schritt vom auktorial moralisierenden zum offenen, vielstimmigen Erzählen und damit zur Überwindung der alten Ordnung ist getan. Die Systemtheorie Luhmanns 118 postuliert bekanntlich die Entstehung moderner Gesellschaften als Übergang von einer statischen, vertikal-stratifikatorischen, das heißt hierarchischen Sozialordnung (und dem dazu gehörenden Denksystem) zu einer dynamischen, funktionsteiligen und horizontalen Ordnung der sich ausgliedernden Teilsysteme. Die Lettres persanes scheinen mit ihrer horizontal vernetzenden, alle Hierarchien einebnenden Tendenz diesen Vorgang der beginnenden „funktionalen Differenzierung“ paradigmatisch anzudeuten und vorwegzunehmen. An die Stelle der Hierarchie und der Tradition tritt nämlich die Formel „chercher la nature“ (Brief CXXXVII, S. 269), die gegen alle Formen des désordre durchgespielt wird. Aber gerade dieses genuin aufklärerische Verfahren führt zu dem, was wir heute als „offene Form“ von herkömmlich narrativen Romanen absetzen würden. Montesquieu selbst war sich des Wagnisses offensichtlich bewusst. Während er in der ursprünglichen Introduction noch - durchaus im Stil des frühen 18. Jahrhunderts - die Fiktion des Übersetzers und Herausgebers eines realen Briefwechsels pflegt - „Je ne fais donc que l’office de traducteur“ (S. 38) -, setzt er sich in der Vorrede der Ausgabe von 1754, „Quelques réflexions sur les Lettres persanes“, erstmals mit dem Romanbegriff auseinander. Er gibt zu, dass sein Werk als „une espèce de roman“ (S. 33) rezipiert worden sei, und macht zugleich den Unterschied zu den „romans ordinaires“ deutlich, deren Handlungszentriertheit Abschweifungen nur dann vertrügen, „lorsqu’elles formen elles-mêmes un nouveau roman“ (S. 33). Die spätere Vorrede ist natürlich ein wichtiges Zeugnis für die inzwischen erfolgte Emanzipation der Gattung Roman. Von besonderer Bedeutung ist aber die nachfolgende Rechtfertigung für die besondere Struktur der Lettres persanes, die sozusagen nur aus Digressionen bestehen. Der Autor sieht die Berechtigung seines Vorgehens eben darin, dass er keine feste Struktur vor Augen hatte - „les sujets qu’on traite ne sont dépendants d’aucun dessein ou d’aucun plan déjà formé“ -, sondern seinen 118 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 3 Bde., Frankfurt/ M., Suhrkamp 1980-1989, Bd.I, Kap. V. 45 ‚Roman‘ mit aufklärerischer Philosophie verbinden konnte - „ de pouvoir joindre de la philosophie, de la politique et de la morale à un roman“. (S. 34) Und dann folgt die Formel, die in der Montesquieu-Literatur viel Tinte fließen ließ und doch wohl nicht auf eine irgendwie geartete thematische Einheit 119 zielt, sondern im Gegenteil nur eine einheitliche emanzipatorisch aufklärerische Konzeption meint: „de lier le tout par une chaîne secrète et, en quelque façon, inconnue“ (S. 34). Das der Naturphilosophie entnommene Bild der Kette, das im aufklärerischen Schrifttum immer wieder das Bemühen spiegelt, scheinbar entfernte Phänomene in ihrem Zusammenhang zu zeigen, war schon zuvor in Bezug auf die verschiedenen Protagonisten benützt worden, die nach Meinung des Autors „sont placés dans une chaîne qui les lie“ (S. 33). Nicht nur die psychologische Entwicklung, sondern auch und vor allem die verschiedenen Sehweisen sind demnach einer einheitlichen, nämlich aufklärerischen Fragestellung unterworfen. Die Lettres persanes sind der Versuch, Aufklärung als ganzheitliches Projekt zu verankern und vor allem, wie Raimund Theis 120 geltend gemacht hat, Theorie und Praxis an einander zu messen und in Übereinstimmung zu bringen. Offenheit und Mut des Autors sind schon in dem Versuch zu sehen, Zeitgeschichte romanhaft zu reflektieren und ein kritisches tableau vivant der zeitgenössischen Geschichte mit einem Spaziergang durch Europa zu verbinden. Schon dieses Spiel zwischen Geschichte und Fiktion musste für zeitgenössische Leser anstößig und neu wirken. Tatsächlich kann man die Lettres persanes auch als politischen Roman lesen. Die Abfassungszeit des zwischen 1717 und 1721 vollendeten Werkes ist ja beinahe identisch mit der Régence des Philippe d’Orléans, der nach dem Tod Ludwigs XIV. 1715 zunächst für den unmündigen Thronfolger, den späteren Ludwig XV. bis 1723 die Regierungsgeschäfte führte. Die kurze Periode, die schon bei Zeitgenossen als Epoche der Sittenlosigkeit, der Verschwendung und des Glücksrittertums galt, mündete 1720 nach dem Misslingen der Lawschen Bankreform (die erste staatliche Notenbank war 1715 gegründet worden) in den Staatsbankrott, in dessen Strudel angesehene Familien gerissen wurden, während fragwürdige Aufsteiger und Schuldenmacher davon profitierten. Der Roman führt chronologisch nicht zufällig bis zu diesem Höhepunkt der innenpolitischen Krise. Die Reise von Isfahan nach Paris vom 19. März 1711 bis zum 14. Mai 1712 (in 23 Briefen) und die folgende Zeit bis Brief 91 haben noch die dekadente Spätphase des alternden „Sonnenkönigs“ in einem von der Kriegspolitik und von Staatsschulden zerrütteten Land zum Hintergrund. Brief XCII („Le monarque qui a si longtemps régné n’est plus.“ 119 So Pauline Kra, „The Invisible Chain in the Lettres persanes“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 23 (1963), S. 7-60. 120 Raimund Theis, „Kompositionsprinzipien und Zielsetzung der Lettres persanes von Montesquieu“, in: Die neueren Sprachen 208 (1972), S. 321-333. 46 S. 189) meldet den Tod des Monarchen. Zieht man die eigentlichen Reisebriefe und die abschließende Haremskorrespondenz ab, so bleiben also 69 Briefe für die späte Regierungszeit Ludwigs XIV. und 54 Briefe für die Régence, mithin ist der Roman chronologisch etwa zweigeteilt. Er beschreibt den Niedergang und Neuanfang, aber letzterer ist keine echte Epoche der Erneuerung, sondern eine Übergangsperiode, die sich mit wachsender Geschwindigkeit auf eine neue Krise zubewegt. Es ist zumindest auffällig, dass Montesquieu dabei mögliche Reformansätze wie den Versuch des Regenten, das absolutistische Regierungssystem aufzugeben, unbeachtet lässt. Aus sozialpsychologischer Perspektive sind die Folgen der Befreiung von väterlicher Autorität so zumindest ambivalent, oder anders: sie beleuchten die negativen Begleitumstände der historisch verspäteten Machtübergabe und das geistige Vakuum nach dem Verschwinden des VATERS. Die Krise des ‚Verlorenen‘ Sohnes’ ist eine Folge und Funktion der ‚unnatürlich‘ langen und verhärteten Herrschaft des absoluten Vaters. Auffällig ist ferner, dass dieser chronologisch ungewöhnlich genaue „roman à calendrier“ erst im zweiten, der Régence gewidmeten Teil verstärkt auf zeitgeschichtliche Ereignisse und Aspekte Bezug nimmt. Können die Lettres persanes insgesamt auch als moralistischer roman à clef gelesen werden, so ist diese Tendenz in Teil I doch ungleich deutlicher. So lange die Fremdheitsperspektive vorherrscht, nützt der Autor diese vorrangig für Sittenkritik und Gesellschaftssatire: die „impudence brutale“ (Brief XXVI, S. 79) der Frauen, Komödie und Oper, die ,jeunesse dorée‘ und die Libertins, Spiel, Salons, Gesellschaftskultur, Familie und Eheleben usw. Einzig der Hinweis auf die „querelle d’Homère“, als alberner Streit um „des choses puériles“ (Brief XXXVI, S. 94) erlebt, nimmt auf ein konkretes Ereignis Bezug. 121 Anders in Teil II., dessen zeitgeschichtlichen Anspielungen offensichtlich mit einer aufklärerisch reformistischen Perspektive Hand in Hand geht. Die immer wieder betonten Parallelen zum Esprit des lois drängen sich erst hier auf. Gleichzeitig verdichtet sich die Atmosphäre der Krisenhaftigkeit. In Brief XCVIII heißt es mit ironischem Hinweis auf die Einrichtung einer „chambre de justice“ (1716) durch den Herzog de Noailles: „Il n’y a point de pays au monde où la fortune soit si inconstante que dans celui-ci. Il arrive tous les dix ans des révolutions qui précipitent le riche dans la misère et enlèvent [...] le pauvre au comble des richesses.“ (S. 199f.) Das harmlose Thema der „inconstance prodigieuse des Français sur leurs modes“ (Brief C, 121 Die sog. „Querelle d’Homère (Homerstreit), die 1714 mit der modernistischen und korrigierten Übertragung der Ilias durch Houdard de la Motte und dem leidenschaftlichen Plädoyer der eruditen Mme Dacier für die ursprüngliche Schönheit der Homerschen Dichtung einsetzt, kann als zweite Phase der Querelle des anciens et des modernes (1687ff.) gelten. Vgl. Paul Mazon, Madame Dacier et les traductions d’Homère en France, Oxford, Clarendon Press 1936. 47 S. 202) unterstreicht das Klima des raschen Wandels, der existentiellen Verunsicherung eines ganzen Landes, aber auch den Anzeichen einer modernen bürgerlichen Mentalität. Usbek konstatiert z. B. „cette ardeur au travail, cette passion de s’enrichir“, die „passe de condition en condition“: „le même esprit gagne la nation: on n’y voit que travail et qu’industrie“ (Brief CVI, S. 213). Neuerungen wie die „journaux“ (Brief CVII, S. 217) werden erwähnt. Aber schon in Brief CXXXII malt Rica das Bild einer verkehrten Welt mit „tous les laquais de Paris plus riches que leurs maîtres“ (S. 261). Wieder bleibt der Sieg der ‚Söhne‘ ambivalent. Und in Brief CXXXVIII von 1720 schreibt er: „Les ministres se succèdent et se détruisent ici comme des saisons“ (S. 270) und spielt erstmals auf den Schotten Law an, dessen Finanzreform (Einführung des Papiergeldes und Staatsanleihen) den Staat an den Rand des Abgrunds gebracht haben: „l’étranger a tourné l’Etat comme un fripier tourne un habit: il fait paraître dessus ce qui était dessous et ce qui était dessus, il le met à l’envers.“ (S. 271) Auf die innenpolitische Krise spielt Brief CXL an, wo vom überstürzten Umzug des Pariser Parlaments nach Pontoise 1720 die Rede ist. Außenpolitische Probleme wie der Krieg mit Spanien 1718 kommen ebenfalls zur Sprache (Brief CXXXII). Der „désordre dans l’Etat“ und die „confusion dans les rangs“ (S. 271) bilden dann noch einmal den Gegenstand des letzten Briefs von Usbek vor der Katastrophennachricht aus dem Harem: „J’ai vu naître soudain, dans tous les cœurs, une soif unsatiable des richesses. [...] Que dira la postérité lorsqu’il lui faudra rougir de la honte de ses pères? Que dira le peuple naissant lorsqu’il comparera le fer de ses aïeux avec l’or de ceux à qui il doit immédiatement le jour? “ (Brief CXLVI, S. 297f.) Auf den letzten Satz: „Je ne doute pas que les nobles ne retranchent de leurs quartiers un indigne degré de noblesse [...] et ne laissent la génération présente dans l’affreux néant où elle s’est mise.“ (S. 298) schließt unmittelbar der erste Satz des folgenden Briefes des Grand Eunuque an: „Les choses sont venues à un état qui ne se peut plus soutenir.“ (S. 298) Ideologisch und thematisch steht dieser wachsenden Obsession eines désordre (hier natürlich aus der wert- und standeskonservativen Sicht des persischen Edelmanns) die Suche nach einem tragfähigen ordre gegenüber; er ist auf die Leitbegriffe justice, liberté gegründet und im Natur(rechts)denken der frühen Aufklärung verankert. Das anfangs thematisierte Problem der Verbindung von Weisheit und Glück wird im öffentlichen wie im privaten Bereich von der Erfüllung dieser Prämissen abhängig gemacht und immer schon als notwendig strukturelles, gesellschaftliches Ideal begriffen. Die Frage nach der Einheit des Romans ist so gesehen also wahrscheinlich falsch gestellt. Grundsätzlich scheint es sinnvoller, eine solche übergeordnete semantische Opposition anzunehmen als nach inhaltlichen Gruppierungskriterien der scheinbar willkürlichen Themenvielfalt zu suchen. Auch die verwirrende Dialektik der aufklärerischen Technik des indirekten Sprechens verliert in dieser Perspektive viel von ihrer Problematik. So dient der Orient 48 natürlich zum einen dazu, Angriffe auf abendländische Zustände zu verschlüsseln, das heißt, der Orient steht emblematisch für den Okzident: Korankritik meint Bibelkritik, Despotismus verweist auf Absolutismus, das Zwangssystem des Harems mag als privatisiertes Bild abendländischer Kabinettspolitik erscheinen. Die Beispielerzählung Usbeks über Indien, wo das schlechte Vorbild eines Ministers genügte, um ein ganzes Volk zu verderben („j’y ai vu tout un peuple [...] devenir tout à coup le dernier des peuples [...]“, Brief CXLVI, S. 297), wird nicht zufällig im Umkreis der katastrophalen Auswirkungen der Lawschen Finanzreform platziert. Zum anderen bildet der Orient auch einen Angelpunkt des kosmopolitischen Gesamtplans, der an den Sklavenrazzien in Afrika und der für das Mutterland nachteiligen kolonialen Ausbeutung Süd- und Mittelamerikas bis nach Russland und Asien reicht und die totalisierende Perspektive des Esprit des lois vorwegnimmt. Dann aber bezeichnet der Orient tatsächlich auch nur den Orient und seine, dem Westen entgegengesetzte, traditionale und statische Kultur; dient also als Referenzpunkt für Kontrastierung und Pointierung. So geht man sicher an den Absichten des Autors vorbei, wenn man versucht, die Haremsproblematik lediglich als Verschlüsselung westlicher Missstände zu lesen. Nicht eine bestimmte Bedeutungsachse sorgt also für innere Einheit des Diskordanten, sondern eine grundlegende Werteopposition, die ein vielfältiges Spiel der Perspektiven aufgelöst, aber nicht an sich relativiert wird. Nimmt man die zahlreichen Hinweise auf (zunächst nicht unmittelbar subsumierbare) kulturelle Phänomene wie Salons, Romanproduktion, Theater, Wissenschaftsbetrieb, Erudition usw. hinzu, so könnte man von einem - im Zeichen von Freiheit orchestrierten - Modernisierungsprojekt sprechen, das nicht auf den utopischen Diskurs setzt, sondern auf eine in der Form der brieflichen Kommunikation angedeutete wechselseitige Verständigung. Der kosmopolitischen Öffnung im inhaltlichen Sinn entspricht eine kosmopolitische Perspektivierung in geistiger Hinsicht, und letztere integriert sich einen ansatzweise bereits öffentlichen Raum, der mit dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas), d. h. der Entstehung der räsonierenden Öffentlichkeit der Aufklärung in ursächlicher Beziehung steht. Man wird den Lettres persanes also kaum gerecht, wenn man sie nur als roman à clef lesen will und Multiperspektivität nicht als Medium und Agens von Freiheit und Mündigkeit versteht. Die angestrebte Ordnung wäre eine Ordnung der Freiheit, die nicht auf oktroierte Normen, sondern auf ein inneres Sittengesetz rekurriert. Voraussetzung ist eine offene Sprache der Wahrheit, die sich gegen die ,Unordnung‘ semantischer Vieldeutigkeit richtet - auch das sollen ja die Briefe paradigmatisch vorführen. So schreibt Usbek gleich bei seinem Abschied von Isfahan an den Freund Rustan: „Je parus à la cour dès ma plus tendre jeunesse [...]: j’osai y être vertueux. [...] Je portai la verité jusques au pied du trône: j’y parlai un langage jusqu’alors inconnu“ - eben die Sprache der „sincérité“ 49 (Brief VIII, S. 47). Die Reise in die westliche Welt, die als Übergang aus einer sakral verankerten, normierten Gesellschaft in den Bereich des „Profanen“ („j’entrais dans les pays de ces profanes, et il me semblait que je devenais profane moi-même“, Brief VI, S. 44) empfunden wird, bedeutet auch den Abschied von der blumigen Sprache des Orients, die Usbek anfangs (vgl. Brief XVI) noch pflegt, gegen die er aber eine wachsende Aversion entwickelt. Ricas Kritik an der exzessiven Auslegbarkeit der Bibel (Brief CXXXIV) findet ein Echo in Usbeks Beharren auf der „raison humaine“, den lois générales“ und der „clef de la nature“ gegenüber dem „style figuré“ des Korans (Brief XCVII, S. 197-199), in dem „on trouve souvent le langage de Dieu et les idées des hommes“ (S. 199). Die blumige Sprache steht hier für die verschleiernde Funktion eines Sprechens, das keine Mündigkeit zulässt und metonymisch mit Aberglaube (vgl. die „chiffons sacrés“ Ricas, Brief CXLIII, S. 286) und Ritualismus („car les cérémonies n’ont point un degré de bonté par elles-mêmes“, Brief XLVI, S. 107) konnotiert ist. Weitergehend ist selbstbestimmtes Denken das geheime Leitmotiv der religionskritischen und staatsrechtlichen Erörterungen. Geschichte erscheint hier essentiell als Geschichte der verdeckten ursprünglichen Wahrheit. Für das Christentum wie für den Islam gilt der Satz Usbeks: „Je vois partout le mahométisme, quoique je n’y trouve point Mahomet.“ (Brief XXXV, S. 93) Freilich siegt gerade in diesem Fall der aufklärerische Optimismus: „On a beau faire, la vérité s’échappe et perce toujours les ténèbres qui l’environnent.“ (S. 93f.) Die „témoignages si éclatants“ (Brief XXXIX, S. 100), die den Glauben scheinbar unausweichlich machen, bedürfen mithin der Skepsis. Unterdrückung der Freiheit beginnt beim Denken; daher gleich bei der Ankunft in Paris die skandalösen Bemerkungen Ricas über die beiden großen „magiciens“, den König, der „exerça son empire sur l’esprit même de ses sujets“, und den Papst, „maître“ des „esprit“ der Gläubigen (Brief XXIV, S. 75). So erscheint jede sakral verankerte Herrschaftsform suspekt, sei sie kirchlicher, sei sie weltlicher Art. Die Monarchie wird einmal als „état violent“ charakterisiert, „qui dégénère toujours en despotisme ou en république“ (Brief CII, S. 205) und ist somit als solche als instabiler Krisenzustand gekennzeichnet. Die Perversion des Hofstaats (Brief CXXIV) und die schon erwähnte Kritik an der Rolle intriganter Minister (Brief CXXVII) runden das Bild einer fundamental unemanzipierten Staats- und Gesellschaftsrorm ab, die zudem mangelnde Effizienz und Vergeudung der Ressourcen impliziert. Damit deutet sich ein staatswirtschaftliches Denken an, das bis zur Histoire philosophique et politique des deux Indes (1770) von Raynal die französische Aufklärung maßgeblich prägte. Fehlentwicklungen sind Ausdruck eines désordre, so etwa der Kolonialwahn („l’effet ordinaire des colonies est d’affaiblir les pays d’où on les tire, sans peupler ceux où on les envoie.“ Brief CXXI, S. 239), der merkantilistische Glaube an die Edelmetalle als Quellen des Reichtums einer Nation (Brief CXLII), die Mär vom homogenen Staat 50 („l’expulsion des Maures d’Espagne se fait encore sentir comme le premier jour: bien loin que ce vide se remplisse, il devient tous les jours plus grand“ Brief CXXI, S. 239) - natürlich auch eine Anspielung auf die Widerrufung des Edikts von Nantes 1685 -, der imperiale Traum („On peut comparer les empires à un arbre dont les branches trop étendues ôtent tout le suc du tronc, et ne servent qu’à faire de l’ombrage“ Brief XXI, 240). Der schon im 18. Jahrhundert geläufige (z. B. bei Diderot) und später von Max Weber (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1920) systematisierte Vergleich zwischen unproduktiven katholischen und aufstrebenden protestantischen Ländern („il est certain que la religion donne aux protestants un avantage infini sur les catholiques“ Brief CXVII, S. 233) deutet sich bereits an; charakteristisch ist z. B. die rabiate Kritik an der iberischen Halbinsel (in Brief LXXV), ein wesentliches Monument des negativen Spanienbildes der französischen Aufklärung, ebenso wie die Kritik an den despotischen orientalischen Gesellschaften. Positive Beispiele bilden England, Holland und die Schweiz, z. T. auch das Deutsche Reich, „la seule puissance qui soit sur la terre que la division n’a point affaiblie“ (Brief CXXXVI, S. 267). An der obersten Stelle der Werteskala stehen die Republiken, die aus orientalischer Sicht besonders interessant erscheinen, denn „la plupart des Asiatiques n’ont pas seulement l’idée de cette sorte de gouvernement“ (Brief CXXXI, S. 257), in dem das Ideal einer „douce liberté si conforme à la raison, à l’humanité et à la nature“ (Brief CXXXVI, S. 267) verwirklicht ist. Montesquieu kritisiert hier die Formen des Despotismus (und Absolutismus? ) aus einer kühl volkswirtschaftlichen Perspektive. Freiheit, natürliche Ordnung und Effektivität sind unmittelbar miteinander korreliert; nicht zufällig skandieren die staatspolitischen Briefe gegen Ende des Romans auch das Thema von Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsschwund, effizienter und vergeudeter Fruchtbarkeit (Kloster, Harem, ländlicher Pauperismus). Die Republikaner beweisen für Usbek, dass „la douceur du gouvernement contribue merveilleusement à la propagation de l’espèce“ (Brief CXXII, S. 241). Verdankt sich der legitime Reichtum einem aufgeklärten Bewusstsein in Freiheit, so zeigen die entgegengesetzten Beispiele - u. a. die eingeschobenen Erzählungen des „mythologiste“ (Brief CXLII) oder das genannte Indienbeispiel Usbeks (Brief CXLVI) -, wie ein ganzes Volk durch falsche Maximen ins Unglück stürzen kann. Der Zustand der „Barbarei“ steht hier nicht am Anfang der Geschichte, sondern resultiert aus dem Verlust der Freiheit und aus der Unterwerfung unter „une puissance absolue“ (Brief CXXXVI, S. 267). Montesquieu thematisiert also eine krisenhafte Gesellschaft; er situiert das auf die Aktualität bezogene Werk zum einen in der müden Endstimmung der Regierung Ludwigs XIV. und zum anderen in der hektischen Umbruchszeit der Régence, die auch seine eigene Biographie geprägt hat. Anders als in den Werken utopischen Zuschnitts, in denen ein westlicher Reisender aus der negativ konnotierten Heimat in eine vorbildlich heile Welt kommt, 51 begegnen unsere ,Weisen aus dem Morgenland‘ einer durch und durch problematischen Welt. Sie sind freilich keine Weisen, sondern suchen erst die Weisheit, und - was noch wichtiger ist - sie kommen selbst aus einer krisenhaft empfundenen Welt, und Usbek befindet sich mitten in einer Krise seiner persönlichen Lebensgestaltung. Ist die Krise des Westens und insbesondere Frankreichs durch eine geschichtliche Dynamik gekennzeichnet, in der die Reste des Alten mit den neuen Entwicklungen und Reformbestrebungen zusammenstoßen - Kritik des (noch) Bestehenden und aufklärerische Erneuerungshoffnung sind die eigentlichen Themen des Romans -, so resultiert die Krise des Orients aus der ungesunden Statik und entlädt sich am Ende symbolisch in der Haremsrevolte, die das Thema des Umbruchs in den privaten Bereich transponiert. Die auf der Krisenerfahrung beruhenden Parallelen zwischen Ost und West, öffentlichem und privatem Bereich sorgen für ein Netz ambivalenter Perspektivität, das unaufgelöst bleibt. Jedenfalls kann man gegen Ende des Romans eine wachsende Dramatisierung im Zeichen des désordre feststellen, der auf den öffentlichen und den privaten Bereich übergreift. Der ursprüngliche Verzicht der Protagonisten auf die krisenhaft empfundenen „douceurs d’une vie tranquille pour aller chercher laborieusement la sagesse“ (Brief I, S. 39) endet ja mit dem Zusammenbruch des gesamten Projekts. Im Zusammenhang mit dieser Thematik des Zusammenbruchs, der aus dem aufgeklärten Reiseroman eine Tragödie macht, spielt das Thema Frau eine zentrale Rolle und natürlich hat sich gerade die neuere psychoanalytische und gender-studies-orientierte Forschung des Themas angenommen. 122 An prominentester Stelle stehen daher die Überlegungen zur Stellung der Frau, sei es in den westlichen Gesellschaften, sei es unter den Bedingungen des orientalischen Harems. Man könnte von einer question de la femme sprechen, die offensichtlich zwischen aufgeklärter Theorie und Romanhandlung vermittelt: „C’est une grande question, parmi les hommes, de savoir s’il est plus avantageux d’ôter aux femmes la liberté, que de la leur laisser; [...].“ (Brief XXXVIII, S. 97) Probleme wie Ehescheidung, Jungfräulichkeitsvorstellungen, Rolle der Frau in der Gesellschaft sind mit dieser Grundfrage verknüpft. Die ganz andersartige Stellung der westlichen Frau steht natürlich von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses der persischen Besucher, wobei sich die Perspektive allmählich von entrüstetem Unverständnis zu einer Kritik der eigenen Verhältnisse verschiebt. Gerade hier ist also der Erziehungs- und Bewusstwerdungsprozess ablesbar, der das, was ursprünglich als désordre wahrgenommen wird („une impudence brutale, à laquelle il est impossible de s’accoutumer“, Brief XXVI, S. 79), vergleichbar mit den „désordres“ (Brief LXIV, S. 141) im Harem, als Ausdruck von Frei- 122 Jeannette Geffriaud Rosso, Montesquieu et la féminité, Pisa, Goliardica 1977. 52 heit verstehen lernt und umgekehrt den ursprünglich traditionellen „bon ordre“ (Brief LXIV, S. 193) des Despotismus fragwürdig werden lässt. „Je ne connais les femmes que depuis je suis ici“, schreibt Rica nach drei Jahren, „j’en ai plus appris dans un mois que je n’aurais fait en trente ans dans un sérail.“ (Brief LXIII, S. 139). Doch diese Aufgeschlossenheit gilt nicht nur für den jungen Rica, der sich mit wachsendem Vergnügen in weiblicher Gesellschaft bewegt; auch und gerade der ältere Usbek wird zunächst zum Sprachrohr einer sich steigernden Kritik an der Stellung der Frau im Orient. Zunächst noch unter bevölkerungspolitischen und sozialpsychologischen Vorzeichen wie in Brief CXIV von 1718: „Je ne trouve rien de si contradictoire que cette pluralité des femmes permises par le Saint Alcoran [...].“ (S. 226) Im Hinblick auf die Polygamie fügt er ironisch hinzu: „Je regarde un bon musulman comme un athlète destiné à combattre sans relâche [...].“ (S. 227) Die eigentliche Perversion des Systems aber liegt, wie Usbek merkwürdig klar erkennt, in dem notwendigen Überwachungssystem, das dazu führt, dass - eine Parallele zum abendländischen Mönchs- und Priestertum? - unzählige Männer durch Kastration dem sozialen Leben entzogen werden: „ces femmes obligées à une continence forcée ont besoin d’avoir des gens pour les garder, qui ne peuvent être que des eunuques [...]. Mais quelle perte pour la société que ce grand nombre d’hommes morts dès leur naissance! “ (S. 227) Argumentiert Usbek hier noch mit Blick auf die Bevölkerungsstatistik, so geht Rica in seiner angeblich persischen Erzählung von Zuléma, (Brief CXLI), die er einer vornehmen Dame vorträgt, unendlich viel weiter. Zuléma fungiert hier (ähnlich wie später Usbeks Lieblingsfrau Roxane in Wirklichkeit) als Wortführerin der Revolte - nicht durch Gewalt, sondern mit den Mitteln der Aufklärung, in die sie die weibliche Stimme einbringt. Sie schildert ihren Haremsgefährtinnen ein Paradies der Frauen, das als ironische Verkehrung der tatsächlichen Verhältnisse erscheint: „un paradis plein de beautés célestes et ravissantes“, in dem die „femmes vertueuses“ „seront enivrées d’un torrent de voluptés avec des hommes divins qui leur seront soumis: chacune d’elles aura un sérail dans lequel ils seront enfermés, et des eunuques, encore plus fidèles que les nôtres, pour les garder.“ (S. 274-275) Das utopische Verfahren der verkehrten Welt dient dazu, den auf soziale und religiöse Konventionen gestützten „orgueil des hommes“ (S. 274) lächerlich zu machen. Doch der Prozess geht noch weiter und gipfelt in einer regelrechten „Subversion des Patriarchats“. 123 Zuléma erzählt den Frauen eine angeblich arabische Geschichte von Ibrahim, dessen „brutalité naturelle“ (S. 275) durch den „esprit philosophique“ (S. 278) der schönen Anaïs überwunden wird. Die Erzählung von der Auflösung des Harems, der Entlassung der Eunu- 123 Vgl. Katharine M. Rogers, „Subversion of Patriarchy in Les Lettres persanes“, in: Philological Quarterly 65 (1986), S. 61-78. 53 chen und der Befreiung der Frauen fungiert - auf Juli 1720 datiert, also zeitlich mitten in der anschließend geschilderten Haremsrevolte - als offensichtliche Vorwegnahme und mise en abyme des romanesken Schlusses, dessen Voraussetzungen sie nach zwei Seiten hin zuspitzt, indem sie dem despotischen Ibrahim eine angelische Heldin gegenüberstellt; an die Stelle des Selbstmords bei Roxane tritt hier der Mord durch den jähzornigen Herrn. Der Tod eröffnet „le séjour des delices où les femmes qui ont bien vécu jouissent d’un bonheur qui se renouvelle toujours.“ (S. 275) Montesquieu überzieht auch in diesem gleichsam experimentellen conte bewusst die Register, indem er die traditionellen Geschlechterrollen einfach umkehrt und märchenhaft ,irrealisiert‘. Der mit allen erotischen und sinnlichen Raffinessen beschriebene Lustort in der Tradition des conte licencieux bildet ein erstes und überaus kühnes ,Manifest‘ des Rechts der Frau auf sexuelle Lust. Verwöhnt und von zwei Männern bis zur Erschöpfung geliebt, wird die Heldin zur Herrin eines Zauberschlossharems, in dem ihr fünfzig „esclaves d’une beauté miraculeuse“ (S. 277) sexuell zu Willen sind, und dokumentiert in ihrer Entwicklung das gängige maliziöse Diktum „Comme l’esprit vient aux filles“ auf eine ganz neue Art. „Cette nuit l’avait embellie: elle avait donné de la vie à son teint et de l’expression à ses grâces.“ (S. 277) Die absolute erotische Erfüllung, der Sinnentaumel, wird hier nämlich zur Voraussetzung für eine neue Stufe des weiblichen Selbstbewusstseins: Was ihrem „esprit [...] vraiment philosophique“ (S. 278) unter den Bedingungen der Unterdrückung nicht gelungen war, wird durch die „ivresse des plaisirs“ erst möglich. Damit findet auch die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeit von „sagesse“ und „bonheur“ eine neue, lebensnahe Antwort. Die Befriedigung der affektiven, körperlichen Bedürfnisse ist Vorbedingung und Bestandteil einer immer ganzheitlich vorgestellten ,Aufklärung‘ des Menschen. Die fiktionale Haremskrise geht der real geschilderten Haremsrevolte unmittelbar voraus; Anaïs verweist auf Roxane, Ibrahim auf Usbek. Dies allein würde schon genügen, um die Auffassung der älteren Montesquieu-Forschung zu widerlegen, wonach die Haremsgeschichte lediglich ein ,Köder‘ und Zugeständnis an zeitgenössische Leser(innen) gewesen sei. Tatsächlich zeigt das Romanende ja auch den Umschlag vom theoretischen Denken in die als dramatische Handlung vorgeführte Praxis, freilich nicht positiv, wie in der Anaïs-Erzählung, sondern in einem entgegengesetzten Sinn als Ausdruck des Versagens aufklärerischer Theorie, des Versagens des aufgeklärten ‚Vaters‘. Aus dem grandseigneurhaften ,Abenteurer des Geistes‘ ist so unversehens ein negativer Held geworden. Die Suche nach der Weisheit mündet in ein tragisches Lebensschicksal, und der aufklärerisch-libertinistische Roman entpuppt sich als histoire tragique, wobei es allerdings nicht, wie im sentimentalen Schicksalsroman à la Prévost, um die Widerständlichkeit der Welt geht, sondern um persönliche Inkonsequenz einer nicht zu Ende gebrachten aufklärerischen Reflexion. 54 Usbek, unbestreitbar der eigentliche ,Held‘ des intellektuellen und psychologischen Dramas, ist die exemplarische Variante eines homme de qualité qui s’est retiré du monde (mit dem Titel des Prévostschen Romanzyklus), der aber anders als Anaïs nicht die Stufe der Reflexion und Selbsterkenntnis erreicht hat, die ihn zu altruistischem Handeln befähigen würde. Da letzteres, wie deutlich geworden ist, von den affektiven Kräften der sensibilité abhängig ist, verweist das Versagen auch auf einen Mangel an sensibilité und ein Ungleichgewicht zwischen le cœur und l’esprit (Crébillon fils). Es ist in diesem Zusammenhang übrigens symptomatisch, dass Montesquieu die Gestalt Usbeks in der Überarbeitung verstärkt mit solchen Zügen ausstattet und so aus einem zynischen Haremsbesitzer einen verantwortungsvollen Hausvater gemacht hat, der zwischendurch ausdrücklich auf Milde und Vernunft pocht. Solche menschlichen Züge ändern aber letztlich wenig daran, dass auch Usbek zum ,System‘ gehört und dass es keinen halben, humanistischen Despotismus geben kann. Charakteristischerweise gibt es vor dem Zusammenbruch keine Stelle des Romans, die auf Zweifel Usbeks an seiner Rolle hindeuten könnte. „Je jure par tous les prophètes du ciel“, schreibt er schon am Anfang an seinen Eunuchen, „que, si vous vous écartez de vos devoirs, je regarderai votre vie comme celle des insectes que je trouve sous mes pieds.“ (Brief XXI, S. 72) In einem erzürnten Brief an die Ehefrau Zachi pocht er auf seine legitime Rolle als „juge sévère“ (Brief XX, S. 71) und mahnt sie zur Dankbarkeit dafür, dass er sie vor ihren eigenen unlauteren Begierden durch Gewalt schützen lasse: „Vous devez me rendre grâce de la gêne où je vous fais vivre, puisque ce n’est que par là que vous méritez encore de vivre.“ (Brief XX, S. 70) Die seelischen Verheerungen, welche aus dieser Verbindung von despotischer Gewalt und sexueller Unterdrückung resultieren, kommen bereits zu Beginn in dem exemplarischen Brief und Lebensbericht des Ersten Eunuchen an Ibbi (Brief IX) zur Sprache. Doch die psychologische Dialektik von despotischer Herrschaft 124 zeigt Montesquieu gerade an Usbek, „Paper Persian“, Hauptfigur und „anti-hero“ zugleich. 125 Die Tendenz zu einer extremen Verdinglichung der Haremsfrauen gilt nämlich indirekt auch für ihn, der schon bei der Abreise an den Freund Nessir seine innere Überlegenheit über erotische Schwächen geltend macht: „Ce n’est pas, Nessir, que je les aime: je me trouve à cet égard dans une insensibilité qui ne me laisse point de désirs. Dans les nombreux sérails où j’ai vécu, j’ai prévenu l’amour et l’ai détruit par lui-même [...].“ (Brief VI, S. 44f.) Stilisiert sich der Held hier als Virtuose asketischer Intellektualität, 124 Zur gleichzeitig politischen und psychologischen Bedeutung des Despotismus vgl. Roland G. Brunel, „Le despotisme dans les Lettres persanes“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 278 (1990), S. 79-103. 125 Clipton Cherpack, „Montesquieu: Usbek: Paper Persian or Anti-Hero? “, in: Kentucky Romance Quarterly 18/ 1 (1971), S. 101-110. 55 die der Grundlinie der Lettres persanes, der Aufwertung der natürlichen Kräfte des Begehrens als natürlicher und legitimer Triebfeder menschlichen Handelns entgegengesetzt ist, so indiziert das anschließende Bekenntnis Usbeks die perversen Konsequenzen einer solchen Verdrängung: „mais de ma froideur même, il sort une jalousie secrète, qui me dévore.“ (S. 45) Nun hat die Eifersucht 126 in der Moralistik, in Drama, Novellistik und Roman im 18. Jahrhundert eine besonders negative Konnotation als pervertierte Form des alle menschlichen Beziehungen vergiftenden amour-propre. 127 Seit den Troubadours als asozial stigmatisiert, wird der Eifersüchtige überdies in eine tendenziell lächerliche Rolle gedrängt. Bei Usbek aber ist der Befund viel schwerwiegender, da seine Eifersucht - anders etwa als die urwüchsige Brutalität des fiktiven Ibrahim mit seinem Machtanspruch und seiner Pose als Weiser verknüpft ist und geradezu als Ausweis der (auf das fehlende Begehren gegründeten) Überlegenheit gelten darf: Machtlust und Selbstgenuss als Ersatz für die sexuelle Lust, die einseitig auf die Frauen projiziert wird. Wahrscheinlich geht es daher um mehr als die moralistische Studie männlicher Eitelkeit. Usbek steht dabei für eine besondere, weder komische noch tragische, sondern monströse Form der kalten, despotischen Eifersucht. Deren geradezu identitätsstiftende Funktion wird am Ende deutlich, als Usbek plötzlich wieder den Topos des barbarischen Gastlandes bemüht, um seine eigene Orientierungslosigkeit und die Zerrüttung seines Selbstwertgefühls zu beschreiben: „Je vis dans un climat barbare, présent à tout ce qui m’importune, absent à tout ce qui m’intéresse. Une tristesse sombre me saisit; je tombe dans un accablement affreux; il me semble que je m’anéantis; et je ne me retrouve moi-même que lorsqu’une sombre jalousie vient s’allumer, et enfanter dans mon âme la crainte, les soupçons, la haine et les regrets.“ (Brief CLV, S. 304). Montesquieu scheint der Selbstabdankung seines problematischen väterlichen ,Helden‘ strukturell dadurch Rechnung zu tragen, dass er seinen letzten Brief CLV vom Oktober 1719 vor den letzten Briefen der Frauen platziert; sie erhalten auf diese Weise das ,letzte Wort‘, nachdem im Inneren des Romans mit wenigen Ausnahmen nur der Nachrichtenaustausch zwischen Usbek und den Eunuchen immer wieder an den orientalischen Hintergrund erinnert hatte. Oder anders: die Frauen, die am Anfang noch in Abschiedsbriefen selbst das Wort ergreifen (Zachi in Brief III, Zéphir in Brief IV, Fatmé in Brief VII) - Zachi verfasst noch Brief XLVII, Zélis LIII, LXII und 126 Zur Vorgeschichte vgl. Alexandra-Bettina Peter, Vom Selbstverlust zur Selbstfindung. Erzählte Eifersucht im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Tübingen, Niemeyer 2002 (Mimesis, 39). 127 Hierzu die grundlegende Studie von Hans-Jürgen Fuchs, Entfremdung und Narzissmus. Semantische Untersuchungen zur Geschichte der „Selbstbezogenheit“ als Vorgeschichte von französisch „amour-propre“, Stuttgart, Metzler 1977. 56 LXX -, stehen erst wieder am Ende im Mittelpunkt des Geschehens und werden zu Subjekten der Handlung. Die dreijährige Krise von 1717 bis 1720 wird dabei bewusst dramatisch verkürzt, um den Zusammenstoß zwischen dem ruhigen diskursiven Teil und der sich anbahnenden Tragödie deutlich zu machen. Natürlich ist von Anfang an klar, dass das philosophische Experiment, das eine neunjährige Abwesenheit Usbeks von seinen Ehefrauen voraussetzt, wider die Natur ist und die brutal unterdrückten sexuellen Energien der für nichts anderes tauglichen Haremsopfer nicht unbeschadet überstehen kann. Der leidenschaftliche Abschiedsbrief voll erotischer Details, in dem Zachi an „mes plaisirs passés“ erinnert, die „irritaient tous les jours mes désirs avec une nouvelle violence“ (S. 41), deutet zugleich die erbarmungslose sexuelle Rivalität der Frauen untereinander an. Der überspannte Brief Fatmés geht noch weiter: „il est impossible de vivre dans cet état; le feu coule dans mes veines [...]. Qu’une femme est malheureuse d’avoir des désirs si violents, lorsqu’elle est privée de celui qui peut seul les satisfaire.“ (S. 46) Die „fureurs d’une passion irritée“ (S. 46) geben auf die später aufgeworfene, philosophische Frage nach dem Stellenwert der „satisfaction des sens“ (Brief X, S. 53) schon vorher eine klare, lebensweltliche Antwort und zeigen die Unverträglichkeit des philosophischen Experiments mit der psychologischen Realität. Nicht zufällig schreibt Roxane im letzten Brief: „j’ai réformé tes lois sur celles de la nature“ (Brief CLXI, S. 310). Unabhängig von dem zentralen Problemkreis von Freiheit und Unterdrückung geht es also zuallererst um das Recht der Natur. Die Frauen in den Lettres persanes verweisen mithin auf einen Schwachpunkt des aufklärerischen Verfahrens, das selbst noch in seiner Kritik der Repression auf der Repression der Verdrängung aufbaut. Das Motiv der Revolte prägt das ,skandalöse‘ Verhalten aller Frauen (vgl. Brief CXLVII) und verweist auf eine Dialektik des Verbergens und Entschleierns, die diesem aufklärerischen Abenteuer des Sehens und Beobachtens zugrunde liegt. Aber nur Roxane, die am Anfang des Romans lediglich als Adressatin eines mahnenden Briefes von Usbek in Erscheinung trat (XX, S. 71), rückt mit ihrer Revolte am Ende das Recht der Frau auf Selbstbestimmung in den Mittelpunkt. Erst jetzt erhält sie eine eigene Stimme: „nous n’avons plus rien de libre que les pleurs.“ (Brief CLVI, S. 306) Und erst im Augenblick des Todes findet sie eine neue Sprache: „tu me croyais trompée, et je te trompais. - Ce langage, sans doute, te paraît nouveau.“ (Brief CLXI, 310) Wie zuvor Zuléma als Märchenerzählerin, so reißen jetzt die Frauen das Recht der Sprache an sich und bringen damit Usbek zum Verstummen. Auf den emphatischen Brief CLXI erhält Roxane keine Antwort. Im Lichte des Schicksals Roxanes und der anderen Frauen erscheint Aufklärung nicht nur als moralistische, auf Staat und Gesellschaft bezogene Veranstaltung, sondern zuerst als ein Akt individueller Bewusstwerdung und Emanzipation. 57 Den Konnex zwischen ‚Aufklärung‘, Kritik des Bestehenden und utopischen Gegenentwürfen zeigt gleich am Anfang die exemplarische Geschichte des Volkes des Troglodyten, die Usbek in den Briefen XI bis XIV dem in Isfahan gebliebenen Freund als Antwort auf seine Frage erzählt, „si les hommes étaient heureux par les plaisirs et les satisfaction des sens, ou par la pratique de la vertu“ (Brief X, S. 52-53). Es ist die Parabel über die Geschichte der Befreiung eines Volkes von ‚selbstverschuldeter‘ ungerechter Herrschaft und verschlüsseltes Gleichnis der Rechtsgeschichte. 128 Die Troglodyten-Episode 129 bezieht ihre besondere Relevanz aus dem doppelten Bezug auf die psychologische Entwicklung des Erzählers und auf ihre Stellung im utopischen Diskurs der Aufklärung. Insbesondere geht es um die Bétis- Utopie in Buch VII der Aventures de Télémaque und die Frage nach der notwendigen väterlichen Autorität und die Tragfähigkeit autonomer emanzipierter Sittlichkeit. Es handelt sich übrigens um die erste Stelle, an der - noch innerhalb des orientalischen Bereichs - die Krise der geoffenbarten religiösen Vorschriften angedeutet und über die Möglichkeit einer tragfähigen laizistischen Moral nachgedacht wird. Die utopische Erzählung Usbeks bildet eine wesentliche Quelle der späteren rousseauistischen Zivilisationskritik und kann so als eine Art Maßstab und repoussoir-Folie des gesamten Buches angesehen werden. Dies nicht nur in bezug auf die vorgeführten Werte, sondern vor allem im Hinblick auf die Fähigkeit zur Erneuerung und Reform. Die letzten Vertreter der Troglodyten, die als Opfer ihres konsequenten Egoismus (amour-propre) „périrent par leur méchanceté même et furent les victimes de leurs propres injustices“ (Brief XIII, S. 56f.), beschließen, ein Leben im Sinne des „intérêt commun“, der natürlichen „justice“ und „charité“ zu führen und so den früheren Teufelskreis von Egoismus, Neid und Gewalt zu durchbrechen. Gesucht wird die Verbindung aus „sagesse“ und „bonheur“, die eine Leitthematik nicht nur der Lettres persanes, sondern der gesamten Aufklärung darstellt. Die Troglodyten erheben sich aus einem Zustand tiefer Dekadenz; sie lernen aus der bzw. ihrer Geschichte und haben die Kraft, das neue Ideal durchzuhalten. Ob dieser Gleichgewichtszustand auch nach der Wahl eines Herrschers und damit einer neuen Vaterfigur erhalten bleiben wird, bleibt freilich offen. Jedenfalls gelingt dieser Neuanfang weder im politisch-historischen Bereich, den der Roman andeutet, noch in der privaten Sphäre; beide sind durch den Sieg der Selbstsucht geprägt. Die Troglodyten sind fähig, die fundamentale theore- 128 Edgar Mass, „Montesquieus Freiheit der Wälder. Germanen. Troglodyten, das frühe Recht und ein Werkstattbericht“, in: Arkadien in den romanischen Literaturen. Zu Ehren von Sebastian Neumeister zum 70.Geburtstag, hrsg. von Roger Friedlein, Gerhard Poppenberg, Annett Volmer, Heidelberg, Winter 2008, S. 125-144. 129 Vgl. Alessandro S. Crisafulli, „Montesquieu: Story of the Troglodytes: Its Background, Meaning and Significance“, in: Publications of the Modern Language Association of America 58 / 2 (1943), S. 372-392. 58 tische Einsicht der Aufklärung, „que l’intérêt des particuliers se trouve toujours dans l’intérêt commun“ (S. 57), auf Dauer in die Praxis umzusetzen. Die französische Gesellschaft ebenso wie Usbek werden diesen Praxistest nicht bestehen. Usbek erzählt eingangs eine Geschichte, deren Anspruch er selbst am Ende nicht einlösen kann. 59 IV. Roman und Emanzipation der Söhne: Reiseroman und Pikareske 1. Fénelons Télémaque und Terrasson: Der abwesende Vater oder der Ersatz des Vaters Paradigmatisch spiegelt der frühaufklärerische Reise- und Erziehungsroman Les Aventures de Télémaque (1699) des Bischofs und Fürstenerziehers Fénelon (1651-1715) die Krise väterlicher Autorität. Der Held, der den verlorenen Vater sucht, wandelt auf den Spuren des Vaters. Aber diese ‚Spurensuche‘, die als symbolischer Ausdruck der klassischen Imitatio-Theorie erscheint, darf hier gerade nicht als Nachahmung des Vaters interpretiert werden, sondern als Einüben von Distanz. Der Roman Fénelons, der in der Querelle bekanntlich zu den Anhängern der ‚Modernen‘ gehörte, ist so gesehen auch eine Umsetzung der theoretischen Prämissen der Querelle des anciens et des modernes in exemplarische Handlung. Nach Christoph Miething macht die väterliche Ersatzfigur des Mentors den Vater überflüssig. 130 An die Stelle der Tradition und der genealogischen Verbundenheit treten die natürlichen lumières, die sich hier übrigens durchaus mit einer konservativ absolutistischen Staatsauffassung vertragen. Gleichwohl erscheint der verlorene und symbolisch erhöhte Vater noch als unentbehrliche symbolische Instanz, insofern die Suche des heranwachsenden Helden nach dem verlorenen Vater den emanzipatorischen Weg erst möglich macht, während Mentor den Vater zugleich repräsentiert und ersetzt. Auch wiederholt Télémaque ja nicht die Irrfahrt des Vaters, dessen Odyssee als warnendes Beispiel dient; von Mentor geführt, ersetzt er die Irrfahrt des Vaters durch eine staatspolitische Bildungsreise, und an die Stelle der Abenteuer und Verwicklungen tritt der Anschauungsunterricht dessen, der sich im Sinne der Aufklärung selbst ein Urteil bilden soll und vor allem durch Gespräche Belehrung erfährt. Insofern ist der Titel „Les aventures de ...“ bewusst irreführend. Denn an die Stelle der ‚Abenteuer‘ des Vaters tritt das Lernen des Sohnes. In Lacans Terminologie gesprochen, könnte man sagen, dass der Vater selbst in dem Maße in den Hintergrund tritt, wie sein Name an Prestige gewinnt. ‚Aufklärung‘ ist hier nicht gegen den Vater, aber ohne den Vater möglich. So trägt der Roman alle Zeichen des Übergangs, gehört aber zugleich zu den Gründungsmonumenten des Aufklärungszeitalters. 131 130 Christoph Miething, „Mythos und Politik. Fénelons Konzept der politischen Erziehung in Les Aventures de Télémaque“, in: Romanische Forschungen 97 (1985), S. 131-145. 131 Vgl. Volker Kapp, Télémaque de Fénelon - la signification d’une œuvre littéraire à la fin du siècle classique, Tübingen, Paris, Narr 1982. 60 Der Autor spielt sowohl in den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit als Verfechter eines verinnerlichten, quietistisch beeinflussten Christentums 132 als auch in dem Antikestreit (1687-1715), wo er eine gemäßigt modernistische Haltung einnimmt, eine wichtige Rolle. Der Roman entstand gleichsam nebenbei im Zusammenhang mit der Rolle Fénelons als Erzieher des jungen Duc de Bourgogne am Hof. Die erste authentische Ausgabe erschien zwei Jahre nach seinem Tod 1717 mit einem theoretischen Vorwort von Ramsay, der mit den Voyages de Cyrus (1727) selbst einen ähnlichen Reiseroman folgen ließ. Es ist nicht der einzige, vor dem Hintergrund zahlloser Neuauflagen des Fénelonschen Werkes, dessen Modell sich auch in den großen Romanen von Voltaire und Rousseau bis Marmontel nachweisen lässt. 133 Unabhängig von antikisierender und homerischer Einkleidung 134 kann der Wanderweg des empfindsamen Télémaque als Urbild auch des psychologischen Entwicklungsromans verschiedenster Prägung begriffen werden. Dagegen thematisiert das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Mentor und Télémaque ein zentrales didaktisches Paradigma der Aufklärung, das in zahllosen Variationen des belehrenden Weisen, Philosphen und Initiators immer wieder bemüht wird. Auf diese Weise gelingt zugleich die Verbindung der aufklärerisch-belehrenden Absicht mit dem unmittelbaren Erlebnis und der Perspektive der Naivität, die wohl vor allem für den Erfolg des Romans verantwortlich war. Das Werk kann demgemäß ebenso als aufgeklärter Fürstenspiegel und Staatsroman wie als psychologischer Bildungsroman gelesen werden. Betrachten wir kurz den Fortgang der Handlung: Es beginnt wie oft im heroisch-galanten Roman medias in res mit einem Schiffbruch. Der junge Held wird in Begleitung Mentors (hinter dem sich in Wahrheit die Göttin Minerva verbirgt) auf das Eiland der Kalypso verschlagen, die noch immer dem einst geliebten Vater Odysseus nachtrauert und alsbald eine heftige Leidenschaft zu dessen Sohn entwickelt. Ihr erzählt Télémaque die Vorgeschichte, welche die Bücher I bis V umfasst und Lebensweise und Regierungsform verschiedener Völker vorstellt. Darunter die zivilisationsgeschichtlichen Möglichkeiten der ursprünglichen Idylle, aber auch der Tyrannei und der Barbarei. Als zentrale Lektion bleibt dabei bereits festzuhalten, „qu’un roi n’est digne de commander et n’est heureux dans sa puissance qu’autant qu’il la soumet à la raison. Hé! quel malheur, pour un homme destiné à faire le bonheur public, de n’être le maître de tant d’hommes 132 Vgl. Jeanne-Lydie Goré, L’itinéraire de Fénelon, I, Humanisme et spiritualité, Paris, Presses Universitaires de France 1957, sowie Robert Spaemann, Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart, Kohlhammer 1963. 133 Hierzu die klassische Studie von A. Chérel, Fénelon au XVIII e siècle en France (1715-1820), son prestige, son influence [1917], Reprint Genève, Slatkine 1970. 134 Hierzu auch N. Hepp, „De l’épopée au roman: l’Odyssée et Télémaque“, in: La littérature narrative d’imagination, Paris, PUF 1962, S. 97-113. 61 que pour les rendre malheureux! “ (Ende Buch II, S. 153) 135 Das ist in nuce die aufgeklärte Vorstellung eines wohltätigen Absolutismus zur Beförderung des allgemeinen Glücks. Télémaque aber ist nach diesem vielfältigen Anschauungsunterricht so weit gereift, dass nach der abstrakten Belehrung auch die unmittelbare, d. h. erotische Erfahrung kommen muss. Die Intention ist klar: Nur der kann über Menschen bestimmen, der selbst die Fülle des Lebens kennt und sein eigenes Herz kennengelernt hat: „Celui qui n’a point senti sa faiblesse et la violence de ses passions n’est point encore sage; car il ne se connaît point encore et ne sait point se défier de soi. Les dieux vous ont conduit comme par la main jusqu’au bord de l’abîme, pour vous en montrer toute la profondeur, sans vous y laisser tomber.“ (Buch VI, S. 239) Das Abenteuerregister ist damit zugleich in das moralistische Paradigma überführt. Die „coups de la fortune“, von denen in Buch II die Rede ist und die auf die Tradition des Abenteuerromans verweisen, sind nurmehr Metapher für die Entdeckung der Untiefen des Ich. Und so kann Télemaque nach der gelungenen Flucht von der Liebesinsel und seinem Sieg über die erotische Versuchung zu Mentor sagen: „Je ne crains plus ni mers, ni vents, ni tempêtes; je ne crains plus que mes passions. L’amour est lui seul plus à craindre que tous les naufrages.“ (Buch VI, S. 244 f.) Die Suchreise ab Buch VII erfolgt mithin auf einem gleichsam höheren Bewusstseinsstand. In der großen Auseinandersetzung am Ende von Buch VI hat der noch unreife Held die Autorität dessen anerkannt, den er als „mon vrai père“ (S. 238) anspricht. Zur bloßen Anschauung und Vergleichung kommt daher jetzt die existentielle Suche nach innerem Ausgleich und nach Weisheit hinzu. Im Zentrum des Romans, den Büchern VII bis IX, steht daher die Entwicklung des aufklärerischen Humanitätsgedankens, der sich zuletzt gegen alles Falsche und Vorgespiegelte richtet. Nicht umsonst hat sich ja der Königssohn Télémaque zunächst als Mensch und nicht als Thronfolger erfahren. Hierin muss man auch eine entscheidende Gegenbewegung zu der Ideologie der gloire im höfisch-galanten Roman sehen. Denn „la vraie gloire ne se trouve point hors de l’humanité.“ (Buch IX, S. 318) Sagesse, verkörpert durch Mentor-Minerva, wird zum eigentlichen Kernpunkt einer neuen Ethik des Ausgleichs und der Natürlichkeit, die nur noch wenig mit der stoizistischen Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts gemein hat: „La sagesse n’a rien d’austère ni d’affecté: c’est elle qui donne les vrais plaisirs.“ (Buch VII, S. 261) Diese Form der Sagesse, daran erinnert Mentor, ist durchaus mit einem geselligen und glücklichen Leben vereinbar, und in ihr mischen sich Ernst und Spiel, Arbeit und Vergnügen. Entscheidendes Kriterium ist die simplicité, die in der Nachahmung eines nicht mehr antikisierend, sondern aufklärerisch verstandenen Naturbegriffs verankert ist. 135 Alle Zitate nach Fénelon, Les Aventures de Télémaque, éd. par Jeanne-Lydie Goré, Paris 1994 (Les Classiques Garnier). 62 Hier liegt nun die Bedeutung der Bétis-Utopie, die in Buch VII erzählt wird und mit der der Autor der Luxusdebatte um Mandeville vorgreift. Die Bewohner von Bétis (dem heutigen Andalusien), das als eine Art arkadischer Idylle vorgestellt wird, „n’ont appris la sagesse qu’en étudiant la simple nature“ (S. 265), und bei ihnen finden sich anstelle des Neids und der Habgier „amour fraternelle“ (sic! ) und statt der „vaines richesses“ und „plaisirs trompeurs Gleichheit und Freiheit. Es ist vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die spätere revolutionäre Trias Liberté - Egalité - Fraternité in Buch VII des empfindsamen Fürstenspiegels Télemaque explizit definiert ist. „Ce pays semble avoir conservé les délices de l’âge d’or“ (S. 263). Der Ausgeglichenheit der Temperamente entspricht die Ausgeglichenheit des Klimas, das alles zum Leben Nötige im Überfluss bereitstellt, so dass die Bewohner auf Handel mit Geldwirtschaft verzichtet haben und „sont presque tous bergers ou laboureurs“ (S. 263). Die ursprüngliche Naturalienwirtschaft garantiert „leur vie simple et frugale“, fern jeder zivilisatorischen „mollesse“. Denn: „Ce superflu amollit, enivre, tourmente ceux qui le possèdent“ (S. 265). Wie die Indianer bei La Hontan kennen die Bewohner von Bétis kein Privateigentum und „sont tous libres et tous égaux“ (S. 266). Das Fehlen von Besitzgier und Machttrieb verhindert Kriege ebenso wie Ehebruch: „Les mariages y sont paisibles, féconds, sans tache.“ (S. 268) - natürlich auch noch ganz auf ein patriarchalisches Eheideal ausgerichtet, das die Frau auf den häuslichen Bereich beschränkt. Und noch etwas ist von großer Bedeutung: Die Überwindung der gesetzten Normen durch die Vorstellung verinnerlichter Gesetze, die quasi naturrechtlich in das menschliche Herz eingeschrieben sind. Auch hier, wie in vieler Hinsicht, nimmt Fénelon in christlicher Perspektive 136 Rousseau vorweg, indem er die Verhaltensnormen im Gewissensbegriff verankert: Die Bewohner von Betis brauchen keine Richter, heißt es, „car leur propre conscience les juge“ (S. 265). Die Beziehung zwischen pietistischer Religiosität und subjektivem Paradigma ist hier mit Händen zu greifen. Die väterliche Autorität zeichnet sich durch ihre Milde aus. Naturgesetzlich verankert, bzw. durch göttliches Gesetz verinnerlicht, bedarf sie keiner äußerlichen Zwänge. Damit sind eigentlich alle Bewertungskriterien gegeben, mit denen im folgenden die einzelnen Ereignisse und Staatsformen gemessen werden. Die „douceurs d’une vie innocente“ die natürliche Tugend des Ausgleichs und der „sobriété“ steht als Ideal hinter allen Urteilen. Und der genannte Satz, dass „la vraie gloire ne se trouve point hors de l’humanité“ - bedeutet auch - in diesem Kaleidoskop verschiedener Völker und Lebensformen -, dass der nationalstaatliche Machtgedanke an dem Humanitätsgedanken eine Grenze findet. Erstmals entwickelt Fénelon hier implizit und symbolisch ein 136 Vgl. F. X. Cuche, Une pensée sociale catholique. Fleury - La Bruyère - Fénelon, Paris, Editions du Cerf 1991. 63 Ideal der Völkergemeinschaft. An die Stelle des Paradigmas der Eroberung und Unterwerfung im höfischen Barockroman tritt das Paradigma des Kennenlernens und Sehens/ Verstehens des Anderen. Damit ist dieser Roman an der Schwelle zum 18. Jahrhundert der Aufklärungsroman par excellence, der das Motiv der Einzelreise anhand einer fiktiven Mittelmeerreise zum völkerkundlichen Panorama weiterentwickelt. Unvermeidlich resultiert aus diesem, z. T. kritisch, z. T. staunend oder bewundernd betrachteten Nebeneinander von Lebensformen, die bewusst enthistorisiert zum Anschauungsmaterial werden, eine Relativierung und Distanzierung der eigenen Sehweise und insbesondere des spätabsolutistischen Staates unter dem alternden Ludwig XIV. Dies gilt vor allem für Buch X, wo Mentor selbst im Königreich Salent als Reformer auftritt und die Grundlinien einer konservativ-ständischen Utopie entwirft, gegründet auf „une noble et frugale simplicité“. Das beschworene Gegenbild eines auf Despotismus, Unterdrückung und Steuerausbeutung beruhenden Staatswesens verweist dabei offensichtlich bereits auf den Revolutionsgedanken: „mais attendez la moindre révolution: cette puissance monstrueuse, poussée jusqu’à un excès trop violent, ne saurait durer. Au premier coup qu’on lui porte, l’idole se renverse, se brise et est foulé aux pieds.“ (S. 288) Gattungsgeschichtlich nimmt der Roman Fénelons mithin nicht nur den utopischen Roman der Aufklärung (bis hin zum Marquis de Sade), sondern auch die Perspektivierung der eurozentrischen bzw. französischen Sehweise vorweg, wie sie die Lettres persanes Montesquieus meisterhaft vorführen werden. Er inauguriert vor allem - wichtig für die Dialogkultur der Aufklärung - eine Romanform, die dem Dialog und Gespräch eine zentrale Rolle einräumt und aus der Begegnung mit dem Anderen zugleich einen Dialog mit dem Anderen werden lässt. Die zeitliche Übereinstimmung des Romans mit den epochalen Reiseberichten des königlichen Offiziers Baron de La Hontan, insbesondere den Dialogues curieux entre l’auteur et un sauvage de bon sens qui a voyagé (1704), ist ebenso frappant wie die ideologische Nähe des Verfechters einer neuen Moral der Einfachheit und Natürlichkeit zu dem Begründer des Mythos vom Guten Wilden. Der psychologische Sinn der Reifungsgeschichte wird in dem abschließenden Gespräch zwischen Mentor und dem Helden (Buch XVIII) deutlich, bevor sich Mentor-Minerva in Gestalt einer weiblichen Göttin in die Lüfte schwingt und Télémaque als „Erwachsenen“ allein zurück lässt, denn, wie die Göttin mit ausdrücklichem Hinweis auf die Entwöhnung des Kleinkinds von der Mutterbrust betont: „Il est temps que vous appreniez à marcher tout seul.“ (S. 572) Die Parallelen zur Himmelfahrt Christi sind sicherlich nicht zufällig, verspricht doch auch die scheidende Göttin den künftigen Beistand durch einen aufklärerischen „heiligen Geist“: „ma sagesse ne vous quittera point“ (S. 572). Erst der vollständig emanzipierte Held wird dann den verlorenen Vater wiedersehen dürfen, der vom Mentor als „le plus sage de tous les 64 hommes“ (S. 566) beschrieben wurde, mithin eine irdische Verkörperung dieser göttlichen Weisheit darstellt. Der ‚sublime‘ Vater aber ist zugleich der abwesende Vater, dem der Held kurz zuvor begegnet war, ohne ihn erkennen zu können. Und umgekehrt ist die Abwesenheit des Vaters, der zum Idealbild gesteigert wird, die Voraussetzung für den Reifungsprozess, den die Göttin nacheinander als Vater- und als Mutter-Imago befördert. Nur der abwesende Vater ist ein guter Vater, und er ist gut, weil er nicht in den Reifungsprozess des Sohnes eingreifen kann. Die Nähe zu den Jungschen Kategorien von Animus und Anima liegt auf der Hand, wird dem Helden doch nicht zufällig immer wieder die notwendige Verinnerlichung der Handlungsmaximen vor Augen gerückt. Mentor-Minerva ist die Inkarnation dieser psychischen Doppelung, die auf die Krise der unangefochtenen väterlichen Autorität zu verweisen scheint. Der doppelgeschlechtliche Mentor, eine als Vaterfigur verkleidete Göttin, demonstriert die Ent-Patriarchalisierung der Aufklärung im Zeichen des mütterlichen Naturbegriffs, dem von jetzt an auch die Väter unterworfen sein werden. Die innere Reifung wird so unabhängig von väterlicher Sozialisation und der väterlich gelenkten Familie. Denn, wie Mentor schon im XI. Buch erklärt: Die Kinder „appartiennent moins à leurs parents qu’à la république; ils sont les enfants du peuple, ils en sont l’espérance et la force“ (S. 381). Noch wird der Ablösungsprozess von elterlicher Autorität also im Stil der Utopien mit dem Gemeinwohl begründet, welches Mentor repräsentiert. Er vereinigt beide Elterninstanzen in sich und schickt den vom Elternhaus abgeschnittenen Helden als virtuelle Waise ins Leben. Freilich sind die autoritativen Zwänge noch so deutlich, dass die elterlichen Imagines mit göttlicher Autorität ausgestattet werden und den Helden vor Schicksalsschlägen bewahren. Während ein Gil Blas bei Lesage die Wechselfälle des Schicksals am eigenen Leib erfahren muss, kann Télémaque vor allem als lernender Zuschauer durchs Leben gehen und seine Lehren aus dem Beispiel des Vaters ziehen. Die ihm beigesellte sagesse im Zeichen einer idealen väterlichen Autorität mit mütterlichen Zügen verhindert eine echte Irrfahrt. Wie sehr Fénelon trotz allem noch in älteren Traditionen befangen ist, zeigt ein kurzer Blick auf den ebenfalls antikisierenden Erziehungs- und Initiationsroman Sethos (1731), 137 der ohne das Vorbild Fénelons nicht zu denken ist. Der Autor, der Abbé Terrasson, Mitglied der Académie des Sciences und seit 1732 auch der Académie française, Professor der griechischen und lateinischen Philosophie am Collège de France und Anhänger der ‚Moderne‘, transponiert den passiven Erziehungsweg des Fénelonschen Helden in einen aktiven Abenteuerweg kurz vor dem Trojanischen Krieg und übersetzt die Vaterlosigkeit des Helden in die realistische Koordinaten des troja- 137 Jean Terrasson, Sethos. Histoire ou vie tirée des monuments anecdotes de l’ancienne Egypte. Traduite d’un Manuscrit Grec (1731), 2 Bde., Amsterdam, La Compagnie 1732. 65 nischen Königshofes. Die ‚Abwesenheit‘ des Vaters beruht hier auf den Verhältnissen in Troja und den Intrigen der dem Stiefsohn feindlich gesinnten Stiefmutter. Kein wiedergefundener Vater beschließt die Suchfahrt des Helden, der durch den treuen Mentor Amedès in die Priesterkaste von Memphis eingeführt wird und den Initiationsmysterien beiwohnt. Auch verkörpert Amedès nicht den göttlichen Geist und ‚Aufklärung‘ ist hier ähnlich wie in der bürgerlichen Pikareske zugleich Desillusionierung. 138 Bernhard Huss 139 hat von einem umgekehrten Orpheus-Mythos gesprochen, denn der Held durchschaut den ‚Priestertrug‘ der Initiationsriten und kann nach dem Abstieg in die ‚Unterwelt‘ eben dadurch nach zahlreichen Abenteuern und Prüfungen zum „zivilisatorischen Kolonisator“ 140 in Südafrika werden. Der Held wird selbst zum Aufklärer, der den Vater hinter sich lässt und sich einen neuen Lebensbereich erschließt. Mit dem Verzicht auf die Erbfolge zerschneidet er auch das Band zur väterlichen Macht, die im Sinne der Überlieferung über den bald ausbrechenden Trojanischen Krieg ohnedies dem Untergang geweiht ist. Der abwesende Vater ist hier der überholte, gefallene Vater, der ähnlich wie die betrügerische Priesterkaste eine alte, vormoderne Welt vertritt. So ähnelt Sethos mehr einem Gil Blas der Antike als dem Vorbild Télémaque. 2. Memoirenroman und adlige Pikareske: Emanzipation als Spiel Am Anfang der Entwicklung steht die Memoirentradition, die aus weitgehend männlicher Perspektive Geschichte als Schauplatz eines aristokratischen Spiels vorführt, zugleich aber doch auch die Selbstbehauptung des jugendlichen Ich zum Ziel hat. Vergegenwärtigt man sich den Archetypus des ritterlichen Aventure-Romans, könnte man von einer „Säkularisierung der Rittertugenden“ auf dem Niveau eines leicht pikaresken honnête homme sprechen. Der fahrende Ritter wird zum aventurier, der vor dem flachen Horizont der Geschichte darum bemüht ist, seinen Status wenigstens zu wahren. Den Fährnissen des Schicksals gegenüber, die in Wahrheit die Gefährdung durch die Geschichte anzeigen, behauptet der Held seinen Überle- 138 Vgl. Maryse Marchal, „Mythes et mystères dans le roman Sethos (1731) de l’abbé Jean Terrasson“, in: AA.VV., Le génie de la forme. Mélanges de langue et littérature offerts à Jean Mourot, Nancy, Presses Universitaires 1982, S. 247-256. 139 Bernhard Huss, „Orpheus unter den Pyramiden. Zur Arbeit am Mythos im siècle des lumières“, in: Germanisch Romanische Monatsschrift 56 (2006), S. 307-331. 140 Ebd., S. 317, vgl. auch Robert Granderoute, Le roman pédagogique de Fénelon à Rousseau, 2 Bde., Genève / Paris, Slatkine 1985, Bd. I, S. 352 ff. 66 genheitsanspruch, der sich nurmehr auf ironisches Spiel und innere Überlegenheit reduziert. Die Abenteuerexistenz erscheint als Verweigerung bürgerlicher Sesshaftigkeit. Ähnlich wie man von einer bürgerlich-empfindsamen Fortentwicklung des aristokratischen Frauen- und Schicksalsromans sprechen kann, greift auch das pikareske Schema auf die bürgerliche Wirklichkeit über. Als Selbsterprobung eines noch ungefestigten Standes mit realer gesellschaftlicher Zukunft ändert das Genre jedoch in diesem Fall radikal seine ideologische Motivation. Die Widerständlichkeit der Geschichte weicht der konkreten Aufstiegsmöglichkeit, und das Abenteuer ist nicht mehr Ausweis des Besonderen, sondern Teil des Lebens, Metapher einer Existenz, die trotz Auf und Ab nur gewinnen kann und deren Tugenden in schlauer Anpassung, Mobilität und Rollenspiel liegen. Es ist interessant, die jeweilige historische Situierung mitzuinterpretieren. Zeigt der adlige Abenteuerroman eine auffällige Affinität zur Epoche Ludwigs XIII. und thematisiert so in deutlicher Nostalgie die letzte Periode adliger Freiheit vor der endgültigen Verhofung und Domestizierung des Adels, so beobachten wir jetzt die Tendenz, die Geschichte an das Heute heranzurücken, mithin das Leben unter je gegenwärtigen Bedingungen zu zeigen. Gemeinsam scheint beiden Formen die spielerische Verfügung über die unmittelbar gegebene Realität, eine Freiheit und Verfügbarkeit, die keine Innerlichkeit aufkommen oder überhaupt wünschenswert erscheinen lässt. Wir haben es mit dem Typus des Handlungromans zu tun, der erst allmählich auch die psychologische Analyse in sich aufnimmt. Zunächst ist vorrangig nicht die Psychologie, sondern die moralistische Beobachtung, Einordnung und Katalogisierung, eine Art Bestandsaufnahme der breiten Fülle des Lebens. Das adlige Ich behauptet sich dagegen; das bürgerliche Ich nutzt die neue Offenheit und erweist sich zu seinem eigenen Nutzen als lernfähig. Freilich ändert sich das Bild in dem Maße, wie Innerlichkeit und sensibilité ausgespielt werden. Aus dem leichtlebigen Abenteurer wird der vom Schicksal Verfolgte, und optimistische Anpassung wird zu bitterer Resignation. Dies gilt etwa für die Mémoires et aventures d’un Homme de qualité qui s’est retiré du monde (1728) oder Le Philosophe anglais ou Histoire de M. Cleveland (1731) von Prévost. Unter dem Eindruck der wachsenden Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung zeigt die Fortuna hier ihr doppeltes Gesicht: als Symbolfigur sozialer Durchlässigkeit und unaufhörlicher Verschiebung hilft sie dem, der auf Innerlichkeit verzichtet, d. h. sein Ich anzupassen vermag, verfolgt aber jene, die nach Ruhe und Geborgenheit im Zeichen der Liebe und Selbstidentität aus sind. Die Entdeckung und Thematisierung des Zufalls dient so zur Veranschaulichung der verschiedenartigen Antworten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Und im weiteren Sinn ließe sich vielleicht sogar die gesamte Geschichte des Romans in der Aufklärung nach der Überlegenheit oder Unterlegenheit des Helden in einer unübersichtlich werdenden Wirklichkeit gliedern. 67 Der Begründer des adligen Memoirenromans ist Gatien de Courtilz (1644-1712), ein königlicher Offizier, der wegen seiner politischen Polemik zur Bastillehaft verurteilt wurde. Der Autor, der nach Winfried Engler „mit romanhaften Memoiren und Annalen einen neuen Zweig der Trivialität“ 141 inaugurierte, ist doch zugleich ein Vorläufer des realistischen Romans 142 und des historischen Romans. La guerre d’Espagne ou les mémoires du Marquis*** (1706) belegt die Entstehung des historischen Romans aus der Biographie. 143 Die Geschichte bildet in jedem Fall den Hintergrund individueller Entwurzelung und Selbstbehauptung des jungen adligen Helden, der nicht mehr, wie etwa in der klassischen Tragödie, selbstverständlicher Teil historischer Kräfte und Intrigen ist, sondern sich gegen deren wirre Verkettungen zur Wehr setzen muss. Gesellschaftliche Überlegenheit und individuelle Opferrolle liegen nahe beieinander. So deuten sich in den Mémoires du Comte de Rochefort (l688) bereits die Kennzeichen des bürgerlichen Romans an, die Marthe Robert 144 aus psychoanalytischer Perspektive auf Freuds Familienromanphantasma zurückführt. Man könnte von einer Dialektik zwischen dem durch die Geschichte erniedrigten Ich und seiner Selbsterhöhung durch Kompensationsstrategien sprechen. Graf Rochefort, ein Kind aus erster Ehe, wird von seinen Eltern misshandelt und flieht aus der Familie. Eine Zeitlang lebt er mit Zigeunern zusammen, verdingt sich dann im französischen Krieg gegen Spanien, wird Geheimagent bei Richelieu und endet nach den Wirren der Fronde als Vertrauter Mazarins und überlegener Beobachter der Zeitläufte. Die vorweggenommenen Parallelen mit der bürgerlichen Pikareske sind frappant. Der adlige Aussenseiter, der zeitweise in die Nähe eines romantischen Outlaws gerät (Zigeunermotiv! ), beginnt seinen Aufstieg in dem Augenblick, da er es lernt, im Strom und mit dem Strom der Geschichte zu schwimmen. Bezeichnenderweise haben dabei die kriegerischen Ereignisse nur die Funktion eines Debüts; die eigentlichen Lorbeeren verdient sich der Held nicht im Kampf (wie eigentlich von einem Adligen zu erwarten wäre), sondern im Ränkespiel des Hofes. Und es ist weiter bezeichnend, dass er während der Fronde - nach einigem Schwanken - dem König die Treue hält und so in eigenem Interesse aber gegen die Interessen seines Standes, von der Domestizierung des Adels profitiert. Der Verzicht auf Handeln und der Rückzug auf eine moralistische Beobachterrolle - ein zentrales Motiv des 18. Jahrhunderts - unterstreichen hier das letztlich passive Geschichtsverständ- 141 Lexikon der französischen Literatur, Stuttgart, Kröner 1974, S. 258. 142 B. M. Woodbridge, Courtilz. Etude sur un précurseur du roman réaliste en France, London/ Paris, Baltimore 1926. 143 So in der Münchener Dissertation von W. Füger, Die Entstehung des historischen Romans aus der fiktiven Biographie in Frankreich und England. Courtilz und Defoe, München 1963. 144 Marthe Robert, Roman des origines et origines du roman, Paris, Gallimard 1972. 68 nis, das durch die bunte Handlungsfülle des Romans nur mühsam verdeckt wird. In chronologischer Perspektive möchte man von einer fortschreitenden sozialen Erniedrigung der Helden des Autors sprechen. In den Mémoires de M. d’Artagnan (1704) ist der Protagonist ein kleiner Edelmann aus dem Béarn. Er sucht in Paris den Schutz eines adligen Aufsteigers, des Grafen von Tréville, und betätigt sich gleichzeitig als Soldat, Geheimagent und Casanova. Deutlicher als zuvor ist der Handlungsfaden nur noch Vorwand für die Entfaltung der Pittoreske des Lebens ohne eigentliches Ziel und Ende. Das Abenteuer erscheint als Flucht aus einer sinnvoll nicht mehr ausfüllbaren Geschichte und zugleich als bewusste Verkehrung der Entwurzelungserfahrung ins Positive bzw. Lustvolle. In den Mémoires de M. de B. (1711) endlich ist der Held ein adliges Waisenkind. Er absolviert ein bürgerliches Studium, arbeitet - ein Novum ! - nach dem Tod seines Gönners zeitweise als Tischler, wird Kaufmann und sogar Freibeuter und heiratet endlich eine hässliche, aber reiche Frau, um sich von ihr aushalten zu lassen. Durch ihre Vermittlung erhält er einen Posten als Untersekretär beim Kardinal Richelieu und mausert sich dadurch - ähnlich wie im ersten Roman - zum einflussreichen politischen Beobachter. Wenn das Waisenkindmotiv am Anfang vielleicht erwarten lässt, dass das Geheimnis der Geburt eines Tages aufgeklärt wird, so wird diese Erwartung enttäuscht. Und das ist charakteristisch. Denn ein Happy End ist gar nicht nötig, wo es bloß darum geht, immer neue Varianten der Fortuna zu erfinden. Interessant ist allenfalls, dass erstmals auch die Rolle der Arbeit angesprochen wird und der Held verschiedene Berufe und Tätigkeiten durchläuft. Es ist, als ob der zeitgenössische Roman adliger Prägung das Deklassierungsmotiv brauche, um erste Ansätze eines gesellschaftlichen Realismus zu entwickeln und dem jungen Protagonisten Gelegenheit zu geben, sich gegen eine mehr und mehr sinnentleerte väterliche Gesellschaft zu behaupten. Zwischen Anpassung und Revolte, Abstieg und Aufstieg führt ein schmaler Grat zum letztlichen Erfolg. Ganz in der Tradition der adligen Burleske bleiben dagegen die Mémoires de la vie du comte de Gramont (1713) 145 des Grafen Antoine Hamilton (1646-1720), eines in Irland geborenen englischen Adligen, der wegen seiner Treue zu den Stuarts ins französische Exil gehen musste und sich als geistreicher Libertin und Verfasser erotischer Märchen einen Namen machte. 146 Die Memoiren sind ein frühes Beispiel der libertinistischen Erzählweise, die bis zu den Erfolgsromanen eines Louvet de Couvray am Ende des Jahrhunderts aktuell bleiben wird. Der Held der Memoiren ist ein junger Chevalier, der sich mit seinem Begleiter auf die Reise begibt, nachdem ihm sein Bruder eine kirchliche Pfrün- 145 Ph. Dandy, 1965. 146 R. E. Clark, Antony Hamilton, Life, Works and Family, London, Lane 1921. 69 de besorgt und dadurch Mittel an die Hand gegeben hat. Geplant ist so eigentlich eine moralische Bildungsreise im Stil der Kavalierstour der Aufklärung, und der Knappe, der die Rolle eines Mentors übernommen hat, hat daher die Aufgabe, die nötige Strenge walten zu lassen. Doch der junge Abenteurer ,wickelt‘ seinen Begleiter ein und verspielt schon am ersten Abend alles in einer Kneipe in Lyon. Durch ein erotisches Abenteuer gewitzt, verlässt er sich auf seine Verführungskünste und zieht durch mehrere Länder, ohne dass es um mehr als pikante Episoden ginge. In Italien beteiligt er sich nebenbei an einem Feldzug, dann kommt er nacheinander an den französischen, den englischen und wieder den französischen Hof und beendet seine erfolgreiche amouröse Laufbahn glücklich verheiratet als Graf von Gramont. Interessant ist der Roman nicht nur aus historischen Gründen, weil er den Übergang von der Epoche Ludwigs XIII. zu Ludwig XIV. ausführlich zu Wort kommen lässt, sondern auch weil er den Rollenwechsel vom abenteuernden rogue (wie die englische Bezeichnung lautet) und Jungadligen zum beliebten Unterhalter bei Hof thematisiert. Pikareske und Hofadel rücken dadurch in eine überraschende Nähe zueinander, und die erfolgreiche Existenz wird als Rollenspiel definiert, bei dem nur die richtige Anpassung entscheidend ist. Wiederum, wie schon bei Courtilz, geht es um die Verhofungstendenz, die als notwendiger Endpunkt eines nicht mehr hinterfragbaren Lebens begriffen wird. Picaro und Höfling verweisen auf die nämliche, spielerisch-souveräne Verweigerung von Sinn oder Engagement und auf das gleichbleibende Bemühen, die eigene lächelnde Überlegenheit zu wahren. Insofern ist auch der Hof nur Bühne und Theater eines Lebensprogramms, das in der freien Verfügung über das eigene Ich die eigentliche Bestimmung findet. „Les fortunes du chevalier de Gramont y furent longtemps diverses dans l’amour et dans le jeu. [...] toujours gai, toujours vif, et, dans les commerces essentiels, toujours honnête homme.“ (S. 79) Dies gilt für das Glücksspiel ebenso wie für die diplomatische Mission. In jedem Fall geht es darum gewisse Regeln zu wahren, ohne List und Betrug auszuschließen. Das Leitmotiv des Glücksspiels, mit dem der Roman beginnt, ist so zugleich die Metapher einer allgemeinen Haltung, die das Vorbild der alten ritterlichen Ideale und zugleich des Ritterromans nur noch als Folie spielerischer Selbstbehauptung gelten lässt. Adlige Überlegenheit ist die Überlegenheit der Jugend, die sich im Spiel verwirklicht. Die Außenwelt bleibt flächiger, gleichsam dekorhafter Hintergrund für eine Haltung, die mit dem adligen badinage verglichen werden kann und in den Briefen der Madame de Sévigné ihren konsequentesten Ausdruck findet. Der badinage verwandelt gesellschaftliche Funktionen in ästhetisches Gesellschaftsspiel und ästhetisiert zugleich die objektive Funktionslosigkeit. Pikante Situationen - wie z. B. der Sturz einer Dame vom Pferd - sind bedeutsamer als historische Katastrophen (etwa Pest und Brand 70 von London), und noch der Krieg gibt Gelegenheit zu adliger Selbstdarstellung, der Zelebration des überlegenen Ich. So erscheinen der flandrische Krieg und die Belagerung von Arras wie ein sportliches Ereignis jenseits geschichtlicher Tragik. In dieser Selbstüberhöhung liegt aber zugleich auch ein Element des Neuen, das deutlich den traditionellen Normhorizont auch der adligen Literatur durchbricht. Das Ich garantiert Authentizität. Darum finden wir den auktorialen Bericht durch die Ichperspektive durchbrochen: „C’est de lui-même [...] qu’il faut écouter cet écrit“ (S. 31). Dabei geht es auch um die Kleinigkeiten des Lebens und die Details der Person, denn: „les moindres particularités d’une vie comme la tienne méritent d’être racontées“, meint der Begleiter einmal zu seinem jungen Herrn. Und später noch einmal ähnlich: „Il n’y a point de vide qu’on ne doive regretter dans une vie dont les moindres particularités ont eu quelque chose de divertissant ou de singulier.“ (S. 80) Trotz einer gewissen Ironie tritt die adlige Pikareske mithin im Zeichen des singulier an und entdeckt damit die Einmaligkeit des Ich. Allgemein gesprochen könnte man sagen: Vor der Entdeckung der Welt steht das neue Verhältnis zur Subjektivität. Die Einheit der heterogenen Fülle des Erlebten ist durch das Ich des Betrachters gegeben, der zugleich als Erlebender und als Zuschauer/ Kommentator die Welt erschließt. Und diese Perspektive ist die des jungen Ich, das nicht mehr wie in Fénelons Télémaque von seinem väterlichen Mentor geführt wird. Dabei erzwingt die Thematik des Lernens und der Erfahrung zwischen aventure und fortune eine bewegliche Perspektive. Die verschiedenen Formen des Abenteuer- , Schicksals- oder Reiseromans gehorchen alle dieser beweglichen Perspektive und unterscheiden sich diesbezüglich radikal vom bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts. Die nicht gewichtete, aneinander gereihte Serie der Schauplätze und Erlebnisse ist auch die Voraussetzung für die mögliche Didaktisierung des Schemas, sei es in Form des Erziehungsromans oder einfach im aufklärerischen Anschauungsunterricht. Das eigentliche Tiefenparadigma der Gattung Roman im Zeitalter der Aufklärung stellt also die REISE dar, die man mit der aufblühenden Reiseliteratur des siècle philosophique in Beziehung setzen müsste. Sie begründet eine „extensive Totalität“ (Lukács) eigener Art und verweist wohl auf den enzyklopädischen Anspruch, der die Wissensgeschichte der Aufklärung prägt. Gewollt oder ungewollt reisen fast alle Helden des aufklärerischen Romans, manche auch nur im eher metaphorischen Sinn, und es ist z. B. bezeichnend, dass noch in einem so verinnerlichten und konzentrierten Roman wie der Nouvelle Héloïse der unglückliche Saint-Preux auf Weltreise geht und die Weite der realen Welt revuepassieren lässt, bevor er zu der inzwischen verheirateten Geliebten Julie zurückkehrt, um das Leben aus der Überschau des Philosophen zu betrachten. Die Entwurzelung und Mobilität der Reisesituation begründen die Offenheit des Schicksals, aber auch die Emanzipation des lernenden Ich. 71 3. Lesage: bürgerliche Pikareske, Emanzipation, Geschichtsmächtigkeit und Vaterwerdung Vor dem Hintergrund der adligen Pikareske situiert sich die neu einsetzende bürgerliche Pikareske, die durch Alain René Lesage, einem der ersten ‚modernen‘ Schriftsteller, vertreten wird. 147 1668 in der Bretagne geboren und 1747 in Boulogne gestorben, besucht er die Jesuitenschule, absolviert sein Rechtsstudium in Paris und wird nach der Heirat Advokat und ,freier Schriftsteller‘. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er durch Theaterstücke (übersetzt spanische Dramen und dichtet volkstümliche Komödien für das Théâtre de la Foire). Dies belegt die Nähe zwischen den comédies de mœurs und den Sittenromanen, die zusätzlich das Element der Bewegung und des Abenteuers einbringen: Es folgen Le Diable boiteux (1707, überarbeitet und wesentlich erweitert 1726), das große Hauptwerk Gil Blas de Santillane (1715-35), Les Aventures de M. Robert Chevalier (1732), eine Adaptation des spanischen Schelmenromans Guzmán de Alfarache, der Reise- und Abenteuerroman La Vie de M. Beauchêne, capitaine de flibustiers (1732), Le Bachelier de Salamanque (1736 ff) und andere Adaptationen spanischer Romane, die das pikareske Schema in die neue Form des weltläufigen Abenteuer- und Reiseromans überführen. Die Vielzahl spanischer Vorbilder zeigt nicht nur, wie sehr die französische Romanliteratur noch auf der Suche nach sich selbst ist, sie verweist auch auf die gänzlich veränderte Zielrichtung der sog. bürgerlichen Pikareske, die das Heraustreten aus dem väterlichen Normhorizont und Lebenserfahrung als Emanzipation begreift. Insbesondere erscheint der pikareske Roman mit seiner gesellschaftlichen Sicht von unten als einige der wenigen ‚realistischen‘ Alternativen zu dem Genre der adligen Memoiren. Ihrer fehlenden Unterscheidung zwischen Geschichte und Privatheit und ihrer handlungsbetonten Monotonie ohne Tiefenschärfe und deskriptive Anschaulichkeit setzen nun bürgerliche Formen der Pikareske die Spannung zwischen Drinnen und Draussen, Sein und Schein entgegen; sie kennen Perspektivierung und Beschreibung, Ansätze des deskriptiven Paradigmas und begreifen den modernen bürgerlichen Roman als Funktion der neuen Doppelbödigkeit. Die Entwicklung verläuft also vom Was zum Wie und weist die frühen Romanformen als ‚Reflexion‘ über klassische Vorbilder aus. Hierfür charakteristisch ist der Le Diable boiteux, ein 1726 erneut überarbeiteter Bucherfolg der Zeit, der im 18. Jahrhundert 35 Neuauflagen er- 147 Roger Laufer, Lesage ou le métier de romancier, Paris, Gallimard 1972. 72 fuhr und zu einem der erfolgreichsten Titel der Aufklärung wurde. 148 Wie der Autor in der Vorrede selbst betont, handelt es sich um die Adaptation der spanischen Erzählung El Diablo cojuelo (1641) von Luis Vélez de Guevara, 149 freilich mit der deutlichen Tendenz zur Romantisierung und Dramatisierung der Vorgabe vor allem in der späteren Überarbeitung. Der Inhalt ist rasch erzählt: Der Student Dom Cléofas entgeht einem nächtlichen Rendezvous, zu dem plötzlich zwei Rivalen hinzukommen, über die Dächer von Madrid, entdeckt eine Dachluke und in dem Kämmerchen einer Zaubererwerkstatt einen Geist in der Flasche, den er auf dessen Bitte hin herauslässt: Es ist Asmodée, der hinkende Teufel, der ihn zum Dank über die Dächer von Madrid führt und ihn Einblick in das Innere der Häuser und Rache an den Rivalen nehmen lässt. So gelingt es mit Hilfe des Teufels, die beiden anfänglichen Widersacher miteinander zu entzweien und die untreue Geliebte zu bestrafen. In der späteren, fast auf den doppelten Umfang erweiterten Fassung rettet Asmodée noch in der Gestalt des Dom Cléofas ein Mädchen aus einem brennenden Haus, so dass die Geschichte mit Hochzeit und Happy End abgeschlossen wird. Ursprünglich wird der Teufel von dem Zauberer zurückgerufen, der dessen Befreiung aus der Flasche entdeckt hat, worauf die Erzählung relativ unvermittelt abbricht. Das moralistische Schema der ,morale mise en action‘ ist hier wörtlich genommen. Die scheinbar phantastische Einkleidung dient nur als Kunstgriff, um die Aussen- und Innensicht problemlos zu verbinden und die Episoden kaleidoskopisch aneinanderzureihen (letzteres wie im Abenteuer- und Schelmenroman). Die Einheit ist also nur durch die Perspektive des Beobachters gewährleistet. Stilistisch ist der Kurzroman noch immer an den raschen, pointierten Erzählstil der Memoirentradition gebunden, deren offene Struktur er übernimmt. Das Bedürfnis nach dem rührseligen Happy End macht sich charakteristischerweise erst in der späten Überarbeitung von 1726 bemerkbar. Entscheidend aber ist das Großstadtmotiv. Madrid steht natürlich für Paris, zumal der Autor mehrfach - bewusst oder versehentlich - auf französische und Pariser Verhältnisse rekurriert. Erstmals nach Antoine Furetières Roman bourgeois (1666) fungiert das Phänomen der Stadt damit als Handlungsraum für die disparate Einheit des anonymen städtischen Lebens. Von einer „Allerweltsstadt“ spricht Volker Klotz 150 , der die „pars-pro-toto- 148 Alain-René Lesage, Le Diable boiteux. Texte de la deuxième édition avec les variantes de l’édition originale et du remaniement de 1726, éd. par Roger Laufer, La Haye, Mouton 1970. Zitate nach dieser Ausgabe. 149 Hierzu die Diss. von Uwe Holtz, Der hinkende Teufel von Vélez de Guevara und Lesage, Wuppertal, A. Henn 1970. 150 Hierzu besonders Volker Klotz, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München, Hanser 1969, S. 22-47. 73 Sicht“ als „tragendes Prinzip des Romans“ bezeichnet, 151 wobei der nächtliche Rundgang Gelegenheit gibt, das städtische Treiben gleichsam im Ruhezustand, als Endpunkt vergangener Aktivität und als Ausgangspunkt des Kommenden, zu betrachten. Gegenüber dem Memoirenroman mit seinen weit gestreuten, motivisch aber fast belanglosen Schauplätzen in Turin, Paris, Rom etc., in denen jeweils nur ein bestimmtes Milieu zählt, ist nun die ganze Stadt gerade gut für eine einzige Kette von kleinen Abenteuern und typischen Porträts. In der Intensität des Nebeneinanders unzähliger Leben und Abenteuer wird die Stadt zum konkreten Raum des alltäglichen Lebens, welches Lernziel und Initiationsgegenstand des jungen Helden wird. Auf die sentimentale Desillusion folgt der moralistische Lehrgang in Sachen ‚Gesellschaft‘. Roger Laufer hat im Anhang seiner kritischen Ausgabe eine inhaltliche Aufstellung der zahlreichen Personenporträts aus allen Schichten der Gesellschaft zusammengestellt. Und Volker Klotz hat auf das Bemühen des Autors aufmerksam gemacht, jeweils typische Gestalten, sog. „ewige Typen“, vorzuführen, die bis in die Antike zurückzuverfolgen sind und eine Art „ewigen Narrenspiegel“ nahe legen. 152 Der junge Held, der ähnlich wie in der Faustsage vom Teufel pfeilschnell von Ort zu Ort geführt wird, erhält so Gelegenheit zum Einblick in das Ganze: „Alors l’écolier vit comme en plein midi tout l’intérieur des maisons“ (S. 92), heißt es einmal, und das bedeutet, das ganzheitliche Sehen ist ein initiatisches Sehen, durch das der naive Held mit der Vielfalt der Gesellschaft vertraut gemacht und zur deutlichen Wahrnehmung - „comme en plein midi“ - angehalten wird. Der Teufel hilft dabei nach, indem er ihn auf Dinge hinweist und ausführliche Geschichten erzählt. D. h., erst durch die deutenden und ergänzenden Kommentare des hinkenden Teufels werden die Augenblickseindrücke als Lebensformen fassbar. Dadurch wird der Teufel aber zum ersehnten Doppelgänger des Helden, der ja mit väterlichen Vollmachten ausgestattet, selbst nichts anderes als das Double des Autors Lesage ist und die Selbstermächtigung des jungen moralistischen Schriftstellers symbolisiert. Der ‚hinkende Teufel‘ ist das Urbild einer Reihe von Initiationsinstanzen, die von Marivaux und Crébillon bis zu Laclos’ Valmont den vaterlosen libertinistischen Roman prägen. Als überlegener Doppelgänger mehr denn als Vaterinstanz belegt er zugleich den Versuch, die väterliche Instanz zu umgehen. Der Blick von oben ist ‚Überblick‘, und das Abdecken der Häuser und Wohnungen ein symbolischer Akt der Entmythisierung, der Intimitätskontrolle und der überlegenen Bemächtigung, für die der unerfahrene „écolier“ noch dämonischer Hilfe bedarf und sich ein zweites, stärkeres Ich erträumt. Die vorgestellte Großstadtgesell- 151 Ebd., S. 39. 152 Ebd., S. 43. 74 schaft ist dann ungeachtet auch einiger junger Personen, mit denen den Helden ein Rivalitätsverhältnis verbindet, ein Kompendium der väterlichen Gesellschaft, die mit jungen, aufgeklärten Augen ‚abgedeckt‘ und zugleich abgewertet wird. Die dialektische Ironie der Geschichte besteht darin, dass der Held seine dämonische Helferfigur erst befreien muss, um von dieser geführt und zu einem neuen, ‚dämonisch‘ aufgeklärten Sehen befreit zu werden. Offensichtlich ist ‚Aufklärung‘ noch immer mit dämonischen Konnotationen behaftet. Dabei betont Asmodée, zunächst grotesk hässlich, dass er auch jede andere Gestalt hätte annehmen können, und verweist so nicht nur auf ein tendenziell theatralisches Universum, in dem jede Person gleichsam verkleidet eine Rolle spielt. Er repräsentiert auch den kaleidoskopischen Charakter des modernen Schriftstellers, der über eine kaleidoskopische Wirklichkeit gebietet. Charakteristischerweise ist der Teufel im übrigen ja weniger eine dämonische Figur als eine Allegorie der Moderne; er steht für Luxus, Mode, Ausschweifung, Spiel, mithin Leitbegriffe des Aufklärungszeitalters, und vor allem für das gattungsgeschichtliche Äquivalent, das Lesage als Autor des Théâtre de la Foire schon erproben konnte, die Komödie. Sie wird in dem späteren „Démêlé d’un auteur tragique avec un auteur comique“ (im XIV. Kapitel) gegenüber der angeblichen Höherwertigkeit des Tragischen und damit der Tradition und der Welt der ‚Väter‘ in Schutz genommen und aufgewertet. Dieses neue jugendliche Literaturform, die Schwester des Romans, kommt eben nicht auf den hohen Kothurn der klassichen Tragödie, sondern gleichsam hinkend und leicht anrüchig, eben komisch daher. Der alterslose Teufel ersetzt so die bisherige Leitfigur des väterlichen Mentors in Télémaque. Er wirkt nicht als Erzieher, sondern als Alter Ego des Helden, mit dem er sich gemein macht und den er am Ende in die Unabhängigkeit entlässt, während er selbst sich in die Gewalt des väterlichen Zauberers zurückbegibt. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass die beiden Binnenerzählungen, die in der Tradition der abenteuerlichen, aber erbaulichen histoire stehen, den Sieg jugendlicher Freundschaft über die väterliche Gesellschaft thematisieren. Dies gilt für die Geschichte des Grafen von Belflor und seiner Geliebten Lenor de Cespedes (Kap. IV und V) ebenso wie für „La force de l’amitié“ (Kap. XIII und XV). Gerade erstere histoire wirkt entfernt wie die Neuinterpretation des tragischen Cid-Konflikts, in dem Don Diègue, der Vater des Helden, seinen Sohn Rodrigue gezwungen hatte, an Don Gomez, dem Vater der Geliebten Chimène, für eine erlittene Kränkung Rache zu nehmen: Der Konflikt der Väter determiniert in der berühmten Tragikomödie Corneilles von 1637 das Lebensglück der Kinder, das nur durch das Eingreifen des Königs gerettet werden kann. Hier jedoch setzen sich die Interessen der Jungen durch. Als Dom Luis de Cespedes von seinem Sohn Dom Pedre verlangt, die Schmach der Verführung der Tochter durch den Grafen von Belflor zu rächen, weigert sich dieser, da der Graf ihm soeben bei einem nächtlichen 75 Scharmützel das Leben gerettet hatte und sein Freund geworden war. Der Graf beschließt stattdessen, die verführte Geliebte zu ehelichen. Das bürgerliche Schema der Macht der Liebe siegt über aristokratische und väterliche Ehrpusseligkeit, und wie die Molièreschen Väter wird Dom Luis zum zufriedenen, aber auch hilflosen Zuschauer der Geschichte der Jungen. Diese Erfahrung der ‚Jungen‘ prägt auch die Histoire de Gil Blas de Santillane 153 , die den novellesken Begriff der histoire benützt, um das romanhafte Auf und Ab des Lebens mit einer Vielzahl novellesker Peripetien zu schildern. Aus der Spanienmode um die Jahrhundertwende erwachsen und aus Elementen des pikaresken spanischen Romans zusammengesetzt 154 , begründet der Gil Blas 155 das Modell des bürgerlichen Bildungsromans der Neuzeit, der alsbald in England (Smolett, Fielding) und in Deutschland (Baron von Kniedgge: Peter Claus von Clausbach) Nachahmungen fand. Auch hier bildet das spanische Kolorit im Spanien Philipps IV. (1598-1621) nur die ironische Folie für den Aufstieg des kleinbürgerlichen Helden zum Großgrundbesitzer und adligen Vertrauten bei Hofe in der von Finanzskandalen und Korruptionsaffairen erschütterten französischen Régence (1715-1723). Ähnlich wie der Held des Diable boiteux besticht Gil Blas gerade durch seine Durchschnittlichkeit, durchläuft aber anders als jener eine Entwicklung, durch die der Schelmenroman zum Entwicklungs- und Aufsteigerroman wird, der die lange Reihe der Aufsteigerromane des 18. Jahrhunderts einleitet. Marie-Hélène Huet 156 spricht diesbezüglich von einem ‚Traum‘ der Aufklärung, der weniger der sozialen Realität als einem Wunschdenken gehorcht. Es ist der Traum selbstverantworteter Überhöhung des Ich, der eng mit dem Vaterbild verbunden ist und insofern auch auf den von Marthe Robert untersuchten ‚Familienroman‘-Komplex verweist. Denn wenn der „roman des origines“ tatsächlich die imaginäre Voraussetzung für die Entstehung des ‚modernen‘ Romans („origines du roman“) bildet, erhält die Neubegründung des Pikaresken im Zeichen individueller Emanzipation aus diesem epochalen Konstrukt seine Funktion. 157 Bardon hat in der Einleitung seiner Ausgabe darauf hingewiesen, dass Gil Blas eben keine pícaro-Natur ist und schon gar keinen Hang zur Schurkerei besitzt; er ist kein Schelm, sondern „le héros de l’insuffisance“, der dem ganzen Roman den Stempel des Mittelmaßes aufdrückt. Im Gegensatz zum kruden Realismus der spa- 153 Zitate nach der Ausgabe von Maurice Bardon: Lesage, Histoire de Gil Blas de Santillane, 2 Bde., Paris, 1962 (Les Classiques Garnier). 154 Felix Brun, Strukturwandlungen des spanischen Schelmenromans. Lesage und seine spanischen Vorgänger, Bern 1962. 155 Charles Dédéyan, Lesage et „Gil Blas“, 2 Bde., Paris, Société d’édition d’enseignement supérieur 1965. 156 Marie-Hélène Huet, Le Héros et son double. Essai sur le roman d’ascension sociale au XVIII e siècle, Paris, Corti 1975, S. 171 (zu Gil Blas, S. 11-30). 157 Marthe Robert, Roman des origines et origines du roman, Paris, Gallimard 1972. 76 nischen Vorbilder transponiert Lesage die adlige Memoirenliteratur in den bürgerlichen Sittenroman, „le roman [...] de l’humanité commune“ 158 . Von „a universal panorama of the human mind“ 159 hat Frederick Charles Green gesprochen. Der Roman erreicht diese Universalität, weil er alle herkömmlichen Hierarchien einebnet und Haupt- und Nebenfiguren dem gleichbleibend ironischen Stil der Sittenkomödie unterwirft. Die Einzelporträts des Diable boiteux werden gleichsam Teile einer Handlungskette, durch die der junge Held in die Gesellschaft initiiert wird. Als ein Paradebeispiel intertextueller und intergenerischer Vernetzung betreibt er gattungsgeschichtliche Emanzipation am Beispiel eines Helden, der selbst emanzipatorische Funktion hat. Denn die Welt als Bühne 160 ist die Voraussetzung für die lange Kette von Stationen der Lebenserfahrung, die der junge Held braucht, um sich in dieser Welt einzurichten und gegen sie durchzusetzen. Gil Blas braucht keinen hinkenden Teufel als überlegenes Alter Ego mehr, aber er benützt Freunde und „hinkende Teufel“ ebenso wie Vaterfiguren mit dem Ziel, selbst Vater zu werden. Dazu bedarf es freilich der ostentativen Emanzipation vom eigenen Vater. Jedes sentimentale Band an die eigene Familie, jeder Gedanke an eine stille Ordnung der familiären Genealogie wird so zugunsten des emanzipatorischen Aufsteigermotivs gekappt. Der neue Vater hat sich selbst erschaffen. In keiner Tradition mehr verwurzelt, benützt er alle Tradition als Folie für die eigene Selbstbehauptung. 161 Es ist, als hätte der Autor sich diesen Emanzipationsweg selbst erst allmählich klar machen müssen, liegt doch ein volles Jahrzehnt zwischen dem Anfang und dem Schluss. Denn die Entstehung des Romans erfolgt in drei Etappen, Bücher I bis VI 1715, Bücher VII bis IX 1724, die restlichen Bücher X bis XII 1725. Hauptkennzeichen der Gliederung ist die Einteilung in Etappen, die aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen suggeriert und den Lebensweg des Icherzählers im Gegensatz zum statischen pikaresken Roman als Lernprozess ausweist. Das ständige leitmotivische Auf- und Ab der Fortuna im Zeichen des Zufalls bildet nur den Hintergrund einer in Wirklichkeit aufsteigenden Linie, die Befreiung und Aufstieg des Ich aus eigener Kraft einsichtig macht. Der Lebenskampf wird auf diese Weise als Lebensethos und als 158 M. Bardon, a. a. O., „Introduction“, S. XX. 159 Frederick Charles Green, in ders., „The Unheroic Heroes“. Literary Ideas in 18th Century France and England, New York 1966, S. 334-364, hier S. 356. 160 Vgl. Vivienne Mylne, „Structure and Symbolism in Gil Blas“, in: French Studies 15 (1961), S. 134-135. 161 Mit ödipaler Phantasie hat dies, wie Paul Pelckmans richtig bemerkt, nichts zu tun; vielmehr zeigt der Gil Blas, dass die Literatur der ersten Jahrhunderthälfte, „n’est nullement structurée par une sensibilité œdipienne“: Le Sacre du Père. Fictions des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983, S. 101. 77 gleichsam experimenteller Lebensweg sichtbar. Betrachten wir kurz den Inhalt: Buch I: Aufgewachsen als Sohn eines ehemaligen Stallmeisters der Armee und einer Kammerzofe in Oviedo erhält der Held eine unabgeschlossene klassische Erziehung durch den Onkel und Kanonikus Gil Pérez, der ihn auf die Universität Salamanca schicken will. Mit 17 Jahren verlässt Gil Blas, „nur mit dem elterlichen Segen“ versehen und einigen gestohlenen Münzen des Onkels das elterliche Haus. Bereits in der ersten Kneipe wird er in Peñaflor übers Ohr gehauen und lernt die wichtigste Lebensregel kennen: „de ne pas me laisser duper“ (I, S. 11). Dennoch kommt er vom Regen in die Traufe, als er bei Astorga Räubern in die Hände fällt und zu ihrem Handwerk erpresst wird. Seine Flucht mit einer vornehmen Dame bezeugt die Überlegenheit von List über Gewalt und die grundsätzliche Ehrenhaftigkeit des jungen Helden, der nicht auf der sozialen Stufe einfacher „chevaliers de fortune“ stehen bleiben will. Damit ist auch die Existenz des Abenteurers erledigt, denn: „Je veux porter l’épée, et tâcher de faire fortune dans le monde: ce fut à quoi je m’arrêtai.“ (I, S. 54) Von der dankbaren Dame mit Geld versehen begegnet der Held auf dem Weg nach Madrid jedoch dem pícaro Don Raphaël, der ihn betrügt, und wird darauf von Fabrice, einem Landsmann und ehemaligen Kameraden, in die Geheimnisse des Lebens eingeweiht. Il faut se consoler, mon enfant, de tous les malheurs de la vie: c’est par là qu’une âme forte et courageuse se distingue des âmes faibles. (I, S. 64) Das leitmotivische aristokratische Stichwort der „âme forte et courageuse“ prägt von jetzt an den bürgerlichen Aufstieg. Als Mittel des Aufstiegs empfiehlt der Freund dem Helden freilich zunächst die Dienerlaufbahn: Dienen als Sprungbrett zum Herrschen! Buch II: Gil Blas nimmt eine Stelle beim Kanonikus Sedillo an, wo er die Kunst der Anpassung und des Gefallens lernt. Trotzdem entgeht ihm die erhoffte Erbschaft. Als Angestellter des berüchtigten docteur Sangrado (des Typus des unfähigen Arztes, der alle zur Ader lässt) heilt er die reiche Verlobte von don Rodrigue zu Tode und flieht aus Valladolid. Oberstes Gesetz ist „faire le capable“ (I, S. 90), d. h. das Gesetz des schönen Scheins, auch in der Moral. Denn „le monde n’est guère vertueux que de cette façon“ (I, S. 119). Auf der Flucht begegnet er einem Barbiergehilfen, der eben aus dem Gefängnis entwichen ist und ihn in Schauspielerkreise einführt, jene kaleidoskopische Welt der vielfältigen Rollen, die schon in Le Diable boiteux angedeutet wurde. Buch III: In Madrid wird Gil Blas der Kammerdiener des jungen adligen Dandy Don Mathias de Silva, nachdem sein erster Herr, der Cavalier Castillo Blanco als Spion des portugiesischen Königs verdächtigt worden ist. Auf diese Weise macht er Bekanntschaft mit dem Lebensstil der ,jeunesse dorée‘ 78 der adligen Stutzer und petits-maîtres und beschließt: „aussi je veux désormais consacrer mes services à la noblesse“ (I, S. 153). Freilich: Gerade als der Held im Begriff ist, „un homme à bonnes fortunes“ (Kap. I, V) zu werden und sein „fonds de génie“ (I, S. 152) auf diesem Gebiet zu entdecken, fällt sein Herr im Duell, und er wartet darauf, „que la fortune me présentât une maison telle que je m’imaginais la mériter“ (I, S. 177 f.). Der Held denkt mithin nicht gering von sich selbst und plant den verdienten Aufstieg. Die Anstellung bei der Schauspielerin Arsenia kann so nur provisorisch sein, da das Milieu seinem Ideal eines honnête homme widerstrebt und sein „heureux naturel“ die „désordres de la vie comique“ (I, S. 191) nicht verträgt. Von „un reste d’honneur et de religion“ (I, S. 192) getrieben, begibt sich Gil Blas also auf die Suche nach Höherem. Er begegnet dem ehemaligen Intendanten von Don Mathias und wird mit dessen Hilfe Hausverwalter bei einem Hidalgo, später Kammerdiener bei Don Pacheco, wo seine Erbschleicherei mit der Entlassung endet. Den Dienst bei der Marquise von Chaves muss er nach einer Liebesaffaire aufgeben. Auf diesen Rundgang durch das Madrider Adelsmilieu folgt der Entschluss, „de parcourir l’Espagne et de m’arrêter de ville en ville.“ (I, S. 257) Man könnte von einer nachgeholten, pikaresken Bildungsreise sprechen! Auf dem Weg nach Toledo trifft der Held Don Alphonse, der ihm von seinem Leben erzählt, und den als Einsiedler verkleideten Gauner Don Raphaël, einen alten Bekannten. Buch V erzählt die Geschichte Raphaëls, des unehelichen Sohnes einer Madrider Schauspielerin (im Stil des Abenteuers- und Seefahrerromans mit Elementen wie Entführung, maurisches Exil, Liebesintrigen). Am Ende der Erzählung stehen die Befreiung eines gewissen Grafen von Polan in einer Gastwirtschaft und die Wiederbegegnung Raphaëls mit seiner geliebten Séraphine. In Buch VI wird Gil Blas nach diesen und anderen Abenteuern der Intendant und Freund von Don Alphonse und findet im Grafen Polan einen einflussreichen Beschützer. Er hat es scheinbar geschafft! Buch VII: Obwohl ehrlicher Hausmeister, der alle moralischen Versuchungen siegreich besteht, stolpert Gil Blas über die enttäuschte Liebe eines älteren Fräuleins und muß wieder den Dienst quittieren: „je suis né pour être le jouet de la fortune“ (II, S. 7), klagt der Held, dessen gestärkte Moral ihm jetzt den Lebensweg zu zerstören droht. Als Günstling des Bischofs von Granada verliert er z. B. dessen Wohlwollen durch seine Offenheit. Aber: „La fortune me conduisait pour me faire jouer de plus grands rôles que ceux qu’elle m’avait déjà fait faire.“ (II, S. 51) Die Wiederbegegnung mit dem Schauspielermilieu scheint nur die Probe für den Auftritt auf der großen Bühne der Welt zu sein. Wieder folgt eine Latenzzeit der wechselnden Anstellungen. Gil Blas trifft Fabrice wieder, der ihm bei dem sizilianischen Grafen Galiano einführt, erkrankt als dessen ehrlicher Hausverwalter und wird dafür von ihm sitzengelassen: „Je commençai 79 à perdre courage en me voyant retombé dans une situation misérable.“ (II, S. 80) Buch VIII: Fest zur Tugend entschlossen, wird Gil Blas durch freundschaftliche Vermittlung Sekretär des Herzogs von Lerma und zieht einen symbolischen Schlussstrich unter seine bisherige Existenz: „vous avez été tant soit peu picaro. [...] Ami Santillane [...] ne te souviens plus du passé; songe que tu es présentement au roi, et que tu seras désormais occupé pour lui.“ (II, S. 88) Damit wird Gil Blas selbst zum ,Herrn‘: Er nimmt einen Diener, Scipion, und pflegt die „semences d’ambition“ (II, S. 90). Als persönlicher Vertrauter des Herzogs verteilt er Ämter, wird durch die Bestechungsgelder reich und lässt sich in politische Intrigen verwickeln. Das neue Problem ist die moralische Selbstentfremdung durch den Rollenwechsel („un rôle de seigneur“, II, S. 98), durch Geld- und Machtgier: „Enfin, Gil Blas n’est plus ce même Gil Blas que j’ai connu.“ (II, S. 135) Kupplerdienste für den Kronprinzen, den späteren Philipp IV., brechen ihm endlich den Hals. Buch IX: Der Held stürzt auf der Höhe seiner Laufbahn und wird verhaftet. Im Gefängnisturm von Segovia hat er Zeit zum Nachdenken und läutert sich durch lange Krankheit zum philosophe. Er erreicht „une parfaite tranquillité d’esprit“ und verzichtet auf jede weitere Ambition. Nach der Freilassung zieht er mit dem Diener auf ein Landgut, das ihm Don Alphonse geschenkt hatte. Buch X wirkt wie eine angehängte Ergänzung. Es folgen der Besuch bei den kranken Eltern, der Tod des Vaters und die Verlobung mit der Tochter des Pächters. Die autobiographische Lebensgeschichte Scipions, der als Double des Helden fungiert, schließt sich an: „Si dans son enfance Scipion a été un vrai picaro, il s’est depuis si bien corrigé, qu’il est devenu le modèle d’un parfait domestique.“ (II, S. 267) Doch geht es nicht um einen bürgerlichen Rückzug ins Private, wie die Parallelisierung von privaten und öffentlichem Geschehen zeigt: Buch XI, XII: Der Tod der Frau und des Kindes und Tod Philipps III. erscheinen synchron. Vor allem aber wird der Held jetzt zur öffentlichen Person. Als Herzog Lerma in Ungnade fällt, wird Gil Blas durch dessen Nachfolger Olivarès berufen, da sich der junge König wohl der ehemaligen Kupplerdienste erinnert. Durch Günstlingswirtschaft zur Macht gekommen, bewährt sich Gil Blas indessen jetzt als Reformator. Don Alphonse wird Vizekönig von Aragon, Scipion geht nach Mexiko. Erst nach dem Abfall der portugiesischen Provinzen und dem katalanischen Aufstand, der den Rücktritt von Olivarès herbeiführt, zieht sich Gil Blas endgültig ins Landleben zurück, diesmal geehrt und geadelt und als Oberhaupt einer neuen Familie. Der berühmte Schlusskommentar des Lazarillo de Tormes - „en la cumbre de toda buena fortuna“ (auf dem Gipfel allen Glücks) - ist hier wörtlich zu verstehen: 80 Pour comble de satisfaction, le ciel a daigné m’accorder deux enfants, dont l’éducation va devenir l’amusement de mes vieux jours, et dont je crois pieusement être le père.“ (II, S. 354) Die Ambiguität des letzten Satzes unterstreicht die Rollenhaftigkeit des väterlichen Status. Wenn der Télémaque mit seinen 18 Büchern fast genau in einen Teil des Schauens und einen Teil des Handelns zerfällt, so gilt diese Option zwischen zwei sich teilweise ergänzenden Rollen auch für den neu entstehenden moralistischen Roman, der vor allem Alain René Lesage zu verdanken ist. Dem Helden als Zeugen im Diable boiteux entspricht seitenverkehrt der Held als Abenteurer im Gil Blas, und erst beides zusammen bestimmt das neue Verhältnis zur Welt als letztlich veränderbar oder zumindest einsichtig. Wir haben es mit einem pikaresken Romanschema zu tun, das nach und nach zum moralistischen Sittenroman und schließlich zum historisch politischen Roman ausgebaut wird. Die Elemente: Ausfahrt - Abenteuer - Rückblick aus der überlegenen Position des wissenden, weil arrivierten Erzählers, lassen dabei, wie schon gesagt, den Einfluss der adligen Memoirenromane erkennen, die der Verwandlung des adligen Außenseiters in einen politischen Drahtzieher auffällig große Bedeutung zumessen. Sie deuten damit bereits einen sozialen Aufstieg an, der in dieser Form der ursprünglichen novela picaresca in Spanien fremd ist. Es geht hier um eine Form des Abenteuerromans, in dem nicht die Individualität eines Helden, schon gar nicht dessen Entwicklung im Vordergrund steht, sondern seine „mannigfaltigen Schicksale und Abenteuer als Umhergetriebener dunkler oder niederer Abkunft, der sich mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln [...] durchs Leben schlägt“. 162 Entscheidend für die spanische Pikareske ist die desillusionierende Perspektive von unten, die den gesellschaftskritischen Duktus der ,Gattung‘ begründet. Die verstehende Perspektive des endlich Arrivierten, wie sie der Gil Blas zeigt, würde diese Sicht nachträglich ad absurdum führen. Aus den sozialen Problemen Spaniens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden, kann die pikareske Variante des Abenteuerromans bekanntlich als Zerrspiegel und Kehrseite des Ritterromans verstanden werden, da auch das Sichdurchschlagen eine Art Bewährung im Lebenskampf darstellt. Das glückliche Ende kann nur relativ sein. Wichtiger als der Erfolg ist das Abwenden von Nichterfolg und Missgeschick, und die Voraussetzung dazu bildet die rechtzeitige Überwindung der anfänglichen Naivität. Wie immer der Roman endet, ob in zynischem Konformismus, in erbaulicher Einkehr in sich selbst oder in einem offenen Gleichgewichtszustand - stets bleibt die unterlegene Perspek- 162 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, Kröner 19613, Art. „Schelmenroman“, S. 547. 81 tive im Prinzip gewahrt. Dies gilt für den Archetypus der Gattung, den anonymen Lazarillo de Tormes (l554), wo der Held am Schluss ein Verhältnis seiner Frau mit dem einflussreichen Kanoniker in Kauf nimmt und deshalb frohen Herzens verkünden kann, dass er auf dem Gipfel des Glücks angekommen sei. Wobei das Gesagte hier noch vermuten lässt, dass es vielleicht nicht immer so bleiben wird, die „ruin fortuna“ also nicht für alle Zeiten besiegt ist. In der erbaulichen Variante, dem Guzmán de Alfarache (l599- l604) von Mateo Alemán heißt es - ich zitiere aus der deutschen Fassung der Hanser-Ausgabe -: „Hier habe ich einen Punkt und Schlussstrich unter diese Kette von Missgeschicken gesetzt. Ich habe die Rechnung mit meinem schlimmen Leben quitt gemacht.[...] Laus Deo.“ 163 Ähnlich - wenn auch nur in geheuchelter Demut - am Schluss der Vida del Buscón (l607) von Francisco de Quevedo. Und im Fall des Marcos de Obregón (l6l8) von Vicente Espinel möchte man von einem erbaulichen Abenteuerroman sprechen: „Inzwischen war ich müde nach den vielen Schicksalsschlägen zu Lande und zur See, und als ich sah, wie wenig mir von der Jugend noch blieb, beschloss ich mein Leben zu sichern und auf den Tod zu sorgen, bei welchem alle Dinge enden [...]“. 164 Die von S. Kleinhans geltend gemachte Entwicklung von der Pikareske zur bürgerlichen Autobiographie 165 ist hier besonders deutlich. Die Frage ist freilich, ob der pikareske Held, der pícaro, auch hier schon, wie Robert Alter meint, „the virtues of the heart“ 166 in einer Art Solidarität von unten verkörpert oder ob dies nicht gerade das Neue der im Ansatz bürgerlichen ‚Pikareske‘ des l8. Jahrhunderts ist. Aufstieg statt Überleben und Entwicklung/ Selbsterziehung statt Bekehrung: Diese Neufunktionalisierung macht den negativen Außenseiterhelden jetzt zur Symbolfigur einer durchaus offenen und optimistischen Welterfahrung, für die Alters schöne Definition „delight in experience“ 167 unmittelbar zutrifft. Tatsächlich kann man im Rückgriff auf Alters Kategorien gerade jetzt von einem fundamentalen Einverständnis und von einer fröhlichen Komplizität mit der Welt sprechen, in der sich der Held bewegt und durch deren Gesetze er hochkommt. Das Spielermotiv, wie es etwa in den adligen Memoiren des Comte de Gramont zu finden ist, erhält damit die Bedeutung einer Lebensmetapher, denn es geht darum, diese Gesetze zu durchschauen und mitzuspielen. Noch einmal mit Alter: „Like an intelligent player in a tough game, his face is always set toward the possibilities of the future and 163 Spanische Schelmenromane, hrsg. von Horst Baader, 2 Bde., Henze, München, Hanser 1964, Bd. I, S. 845. 164 Ebd., Bd. II, S. 522. 165 S. Kleinhans, Von der ‚novela picaresca‘ zur bürgerlichen Autobiographie, Meisenheim am Glan, Hain1975 (Untersuchungen zur romanischen Philologie, 9). 166 Robert Alter, Rogue’s Progress. Studies in the Picaresque Novel, Cambridge/ Mass., Harvard University Press 1964, S. 95. 167 Ebd., S. 71. 82 not toward the disappointment of the past.“ 168 Da die Spielmetapher für das ganze Leben gilt, ist dem Aufstieg theoretisch keine Grenze gesetzt: Der ideale pícaro durchläuft jetzt die Totalität des Lebens. Der 17jährige Gil Blas verlässt also - wie noch der Eichendorffsche Held im Leben eines Taugenichts - die beschränkte Sphäre des elterlichen Hauses und begibt sich in die völlige Unbestimmtheit und Offenheit des Draußen, das durch die Straße symbolisiert wird. Straßen und Orte haben nicht wie im bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts mimetische und referentielle Funktion als Gegenteil des väterlichen Hauses, aus dem sich der Held unter fragwürdigen Bedingungen verabschiedet, sind sie die bloßen abstrakten Koordinaten eines Lebens ohne festen Sinnhorizont, in dem das Ich ständig vor Entscheidungen, d. h. Wegkreuzungen steht. Dies unterscheidet den Gil Blas von der didaktisierten Odyssee eines Télémaque. Daher setzt der pikarese Roman auch nicht, wie der Télémaque und der heroisch-galante Roman, in der Mitte ein, wenn das Gröbste geschafft ist, sondern ganz am Anfang und ohne Erfolgsgarantie ab ovo. Und es geht nicht um Sichbewahren, wie es in den erotischen Versuchungen, denen ein Télémaque ausgesetzt ist, sondern um Sichbewähren. Letzteres setzt Menschenkenntnis voraus: „Il faut étudier les hommes pour les connaître,“ heißt es bei Fénelon, 169 der im Télémaque Menschenkenntnis zur Voraussetzung für Weisheit und Gerechtigkeit macht. Bei Lesage geht es ums Überleben im Wettstreit um Gewitztheit. Naivität (simplicité oder crédulité) ist keine edle Tugend, sondern gefährliches Defizit im Spiel um das être dupe de quelqu’un. 170 Folglich steht gleich am Anfang des Romans die Witzigung des Tölpels, der von einem Fremden lernt, wie man sich verhalten muss, und so zugleich die Tugendermahnungen der Eltern infrage stellt und stellen muß: „loin de m’exhorter à ne tromper personne, ils devraient me recommander de ne pas me laisser duper.“ (I, S. l0f.) Die Geltung der traditionalen Sittlichkeit und der überkommenen Normen steht mithin zur Disposition. Dabei geht es keineswegs um bloßen Anschauungsunterricht à la Télémaque, sondern um lebendige Erfahrung. Gil Blas lernt von dem Fremden, dass man sich vor dem äußeren Schein, der comédie, hüten muss und dass Leben im wörtlichen Sinn Aufklären und Durchschauen heißt. Spricht man jetzt noch von einem Sittenroman unter moralistischen Vorzeichen - mit der Formel „La Bruyère en scène et en action“ hat Jürgen 168 Ebd., S. 131. 169 Les Aventures de Télémaque, éd. par Jeanne-Lydie Goré, Paris, Garnier 1994, S. 552 (Kap. XVIII). 170 Vgl. auch Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen, Niemeyer 1987 (Mimesis, 2), S. 105 ff. „La dupe et l’impénétrable. Versuch über den Roman der Frühaufklärung“. 83 von Stackelberg 171 den Roman gekennzeichnet - so muss man diese neue lebensweltliche Perspektivierung der sog. Sittenkritik im Auge behalten. Anders nämlich als in der klassischen Komödie und Moralistik, in der die Bloßstellung des falschen Verhaltens aus der Position der Norm heraus erfolgte, führt der neuzeitliche Sittenroman die Gesellschaftsmechanismen gleichsam wertfrei vor. Erfolg, nicht Sittlichkeit ist das oberste Kriterium. Dabei wird schließlich auch die Tugend instrumentalisiert; sie wird Teil einer umfassenden Strategie der Lebensklugheit und des Arrivierens und wird erst in dem Augenblick zur eigenständigen Qualität, da der Held durch sittenloses Handeln auf die Dauer nur verlieren kann. In der Lebensbeschreibung des Freibeuters Beauchêne hat Lesage das traditionelle Modell eines dumpf richtungslosen Protests gegen die Gesellschaft nachgezeichnet: Die naturhafte Brutalität und naive Mentalität machen den Freibeuter schließlich selbst zum Opfer der von ihm verachteten Gesellschaft. Gil Blas dagegen zeigt Räuberei leitmotivisch auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft ohne explizite moralische Verurteilung und macht so deutlich, was aufgeklärtes Verhalten heißt: Kompromiss als Strategie, die weder Gut noch Böse ganz ausschließt, sich aber vor allen dummen Extremen hütet. Der Gil Blas bringt den programmatischen Anspruch des Ich auf Erfolg zunächst unabhängig von der gesellschaftlichen Verfasstheit zum Ausdruck. Das schließt aufklärerische Tendenzen im sozialen und politischen Bereich nicht aus, macht diese jedoch nicht zur Bedingung, sondern zur Folge des subjektiven Handelns. Was bedeutet dies? Wir haben bereits gesehen, dass der Roman nicht da endet, wo man es erwartet, sondern dass sich der dritte Teil auf höherer Ebene gleichsam wiederholt. Der Sinn ist deutlich. Denn wenn es bislang nur um die Moralisierung des pícaro und Außenseiters ging, so kann jetzt exemplarisch der Anspruch auf politische Gestaltung thematisiert werden. Die Tugend spielt dann doch noch eine Rolle, nämlich als Waffe des aufsteigenden Bürgertums im Kampf um die Macht. Im Zusammenklang mit Beharrlichkeit und Klugheit und gestützt auf Bildung dient die Tugend dem Aufsteiger dazu, die Überlegenheit bürgerlicher Affektkontrolle und methodischer Lebensführung über feudaladlig-ständische Unordnung sichtbar zu machen. Fast unbemerkt vollzieht sich damit eine völlige Verkehrung des ursprünglichen pikaresken Schemas: Gerade der Repräsentant der Unordnung, der Abenteurer und Lump erzieht sich soweit selbst, dass er zum Garanten einer neuen Ordnung wird und am Ende sogar utopisch-reformistische Gedanken einbringt. Das heißt, ein solcher Held sucht nicht die reformierte Gesellschaft, er reformiert die vorgefundene Gesellschaft selbst und erweist dadurch seine Geschichtsmächtigkeit und die Gültigkeit des vorgestellten Modells. Ein Ende nach Buch X hätte eine kleinbür- 171 Jürgen von Stackelberg, „Die ‚Moral‘ des Gil Blas. (Lesage und die Moralistik)“, in: Romanische Forschungen 74 (1962), S. 345-360. 84 gerlich resignative Bescheidung im Sinne des Voltaireschen il faut cultiver son jardin nahegelegt. Erst die Fortsetzung bis Buch XII ergibt die eigentliche ideologische Botschaft eines Werkes, dessen Witzigkeit nicht bloß als angenehme Verpackung des Inhalts, sondern buchstäblich als stilistisches Korrelat bürgerlicher Überlegenheit fungiert. Witz als Ausdruck von Geist und Klugheit. Resümieren wir also die drei Etappen unter dem genannten Gesichtspunkt: 1. Buch I bis VI: Der Held steigt vom einfachen pícaro zum Intendanten des Grafen Polan auf und illustriert damit die Möglichkeit des kleinbürgerlichen Aufstiegs zum Verwalter. Ähnliches gilt ja später auch für den Paysan parvenu eines Marivaux. Der Beweis seiner moralischen Integrität im Umgang mit der Geldkasse qualifiziert ihn jedoch zu Höherem. 2. Buch VII bis X : Gil Blas wird erneut gefährdet und gerät in den Einflussbereich des Hofes, dem seine Integrität noch nicht gewachsen ist. Am Ende steht der Rückzug ins Private. 3. Buch XI-XII: Erst nach dieser Erfahrung hat sich der Held selbst gefunden und kann die ihm gemäße politische Verantwortung übernehmen. Die bürgerlichen Tugenden, beim Aufstieg aus den Niederungen eher hinderlich, erscheinen jetzt als Voraussetzung zum Glück. Die Erhebung in den Adelsstand ratifiziert diese neue Form der Leistungsethik, die der Diener Scipion mit „les qualités du cœur et de l’esprit“ (II, S. 349) gleichsetzt. Geschichtsmächtigkeit impliziert eine neue Art der Verfügung über die Raum-Zeit-Koordinaten des Romans. Nach dem höfisch-galanten Roman ist Gil Blas ein neuer Versuch, den Roman - im Sinn von Lukács - als bürgerliche Epopöe zur Vermittlung extensiver Totalität einzusetzen. Dem entspricht die Ausweitung der geographischen Schauplätze, die die Mobilität der Figuren erweist. Zwischen Oviedo und Granada, in den eingeschobenen Berichten auch Mittelmeer, Nordafrika und Mexiko, erleben wir eine Vielfalt individueller Schicksale, die sich im Raum entfalten. Bildung ist nicht primär vorgegeben, sondern wird durch Wanderungen, Abenteuer und Reisen erworben. Andererseits ist der Gil Blas noch kein bürgerlicher Raumroman. Die Rolle von Milieu und Beschreibung 172 ist noch nicht entdeckt. Der Wechsel der Schauplätze bleibt weitgehend belanglos und verweist nur metonymisch auf die Potentialität einer offenen Welt. Dies hat der Roman mit dem höfisch-galanten Roman als einer Form adliger Weltbemächtigung gemeinsam. Die geringe Spezifität der Orte ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass alle Orte zusammen die „Bühne des Lebens“ bilden können, auf der 172 Vgl. Jacques Proust, „Lesage ou le regard intérieur. Recherches sur la place de la fonction de la ‚description‘ dans le Gil Blas“, in: Beiträge zur französischen Aufklärung. Festgabe für Werner Krauss, Berlin 1970, S. 289-314. 85 das Ich seine soziale Rolle erlernt. Der Schauplatzwechsel dient nicht der Veranschaulichung des je Anderen und Fremden, sondern der Veranschaulichung von Mobilität. Dabei beobachtet man jedoch etwas Merkwürdiges: Der Wechsel verdeckt oder kaschiert nämlich die Tatsache, dass man häufig an frühere Orte zurückkehrt und dass sich die immer gleichen Personen wie durch Zufall begegnen. Die Welt ist klein, wie man so sagt, und sie ist hier klein, weil sie in Wahrheit noch überschaubar ist und die Potentialität des Möglichen noch nicht von einer wesensmäßigen Geborgenheit getrennt hat. Das heißt in die Realität übersetzt: Das Spanien des Lesage’schen Romans mit seiner Pseudopittoreske des quirligen Lebens schildert in Wirklichkeit die zeitgenössische französische Gesellschaft, so wie das Madrid des Diable boiteux auf Paris verweist, und diese Gesellschaft ist essentiell prämodern und überschaubar. Daher dient die vorgegebene Horizontalität als Sprungbrett für vertikale Differenzierung. Der Autor entdeckt soziale Stratifikation als Verschiedenheit von Milieus, die mehr oder weniger gegeneinander abgeschottet sind, und nur der klassenübergreifende Schelm und pícaro kann ähnlich wie der hinkende Teufel die Dächer abheben und die horizontale mit der vertikalen Perspektive verbinden. In einer noch weitgehend unbeweglichen Gesellschaft ist der pikareske Held der einzig bewegliche, der zwischen den Stellwänden verkehrt. Ausfaltung von Räumlichkeit und deren Zurücknahme, ja Abschaffung werden eins. Ähnliches gilt mutatis mutandis für die Zeitlichkeit als zugleich individueller und historischer Dimension. Nur das Verlassen des väterlichen Hauses beruht auf freier Entscheidung und ist kein Zufall. Inbegriff einer offenen Zeit wäre z. B. der Zufall bzw. fortune, und tatsächlich wimmelt der Roman ja auf den ersten Blick von Zufällen 173 . In der Folge entspricht jeder Zufall einer Chance, die der Held ergreifen und durchschauen muß: „Ecoute, Gil Blas, […] il ne tiendra qu’à toi de faire la fortune.“ (I, S. 248) Dieses selbstbewusste Spiel mit dem Zufall ist aber nur möglich, weil das Glück selbst historisch geworden ist, d. h. als romanhafter Ausdruck der historischen Möglichkeiten des aufsteigenden Bürgertums fungiert. Erich Köhler schreibt im Hinblick auf diese geschichtliche Dialektik: „In der kontingenten Welt offeriert der Zufall gerade jenem Einzelgänger soziale Einbruchstellen, dem kein Privileg und kein übergeordneter Sinn Skrupel auferlegen, der Moral durch Erfahrung ersetzt und den die Fähigkeit auszeichnet, im Griff nach dem Zufall das für ihn konkret Mögliche optimal zu nutzen. Der pikarische 173 Vgl. Winfried Wehle, „Zufall und epische Integration. Wandel des Erzählmodells und Sozialisation des Schemas in der Histoire de Gil Blas de Santillane“ in: Romanistisches Jahrbuch 23 (1972), S. 103-129. Zum Fortuna-Motiv im Rahmen des providentiellen Paradigmas der Frühaufklärung siehe vor allem Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670-1770), Tübingen, Niemeyer 1994 (Mimesis, 17), S. 298 ff. 86 Roman trägt durch alle Abwandlungen hindurch mittels der reinen Kontingenz seines Geschehens die Entgötterung des Zufalls in der Perspektive des dritten Standes bis in die französische Aufklärung.[...]“. 174 In der klassischen Erzählung ist der Zufall der göttlichen und das heißt auch väterlichen Providenz untergeordnet; erst die Krise des Providenzbegriffs und der väterlichen Autorität eröffnet die neue „Dialektik von Fortune und fortune“, die nach Werner Frick das neue Erzählen im Zeichen bürgerlicher Autonomie auszeichnet 175 und die - wie man ergänzen müsste - das Heraustreten des Ich aus einer traditionalen Ordnung erst ermöglicht. Denn erst jetzt wird der Zufall zum Verbündeten des sich emanzipierenden, aus traditionalen Ordnungen heraustretenden jungen Individuums. Die Entgötterung des Zufalls, d. h. die Aufgabe der innerweltlichen und innerliterarischen Providenz dient also gerade der Rechtfertigung des historischen Prozesses, der für den dritten Stand arbeitet. Dies gilt auch noch für scheinbare Widerwärtigkeiten und Unglücke: „Je m’en pris à la fortune innocente, et maudis cent fois mon étoile. Lorsque j’eus, fort inutilement, bien déploré mon malheur, je fis réflexion qu’au lieu de céder à mon chagrin, je devais plutôt me raidir contre mon mauvais sort.“ (I, S. 62) Das geschichtliche und persönliche Glück winkt nur dem Starken, und in dieser Hinsicht ist Gil Blas einem Rastignac im Père Goriot Balzacs näher als einem spanischen pícaro. Dies setzt aber auch die Fähigkeit voraus, warten zu können. Die immer wieder zur Schau getragene stoische Moral ist so gesehen Ausdruck nicht der Resignation, auch nicht philosophischer Weisheit, sondern eines tieferen Vertrauens in den geschichtlichen Prozess, der mit dem individuellen Leben und Aufstieg identisch ist. Lesage entdeckt die Zeit und Dauer als Möglichkeit von Entwicklung und wird dadurch zum Begründer des neuzeitlichen Entwicklungsromans. Wir haben es insgesamt mit einem optimistischen und harmonistischen Roman zu tun, der im wohlverstandenen Interesse der bestehenden Ordnung die kompetente Mitwirkung einer bisher ausgeschlossenen kleinbürgerlichen Elite vorschlägt. Zeitgeschichtlicher Hintergrund ist z. B. um 1720 das Aufblühen des Ostindienhandels und der großen Compagnies, die durch das neomerkantilistische System unter dem Ministerium Fleury (1726-55) gefördert werden. Man vergleiche damit den Entschluß des arrivierten Dieners Scipion, nach Mexiko zu gehen: „c’est que les personnes employées à faire ce commerce reviennent toutes chargées de richesses, monseigneur trouvant fort bon qu’elles fassent leurs affaires avec les siennes.“(II, S. 300) Das ist die Formel: faire leurs affaires avec les siennes! Sie beinhaltet ein Ide- 174 Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München, Fink 1973, S. 66. 175 Werner Frick, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Tübingen, Niemeyer 1988 (Hermaea), Bd. I, S. 181-185. 87 al der Interessenidentität bei gleichzeitiger Durchlässigkeit und Wahrung der gesellschaftlichen Strukturen. Die wechselseitige Abhängigkeit von Herr und Knecht, maître und valet, sowie die gesamte Thematik des In-Dienst- Tretens wären hier zu nennen. Ein scheinbar traditionelles Motiv erhält so den Rang eines symbolischen Verhältnisses, das von Stufe zu Stufe bis zur gesellschaftlichen Spitze zu verfolgen ist und auf intelligente Komplizität gegründet ist. Nicht zufällig sagt ja Scipion einmal, nicht nur der Herr müsse seinen Diener gut finden, sondern auch „il faut encore que le maître plaise au valet“ (II S. 348). Und noch etwas scheinbar Banales wird damit zum Ausdruck gebracht. Der zeitgeschichtliche Hintergrund des Romans wird nicht allein durch ökonomischen Aufstieg und ein neues Bündnis zwischen Staat, Adel und Geldbürgertum gekennzeichnet; es ist auch eine Zeit drückender Not der untersten Schichten, aus der sich die große Zahl der Kriminellen, Räuber und Landstreicher rekrutiert. Es sei daran erinnert, daß die berüchtigte Cartouche-Bande in den 20er Jahren ihr Unwesen trieb. Die Korrekturfunktion des Gil Blas gegenüber dem Freibeuterroman Lesages wurde schon angedeutet. In der Tat spiegelt der Roman ja bis in seine Struktur hinein die Gleichzeitigkeit von Massenarmut und Delinquenz und der optimistischen Aufstiegsmöglichkeit innerhalb eines wirtschaftlich reformorientierten Staates. Die anfängliche Pikareske trägt den realen Verhältnissen im unteren Bereich Rechnung, weist aber zugleich das Abenteurer- und Räubermotiv zurück, das nurmehr als indiskutables Versatzstück erscheint. Der Roman schildert mithin eine soziale Option, die Überwindung der Armut aus eigener Kraft und im Verbund mit den gesellschaftlichen und historisch treibenden Kräften. Der Roman schildert einen Zirkel von Desintegration und Reintegration. Letztere aber bedeutet natürlich nicht die Rückkehr zu den früheren Verhältnissen, sondern die Erreichung einer höheren Stufe. Dieses Schema entspricht gerade nicht dem phantasmatischen ‚Familienromanphantasma‘, welches die Ersetzung des leiblichen, schwachen Vaters durch eine höhere väterliche Instanz meint und nach Marthe Robert den symbolischen Anfang der Romangattung bildet. 176 Offensichtlich bilden die wechselnden Dienstverhältnisse des Protagonisten zugleich eine Reihe von symbolischen Vater- Sohn-Verhältnissen ab, die bis zu dem Punkt führen, wo der Held selbst Vater wird und Diener und Söhne hat. Bezeichnenderweise findet diese letzte Steigerung, die mit dem endgültigen Aufstieg zusammenfällt, erst nach dem Besuch bei den Eltern und nach dem Tod des Vaters statt. Die Dialektik des Vaterverhältnisses scheint die zugleich emanzipatorische und konservative Weltsicht von Held und Autor mit zu erklären - emanzipatorisch, weil nur die Lösung aus dem Elternhaus und die Abwertung des Vaters die Mög- 176 Marthe Robert, Roman des origines, origines du roman, Paris, Gallimard 1972. 88 lichkeit zur Selbstgewinnung bieten, konservativ jedoch, weil auch dieser Emanzipationsprozess auf die Restitution des Vaterbildes in einer noch immer väterlich geprägten Gesellschaftsordnung hinausläuft. Vielmehr werden die Vater-Sohn-Rollen mannigfach variiert, um die Vaterwerdung des Helden aus eigener Kraft voranzutreiben. 89 V. Der empfindsame Memoirenroman als Medium der Selbstbefreiung 1. Marivaux und die Selbstfindung der Jungen Die Bestätigung der väterlichen Ordnung in Gil Blas begründet einen wichtigen Unterschied zu dem ödipalen Aufstiegsmuster der Jahrhundertmitte, wo der junge Held über die Frau eine quasi parasitäre Selbstbestätigung findet. Der Verdrängung des Vaters steht in dem Fall keine Bestätigung des Vaterbildes gegenüber. Und nicht nur das. Die damit verbundene Psychologisierung und Verinnerlichung entspricht auch einer signifikanten Verengung des Raums: aus der Bühne des Lebens wird der Großstadtsalon. Und eine Verengung der Zeit: aus einem Lebenslauf wird ein Pubertätsdrama. Da der neue Romantypus der Sinnlichkeit, Erotik und Sensibilität eine markante Stellung einräumt, stellt man darüber hinaus ein Wechselverhältnis zwischen der Entstehung des psychologischen Paradigmas und dem Zurücktreten der politisch-historischen Dimension fest, die einen Gil Blas zum Erben des adligen Romans macht. Man könnte die Ersetzung des vorwiegend männlichen durch ein tendenziell weibliches Register mit dem Übergang von episch historischer Relevanz zu psychologischer Problematik und Verinnerlichung verbinden. Gegenüber einem ,epischen‘ Gil Blas wären dann Marivaux und andere die Vertreter einer neuen Intimität. Zwischen 1730 und 1740, im Abstand weniger Jahre, setzt sich tatsächlich gegenüber dem herkömmlichen Abenteuer- und Memoirenroman ein neuer Typus durch, den man als psychologischen Entwicklungsroman bezeichnen könnte: 1731 La Vie de Marianne von Marivaux, 1732 Lettres de la marquise de M., von Crébillon Fils, 1734 Le Paysan parvenu, von Marivaux, 1736 Les Egarements du cœur et de l’esprit, von Crébillon Fils, 1741 Les Confessions du comte de …, von Duclos Sozialer Hintergrund ist die ökonomische und politische Stabilisierung nach der Régence unter Ludwig XV. (1823-1874) und dem Ministerium Fleury (1726-43). Verglichen mit der unsicheren Welt der Régence und ihrem libertinistischen Klima konstituiert sich eine gesellschaftlich tragende Schicht in den hauptstädtischen Salons: le monde, zugleich überständisch und offen, aber elitär und einem gemeinsamen Kulturideal verbunden. Dubos schreibt in den Réflexions critiques: „Le mot de public ne renferme ici que les personnes qui ont acquis des lumières, soit par la lecture, soit par le commerce du monde.“ 177 Damit sind die beiden Pole der literarischen und 177 Jean-Baptiste, Abbé Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, Utrecht 1732, Bd. II, S. 183. 90 gelehrten Bildung und der sog. mondanité, ein Begriff, der erstmals bei La Bruyère auftaucht, umschrieben. Zentrales Element der neuen Salonkultur ist die FRAU und mit ihr die Elemente Galanterie und Psychologie, die ihren Ausdruck in der das gesamte Jahrhundert bestimmenden Dualität von cœur und esprit findet. Der weiblich geprägte Salon der Aufklärung steht in der Tradition der adligen Preziösenkultur, in der erstmals männliche Identitätsmodelle und die „éthique de la gloire“ durch einen weiblichen Diskurs des Herzens ergänzt und ‚durchkreuzt‘ werden und die „femme auteur“ als bestimmender Faktor einer weiblichen „sensiblité tendre“ 178 das ‚literarische Feld‘ (Pierre Bourdieu) mitzubestimmen beginnt. Die neue Dialektik cœur/ esprit, die ja schon Lesage kennt und die nun zu einem bestimmenden Kennzeichen des ganzen 18. Jahrhunderts wird, hat hier ihren Ursprung. Sie findet ihren Ausdruck in der Entstehung der sog. Empfindsamkeit oder sensibilité. 179 Der deutsche Begriff geht auf J. J. Bode zurück, der 1768 „empfindsam“ als Übersetzung für engl. „sentimental“ vorschlägt. Von England kommend, wo die moralischen Wochenschriften den Boden bereiten, breitet sich der Gefühlskult seit den 30er Jahren auch in Frankreich aus, wo er stärker als z. B. im pietistisch geprägten Deutschland an die adlige Salonkultur gebunden bleibt, aber schon Charles Perrault betont in seinem Parallèle des anciens et des modernes (1963) die zentrale Rolle weiblicher sensibilité und bindet den Begriff damit implizit an das Lebensgefühl der ‚Modernen‘ und der Emanzipation von den ‚Alten‘. Tatsächlich bildet der Gefühlskult die Grundlage eines neuen, emanzipatorischen Kulturbewusstseins. Die philosophischen Ursprünge sind im englischen Sensualismus zu suchen, der den Menschen als Gefühlswesen und begehrendes Subjekt definiert und das Gefühl (sentiment) zunächst als Organ von Eindrücken und Erkenntnissen begreift. Das beinhaltet die Aufwertung der Affekte unter dem Aspekt des Affektvermögens, d. h. der Fähigkeit zum Gefühl. So lautet dann noch die Definition der Encyclopédie. In ästhetikgeschichtlicher Hinsicht bedeutet dies die folgenreiche Verschiebung der Bewertungskriterien aus einer objektiv fundierten Normästhetik in die subjektive Rezeption, die nicht mehr an vorgegebene Maßstäbe gebunden ist und so eine tendenziell emanzipatorische Dimension hat. Der schon genannte Abbé Dubos begründet auch die rezeptionsästhetische Wende der Literatur, indem er das Mit-Gefühl des Rezipienten, d. h. dessen Anteilnahme an 178 So die These von Renate Kroll, Femme poète. Madeleine de Scudéry und die „poésie précieuse“, Tübingen, Niemeyer 1996 (Mimesis, 23). Vgl. auch Renate Baader, Dames des lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und ‚modernen‘ Salons (1649-1698), Stuttgart, Metzler 1988 (Romanistische Abhandlungen, 5). 179 Vgl. Pierre Trahard, Les Maîtres de la sensibilité française au XVIII e siècle (1715-1789), Genève, Slatkine 1933, Gerhard Sauder, Empfindsamkeit I: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart, Metzler 1974, Frank Baasner, Der Begriff „sensibilité“ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg, Winter 1988. 91 Gefühlen und Leiden der Protagonisten geltend macht. 180 Das Mitleid (pitié) wird im Gegensatz zum egoistischen amour de soi-même, dem eitlen Ich- Bewusstsein des amour-propre, und im Einklang mit dem legitimen Selbstwertgefühl zum Ausweis einer neuen Kultur der Mit-Erfahrung und zur moralischen Instanz aufgewertet. Ihr entspringt die Umwertung des klassischen Geschmacksbegriffs. Gefühl oder sensibilité wird gewissermaßen zum sechsten Sinn und zum ästhetischen Organ, und von hier geht die Möglichkeit zum typisch neuzeitlichen ästhetischen Sehen, d. h. der Ästhetisierung der Wirklichkeit, besonders der Natur, aus. Der Siegeszug der pittoresken Landschaftserfahrung ist nicht ohne diese Wende zu verstehen, In England wäre vor allem Shaftesbury zu nennen. Der englische Dichterphilosoph (1671-1713) (Characteristics of Men, Manners, Opinions and Times, 1711) ist aber noch aus einem weiteren Grund von großer Bedeutung. In seiner moral sense philosophy bestimmt er moral sense oder moral sentiment als angeborenes gefühlsmäßiges Vermögen des Menschen zur Unterscheidung von Gut und Böse und weist damit dem Gefühl die Rolle eines ganz verinnerlichten, subjektiven Moralkriteriums zu. Ästhetik, Moral und Religion rücken auf diese Weise zusammen und machen die Selbsterfahrung des Subjekts zum Ursprung des Gewissens. Letzteres wird so von Geburt, Stand und Bildung abgelöst, welche durch die Vorstellung der Seelenbildung oder des natürlichen Gefühls ersetzt werden. Das Ursprünglichkeitsparadigma eines Rousseau leitet sich von da her. Und als natürliches Gefühl ist die sensibilité auf den Bereich des allgemein Menschlichen und der vorbildhaften Natur bezogen. Naturkult und Empfindsamkeit sind daher nicht voneinander zu trennen. In sozialgeschichtlicher Perspektive ist so die Möglichkeit gegeben, das Menschliche an sich jenseits der Standesgrenzen anzusiedeln. Gerade im Verlaufe der Aufklärung wird Empfindsamkeit daher immer mehr auch als Waffe und Argument des aufstrebenden Dritten Standes begriffen, impliziert freilich zugleich die Umkehr realer Ohnmachtserfahrung in einen selbstbestätigenden Gefühlskult. Das 17. Jahrhundert hatte einst über die sog. höfische Liebe das in den dolce stil nuovo und den Petrarkismus fortwirkende Konzept des Seelenadels entdeckt; in der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts wird der Adel des Gefühls zur Voraussetzung für gesellschaftliche Gleichheit, soziale Wertigkeit und Identität. Dies erklärt eine neuartige Tendenz zur Reflexivität des Gefühls, das nicht mehr die Voraussetzung des Handelns bildet, sondern häufig um seiner selbst willen ausgekostet und analysiert wird, weil es die Ich-Identität gegen gesellschaftliche Zwänge autonomisiert. Im Zusammenklang mit der von Shaftesbury behaupteten moralischen Kompetenz begründet das bürgerliche Gefühl auch die moralische 180 Hierzu Peter Bürger, „Die Auffassung des Publikums bei Du Bos und Desfontaines“, in: ders., Studien zur französischen Frühaufklärung, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1972, S. 44-68. 92 Überlegenheit des tugendhaften Ich. Sensibilité und vertu werden somit fast austauschbar und münden später in die Vorstellung der schönen Seele (belle âme). Endlich bestimmt der genannte Vorgang in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive das problematische Verhältnis von Vernunft und Gefühl. Es handelt sich, wie schon eingangs gesagt, nicht um eine sukzessive Abfolge zweier verschiedener Phasen: Frühaufklärung/ Vernunft - Spätaufklärung/ Empfindsamkeit, sondern um einen komplementären Prozess mit sich steigernden Tendenz. In dem Maße, wie die wachsende Naturbeherrschung und Loslösung von überkommenen Vorurteilen das Subjekt emanzipieren, schaffen sie auch die Möglichkeit für dessen Selbsterfahrung als natürlich. Zugleich aber ist nur noch in der Subjektivität der Freiraum gegeben, den die beherrschbare und beherrschte Natur nicht mehr bereitstellt. Empfindsame und romantische, d. h. ästhetisch und religiös überhöhte Natur haben hier ihren Ursprung. Literarhistorisch bedeutet dies die wachsende Bedeutung der psychologischen Analyse und des psychologischen Paradigmas, das sich allmählich vor den handlungsbetonten Abenteuerroman schiebt. Und eine überragende Bedeutung übernimmt naturgemäß die LIEBE, 181 deren Problematik in immer feinerer Differenzierung erfasst wird. Dies vor allem auch im Zusammenhang mit Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, wie etwa bei Marivaux. Die Witzigung, zentraler Bestandteil des pikaresken Romans, ist nun nicht mehr identisch mit brutaler Desillusionierung des törichten jungen Helden, sondern meint im Medium der Liebe eine entscheidende Stufe der Selbsterfahrung, wie es das Schema „Arlequin poli par l’amour“ bei Marivaux nahelegt. Die Differenzierung birgt die Tendenz zu Preziosität oder dem, was man seit Marivaux auch marivaudage genannt hat. Das Moment der Selbsterfahrung aber impliziert die neuartige Bedeutung der subjektiven Perspektive und das Vordringen der autobiographischen Formen der Selbstaussprache: Autobiographie, Brief und Briefroman. Den genannten Paradigmenwechsel vollzieht in Frankreich, z. T. bereits unter englischem Einfluss, Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux (l688 Paris - 1763 Paris). 182 Als Sohn eines hohen Finanzbeamten 1688 in Paris geboren und durch den Lawschen Finanzhandel verarmt, musste sich Marivaux nach dem Studium der Rechte ähnlich wie Lesage durch seine schriftstellerische Tätigkeit, als Journalist, Komödienschreiber und Romanautor, aber auch mit Hilfe adliger Gönner unterhalten. Durch Fontenelle wurde er in die frühaufklärerischen Salons der Mme de Lambert und - seit 1733 - der 181 Vgl. Kirsten Dickhaupt / Dietmar Rieger (Hrsg.), Liebe und Emergenz. Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700, Tübingen, Niemeyer 2006. 182 Das Standardwerk ist noch immer die Studie von E. J. H. Greene, Marivaux, Toronto, University of Toronto Press, 1965. 93 Mme de Tencin eingeführt. Sein erstes Romanprojekt, Les effets surprenants de la sympathie, die Erzählsammlung La Voiture embourbée und die Klassikerparodien Le Télémaque travesti und L’Iliade travestie entstanden schon zwischen 1712 und 1717; der Einfluss des Roman comique von Scarron ist noch deutlich erkennbar. Der Anfang der Karriere als Komödienautor in den frühen 20er Jahren Arlequin poli par l’amour, La surprise de l’amour, La double inconstance, L’île des esclaves - ist zeitgleich mit der Begründung einer kritischen Wochenzeitschrift, des Spectateur français, nach dem Muster des englischen Spectator. Am Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre stehen die großen Komödien La fausse suivante, Le Jeu de l’amour et du hasard, aber auch die Publikation des ersten Bandes der unvollendeten Vie de Marianne, deren Fortsetzungen sich bis 1741 hinziehen. In die 30er Jahre fällt die Arbeit an dem unvollendeten Memoirenroman Le Paysan parvenu. Als der Autor 1742 in die Académie gewählt wird, liegt das große Werk bereits hinter ihm. Weitere Komödien und Arbeiten für die Akademie folgen. Als prospektiver Direktor der Akademie stirbt Marivaux 1763. Um die Eigenart des Romanwerks zu verstehen, sei hier zunächst ein Umweg über das Drama gemacht. Marivaux ist zugleich der Schöpfer der psychologischen Liebeskomödie, die auf die herkömmliche Intrige weitgehend verzichtet und die dafür le jeu de l’amour et du hasard selbst, mit allen Verwirrungen und Missverständnissen, zum Inhalt macht. An die Stelle der moralistischen Typenkomödie Molièrescher Prägung tritt damit das psychologische Spiel individualisierter Personen, deren Interaktion zugleich als Mittel erscheint, sich über seine eigenen Gefühle klar zu werden. Nach Hauser sind die Figuren Molières zwar verliebt, doch ist Verliebtheit selbst nie das eigentlich dramatische Motiv; erst bei Marivaux rückt die Liebe in den Mittelpunkt der Handlung, die als „Spiel mit dem sozialen Schein“ 183 , mit Eigen- und Fremderkenntnis 184 definiert werden kann. Und das heißt auch, dass die soziale Wirklichkeit keine feste Größe mehr ist, sondern Rollenspiel und Funktion individueller psychologischer Wahrnehmung. 185 Auf einen solchen Vorrang der Psychologie verweisen Titel wie La Surprise de l’amour, La double inconstance und die Seconde Surprise, Le triomphe de l’amour, Les fausses Confidences; nur Titel wie L’Ecole des mères oder La fausse suivante ou Le fourbe puni erscheint noch wie ein ironisches Echo von Molière, während andere Titel wie Le Père prudent et équitable, La mère confidente, La 183 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München, Beck 1969, S. 542. Zur Rolle der Liebe vgl. auch Valentine Papadopoulou Brady, Love in the Theatre of Marivaux. A Study of the Factors Influencing its Birth, Development and Expression, Genève, Droz 1970 (Histoire des idées et critiques littéraires). 184 Vgl. Harold Schaad, Le thème de l’être et du paraître dans l’œuvre de Marivaux, Zürich 1969. 185 So Lionel Grossman, „Literature and Society in the Early Enlightenment: The Case of Marivaux“, in: Modern Language Notes 82 (1967), S. 306-333. 94 femme fidèle auf die larmoyante Familienkomödie, das sog. drame bourgeois, hinweisen, das sich schon seit den 20er Jahren in den Komödien von Destouches und bei Nivelle de la Chaussée andeutet. Doch darf man Marivaux’ dramatisches Werk nicht auf Psychologie verengen. Mit Le Prince travesti und vor allem den „Insel“-Dramen L’île des esclaves, L’île de la raison, La Colonie, La nouvelle colonie schafft der Autor eine neue Form des experimentellen sozialen Dramas, das zugleich den philosophischen Geist der Aufklärung verrät. Daneben stehen soziale Stücke wie L’Héritier de village, L’Ecole des Mères oder Le Petit-Maître corrigé. Dennoch ist das thematische Übergewicht der sog. comédies d’amour auffällig. In ihnen kann der Autor das Spiel von Schein, Verstellung und Wahrheit der Gefühle, „le jeu de l’amour et du hasard“, besonders paradigmatisch darstellen. Dieses neue Spiel hat nur noch wenig mit dem höfischen Problem von Schein und Sein, Verstellung und sincérité zu tun. Als science du cœur zielt die spielerisch inszenierte Identitätssuche 186 auf die Aufdeckung der Maskenhaftigkeit des Lebens selbst und das Entdecken der Wahrheit des Menschen bzw. der je speziellen Wahrheit einer Person, die sich selbst zu verstehen beginnt. Es ist das Leitmotiv des voir clair en soi-même, das auch für die Romane gilt und die Orientierung der Jungen, die ins Leben treten, zum Thema hat. Hinter der psychologischen Vielfalt der Stücke verbirgt sich so im Grunde ein schlichtes Thema, das in dem Stück Arlequin poli par l’amour treffend zum Ausdruck kommt. Arlequin, eine Standardfigur des dramatischen Werkes, macht im Übrigen auf eine weitere Eigenart aufmerksam: Die Wahl repräsentativer, weitgehend typisierter Charaktere, unter denen besonders die Frauenrollen auffallen. Manche Anregungen dazu holt sich der Autor aus der italienischen Komödie, deren Witz und Leichtigkeit er zum Vorbild nimmt, allerdings ohne die Verfahren der Stegreifkomödie (commedia dell’arte) ernsthaft zu imitieren. Während Molière mit dem Théâtre Français zusammengearbeitet hatte, schreibt Marivaux in der Hauptsache für die Comédie Italienne unter der Leitung von Luigi Riccoboni, und arbeitet erst später abwechselnd für die Comédie Italienne und das Théâtre Français. Von dem Inselmotiv war schon die Rede. Nach Marcel Arland 187 aber gibt es kein Stück Marivaux’, das nicht - symbolisch - in der geschlossenen Welt einer ‚Insel‘ spielte und denkbar weit von der offenen Welt eines Lesage entfernt ist. Das gilt auch für den Roman. Ohne Zutun von außen können sich so die angelegten Konflikte und Probleme entfalten. Dieser gleichsam experimentelle Charakter ist heute im Zeichen der Moderne wiederentdeckt worden, nachdem das Theater Marivaux’ lange Zeit als ‚geschwätzig‘ und preziös in Misskredit geraten war. Tatsächlich nämlich geht es eben nicht um 186 Hierzu auch Jutta Weiser, „Literarische Inszenierungen einer science du cœur bei Marivaux“, in: Dickhaupt/ Rieger (Hrsg.), Liebe und Emergenz, S. 99-116. 187 Marcel Arland, Marivaux. Les Essais XL, Paris, Gallimard 1950. 95 Handlung, - der Autor hat nur wenige Intrigenstücke geschrieben -, sondern um Redetaktik und Psychologie, für die Marivaux eine neue Prosa- Sprache entwickelt: das schon genannte marivaudage, das man auch als zweite bürgerliche Preziosität bezeichnet hat. 188 Diese Eigenart macht die Komödie ebenso wie den ihr affinen Roman im Wortsinn zum Spiel. Marivaux’ Spezialität ist die ‚aufklärerische‘ Komödie, das psychologische sprachliche Spiel, in dem die Personen wie in einem Ballett umeinander kreisen - nicht zufällig sind dem Autor Anläufe zur Tragödie misslungen. Satirisch-kritische und aufklärerische Aspekte ergeben sich daraus wie von selbst, denn die Selbsterkenntnis setzt die Fremderkenntnis voraus und macht aus der Komödie ein Spiel des Durchschauens und Infragestellens. Dass die Hauptakteure dieses Spiels jung sind, fügt dem Ganzen einen generationsspezifischen Aspekt hinzu: Die Aufklärung mit ihrem Kampf gegen überkommene Vorurteile präsentiert sich als jung. Jugend und Liebe gehen im übrigen zusammen. Vor dem Hintergrund des vor allem in der Régence geläufigen Themas von Verstellung und Betrug sorgt das Thema Jugend/ Liebe für eine quasi mythische Vorstellung von Offenheit und Unverstelltheit, die bereits an Rousseau gemahnt und die Welt der Väter hinter sich lässt. Und vor allem kommt die Hauptrolle jetzt in der Komödie wie im Roman den Frauen zu. Die dramatische Progression, deren psychologische Komplexität nicht in die ältere Tradition, sondern eher auf Musset vorausweist, folgt dem Schema: Begegnung - Empfindung - Verwirrung - Lösung. Dabei vermeidet es Marivaux, unlösbare Konflikte zu konstruieren. Die Liebe ist im Gegenteil ein dynamisierender Faktor, der - über die Heirat - die Reintegration der widerspenstigen Heldin bewirkt. Das Ende restituiert eine frühere Harmonie auf höherer Stufe der Bewusstheit. Entscheidend ist noch eine Eigenart, die man als Doppelperspektive bezeichnen könnte. Anders als in der klassischen Komödie haben die Diener-Figuren eine eigenständige Rolle parallel zu der der Hauptfiguren, deren Denken und Handeln sie spiegeln, kommentieren und reflektieren. Dadurch entsteht zugleich eine Kongruenz von Ober- und Unterklassenperspektive, und indem die Unterschichtfiguren der Liebe zum Sieg verhelfen, fungieren sie zugleich als Geburtshelfer und Dynamisierungsfaktoren des Dramas. Sie sind es, die auch Maskenhaftigkeit und gesellschaftlichen Schein durchschauen und die Hauptpersonen gleichsam zu sich selbst bringen. Von daher steht dieses Theater auch einer klassenspezifischen Analyse offen, das Personal der Unterschicht vulgarisiert und komisiert das Reden und Denken der Herrschaften; es durchschaut deren Probleme und wird so auch zur Vermittlungsinstanz zwischen den Protagonisten und dem Publikum. Während die Hauptpersonen von Stand dadurch abgewertet wer- 188 Vgl. Frédéric Deloffre, Une préciosité nouvelle. Marivaux et le marivaudage, Paris, Les Belles Lettres 1955. 96 den, werden die Nebenperson aufgewertet. Dramengeschichtlich entscheidend ist aber, dass die Personen - anders als in der klassischen Charakterkomödie, aber auch der Typenkomödie, - nicht von Anfang an einen - moralistisch festgelegten - Charakter haben: le misanthrope, le tartuffe, l’avare, le menteur, usw., sondern sich erst entwickeln und psychologisch zu sich kommen. Die Weisheit der Alten spielt demgegenüber keine Rolle mehr. Durch die Erkenntnis von Lug und Wahrheit reifen sie und sind am Ende nicht mehr dieselben wie am Anfang. Le Jeu de l’amour et du hasard, 189 1730 am Théâtre Français aufgeführt, mutet wie ein Gegenentwurf zu Molières L’Ecole des Femmes an, wo die Selbstbestimmung der Frau erst mühsam gegen väterliche Autorität und Tyrannei erkämpft werden muss. Bei Marivaux wird sich der gütige Vater mit einer Zuschauerrolle begnügen und dem Sohn notwendige Initiativen überlassen. Das Stück, das als weniger komplex als etwa die Surprise de l’amour oder La Double Inconstance eingeschätzt wurde und überdies ein eher banales Thema verarbeitet, ist eine dreiaktige tour de force mit im Grunde nur fünf Personen und der genannten Parallele Herr und Knecht. Dorante ist Arlequin zugeordnet, Silvia hat die „femme de chambre“ Lisette; daneben steht Mario, der Sohn Orgons und Bruder Silvias. Thema ist - der Molièresche Name Orgon verrät es schon - die erzwungene Heirat: Orgons Tochter Silvia soll Dorante heiraten und wird dabei von Mario, aber auch von Lisette unterstützt. Weder kennt Silvia Dorante noch Dorante Silvia. Daraus ergibt sich die einzige Komplikation, in die nur Mario eingeweiht ist: Dorante will als „valet“ verkleidet seine Aufwartung machen, aber Silvia hat die gleiche Idee und will die Rolle ihrer Zofe spielen. Das ist Komödie in der Komödie nach dem Schema des Rollentauschs der italienischen Tradition; dabei wird das Schema des betrogenen Betrügers verdoppelt, da jeder Partner seine eigene falsche Rolle kennt, aber nicht die seines Gegenübers. Daraus entsteht ein Spiel unbewusster Sympathie der beiden füreinander, während Standesdünkel und falsch verstandener Stolz (amour-propre) auf beiden Seiten ein Eingeständnis der Neigung verhindern. Ziel ist, die Dialektik der Falschheit zum Motor der Offenbarung von Wahrheit zu machen. Die Molièresche Rolle des tyrannischen Vaters wird ersetzt durch den wissenden, humorvollen Spielleiter, der durch seinen Sohn Mario unterstützt wird. Beide Hauptfiguren sollen dazu gebracht werden, sich eigene Schwächen und Vorurteile einzugestehen und sich ihrer Eigenliebe bewusst zu werden. Die Stärkere in diesem pokerähnlichen Spiel des wechselseitigen Ausreizens ist Silvia; am Ende von Akt II hat sie bereits das Liebesgeständnis Dorantes, der sich ihr zu erkennen gegeben hat und zu einer nicht standesgemäßen Ehe bereit ist, ohne dass sie ihrer- 189 Zitate hier und im Folgenden nach der Ausgabe von Frédéric Deloffre, Théâtre complet, 2 Bde., Paris 1968 (Les Classiques Garnier). 97 seits bislang ihre Identität offenbart hätte. Immerhin kann sie jetzt den erlösenden Satz sprechen: „Ah! Je vois clair dans mon coeur.“ (II, XII, S. 829) Und insgeheim gesteht sie ihre Schwäche ein: „Allons, j’avais grand besoin que ce fût là Dorante.“ (S. 830) Doch es geht ja nicht nur um sie und Dorante. Auch der als Dorante verkleidete Arlequin fühlt sich von der vermeintlichen Herrin Silvia-Lisette wiedergeliebt und hofft auf ein glückliches Ende. Dem vermeintlichen gesellschaftlichen Abstieg Dorantes entspräche so der gesellschaftliche Aufstieg, das „faire fortune“ (III, I, S. 831) des Dieners. Erst als Silvia die Identität des geliebten Dorante-Arlequin erkannt hat, beginnen in Akt III also die eigentlichen Schwierigkeiten, die Vater und Bruder mit Genuss verfolgen. Silvia schwärmt von einer ungewöhnlichen Liebe, „le coup de hasard le plus singulier“ (III, IV, S. 836), ja sie ‚dreht geradezu durch‘ und spricht von einem „combat entre l’amour et la raison“ (ebd.), als Lisette hereinplatzt und den angeblichen Dorante für sich beansprucht. In einem furiosen Dialog machen sich die beiden darauf das Geständnis ihrer wahren Identität, während Dorante noch immer nicht Bescheid weiß und Silvia einen endgültigen Beweis für die Liebe Dorantes sucht. Erst in einem letzten dramatischen Zwiegespräch werden diese Zweifel ausgeräumt, und erst in der Schlussszene mit dem Vater gibt sie sich zu erkennen. Es war eine Liebesprobe, bei der sie durch zu langes Zögern beinahe verloren hätte. Indessen gibt der Rollentausch auf beiden Seiten Gelegenheit zu Reibungen, und die Untergebenen scheinen ihre Rolle als Herrschaften zu genießen: „Pardon Madame, je ne puis pas jouer deux rôles à la fois“, bemerkt einmal Lisette (II, VII, S. 820), die die wachsende Verwirrung ihrer Herrin genüsslich beobachtet und kommentiert: „Je dis, Madame, que je ne vous ai jamais vue comme vous êtes ...“ (S. 821). „Ce sont des injures, et non pas des mots, cela“ (II, VI, S. 817), protestiert Arlequin gegenüber seinem Herrn. Der Rollentausch bringt eine Welt zum Einsturz: „Qui est-ce qui est à l’abri de ce qui m’arrive, où en sommes-nous? “ (S. 821) klagt Silvia am Ende ihrer Unterredung mit Lisette: „avec quelle impudence les domestiques ne nous traitent-ils pas dans leur esprit? Comme les gens-là vous dégradent! “ (II, VIII, S. 821f.) Doch nicht nur im sozialen Sinn wird ein Spiel des Identitätsverlusts in Gang gesetzt, sowohl Silvia als auch Dorante klagen darüber, dass sich ihnen der Kopf dreht (II, IX). Silvia: „je me défie de tous les visages, je ne suis contente de personne, je ne le suis pas de moimême.“ (II, XII, S. 828). Ähnlich geht es Dorante mit Arlequin, dessen Frechheit ihn aufbringt und dessen ernsthafte Liebesabsichten ihn empören. Der Kopf wird sich ihm noch mehr drehen, als er erfährt, dass Arlequin sich der vermeintlichen Silvia zu erkennen gegeben hat und die beiden miteinander glücklich sind. (III, VII, S. 841) Erst in der Schlussszene geraten die verschobenen Klassenverhältnisse wieder ins Lot: Arlequin und Lisette finden ihre einfache Sprache wieder, nachdem sie das höhere 98 Register geübt hatten. Gesellschaftlicher Auf- und Abstieg sind vermieden, aber ihre grundsätzliche Möglichkeit hat die Handlung wie in einem experimentellen Stück vorgeführt, und eine leichte Beunruhigung bleibt trotz allem zurück, denn neben der herkömmlichen Eltern-Kind-Dynamik stand auch, nicht unähnlich wie später in Diderots Jacques le Fataliste, das Herr-Knecht-Verhältnis zur Debatte. Das Thema steht, wie wir noch sehen werden, im Zentrum des Romanwerks und generell der Literatur der ersten Jahrhunderthälfte, die durch das Bereicherungsfieber und die Dynamisierung der Lebensverhältnisse geprägt war. 190 Erinnern wir uns nur an den Satz der Lettres persanes, in Paris sei jetzt ein Kammerdiener oft wohlhabender als sein Herr. Erwähnen wir nur das andere berühmte Drama, Les Fausses Confidences, das 1737 ebenfalls im Théâtre Français aufgeführt, eben die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs möglich werden lässt. Das Thema ist das des Gestiefelten Katers, der seinen mittellosen Herrn zum Marquis de Carabas ausruft und ihm durch allerlei wortreiche Tricks zu einer adligen Heirat verhilft. Die Konstellation erinnert an den Diable boiteux von Lesage. Ebenso hilft hier Dubois, Diener der reichen Witwe Araminte, dem verarmten Dorante, seinem früheren Herrn, zu einer Stelle als Verwalter auf dem Anwesen und richtet es so ein, dass aus der Liebe eine unstandesgemäße Ehe wird. Das ganze Stück lebt von der virtuosen verbalen Strategie, dem Spiel der Halbwahrheiten und Täuschungen, die hier jedoch der Wahrheit der Liebe zum Sieg verhelfen sollen. Mit dem Geständnis, das den Helden in den Augen der Geliebten zum honnête homme macht: „Dans tout ce qui s’est passé chez vous, il n’y a rien de vrai que ma passion qui est infinie...“ (III, XII, S. 415) Wie im Chat Botté ist auch in diesem Fall der Diener, ein Nachkomme Arlequins, der eigentliche Held der Komödie. Die Analogien zwischen Drama und Roman hat Jacques Proust mit dem Wortspiel „le Jeu du temps et du hasard“ umschrieben. 191 Zunächst einige verbindende Elemente in den beiden Memoirenromanen 192 , durch die der vorrangig dramatische Autor die Geschichte des französischen Aufklärungsromans maßgeblich beeinflusst hat. 1. Das junge Ich entdeckt sich als unverwechselbar und bezieht daraus sein eigentliches Selbstwertgefühl (amour-propre). Der Akzent lieg auf dem je Besonderen, welches zugleich Wahrheit verbürgt: „Parmi les faits que 190 Zu einer soziologischen Analyse vgl. Nicolas Bonhôte, „Aperçus sur une analyse sociologique del’œuvre de Marivaux“, in: Sociologie de la littérature, Bruxelles, Institut de Sociologie 1970, S. 113-120. 191 Jacques Proust, „Le ‚Jeu du temps et du hasard’ dans Le Paysan parvenu“, in: Europäische Aufklärung, München 1967, S. 223-235. 192 Zitate nach der Ausgabe von Frédéric Deloffre, La Vie de Marianne ou les aventures de Madame la comtesse de XXX, Paris 1963 (Les Classiques Garnier), und Le Paysan parvenu, Paris 1965 (Les Classiques Garnier). 99 j’ai à raconter, je crois qu’il y en aura de curieux: qu’on me passe mon style en leur faveur; j’ose assurer qu’ils sont vrais. Ce n’est point ici une histoire forgée à plaisir [...]“ (Le Paysan, S. 6) Daraus folgt sogleich die Betonung der eigenen „franchise“ 193 und noch wichtiger: der Beziehung zwischen der persönlichen Gefühlswelt und dem je persönlichen Stil, der gerade nicht vorbildhaft, sondern individuell sein will: „Chacun a sa façon de s’exprimer, qui vient de sa façon de sentir.“ (S. 6) 2. Es war bereits davon die Rede, dass das Hauptgewicht nicht mehr auf den Ereignissen, sondern auf den Empfindungen des Ich liegt. Der Prestostil eines Lesage (rasches, handlungsbetontes Erzählen) wird daher notwendig abgelöst durch einen eher umständlichen, reflexiven Stil der ständigen Selbstspiegelung und Selbstergründung, welche Ungewissheit, Offenheit, ungelöste Fragen und Andeutungen einschließen. Typische Adverbien sind: peut-être, probablement... Die Behauptung wird gerne durch die subjektive Annahme oder durch die Sinneswahrnehmung ersetzt: j’avoue que, je nie que, je me souviens que, je remarquai que, je vis que, je me trouvai étonné que, je pense que... Dies geht bis zur Infragestellung der eigenen Aussage und der bewussten Problematisierung des Stils: „Est-ce qu’on peut dire tout ce qu’on sent? “ (Le Paysan, S. 142) Der traditionelle Anspruch der clarté steht mithin in absolutem Widerspruch zu dieser neuen Komplexitätserfahrung, für die häufig noch kein sprachliches Äquivalent zu existieren scheint. Deloffre spricht von einer „stylistique de la suggestion, de l’impropriété même“. 194 Am Ende des Paysan parvenu heißt es z. B. in einer programmatischen Stelle: es gebe Leser, die daran Anstoß nähmen, wenn merkwürdige Erfahrungen auf eine merkwürdige Weise (singulière! ) ausgedrückt würden; dies gelte besonders „dans les choses où il est question de rendre ce qui se passe dans l’âme; cette âme qui se tourne en bien plus de façons que nous n’avons de moyens pour les dire, et à qui du moins on devrait laisser, dans son besoin, la liberté de se servir des expressions du mieux qu’elle pourrait, pourvu qu’on entendît clairement ce qu’elle voudrait dire, et qu’elle ne pût employer d’autres termes sans diminuer ou altérer sa pensée.“ (Le Paysan, S. 262) Der Klarheitsbegriff ist nicht mehr normativ verwendet, sondern verweist auf die je notwendige Individualität des Ausdrucks, der lediglich verständlich sein muss. Der moderne Stilistikbegriff ist hier bereits angelegt. 3. Die genannte Stelle deutet zugleich den Leserbezug an, der ähnlich wie der Publikumsbezug in der Komödie konstitutiv ist. Die ständige Leser- 193 Vgl. Emita B. Hill, „Sincerity and Self-Awareness in the Paysan parvenu“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 88 (1972), S. 735-748. 194 Frédéric Deloffre, Une préciosité nouvelle. Marivaux et le marivaudage, Paris, Les Belles Lettres 1955, S. 262 f. 100 anrede oder Berücksichtigung des Lesers macht den Roman zum Zwiegespräch, in dem der Erzähler ständig auf mögliche Einwände antwortet und zu Abschweifungen und Plaudereien neigt. Auch hier nimmt derAutor spätere Tendenzen von Diderot vorweg. Bsp.: „Laissons là mes neveux, qui m’ont un peu détourné de mon histoire, et tant mieux, car il faut qu’on s`accoutume de bonne heure à mes digressions; “(Le Paysan, S. 9) Das verbindet diesen Romantypus noch mit dem „roman comique“ und weist zugleich auf den humoresken Roman - von Laurence Sterne bis Jean Paul - voraus. Es schafft zugleich eine grundlegende Komplizität zwischen Romanheld/ Erzähler und Leser, die sich als Gleichgesinnte begegnen. Diese Interessenidentität sorgt für Übertragbarkeit der gemachten Erfahrungen: „Le récit de mes aventures ne sera pas inutile à ceux qui aiment à s’instruire.“ Die Haltung verhindert aber natürlich auch eine allzu kritische Perspektive. 4. Inhalt der Romane ist in jedem Fall eine psychologische Entwicklung, die zugleich einen Weg der Bewusstwerdung nachzeichnet. Thema ist die „éducation sentimentale“, die das Gefühl als Mittel der Erziehung und Selbsterfahrung einsetzt und die angelegte sensibilité entfaltet. 195 Von ursprünglicher Naivität (naïveté, franchise) machen Held oder Heldin die Erfahrung der möglichen Komplexität, die ihnen zugleich die ursprüngliche Unschuld nimmt: „voyez quelle école de mollesse, de volupté, de corruption, et par conséquent de sentiment; car l’âme se raffine à mesure qu’elle se gâte.“ (Le Paysan, S. 187). Allein die Selbstentfremdung bedarf der Selbstanalyse, 196 die geschilderten ‚Ereignisse‘ und Gegenstände sind, wie Peter Bürger in soziomimetischer Perspektive gezeigt hat, nur Zeichen, die „zur Reflexion über die konkrete Realität“ anhalten. 197 Die beiden Romane von Marivaux wurden schon zu Lebzeiten des Autors gleichsam als parallele Studien wahrgenommen und in der Folge vielfach nachgeahmt. Beide sind Memoirenromane und beide blieben unvollendet und wurden anonym ergänzt. 198 Gemeinsames Thema ist die soziale Selbstbehauptung, als Aufstiegsschema im Paysan parvenu bzw. als Vermeidung 195 Vgl. Ruth Kirby Jamieson, Marivaux: A Study in Sensibility, New York, Kings’s Crown Press 1941. 196 Vgl. Ronald C. Rosbottom, „Marivaux and the possibilities of the memoir-novel“, in: Neophilologus 56 (1972), S. 43-49. 197 Peter Bürger, Studien zur französischen Frühaufklärung, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1972, S. 99-132 („Marivaux’ Paysan parvenu. Zur Entstehung des bürgerlichen Romans“) und S. 133-150 („Herr und Knecht bei Marivaux“), hier S. 115 f. 198 Hierzu Henri Coulet, „L’inachèvement dans les récits de Marivaux“ in: Saggi e ricerche di letteratura francese XXII (1983), S. 29-46. Vgl. auch ders., Marivaux romancier: Essai sur l’esprit et le cœur dans les romans de Marivaux, Paris, Colin 1975. 101 des gesellschftlichen Abstiegs bei Marianne. Der spätere Roman Le Paysan parvenu ou Les Mémoires de M xxxx , 1734 erstmals publiziert und 1756 mit einer anonymen Ergänzung versehen, solll hier aufgrund seiner typischen Kennzeichen zuerst behandelt werden. Thema ist der Aufstieg des Sohnes eines ,fermiers‘ zum reichen Steuerpächter: Jacob wird mit einer Fuhre Wein zu seinem Herrn nach Paris geschickt und dort als Dienstbote eingestellt. Bald hat er ein Verhältnis zum Dienstmädchen Geneviève, die sich für ihn vom Herrn verführen lässt und Geld nimmt; er gewinnt das Wohlwollen der mondänen Dame des Hauses, der er spontan die Treue hält, als der Herr einen Schlaganfall erleidet und sie mittellos ins Kloster geht. Stellungslos streift Jacob durch Paris und erregt auf dem Pont-Neuf die Neugier einer fünfzigjährigen dévote, Mlle Habert, die ihn in ihr Haus aufnimmt. Der Versuch des Beichtvaters, den Jungen zu entfernen, führt zum Bruch zwischen Mlle Habert und ihrer Schwester. Durch die Ehe wird er M. de la Vallée. Jacob ist auf dem Sprung in die höhere Gesellschaft, welche die nächste Etappe des gesellschaftlichen Aufstiegs bestimmt. Er gewinnt die Sympathien einer verwitweten Dame von Stand, Mme de Ferval. Geschickt wehrt er eine Intrige der älteren Schwester von Mlle Habert ab und zeigt zunehmendes Selbstbewusstsein: Er kleidet sich als gentilhomme und entwächst allmählich der gesellschaftlichen Sphäre seiner Frau. Durch Mme de Ferval macht er Bekanntschaft mit Mme de Fécour, die ihn mit einem Empfehlungsschreiben an ihren Bruder in Versailles versieht. Jetzt ist er der „amant de deux femmes de conditions“ (S. 187). Der Bruder von Mme de Fécour bietet ihm den Posten des erkrankten M. d’Orville an, doch tritt der Held freiwillig hinter Mme d’Orville zurück, die ebenfalls vorstellig geworden ist. Auf der Fahrt zu Mme d’Orville will es der Zufall, dass er einem bedrängten jungen Edelmann zuhilfe eilt. Dieser, Graf d’Orsan, erweist sich dankbar: Jacob steigt zum Generalpächter und Besitzer seines Dorfes in der Champagne auf, wohin er sich zurückzieht und eine reiche philanthropische Tätigkeit entfaltet. Mlle Habert ist rechtzeitig gestorben, um Jacob eine günstige Heirat zu ermöglichen. Dieser letzte Teil (Buch 6-8) ist jedoch bereits anonym und zeigt Einfluss aufklärerischer reformerischer Vorstellungen. Charakteristisch ist nämlich der Abbruch gerade an der Stelle, als Jacob den Weg nach oben geschafft hat, d. h. der Verzicht auf eine soziale Perspektive und auf eine politisch-historische Tendenz wie bei Lesage. Das Gewicht liegt ausschließlich auf den psychologischen Mechanismen des faire fortune durch die Frauen in der ständig wechselnden Mischung aus Naivität und Schläue, Güte und Berechnung des Helden. Allgegenwärtig ist dabei der hasard, der zum natürlichen Verbündeten der aufsteigenden bürgerlichen Klasse wird. Der Aufstieg ist zugleich eine psychologisch gegliederte Serie von Fallstudien über die verschiedenen Formen der Liebe: affection spontanée (Geneviève) → amour-vanité (amour- 102 propre) (Madame) → amour reconnaissance (Mlle Habert) → galanterie (Mme de Ferval) → amour/ sensibilité (Mme de Fécour) → amour-compassion (Mme d’Orville) Auffallend sind Positivierung und Aufwertung von Einfachheit: Der Held bäuerlicher Herkunft ist nicht mehr wie bei Molière ein Objekt des Spotts, sondern Symbolfigur des spontan Guten und Unverdorbenen. Jacob zeichnet sich durch angeborene honnêteté/ ländliche Unschuld aus: „il n’y a que trois ou quatre mois que je suis sorti de mon village, et je n’ai pas encore eu le temps d’empirer et de devenir méchant“. (S. 43). Dies impliziert auch die Vorstellung der „natürlichen“ Ehre - „que j’avais naturellement de l’honneur“ (S. 17) - gegen den ständischen Hochmut des Herrn: „l’honneur de vos pareils, c’est d’avoir de quoi vivre“ (29). In ähnlicher Weise verfügt der ,Bauer‘ über ,natürlichen‘ Geist: „tout paysan que vous êtes, vous ne manquez pas d’esprit,“ heißt es einmal. (S. 28) Besonders aber zeigt Jacob spontane Güte und Hilfsbereitschaft, eine Art natürlicher sensibilité, z. B. gegenüber der Frau des Hausherrn - „Je ne pus la voir sans pleurer avec elle; il me semblait que si j’avais eu des millions, je les lui aurais donnés avec une joie infinie“, S. 38 - oder später bei der Hilfeleistung für den Comte d’Orsan . Der Begriff des honnête homme erhält dadurch eine wörtliche Bedeutung jenseits gesellschaftlicher Konventionen. 199 Die Eigenschaften: franchise, sincérité, naïveté..., bezeichnen das eigentliche Geheimnis des Helden, weil sie der scheinhaften Welt entgegenstehen und zugleich jugendliche Unbefangenheit verraten. D. h., es geht einerseits um die Aufhebung und Entlarvung des ständischen und mondänen Wertesystems und um Ansätze zu kritischer Gesellschaftsbetrachtung: „Quel misérable pays, madame, où l’on met au cachot les personnes qui ont de l’honneur et, en chambre garnie, celles qui n’en ont point.“ (S. 31) Und andererseits werden gerade die positiven Eigenschaften vom Helden von Anfang an eingesetzt, um in der Gesellschaft zu reüssieren. So entsteht die für Marivaux typische Ambiguität von Berechnung, Güte und Eigennutz so dass der Held sich oft selbst nicht mehr so recht zu durchschauen scheint. Die Dialektik der Gefühle verweist auf die Auflösung eines stabilen Normenhorizonts und die Unmöglichkeit, eindeutige Moralurteile zu fällen. Der Held entdeckt nicht nur, wie noch Gil Blas in moralistischer Perspektive, den Widerspruch zwischen Sein und Schein, sondern die Doppeldeutigkeit aller Begriffe und Handlungen. M. a. W., Scheinhaftigkeit gehört zur menschlichen Gesellschaft ebenso wie zur menschlichen Psychologie und begründet die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht des Handelns zu finden. Dies ist nur möglich durch Selbst- und Fremder- 199 Vgl. O. A. Haac, „Marivaux and the ‚honnête homme‘“, in: Romanic Review 50 (1959), S. 255-267. 103 kenntnis: „J’ouvris alors les yeux sur ma bonne fortune, [...]“ (S. 76) An die Stelle der pikaresken Witzigung tritt, wie schon gesagt, die psychologische Erfahrung: Je m’en aperçus à merveille, et cet art de lire dans l’esprit des gens et de débrouiller leurs sentiments secrets est un don que j’ai toujours eu et qui m’a quelquefois bien servi. (S. 86) Der Aufstieg beinhaltet also nicht einfach Pervertierung der Unschuld, sondern zugleich auch wachsende Komplexitätserfahrung und verstärktes Selbstbewusstheit: Naivität wird jetzt zur Waffe und zum bewusst eingesetzten Register, ohne doch ganz den Charakter des Natürlichen zu verlieren. So befleißigt sich der Held im Umgang mit Mlle Habert wie selbstverständlich eines „langage rustique“. Aus der sozialen Unterlegenheit wird die virtuell überlegene Position des Helden, der mit dem amour-propre der anderen spielt, ohne die Einsicht in die Bedingtheit der eigenen Beweggründe zu verlieren: „En fait d’amour, tout engagé qu’on est déjà, la vanité de plaire ailleurs vous rend l’âme si infidèle, et vous donne en pareille occasion de si lâches complaisances.“ (S. 136) Die Einsicht in die Bedingheit auch der eigenen Gefühle ist im übrigen ein Mittel der Sympathiewerbung beim Leser: Je retournai donc chez moi, perdu de vanité [...], mais d’une vanité qui me rendait gai, et non pas superbe et ridicule; mon amour-propre a toujours été sociable; je n’ai jamais été plus doux ni plus traitable que lorsque j’ai eu lieu de m’estimer et d’être vain; chacun a là-dessus son caractère, et c’était là le mien. (S. 187) So werden selbst Eitelkeit und amour propre zu positiven, notwendigen Eigenschaften. Sie dienen als Grundlage der Nächstenliebe, befriedigte Eitelkeit ist die Quelle sozialer Umgänglichkeit, Eitelkeit verweist auf die Irreduktibilität des eigenen Charakters und relativiert den traditionellen Tugend-Begriff. Letzterer wird abgelöst von genaueren Entsprechungen und dient nun dazu, ein gelungenes Gleichgewicht zwischen Egoismus/ Altruismus und jugendlichem Erfahrungszuwachs zu bezeichnen: Je n’étais plus ce petit polisson surpris de son bonheur, et qui trouvait tant de disporportion entre son aventure et lui. Ma foi! j’étais un homme de mérite, à qui la fortune commençait à rendre justice. (S. 252) Glück und gesellschaftliche Anerkennung sind mithin verdient; sie sind äußerer Ausdruck der inneren Werte. Eine grundlegende Rolle kommt dabei der sensibilité als einer Art „moral sense“ und Empfänglichkeit für die Aussenwelt und die anderen zu. In der anonymen Fortsetzung lesen wir: „Je m’aperçus alors, pour la première fois, que mon cœur était sensible.“ (S. 280) Der Held erscheint als sensibler pícaro, der gerade dadurch bei den Frauen Erfolg hat. Dies erklärt auch das Paradox, dass der Held anders als bei Lesa- 104 ge nicht eigentlich altert und auch nicht zum libertinistischen Verführer wird. Er spielt eher eine passive Rolle und ergreift jeweils die Gelegenheiten, die sich ihm bieten. Schwäche und List, die alten Eigenschaften des Schelms und pícaro, werden neu eingesetzt. Psychoanalytisch gesprochen, wird die Rolle der Vaterfigur durch die der Mutterfiguren ersetzt. Der junge Antiheld bedient sich einer Reihe von Mutterfiguren / Witwen / unverheirateten Frauen, während die Väter eine störende Rolle spielen oder nicht vorhanden sind (Gutsbesitzer, Beichtvater, M. de Fécour...). Maurice Roelens hat auf die fundamentale Ähnlichkeit aller Frauengestalten (außer Geneviève) hingewiesen, die als Mutterfiguren die „longue préparation à la vie adulte“ 200 erleichtern und die Bedeutungslosigkeit der Vaterfiguren erklären. Seinen endgülten, letzten Aufstieg verdankt Jacob einem jungen, gleichaltrigen Adligen, der ihn in die eigenen Kreise einführt, also gerade nicht einem väterlichen Gönner, sondern einer brüderlichen Doppelgängerprojektion, die an den Diable boiteux erinnert. Gil Blas zeigt die Suche nach Ersatzvätern bis zur eigenen Vaterwerdung, die in die politische Sphäre führt; Le Paysan parvenu zeigt dagegen die ödipale Verweigerung des Erwachsenwerdens, die Rolle der Zärtlichkeit und zugleich die Ausklammerung der bürgerlichen Lebenswelt und des politischen Bereichs. Die Psychologisierung des Aufstiegsschemas ist mithin durch Entrealisierung und Weltverlust gekennzeichnet. Der Marivaux’sche Roman bildet kein Modell für das 19. Jahrhundert; von daher wohl der steile Abfall der Beliebtheit des Werkes, das erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts neu entdeckt wurde und erst im Felix Krull von Thomas Mann einen Nachfolger gefunden hat. Le Paysan parvenu ist im Zusammenhang mit dem weiblichen Gegenstück entstanden: La Vie de Marianne ou Les aventures de madame la comtesse xxx , 1728 begonnen, 1. Teil 1731 im selben Jahr wie Manon Lescaut erschienen und bis 1742 fortgesetzt (ebenfalls unvollendet) anonym ergänzt 1745. Aber trotz erster Ähnlichkeiten hat der Roman eine wesentlich andere Ausrichtung und zeigt eine wesentlich deutlichere Verbindung von Realismus und Psychologie. Es ist ein weiblicher Memoirenroman in Briefform, den Jürgen von Stackelberg „eines der großen Ereignisse in der Geschichte des französischen Romans“ 201 genannt hat. Der englische Literaturhistoriker Peter Brooks spricht von „one of the first totally successful novels of manners“. 202 Nach Emile Faguet ist La Vie de Marianne der „erste empfindsame Roman“. Wir haben es also mit einer offensichtlich geglückten Verbindung 200 Maurice Roelens, „Les silences et les détours de Marivaux dans Le Paysan parvenu. L’ascension sociale de Jacob“, in: Le Réel et le Texte, Paris, Colin 1974, S. 11-30, hier S. 24. 201 Jürgen von Stackelberg, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München, Beck 1970, S. 302. 202 Peter Brooks, The Novel of Worldliness. Crébillon, Marivaux, Laclos, Stendhal, Princeton, University Press 1972, S. 139. 105 verschiedener Romantraditionen (Memoirenroman, Sittenroman, empfindsamer Roman) zu tun. Die realistische pikareske Tradition dient dazu, die Alltagswelt, die Umwelt und das Sichdurchschlagen der Heldin, gleichzeitig durch List, Tugend und Sensiblität zu zeigen. Entferntes Vorbild ist die weibliche Pikareske, wie sie z. B. in den spanischen Werken La Lozana andaluza (1528), von Delicado, La ilustre fregona (1613), von Cervantes, vorliegt. Hinter dem pikaresken Muster zeichnet sich jedoch die klassische psychologische Novelle und histoire ab. Anders als in der weiblichen Pikareske geht es um Liebesverzicht, Tugend und verfolgte Unschuld. Stackelberg spricht von einer bewussten Replik auf die Princesse de Clèves. Doch hat Roger Mercier am Beispiel der leitmotivischen Untreue des Mannes den Abstieg der höfischen Liebesauffassung und das Eindringen libertinistischer und sensualistischer Tendenzen geltend gemacht. 203 Und in eben dieser intertextuellen Perspektive spricht Silvère Lotringer von einem „roman impossible“ „aux antipodes de la Princesse de Clèves“, 204 insofern die Heldin sich durch eben ihre Tugend gegen die Ungerechtigkeit des Systems durchsetzt. Letztere wiederum erklärt die Spuren der heroisch-galanten Tradition: das Findelkindmotiv (hohe Abkunft, Abenteuerkette als Bewährung). Die Verschmelzung der verschiedenartigen Romantraditionen zeigt den Autor auf der Suche nach einem neuen Modell. 205 In gewisser Weise ist aber auch dieser - nicht zufällig unvollendete - Roman ein „roman impossible“ (Lotringer) der gesellschaftliche Wirklichkeit und Innenperspektive zur Deckung zu bringen versucht. Ein wesentlicher Originitätsfaktor liegt, wie etwa Wolfgang Matzat 206 gezeigt hat, in der Art, wie die Innenperspektive zur Problematisierung des autobiographischen Erzählens benützt wird. Der Autor, der bereits in der Einleitung zu der Erzählsammlung La Voiture embourbée durch die Reflexion über realistisches Erzählen hervorgetreten ist, 207 benützt die naive weibliche Perspektive zu einem ironischen Spiel mit subjektiver Wahrnehmung und dem Wahrheitsanspruch des Erzählens. Zunächst in Verbindung mit dem topischen Motiv der Zurückweisung des Romanhaften: Ce début paraît annoncer un roman; ce n’en est pourtant pas un que je raconte; je dis la vérité comme je l’ai apprise de ceux qui m’ont élevée. (S. 10) 203 Roger Mercier, „Le héros inconstant. Roman et réflexion morale (1730-1750)“, in: Revue des Sciences humaines 36 (1971), S. 333-355. 204 Silvère Lotringer, „Le Roman impossible“, in: Poétique 1 (1970), S. 297-321, hier S. 301. 205 Vgl. Wolfgang Matzat, „Mimesis und Lebensgeschichte. Zu den Möglichkeiten des autobiographischen Erzählens im Umkreis von Marivaux’ La Vie de Marianne“, in: Andreas Kablitz/ Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, Freiburg/ Brsg., Rombach 1998, S. 183-208. 206 Ebd. 207 Morten Nøjgaard, „Le problème du réalisme dans les romans de Marivaux. Réflexion sur l’introduction de la Voiture embourbée“, in: Revue romane 1 (1966), S. 71-87. 106 Daher die Fiktion des voraussetzenden Sprechens, des scheinbar spontanen, mündlichen Erzählens, ohne stilistische Feinheiten und erzählerische Modelle, wie es der Herausgeber-Erzähler im Avertissement von Teil II: Mais Marianne n’a point songé à faire un roman non plus. Son amie lui demande l’histoire de sa vie, et elle l’écrit à sa manière. Marianne n’a aucune forme d’ouvrage présente à l’esprit. Ce n’est point un auteur, c’est une femme qui pense, qui a passé par différents états, qui a beaucoup vu [...]. (S. 55) Und noch einmal: „Figurez-vous qu’elle n’écrit point, mais qu’elle parle.“ (S. 56) Interessant ist hier vor allem die Verbindung des spontanen Sprechens mit der Frauenrolle in der Opposition auteur vs. femme. Auch ist der Brief als weibliche Beichte an eine Frau gerichtet, die symbolisch das neue weibliche Zielpublikum repräsentiert. Weiblichkeit garantiert die Unmittelbarkeit des Erlebens und Sprechens. Das Ideal wäre das mündliche Sprechen. In gewisser Weise bedeutet schon der Akt des Schreibens eine Verfälschung: „Il est vrai que l’histoire en est particulière, mais je la gâterai, si je l’écris; car où voulez-vous que je prenne un style? “ (S. 8) So werden klassische, präskriptive Ideale in Frage gestellt: „Au reste, je parlais tout à l’heure de style, je ne sais pas seulement ce que c’est. Comme fait-on pour en avoir un? Celui que je vois dans les livres, est-ce le bon? “ (S. 9) Damit stellt sich zugleich das Realismusproblem, das sich schon im Frühwerk andeutet. Marivaux ist zweifellos einer der Begründer des neuzeitlichen bürgerlichen Realismus: Zunächst was die Aufwertung der einfachen Alltagswirklichkeit im Zeichen der Verwobenheit von allem mit allem betrifft. Diese Realitätserfassung erlaubt keine künstliche Trennung von Stilen und Registern mehr. Das Leben der Heldin „est un tissu d’événements qui lui ont donné une certaine connaissance du cœur et du caractère des hommes“ (S. 55 f.), d. h., das Abenteuer selbst wird alltäglich: „un tissu d’aventures dont le caractère paraîtrait bas et trivial à beaucoup de lecteurs“ (S. 57). Dies bedingt den Verzicht auf romaneske Überhöhung im Nebeneinander des Edlen und Niedrigen, die klassische Stiltrennungsregel ist obsolet. So z. B. in der berühmten Kutscherszene am Ende von Teil II das Avertissement, wo der Leser Zeuge einer wüsten Schimpforgie wird. Der Kommentar: Au reste, bien des lecteurs pourront ne pas aimer la querelle du cocher avec madame Dutour. Il y a des gens qui croient au-dessous d’eux de jeter un regard sur ce que l’opinion a traité d’ignoble; mais ceux qui sont un peu plus philosophes, qui sont un peu moins dupes des distinctions que l’orgueil a mis dans les choses de ce monde, ces gens-là ne seront pas fâchés de voir ce que c’est que l’homme dans un cocher, et ce que c’est que la femme dans une petite marchande. (S. 56). 107 Im übrigen hängt der Stil, wie im Paysan parvenu oder im Jeu de l’amour et du hasard, von der Rechtsstrategie und der Situation ab. Detailrealismus entspringt so weniger einem deskriptiven Paradigma als den Notwendigkeiten der Ereignisse und der Psychologie. Tous ces détails sont ennuyants, mais on ne saurait s’en passer; c’est par eux qu’on va aux faits principaux.“ (S. 258) Die Wichtigkeit des Berichteten bemisst sich jetzt an subjektiven Kriterien, und die kleinsten Wahrnehmungen, Gefühle und Empfindungen können in dem „Netz“ der persönlichen Verhältnisse von Bedeutung sein. Marianne, sagt der Autor, „mêle indistinctement les faits qu’elle raconte aux réflexions qui lui viennent à propos de ces faits“ (S. 56). Marivaux’ Betonung der réflexions zeigt, wie ungewohnt die genaue und umständliche, psychologische Analyse für den zeitgenössischen Leser war. Ohnedies führt die Problematisierung der Psyche -„On ne saurait rendre en entier ce que sont les personnes; du moins cela ne me serait pas possible...“ (S. 166) - auch dazu, dass die Technik des traditionellen Portraits 208 überholt erscheint. Mit Bezug auf diese neue Rolle der Selbsterkenntnis und Selbstreflexion spricht Leo Spitzer von einem „roman d’explication“ (statt „d’éducation“). Die Heldin befindet sich im Erzählen auf der Suche nach der eigenen subjektiven Wahrheit. Eine solche Problematisierung und Dynamisierung des Erzählens ist natürlich Anlass zu indirekter Romankritik. Marianne ist eine „Romanheldin“, die sich auch so sieht und allmählich zur Wahrheit des Lebens gelangt. Rückblickend zieht sie Bilanz: Mon récit devient intéressant; je le fis de la meilleure foi du monde, dans un goût aussi noble que tragique; je parlai en déplorable victime du sort, en héroïne de roman, qui ne disait pourtant rien que de vrai, mais qui ornait la vérité de tout ce qui pouvait la rendre touchante, et me rendre moi-même une infortunée respectable. (S. 356). Selbstüberhöhung nach älteren Modellen enthält ein Element der Wahrheit, doch in dem Sinn, dass sie mehr über den damaligen Zustand der Heldin verrät als über die Ereignisse selbst. So erscheint auch der untreue Geliebte einmal mehr als „un héros de roman infidèle“ (S. 375), dann wieder als typischer Vertreter seiner Zeit, ohne romaneske Gloriole. Dabei ist die romanhafte Stilisierung nicht einfach Ausdruck eines falschen Bewusstseins, sondern Teil der ständigen Ambiguität von Sein und Schein, Wesen und Rollenspiel der Person, die als solche und auch für das Ich selbst nicht 208 Hierzu auch Lester G. Crocker, „Portrait de l’homme dans Le Paysan parvenu“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 87 (1972), S. 253-276. 108 mehr fassbar ist: Wie schon gesagt: „On ne saurait rendre en entier ce que sont les personnes; du moins cela ne me serait pas possible...“ (S. 166) Und noch etwas zeigt diese reflexive Bewusstheit, das Spiel mit der Distanz zwischen jetzigem und einstigem Ich: Jean Rousset hat diesbezüglich den Begriff des „double registre“ 209 eingeführt: Je badine de cela aujourd’hui; je ne sais pas comment j’y résistai alors. Continuons, et rentrons dans tout le pathétique de mon aventure. (S. 377) Das ,pathétique‘ als Teil der damaligen Bewusstseinshaltung gehört also mit zur Wahrheit einer sich vom Schicksal verfolgt glaubenden Heldin: „Je suis née pour avoir des aventures, et mon étoile ne m’en laissera pas manquer.“ (S. 418) Der Roman beginnt symbolisch als Ichsuche und Ichbeschreibung im Widerstand gegen traditionelle Register: „Ce début paraît annoncer un roman: ce n’en est pourtant pas un que je raconte; je dis la vérité comme je l’ai apprise de ceux qui m’ont élevée.“ (S. 10) Teil I nimmt das Thema des frühen Werkes La Voiture embourbée auf: Beim Überfall auf die Postkutsche kommen die Eltern der zweijährigen Marianne ums Leben; das Kind wird unter den Leichen gefunden und Pflegeeltern anvertraut. Der Verlust der Eltern bedeutet den Verlust der Tradition und steht für eine fundamentale, neue Offenheit: „je n’étais plus à moi, je ne me ressouvenais plus de rien; j’allais, j’ouvrais les yeux, j’étais étonnée, et voilà tout.“ (S. 17) Am Anfang des Erzählers bezeichnen Sehen und Staunen die neue Erfahrungswirklichkeit. Marianne, mutmaßlich ein Kind aus gutem Hause, wird zur anonymen Verkörperung sozialer Offenheit: „Par tout cela ma naissance devint impénétrable, et je n’appartins plus qu’à la charité de tout le monde.“ (S. 13) Als Waise bei einem Pfarrer und seiner Schwester aufgezogen, tritt sie mit 15 1 / 2 Jahren wegen einer Erbschaftsangelegenheit mit der Ziehmutter eine Reise nach Paris an; als das alte Fräulein stirbt, steht Marianne allein und mittellos in Paris: „Enfin me voilà seule, et sans autre guide qu’une expérience de quinze ans et demi …“ (S. 23) Die Ursprungssituation wiederholt sich unter verschärften Bedingungen beim Eintritt ins Erwachsenenalter. Ein Geistlicher übergibt das Mädchen einem Monsieur de Climal, der sich als Tartuffe entpuppen wird. Er bringt sie zu der Putzmacherin Mme Dutour, staffiert sie aus und beginnt zugleich, um sie zu werben. Marianne 209 Jean Rousset, „Marivaux et la structure du double registre“, in: ders., Forme et signification, Paris, Corti 1962, S. 45-64. 109 versucht, sich ihm zu entziehen und ihre problematische Stellung zu verdrängen, zumal bereits eine gewisse weibliche Eitelkeit in ihr erwacht ist. Teil II spielt das alte Motiv der Begegnung im Tempel aus: Bei einem Kirchgang mit neuen Kleidern erregt die Heldin die Aufmerksamkeit der jungen Kavaliere, darunter eines jungen Mannes, der sich später als Monsieur de Valville vorstellen wird. Auf dem Heimweg gerät sie in Gedanken versunken in einen Verkehrsunfall, verstaucht sich den Fuß und wird von der Kutsche Valvilles aufgenommen, der sie pflegt und ihr seine Liebe gesteht. Das Geständnis stürzt Marianne in tiefe Zweifel. Allein fährt sie nach Hause und wird Zeugin eines wüsten Streitgesprächs zwischen dem Kutscher und Mme Dutour. Marianne, die weiß, dass ihr ein Diener Valvilles gefolgt ist, der nun ihr Herkunftsmilieu kennt, leidet an der Unstandesgemäßheit ihrer Verhältnisse. Teil III Die Liebe Valvilles und sein Eintritt in das Milieu erscheint als symbolische Annäherung von Komödie und Tragödie, als Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit, von hoher und niedriger Liebe. Climal macht dem Mädchen ein entehrendes Angebot, und auf dem Höhepunkt dieser Szene tritt Valville herein und wird zum Zeugen des Geschehens. Dabei stellt sich allerdings heraus, dass er der Neffe von Herrn de Climal ist, ein Umstand, der die Verflechtung ihrer Verhältnisse belegt. Es ist dabei charakteristisch, dass Mariannes mangelnde Zuneigung zu Climal erst unter dem Einfluss der echten Liebe zu Abscheu wird, dass es also nicht nur um moralische Positionen geht. Marianne steigert sich in eine romaneske Position hinein, bricht mit Climal und will in ein Kloster gehen. Zum ersten Mal ist sie wirklich allein und erlebt die Einsamkeit in der Großstadt: Plus je voyais de monde et de mouvement dans cette prodigieuse ville de Paris, plus j’y trouvais de silence et de solitude pour moi. (S. 134) In einem Frauenkloster findet Marianne spontane Sympathie („les âmes se répondent“, S. 147) Insbesondere eine Dame, Mme de Miran, die sich als Mutter Valvilles erweisen wird, zeigt Interesse und ein - freilich etwas herablassendes - Mitleid. Marianne versucht, durch bestimmte Strategien Mme de Miran von sich zu überzeugen und legt eine Art Lebensbeichte bei ihr ab. Es ist die übliche zweischneidige Rolle von sincérité und naïveté, die zugleich Wahrheitsliebe und Waffe, Strategie bedeuten. Aus dem Roman ist so ein Drama geworden. 110 Teil IV fungiert als Peripetie. Die Handlung spitzt sich zu, als Mme de Miran von der Liebe Valvilles erfährt. Mariannes selbstlose Bereitschaft zum Verzicht nimmt sie jedoch vollends für die Heldin ein. Und so ermuntert sie ihren Sohn: „Aime-la, mon enfant, aime-la; il en arrivera ce qui pourra, reprit-elle“. (S. 199) Die gesellschaftliche Problematik wird scheinbar durch die Edelkeit des Herzens und die rührenden Gefühle eingeebnet: „Je n’étais rien, je n’avais rien qui pût me faire considérer, mais à ceux qui n’ont ni rang, ni richesse qui en imposent, il leur reste une âme, et c’est beaucoup“. (S. 178) Tugend, so scheint es, macht sich bezahlt: „cet excès de désintéressement“ erlaubt Eindringen in die höhere soziale Welt: „J’avais compris le monde tout autrement que je ne le voyais là ...“ Charakteristisch sind aber der Genuss dieser Tugend und die Selbstaufwertung als natürliches Gefühl: „Il est naturel de souhaiter qu’on nous rende justice“ (S. 216). Stille Tugend genügt nicht; äußerer Schein ist Teil des Seins. Teil V Nun geht es scheinbar aufwärts. Ein offenes Geständnis Climals auf seinem Totenbett beseitigt auch die letzten moralischen Zweifel. Climal vermacht Marianne eine Rente. Die Begegnung mit Mme de Fare, der Tante Valvilles, und die gemeinsame Fahrt in ihr Landhaus scheinen die neue gesellschaftliche Akzeptanz der Heldin zu unterstreichen. Doch gerade in diesem Augenblick bedeutet die erneute Begegnung mit Mme Dutour den Zusammenbruch ihrer Existenz. Die Realität holt den Traum ein. Was wie ein idyllischer Findelkindroman kurz vor dem Happy End stand, wird zum nicht endenden Kampf um das verlorene Ansehen. Teil VI Es folgt eine Aussprache mit Mme de Miran, die trotzdem noch gegen die Feindschaft der Familie zu Marianne hält. Die erneut deutliche, edelmütige Selbstlosigkeit Mariannes bestärkt sie in dem Glauben an die natürliche Güte des Mädchens. (S. 284) Die sentimentale Idylle hält so lange, bis Marianne das Opfer einer Familienintrige wird. Sie wird entführt, vor ein Ultimatum gestellt und mit einem ihr zubestimmten Gatten aus dem Dienstbotenstand konfrontiert. Jetzt zeigt sich der Abstand der Heldin zu dem ersehnten Status. Der ihr zugedachte Ehemann ist ein Kleinbürger ohne Format, also gerade kein paysan parvenu. Teil VII Nur langsam verändert sich die Situation durch den Widerstand Mariannes, und das Eintreten von Mutter und Sohn für die Geächtete. Den Höhepunkt bildet eine Rede Mariannes, in der sie auf Valville Verzicht übt. 111 Das Familienoberhaupt, ein Minister, gibt sich von soviel Edelmut geschlagen. Doch im Kloster, wo Valville die Heldin besucht, begegnet er der hochadligen englischen Mlle Varthon. Wieder schlägt das Schicksal im letzten Augenblick um. Valville erliegt dem Charme ihrer zarten Schwäche und wird Marianne während ihrer darauf einsetzenden Krankheit untreu. Marianne: „Je suis née pour avoir des aventures, et mon étoile ne m’en laissera pas manquer.“ (S. 418) Eben noch haben wir es mit romaneskem Schicksalspathos zu tun, da setzt sich das psychologische Register wieder durch. Die Heldin wird zu neuer Bewusstheit gelangen: „Je devinai tout d’un coup ce ménagement apparent qu’elle avait eu pour moi; mais je n’en fus pas la dupe“ (S. 400), schreibt sie über einen Annäherungsversuch Valvilles. Tatsächlich ist gerade jetzt der Zeitpunkt gekommen, eine nicht-romaneske differenziertere Sicht der Wirklichkeit zu wagen: So ist Valville denn kein „héros de roman infidèle“, genauso wenig wie die Geschichte der Heldin ein „roman“ sein soll: „Valville n’est point un monstre comme vous vous le figurez. Non c’est un homme fort ordinaire, madame, tout est plein de gens qui lui ressemblent...“ (S. 375). Auf dem Weg zur Nobilitierung steht die Witzigung durch Unglück und Erfahrung. Bald darauf hält der ältere Comte de la Foix um die Hand Mariannes an, über die Mme de Miran noch immer wie ein mütterlicher Schutzengel ihre Hand hält. Teil IX-XI: Doch es geht nicht ohne Exempel, das zeigt eine eingeschobene Novelle im Stil des heroisch-galanten Romans. Und natürlich geht es um ein Spiegelbild der Heldin. Zur Abschreckung erzählt die Klosterfrau Gervire Marianne ihre eigene Geschichte: Früh von der Mutter verlassen war sie als Waise bei einem Dienstboten aufgewachsen und hatte später Aufnahme bei Verwandten gefunden. Nach der Untreue des Geliebten hatte sie sich auf die Suche nach der Mutter in Paris gemacht, nachdem diese von Sohn und Schwiegertochter ins Elend gestoßen worden war. Aber die eingeschobene Erzählung, eigentlich ein Roman im Roman, fungiert auch als parallele Kontrastfolie zum Roman der Heldin, dessen Offenheit als Weigerung gegen die tragisch-sentimentale Romaneske und die Mode des aufblühenden sentimentalen Frauenromans, z. B. einer Madame Riccoboni ausgespielt wird. 210 Nicht zufällig verfasste ja eben Mme Riccoboni die Fortsetzung der Vie de Marianne. La Vie de Marianne begründet den zeitgeschichtlichen Sittenroman psychologischer Couleur. Die Personen einschließlich der Heldin selbst 210 Nach John Heckman, „Marianne. The Making of an Author“, in: Modern Language Notes 86 (1971), S. 509-522, spiegelt die eingeschobene Erzählung, die soziale Aporie der Heldin und des Romans, denn: „To ‚finish‘ the novel would mean to recount the attainment of stability.“ (S. 521). 112 sind typische Charaktere, deren Profil nirgends in melodramatische Einseitigkeit absinkt. Valville ist so gesehen auch ein typischer Romanheld, weil er widersprüchlich und offen erscheint, eben kein „monstre“, sondern ein „homme fort ordinaire“. Oder anders: „Homme, Français, et contemporain des amants de notre temps, voilà ce qu’il était.“ (S. 276) - eine Art Jacob auf adligem Niveau, „fort honnête homme“, doch gerade auf Grund seiner „sensibilité“ auch „extrêmement susceptible d’impressions“ (S. 376). Gerade hier liegt nun die Ursache für die Überlegenheit der Heldin, die Gefühl und Bewusstheit verbindet und so ungeachtet ihrer Opferrolle als „femme supérieure“ erscheint. Die Konfession ist das Medium, in dem sich das Gefühl seiner selbst bewusst wird. Bei Marianne ist das sentiment nicht allein Mittel zum Selbstgenuss und zu rührenden Effekten, sondern eine Art überlegenes psychologisches Gespür, sensibilité, ja fast auch esprit de finesse im Sinne Pascals. Es begründet persönliche Überlegenheit und fungiert als leitendes Erkenntnisprinzip: „Je pense, pour moi, qu’il n’y a que le sentiment qui nous puisse donner des nouvelles un peu sûres de nous...“ (S. 22) Erst die „sensibilité“ lehrt die Personen, die Vielschichtigkeit menschlichen Handelns zu durchschauen und verstehen; so erweist sich zuletzt sogar die sensibilité Climals nicht bloß als Täuschung und Trug. Qualitäten des Herzens sind hier leitmotivisch eingesetzt, um die Autonomie des Individuums zu veranschaulichen. Der durchmischte Charakter ist Ausdruck der Suche nach psychologischer Wahrheit. Soziologisch gesehen spiegelt der Roman die Kongruenz von psychologischer Emanzipation und gesellschaftlichem Aufstieg. Nicht zufällig wird die wirkliche Herkunft der Heldin nie aufgedeckt. Der Roman verzichtet auf das alte Motiv der spät erkannten edlen Geburt, auch wenn dies durch die romanesken Umstände nahegelegt wird. 211 Die Heldin muss sich selbst zu helfen wissen. Womöglich hat Gert Pinkernell 212 Recht, wenn er einer Zweiteilung des Romans das Wort redet und in Buch III den Bruch zwischen dem noch optimistischen Autor und dessen wachsendem sozialen Pessimismus verankert. Die zunehmende Unsicherheit bezüglich Mariannes Recht auf eine angeblich angestammte adlige Position würde dann auch die zunehmend passive Rolle der Heldin erklären, die eine prinzipiell unvollendbare Kette von Krisen und Bewährungsproben durchläuft. Grundsätzlich indiziert die Elternlosigkeit der Heldin von Anfang an Chance und Probleme zugleich, zumal es ja nicht um genuinen sozialen 211 Nach Marthe Robert, Roman des origines et origines du roman, Paris, Gallimard 1972, bildet der Freudsche ‚Familienroman‘-Komplex die Grundlage des neuzeitlichen Romans. Die Verleugnung des leiblichen Vaters und die Suche des Ich nach Selbstüberhöhung durch die Fiktion einer imaginären Wirklichkeit bezeichnen die Verwurzelung in dem „désir utopique“ (S. 39). 212 Gert Pinkernell, „Marivaux. La Vie de Marianne“, in: Klaus Heitmann (Hrsg.), Der französische Roman, Düsseldorf, August Bagel Verlag 1975, S. 188-209. 113 Aufstieg, sondern um das imaginär geprägte Schema der Selbsterhöhung im Sinne des Freudschen „Familienroman“-Phantasmas geht. Indem der Autor ein Happy End vermeidet, macht er aber die Offenheit des Emanzipationsprozesses deutlich, der, ob gelungen oder missglückt, von der Heldin selbst abhängt. Gerade gegenüber einer typenhaft gezeichneten männlichen Welt, macht die sensible Heldin den Wert von Selbsterkenntnis, Beobachtung und Reflexion geltend. Mit Einschränkungen erschafft sich die Heldin selbst und stellt wohl das erste Beispiel weiblicher Emanzipation in der Literatur der Aufklärung dar. Dazu verhilft die „noblesse de cœur“ (S. 154), der Seelenadel, der die bürgerliche Nobilitierung des sich selbst schaffenden Ich trägt. Tugend (vertu) im engeren Sinn ist dann nur noch Ausfluss der sich selbst verantwortlichen „belle âme“ (S. 154) und nicht gleichzusetzen mit moralischer Festschreibung. Im Gegenteil: Das Romanschema dient eben nicht wie in der eingeschobenen Erzählung und im Roman der verfolgten Unschuld bis hin zum Marquis de Sade bloß dazu, tugendhaften Widerstand gegen Schicksal und Versuchungen zu dokumentieren. Marianne ist die „Schwester“ Jacobs, indem sie aktiv handelt, ihre Qualitäten bewusst ausspielt und ständig mit überlegenem Gespür Kalkül, Spiel, Rolle, Strategie/ vanité und sincérité/ Spontaneität miteinander verbindet. Sie ist noch nicht auf die larmoyante Opferrolle festgelegt. Im typisch Marivaux’schen Sinn haben wir es mit einem ideologischen Schwebezustand zu tun, der dem späteren bürgerlichen Roman nicht mehr möglich sein wird. Bei gleichzeitiger Anerkennung der gesellschaftlichen Spielregeln der Ständegesellschaft indiziert das Aufstiegsmotiv die inzwischen erreichte Offenheit der Gesellschaft. Doch der Versuch der Eingliederung geht Hand in Hand mit der ständigen Distanz des freien Betrachters. Marivaux verzichtet auf Tugendemphase und legt dafür das Gewicht auf Selbsterkenntnis. „Nous avons tous besoin les uns des autres; nous naissons dans cette dépendance, et nous ne changerons rien à cela.“ (S. 221) Es geht nicht um Werte an sich, sondern immer um den Bezug auf den anderen. Verhalten entfaltet sich in einem selbstverständlich kommunikativen Raum: Das Ich legt Wert auf Selbstbestätigung und will bestimmte Wirkungen erzielen, wie Stackelberg in seinen Überlegungen zu Rokokoroman, Empfindsamkeit, Rationalität gezeigt hat. „Mais dans mon triste sort, j’ai une consolation; ni vous ni personne ne peut me la ravir; c’est que mes sentiments me mettront toujours au-dessus de mon triste état, au-dessus de ceux qui s’enorgueillissent de leur fortune...“ (S. 125) Aufstiegs- und Wiederfindungsschemata treten demgegenüber in den Hintergrund. Cœur/ esprit gehören noch selbstverständlich zusammen, sind noch nicht wie bei Sade oder Laclos auf konträre Bereiche verteilt. 114 Thema ist - mit Brooks -: „the dramatization of individual self“ „within a strongly-felt social context“. 213 Ich-Bewusstsein und -bewusstheit bleiben (im Gegensatz zum 19.und 20. Jahrhundert) noch situations- und rollenbedingt. Es geht nicht um Charakter im bürgerlichen Wortsinn, sondern um Persönlichkeit ausgehend von den „mouvements d’un jeune petit cœur fier, vertueux et insulté“ (S. 123). Damit tritt aber auch erstmals die Zeit (durée) als Faktor des Reifens und Werdens in den Roman ein: keine flächige Nullwertigkeit wie in den Memoirenromanen, auch nicht der bloße Hintergrund für das Auf und Ab des Schicksals, wie bei Lesage; sondern als Inbegriff von Lebenserfahrung und der Veränderbarkeit aller Personen. Nach der Untreue Valvilles bemerkt die Heldin charakteristischerweise: Mais le goût lui en reviendra; c’est pour se reposer qu’il s’écarte; il reprend haleine, il court après une nouveauté [...]: il en reverra, pour ainsi dire, sous une figure qu’il ne connaît pas encore; ma douleur et les dispositions d’esprit où il me trouvera me changeront, me donneront d’autres grâces. Ce ne sera plus la même Marianne. (S. 377) D. h., Marianne verkörpert eine neue Form von Lebensmut ohne tragische Stilisierung, aber auch ohne pikareske Komik. Wenn also die These Stackelbergs stimmt, wonach dieser Roman eine bewusste Replik auf die Princesse de Clèves sei, dann nur in diesem Sinn als Überwindung der aristokratischen Tradition der nouvelle tragique (und zugleich der Pikareske) in der Entdeckung eines neuen bürgerlichen Realismus. Zusammen bilden die beiden Marivaux’schen Romane gewissermaßen ein Strukturrepertoire, aus dem der bürgerliche Aufsteigerroman des 18. Jahrhunderts schöpfen kann. Jacob und Marianne konnten als je geschlechtsspezifische Varianten des nämlichen Themas der Selbstbehauptung und bürgerlichen sensibilité begriffen werden. In beiden Fällen impliziert das Entwicklungsmotiv den Verlust der Unschuld, aber nicht den Verlust einer grundsätzlichen vertu, die mit wachsender Bewusstheit gepaart ist. Das pikareske Schema der Witzigung ist durch das der Lebenserfahrung ersetzt. Und in dem Maße schließlich, wie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte das rousseauistische Paradigma Land-Stadt/ Unschuld-Verdorbenheit durchsetzte, war besonders der letztere Aspekt in beiden Fällen, sowohl in bezug auf den männlichen Helden als auch in bezug auf die weibliche Heldin ange- 213 Peter Brooks, The Novel of Wordliness, S. 139. 115 zeigt. Wie neu und zeitgemäß die beiden Romane waren, zeigt eine lange Liste der Titel, die an dieses Vorbild, vor allem an den Paysan parvenu, anknüpfen. 214 2. Weibliches Schreiben als Selbstbefreiung (Madame de Grafigny, Madame Riccoboni) Die Entdeckung des Gefühls impliziert auch das Recht auf Gefühl, und insofern dem Gefühl eine einzigartige, identitätbegründende Funktion zukommt und es das Bewusstsein individueller Autonomie schafft, gewinnt es gerade für das weibliche Schreiben eine Schlüsselfunktion. Freilich bezeichnet die weibliche sensibilité zumeist die defizitäre Seite weiblicher Emanzipation. Die Frau als Opfer des Mannes, der Gesellschaft und väterlicher Tyrannei, auch als Opfer der Geschichte, wird unter dem Generalnenner der verfolgten Unschuld zu einem Leitthema des Jahrhunderts. 215 Weibliches Glücksverlangen bleibt gegenüber den gesellschaftlich-geschichtlichen Kräften letztlich ohnmächtig. Henri Coulet spricht von einem „roman historique et galant“, der offensichtlich eng mit einer spezifisch weiblichen Perspektive verbunden ist und gewissermaßen als Prototypus des Frauenromans erscheint, der über den historischen Roman einer Madame de Tencin zum psychologisch-realistischen Roman einer Madame Riccoboni weiterentwickelt wird. Les Malheurs de l’amour, der Titel eines 1747 veröffentlichten Werkes von Mme de Tencin wäre wohl am ehesten geeignet, den Grundton einer 214 Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670-1770), Tübingen, Niemeyer 1994 (Mimesis, 17), S. 334 ff. Ch. de Fieux, Chevalier de Mouhy, La Paysanne parvenue, ou Les mémoires de Mme la Marquise de C. V., Paris 1735; de Catalde, Le Paysan Gentilhomme ou Avantures de M. Ransay avec son voyage aux Isles jumelles, Paris 1737; P. A. Gaillard de la Bataille, Jeanette seconde, ou La nouvelle paysanne parvenue, Amsterdam, 1744; Abbé de Lambert, Nouvelle Marianne, 1740; Digard de Kuerguette, Mémoires et avantures d’un bourgeois qui s’est avancé dans le monde, La Haye 1750; E. de Mauvillon, Le soldat parvenu ou Mémoires et avantures de Mr. de Verval, dit Belle-rose, Dresden 1735; Maubert de Gouvest, L’illustre paysan ou Mémoires de Daniel Moginié, Lausanne 1754; M.-A. de Roumier (Mme. Robert), La paysanne philosophe ou les Avantures de Mme. la comtesse de xxx , Amsterdam 1762; G. Ch. Thiroux d’Arconville, Zaïde, ou la Comédienne parvenue, A. Mimicopole 1763; P.J. B. Nougaret, La Paysanne pervertie, ou Mœurs des grandes villes, mémoires de Jeanette R xxx , Paris 1774; Restif de la Bretonne, Le Paysan perverti, 1775; R. M. Lesuire, Le philosophe parvenu, Paris 1778; anonym, L’Aveugle parvenu, histoire véritable, Amsterdam 1779; Restif de la Bretonne, La paysanne pervertie, Paris 1784. Dazu kommen die Theaterstücke: Colot d’Herbois, Le Paysan Magistrat, Paris 1789, Fonpré de Fracansalle, Jacquot parvenu, Paris 1783. 215 Vgl. Pierre Fauchery, La Destinée féminine dans le roman européen du dix-huitième siècle, 1719-1807. Essai de gynécomythie romanesque, Paris, Colin 1972. 116 Gattung zu bezeichnen, in der die Geschichte zum Dekor entfunktionalisiert erscheint, aber noch als solche die Ohnmacht und Funktionslosigkeit der durch ihre Innerlichkeit wehrlosen Personen bezeichnet. Angesichts der schicksalhaften Liebe - und „l’amour quand il est extrême, n’admet point de préférence“, wie es im Siège de Calais (1739) heißt - bleibt die negative Bestimmung der auserwählten Helden vorgezeichnet, und alle „äußere Handlung ist nurmehr Arabeske um den Kern der Liebeserfahrung. Liebeserfahrung ist Selbsterfahrung und Erfahrung der eigenen sensibilité. Der neue Typus des roman sentimental wird vor allem getragen von Autorinnen im Umkreis Marivaux’. Der Salon der Madame de Tencin 216 ist ja selbst in den 30er Jahren ein Treffpunkt der neuen Schriftstellergeneration. Ihre historischen Romane - Mémoires du comte de Comminge (1735), Le Siège de Calais (1739) und Les Malheurs de l’Amour (1747) leiten zur bürgerlichen Empfindsamkeit über, zeigen aber die jeweilige Heldin als Opfer von Geschichte und Gesellschaft. Man möchte von einer Verbindung Marivaux’scher sensibilité mit dem Prévostschen Schicksalsbegriff sprechen, und mit Prévost verbindet die Autorin auch die Rhetorik des Unsagbaren und das Pathos der Verzweiflung. In Fortführung von Madame de Lafayette stellt sie - noch ganz im höfischen Rahmen - hochgesinnte und verzichtbereite Frauengestalten in ein vage historisches Geschehen, das die délicatesse der Seelenregungen nicht zur Erfüllung gelangen lässt. Die Heldinnen entwickeln aus der Versagung beinahe einen Ersatzgenuss des Leidens, der als Ausweis der Sensibilität und inneren Größe fungiert. Bemerkenswert ist die Tendenz zum vorromantischen genre sombre und die Vorliebe für düstere geheimnisvolle Szenen: Wald, Kloster, Kerker, Gruft u. ä. Auch dies verbindet Madame de Tencin ja mit dem Abbé Prévost und weist die Schauerromantik als Spiegelung einer pessimistischen Weltsicht aus, die darüber hinaus starke Züge der Verdrängung aufweist. So gesehen ist das Motiv der verfolgten Unschuld auch eine Resultante von Lebens- und Beschmutzungsangst und Ausdruck einer asketischen Rückzugsphantasie, die den düsteren Hintergrund der scheinbar sinnenfrohen Rokoko-Welt andeutet. Zwischen Geschichtlichkeit und Innerlichkeit ist auch der sentimentale Briefroman von Mme de Grafigny, Lettres d’une Péruvienne (1747) 217 angesiedelt, ein ‚Bestseller‘ des 18. Jahrhunderts, der das Verfahren der fremden Perspektive auf das Eigene in den Lettres persanes Montesquieus in die weib- 216 Vgl. P. M. Masson, Une vie de femme au XVIII e siècle: Madame de Tencin, Paris, Réimpr. de l’Edition de Paris 1909. 217 Zitate nach Lettres portugaises, Lettres d’une Péruvienne et autres romans d’amour par lettres, éd. par Bernard Bray et Isabelle Landy-Houillon, Paris, Garnier-Flammarion 1983. Kritische Ausgabe von Gianni Nicoletti, Lettres d’une Péruvienne, Bari, Adriatica Editrice 1967. Vgl. Rotraud von Kulessa, Françoise de Grafigny: „Lettres d’une Péruvienne“. Interpretation, Genese und Rezeption eines Briefromans aus dem 18. Jahrhundert, Stuttgart, Metzler 1997. 117 liche einstimmige Perspektive der verlassenen Frau verengt. Es geht um einen Bildungs- und Erkenntnisprozess der Inkanachkommin Zilia, die von einem Franzosen, dem Chevalier Déterville, aus einem Massaker in Peru gerettet wurde und dabei auch den geliebten Aza verloren hat. Doch interessiert weniger der sittenkritisch moralistische Aspekt, den der Roman mit anderen Werken gemeinsam hat, als die Funktion des Briefromans als Katalysator der Selbstfindung der jungen, nach Paris verschlagenen Heldin, die sieh nicht nur im Stil der verlassenen Nonne der Lettres portugaises (1668) von Guilleragues ihre innere Not und unerfüllte Liebe von der Seele schreibt, sondern in diesem Prozess zugleich innerlich reift und nach der Wiederbegegnung mit Aza ihren Irrtum begreift und das Werben Détervilles erhört. Wie weit die Autorin, Françoise de Grafigny (1695-1758), die nach dem Tod ihrer Gönnerin, der Herzogin von Richelieu und Freundin Voltaires, nach 1840 in die zeitgenössischen Literatenkreise hineinwuchs und sich auch als Dramenautorin einen Namen machte, mit dieser virtuellen Liebesgeschichte auch auf die Erfahrung ihrer eigenen missglückten und geschiedenen Ehe reagierte, bleibt dahingestellt. Entscheidend ist, dass die „primitive oubliée de l’école des ‚cœurs sensibles‘ 218 diesen seelischen Lernprozess als Prozess einer weiblichen Selbsterziehung gestaltet. Ähnlich wie Marivaux’ Marianne, die ihre Eltern und das Wissen um ihre gesellschaftliche Identität verloren hat, ist Zilia brutal von allen bisherigen Bindungen befreit und muss sich in einer völlig fremden neuen Welt eine eigene autonome Persönlichkeit erschaffen. Mit dem Erlernen der französischen Sprache und der westlichen Schriftkultur - eine Schlüsselstelle bildet der XVII. Brief, in dem der Heldin die Seidenschnüre für die bisher praktizierte Knotenschrift ausgehen - deutet Mme de Grafigny mit dem Herauswachsen Zilias in die Schriftkultur symbolisch auch die literarische Emanzipation der Frau allgemein an. 219 Die „connaissances“, welche die Heldin „à une sorte d’écriture que l’on appelle livres“ (Brief XX, S. 305) verdankt, bezeichnen ohne Zweifel zuglich eine Mündigkeitserklärung der Frau im exotistischen Gewand. Nicht zufällig schreibt Zilia einen abfälligen Brief über die zeitgenössische Mädchenerziehung im Kloster - „l’on confie le soin d’éclairer leur esprit à des personnes auxquelles on ferait peut-être un crime d’en avoir, et qui sont incapables de leur former le cœur, qu’ils ne connaissent pas.“ (Brief XXXIV, S. 341f.) - und wundert sich über den „mépris que l’on a presque généralement ici pour les femmes“ (S. 341). Es geht um nicht weniger als eine gleichgewichtige Formung von cœur und esprit. Unmerklich ändert sich damit auch die Rolle der Briefeschreiberin, die nicht mehr nur die klagende und verwirrte Liebende 218 So Georges Noël, Une „primitive“ oubliée de l’école des „cœurs sensibles“, Madame de Grafigny (1695-1758), Paris, Plon 1913. 219 Vgl. Nancy K. Miller, „The Knot, the Letter, and the Book: Graffigny’s Peruvian Letters“, in: dies., Subjekt to Change, New York, Columbia University Press 1988, S. 125-161. 118 ist, sondern mehr und mehr ihre Umgebung analysiert und den fernen, vielleicht gar nicht mehr lebenden Geliebten über die Verhältnisse unterrichtet. Die liebende Heldin wird zur kühlen Berichterstatterin und Aufklärerin und zeigt so im Übrigen, dass ‚Aufklärung‘ auch eine Funktion der sensibilité ist. So kann sie beispielsweise die Ersatzfunktion der Höflichkeit für das fehlende Gefühl im französischen Gesellschaftssystem beklagen („ce qu’ils appellent politesse leur tient lieu de sentiment“, Brief XXIX, S. 331), andererseits aber ein verbreitetes Bedürfnis nach Gefühl feststellen: „Naturellement sensibles, touchés de la vertu, je n’en ai point vu qui écoutât de faire de la droiture de nos cœurs, de la candeur de nos sentiments, et de la simplicité de nos mœurs [...].“ (Brief XXXII, S. 338) Das Motiv des Edlen Wilden fungiert als Hebel einer aufgeklärten sensibilité, 220 deren Lehre die Heldin in die bündige Formel bringt: „Heureuse la nation qui n’a que la nature pour guide, la vérité pour principe, et la vertu pour mobile.“ (Brief XXXII, S. 339) Auf vernunftgeleitete sensibilité gegründet ist daher auch der Schluss des Romans, der das Motiv des Edlen Wilden vorsichtig relativiert und die exaltierte Leidenschaftlichkeit der Jugend in jene zärtliche Freundschaft überführt, die schon für die Preziositätskultur im Zentrum stand. Die Wiederbegegnung mit dem fernen Geliebten, den der Chevalier Déterville großzügig ausfindig gemacht hatte und mit Zilia zusammenführte, hat mittlerweile einen gegenteiligen Emanzipationsprozess durchgemacht, dessen Stichwort die Gefühlskälte ist: „Cet Aza, l’objet de tant d’amour“, schreibt Zilia in bezeichnendem Wechsel des Adressaten an den Retter und „libérateur“, „n’est plus le même Aza que je vous ai peint avec des couleurs si tendres. Le froid de son abord, l’éloge des Espagnols, dont cent fois il a interrompu les doux épanchements de mon âme, l’indifférence offensante avec laquelle il se propose de ne faire en France qu’un séjour de peu de durée, la curiosité qui l’entraîne loin de moi à ce moment même: tout me fait craindre des maux dont mon cœur frémit.“ (Brief XXXVII, S. 355) Die Erfahrung des „amour méprisé“ gipfelt in dem Wissen um die Untreue des Geliebten („Aza infidèle! “) (Brief XXXVIII; S. 356) und öffnet der Heldin endlich die Augen für die Liebe ihres Beschützers, der sich zudem noch durch das Geschenk eines überaus edlen und geschmackvollen Hauses mit Garten hervorgetan hatte. In der Stille reift auch die weise Entsagung, in der Coulet 221 einen Vorgriff auf die Julie der Nouvelle Héloïse gesehen hat, die aber hier aller tra- 220 Vgl. hierzu Jürgen von Stackelberg, „Die Kritik an der Zivilisationsgesellschaft aus der Sicht einer ‚guten Wilden‘: Mme de Grafigny und ihre Lettres d’une Péruvienne“, in: Renate Baader/ Dietmar Fricke (Hrsg.), Die französische Autorin, vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Wiesbaden, Athenäum 1979, S. 131-145, sowie Ludwig Schrader, „Die ‚bonne sauvage‘ als Französin. Probleme des Exotismus in den Lettres d’une Péruvienne von Madame de Graffigny“, in: Französische Literatur im Zeitalter der Aufklärung. Gedächtnisschrift für Fritz Schalk, Frankfurt/ M., Klostermann 1983, S. 313-335. 221 Henri Coulet, Le Roman jusqu’à la Révolution, Paris, Colin 1967, S. 383. 119 gischen Elemente entkleidet ist. Eher möchte man mit Marivaux von einem voir clair en moi-même sprechen. Ohne den untreuen Geliebten vergessen zu wollen, bietet Zilia dem „trop généreux ami“ (Brief XL, S. 359) ihre treue Zuneigung an: „Je vous le promets; j’y serai fidèle: vous jouirez au même degré de ma confiance et de ma sincérité; l’une et l’autre seront sans bornes. Tout ce que l’amour a développé dans mon cœur de sentiments vifs et délicats tournera au profit de l’amitié.“ (Brief XLI, S. 361) Wahre sensibilité liegt jenseits der Leidenschaft und nimmt tatsächlich ein existentielles Glücksgefühl vorweg, das an die Rêveries d’un promeneur solitaire des alternden Rousseau erinnert: „ce bonheur si pur, je suis, j’existe, pourrait seul rendre heureux“ (S. 362). Das ist in gewisser Weise das Cogito weiblicher Empfindsamkeit, mit dem sich die Heldin auf Augenhöhe mit der männlichen Philosophenkultur begibt. Die Rollen haben sich verkehrt. Nicht der Mann und Beschützer wirbt um die geliebte Frau, wie noch im XXII. Brief beschrieben; die Frau lädt vielmehr den ehemaligen Wohltäter dazu ein, mit ihr das neue Glück der sensibilité zu teilen. Aus dem verfolgten Indianermädchen ist eine weibliche Philosophin geworden: Venez, Deterville, venez apprendre de moi à économiser les ressources de notre âme, et les bienfaits de la nature. Renoncez aux sentiments tumultueux, destructeurs imperceptibles de notre être; venez apprendre à connaître les plaisirs innocents et durables, venez en jouir avec moi, vous trouverez dans mon cœur, dans mon amitié, dans mes sentiments tout ce qui peut vous dédommager de l’amour. (Brief XLI, S. 362) Die abschließenden Sätze des Romans sind das Fazit und Credo einer neuen (weiblichen) Gefühlskultur, deren Wegmarken von der Frau vorgegeben werden. Kein Wunder, dass Madame de Grafigny nur diesen einen, aber wegweisenden Roman verfasst hat. Namhafte Vertreterin und zugleich kritische Beobachterin der sensibilité- Mode ist auch Mme Riccoboni, die Coulet der „école de Marivaux“ 222 zurechnet, obwohl ein Großteil des Werkes in der Blütezeit des Briefromans nach Rousseaus La Nouvelle Héloïse 223 und unter dem Einfluss des englischen Autors Samuel Richardson (1689-1761) entstanden ist, den Diderot in seinem Eloge de Richelieu als den großen Erneuerern des Romans im Zeichen von Gefühl und Tugend apostrophierte. Mit Marie-Jeanne Laboras de Mézières, Madame Riccoboni (1714-1792), die 1734 den Sohn des berühmten Leiters des Théâtre Italien heiratete und lange Jahre als Schauspielerin auch Marivaux-Stücke interpretierte, ist der Schritt vom adligen Frauenroman zum bürgerlich moralisierenden Genre ohne geschichtlichen Hintergrund 222 H. Coulet, Le Roman jusqu’à la Révolution, S. 385. 223 Vgl. Laurent Versini, Le Roman épistolaire, Paris, Presses Universitaires de France 1979, S. 148. 120 verbunden. Wie Mme de Tencin vertritt Mme de Riccoboni eiine spezifisch weibliche Perspektive, 224 dämpft aber deutlich das Unglückspathos und begreift die sensibilité nicht nur als Quelle des Unglücklich-seins, sondern auch als Möglichkeit gereifter Selbsterfahrung. 225 Da die Hauptfiguren ihrer Romane junge Mädchen sind, die wie Marianne die Welt erst kennenlernen müssen, kann man von einer natürlichen Funktion der Empfindsamkeit sprechen, die - die letzten Auflagen der danach vergessenen Autorin 226 reichen bis in die dreißiger Jahre der Romantik - noch auf die Schriftstellerinnen der Romantik, Mme de Staël und George Sand, eingewirkt hat. Dennoch ist das zentrale Motivschema der verfolgten Unschuld sichtbar: Gewöhnlich verteidigt sich die sensible und unschuldige Frau gegen die sinnlichen und untreuen Männer, wobei die Konstellation zugleich Anlass zu moralisierenden Sentenzen gibt. In dem „conte de fées“ L’Abeille (1760) verweist die Autorin, deren eigene Kindheit und Jugend von dem Bigamieprozess gegen den Vater und die nachfolgende Scheidung der Eltern überschattet war, den Wunschtraum ewiger Liebe und Treue in das Reich des Märchens und schiebt die Schuld der angeblich weiblichen Fehler dem männlichen Egoismus zu: „Si vous étiez sensés, les femmes seraient raisonnables: la façon dont elles vivent n’est pas un défaut de leur naturel, mais la suite inévitable de votre conduite avec elles, vos erreurs les égarent naturellement.“ 227 Die Ermahnung an die Adresse der Männer: „devenez honnêtes, sensibles; chérissez la décence, appréciez la certu [...].“ 228 Die Autorin, die ihre Karriere mit der Suite de Marianne (1751 verfasst, aber erst 1760 anonym publiziert) einleitet, wendet sich gegen „les moralistes qui s’établissent scontateurs & juges de l’ame“, also einen äußerlichen moralistischen Diskurs, um stattdessen das Verhältnis der Geschlechter von innen heraus verständlich zu machen („pénétrer les secrets de l’humanité“). 229 In ihrem Bemühen um psychologische Genauigkeit und Wahrheit und ihrem Verzicht auf eine spektakuläre Handlung sind die Romane der Autorin ausnahmslos Beispielerzählungen über Ich- und Fremderkenntnis, sensibilité und sincéri- 224 Hierzu Andrée Demay, Marie-Jeanne Riccoboni, ou la pensée féministe chez une romancière du XVIII e siècle, Paris, La Pensée universelle 1977, sowie Arlette André, „Le féminisme chez Mme Riccoboni“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 193 (1980), S. 1988-1995; Colette Pian, „L’écriture féminine. A propos de Marie-Jeanne Riccoboni“, in: Dix-huitième siècle 16 (1984), S. 369-385. 225 Joan Hinde Stewart, The Novels of Madame Riccoboni, Chapel Hill, North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures 1976. 226 Vgl. Emily Crosby, Une Romancière oubliée, Madame Riccoboni, Paris, Rieder 1924. 227 Collection complète des œuvres de Madame Riccoboni, Neuchâtel, Société Typographique 1780, Bd. VII, S. 493. 228 Ebd., S. 494. 229 Lettres de Milady Juliette Catesby à Milady Henriette Campley, son amie, in: Collection complète, Bd. II, Brief XV, S. 95. 121 té, die Gefahr des Selbstbetrugs und „le voile de l’illusion“ 230 in einem engen, fast experimentellen Raum, der wie bei Marivaux das Spiel der Geschlechter durchschaubar machen soll und dabei stets die weibliche Perspektive in den Vordergrund schiebt. Daher ist die vielleicht gelungenste Umsetzung dieser Ästhetik der Wahrhaftigkeit in dem Erstling der Autorin zu sehen: Die einstimmigen Lettres de Mistriss Fanny Butlerd (1757) zeichnen das Bild einer verliebten jungen Frau bis zur großen Enttäuschung, da sich der hochherzige adlige Geliebte als berechnender Verführer entpuppt. Joan Hinde Stewart spricht von einem „moment capital dans l’évolution du roman“ 231 zwischen der Rezeption der französischen Übersetzungen Richardsons in den 40er und 50er Jahren (Pamela, 1742, Clarissa Harlowe, 1751, Sir Charles Grandison, 1754) und Rousseau, dessen Anspielung auf das Heloisen-Thema Mme Riccoboni in Brief LXVII bereits vorwegnimmt. 232 Bemerkenswert ist nicht nur die Kunstfertigkeit, mit der die Entwicklung dieser Beziehung in ihren alltäglichen Peripetien von „Milord“ zu „mon cher Alfred“ und wieder zu „Milord“ deutlich wird, wie z. B. die innere Verzauberung der jungen Frau vor der Liebesbegegnung in räumliche Koordinaten umgesetzt wird („Ici tout est vif, tout est riant, tout a reçu l’empreinte chérie: ce cabinet est mon univers.“ Brief XXI,S. 28) oder die Heldin sich nach Augenblicken der Eifersucht wieder fasst („Pan, la lettre chiffonnée, déchirée, la plume à terre, la table repoussée. Je me couche, tout l’enfer est dans mon lit.“ Brief XXXIV, S. 47); wie sich die Liebende wie in einem Feenmärchen dem Geliebten unterwirft („Tantôt fée, tantôt sylphide, toujours ta maîtresse, je forme un nouvel univers; je le soumets à tes loix [...].“ Brief LXVII, S. 100) oder sich in der illusionären Welt eines Amadis oder eines Céladon (S. 112) wähnt und scherzhaft von „mon ton pastoral, ma fade bergerie“ (Brief LXXV, S. 116) spricht; wie Überschwang und Selbstironie im Stil des badinage einer Madame de Sévigné (vgl. Brief XLVI) miteinander verquickt sind und sich die Heldin fragen muss: „je suis trop sensible? “ (Brief XCVII, S. 156). In dieser betont kleinen und zeitlich eng umschriebenen Welt, in der die Tageszeiten und Wochentage für familiäre Nähe sorgen, folgt der Briefstil den geringsten Nuancen: „mais mon style est toujours assujetti aux impressions que mon âme reçoit. Je ne saurois prendre un ton que je serois forcée d’étudier [...].“ (Brief LXV, S. 95) Doch eben in dieser stimmungsabhängigen Unmittelbarkeit, die sich grundlegend von der distanziert reflektierten Memoirenperspektive etwa einer Marianne (Marivaux) unterscheidet, und in der Enge einer Welt, in die 230 Lettres de Mistriss Fanni Butlerd, éd. par Joanne Hinde Stewart, Genève, Droz 1979 (Textes littéraires français), Brief CVIII, S. 170. 231 „Introduction“ der genannten Ausgabe, S. XXV. 232 Hierzu David Anderson, „Abélard and Héloïse: Eighteenth Century Motif“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 84 (1971), S. 7-51. 122 keine elterliche Autorität hineinreicht und die erst am Ende durch gesellschaftliche Kräfte zerstört wird, liegt das Besondere dieses Briefromans, in dem nur die eine Stimme der Heldin bestimmend ist. Sie gibt mit dem Stichwort sensibilité den Wertmaßstab vor; sie rechtfertigt sich gegen den - amourösen - Vorwurf der „cruelle insensibilité“ ( Brief XXXIII, S. 45) und bezieht schließlich aus der Erkenntnis, der Geliebte sei „plus ambitieux que sensible“ (Brief CXVI, S. 189), das Argument für den Abbruch der Beziehungen („Vous n’êtes plus celui que j’aimois“, S. 189). Sind die Ehepläne des Lord Alfred in gewisser Weise auch als Sieg der Väter und der ständischen Tradition zu interpretieren, so ist der lange Abschiedsbrief der Heldin, die von der „idée fantastique qui faisait mon bonheur“ (S. 191) abrückt, doch zugleich ein Sieg der verzeihenden weiblichen Stimme über diese Zwänge von „la naissance & la fortune“ (Brief CXIII, S. 175). Eben diese weibliche Stimme tritt in dem programmatischen späten Briefroman Lettres de Mylord Rivers à Sir Charles Cardigan (1776) 233 in einer Weise in den Hintergrund, die eine gewisse Orientierungslosigkeit der männlichen Hauptperson nur umso deutlicher macht. Denn der hochgesinnte Lord Rivers, der seine Umgebung glücklich machen wollte und das Ideal des vrai im Auge ins Exil nach Frankreich gegangen ist, stellt auch ein wenig den schmollenden Molièreschen misanthrope dar, der sich nicht nur über die eigenen Gefühle täuscht. In den Briefen, die hautsächlich vom rechten Verhalten und einem richtig verstandenen Gefühlshaushalt handeln und z. B. gegen die Manie einer übertriebenen, falsch verstandenen sensibilité (Brief XIII und Brief XLIV) Stellung beziehen - ähnlich wie Mme de Graffigny spielt Mme Riccoboni hier mit dem Schema der Fremdbeobachtung in den Lettres persanes -, geht es in Wirklichkeit nur um eines, die widerspenstige ‚Stimme‘ der jungen Adeline Rutland, die als Mündel („pupille“) von Lord Rivers in Wahrheit ihren Vormund liebt. Die träge dahinplätschernde ‚Handlung‘ steigert sich in dem Augenblick zur Krise, da Adeline sich weigert, den Protégé von Lord Rivers, Sir Edmond, zu ehelichen und nach einiger Zeit auch die leicht gereizte Korrespondenz mit dem Vormund einstellt. Ironischerweise wird auch diese Verweigerung durch Lady Cardigan (Brief XXXIX, S. 158-160) vermittelt, ähnlich wie die Vorgeschichte von Adeline und Lord Rivers erst am Ende durch Mylady Orrery in einem Brief an Rivers (! ) selbst (Brief XLV) zur Sprache kommt: Adeline und Lord Rivers lieben sich. Die Aufklärung am Schluss taucht das ganze Marivaux’sche Versteckspiel in ein ironisches Licht und stellt dem psychologischen Scharfsinn von Lord Rivers kein gutes Zeugnis aus. Immerhin erhält er noch die Möglichkeit, in einem Selbstporträt (Brief XLII) die „histoire de mon cœur“ (S. 171) zu erzählen. Die eigentliche Siegerin ist mithin das Mündel Adeline, 233 Madame Riccoboni, Lettres de Mylord Rivers à Sir Charles Cardigan, éd. par Olga B. Cragg, Genève, Droz 1992 (Textes littéraires français). 123 das offenbar keinen Mentor mehr braucht. Als weibliche Télémaque-Figur führt Adeline die Emanzipation von ‚väterlicher‘ Führung vor und zeigt, dass auch der Verzicht auf das Wort eine Waffe sein kann. Durch das Motiv der wechselseitige Zuneigung wird das Problem väterlicher Autorität in den Lettres de Mylord Rivers umgangen, auch wenn Protest und Auflehnung in den Reaktionen der jungen Heldin durchaus erkennbar sind. Ja, in gewisser Weise sorgt die Verschiebung des Marivaux’schen voir clair auf den Schluss dafür, dass dieses Motiv bis dahin voll ausgespielt werden kann: „Dissipée, étourdie, sans égards, incapable de distinction, d’attachement; est-ce bien là mon caractère, Mylord? “, schreibt Adeline an den ‚väterlichen‘ Mentor und setzt keck hinzu: „eh mais, je l’aime assez. Si ce portrait me ressemble, j’en rends grâce au ciel, il m’a doué d’un très heureux naturel.“ (Brief XXXI, S. 145) Die ihr zur Last gelegte insensibilité macht sie sich voll zu eigen und reserviert sich damit zugleich einen Grad weiblicher Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen, wie er im Aufklärungsroman durchaus ungewöhnlich ist. Kaum zufällig krönt sie ihre spitze Ausfälligkeit gegen Lord Rivers’ scheinbar ‚philosophische‘Angepasstheit („toujours sensé, toujours poli? “ S. 145) mit einem schmollenden Ausfall, der an die eingangs genannte Feengeschichte L’Abeille erinnert: „Je voudrois posséder une baguette de fée, soumettre tout à mon pouvoir, gouverner l’univers entier. J’en chargerois l’ordre et j’y mettrois la réforme. J’anéantirois l’amour, le mariage, ses suites odieuses.“ (S. 146) Aus dem Opfer der Gesellschaft ist, wenngleich scherzhaft, die Aufklärerin und révoltée geworden. In ihrer beinahe klassischen und handlungsarmen, ganz psychologisch intimen Struktur entsprechen die Lettres de Mylord Rivers nicht der Eigenart des Spätwerks, in dem Coulet eine zunehmend handlungsintensive „part du romanesque de l’action“ 234 bemerkt. Der Tod der tyrannischen Mutter und des schon seit langem getrennt lebenden Gatten mag zu dieser Befreiung beigetragen haben, die sich in der Rückkehr zum historischen Roman - Histoire d’Enguerrand, ou la rencontre dans la forêt des Ardennes (1779), Histoire d’Aloïse de Livarol (1779), Histoire de Christine, reine de Su è de (1780) - äußert. Die Histoire de Miss Jenny, écrite et envoyée par elle à Mylady, Comtesse de Roscomonde, ambassadrice d’Angleterre à la cour de Danemarck 235 von 1764, ein Schicksals- und Memoirenroman in Briefform, ist der peripetienreiche Lebens- und Rechenschaftsbericht einer jungen Frau, die als uneheliche Tochter nicht zuletzt durch die Schuld ihres hartherzigen und ehrsüchtigen Stiefvaters um ihr Lebensglück gebracht wurde und am Ende ähnlich wie Fanny Butlerd aus der abgeschiedenen Position der Entsagenden 234 H. Coulet, Le Roman jusqu’à la Révolution, S. 285. 235 Zitate nach der Ausgabe in der Collection complète des Œuvres de Madame Riccoboni, Bd. IV, Neuchâtel 1780. 124 schreibt. „C’est dans la retraite agréable & paisible de M. Peters que j’ai écrit ce long détail des événements de ma vie, que j’ai formé le projet d’en sacrifier toute la douceur à l’amitié.“ (S. 569) Wie die beiden Freundinnen in der in die Lettres de Mylord Rivers eingeschobenen histoire von Madame de Belosane und Madame de Chazele (S. 102 ff.) - „Toutes deux ont renoncé à l’amour, au mariage [...].“ (S. 128) - zieht die durch ihre uneheliche Geburt stigmatisierte Heldin die pastorale Idylle „de riantes promenades, des livres, des souvenirs tristes, mais chers, mais précieux à mon cœur“ (S. 573) der Gesellschaft vor. In der Gestalt von Lord Alderson, dessen „cruauté“ (S. 9) nicht nur die Tochter, sondern auch schon die Mutter, die den schon versprochenen Geliebten nicht heiraten durfte, „l’infortunée Sara“ (S. 11), unglücklich gemacht hat, zeichnet die Heldin das Porträt eines Vaters, dem - mit „assez d’esprit, peu de sens, encore moins de principe“ (S. 13) - jede Form der Großzügigkeit und sensibilité fremd ist. Dessen späte Einkehr, die zudem an unannehmbare Bedingungen geknüpft ist, kann das Geschehene nicht ungeschehen machen: „Je me sentis émue, bouchée: un père! répétai-je en pleurant. Ah, monsieur, que j’ai désiré un père! Qu’il m’eût été doux de me sentir pressée entre les bras d’un père! d’un tendre père! “ (S. 534) Das ‚Gespenst‘ des Vaters steht wie in einer Ibsen-Tragödie im Hintergrund einer weiblichen Sozialisation, die eben durch das Herausfallen aus dem väterlichen Schutzbereich zu Unabhängigkeit und eigenständigem Bewusstsein führt, aber dieses Trauma in den Lebensentwurf integrieren muss. Dem „père inhumain“ (S. 51) steht im Übrigen Sir Humfroid, „mon unique ami, mon vertueux protecteur“ (S 103) gegenüber, dessen früher Tod die Emanzipation der Halbwaise durch die ‚Irrungen und Wirrungen‘ der Gefühle beschleunigt. Madame Riccoboni schreibt hier die Vie de Marianne - wohl auch unter dem Einfluss der Nouvelle Hélo ϊ se - mit veränderten Rollen neu, radikalisiert die Vorgaben und verzichtet auf das märchenhafte ‚Familienroman‘-Schema, das bei Marivaux das Waisenkindmotiv auffängt. Die Heldin selbst sieht sich als ein aus dem Nest gefallener Vogel; wie der „promeneur solitaire“ Rousseaus begreift sie sich als essentiell entfremdet und allein: Jetée en naissant dans ce vaste univers où je suis sans appui, je porte avec effroi mes timides regards autour de moi: tous les êtres qui m’environnent tiennent à d’autres par quelques liens. Moi seule, isolée dans la nature, je m’y vois comme un jeune oiseau qui, tombé du nid de sa mere, étend en vain ses faibles ailes vers l’asyle où il ne peut rentrer. (S. 193) Dass wir es mit einem neuartigen Syndrom schmerzhafter Vereinsamung und Melancholie zu tun haben, zeigt die parallele Lebensgeschichte von Sir James, der sich später als Heiratsschwindler und Bigamist (wie der Vater der Autorin) erweisen wird (vgl. S. 257), die Heldin aber gleichwohl aufrichtig zu lieben scheint. Auch er ist letztlich ein Opfer des Schicksals, wie es im Stil Prévosts heißt. Dem gleichgültigen Vater Jennys entspricht bei Sir James die 125 gleichgültige Mutter. Der gesellschaftliche Sturz verstärkt nach der Entdeckung des Heiratsbetrugs die Einsamkeit der Heldin: „Issue de deux grandes maisons, je me trouve sans parens, sans amis, isolée & inconnue.“ (S. 261) So scheint das Ausbleiben eines Happy End durch eine standesgemäße Heirat und gesellschaftliche Rehabilitierung am Ende des Romans nur folgerichtig. Als der geliebte Lord Arundel im Duell mit dem ehemaligen Freund und einstigen Ehemann das Leben verliert, wird die Heldin symbolisch von der Vergangenheit eingeholt. Der Schatten der Vaterfigur - eine Botschaft von Lord Alderson wird Jenny nicht zufällig kurz vor dem Tod des Geliebten überbracht - verhindert eine glückliche weibliche Emanzipation. 126 VI. Der Abbé Prévost: Der Schicksalsroman der gescheiterten Emanzipation in der Welt der Väter Die Werke Prévosts, 236 nach Jean Sgard letztlich Variationen einer grundlegenden „misère fondamentale“ 237 , beleuchten die Gleichzeitigkeit von mondäner Rokokokultur und früher Empfindsamkeit. Geselligkeit und Einsamkeit, Innenperspektive und Außenperspektive erweisen sich gerade deshalb als komplementäre Varianten eines Lebensgefühls, weil das noch bei Marivaux bestimmende, optimistische Aufsteigerschema fallengelassen worden ist. An seine Stelle tritt das Leitthema der problematischen Vaterfiguren und der vom Schicksal verfolgten Söhne, die sich auf der Suche nach tranquillité, bonheur und ordre in den Schlingen des désordre und der „labyrinthes de la mémoire“ verfangen, von denen Sgard spricht. Ohnehin greifen die Rollen beider Generationen in den genealogisch erweiterten Romanzyklen immer wieder ineinander über und schaffen den Eindruck einer für beide Seiten qualvollen und misslungenen Emanzipation, der die unglückliche Vaterfigur entgegensteht. Paul Pelckmans, der den Romanen Prévosts gegen Ende der ersten, prä-freudianischen Phase der „poussée œdipienne“ 238 des Romans der Aufklärung, einen prominenten Platz eingeräumt hat, betont dennoch den Vorrang des „père persécuteur“ und „la toute-puissance du père obstacle“. 239 Welche Schlüssel-Rolle die schicksalhafte Vaterfigur hier spielt, hat schon Charles Mauron 240 gezeigt. Der neue Schicksalsroman bedarf der Bühne der Welt, denn erst in deren Weite wird die Unentrinnbarkeit der Vater-Sohn-Beziehungen deutlich. Symbolisch gesehen, steht der Pariser Salonwelt der unbegrenzte äußere Raum der Welt, der eingeschränkten und eingeschnürten Lebenserfahrung des Gesellschaftsromans jetzt die exzessive seelische Erfahrung gegenüber. Paradoxerweise ist Prévost nach Jean Sgard der erste Autor, der sein Werk als „geschlossenes Labyrinth“ 241 entwirft, aber er ist auch der erste, der die Weite des Raumes entdeckt. Dem Leitmotiv des Exils entsprechen - erstmals im französischen Roman - die „espaces immenses“ (Meer, Ebenen, Gebirge ...). 242 Nicht zufällig ist Prévost ja als Verfasser fiktiver und Herausgeber realer Abenteuerreiseberichte hervorgetreten und gehört mit der von ihm be- 236 Jean Sgard, Prévost romancier, Paris, Corti 1968. 237 Jean Sgard, L’abbé Prévost. Labyrinthes de la mémoire, Paris, PUF 1986, S. 12. 238 Paul Pelckmans, Le Sacre du Père, Fictions des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983, S. 46. 239 Ebd., S. 124 f. 240 Charles Mauron, „Manon Lescaut et le mélange des genres“, in: L’Abbé Prévost, Aix-en- Provence, Othrys 1965, S. 113-118. 241 Ebd., S. 21. 242 Ebd., S. 119 ff. 127 gonnenen 20-bändigen Histoire générale des voyages (1746-1791) zu den großen Vertretern der Reiseliteratur. Ortlosigkeit und Mobilität gehören zu den bestimmenden Themen eines Erzählwerkes, dem die Insiderperspektive der Salonkultur zutiefst fremd ist. Gleichwohl partizipieren die Romane an den neuen psychologischen Erfahrungen der Empfindsamkeit, der Ambivalenz von Selbstgenuss/ Selbstaufwertung und Opferpathos, die für das gesamte Jahrhundert weitgehend bestimmend bleiben sollte. Deutlich ist hier auch, wie Sensibilität und die Fähigkeit zu starken Gefühlen im Widerstand gegen gesellschaftliche Kräfte von oben und von unten als zugleich widerständliche, das Individuum auszeichnende und es zur Opferrolle prädestinierende Macht fungiert. Die obsessive Ich-Perspektive der Memoiren steigert sich zur Konfession des immer auch autobiographisch präsenten „narzisstischen“ Ich, 243 das selbst da, wo es über äußere Zwänge triumphiert, an sich selbst scheitert. Das être sensible wird zum Ausweis innerer Fatalität, und die Stärke des Gefühls ist paradoxer Ausweis der Schwäche. Der empfindsame Held wird vom Schicksal bestraft bzw. er bestraft sich symbolisch gesprochen selbst, als ob die Übertretung der Norm durch das Gefühl latente Schuldgefühle weckte. Tugendemphase und Entsagungsmotiv haben hier ihren Ursprung. Entscheidend aber ist, dass die Helden Prévosts ihrem Schicksal und ihren Problemen hilflos gegenüberstehen: Die neu gewonnene Fähigkeit des aufgeklärten Protagonisten zur Selbstanalyse und Introspektion wird zum tautologischen ‚Grübelzwang‘, der im Freudschen Sinn eine nicht gelöste unbewusste Hemmung indiziert. Die „relative marginalité des motifs ‚freudiens‘“, die Pelckmans 244 konstatiert, scheint eben darin begründet zu sein, dass Prévosts Helden über die Stufe des Grübelns nicht hinausgelangen und die Konflikte nur selten manifest werden. Mehr oder weniger deutlich zeigen die Romane Prévosts aber auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die sich vielleicht am besten als Ohnmachtserfahrung der Helden umschreiben ließe. Die Privatisierung der stets gegenwärtigen großen Geschichte wäre so weniger als Ausdruck eines falschen Bewusstseins zu bewerten denn als richtiger Hinweis auf eine gerade auch für die Oberschichten blockierte Geschichte, die andererseits nicht verhindert, dass die einstige Geborgenheit der Ständegesellschaft immer weniger der Wirklichkeit entspricht und die Väter zu hilflosen Zeugen der Irrwege der Generation der Söhne werden. Zerbrechen und Infragestellen der Ordnung und Restauration prägen nebeneinander das Jahrhundert der Aufklärung, das weder für den alten Amtsadel und das Magistratsbürgertum noch für den Schwertadel nennenswerte geschichtliche Aufgaben bereithält: 243 Jean Rousset, Narcisse romancier, Paris, Corti 1973, S. 127-138. 244 P. Pelckmans, a. a. O., S. 196. 128 „an age of crisis“, wie es Lester Crocker 245 umschrieben hat. Die infortunes domestiques umschreiben die radikale Privatisierung der Schicksale, selbst da, wo noch ein historischer Hintergrund angedeutet wird; das Herausfallen aus der ‚hohen‘ Geschichte und der Abstieg der adligen Helden in ein bürgerliches Trauerspiel bilden das eigentliche Thema aller Romane. Denn Fortuna stellt eine egalisierende, für Groß und Klein, Vater und Sohn geltende Macht dar, durch die die öffentliche Geschichte und private Schicksalstragik miteinander verschmelzen. Von daher wohl auch der betont private Charakter eines Schreibens, das sich keiner öffentlichen Funktion mehr verpflichtet fühlt: „Je n’écris mes malheurs que pour ma propre satisfaction“, heißt es im zweiten Satz der Mémoires d’un homme de qualité, qui s’est retiré du monde. 246 Die Gelehrten- und Philosophenkultur der Aufklärung konstituiert sich so als gesellschaftliche Gegenkultur, der keine politische oder nur geringe und indirekte Einflussmöglichkeit entspricht. Gesellschaftliche Ohnmachtserfahrung und fehlende Geschichte - das einzige wichtige und im übrigen für Frankreich ungünstig verlaufende Ereignis ist ja der Siebenjährige Krieg 1756-63 - dürften als globale Ursache für die Erklärung der Melancholiepose heranzuziehen sein. Letztere ist nicht auf Frühromantik und Sturm und Drang beschränkt und auch nicht, wie häufig behauptet, rein bürgerlichen Ursprungs. Ihre Anfänge lassen sich bis in die Adelsgesellschaft Ende des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. Der Rückzug auf das Gefühl steht in direkter Beziehung zum Verlust des Außenbezugs. Besonders deutlich wird dies da, wo eine zusätzliche soziale Problematik ins Spiel kommt. Dem negativen Helden bei Crébillon entspricht seitenverkehrt die desillusionierende Erfahrung der Helden Prévosts; in beiden Fällen entfaltet das Leitmotiv der égarements seine je verschiedene, im Grunde aber analoge Bedeutung. Dem zurückgenommenen Ich Meilcours und anderer Crébillonscher Protagonisten entspricht die negative Ich-Erfahrung bei Prévost. Verlust der Tradition und traditionaler Ordnungsvorstellungen und Entwurzelung in einer providentiell nicht mehr gehaltenen Welt verweisen ebenfalls aufeinander. Dem fehlenden Vater bei Crébillon entspricht bei Prévost der schuldige Vater, der seinen Sohn enterbt, verleugnet und in seinem Glücksverlangen einschränkt. Nicht nur das Werk, auch das Leben des Autors steht, wie Erich Köhler 247 anmerkt, im Zeichen des désordre und spiegelt damit unmittelbar die Voraussetzung für den obsessionellen Charakter des Abenteuerromans im 18. 245 Lester G. Crocker, An Age of Crisis. Man and World in Eighteenth-Century French Thought, Baltimore, John Hopkins Press 1959. 246 Abbé Prévost, Mémoires et avantures d’un homme de qualité qui s’est retiré du monde, éd. par Mysie E. J. Robertson, 5 Bde., Paris, Champion 1934 2 (Bibliothèque de la Revue de littérature comparée), Bd.I. 247 Erich Köhler, „Der Abbé Prévost und seine Manon Lescaut“, in: ders., Esprit und arkadische Freiheit, Frankfurt/ M., Athenäum 1972, S. 158-176, hier S. 158. 129 Jahrhundert. Antoine François Prévost d’Exiles wurde 1697 in der Pikardie als Sohn eines Parlamentsadvokaten amtsadliger Herkunft geboren. Er studierte bei den Jesuiten und verließ das Seminar zweimal mit dem Ziel, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Nach einer großen Liebe und Liebesenttäuschung trat er in ein Benediktinerkloster ein und wurde 1726 zum Priester geweiht. In dieser Zeit verfasste er die beiden ersten Bände seiner Mémoires et aventures d’un homme de qualité (1728 ff.). Nach der anonymen Veröffentlichung konvertierte er zum Protestantismus und entzog sich der Verfolgung 1728 durch die Flucht nach England, von wo er 1730 nach Holland ging. Hier führte er das Leben eines mittellosen Schriftstellers. Nachdem er einen weiteren großen Roman, Le Philosophe anglais ou Histoire de M. Cleveland (1731-39) begonnen hatte, musste er vor seinen Gläubigern nach England fliehen und erhielt da eine Stelle als Privatlehrer. 1731 erschien der 7. Band seiner Mémoires: Les Aventures du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut. Eine Wechselfälschung brachte den Autor inzwischen ins Gefängnis. Nach der Freilassung kehrte er nach Frankreich zurück, konvertierte wieder zum katholischen Glauben und wurde Benediktiner. Es erschienen die Romane Le Doyen de Killerine (1735-40) und L’Histoire d’une Grecque moderne (1740). Seit 1741, dem politischen Exil in Brüssel, war die große produktive Phase erschöpft. Prévost übersetzte vor allem Richardson, dessen Werk er in Frankreich bekannt machte, Clarisse Harlowe (1751), Grandisson (1753). Gegen Ende seines Lebens wurde er Chefredakteur des Journal étranger, stand in freundschaftlicher Beziehung zu führenden Aufklärern wie Voltaire und dem noch jungen Rousseau und starb als Erzieher beim Fürsten von Conti 1763 in Chantilly. „J’entre dans la mer immense de mes infortunes“, heißt es am Anfang von Buch III des Cleveland-Romans 248 , und die pathetische Metapher bezeichnet das genannte Motiv des désordre und der Ausgeliefertheit an ein undurchschaubares Schicksal. Die Initiation des jungen Helden ist identisch mit dem bewusst gewordenen Verhängnis, das an eine individuelle Veranlagung gebunden ist: „quand on a le cœur tourné d’une certaine façon“, wie es am Anfang der Mémoires heißt. „Mon âme était écrite dans la page la plus noire et la plus funeste du livre des destinées“ 249 , schreibt der junge Cleveland in der Vorschau auf die Ereignisse, die ihn in Amerika erwarten werden. Der abgewandelte Topos des Lebens als Seefahrt spiegelt das tragische Lebensgefühl, die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit des Lebens, das die eigenen Sehnsüchte mit traditionalen Ordnungen nicht mehr in Einklang zu bringen vermag, aber aus dem Gefühl der Entwurzelung heraus doch zu- 248 Zitate nach der Ausgabe von Jean Sgard (Hrsg.), Œuvres de Prévost, 8 Bde., Grenoble, Presses Universitaires 1978, éd. par Jean Sgard, Bd. II: Le Philosophe anglais ou Histoire de Monsieur Cleveland, éd. par Philip Stewart, Grenoble, Presses Universitaires 1978, S. 85. 249 Ebd., S. 83. 130 gleich auf der Suche nach Ordnung, Frieden und auch nach religiöser Gewissheit ist. „Les romans de Prévost sont une interrogation métaphysique sur la nature et le bonheur“, schreibt Coulet 250 und Rudolf Behrens konnte zeigen, wie Familienproblematik und religiöse Krise aufeinander verweisen. 251 Dies erinnert bereits an frühromantische Strömungen und besonders an Chateaubriand. Bei allen Unterschieden hat der Autor nämlich mit jenem auch den Hang zur Selbststilisierung gemeint, die noch auf die vergangene Größe verweist. An die Stelle gesellschaftlicher Bedeutung tritt die innere Größe, die den ‚Abstieg‘ von den adligen Memoiren zum Familienroman markiert. Tragisches Schicksal, Gottsuche und Selbstentzweiung sind so zugleich Ausweis innerer Größe, die selbst wiederum an der Größe der Leidenschaft gemessen wird; Inbegriff der Leidenschaft ist die Liebe, die beinahe als metaphysisches Phänomen begriffen wird und so eine Art negativer Theologie begründet. „Providence impénétrable“ und „Fatalité“ 252 sind eins. Liebessehnsucht, Glückssuche, Sinn- und Gottessuche unterscheiden sich nicht wesentlich oder nur insofern, als der sündige Mensch in der Liebe und in der eigenen Schwäche indirekt die Suche nach Gott fühlt. Kein Autor hat die Begegnung mit der Geliebten so eindringlich als beinahe religiöses Erlebnis geschildert wie Prévost. Daher sind seine Helden Suchende, die in ständigem Aufbruch begriffen oder unterwegs sind. Das Reisemotiv dient hier nicht wie in der aufklärerischen Tradition der Fremderkenntnis, sondern ist Ausdruck schicksalhafter Selbstsuche. Am Anfang des Buches der Mémoires heißt es: „Je laisse aux géographes et à ceux qui ne voyagent que par curiosité, le soin de donner au Public la description des païs qu’ils ont parcourus. L’histoire que j’écris n’est composé que d’actions et de sentiments. J’entreprends de rapporter ce que j’ai fait, et non ce que j’ai vû.“ 253 Dies ist die Formel seiner Romane, die an den klassischen Reise- und Abenteuerroman Anleihen machen, durch den Vorrang des Gefühls aber einen völlig neuen Aspekt betonen: das erlebende und sich selbst kommentierende und ergründende Ich. Die äußere Zufälligkeit (hasard), ein Lebensprinzip, das alle Stände ergreift, begründet eine merkwürdige Dialektik von Hilflosigkeit und negativer Erwählung. „La rigueur du ciel“ und „la barbarie des hommes“ 254 scheinen zusammenzuwirken, um die besten Absichten zu durchkreuzen. Die Empfindsamkeit wertet das Mitleid zum eigentlichen Ausweis von Menschlichkeit auf. Prévost zeichnet eine Welt, die weder einen barmherzigen Gott noch eine Kultur des Mitleids in der Gesellschaft 250 Henri Coulet, Le Roman jusqu’à la Révolution, Paris, Colin 1967, S. 352. 251 Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 278, spricht von einer „Isomorphie von problematischer Vorsehung und nicht minder problematischem Vaterbild“. 252 Mémoires …, Bd. II, S. 131. 253 Mémoires …, Bd. III, S. 12. 254 Œuvres de Prévost, Bd. II: Le Philosophe anglais, S. 131. 131 kennt, in der der unglückliche Held aber das Mitleid dessen sucht, dem er sich wie in einer Lebensbeichte öffnet: „Préparez-vous à la compassion que méritent mes peines.“ 255 Die Krise des Providenzgedankens begleitet, wie wir schon sahen, die Geschichte der Aufklärung und kann als Ausdruck der Krise der Vaterinstanz gesehen werden. Hier scheint es nun, als schlage die Krise in Dämonie um. „C’est ainsi que la Providence me préparoit insensiblement à tous les maux cruels qui m’étaient encore réservés. Providence impénétrable! Qu’est-ce que l’homme! Et pourquoi le Ciel prend-il plaisir à ruiner les félicités les mieux établies? “ 256 Man möchte von negativer Providenz sprechen, die auch das jeweils Gutgemeinte ins Gegenteil verkehrt, aber genau dieses hartnäckige Unglück zum Signum der negativen Auserwählung macht: „L’amour, l’amitié, tout se change pour moi en poison et en tourment“, heißt es im Cleveland-Roman. 257 Der oder ein Sinn solcher negativer Auserwählung wird klar, wenn man die soziale Seite dieser Memoirenromane betrachtet. Die Prévostschen Helden müssen sich nämlich als Personen von Stand (hommes de qualité! ) mit der gewöhnlichen Realität auseinanderzusetzen und sind allen Fährnissen des gemeinen Lebens ausgeliefert, bevor sie sich, wie der Held der Mémoires, aus dem Leben zurückziehen können. Ein allgemeiner sittenkritischer und politischer Realismus dient so als Hintergrund für die romanesk überhöhten Probleme des Ich, das sich nurmehr in dieser negativen Form als „besonders“ empfinden kann. Im Cleveland ist von den „aventures extraordinaires“ des Ich die Rede. 258 Das selbstlegitimierende Motiv des Außerordentlichen führt erstmals aristokratische Tragik in die bürgerliche Wirklichkeit ein. Der verarmte, von der Kirche abhängige amtsadlige Autor projiziert offensichtlich seine Verfolgungsangst und seine Statussorgen in die romanesken Helden, die durch das grausame Schicksal von den Privilegien der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben und darauf mit einem Stolz antworten, der bereits auf die romantischen Außenseiterhelden vorausweist. Die Liebenden bei Manon Lescaut empfinden „un sentiment de cette grandeur qui les élève au-dessus du vulgaire“. 259 Selbstadelung als Antwort auf die Ausgrenzung oder Selbstadelung durch Gefühl. Der Doyen de Killerine z. B. ist davon überzeugt, dass noch nie ein Mensch Opfer eines ähnlichen Schicksals war. Und nur durch das Heraustreten aus dem traditionalen Rahmen kann sich das Ich zugleich als unglücklich und außergewöhnlich (unique) begreifen. Der modische Superlativstil der höfischen Gesellschaft wird hier neu 255 Ebd., S. 40. 256 Mémoires …, Bd. II, S. 131. 257 Œuvres de Prévost, Bd. II, S. 154. 258 Ebd., S. 10. 259 Abbé Prévost, Manon Lescaut, hrsg. von Frédéric Deloffre und Raymond Picard, Paris, Garnier 1965, S. 81. 132 funktionalisiert: Coulet spricht von einem „superlatif de mauvaise fortune et de sensibilité“. 260 Und letzteres zeigt denn auch, dass wir es nicht mit einem eigentlich psychologischen Romantypus zu tun haben und dass Coulet den Prévostschen Roman vielleicht etwas zu voreilig in die Nähe von Balzac, Proust oder Dostojewskij rückt. 261 Abenteuer und Ereignisse stimulieren unmittelbar das Gefühl, erregen Ängste, Ahnungen, Träume, Klagen usw., und die Möglichkeit des Hereinbrechens neuer Schicksalsschläge versetzt den Helden in ständige Gespanntheit und Unruhe (inquiétude). Die früher angesprochene Dialektik von cœur und esprit verschiebt sich in den vorrangigen Bereich des cœur, der sensibilité, und Ziel des Schreibens ist weniger die Analyse der Gefühle als deren Mitteilung und Weitergabe an den Leser, der als mitfühlend vorausgesetzt wird und der in den Prozess der versuchten Emanzipation des Ich einbezogen wird. Die konkrete Schicksalstragik demonstriert, dass die überkommenen „principes vagues et généraux“ der Moral nicht mehr greifen und durch den Anschauungsunterricht der Erfahrung ersetzt werden müssen: „Chaque fait qu’on y rapporte est un degré de lumière, une instruction qui supplie à l’expérience; chaque aventure est un modèle d’après lequel on peut se former“ - es bedarf nur noch der Anpassung an die jeweilige Lebenssituation, wie der Autor im Vorwort zu Manon Lescaut betont. 262 Die geschilderte Lebenswirklichkeit, deren wahrhafte Darstellung ein um das andere Mal beschworen wird, ist somit ein Stück Aufklärung im Konkreten, wie es die sensualistische Philosophie vorweggenommen hatte, „un traité de morale“, 263 nicht mehr im Sinn der Klassik, sondern als „Exempel“ der neu entdeckten Widersprüchlichkeit des Ich, „cette bizarrerie du cœur humain“. 264 Der Appell an „cette sorte de lecteurs“ 265 , die dieser neuen Erfahrung zu folgen gewillt sind, ist zugleich ein Appell an eine neue Form der Empathie, durch das sich das Opfer seiner Bundesgenossen versichert. Um 1730 ist die Schwelle zu einer neuen Form der Rührästhetik überschritten, die Drama und Roman der Empfindsamkeit auszeichnen wird. Der Appell an Mitgefühl und Mitleid ist aber nur eine besonders subtile Möglichkeit, auch das moralische Urteilsvermögen des Lesers außer Kraft zu setzen. „Je suis sûr qu’en me condamnant, vous ne pourrez pas vous empêcher de me plaindre“, sagt einmal der Held von Manon Lescaut; er richtet sich an die stellvertretende Vaterfigur des homme de qualité und erwartet zugleich das Verständnis seiner eigenen Generation. Und damit ist die ty- 260 Coulet, a. a. O., S. 359. 261 Coulet, a. a. O., S. 364. 262 Manon Lescaut, a. a. O., S. 6. 263 Ebd. 264 Ebd., S. 5. 265 Ebd., S. 6. 133 pisch neuzeitliche Dialektik der Beichte angedeutet, die als Mittel der Rechtfertigung und letztlich der Innocentierung fungiert. „Manon Lescaut is a masterpiece precisely because it makes the reader suspend his disbelief while he reads the story.“ 266 Dieser Weg führt unmittelbar zu Rousseau. 267 Die Größe des Leids verdrängt den Gedanken an Schuld, ganz abgesehen von der Möglichkeit, das Böse vor allem dem grausamen Schicksal anzulasten. Wenn wir bei Crébillon von einer nachträglichen, verspäteten Selbsterkenntnis sprechen können, so bei Prévost von einer unmöglichen Selbsterkenntnis. Die Unauslotbarkeit des Schicksals verweist auf die Abgründigkeit des Ich, dass sich dem Bewusstsein und bewusster Lebensplanung entzieht. Jeder Roman - und es geht ja immer um Memoirenromane - ist mithin eine Art Konfession und verzweifelter Rechenschaftsbericht, der durch Aufrichtigkeit um Verständnis wirbt. Gestützt auf das Gewissensprinzip beteuert der Held seine Offenheit: „je n’ai point honte de me laisser voir tel que je suis au public, et de lui faire l’aveu ingénu de mes fautes“, heißt es in Cleveland. 268 Und: „Ne me rendrai-je point suspect par l’aveu qui va faire mon exorde? “, beginnt der Ich-Erzähler seine Histoire d’une grecque moderne. Ja, die rational nicht mehr begründbare Kluft zwischen Wollen und Ergebnis, Handeln und Schicksal macht die Selbstaussprache und Selbsterklärung zwingend notwendig. Ahnungslos von der Versuchung überrascht, betont das Ich in Cleveland, es gehe ihm nur um den „récit sincère de mes malheurs et de mes faiblesses“ 269 und um ein gerechtes Urteil über Schuld und Unschuld. Der Leser ist Zeuge und Instanz. Am Schluss der Histoire d’une Grecque moderne versichert der Autor: „j’ai formé le dessein de recueillir par écrit tout ce que j’ai eu de commun avec cette aimable étrangère, et de mettre le public en état de juger si j’avais mal placé mon estime et ma tendresse.“ Da die Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut den Band VII der Mémoires et Aventures d’un homme de qualité qui s’est retiré du monde (Amsterdam 1731) (separate Edition 1737) bildet, sollte zunächst der Rahmen des monumentalen Werkes abgesteckt werden. Es geht um eine Art Sammlung meist tragischer Einzelgeschichten, die durch die Hauptgestalt, den homme de qualité und seinen Schüler, den Marquis de Renoncourt, zusammengehalten werden. Das Schema ist das des modischen Reise- und Memoirenromans nach dem Vorbild des Télémaque. Es geht um die zentrale Rolle der Liebe als jeweils entscheidendstem Motor des Schicksals, wobei 266 Robert M. E. De Rylke, „Des Grieux’s confession“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 84 (1971), S. 195-232, hier S. 229. 267 Vgl. Roland Galle, Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik, München, Fink 1986 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste). 268 Œuvres …, Bd. II, S. 288. 269 Ebd., S. 315. 134 jede positive Erfahrung entweder unmöglich ist oder alsbald an erneuten Schicksalsschlägen scheitert. Die Handlung ist eingebettet in das Schema des historischen Memoirenromans, setzt etwa 1680 ein und führt bis zur Régence, aber anders als bei Lesage ist die zeitgenössische Wirklichkeit bloßer Hintergrund eines privaten Abenteuerromans. Man könnte von einer tragischen „Pikareske“ sprechen: Der Held wird ruhelos durch die Zeitläufte geschleudert; die Handlung bleibt fundamental unabgeschlossen und ermüdend repetitiv. Kurz einige Anhaltspunkte: Band I, dessen eigentliche Handlung um 1680 einsetzt, beginnt mit der unehelichen Geburt des Marquis de Renoncourt im Exil. Das Kind genießt trotzdem eine gute Erziehung bei den Jesuiten. Mit 17 Jahren gelingt dem Helden die Flucht mit der einzigen Schwester, um den Großvater väterlicherseits zu rühren und zur Zurücknahme seines Testaments zu bewegen, mit dem er den Sohn von der Erbfolge ausgeschlossen hatte. Aber eben die Tatsache, dass dieser Plan einer ‚Vaterrettung‘ glückt, bedeutet den Anfang einer Unglückskette, durch die die versuchte Integration unmöglich wird. Der Tod des Großvaters und der Tod der Schwester während eines Entführungsversuchs führen zum Tod der Mutter und zum Rückzug des Vaters in ein Kartäuserkloster. Allein und ohne väterlichen Schutz gelangt der junge Mann nach Paris, erfährt von seiner Enterbung durch die Stiefmutter und geht in militärische Dienste nach Holland und England. Danach, als Freiwilliger des Herzogs von Baden, gerät er in türkische Gefangenschaft und Sklaverei. Er verliebt sich in Sélima, eine der drei Töchter seines Herrn und erhält zum Dank für seine Hilfe bei der Entführung einer Sultanin beim Tod des Sultans von dessen Sohn die Freiheit und die Hand der Schwester. Band II erzählt die Rückreise des Paares nach Livorno und Florenz, wo sich der Großherzog von Toskana für Sélima interessiert. Um sie vor Nachstellungen zu bewahren, heiratet der Held sie in Rom. Aber nach der Geburt einer Tochter, Julia, stirbt Sélima am Sumpffieber. In maßloser Trauer verzehrt sich der Held, als der Onkel gerade nach Rom kommt und ihn zur Rückkehr nach Frankreich überredet, wo er eben zur rechten Zeit ankommt, um dem Vater im Todeskampf beizustehen. Nach der Hochzeit seiner Tochter Julia zieht sich der Held ins Kloster zurück. Jetzt selbst in die Rolle des hilflosen Vaters versetzt, versucht er dessen Rückzug zu kopieren. Die anfangs angedeutete Emanzipation des symbolisch vaterlosen Sohnes wird so zurückgenommen. Damit wäre die Geschichte eigentlich zuende, doch in Band III erhält der Held vom Herzog de Rosemond den Auftrag, dessen einzigen Sohn auszubilden und zu erziehen. Er wird mithin eine Art Mentor, der einen Télémaque in die Welt einführt. Erzieher und Schüler brechen zur Bildungsreise nach Spanien (ein Novum! ) auf. Dort geht der junge Marquis eine gefährliche Liebschaft ein. Es 135 kommt zur Intrige und zum Zweikampf: Vor seinen Augen erdolcht die Mutter des Duellopfers die Geliebte, die er noch auf den Totenbett formell ehelicht. Der Erzieher versucht vergeblich, den Schüler durch Bildungseinflüsse von seiner maßlosen Trauer abzulenken. In Band IV folgen die Weiterreise nach Portugal und die Freundschaft mit Fürst Dom Manuel, der Donna Clara unglücklich liebt und seine Freunde dazu überredet, heimlich mit ihm Portugal zu verlassen. Auf dem Schiff schließt der Held Bekanntschaft mit zwei jungen Türken, als deren Vater sich bei der Ankunft in Den Haag Amulem, der Bruder der verstorbenen Sélima, erweist. Nach der Heimkehr nach Frankreich erhält der Held die plötzliche Nachricht vom Tod seines Onkels. Doch die Abenteuer- und Bildungsreise ist nicht zu Ende. Band V führt Lehrer und Schüler auf eine große Reise nach England und Deutschland. Eine tragische Leidenschaft bindet den homme de qualité an Milady R. und den jungen Marquis an eine gewisse Nadine. Der jetzt vaterlosen Vater-Held wird noch einmal in den Sohnesstatus versetzt - vielleicht um dem jungen Mann näher zu sein, dessen Geschichte in der Folge erzählt wird. Mit Band VI sind wir endlich bei dem Thema von Manon Lescaut, das nur das Glied einer langen Kette episodischer Abenteuer ist. Der Verfasser der Memoiren ist auf der Rückreise aus Spanien in Passy (zwischen Nantes und Louviers) einem Deportationskonvoi begegnet und hat die besondere Beziehung zwischen einem außerordentlich schönen Mädchen und einem jungen Mann bemerkt. Er hat mit ihm Bekanntschaft gemacht und von der bevorstehenden Deportation der Dirnen nach Nouvelle-Orléans erfahren. Die Episode situiert sich also chronologisch zwischen Buch IV und V, d. h. vor der Reise nach England. Band VII (1731) erzählt die Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut, 270 in der Maurice Daumas 271 den symptomatischen Ausdruck der Vater-Sohn-Beziehung im 18. Jahrhundert gesehen hat. Der Erzähler-Autor selbst bemerkt im „Avis“, er habe diese Geschichte, die ursprünglich nicht für eine gesonderte Publikation vorgesehen war, wegen ihrer Länge separiert und auch weil „il m’a semblé que n’y ayant point un rapport nécessaire, le lecteur trouverait plus de satisfaction à les voir [sc. les aventures] séparément. (S. 3) Offensichtlich eine kluge Entscheidung, denn schon zu Lebzeiten Prévosts sind 23 Auflagen zu verzeichnen. Doch zunächst zum Inhalt: Zwei Jahre später begegnet der Ich-Erzähler zufällig dem jungen Mann nach der Überfahrt von London nach Calais wieder, und der Fremde erzählt ihm jetzt seine Geschichte. Memoiren innerhalb der Memoiren nach dem Muster 270 Zitate nach der genannten Ausgabe von Frédéric Deloffre und Raymond Picard in den Classiques Garnier 1965 (mit umfangreicher Einleitung und Bibliographie). 271 Maurice Daumas, Le syndrome Des Grieux. La relation père-fils au XVIII e siècle, Paris, Seuil 1990. 136 des pikaresken Romans. Der siebzehnjährige Held, Chevalier, jüngster Sohn aus gutem Hause, ist nach glänzenden Studien in Amiens im Begriff, nach Hause aufzubrechen. Traurig ist er über die notwendige Trennung von dem älteren Freund Tiberge. Doch der Anblick eines jungen Mädchens an der Poststation lässt ihn sein ganzes bisheriges Leben vergessen; „[…] enflammé tout d’un coup jusqu’au transport“ (S. 19), täuscht er den treuen und wachsamen Tiberge, der von jetzt an als edler „diable boiteux“ die Rolle eines guten ‚alter ego‘ des Helden spielen wird, und entführt die junge Manon, die ebenfalls sofort auf ihn aufmerksam geworden war und bereitwillig dem ihr bestimmten Klosterleben entflieht: Der Heißhunger auf Liebe vereitelt alle gutgemeinten Ehevorsätze: „Nos projets de mariage furent oubliés à Saint- Denis [...] et nous nous trouvâmes époux sans y avoir fait réflexion.“ (S. 25) Nach den ersten Liebeswochen gehen indessen die knappen Geldvorräte zur Neige. Des Grieux erfährt erst von der Untreue der Geliebten, als er durch ihren Verrat zu seinem Vater zurückgebracht worden ist. Vater und Freund bemühen sich um ihn, der scheinbare Besserung gelobt und erneute Studien (eineinhalb Jahre), zuletzt in Saint-Sulpice, mit dem Ziel der Klerikerlaufbahn aufnimmt. Aber auf dem Höhepunkt des moralischen Sieges erscheint wieder Manon, und alles fällt in sich zusammen. Wieder fliehen die Liebenden und der Held glaubt an einen Neuanfang. Die beiden mieten ein Landhaus, aber Manons Vergnügungssucht führt in die Stadt zurück. Des Grieux trifft den verkommenen Bruder Manons und lässt sich zum betrügerischen Glücksspiel und schließlich sogar zur Zuhälterei bewegen; allerdings beabsichtigt er, den Verehrer Manons, M. G. M., zu prellen. Diese Phase endet für den Helden im Gefängnis, für Manon im Hôpital Général. Nach drei Monaten glückt ihm die Flucht, wobei er freilich am Tod des Türschließers mitschuldig wird. Damit endet Teil I, und noch einmal scheint ein neues Leben möglich, da taucht der junge Edelmann G. M. wieder auf, den die Liebenden gemeinsam zu betrügen versuchen und der den Helden erneut ins Gefängnis bringt. Während ihn der Vater herausholt, wird Manon zur Deportation verurteilt. Gegen die Mahnung des Vaters und in offener Revolte gegen dessen Autorität flieht Des Grieux von zu Hause und schließt sich inkognito dem Zug an, nachdem sich jeder Befreiungsversuch als sinnlos herausgestellt hat. In Amerika unternimmt er noch einmal den Versuch zu einem neuen Leben, nachdem Manon endgültige Besserung gelobt hat. Aber gerade der Plan, kirchlich zu heiraten, zieht die Aufmerksamkeit des Gouverneursneffen auf die Liebenden. Das Eifersuchtsdrama endet mit einem Duell, der Flucht der Liebenden in die Wüste und dem tragischen Tod Manons, die der Held in der Wüste begräbt. Als gebrochener Mensch kehrt Des Grieux in die Heimat zurück. Die Geschichte ist zum ‚Exempel‘ einer misslungenen Emanzipation geworden, deren Tragik über die bloßen Opferrollen der in den früheren Büchern erzählten Schicksale hinausgeht. 137 Man kennt das berühmte Diktum Montesquieus von 1734: „Le héros est un fripon et l’héroïne une catin qui est menée à la Salpêtrière“. 272 Das Urteil ist schwer zu widerlegen, entspricht aber dennoch offensichtlich weder dem Eindruck des Lesers noch der Absicht des Autors. Banalität und Unmoral der Geschichte werden durch die Aureole tragisch-großer Liebe, einer „fatale passion“ (S. 162) geadelt, und ein neuer Graben tut sich auf zwischen dem realen Handeln der Personen und ihrer Art, sich selbst zu sehen. Dies aber verweist auf die Hilflosigkeit, mit der sich die Protagonisten einem Schicksal gegenübersehen, das den Protagonisten als destinée, Fortune oder Providence entgegentritt und sie regelrecht zu foppen scheint. Im Avis de l’auteur charakterisiert Prévost denn auch das Verhalten seiner Helden als „un exemple terrible des la force des passions“ und spricht von „un jeune aveugle, qui refuse d’être heureux“. (S. 4) Letzteres klingt nach moralischer Verurteilung: als ob der Held sich weigerte, innerhalb der gegebenen moralischen Normen glücklich zu werden. Was aber heißt „glücklich werden“? Und wie steht es um die Übereinstimmung zwischen individuellem Glück (amour) und moralischen Normhorizont (sagesse)? (S. 161) In deutlich erkennbarer Parallele zu der berühmten Vorrede Racines zu Phèdre dehnt der Autor den Begriff des mittleren Charakters bewusst bis zum Zerreißen, wenn er „un caractère ambigu, un mélange de vertus et de vices, un contraste perpétuel de bons sentiments et d’actions mauvaises“ (S. 5) geltend macht. Dieses Problem - und nicht nur eine rührende Liebesgeschichte - reflektiert der Roman explizit, indem er inneres Fühlen und äußere Beurteilung, Sein und Handeln auseinandertreten lässt. Öffentliche Norm und innere, gefühlte Moral haben nichts mehr miteinander zu tun; im Zeichen bürgerlicher Empfindsamkeit wird die Moral gleichsam ‚privatisiert‘. Mit dem Kommentar des Erzählers im Avis: „On ne peut réfléchir sur les préceptes de la morale, sans être étonné de les voir tout à la fois estimés et négligés; et l’on se demande la raison de cette bizarrerie du cœur humain, qui lui fait goûter les idées de bien et de perfection, dont il s’éloigne dans la pratique.“ (S. 5) Das Adjektiv bizarre, der Kernbegriff der französischen Klassik zur Bezeichnung des Abweichenden, Merkwürdigen und Regelwidrigen, dient also zur Kennzeichnung des menschlichen Herzens („cette bizarre disposition des mon sort“, S. 72), das der Einsicht des Verstandes nicht folgt und „cette contradiction de nos idées et de notre conduite“ (S. 16) heraufbeschwört. Wenn aber Handlungsanleitung (préceptes) und lebensweltliches Handeln (une application particulière au détail des mœurs et des actions) nicht mehr übereinstimmen, ergeben sich gleichsam zwei getrennte Ebenen: die der Norm, auf Grund derer die Verurteilung des abweichenden Handelns möglich ist - und dies betrifft z. B. auch die Situation der Selbstanklage und 272 „Introduction“ der Ausgabe Deloffre/ Picard, S. CLXIII. 138 Beichte des zurückblickenden Protagonisten. Und andererseits die reale Lebenserfahrung, die nicht mehr vorgängig ableitbar ist, bizarre und seltsam erscheint, aber sich gerade in dieser Merkwürdigkeit selbst rechtfertigt. Man möchte von einer indirekten Aufwertung der Lebenspraxis und das heißt erzählerisch der Details und der äußeren Umstände des Lebens sprechen, die keiner übergreifenden Rechtfertigung mehr bedürfen. Realismus dieser Art erwächst mithin aus dem Zurücktreten des Normhorizonts, der zugleich der Normhorizont der Vätergeneration ist. Es ist freilich noch keine positive, sondern eher eine negative, indirekte Aufwertung des offenen, unüberschaubar gewordenen Lebens, jenes „nouvel ordre des choses“, das - wie es im Roman heißt - wie eine fremde, nächtliche Landschaft erscheint und die Protagonisten nicht so sehr als Handelnde denn als hilflose Opfer der neuen Umstände erscheinen lässt. Nicht zufällig haben wir es ja insgesamt auch hier mit einem Memoirenroman zu tun, der mit der Krise des absolutistischen Hofstaats einsetzt und weit in die Régence mit ihrer Auflösung der bisherigen Sittenordnung hineinreicht. Während ein Lesage diesen nämlichen Hintergrund in seinem Gil Blas noch pseudohistorisch verfremdet und kaschiert, ist der historische Hintergrund, also die unmittelbare Vergangenheit des Lesers, bei Prévost angesprochen. Freilich nur in der privatesten Form. Doch gerade diese Eigenart kann nun wieder als signifikante Spiegelung der Öffnung der Geschichte nach unten interpretiert werden. Auch der von Anfang an exilierte Erzählerheld und homme de qualité ist ungeachtet seiner späteren Tätigkeit als Mentor ein ‚Held‘ ohne Ziel, dem es nicht mehr gelingt, sich in eine feste Familienordnung einzufügen und dessen Leben dem Zufall unterworfen ist. So wie es keine gültigen Normen mehr gibt, gibt es auch keine gültige Verortung in sog. offizieller Geschichte oder gar bei Hofe mehr. Ähnliches wird für Cleveland, einen unehelichen Sohn Cromwells, gelten. Wie Cleveland wird auch der unbehauste junge Held Des Grieux nach unten und nach draußen gestoßen und kennt keinen Aufstieg mehr. Schildern die Helden Lesages und Marivaux’ stolz einen gelungenen Lebensweg und macht der Held Crébillons immerhin einen psychologischen, wenn auch nicht mehr gelungenen Lernprozess durch, so dient der rückblickende Bericht des jungen Chevalier hier nurmehr dazu, ein Lebensfiasko zu konstatieren. Dabei fällt auf, wie die zentralen Stichwörter des Bildungs- und Entwicklungsromans à la Lesage und Marivaux ironisch variiert werden, so dass man auch von einem nicht gelingenden Bildungsroman sprechen könnte. Der junge Des Grieux wird wie die Helden Marivaux’ durch Liebe schlau: „L’amour rendait déjà si éclairé“ (S. 20) - „ Je reconnus bientôt que j’étais moins enfant que je ne le croyais.“ (S. 21) - „L’amour m’ayant extrêmement ouvert l’esprit[…]“ (S. 23) - „Les lumières que je devais à l’amour[…]“ (S. 38) - kurz, das Liebesabenteuer impliziert Aufklärung; es stärkt die Fähigkeit des Helden zur Beobachtung der Außenwelt und zur Selbstbeobachtung, aber 139 schützt ihn gerade nicht davor, „une jolie dupe“ (S. 33) zu sein. Auch gelingt die Emanzipation vom gütigen Vater nicht, der in symptomatischer Weise immer wieder als Retter des gefallenen Helden (das augustinische Stichwort chute fällt in der Szene des fatalen Wiedersehens mit Manon, S. 43) auftritt und trotz dieser positiven Rolle am Ende zur Ohnmacht verurteilt ist. Aus der Sicht des Sohnes wird freilich aus einem „bon père“ (S. 171) in dem Augenblick ein „père barbare et dénaturé“ (S. 172), in dem dieser sich mit dem Generalleutnant der Polizei verbündet und auf die Gültigkeit seiner Normen pocht. Jean Sgard 273 spricht von einem Trio der Vaterfiguren, Vater, Polizei und Himmel, welche die Emanzipation des Sohnes verhindern wollen. Denn eben die schicksalhafte sensibilité und die Zugehörigkeit zu „les personnes d’un caractère plus noble“ (S. 81) verhindern eine zielgerichtete Entwicklung des Helden und machen aus seinem Leben ein Drama von Schuld und Sühne. Die moralische Regeneration der Heldin und ihr Tod verleiht der Handlung den Charakter eines von der göttlichen Vorsehung gelenkten Opferdramas, dessen Verkettung - „C’est quelque chose d’admirable que la manière dont la Providence enchaîne les événements.“ (S. 107) - dem Helden allerdings erst im Nachhinein einsichtig wird. Beide Instanzen, Tradition und Transgression im Rausch der Liebe, sind daher durch ihre Ambivalenz gekennzeichnet. Die Tradition wird repräsentiert durch: - den Vater des Helden bzw. die Eltern des Mädchens, das ins Kloster gezwungen werden soll; - die Instanzen Erziehung und Bildung, hier Priesterseminar und Kloster („un système de vie paisible et solitaire“, S. 40) sowie die staatliche Repression; - die Rolle des schützenden Freundes Tiberge, der als Inbegriff der sagesse eine Art väterlichen Mentor darstellt, aber anders als im Télémaque, den Ereignissen ebenfalls ohnmächtig gegenübersteht. Traditionsverlust bedeutet Verlust von Ordnung und Ruhe und damit désordre und Unruhe: „Quel passage, en effet, de la situation tranquille où j’avais été aux mouvements tumultueux que je sentais renaître.“ (S. 45) Die gesamte Romanhandlung könnte dann als rhythmisch gegliederte Kette der Desintegrationsepisoden mit wiederholten Versuchen, wieder Tritt zu fassen, bezeichnet werden: 1. Am Anfang in der Szene an der Poststation, wo die Witzigung des pikaresken Helden in ironischer Verkehrung thematisiert wird. Der Held fühlt sich durch die Liebe „éclairé“ (erleuchtet, aufgeklärt! ) und mit einemmal erwachsen geworden; in Wahrheit aber sind Schläue und Wissen (ruse) 273 Jean Sgard, L’Abbé Prévost. Labyrinthes de la mémoire, S. 54. 140 nur Ausdruck des Widerstands gegen die sagesse des Freundes und Mittel des Selbstverlusts. Manon repräsentiert „l’ascendant de ma destinée qui m’entraînait à ma perte“ (S. 20). Die nachfolgende Flucht (fuite) ist das Gegenteil aktiver Lebensbewältigung. Nacheinander wird der Held zum Spielball der Leidenschaft, der Zärtlichkeit und schließlich des sog. Verrats, der ihn von der Geliebten trennt. Fehlende Einsicht und innere Verdunkelung sind die metaphorischen Konstanten. 2. Die erneute Flucht erfolgt nach dem Wiederauftauchen des Mädchens und steht diesmal im Zeichen eines verstärkten désordre. Gleichzeitig stellt die Szene, in der die achtzehnjährige Geliebte Des Grieux unversehens in Saint- Sulpice aufsucht, eines der großen Beispiele der Weltliteratur dar und unterstreicht des epiphanieähnlichen, fast religiösen Charakter der Begegnung, bei der der Held zu zittern beginnt: „Toute sa figure me parut un enchantement.“ (S. 44) 3. Die dritte Flucht erfolgt aus dem Gefängnis, das als Symbolort gesellschaftlicher Bedrückung fungiert. Zwischen dem Gefängnis und dem Vaterhaus bzw. den Erziehungsanstalten besteht eine offensichtliche Korrelation. So hat z. B. der Vater kraft seiner gesellschaftlichen Stellung die Macht, den Sohn aus dem Gefängnis herauszuholen, aber nicht die Möglichkeit, ihn an weiteren Fehltritten zu hindern. Nach der Befreiung durch den Vater entzieht sich der Held erneut der häuslichen Obhut. 4. Des Grieux entzieht sich durch Flucht, womit nicht nur der Gefängnisaufenthalt gedoppelt erscheint, sondern auch die Flucht von Hause wiederholt wird. Und selbst in der Neuen Welt, nach der Deportation der Geliebten, wiederholt sich die Geschichte, da die beiden Liebenden 5. nach dem unglücklichen Duell aus der Gesellschaft in die Wüste fliehen müssen: Wilde Natur und die ‚Wilden‘ (sauvages) bilden nun den Hintergrund einer neuen Welterfahrung des Ausgestoßenseins und krönen das heimliche Motiv der Verfolgung. Einerseits erfolgt das Heraustreten aus dem geschützten Bereich des väterlichen Hauses und der väterlichen Gesellschaft mithin freiwillig und gegen deren Willen und wird daher auch mit gesellschaftlichem Abstieg und mit Selbstverlust bezahlt. Das Schema des Verlorenen Sohnes funktioniert nicht mehr, und am Ende steht der gebrochene Held vor dem symbolischen Ersatzvater, dem älteren Marquis und Homme de qualité, um ihm zu beichten. Nur dass diese Vaterfigur als eine selbst vom Leben Gezeichnete nicht mehr die Macht hat, das Geschehene zu vergessen und den verlorenen Sohn aufzunehmen. Der Hilflosigkeit der Väter entspricht die Verlorenheit des Sohnes. Der Ungehorsam gegenüber den väterlichen Instanzen führt zu einem klar gegliederten Abstiegsschema: Entführung - wilde Ehe - Doppelleben Manons. Die Unordnung in der Liebe führt zur Unordnung auch im 141 weiteren Sinn: Spiel - Zuhälterei - Mord - Notverbrechen (Gefängniswärter) - Duell (Sohn des Gouverneurs). Andererseits ist die Erzählung Prévosts insofern zutiefst ambivalent, als gerade die Flucht auch das Motiv der Befreiung, ja der Unschuld andeutet und Unschuld und Glück hier trotz der ständigen moralischen Kompromisse miteinander assoziiert werden. Wenn wir mit dem Schluss beginnen, so sehen wir deutlich, dass der einsame Gang der beiden Liebenden in die wilde Landschaft hinaus, der nach Sgard „une grandeur inattendue“ 274 zukommt, auch als Umkehrung der Paradiesgeschichte verstanden werden kann. Adam und Eva auf der Suche nach einer neuen Unschuld, nachdem sich die Neue Welt mit ihren Konnotationen des Neuanfangs als trügerisch und als bloße Kopie der Alten Welt herausgestellt hat. Aber nicht wie bei Miltons Paradise Lost, wo „the world was all before them“, sondern als Gang in die Nacht und in den Tod: Angedeutet ist dies schon in der Szene der Wiederbegegnung, die einem inneren Erschrecken gleichkommt: „Je frémissais, comme il arrive lorsqu’on se trouve la nuit dans une campagne écartée: on se croit transporté dans un nouvel ordre de choses; on y est saisi d’une horreur secrète, dont on ne se remet qu’après avoir considéré longtemps tous les environs.“ (S. 45) Nacht und Orientierungslosigkeit prägen auch die Todesszene in der Neuen Welt: „Il était déjà nuit. Nous nous assîmes au milieu d’une vaste plaine, sans avoir pu trouver un arbre pour nous mettre à couvert.“ (S. 198) Das biblische Gleichnis vom Fuchs, der seine Höhle hat, und vom Menschensohn, der keine Bleibe findet, kommt unwillkürlich in den Sinn. Es ist charakteristisch, dass die Liebenden in dieser letzten Extremerfahrung wirklich jene Unschuld wiederfinden, die sie schon lange verloren haben. An der Aufrichtigkeit seiner Gebete lässt der Held keine Zweifel: „Je passai la nuit entière à veiller près d’elle [sc. Manon], et à prier le Ciel de lui accorder un sommeil doux et paisible. O Dieu! Que mes vœux étaient vifs et sincères! “ (S. 199) Denn schon die erste Liebesbegegnung erfolgt ja im Zeichen der Unschuld, freilich einer nicht reflektierten Unschuld der kindlich Liebenden, die den Mitreisenden in der Postkutsche als „deux enfants“ erscheinen und ein Gefühl der Rührung provozieren. Der vorrationale Charakter dieser Liebe, das s’aimer jusqu’à la fureur, welches unmittelbar auf den Zustand sexueller Unschuld und Unerfahrenheit folgt, exkulpiert die Protagonisten ja auch und macht sie symbolisch unverwundbar. Der Abstiegsprozess beginnt daher mit dem Versuch, diesen Glücks- und Unschuldszustand in der Gesellschaft und im praktischen Leben aufrechtzuerhalten, ein Zimmer zu mieten und sich einzurichten. M. a. W., die paradoxe Unschuld des Liebesglücks liegt außerhalb von Zeit und Geschichte, die nur als negative Kategorie erfahrbar ist, keinesfalls als Kategorie des Rei- 274 J. Sgard, a. a. O., S. 135. 142 fens und Vertiefens. Nach dem Zusammenbruch der Hoffnung und der erneuten Begegnung fliehen die Liebenden aufs Land, um gewissermaßen unter günstigeren Umständen das erste Experiment zu wiederholen. Fern der Gesellschaft und der Stadt ist vielleicht die Hoffnung gegeben, dass sich das eigentliche Wesen, „un excellent fond de caractère“ der Heldin, bewährt. In der Natur soll ihre „aversion naturelle pour le vice“ Gelegenheit zur unschuldigen Erfüllung der Liebe geben. Und erst der erneute Kontakt mit Stadt und Gesellschaft entzieht dieser Hoffnung den Boden. Und wie in der Histoire de Monsieur Cleveland dient auch der Mythos der Neuen Welt als exotistischer Hintergrund der Innozentierung und des versuchten Neuanfangs. Die Deportation ist Flucht und Erlösung zugleich. Zugleich korrespondiert die versuchte Emanzipation des Sohnes mit dem Motiv der Flucht aus der Welt der Väter. In der Paradoxie der Liebe liegt aber offensichtlich das Problem. Man hat diesbezüglich immer wieder Parallelen zu den Tragödien Racines gezogen und etwa an die Gestalt Phèdres erinnert, die die Fatalität der Liebe erfährt: „C’est Vénus tout entière à sa proie attachée“. Im Roman selbst finden wir ein Zitat aus Racines Opferdrama Iphigénie, und vielleicht ist auch Tiberges ironische Bemerkung, „je pense que voici encore un de nos jansénistes“ (S. 93) hierauf zu beziehen. Der Vergleich mit Racine unterschlägt jedoch, dass die Liebe im Kontext des jansenistisch beeinflussten Dramas eine identitätszerstörende, quasi mythische Macht ist. Bei Prévost ist sie aber Glücksverheißung und Schicksal zugleich und bietet als Extremerfahrung sogar die Gewähr für die Liebenden, sich selbst zu erfahren. Gefühlsintensität ist ja geradezu als Kriterium für inneren Adel ausgewiesen. „Mais les personnes d’un caractère plus noble peuvent être remués de mille façons différentes“, denn sie sind zu Gefühlen fähig „qui passent les bornes ordinaires de la nature“. (S. 81) Die Liebe fungiert als Mittel der Grenzüberschreitung auch im positiven Sinn und hebt das Ich über den „vulgaire“, die graue Masse der angepassten Menschen, hinaus - allerdings um den Preis eines tragischen Schicksals. Das heißt, die Protagonisten werden zu Helden eines Dramas nur durch die Liebe, und zugleich macht die Liebe jedes gewöhnliche Leben unmöglich. Oder anders: Selbst- und Gefühlserfahrung und das tägliche Leben schließen einander aus. Dies ist aber der Grund für die anfangs erwähnte, paradoxe Unschuld des schuldigen Helden., der seine unterlegene Position insgeheim positiviert. An den Vater gewendet spricht der junge Chevalier einmal: „Je ne mérite pas des noms si durs. C’est l’amour vous le savez, qui a causé toutes mes fautes. Fatale passion! Hélas! n’en connaissez-vous pas la force, et se peut-il que votre sang, qui est la source du mien, n’ait jamais ressenti les mêmes ardeurs? L’amour m’a rendu trop tendre, trop passionné, trop fidèle et, peut-être, trop complaisant pour les plaisirs d’une maîtresse toute charmante; voilà mes crimes.“ (S. 162) 143 Insgesamt also eher positive Haltungen, die nur durch den Exzess, das trop, jeweils ins Gegenteil umschlagen. Kaum erkannt und aufgewertet, erweist sich die sensibilité mithin als zweischneidig. Der Hunger nach Authentizität des Gefühls macht die Liebe zur Strafe und Prüfung und verleiht dem Roman den Charakter eines negativen Exempels. Der junge Held, für den Empfindsamkeit Bereicherung und Strafe zugleich ist, wird aus der väterlichen Ordnung bürgerlich amtsadliger Beschaulichkeit herausgerissen und mit der Unvorhersehbarkeit einer nurmehr negativen Vorsehung konfrontiert. Seine Stärke ist zugleich seine Schwäche, und dies sogar in einem doppelten Sinn. Denn schwach sind die Liebenden nicht nur in bezug auf die traditionellen Normen, sondern auch in bezug auf die sittenlose libertinistisch geprägte Adelsgesellschaft, deren Perfidie der Held nicht durchschaut. Diese Schwäche münzt der Held und mit ihm Prévost in den Schicksalsbegriff um: „que c’était apparemment la volonté du Ciel, puisqu’il ne lui laissait nul moyen de l’éviter“. (S. 20) Wird der Mensch nämlich im Sinn des Sensualismus als Sinnenwesen definiert, dessen Ziel die Vermeidung von Unlust und die Erreichung von Lust ist, und ist die Liebe die höchste Form der Lust, wie es Des Grieux in einem zentralen Gespräch mit Tiberge ausdrückt, so ist der Mensch notwendig zur Leidenschaft bestimmt und kann gar keine Tugend außerhalb der gesuchten „félicités“ (S. 93) anstreben. Oder, wie es schon zuvor heißt: S’il est vrai que mes secours célestes sont à tout moment d’une force égale à celle des passions, qu’on m’explique donc par quel funeste ascendant on se trouve emporté tout d’un coup loin de son devoir, sans se trouver capable de la moindre résistance et sans ressentir le moindre remords. (S. 42 f.) Picard spricht hier von einer „théologie de la faiblesse humaine“. 275 Unter dem Druck der neuen, ambivalenten Empfindsamkeit entsteht mithin eine neue Form typisch bürgerlicher Tragik. Die klassische Definition des Tragischen bestand im Schuldigwerden eines großen Helden aus Verblendung. In der Verknüpfung von Schuld und Sühne wurde die Dimension des Menschseins ausgelotet. Nur durch aktives Handeln konnte der Mensch auch tragisch werden. Mit der Empfindsamkeit wird Tragik an das Gefühl als solches gebunden und beleuchtet die Unvereinbarkeit von Sehnsucht und äußeren Bedingungen. Das Gefühl macht den „Helden“ zum passiven Opfer der Gefühle, adelt ihn aber gerade dadurch unabhängig von äußerer Größe. Ziel ist nicht, wie in der klassischen Tragödie, Erkenntnis der eigenen Verfehlung und Sühne, sondern - wie im zeitgenössischen larmoyanten Drama - Selbstaufwertung im Leidenspathos. Le Ciel, väterliche Autorität par excellence und Inbegriff eines undurchschaubaren Schicksals, wird zur auto- 275 „Introduction“, S. CXXV. 144 nomen Instanz der Lebens- und Erkenntnisvereitelung. Die Handlung löst sich von den Absichten der Protagonisten, und das Geheimnis des Lebens bleibt letztlich unaufgehellt. Dies hat auch Folgen für die Perspektive unseres Romans. Bei der Betrachtung der Liebesgeschichte als einer Art Doppeldrama muss ja auch beachtet werden, dass nur der Chevalier als Held und Leidtragender zugleich berichtet und Rechenschaft ablegt und dass er alles nur aus seiner Sicht beschreiben kann. Tatsächlich ist diese Perspektive die Voraussetzung für den Eindruck der Hilflosigkeit und Undurchdringlichkeit. Im Sinne von Sanders 276 hätte man es mithin mit der tragischen Variante der Beziehung von „la dupe et l’impénétrable“ zu tun, die ja weniger tragisch oder pikaresk auch die Werke Marivaux’ und Crébillons auszeichnet. Die Inkarnation des Undurchschaubaren ist hier Manon, die geheimnisvolle Geliebte, die sich dem Liebenden immer wieder entzieht und deren Psychologie dieser nicht verstehen kann. Wie ein verkörperter Liebeszauber - „l’air de l’Amour même - (S. 44) erscheint sie ihm unerwartet in seiner Arbeitsstube in Saint Sulpice, und als beglückend oder bedrohlich schließt „cette étrange fille“ (S. 140) den Helden während des ganzen Romans weitgehend von ihrem Denken und Handeln aus. Sie ist mithin die Inkarnation des Schicksals, Objekt der Begierde, reines Sein, um welches die Überlegungen des Ich kreisen. Manon hat dies mit anderen Frauengestalten Prévosts, besonders etwa der Théophé in der Histoire d’une Grecque moderne (1740) 277 gemein. Auch jene erscheint als fremde „femme unique“, die alle herkömmlichen Regeln und Überlegungen ungültig macht und gegen die der Mann ständig ins Leere läuft. Die Geschichte der Griechin, die der Ich-Erzähler in einem türkischen Harem entdeckt und die sich seinem Werben beharrlich widersetzt, ist daher nicht die Geschichte der Heldin, sondern die Geschichte der qualvollen Eifersucht des Mannes und Icherzählers, der sich vergeblich bemüht, sie zu verstehen und das heißt auch: zu gewinnen - man könnte auch sagen: sich ihrer zu bemächtigen. Eine besondere Pointe ist nach Pelckmans 278 darin zu sehen, dass der frustrierte Liebende nicht wie in Manon Lescaut den unbedachten Sohn, sondern eine Vaterfigur darstellt, die eben die Rolle des Sohnes einnimmt und die eigene Unzulänglichkeit vergessen machen möchte. Der Roman beleuchtet einmal mehr die wechselseitige Verstrickung der beiden Rollen. Anders als Manon Lescaut bleibt auch die Heldin in ihrer Unschuld ungreifbar. Statt handeln zu können, reagiert der Mann und dreht sich in einem ständigen Wirbel 276 Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen, Niemeyer 1987, S. 105-108. 277 Abbé Prévost, Histoire d’une Grecque moderne, éd. par Jean Sgard, Grenoble, Presses Universitaires 1989. 278 Paul Pelckmans, Le Sacre du Père. Fictions des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983, S. 179. 145 von Täuschung, Selbsttäuschung, Enttäuschung, Vermutung, Verdächtigung usw. um das Geheimnis des nicht zugänglichen Anderen. Insofern aber die Frau als letztlich nicht erreichbares Ziel den Mann zur Ohnmacht verurteilt, wird sie selbst zur Verkörperung jenes quasi mythischen Schicksals, über das sich die Helden Prévosts ständig beklagen. Und als mythische Figur, die ja im Umkreis des Symbolismus des Fin de siècle und der Moderne wieder auftaucht und Züge der femme fatale romantischer Prägung trägt, verweist sie zugleich auf eine offensichtlich nicht direkt ansprechbare Problematik, die möglicherweise der sozialen Rollenverteilung entspricht. Im Gegensatz nämlich zu Marivaux und Crébillon, die wohl das Motiv des impénétrable, nicht aber den tragischen Mythos thematisieren, verläuft das Liebesverhältnis zwischen Des Grieux und Manon nicht von unten nach oben oder auf gleicher Ebene, sondern von oben nach unten. Der amtsadlige Held aus angesehenem Hause (eine Art Double des Autors selbst), Träger alter Werte und Ideale, findet in der Geliebten „de naissance commune“ keine ebenbürtige Partnerin. Was für Manon einem gesellschaftlichen Abstieg gleichkommen könnte, ist also für ihn mit Abstieg verbunden. Dies ist sicherlich kein Zufall, und Prévost hat das Schema im übrigen immer wieder variiert, z. B. in der genannten Histoire d’une Grecque moderne, wo der französische Diplomat und Adlige das außerhalb der Gesellschaft stehende Sklavenmädchen liebt und an dieser Beziehung scheitert. Symbolisch bedeutet dies: Die Gefährdung der traditionalen Moral und Gesellschaftsstufe erfolgt über die Liebe, die durch die sozial tiefer stehende Frau verkörpert wird. Diese Gefährdung ist umso größer, als sie als unwiderstehlich und schicksalhaft notwendig hingestellt wird. Entdeckung der Leidenschaft, Aufwertung durch das Gefühl und gleichzeitige soziale Deklassierung durch etwas, was als natürlich, d. h. nicht gesellschaftlich erscheint, sind somit parallel. Dies erklärt auch, warum die moralischen Skrupel eine Art Wertfreiheit verkörpert. Die Entdeckung des Körpers ist an die Entdeckung des Volkes gebunden. Doch diese Eigentümlichkeit führt zu einem letzten Punkt, der für diesen Roman charakteristisch ist. Das Schema der leidenschaftlichen Mesalliance wird ja in der Folge immer wieder variiert werden, sei es in dem Motivbereich des edlen Wilden - Liebe zu einem einfachen Mädchen, wie in der Grecque moderne und noch im Atala von Chateaubriand -, sei es im Kontext bürgerlicher Sozialromaneske - Liebe eines bürgerlichen Helden zu einem Bauern- und Arbeitermädchen, wie in Graziella von Lamartine. Die angedeutete Sittenlosigkeit Manons legt aber besonders die Affinität zu dem späteren Motiv der edlen Dirne nahe, mit dem der Prévostsche Roman ja am Schluss auch die Bekehrung und den erbaulichen Sühnetod der Heldin gemein hat. Hans-Jörg Neuschäfer 279 hat die ideologischen Mechanismen am 279 Hans-Jörg Neuschäfer, Populärromane im 19. Jahrhundert, München, Fink UTB 1976, S. 55-102, sowie ders., „Mit Rücksicht auf das Publikum. Probleme der Kommunikation und 146 Beispiel des Romans La dame aux camélias von Alexandre Dumas fils untersucht. Der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts endet nun mit dem erbaulichen Verzicht und Tod der nicht standesgemäßen Heldin und dem Sieg des Vaters, der den verlorenen Sohn wieder heimholt. Der Roman Prévosts verzichtet dagegen auf solche Anpassung und legt - eingedenk der Perspektive des Helden - eine kritische Lektüre nahe. Die scheinbare Undurchschaubarkeit der Heldin verdeckt nämlich nicht ganz den banalen Zusammenhang, dass diese zugleich die Undurchschaubarkeit des populären Milieus repräsentiert, das besonders von ihrem gewissenlosen Bruder deutlich gemacht wird. Anders als im bürgerlichen Populärroman lässt sich ja nicht übersehen, dass wir es eigentlich mit einem beinahe pikaresken Roman zu tun haben, freilich einer Pikareske, die der Held in seiner Gefühlsverblendung nicht sehen und zugeben will. Das Pathos der Leidenschaft und der guten Absichten steht so unvermittelt neben den dubiosen Praktiken, in die sich der Held schließlich hineinziehen lässt und die natürlich nichts mit Gefühl, dafür aber viel Geld zu tun haben. Dies ist zugleich das radikal Neue bei Prévost: dass der psychologische Roman auch ein Roman des Geldes und die Frage von Gefühl oder Pikareske nurmehr ein Frage der Perspektive bzw. des Registers ist. Erst in der neuen Generation der Söhne erhält das Geld einen zentralen Stellenwert. Manon kann nur durch Geld existieren, und ihre Liebe erscheint von bestimmten materiellen Bedingungen abhängig. Aus ihrer Sicht, die wir freilich nicht erfahren, kann schlechterdings nicht von Schicksal im oben genannten Sinn die Rede sein. Sie ist eher eine Nachkommin der weiblichen pikaresken Gestalten des 16. und 17. Jahrhunderts und könnte entfernt z. B. mit einer Moll Flanders bei Defoe verglichen werden - entfernt, weil sie die Liebe des Helden in einen rosigen Schimmer taucht, der gerade recht für spätbürgerliche Opernpathetik eines Puccini erschien. Manons Liebe ist also ein Mittel zum Aufstieg der unteren Schichten und die Alternative zum Kloster; ihre Gestalt, schreibt Erich Köhler, „erscheint wie die Inkarnation des Drangs, sich dem fatalen Zufall ihrer niedrigen Geburt durch die Ausnutzung aller Chancen des Zufalls zu entziehen“. 280 Und dass der Zufall gerade dem niedrig Stehenden hold ist, haben wir ja schon im Gil Blas gesehen. Mit Köhler „Manon ist die restlos in Kunst übersetzte Zusammenfassung der wesentlichen Grundzüge der gesellschaftlichen Epoche, in der sie geschaffen wurde.“ 281 Sie ist die Frau als Ware, die dem in traditionalen Kategorien befan- Herstellung von Konsens in der Unterhaltungsliteratur, dargestellt am Beispiel der Kameliendame“, in: Poetica 4 (1971), S. 478-514. 280 Erich Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München, Fink 1973, S. 273. Zur Rolle des Geldes siehe auch E. Köhler, „Der Abbé Prévost und seine Manon Lescaut“, in: ders., Esprit und arkadische Freiheit, Frankfurt/ M., Athenäum 1972, S. 158-176. 281 Ebd., S. 276. 147 genen Helden aus konservativem Magistratsadel nur als negativ-religiöses Phänomen erscheinen kann. Ihre Undurchschaubarkeit lässt sich mithin ideologiekritisch als Ausdruck undurchschauter gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen interpretieren - undurchschaut auf der Ebene des Helden, z. T. und widersprüchlich auch von seiten des Autors selbst, dessen Schicksalspathos den sozialen Hintergrund verschleiert. Letzteres reduziert sich auf eine aus den Fugen geratene Welt der Glücksritter, des aufsteigenden Geldbürgertums und des libertinistischen Adels; in ihr ist das alte Magistratsbürgertum latent vom Abstieg bedroht, während die Heldin aus dem Volk Bedrohung und Opfer zugleich darstellt. Letztlich bleibt das Geheimnis Manon aber offen, so wie auch die Sozialgeschichte offen bleibt. Im Erzählvorgang begegnen sich ja die beiden Opfer des Schicksals, der Chevalier und der Marquis, und bestärken sich mitfühlend in ihrer Trauerarbeit. Die doppelte Ebene und doppelte Lesart des Romans verweist auf die ideologische Unentschiedenheit des Autors. Schließen wir mit dem Urteil Peter Bürgers: „Als ein epochales Kunstwerk erweist sich Manon Lescaut dadurch, dass der Roman nicht nur das verzerrte Selbstverständnis der gesellschaftlichen Klasse spiegelt, an die er sich wendet, sondern darüber hinaus aufgrund der ihm eigenen Ambiguität Elemente enthält, die dem späteren Betrachter eine Kritik dieses Selbstverständnisses erlauben.“ 282 Nicht ein „Klassiker des Kitsches“ wie Jürgen von Stackelberg 283 meint, sondern ein erster faszinierender Versuch, den eigenen Tagtraum mit gesellschaftlicher Kritik zu verbinden. In der Lektüre der Mémoires d’un homme de qualité will Monsieur Cleveland, wie der Autor in der Préface zu seinem Roman bemerkt, den Anstoß gefunden haben, die Memoiren seines Vaters dem Autor Prévost als Übersetzer anzuvertrauen. Tatsächlich gelingt es in Le Philosophe anglais ou Histoire de Monsieur Cleveland (1731-1738), 284 nach Michel Gilot der einzige bedeutsame roman philosophique 285 , der noch Candide beeinflusst haben soll, wesentliche Prévostsche Themen zu bündeln und einer philosophisch religiösen Reflexion unterzuordnen, nicht ohne zugleich den Horror der schicksalhaften Verstrickungen beträchtlich zu steigern. Vater- und Providenzproblem gehen Hand in Hand. Cleveland, ein unehelicher Sohn Cromwells, muss sich vor dem grausamen Vater mit der Mutter, einer Cleveland, in einer Höhle verstecken und wird nach deren Tod von einem Lord Axminster gerettet, der selbst als unbotmäßiger Sohn die Tochter des spanischen 282 Peter Bürger, Studien zur französischen Frühaufklärung, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1972, S. 93. 283 Jürgen von Stackelberg, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München, Beck 1970, S. 326. 284 Zitate nach Œuvres…, Bd. II. 285 Michel Gilot, „Cleveland et Jacques le Fataliste“, in: Cahiers Prévost d’Exiles 1 (1984), S. 73-83. 148 Gouverneurs von Kuba entführt hatte und sich in England in ein grauenvolles Eifersuchtsdrama verwickeln ließ. Er muss sich wie jener in dem Höhlenlabyrinth von Rumney Hole verstecken und spielt nun die Rolle des Mentors und Ersatzvaters im Homme de qualité. Seine Tochter Fanny - „la maîtresse de mon âme“ (S. 82) - verheißt das Ende des Unglücks, doch wie immer bei Prévost: „tout cet édifice de tranquillité et de bonheur était un vain fantôme“ (S. 83). Der junge Held, der den legitimistischen Großvater Cleveland im französischen Exil besucht, um Fanny zur Frau zu nehmen, gerät in eine Intrige: „Der ‚väterliche‘ Hort entpuppt sich demnach als monströse Falle, die väterliche Liebe als trügerische Selbstsucht“, wie Behrens 286 kommentiert. Prévost radikalisiert also die bisherigen Vorgaben. Der Held sieht sich von zwei bösen Vaterinstanzen verfolgt, und die eigentliche Handlung des 15 Bücher umfassenden Romans besteht für ihn darin, diesen Fluch der Vergangenheit zu überwinden. Die Suche nach Fanny führt ihn nach Amerika, wo er nach dem Muster der aufklärerischen Reiseutopien als Häuptling der Abaqui-Indianer Reformen durchführt und mit Fanny einen Neuanfang versucht. Seine eigene Untreue und die Flucht Fannys mit einem Abenteurer zerstören das Glück, auch wenn die Heldin später wieder auftauchen wird. Freilich hat Cleveland, wie er erst zu spät begreift, durch sein mehrdeutiges Verhalten zu dieser „fatalen Leidenschaft“ beigetragen: Er wahrte nicht die nötige Distanz zu Mme Lallin, die ihm zur Flucht verholfen hatte und mit ihm geflohen war, und er entgeht nur knapp einer inzenstuösen Neigung zu der jungen Cécile, die in Wahrheit seine Tochter ist. All die schicksalhaften Verknotungen, bei deren Peripetien der Autor nicht vor hochromanesken Lösungen zurückschreckt, werden noch weitaus deutlicher als in den Mémoires von der „Wucherung providentialistischer Deutungsmuster“ 287 überwölbt, bevor der Held nach langen religiösen Diskussionen den natürlichen Rationalismus seiner Jugend aufgibt und in den Schoß der Rechtgläubigkeit zurückkehrt. Nirgends wird die schon in Manon Lescaut auffällige Technik der Innozentierung schuldhaften Verhaltens deutlicher als in diesem Roman der Ambiguität, dessen „egozentrischem“ Ich-Erzähler Behrens einen „atemberaubenden Narzissmus“ attestiert. 288 Emphatische Rhetorik verhindert jede psychologische Erklärung schon im Ansatz. Bei der Wiedervereinigung mit Fanny heißt es z. B.: „nous admirâmes par quel enchaînement de merveilles le ciel avait pris plaisir à ménager notre sort. Que d’obscurité dans les lumières des hommes! Quelle témérité dans leurs jugements! “ (S. 516) Und weiter: „Ne nous condamnons pas trop sévèrement, repris-je, et n’ayons pas pour nous-mêmes plus de rigueur que le ciel, qui rend enfin justice à l’innocence 286 R. Behrens, a. a. O., S. 283. 287 R. Behrens, a. a. O., S. 289. 288 Ebd., S. 293 und S. 295. 149 de nos vues et de nos sentiments.“ (S. 517) Scheinbar unbescholten - „mon cœur n’avait jamais eu de reproches à se faire“ (S. 517) - geht der Held, der auch als Vater nie ganz die Sohnesrolle ablegt, aus allen Schicksalsschlägen hervor und zögert nicht, sich im letzten Teil des Romans in neue Ambiguitäten verwickeln zu lassen. Die „Uneindeutigkeit des subjektiven Erzähldiskurses“, der nach Behrens zu einem „Entzug normativer Orientierung“ führt 289 , ist aber zugleich die Uneindeutigkeit des versuchten Ausbruchs aus väterlicher Gewalt. Der verlorene Sohn, der zum Opfer seiner sensibilité wird, demonstriert den Bankrott der Emanzipationsbemühungen, deren Hilflosigkeit der von Behrens als bricolage 290 charakterisierten Sammlung von teleologischen Erklärungsmodellen zum Ausdruck kommt. Der Sohn bezahlt einmal mehr das Herausfallen aus der väterlichen Ordnung mit unaufhebbarer Orientierungslosigkeit, denn auch die Rückkehr in den Schoß der Kirche steht in bitter ironischem Gegensatz zu dem trostlosen Ende des Romans, der auf jeden stimmigen Ausklang verzichtet. Noch einmal mit Behrens, der das Ende der optimistischen Frühaufklärung konstatiert: „Der Rationalismus der optimistischen Weltdeutung treibt die Gegenbilder von rastloser inquiétude hervor und überantwortet das Subjekt den Fährnissen durch unkontrollierbare imagination, passion und radikale Glückssuche.“ 291 Der Roman spiegelt mithin bis in die hilflose Perspektive des Helden hinein die labyrinthische Lebenssicht, 292 die nach Jean Sgard die eigentliche Originalität des Autors ausmacht. Die Begegnung des vom ‚natürlichen‘ Vater verstoßenen jugendlichen Helden mit Lord Axminster in der Höhle von Rumney Hole, ein vorweggenommenes Stück Schauerromantik, konnte daher von Sgard zu Recht als „une mise en abîme du roman tout entier“ 293 gedeutet werden. Die Mutter, die sich mit dem Jungen vor den Nachstellungen Cromwells in diese Höhle geflüchtet hat, ist tot, und der junge Held irrt richtungslos durch die labyrinthische Dunkelheit der Höhle, als er in der Ferne eine Gestalt erblickt. Es ist, wie man später erfährt, Axminster, der sich mit der sterbenden Frau und der Tochter ebenfalls in das Labyrinth geflüchtet hat. Merkwürdigerweise wartet er lange Zeit, bevor er sich dem hilflos dialogisierenden Jungen zu erkennen gibt und ihn aus seinen Ängsten erlöst. Die onirische Szene, bei der sicherlich das Platonsche Höhlengleichnis (Paideia) Pate gestanden hat, steht mithin emblematisch für fehlende Erkenntnis und Verwirrung. Hans Blumenberg 294 hat in seiner Mythographie der Höhlensymbolik auch auf die religiöse Symbolik der Höhle als Geburts- 289 Ebd., S. 297. 290 Ebd. 291 Ebd., S. 297 f. 292 Behrens , ebd., S. 289, spricht von „schwindelerregender Positionslosigkeit“. 293 Jean Sgard, a. a. O., S. 52. Es geht um Buch I. 294 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/ M., Suhrkamp TB 1996, S. 39 ff. 150 ort des verborgenen Gottes aufmerksam gemacht. Prévost übernimmt die platonische Thematik des nur schattenhaften Erkennens und der fehlenden Erkenntnis der Wahrheit, fügt aber in der Gestalt Axminsters zugleich die Figur eines gebrochenen, selbst durch Schuld kontaminierten Erlösers hinzu, der keine reine Erkenntnis verbürgen kann, sondern auch selbst an der labyrinthischen Lebenserfahrung teil hat, die Blumenberg am Beispiel von Leibniz mit der Formel „Aus der Traumhöhle ins Labyrinth“ 295 beschreibt. Es geht also um eine nicht gelungene Initiation, die im Gegensatz zu einem berühmten früheren Szenario steht, welches das Heraustreten eines jugendlichen Helden ans Licht der Erkenntnis beschreibt: In dem barocken Erziehungsroman El Criticón wird der schiffbrüchige Philosoph Critilo von Andrenio gerettet, der sich eben während eines Erdbebens aus seiner Höhle (Geburtshöhle! ) geflüchtet hat, in der er von Tieren großgezogen worden war. Symbolisch tritt er aus dem Reich der Natur und Animalität an das Licht der Erkenntnis und lernt mit Critilos Hilfe die irdischen Wunder als Manifestationen Gottes zu deuten. 296 Prévosts jugendlicher Held dagegen wird erst spät ein Opfer der Höhle und regrediert gleichsam in seiner Entwicklung. Im entscheidenden Alter der Selbstbewusstwerdung markiert die Höhle die Unausweichlichkeit der Regression und der Verwirrung. Der Ort der Zuflucht vor dem ‚bösen Vater‘ und der Initiation durch den Vaterersatz ist zugleich das Symbol der verlorenen Orientierung. Denn anstatt Licht und Erkenntnis zu verbreiten, sorgt die Lebensbeichte des Ersatzvaters nur für eine gleichsam vorweggenommene Doppelung und Spiegelung der Haupthandlung, deren Verwirrungen mit dem Heraustreten aus der Höhle verbunden sein werden. 295 Ebd., S. 465 ff. 296 Baltasar Gracián, Criticón oder Über die allgemeinen Laster des Menschen, Hamburg, Rowohlt 1957, übers. von Hanns Studniczka. 151 VII. Crébillon fils und Duclos: Negativer Entwicklungsroman oder mondäne Emanzipation? Nur wenig später als Marivaux und etwa gleichzeitig mit Prévost, Duclos oder Voisenon setzt Crébillon fils da an, wo Marivaux aufhört. Ohne den Glauben an Spontaneität und Güte, der noch bei Marivaux zu finden ist, entmystifiziert er das menschliche Herz und zeigt dessen Verführbarkeit, in dem Dreiklang von songe, illusion und égarement 297 , mit dem er sensualistische Theoreme in die Romanform überführt. Seine Analysen der „égarements du cœur et de l’esprit“ begründen den moralistischen Diskurs 298 des libertinistischen Beobachters, 299 der sich aus allen familiären Bindungen befreit hat. Das Spiel des „diable boiteux“ von Lesage ist hier eingelagert in den geschlossenen Raum der mondanité 300 , der als experimenteller Raum der Beobachtung fungiert und die neue Autonomie des libertinistischen Milieus spiegelt. Als Sohn des angesehenen Dramatikers und Tragödiendichters Prosper Jolyot de Crébillon und als Enkel eines königlichen Notars 1707 in Paris geboren, vertritt Claude Prosper Jolyot de Crébillon als Romancier seit den 30er Jahren das sog. lizensiöse Genre und macht sich als Skandalautor einen Namen. Er ist Gründungsmitglied des libertinistischen Clubs Le Caveau. Nach der Liebesheirat mit einer schottischen Adligen (gegen den Willen der Familie) verkehrt er nicht in der Salongesellschaft, sondern in solchen Clubs. Crébillon fils ist seit seiner ersten Veröffentlichung von Le Sylphe mit 23 Jahren ein Außenseiter, der sich erstmals als unabhängiger Literat durchschlägt und erst spät, 1759, also mit über 50 Jahren - auf Betreiben von Mme de Pompadour - ein Auskommen als Censeur royal erreicht und durch die Freundschaft mit Voltaire und den philosophes eine gewisse Anerkennung erfährt. Doch schon 1762 spricht Diderot von einem „auteur menacé de survivre à sa réputation“, und der Engländer Horace Walpole notiert 1765 in Paris: „Crébillon is entirely out of fashion“. Freilich erscheint noch elf Jahre nach dem Tod des Autors 1777 ein Roman mit dem Titel Le Comte de Saint- Méran ou les nouveaux égarements du coeur et de l’esprit (von De Maimieux). Crébillon hat im Übrigen in England Sterne, Fielding, Chesterfield, 297 Vgl. den Sammelband Songe, illusion, égarement dans les romans de Crébillon, sous la direction de Jean Sgard, Grenoble, Ellug 1996. 298 Hans-Günter Funke, Crébillon fils als Moralist und Gesellschaftskritiker, Heidelberg, Winter 1972. 299 Carole Dornier, Le discours de maîtrise du libertin. Etude sur l’œuvre de Crébillon fils, Paris, Klincksieck, 1994. 300 Peter Brooks, The Novel of Wordliness. Crébillon, Marivaux, Laclos, Stendhal, Princeton, University Press 1969. 152 Gray u.a., in Deutschland besonders Lichtenberg und Wieland beeinflusst und wurde erst im 19. Jahrhundert weitgehend vergessen. Der Autor, der die psychologische Erzählkunst maßgeblich geprägt hat, vertritt eine experimentelle Psychologie. Jenseits von jedem Tugendoptimismus ist der Mensch definiert als verführbares und korrumpierbares Wesen. Erwachsenwerden heißt daher die Unschuld verlieren und in das allgemein gesellschaftliche Spiel aus Heuchelei, Selbstbetrug und zynischem Wissen eingeführt werden. Neben cœur und esprit entdeckt Crébillon den corps, die Sinnlichkeit, die bei Marivaux nur indirekt angedeutet wurde. Und mit der Sinnlichkeit auch die Instinkthaftigkeit, die für das Ich weniger beherrschbar ist als für den klugen Beobachter. Daraus folgt das grundlegende Schema der Verführung, mit deren psychologischer Dialektik der Autor dem Schema der jugendlichen Initiation einen bislang vernachlässigten Aspekt hinzufügt und den libertinistischen Roman bis Laclos und de Sade entscheidend geprägt hat. Das Thema der „mauvaise éducation“, das Michèle Bokobza-Kahan 301 ins Zentrum ihrer Libertinismus-Studie gestellt hat, verweist auf die Paradoxie einer wissenden Überlegenheit, die gerade nicht auf der Entdeckung des être sensible (wie bei Marivaux) gründet: „Une peur de la dépossession de soi semble aussi hanter le discours libertin contre l’amour.“ 302 Fremdbeobachtung speist sich aus Eigenbeobachtung, Fremdbeherrschung aus Eigenbeherrschung, „une part d’introspective et d’auto-critique continuelle“ 303 . Daraus ergibt sich eine Fatalität eigener Art: Liebe erscheint weniger als Gefühl denn als Gesamtheit berechenbarer Mechanismen im Rahmen eines Machtverhältnisses. Psychologie ist Wissen und Waffe. Hierzu nötig ist der enge Raum der libertinistischen mondanité, für die die Außenwelt nicht existiert. Für Crébillon bleibt der bonheur pur unerreichbar bzw. besteht nur in der nostalgischen Rückschau auf die verlorene Unschuld. Personen leben in der geschlossenen Welt der sog. Gesellschaft. Die Erzählungen und Romane können mithin als Nachzeichnung eines psycho-physiologischen Experiments im geschlossenen Raum charakterisiert werden. Die Personen sind nicht eigentlich individuelle Charaktere, sondern gesellschaftliche Typen, die psychologische Mechanismen veranschaulichen. Nicht individuelle Problematik (wie bei Marivaux) oder gar individuelle Tragik (wie bei Prévost), sondern repräsentatives Funktionieren der gesellschaftlichen Regeln stehen im Vordergrund. Horst Wagner spricht von „algebraisch-psychologischen Problemaufgaben“ und „Lösungen“. 304 301 Michèle Bokobza-Kahan, Libertinage et folie dans le roman du XXIII e siècle, Leuven, Peeters 2000, S. 27-55. 302 Ebd., S. 120. 303 Ebd., S. 137. 304 Hierzu H. Wagner, Crébillon fils. Die erzählerische Struktur seines Werkes, München, Fink 1972, S. 79. 153 Dies setzt kühle Beobachtung unter Ausschluss jeder Tragik oder Sentimentalität voraus. Von daher die Belanglosigkeit des äußeren Dekors - es gibt keinen räumlichen Detailrealismus - und die klassisch-intellektuelle Sprache, die der moralistischen Tradition verpflichtet bleibt. Im Gegensatz zu einem gängigen Vorurteil sind die ‚sinnlichen‘ Werke in stilistischer Hinsicht absolut unsinnlich. Der Skandalerfolg Le Sopha, der noch Les Bijoux indiscrets von Diderot beeinflussen sollte, macht dies durch den Kontrast zwischen den auf schlüpfrig pikante Details erpichten, trottligen Sultan und der ständig reflektierenden, abschweifenden und witzig distanzierten Erzählerin deutlich. Eine zentrale Rolle spielen die Zweierbeziehung und der Dialog bzw. die Reflexion. Gesellschaftliche Konversation ist nur ein Sonderfall des Verführungsdialogs: Sprache fungiert als Verführungs- und Unterwerfungsinstrument, als Waffe und Werkzeug der Entlarvung, aber auch der Selbstentlarvung einer Gesellschaftsschicht, die der Autor seziert. Statt der Marivaux’schen Perspektive des Aufstiegs und des Dazugehörens geht es um eine im Ansatz bereits radikalisierende Aufklärungsposition, in der erstmals die junge Generation in Wissende und nicht-Wissende, Täter und Opfer gespalten wird. Vielleicht könnte man von einem Generationssprung sprechen, wenn man die Geburtsdaten vergleicht. Le Sylphe (1729) begründet den Typus des Dialogromans: Das kommentierende und lenkende Erzählen ist ersetzt durch die unmittelbare Gesprächssituation zwischen einer Frau und ihrem Verführer. Die Gefühle entlarven sich so selbst, es entsteht ein Schwebezustand zwischen sincérité und Lüge, ohne dass der Autor Stellung bezieht. Coulet hat diese Unentschiedenheit als grundsätzliche Haltung des Moralisten Crébillon gedeutet. Die Idealform des Dialogs ist mithin - logischerweise - der dialogische Briefroman. In den Lettres de la Marquise de M. au comte de R. (1732) ist die psychologische Entwicklung mit dem Bewusstsein der Briefschreiberin identisch; es geht um eine tugendhafte Marquise, die mit einem ihr unangenehmen Gatten verheiratet, dem Werben eines Mannes ausgesetzt ist. Crébillon greift dabei auf die Frühform des einstimmigen Briefromans im Stil von Guilleragues Lettres portugaises zurück. 305 Der Leser wird dabei Zeuge, wie der anfangs tugendstrenge Ton allmählich weicher, dann flehend wird, bis sich nach dem „aveu“ die Fronten verkehren und die Heldin um Liebe bittet: „Avec tant d’amour, mérité-je tant d’indifférence? “ (S. 177) Der Roman endet mit der Klage der verlassenen Frau und einer düsteren Todesdrohung. Auch hier geht es um einen experimentellen Diskurs, das Spiel der Pseudorationalisierung der Tugendposition bis zum schließlichen Verlust der Selbstkontrolle. Noch im Spätwerk wird Crébillon zu dieser Idealform des Briefromans zurückkehren. Beispiele sind die Lettres de la duchesse de ... au duc 305 Crébillon fils, Lettres de la Marquise de M. au Comte de R., éd. par Jean Dagne, Paris, Déjonquères 1990. 154 de … (1760) und die Lettres athéniennes (1771) um den Verführer Alkibiades, in denen erstmals ein ödipaler Konflikt im Freudschen Sinn explizit durchgespielt wird. Der Skandalroman Le Sopha (1742) besteht aus Einzelgeschichten, die wiederum im wesentlichen aus Verführungsdialogen bestehen: eine brutale Entmystifizierung der Liebe aus der Erinnerungsperspektive des Sofas selbst. Selbst der autobiographische Memoirenroman Les Egarements du cœur et de l’esprit ou Mémoires de M. de Meilcour (1736) enthält (nach Wagner) über 50% Konversation und berichtete Rede. Eine ähnliche Tendenz weisen auch La Nuit et le moment. Dialogue (1755) und Le Hasard du coin de feu, dialogue moral (1763) auf. Les Egarements du coeur et de l’esprit 306 nehmen in der Romandiskussion der 30er Jahre eine zentrale Stellung ein. Wichtig ist die Préface mit ihrer programmatischen Definition des Romans als „le tableau de la vie humaine“, d. h. wie bei Marivaux besteht eine Analogie zwischen Roman und Komödie. Der Roman fungiert als kritisch aufklärerisches Instrument der Durchdringung des alltäglichen Lebens und verzichtet daher auf alle romanesken und exotischen Elemente: „l’homme enfin verrait l’homme tel qu’il est“. Das impliziert natürlich auch die Absage an jede idealisierende Tendenz. Das Argument der Lebensechtheit bezieht sich auf den Leser, der bei der Lektüre seine eigenen Erfahrungen wiederfinden soll. Das heißt, auch der Roman ist „l’histoire de la vie privée, des travers et des retours d’un homme de condition“. Welche Bedeutung der Autor selbst seinem Memoirenroman beimaß, zeigt dessen Fortentwicklung in dem autobiographischen Memoirenroman Les Egarements du cœur et de l’esprit ou Mémoires de M. de Meilcour von 1736. 307 Les Egarements folgt dem Schema des Erziehungsroman mit den Stufen „ignorance“ „premières amours“, „désillusion“, usw. Crébillon entwirft das Porträt eines „homme plein de fausses idées, et pétri de ridicules“, der am Ende durch den Einfluss einer „femme estimable“ zu sich selbst kommt. Die Tatsache, dass der Roman unabgeschlossen ist, 308 erlaubt kein Urteil darüber, ob das Fehlen des moralischen Schlusses gewollt oder zufällig ist. Angesichts der ironischen Perspektive des Autors bleibt freilich offen, ob diese conversion echt ist. 306 Zitate nach Claude Crébillon, Les Egarements du cœur et de l’esprit, éd. par René Etiemble, Paris, Colin 1961 (Bibliothèque de Cluny). Vgl. hierzu den Sammelband von Pierre Rétat (Hrsg.), Les Paradoxes du romancier. Les Egarements de Crébillon, Grenoble, PUG 1975 (Neuaufl. PUL 1995); Jean Dagen, Introduction à la sophistique amoureuse dans „Les Egarements du cœur et de l’esprit“ de Crébillon fils, Paris, Champion 1995, sowie Teil III des Sammelbandes von Jean Sgard (Hrsg.), Songe, illusion, égarement, S. 203 ff. 307 Vgl. hierzu Carola Dornier (Hrsg.), Les Mémoires d’un désenchanté. Crébillon fils, Les Egarements du cœur et de l’esprit, Orléans, Paradigme 1995. 308 Vgl. Henri Coulet, „Les Egarements du cœur et de l’esprit, roman inachevé? “, in: Songe, illusion, égarement, S. 245-256. 155 „J’entrai dans le monde à dix-sept ans“, lautet der programmatische erste Satz. Das erinnert an die Helden von Lesage und Marivaux, doch gibt es hier keine gesellschaftlichen Probleme; der Held hat Vermögen und einen angesehenen Namen. Daraus folgt, dass das Thema nicht das pikareske Sichdurchsetzen ist, sondern die Unmöglichkeit des Sichbewahrens: Sinnlichkeit, Verlangen nach Selbstbestätigung und Selbstbewusstwerdung schaffen das Bewusstsein der unentwirrbaren Verstrickung und Problematik der eigenen Gefühle. Der „ennui intérieur“ gebiert „l’idée du plaisir“, aber erst aus der misslungenen Glückssuche entsteht eine neue Bewusstheit. Crébillon schildert das Erziehungsproblem in einem funktionslosen Stand, in dem der „dangereux loisir“ eine „imagination ardente“ nach sich zieht. Die Suche nach Glück ist auch Flucht vor der Leere. Witzigung, déniaisement, heißt hier nur noch sich selbst erfahren und seine éducation sentimentale durchmachen. Dies ist zunächst die Aufgabe der älteren und erfahrenen Madame de Lursay, die die „disposition à la tendresse“ des jungen Protagonisten bemerkt und erwidert und sich seiner „éducation“ widmet: „elle avait éprouvé plus d’une fois que ma stupidité semblait augmenter par tout ce qu’elle faisait pour me dessiller les yeux …“ (S. 17) Doch die scheinbar einfache Konstellation wird dadurch komplexer, dass die Heldin die Rolle einer verführten Verführerin spielt. Die „fausse prude“ und „libertine“ ist in den Augen des unerfahrenen Helden eine tugendhafte, fast mütterliche Frau, der er sich beinahe erklärt („déterminé à lui jurer que je l’adorais“, S. 31), als bei einem Theaterbesuch der Anblick eines jungen Mädchens, Hortense de Théville, zum coup de foudre wird. Dies scheint auf einen Gegensatz zwischen gesellschaftlicher und schicksalhafter Liebe hinzudeuten: „cette passion naissait dans mon cœur par un de ces coups de surprise qui caractérisent dans les romans les grandes aventures.“ (S. 35) Der Satz klingt nach dem Schicksalspathos bei Prévost, doch der Crébillonsche Roman zeigt ja gerade die nicht-romanhafte Seite des Lebens und schließt das „große Abenteuer“ aus. An dessen Stelle tritt das Gegenteil des Abenteuers, ein endloser désordre, Schwanken, Unentschiedenheit und fehlerhafte Reaktionen. In seinem eingangs schon genannten Buch Das Subjekt der Moderne, 309 das Mentalitätsgeschichte und literarische Entwicklung zwischen Spätaufklärung und Aufklärung untersucht, geht es Hans Sanders vor allem um die Entstehung „moderner Sittlichkeit“: Das sog. „tiefe Subjekt“ fällt aus der „traditionalen Einhegung des Subjekts“ (im klassischen Zeitalter) heraus und konstituiert sich als autonom. Suche, Erfahrung und Experiment treten an die Stelle herkömmlicher Grundmuster „einer Orientierung am Gelten- Sollenden“, die Untersuchung des Negativen an die Stelle der „Ausgrenzung 309 Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen, Niemeyer 1987 (Mimesis, 1). 156 des Negativen“ (S. 6). Die klassische „Überhöhungskultur“ (S. 6) verliert an Geltung in dem Maße, wie die Suche nach einer jeweils eigenen, individuellen „Identität“ einheitliche Normvorstellungen außer Kraft setzt. Es ist klar, dass dem Roman als fiktionaler Konstruktion von Wirklichkeit und Erprobung von Handlungsweisen in diesem mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtlichen Wandel eine zunehmende Bedeutung zukommt. Denn gerade als noch nicht genormte Gattung kann der Roman nicht-normiertes Verhalten zum Thema machen: das Verhältnis von „tiefem Subjekt“ und einer nicht vorab normierten, tendenziell undurchschaubaren Wirklichkeit wird der eigentliche Gegenstand romanesken Schreibens. „La dupe et l’impénétrable“ überschreibt Sanders seine Ausführungen zum Roman der Frühaufklärung. Die mentalitätsgeschichtliche Fragestellung von Sanders 310 erweitert und ergänzt wissenssoziologische und systemtheoretische Ansätze der 70er Jahre, 311 die schon anlässlich der Lettres persanes gestreift worden waren. Der Übergang von einer statisch-vertikalen und stratifikatorischen zu einer dynamischen, funktionsteiligen Ordnung hat nämlich zur Folge, dass das Ich sich nicht mehr in einer hierarchischen Sozialordnung ,zu Hause‘ fühlen kann; es gehört jetzt tendenziell zu mehreren „Teilsystemen“, wird horizontal vernetzt und relativiert. Das berühmte Aufsteigermuster des frühaufklärerischen Romans zeigt den Anfang dieses Prozesses der ,Unbehaustheit‘ in einem prinzipiell offenen Gesellschaftssystem, dessen noch vorhandene ständische Ordnung löchrig wird. So kann der ‚pikareske‘ Held gleichsam verschiedene Identitäten ,ausprobieren‘ und von Teilsystem zu Teilsystem gleiten, ohne sich viel um eine nurmehr fassadenhafte Ordnung zu kümmern. Im psychologischen Roman Crébillons wird dagegen die Unbehaustheit in dieser bröckelnden Ordnung selbst thematisiert, während die fehlende Identität des Helden die Voraussetzung der Intrige bildet. Letztere kreist um die klassische Dreieckssituation, aus der eine Kette von Missverständnissen resultiert, da Mme de Lursay zunächst ahnungslos bleibt und ihre Strategie weiterbetreibt. Vergeblich versucht indessen der Protagonist, mit der fernen Geliebten Bekanntschaft zu schließen; von ihrer Zuneigung weiß er, da er ein Gespräch in den Tuilerien belauscht hat. Als aber Mme de Lursay seinen neuen Zustand bemerkt, zögert sie nicht, das psychologische Potential für ihre eigenen Verführungsversuche einzusetzen: „dans ce dangereux moment, elle profita de tout l’amour que j’avais pour mon inconnue.“ (S. 59) Als „femme sensible, qui consentait à le paraître“ (S. 58), spielt sie eine vollendete Theaterszene der „tendresse“ und „volupté“ (S. 61), um seine Verliebtheit für sich auszunützen. Umgekehrt scheint aber ge- 310 Vgl. Th. Berger und Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/ M., 1972 2 . 311 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 3 Bde., Frankfurt/ M., Suhrkamp 1980-89. 157 rade diese theatralische Überhöhung den Helden in eine zärtliche Unterwerfungspose hineinzuzwingen, die ihn daran hindert, die erwartete Verführung zuende zu bringen. Die Handlung erreicht eine neue Stufe mit dem Auftreten des weltgewandten, mephistophelischen Versac, der dem Helden die Augen öffnet. Sein gesellschaftliches Credo lautet: „Le cœur et l’esprit sont forcés de s’y gâter.“ Doch Meilcour lernt nur langsam. Sein erster Versuch, Mme de Lursay verächtlich gegenüberzutreten und sie zu strafen, endet kläglich, und bei einer Begegnung mit Hortense stellt die erfahrene Frau ihre Macht unter Beweis. Und während Meilcour noch Angst hat, dass Hortense durch Versac verführt werden könnte, ist er selbst bereits im Begriff, das Opfer der sinnlichen Mme de Sénanges zu werden. Er schwankt jetzt unentschieden zwischen drei Frauen, und als es zum Bruch zwischen Mme de Lursay und Mme de Sénanges kommt, wird er vor eine gesellschaftliche Entscheidung gestellt, der er sich nicht gewachsen fühlt: „je ne savais pas encore à quel projet je devais m’arrêter...“ (S. 161) Nachdem er sich endlich doch von der mütterlichen Geliebten hat verführen lassen, drängt sich die Erinnerung an Hortense auf, die als idealer Gegenpol der nicht erreichbaren Reinheit und Eindeutigkeit fungiert: „Par quel enchantement me trouvais-je engagé avec une femme qu’aujourd’hui même je détestais? “ (S. 210) Eine Lösung seines Dilemmas wird der Held nicht finden. Denn auch die Ermahnung Versacs, sich an das heuchlerische Rollenspiel der Gesellschaft anzupassen, führt ihn nicht wirklich zu einer überlegenen Stellung. Die aufgezwungene Maske macht ihn nur umso anfälliger für weitere Verirrungen: „j’essayai de m’en distraire, et de perdre dans de nouveaux égarements un souvenir importun qui m’occupait malgré moi.“ (S. 212) „Die Grenze der Perspektive“, schreibt Sanders in seiner Untersuchung des modernen Subjektbegriffs, hängt mit der Unüberschreitbarkeit des ständischen Bewusstseins der Helden, Meilcours et Versacs zumal, zusammen.“ (S. 135) Fehlende Anpassung resultiert aus fehlender Aufklärung: „ce qu’on appelle l’usage du monde ne nous rendant plus éclairés que parce qu’il nous a plus corrompus.“ (S. 211) Meilcour und Versac repräsentieren diese beiden Möglichkeiten und Stufen. Nicht unähnlich dem Diable boiteux von Lesage erscheint Versac als eine Art Alter Ego des unerfahrenen Helden, aber als ein Double, dem die höhere Stufe der Erkenntnis schon zu erreichen gelungen ist. Das eigentliche Paradigma des Romans dürfte mithin nicht in der Opposition Echtheit, Herz, Gefühl/ Falschheit, Kalkül, Opportunismus liegen, sondern in jener von ignorance und savoir, und das heißt auch in dem Gegensatz von Opferrolle und überlegenem Handeln. Wo die sensibilité nicht bloße Maske ist, wie etwa bei Mme de Lursay, ist sie Voraussetzung für Selbstbetrug und situationsbedingte Überlistung des Ich: „Nous allons d’égarements en égarements sans le prévoir ni le sentir.“ (S. 53) Die lächerliche Rolle des nach dem Ideal suchenden Ich begründet auch die Unmöglichkeit dieses Ideals. Das Motiv der inneren Leere, welches den Roman ein- 158 leitet und abschließt („je sentis du vide dans mon âme“, S. 210) dürfte nicht dazu bestimmt gewesen sein, den Lebenshorizont zu einem Gegenentwurf hin positiv zu öffnen. Und so reduziert sich das Problem der Liebe zu einem Problem der Selbstbestätigung und Selbstbehauptung, denn „il est plus sûr de subjuguer les autres, que de leur immoler sans cesse les intérêts de notre amour-propre.“ (S. 174) Angesichts dieses Befunds möchte man von einem negativen Entwicklungsroman sprechen. Und tatsächlich baut sich der Roman ja mangels einer tragfähigen Intrige als eine Reihe von Initiations- oder Belehrungssituationen auf, die jeweils eine lehrreiche Desillusion zum Ziel haben. „Das gesamte Repertoire der Figuren besteht aus negativen ,Erziehern‘,“ schreibt Sanders pointiert. 312 Die fehlende Vaterfigur wird durch fragwürdige väterliche Ersatzfiguren ausgeglichen. Gesellschaftliches Sein wird als Rollenspiel, Tugend und bienséance werden als Maske begriffen, so dass es nur darum gehen kann, den noch naiven Helden möglichst gründlich zu ,witzigen‘: „J’avais encore des principes de pudeur, ce goût pour la modestie, que l’on appelle dans le monde sottise et mauvaise honte: “ [...] (S. ? ) Insbesondere Versac nimmt neben den Frauengestalten die Rolle des Initiators ein und fungiert als Vertreter eines höheren Wissens, ohne das der Held hilflos den mondänen Angriffen ausgesetzt wäre. Nur minimal in die Handlung selbst integriert, ist Versac mithin nicht bloß das überlegene Double Meilcourts; er führt auch die Rolle eine Mentors im Télémaque weiter und weist auf die zahlreichen aufklärerischen Mystagogen voraus, die im Roman der Spätaufklärung die Rolle des wissend überlegenen Deuters einer undurchschaubar gewordenen Wirklichkeit übernehmen. Freilich in einem eher perversen oder pervertierten Sinn. Denn weder geht es um Aufklärung im philosophischen Wortverständnis, noch um moralische Belehrung, wie bei Fénelon. Im Gegenteil: Klassische Tugenden und Fähigkeiten wie pénétration, finesse und justesse werden wertfrei neu definiert, um die vollkommene Anpassung und damit Überlegenheit des sich Anpassenden zu bestimmen: „tendre avec la délicate, sensuel avec la volupteuse, galant avec la coquette“, „passionné sans sentiment, pleurer sans être attendri, tourmenter sans être jaloux; voilà tous les rôles que vous devez jouer, voilà ce que vous devez être.“ (S. 176) Mangelnde väterliche Autorität und Rollenspiel bedingen offensichtlich einander. Nun begründet gerade die genannte Stelle ja ein negatives Vollkommenheitsideal, das im Zeichen der mondanité an die Stelle möglicher positiver Werte tritt. Es ist darum nicht richtig, von einem Bildungsroman im bürgerlichen Sinn zu sprechen, denn wie in der positiven moralistischen Variante eines Fénelon dient die Erziehung dazu, bestimmte Tugenden bis zur Voll- 312 Sanders, a. a. O., S. 134. 159 kommenheit einzuüben. Darüber hinaus geht es weniger um wissendes Lernen und die Ausbildung eines eigenen Charakters als um die Fähigkeit, bestimmte Regeln zu durchschauen. Unser Held definiert sich von Anfang an als verführbares Wesen, das immer erst zu spät begreift, was ihm zugestoßen ist, und nur mühsam die gesellschaftlichen Spielregeln lernt. Wie die Geschlossenheit des gesellschaftlichen Handlungsraumes an einen experimentellen Raum erinnert, so trägt mithin auch der Held die Züge einer Versuchsperson, die mit der grundsätzlichen Undurchsichtigkeit des sozialen Umfelds konfrontiert wird und verschiedene Optionen „ausprobiert“. Romanstrukturell gesprochen erklärt dies nicht allein die Tatsache, dass der Roman unvollendet geblieben ist, sondern auch die repetitive und diskontinuierliche Gliederung der additiven Handlung, die zwar allmählich komplexer wird, aber letztlich offen bleibt. Auch in dieser Hinsicht ist der moderne Zeitbegriff also nur mit Einschränkungen gültig. Unter dem Titel Le héros inconstant hat Roger Mercier 313 die neue Form des „offenen Romans“ um und seit 1730 mit der Ablösung der sentimental höfischen Liebesauffassung und dem neuen Thema inconstance in Verbindung gebracht. Der libertinistisch-psychologische Roman verdanke seine „composition ,en collier de perles‘“ der Tatsache, dass die inconstance nur in einer Beispielreihung und in zeitlicher Erstreckung vorgeführt werden könne, andererseits aber eine psychologische Entwicklung eigentlich ausschließe. Da die Erringung des einzigen Liebesobjekts keinen ausschließlichen Stellenwert mehr hat und keine unverrückbare Ereigniskette und Intrige mehr erforderlich ist, wird das Schema der Initiation in die Mechanismen der mondänen Gesellschaft tatsächlich zur letzten möglichen strukturellen Klammer, die eine beliebige Auffüllung ermöglicht. Dies gilt schon für Marivaux, und es gilt offensichtlich noch deutlicher für Crébillon, der darüber hinaus den romangeschichtlichen und wohl auch mentalitätsgeschichtlichen Umbruch implizit mit thematisiert. Denn einmal ist Meilcour ja eben kein Aufsteiger mehr, sondern ein passiver adliger Held, und zum anderen muss er von seinen idealistischen und romanesken Vorurteilen geheilt werden. Sanders spricht von Bemächtigung statt Integration. Die mütterliche Erziehung ebenso wie die ideale Liebe zu Hortense bezeichnen den Gegenpol einer verlorenen Sittlichkeit und Authentizität, die uneinholbar erscheinen. Denn Beginn des Romans und Eintritt in die mondäne Gegenwelt sind identisch und stehen im Zeichen des Bruchs mit der Vergangenheit. Dieser Bruch kommt bereits in den ersten Zeilen in der angesprochenen guten Erziehung und dem Vorbild der Mutter einerseits und dem Schwanken des Ich zwischen Begierde und Hilflosigkeit andererseits zum Ausdruck. 313 Roger Mercier, „Le héros inconstant. Roman et réflexion morale“, in: Revue des Sciences humaines 36 (1971), S. 333-355. 160 Der ganze Roman - als memoirenhafter Rückblick eines wissend gewordenen Ich - dient also nur dazu, die Stationen mangelhafter Erfüllung zu zeigen und ein neues lebensweltliches Wissen vorzubereiten. Nicht zufällig ist das große Gespräch zwischen Meilcour und Versac im dritten Teil eine Art aufklärerischer Dialog, der ähnlich wie der Schluss des Télémaque die Konsequenzen aus dem Erlebten zieht und als Ersatz für die verlorenen Normen eine neue, ausschließlich gesellschaftliche Orientierung anbietet. Da aber das Ich die Sehnsucht nach dem Ideal nie ganz ablegt und sich insgesamt als tölpelhafter und schwieriger Schüler erweist, äfft der Roman nicht nur Aufklärung nach, sondern klärt auch über verfehlte und fragwürdige Aufklärung auf. Das geschichtlich Zurückliegende verwandelt sich insgeheim in ein utopisches Ziel, das nie zur Gänze aus den Augen verloren wird und das die Gegenwart als „Leere“ und Mangel ausweist. Wie es am Anfang heißt: „l’amour jadis si respectueux, si sincère, si délicat“. In dieser Hinsicht bereitet Crébillon bereits Rousseau vor. Die Liebe zu Hortense deutet aber zugleich auch eine romaneske, schicksalhafte Konzeption an, die im Werk selbst explizit zurückgewiesen und ab absurdum geführt wird, aber deren Verlockung doch nicht ganz verschwindet. Der amour coup de foudre des Helden erscheint wie eine bewusste Referenz auf jene ganz andere Romanvorstellung, die zur gleichen Zeit von Prévost entwickelt wird und die doch mit Marivaux und Crébillon die Gestalt des orientierungslosen Helden gemeinsam hat, ist doch von „un de ces coups de surprise“ die Rede, „qui caractérisent dans les Romans les grandes aventures“ (S. 35). Indem Crébillon aber das Leben seines Protagonisten in die geschlossene mondäne Welt verlegt, schneidet er gleichsam die Möglichkeit des Romanesken ab - ähnlich wie ja in Manon Lescaut romanhafte Liebe und Gesellschaft sich wechselseitig auszuschließen scheinen. Meilcour ist so gesehen die untragische Variante des Chevalier des Grieux, und insofern er, und nicht die Heldin, das Motiv der Untreue verkörpert, könnte man ihn sogar als männliche Gegenfigur zu Manon selbst verstehen. Wie in einem intertextuellen Geflecht reflektieren die Romane der Zeit so das Problem einer nicht mehr durchschaubaren Welt. Vielleicht plante der Autor des unvollendeten Romans, den Helden schließlich durch Hortense zu sich selbst kommen zu lassen. Ein solcher Schluss entspräche dann den Confessions du comte de … (1741) von Duclos. Hier streift der Protagonist die Lockungen der mondänen Gesellschaft nur und findet zu einer tugendhaften Liebe und Ehe. Die überwundenen Versuchungen in „le monde“ dokumentieren den Sieg des „Herzens“, der echten Gefühle und der Menschlichkeit und deuten damit gegenüber der gesellschaftlichen Scheinwelt einen bürgerlichen Tugendoptimismus an, der in dem Konversionsmotiv zum Ausdruck kommt. Ob freilich bei Crébillon eine solche stillschweigend optimistische Verlängerung der Handlung möglich ist, bleibt doch fraglich. Denn die Versuchungen sind hier nicht bloße 161 Episode, sondern die Essenz der Handlung selbst. Duclos schildert eine Welt, in der die mondäne Initiation Episode ist, und deutet innerhalb des Handlungsraumes Paris verschiedene örtliche und gesellschaftliche Bereiche an. Crébillon gestaltet eine in sich geschlossene Welt, die auch dann, wenn ihre Werte als Schein entlarvt werden, keine wirkliche Alternative eröffnet. Obwohl Les Confessions du comte de ... (1741) zu den Bestsellern des Jahrhunderts gehörten, hat der Erzähler und Historiker Charles Pinot-Duclos nur wenig Aufmerksamkeit erfahren; die literarische und gesellschaftliche Rolle des Romanciers und Historikers erscheint gleichwohl exemplarisch. 314 1704 als Sohn eines Hutfabrikanten in Dinan geboren und 1772 in Paris gestorben, schaffte Duclos nicht nur nach brillanten Studien den Sprung in die mondänen Pariser Literatenkreise, in denen er als Dauergast des Café Procope durch seinen Witz berühmt war; mit kulturgeschichtlichen Arbeiten wie der Histoire de Louis XI (1745f.) oder den Considérations sur les mœurs de ce siècle (1751) errang er auch breite, internationale Anerkennung, war seit 1746 Mitglied der Académie française, wurde wie Crébillon von Mme de Pompadour protegiert und nahm nach dem Weggang Voltaires nach Berlin dessen Stelle als Historiographe du Roi ein, bevor er 1752 auch in die Berliner Akademie gewählt wurde. Seine postum 1791 veröffentlichten Considérations sur l’Italie wurden noch von Stendhal geschätzt. Als bürgerlicher Moralist beschreibt Duclos ähnlich wie Crébillon die Welt des Adels. Und ähnlich wie Marivaux ergänzt er die männliche Perspektive der Confessions du Comte de ... durch die weiblichen Memoiren in der Histoire de la baronne de Luz (1741). 315 Auch bei Duclos ist die zentrale Frage, wie sich das Streben nach Tugend mit dem Hineinwachsen des jugendlichen Helden in die Gesellschaft vereinbaren lässt. 316 In der ‚Beichte‘ des Ich-Erzählers wird die Emanzipation von den väterlichen Werten als Irrweg beschrieben, in dessen Beschreibung sich die psychologische Analyse Crébillons mit Elementen des adligen Abenteuerromans à la Lesage u. a. verbindet. Gegenüber der engen, experimentellen Gesellschaftswelt Crébillons öffnet sich daher die Perspektive. Der junge Held kommt nach oberflächlicher Erziehung an die Pariser Akademie, wo er alsbald den Verlockungen der mondanité erliegt und durch eine ältere Freundin der Mutter initiiert und korrumpiert wird. An dieses gesellschaftliche Leben wird er mit einer Kette von Eroberungen wieder anschließen, nachdem er eine Phase romanesker und erotischer Abenteuer im Spanischen Erbfolgekrieg 1710 und bei der Heimkehr über Italien durchgestanden hat. Duclos vermischt hier gekonnt 314 Vgl. Erich Loos, Charles Pinot Duclos als Moralist des 18. Jahrhunderts und seine Bedeutung für den Stand der „Gens de Lettres“, ungedr. Diss. Köln 1949. Kritische Ausgabe der Confessions von Laurent Versini, Paris, Didier 1969. 315 Kritische Ausgabe von J. Brengues, Saint-Brieuc, Presses Universitaires de Bretagne 1971. 316 Jacques Brengues, Duclos ou l’obsession de la vertu, Saint-Brieuc 1971. 162 den Crébillonschen Erziehungsroman mit dem Modell der adligen ‚Pikareske‘. Die innere Umkehr wird durch ein scheinbar belangloses Ereignis angedeutet. Als eine verarmte Mutter sich hilfesuchend mit der Tochter an den jungen Grafen wendet, vermittelt er das Mädchen und ihren Verlobten auf seine Güter in der Bretagne, verzichtet aber darauf, seine Stellung sexuell zu missbrauchen. Tugend trägt aber ihren Lohn in sich: On n’est point vertueux sans fruit. Je n’eus pas plutôt formé ce dessein que je sentis dans mon ame une douceur que ne donnent point les plaisirs ordinaires. (S. 124) Anders als ein Valmont, dessen sentimentale Schwäche in Laclos’ Les liaisons dangereuses seine libertinistische Überlegenheit ruinieren wird, ist Duclos’ „libertin“ jetzt reif für einen inneren Wandel, der keine negativen Folgen haben und seine Identität nicht in Frage stellen wird. In der Begegnung mit einer zurückgezogenen jungen Witwe erfährt er seine große Liebe, noch ist er aber nicht gefestigt genug, um nicht erneut in Versuchung zu fallen. Und erst die Seelenstärke der liebenden Frau führt ihn zur Tugend zurück. Heirat und Rückzug aus der Welt tragen freilich nicht den Stempel der Desillusion wie bei Prévost, sondern sind Ausweis der gelungenen moralischen Emanzipation. Ein Kennzeichen der von Duclos geschilderten gesellschaftlichen Welten ist deren Offenheit und Pluralität. Das gilt schon für die Pariser Kreise, die nicht auf den beau monde beschränkt bleiben, sondern auch die aufsteigende Klasse der finance und die randständige intellektuelle Bohème einbezieht. Die Provinzwelt wird für den Autor, der fünf Jahre Bürgermeister in Dinan war, zu einer eigenständigen, vorwiegend ländlichen Lebenswelt aufgewertet, und endlich kommt auch der Exotismus (Spanien, Italien) zu seinem Recht - freilich sorgt der Prestostil in diesem Fall dafür, dass sich die romanesken Elemente nicht ungebührlich in den Vordergrund schieben. Die ‚Witzigung‘ des Helden à la Gil Blas verbindet sich so mit einer zeitlich gestreckten Entwicklungsperspektive, durch die der adlige Held lernt, seinen Konformismus abzustreifen und seine natürlichen Gefühle zu entdecken und zu entwickeln. Aus dem Sittenroman wird ein bürgerlichen roman sensible. Das Herz irrt sich nicht: „Je trouvai un vuide dans mon âme que tous mes faux plaisirs ne pouvoient remplir.“ (S. 126) Das Motiv der Leere verweist auf Crébillon, doch anders als dessen Held gelingt es dem jungen Grafen, Sinnenlust und sentimentale Verirrungen als negative Stationen eines Reifungsweges hinter sich zu lassen: „Je n’aspire point à changer la condition humaine; mais nos cœurs devroient être plus parfaits, la jouissance des ames devroit être éternelle.“ (S. 144) Der Irrtum und auch der Rückfall sind Teil eines ‚Aufklärungsprozesses‘ der Seele, deren Stichwort éclairer zum Ideal eines neuen Lebens (nouveau) führt. Denn, wie der Held bemerkt, „l’inconstance que j’avais dans l’esprit plus que dans le cœur“ (S. 159), wird 163 durch die reine Liebe einer Frau überwunden. Im Kampf von cœur und esprit siegt das Herz mit den Werten tendresse und estime (S. 301); sind sind, wie die künftige Gattin des Helden zu bedenken gibt, kostbarer als eine blinde Leidenschaft. Während die blinde Liebesleidenschaft bei Prévost in die Katastrophe führt, sorgt hier die gleichsam erwachsen gewordene, reflektierte Form der „union des cœurs“, die mit dem abschließend geschilderten Ideal einer sich selbst genügenden Gemeinschaft und der Hymne auf den amour estime beinahe an utopische Sozialromane von George Sand erinnert, für ein mühsam errungenes Gleichgewicht. Wie gefährdet ein solches Gleichgewicht ist, das nur fern der Gesellschaft - „le monde est inutile à notre bonheur“ (S. 167) - verwirklicht werden kann, zeigt freilich die komplementäre Histoire de Madame de Luz, mit der sich der Autor nach Coulet dem libertinistischen, galanten Genre erneut annähert. Die dreifache Vergewaltigung einer tugendhaften Frau, die sich der Erpressung eines korrupten Richters beugt und ihre Tugend ihrer Pflicht opfert, zeigt die Schwäche der Tugend und des seiner Sinnlichkeit unterworfenen Menschen. Doch das ändert nichts daran, dass die Duclos’schen Helden erwachsen geworden sind und ihre Konflikte eigenverantwortlich und ohne väterliche Autorität zu lösen versuchen. 165 TEIL 2: Hoch- und Spätaufklärung VIII. Hochaufklärung und Encyclopédie oder die Wette auf die Zukunft Die Denker der ersten Jahrhunderthälfte von Bayle bis Montesquieu hatten die Geschichte ihres göttlichen Vorsehungscharakters entkleidet und damit auch die Voraussetzung für einen neuen Typus des Romans und die Aufwertung des Zufalls geschaffen. Im übrigen waren erst damit auch die Grundlagen für den einheitlichen modernen Geschichtsbegriff bereitet. Der Krise der providentiellen Geschichte entspricht bei Montesquieu die desillusionierte Suche nach den Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Verlaufs und das Bewusstsein für die Unterschiede der Kulturen, die sich nicht an einem einheitlichen humanistisch klassischen Maßstab orientieren. Mit dem Begriff der diversité schuf Montesquieu die vergleichende Typologie der Aufklärung. Die Generation Voltaires, Diderots u. a. geht nach 1750 einen Schritt weiter und entwickelt aus den Anregungen Fontenelles und Bayles den Fortschrittsbegriff, 317 mit dem Aufklärung zum ideologischen Programm wird. Mit der seit 1751 publizierten Encyclopédie von Diderot und D’Alembert zieht das Jahrhundert gleichsam Bilanz. Voltaire knüpft mit Le Siècle de Louis XIV (1751) an Perrault und die Querelle an und konzipiert mit dem Essai sur les moeurs die erste an dem neuem Fortschrittsgedanken orientierte Gesamtgeschichte des menschlichen Geistes; der ursprüngliche Titelentwurf Histoire de l’esprit humain trifft das Anliegen des Autors offensichtlich sehr viel genauer als der sittengeschichtliche Akzent, bezeichnet die ‚Aufklärungsgeschichte‘ doch gegenüber einer defizitären Realgeschichte das eigentliche Zentrum des Werkes. Turgot mit seinem Tableau philosophique des progrès successifs de l’esprit humain und Condorcet mit der Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain werden Voltaire in dieser Richtung folgen und den Perfektibilitätsgedanken der Generation um Mme de Staël entwickeln. Ein ganzes Bündel reformistischer Ansätze - von der abolitionistischen Bewegung über die Emanzipation der Frau bis zur Neuordnung des Unterrichtswesens ergibt sich aus diesen Ansätzen, deren politische Vorstellungen einer Reform der Gesellschaft durch den Sieg der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung einen mächtigen Auftrieb erhält. Das neue geschichtliche Denken beschränkt sich nicht auf 317 Vgl. Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich in der Renaissance bis zur Frühaufklärung, München, Fink , 1980, und Arnoldo Pizzorusso, „Fontenelle e l’idea di progresso“, in: Belfagor 18 (1963), S. 150-180. 166 den gesellschaftlichen Bereich: In Buffons Histoire naturelle wird erstmals das biblisch statische Naturbild aufgelöst und in das evolutionistische Denken der Moderne überführt. Die Histoire naturelle avec la théorie de la Terre von 1749 bezeichnet den Beginn von Geologie, Anthropologie und Ethnographie und bereitet den Weg für die vergleichende Anatomie von Daubenton. 318 Erich Köhler hat in seiner Einleitung zu dem berühmten Discours préliminaire der Encyclopédie 319 darauf verwiesen, wie sehr der neue Erkenntnisoptimismus an die Vorstellung der mechanischen Vermehrung des empirischen Wissens geknüpft ist, das sich von dem verhassten esprit de système emanzipiert. D’Alembert spricht hier von „l’ordre et l’enchaînement des connaissances éparses sur la surface de la terre“ (S. 12), und wie selbstverständlich ergibt sich aus der Summe des Wissens zugleich „le système général“(S. 82). „Das Freiwerden der Vernunft von Vorurteilen auf allen Gebieten des Daseins“, die Geschichte als „Prozess der Selbsterziehung des menschlichen Geistes“, 320 finden ihren naturgemäßen Ausdruck in der Summe des Wissens, wie sie die Encyclopédie in einem Dreischritt von érudition, belles-lettres und philosophie (S. 110) zu bieten versucht. Sie gestattet den kritischen Rückblick, die kritische Sichtung des gegenwärtigen Wissensstands und den prospektiven Blick in die Zukunft. Die Encyclopédie bilanziert aber nicht nur die Errungenschaften der Väter; sie will auch die Rätsel des Universums entschlüsseln, denn noch erscheine das Universum als „un vaste océan, sur la surface duquel nous apercevons quelques îles plus ou moins grandes“ (S. 88). In dem „Labyrinth“, der „obscurité sublime“ (S. 44), gehe es darum, zur Quelle und zum Ursprung vorzustoßen: „par cet esprit philosophique qui remonte à la source de tout“ (S. 60). Bilder und Begrifflichkeit des Autors muten wie das seitenverkehrte Spiegelbild der neu entdeckten Ästhetik des Erhabenen an, die Edmund Burke in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) an die Manifestationen der göttlichen Natur bindet. In der Aufhellung der „obscurité sublime“ ist mithin auch die Erhellung der Geheimnisse des VATERS gemeint und die Befreiung von den Vorurteilen geoffenbarter Religion. Hinter dem Ideal einer Wissenssystematik, deren Ziel es ist, die krummen Wege durch das Labyrinth zu begradigen (vgl. S. 82), steht der ödipale Impuls dessen, der die „grande vérité“ des Universums „d’un seul point de vue“ umfassen möchte (S. 52) und so selbst göttliches Wissen anstrebt. Der Drang nach Wissen wird zum „cri de la nature“ (S. 24), 318 Vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1978. 319 Jean Lerond d’Alembert, Einleitung zur Enzyklopädie (1751), hrsg. von Erich Köhler, Hamburg, Meiner Verlag 1955. Zitate nach der zweisprachigen Ausgabe. 320 E. Köhler, ebd., S. XVII. 167 der an die Seite des moralischen Empfindens tritt. Und die Summe des Wissens soll „un sanctuaire“ sein, „où les connaissances des hommes soient à l’abri des temps et des révolutions“. (S. 220) In dem der Encyclopédie unmittelbar vorausgehenden, frivol lizensiösen Erzählkranz Les Bijoux indiscrets von 1748 beschreibt Diderot im 29. Kapitel 321 den Traum des Herrschers Mangogul von einer Reise in das Land des Hypothesen: Ein Kind betritt hier den Tempel der Schulphilosophie, von der es sich durch die Insignien der experimentellen Physik und Erfahrungswissenschaften abhebt. Im Laufe des Traumes schwillt das Kind zum Koloss an und bringt schließlich den Tempel der Alten zum Einsturz. Im Namen der Erfahrung richtet sich die philosophie der Jungen gegen das deduktiv-metaphysische Denken der Alten. Wie Klaus W. Hempfer mit Bezug auf die vorangehenden Ausführungen der Favoritin Mirzoza betont, geht es darum, „die Erkenntnistheorie vom ‚Kopf auf die Füße zu stellen‘“ 322 . Als Erkenntnisinstrument der Nachgeborenen ist die Encyclopédie Inbegriff jener lumières, welche die anciens, die Väter, nicht geleistet haben, und der Triumph des „désir inquiet“, der Neugierde, die „est un besoin pour qui sait penser“ (S. 28) und so den mündigen Menschen auszeichnet. Sie belegt die systemtheoretische Vorstellung einer Ausgrenzung und Autonomisierung von Wissenschaften und Künsten im 18. Jahrhundert. Es geht um einen neuen Freiraum in und von Staat und Geschichte und letztlich um das Konzept eines gesetzmäßigen Fortschritts des menschlichen Geistes, „que l’histoire de l’esprit humain et de ses productions aille d’âge en âge jusqu’aux siècles les plus reculés“ (S. 220). Die Encyclopédie ist so seit dem von d’Alembert genannten Werk Roger Bacons, Novum Organum scientiarum (1620), die erste Wissenschaftssystematik der Neuzeit („l’ordre et l’enchaînement des connaissances humaines“, S. 12), die unmittelbar auf Auguste Comte und den Positivismus ausstrahlen wird. Aus dem ursprünglich geplanten schlichten Nachschlagewerk nach englischem Vorbild wurde so das programmatische Instrument von Aufklärung, das unmittelbar, doch umfassender und systematischer, an Pierre Bayles Dictionnaire critique anschließt. Die Idee zu dem um 1745 begonnenen und 1765 - mit 17 Bänden - abgeschlossenen Unternehmen kam von dem Verleger Breton, der die englische Cyclopaedia, or an Universal Dictionary of Arts and Sciences (1728) von Ephraim Chambers übersetzen wollte, um dem je- 321 Das 29. Kapitel bezieht sich auf die Œuvres complètes, Paris, Hermann 1978, Bd. III, S. 130-134. Nach der Ausgabe der Œuvres romanesques, éd. par Henri Bénac, Paris, 1962 (Les Classiques Garnier), handelt es sich um das Kapitel 32. 322 Klaus W. Hempfer, „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, in: Aufklärung, hrsg. von Roland Galle und Helmut Pfeiffer, München, Fink 2007 (Romanistisches Kolloquium XI), S. 15-54. Der Zauberin, der das Geschlecht („les bijoux“) der Favoritinnen des Herrschers zum Sprechen bringt, ist das literarisch obszöne Äquivalent des angesprochenen Erfahrungsbegriff und spiegelt nach Hempfer den eigenständigen ‚Denkstil‘ der Aufklärung (S. 53). 168 suitischen Dictionnaire Universel de Trévoux eine moderne Enzyklopädie, ein Dictionnaire universel des sciences, arts et métiers an die Seite zu stellen. Diderot und d’Alembert, geboren 1717, sollen das Unternehmen auf den Weg bringen. 1750, ein Jahr nach L’Esprit des Lois, erscheint der Prospectus, eine Art Subskriptionseinladung, 1751 der erste Band des Dictionnaire raisonné ... zusammen mit dem Discours préliminaire, der das Wissenskonzept der Aufklärung zusammenfasst. Aus der geplanten Übersetzung ist längst ein eigenes Unternehmen geworden, an dem sich die maßgeblichen Köpfe der Aufklärung beteiligen und das den Begriff philosophes popularisiert. An ihm entzünden sich zeitgenössische Polemiken des 1759 vom Parlament verurteilten Werkes. D’Alembert selbst spricht in seinem Vorwort von einem siècle philosophe. Montesquieu wird vor seinem Tod noch den Artikel Goût beisteuern. Der Hauptbeiträger aber ist Diderot, der die Encyclopédie recht eigentlich zu seinem Hauptwerk macht. Der Akzent liegt auf dem Adjektiv raisonné: Es geht nicht nur um neutrale professionelle Lexikonartikel im heutigen Sinn, sondern auch um - an einzelne Stichwörter gebundene - Essays aufklärerischen Charakters, so etwa den Artikel Genèse, der das Problem Moral und Theater im Zusammenhang mit dem Genfer Theaterverbot untersucht, oder den Artikel Grains, der Anlass zur Darlegung der landwirtschaftlichen Misere Frankreichs und der physiokratischen Reformtheorie bietet, oder den Artikel Foire, der zu einem Plaidoyer für die Freiheit des Handels wird. Commerce ist ja z. B. ein zentrales Stichwort der Montesquieuschen Liberalismustheorie. Doch die Encyclopédie ist mehr als nur ein kritisches Nachschlagewerk. Wissen, geleitet von natürlicher curiosité, wird jetzt zu Verpflichtung und Programm, seine Geschichte zur eigentlichen Geschichte jenseits der „révolutions“ der Ereignisgeschichte. Das ‚ödipale‘ Programm ist ganz selbstverständlich in der sensualistischen Philosophie verankert, wonach „c’est à nos sensations que nous devons toutes nos idées“ (S. 14). Von daher die Polemik gegen Descartes, die sich schon bei Fontenelle abzeichnet. Condillac hatte diese empiristische Theorie in seinem Traité des sensations, 1749, niedergelegt und die experimentelle Methode begründet. Das Fortschreiten des menschlichen Geistes - im Individuellen wie im Allgemeinen - erscheint als selbstverständliche Funktion von Erfahrung, deren Fortschreiten vom Einfachen zum Komplexen Condillac selbst in seinem berühmten Gleichnis von der belebten Statue vorgeführt hatte. D’Alembert ergänzt diese Vorstellungen durch das genannte Prinzip der Neugier, das zum Motor des Fortschritts wird. Der Discours préliminaire ist mithin Erkenntnisphilosophie, Geschichtsphilosophie, Wissenschaftssystematik und Forschungsprogramm in einem. Und nicht zuletzt ist er ein Monument des Führungsanspruchs der philosophes und der französischen Aufklärung und - ganz nebenbei - auch ein Plädoyer für die Universalität der französischen Sprache, die jetzt als Wissenschaftssprache die Rolle des Lateinischen übernimmt. 169 Das Band der Generationen beruhte seit jeher auf der fundamentalen Gleichheit von Vater und Sohn, Eltern und Kindern. Die Übertragung des Progressgedankens auch auf die menschliche Natur lässt väterliche Autorität überholt erscheinen. Die Querelle des anciens et des modernes hatte Literatur und Kunst historisiert; die Encyclopédie tut das Gleiche mit Handwerk und Wissenschaften. Die Kultur- oder Zivilisationsgeschichte von Voltaire bis Condorcet beruht auf dieser Grundlage. Aber der Marquis de Condorcet, 1743 aus verarmtem Adel bei Orange geboren und 1794 in der revolutionären Terreur umgekommen, Freund von d’Alembert und Turgot, vertraut mit Diderot, Condillac, Voltaire u. a., einer der Begründer einer laizistischen Zivilisationsgeschichte und Vorläufer des positivistischen Szientismus, geht noch darüber hinaus und verkündet gegen den augustinischen Sündigkeitsbegriff den Fortschritt des Menschen selbst: „la nature n’a marqué aucun terme au perfectionnement des facultés humaines; que la perfection de l’homme est réellement indéfinie“. 323 Die genannte Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793 im Manuskript vollendet) nimmt zudem ansatzweise das romantische Dreistadiengesetz vorweg und definiert die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte zur Freiheit: „renaître à la liberté, à l’humanité et aux vertus“. 324 Dieser leicht utopische Ansatz, der auch in dem Fragment sur l’Atlantide deutlich wird, ist getragen von der Vorstellung, wonach die rückwärtige Erhellung der Gesetzmäßigkeit der Geschichte auch die „progrès futurs de l’esprit humain“ 325 voraussehbar macht. Die Generation der Söhne ist jetzt dazu berufen, diejenige der Väter zu überholen und bisherige Abhängigkeiten zu widerrufen. 323 Condorcet, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, éd. par Alain Pons, Paris, Garnier-Flammarion 1988, S. 81. 324 Ebd., S. 163. 325 Ebd., S. 265. 170 IX. Voltaires conte philosophique und der Verzicht auf väterliche Führung Voltaire, „le dernier des écrivains heureux“, wie Roland Barthes 326 einmal titelte, Aufklärer in einer gesättigten Epoche, Tragödienautor, der den „esprit tragique“ ablehnt, Begründer der Geschichtsphilosophie vor dem Hintergrund einer letztlich statischen Geschichts- und Naturkonzeption, Erzähler ohne die Tiefe von Raum und Zeit, Kämpfer gegen ideologische Systeme ohne eigenes System, ‚vaterloser‘ Patriarch der Aufklärung ohne erkennbare familiäre Bindungen, Bewunderer der starken Vaterfiguren der Geschichte und Autor von jungen Helden auf der Suche nach Autorität, kurz: ein Autor, der die Widersprüche bündelt, ohne dass diese überhaupt bewusst werden, und der in aller Polemik letztlich den Ausgleich sucht und die Fortschritte der lumières gleichsam bilanziert. Am Anfang steht die Auseinandersetzung des 1694 Geborenen mit der Epoche der Väter und deren Höhepunktsbewusstsein, das die Aufklärer in ihren Fortschrittsoptimismus überführen. Die großen geschichtlichen Arbeiten zeigen, wie sich der durchaus noch in der Klassik verwurzelte Autor erst allmählich die Fortschrittsperspektive der Aufklärung zu eigen macht. Im Siècle de Louis XIV, 327 1733 begonnen, folgt der Autor noch der humanistischen Vorstellung der vier goldenen Zeitalter, und nur relativ gesehen ist das vierte Zeitalter, das Ludwigs XIV., „celui des quatre qui approche le plus à la perfection“ und wo „la raison humaine en général s’est perfectionnée“ (Bd. I, S. 36). Ja, der Autor macht die Klassik zur Grundlage der Aufklärung, wenn er den Vernunftbegriff verlängert und feststellt: „la saine philosophie n’a été connue que dans ce temps“ und von einer „révolution générale“ spricht, „qui doit servir de marque éternelle à la véritable gloire de notre patrie“ (86). Die „progrès de l’esprit humain dans ce siècle“ (Bd. I, S. 39) sind mithin noch nicht mit denen der lumières identisch. Viel weiter geht der Essai sur les moeurs, der unter dem Titel Histoire générale depuis Charlemagne jusqu’à nos jours 1756 erschien und Le Siècle de Louis XIV einschließt. Der enzyklopädische Titel verweist auf das Bestreben, die ältere, christliche Form der Universalgeschichte zu beerben, die Anfänge, im Essai sur l’Histoire générale, gehen auf die 40er Jahre zurück. 1746 erscheint dann der Anfang des später Essai sur les moeurs betitelten Werkes als Nouveau Plan d’une histoire de l’esprit humain. Weltgeschichte ist an die Stelle der 326 Roland Barthes, Essais critiques, Paris, Seuil 1964 (Tel Quel), S. 94-100. 327 Zitate nach Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, Préface par Antoine Adam, 2 Bde., Paris, Garnier-Flammarion 1966. 171 europäischen Geschichte getreten. Der Essai sur les moeurs 328 vermittelt chronologisch zwischen Früh- und Hochaufklärung und macht die für die zweite Jahrhunderthälfte charakteristische Formel der „progrès de l’esprit humain“ geläufig. Zugleich überholt er das humanistische Schema der Goldenen Zeitalter zugunsten einer universalgeschichtlichen „philosophie de l’histoire“, wie der Titel des 1765 in Holland gedruckten Buches lautet. Voltaire begründet damit die aufklärerische Fortschrittsgeschichte und Geschichtsphilosophie. Der Fortschritt wird hier zum eigentlichen Kriterium der Bewertung. Vorrangig ist, wie Voltaire im Avant-Propos des Zweiten Teils mit durchaus bewunderndem Blick auf das Vorbild Bossuets meint, der Blick für die Zusammenhänge, d. h. „en philosophe“ (Bd. I, S. 197) nach dem „véritable esprit“ einer Kultur (Bd. I, S. 196) zu suchen. Voltaire benützt hierfür auch den Begriff der „idée générale“. „Parcourons donc ensemble ce globe; voyons dans quel état qu’il était alors, en l’étudiant de la même manière qu’il paraît avoir été civilisé, c’est-à-dire depuis les pays orientaux jusqu’aux nôtres …“ (Bd. I, S. 203) Die Vorstellung einer Weltkulturgeschichte bedingt freilich auch bei Voltaire, was eingangs als dezentriertes Denken charakterisiert wurde. Die Linie des Fortschritts ist nicht geradlinig und impliziert immer neue Anläufe. Vielleicht schimmert hier das humanistische Modell der Goldenen Zeitalter doch noch durch. Jedenfalls behandelt der Autor China programmatisch vor Karl dem Großen, und wenn in Bezug auf Indien von der „grande supériorité d’esprit et de courage“ des Abendlandes die Rede ist, so enthält sich der Autor nicht der ironischen Bemerkung, dass die Nationen des Ostens „n’avaient nul besoin de nous, et que nous avions besoin d’elles“ (Bd. II, S. 325). Dennoch darf diese „diversité“ im Sinne Montesquieus nicht den Blick darauf verstellen, dass das Voltairesche Geschichtsmodell in der europäischen Aufklärung gipfelt und dass das universalistische Denkschema den Sieg davon trägt, schließlich: „Il résulte de ce tableau que tout ce qui tient intimement à la nature humaine se ressemble d’un bout de l’univers à l’autre“ (Bd. II, S. 810). Das neue, eigene Zeitalter der Aufgeklärtheit steht einer „période d’environ dix siècles“ gegenüber, „une suite presque continue de crimes et de désastres“ (ebd.). Katastrophengeschichte mündet in die Vision einer beinahe gelungenen Heilsgeschichte, und mit Verve wendet sich Voltaire daher gegen die „plaisanteries des Lettres persanes“ (Bd. II, S. 811) und ähnliche neumodische „paradoxes“, die eine solche optimistische Perspektive spielerisch in Frage stellen. Es scheint, dass schon diese, Kirche und Feudalgeschichte abwertende Sicht anstößig genug war. Wie Montesquieu kämpft Voltaire für die Freiheit, aber unbarmherziger als der Parlamentsadelige wendet er sich gegen jede Form von Obskurantismus und wird damit ungeachtet seiner Sympathie für 328 Zitat nach Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, éd. par René Pomeau, 2 Bde., Paris 1963 (Les Classiques Garnier). 172 den aufgeklärten Absolutismus (Friedrich d. Gr., Peter d. Gr.) zum ersten großen engagierten Schriftsteller Frankreichs. So gelingt ihm in der berühmten Affaire Calas 1765 die Rehabilitation des zu Unrecht hingerichteten Toulouser Familienvaters, und noch vor seinem Tod 1778 führt er eine öffentliche Kampagne zugunsten von Sirven, der 1771 freigesprochen wird. François-Marie Arouet, 1694 als Sohn eines Notars in Paris geboren, Schüler im jesuitischen Lycée Louis-le-Grand, ist der Prototyp des finanziell erfolgreichen, bürgerlichen Aufsteigers, der lange Anfeindungen durchmacht, bevor er als Patriarch von Ferney (am Genfer See) eine finanziell und publizistisch unangefochtene Stellung erreichte. Den Decknamen Voltaire hatte er schon 1718 angenommen. Boshaft könnte man von einem „Gil Blas philosophe“ sprechen, dessen Aufstieg zum Übervater der Aufklärung die Verleugnung der bürgerlichen Vergangenheit impliziert. Zweimal in der Bastille inhaftiert - wegen Hetzschriften gegen den Regenten und wegen einer Beleidigung des Chevalier de Rohan, der ihn öffentlich verprügeln ließ; nach England exiliert, wo seine Histoire de Charles XII polizeilich beschlagnahmt wurde; nach der Publikation der anzüglichen Lettres philosophiques 1734 - das Buch wurde öffentlich verbrannt -, wiederum auf der Flucht, diesmal nach Lothringen; wenig später nach der Jeanne d’Arc-Parodie, La Pucelle, im holländischen Exil, wurde er wegen der anstößigen Stellen im Siècle de Louis XIV erneut verfolgt und ging 1740, dem Jahr seiner Wahl in die Académie française, zunächst nach Brüssel, dann nach Den Haag und endlich nach Berlin, wo er weiter an dem von Friedrich dem Großen protegierten Werk arbeitete, sich jedoch mit dem König 1753 überwarf und schließlich auf der Flucht in Frankfurt festgehalten wurde. Erst 1758, nach einem kurzen Aufenthalt bei dem Kurfürsten von Schwetzingen gelang ihm mit dem Kauf eines Gutes in Ferney, ein Jahr vor der Verbreitung des Manuskripts von Candide, der endgültige Sprung in die Freiheit. Hier entstanden nicht nur die späten Erzählungen, sondern auch noch die umfangreichen historischen Werke, die Histoire de la Russie sous Pierre le Grand (1759-63) und die Histoire du Parlement de Paris (1769), denen man den anstößigen Charakter mancher früherer Schriften nicht mehr anmerkt. Das Credo kann man mit ein paar Sätzen des Dictionnaire philosophique 329 umschreiben: „il n’y a point de liberté d’indifférence“ (S. 277) und „osez penser par vous-même“ (S. 280). Nicht nur dieses Dictionnaire steht in der Tradition von Pierre Bayle, auch die Inhalte verweisen auf dieses Vorbild: der Toleranzgedanke, den der Autor als „la première loi de la nature“ (S. 401) bezeichnet, und der Kampf gegen Fanatismus; die Vorstellung, dass die Wahrheit nicht gegeben ist, sondern gesucht werden muss (S. 188), das Bemühen um die Versöhnung von Natur und „sagesse“. Dieses Ideal hat für Voltaire jedoch nichts mit demo- 329 Voltaire, Dictionnaire philosophique, éd. par Raymond Naves, Paris 1967 (Les Classiques Garnier). 173 kratischer „égalité“ zu tun, „la chose la plus naturelle et en même temps la plus chimérique“ (S. 177). Auch bleibt die Herrschaft der Weisen eine Utopie (S. 186). Aufgeklärtes Denken richtet sich, wie es in der Préface heißt, an die Elite der „philosophes“, nicht an das arbeitende Volk: „les ouvrages de philosophie ne sont fait que pour les philosophes, et tout honnête homme doit chercher à être philosophe, sans se piquer de l’être.“ (S. XL) Von dem im engeren Sinn literarischen Werk des Autors sind heute nur die Contes philosophiques lebendig geblieben, die als spielerisch experimentelle Versuche philosophische Probleme fiktional einkleiden und den Übergang vom conte zum Roman belegen. Die kleine Geschichte erweist sich als Pendant zur großen Geschichte. Die Erzählungen gehören in die spätere Phase des bereits arrivierten Historikers und Dramatikers, der zunächst - ganz im Zeichen des klassischen Kanons - mit Oden, Tragödien und den Vorarbeiten zu einem Epos La Henriade begann - der Oedipe wurde 1728, Zaïre 1732 und noch 1748 Sémiramis aufgeführt - und sich erst in den 40er Jahren dem erzählerischen Genre zuwandte. Vorbild ist nicht der psychologische Roman, sondern der conte oriental und die Märchenerzählung. 330 Eine Vorform des Micromégas von 1752 ist der Voyage du baron de Gaugan, den Voltaire 1739 Friedrich d. G. zuschickte. Doch die erste große Erzählung, Zadig, erschien erst 1747, und erst nach dem Umzug nach Genf und während der Mitarbeit an der Encyclopédie publiziert der Autor den parodistischen Roman Candide, 1767 den ironischen „Erziehungsroman“ L’Ingénu. Eine Reihe kleinerer Werke kann hier übergangen werden. Insgesamt wirft das erzählerische Werk ein merkwürdiges Licht auf den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung und kann wohl auch als Korrektiv der großen Theorien begriffen werden. Die „contes philosophiques“ 331 sind Romane in Anführungszeichen. 332 Man kann in Voltaire den Höhepunkt der parabolischen, aufklärerischen Märchenerzählung sehen; man kann seine Erzählungen aber auch als Ergebnis extremer Raffung und der Einschmelzung romanhafter Breite zur exemplarischen Beispielerzählung betrachten. 333 Ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit, personale Dichte und lebensweltliches Detail nimmt diese Form der 330 Erich Loos, „Die Gattung des „conte“und das Publikum im 18. Jahrhundert“, in: Romanische Forschungen 71 (1959), S. 112-137, und bes. Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen. Diderot - Rousseau - Voltaire, Tübingen, Narr 1985. 331 Zitate nach Voltaire, Romans et contes, éd. par René Pomeau, Paris, Garnier-Flammarion 1966. Verwiesen sei auch auf die Ausgabe von Sylvain Menant: Voltaire, Contes en vers et en prose, 2 Bde., Paris, Bordas/ Garnier 1992. 332 Siehe Hugo Friedrich, „Voltaire und seine Romane“, in: ders., Romanische Literaturen, Bd. I, Frankfurt/ M., Klostermann 1972, S. 203-226. 333 Vgl. Vivienne Mylne, „Literary techniques and methods in Vortaire’s Contes philosphiques“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 57 (1967), S. 1055-1080, sowie die stilistische Untersuchung von Ursula Schick, Zur Erzähltechnik in Voltaires „Contes“, München, Fink 1968 (Romanica Monacensia, 1). 174 Roman-Erzählung den oben genannten experimentellen Charakter des Erzählens ernst und stellt ihre Fragen in der allgemeinsten Art 334 , bleibt aber die Antwort schuldig; „antwortlose Antwort“ hat das Hugo Friedrich 335 genannt. Im Zadig z. B. wie und ob man glücklich sein kann. Der oft gerühmte Prestostil fungiert nicht nur als vorzügliches Mittel ironischer Effekte, sondern befreit darüber hinaus den angezeigten Zusammenhang von jedem überflüssigen Detail und macht dabei nicht selten Gebrauch von entlarvender Pseudologik: 336 „Zadig, avec de grandes richesses, et par conséquent avec des amis, ayant de la santé, une figure aimable, un esprit juste et modéré, un cœur sincère et noble, crut qu’il pouvait être heureux.“ (S. 31) Die Erzählung als Frage und Experiment entspricht mithin der „philosophical inquiry“ im Sinn der von Voltaire bewunderten englischen Empiristen. Die Entdeckung der Welt erscheint als philosophische Aufgabe, die nicht zufällig ein jeweils junger Held übernimmt. Und eine wesentliche Bedeutung kommt dabei naturgemäß von Anfang an dem Reiseschema zu, durch welches das Motiv des fremden und unvoreingenommenen Blickes thematisiert werden kann, es ist zugleich der junge Blick auf die Welt der Väter: der des Sternenbewohner Micromégas auf der Erde, derjenige Zadigs in der Fremde oder eines Candide in Eldorado, der Blick des gebildeten Indianers L’Ingénu auf Frankreich, usw. Mit Bezug auf Voltaires Begeisterung für die Physik Newtons hat René Pomeau von einer „perspective plongeante sur l’homme“, einer kosmisch naturwissenschaftlichen Perspektive von oben gesprochen. 337 In bezug auf den Candide oder die Histoire de Jenni, im Stil des „roman sentimental“, kann man im übrigen von einer bewussten Parodie des Prévostschen Reiseschemas sprechen. Die Figuren haben also keine personale Dichte und keine Vergangenheit, sie dienen, wie Heuvel gesagt hat, der „vérification d’une hypothèse“ 338 und setzen somit die Qualität eines unbeschriebenen Blattes voraus. Diese Eigenart begründet die tiefere Ähnlichkeit der meisten Erzählungen und verweist vielleicht auch auf eine ‚Tiefenstruktur‘ im Charakter des Autors selbst. Jeweils stößt sich der naive Held an der Realität des Lebens und erweist damit dessen grundsätzliche Problematik. Die Auswahl der „aventures“ erfolgt folglich nicht nach psychologisch-kausalen, sondern nach logischen Gesichtspunkten. Dennoch scheint es, dass sich die Lebenswirklichkeit im 334 Mit Bezug auf die das fehlende Kausalgerüst ersetzende Wiederholungstechnik spricht z. B. Jean Sareil, „La répétition dans les Contes de Voltaire“, in: French Review 35 (1961-62), S. 137-146, von dem „admirable travail de contrepoint ironique“ (S. 141). 335 H. Friedrich, a. a. O., S. 222. 336 Vgl. Pierre Haffter, „L’usage satirique des causales dans les Contes de Voltaire“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 53 (1967), S. 7-28. 337 Ebd., „Voltaire conteur“, S. 9. 338 Jacques van den Heuvel, Voltaire dans ses contes. De „Micromégas“ à l’„Ingénu“, Paris, Colin 1967, S. 35. 175 Laufe der Zeit verdichtet und problematisiert, dass mithin die frühere Formel des „conte philosophique“ immer weniger greift. Insofern könnte man in biographisch-chronologischer Perspektive von einer wachsenden Tendenz zum echten Roman und zum Romanhaften sprechen. Über die Romanparodie des Candide gelangt der Autor im Spätwerk, der Histoire de Jenni, den Lettres d’Amabad und besonders dem Ingénu zum Roman und damit zur Anerkennung der Geschichtlichkeit der geschilderten Welt. Wie die Lettres d’Amabad die Inquisition, so behandelt der Ingénu das reale zeitgenössische Frankreich und seine Gesellschaft. In gewisser Weise können dann Zadig und Candide als seitenverkehrte Illustrationen des gleichen Themas von der Möglichkeit des Glücks verstanden werden, während der Ingénu das Thema der frühen Erzählung Le monde comme il va (1748) transponiert. Das Motto für alle Werke findet sich hier: „marche, regarde, écoute, observe, et ne crains rien“ (S. 95). In allen Erzählungen wird der Wert absoluter Aussagen an der Relativität des menschlichen Lebens erprobt, d. h. die philosophische Aufklärung steht gleichsam auf dem Prüfstand der Wirklichkeit. „… il n’y a point de mal dont il ne naisse un bien“ (S. 82), lautet die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Glücks in Zadig; „tout n’est qu’illusion et calamité“ (S. 239) das entsprechende Fazit im Candide. Beide Werke, zwischen 1747 und 1759, situieren sich in dem Problemfeld einer innerweltlichen Glückssuche, die im Zuge der Aufwertung des Begehrens und des Eigennutzes und infolge der Krise des traditionellen religiösen Weltbilds zum heimlichen Leitmotiv des 18. Jahrhunderts wird. Aufklärung als solche beruht ja auf der Vorstellung einer vernünftigen Weltordnung, die im Sinne von Pope’s Essay on Man einen vernünftigen Ausgleich zwischen „partial Evil“ und „universal Good“ garantiert und ein vernünftiges Glück einschließt. Die zentrale Vorstellung ist die der Legitimität des Glücks, die aus der Annäherung von vertu und volupté hervorgeht. Dass damit eher ein bescheidenes und ruhiges Glück der inneren Ausgeglichenheit innerhalb der Gesellschaft, d. h. eine Art Gleichgewichtszustand gemeint ist, hat Robert Mauzi deutlich gemacht. Er spricht von einer „apologie de la médiocrité“ 339 und dem Ideal des repos, beides Begriffe, die ihren Ursprung in der stoischen Philosophie haben und hier im Sinne eines primär bürgerlichen Selbstgenügens neu definiert werden. Bei Fontenelle heißt es: „Celui qui veut être heureux se réduit et se resserre autant qu’il est possible.“ In Popes Essay on Man (1733) ist „our proper bliss“ an das alte Ideal der Selbsterkenntnis und Selbstbescheidung gebunden: „Know thy own point“, und ähnlich argumentiert dann Voltaire 1738 in seinem Discours sur l’Homme. Der anfangs zitierte Satz des Zadig: „il n’y a point de mal dont il ne naisse un bien“ variiert den schon angedeuteten wich- 339 Robert Mauzi, L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIII e siècle, Paris, Colin 1967 3 , S. 175 ff. 176 tigen Vers des Popeschen Essay, „All partial evil, universal good“, und zeigt, in welcher Weise individuelle Glücks- und Sinnsuche mit dem religiösen Problem der Theodizee verbunden ist. Selbstbescheidung und Einsicht setzen aber einen Erkenntnisvorgang voraus, mithin Mühe, Zeit, Erfahrung und Entwicklung, in der sich die Dialektik von Self-Love und Reason entfalten kann. Dies ist die raison d’être der Voltaireschen Erzählung Zadig, die einem optimistischen Ansatz verpflichtet ist und die Struktur eines Reifungsmärchens besitzt. Es ist das Märchen von einem, der auszog. das Glücklichsein zu lernen. Voltaire verbindet in dieser Beispielserzählung von 1748 mehrere Traditionen und begründet, wenn nicht die Gattung, so doch das Prestige des conte philosophique. Zunächst überführt er das Fénelonsche Modell des exotischantikisierenden Erziehungsromans in den Rahmen einer exemplarischen Erzählung. Der ursprüngliche Titel Memnon (1747) erinnert ja noch an den Erziehungsroman Sethos (1731) von Terrasson, der wiederum auf den Voyages de Cyrus (1727) von Ramsay und auf dem Télémaque basiert. Ein weiteres wesentliches Element ist die orientalische Einkleidung, von der schon die Rede gewesen ist. Sie erlaubt - gegen die Zensur gerichtet - die indirekte Aussprache kritischer oder auch nur freizügiger Inhalte. Daher die enge Beziehung zwischen dem conte oriental und dem conte licencieux der Libertinisten. Marie-Louise Dufrenoy 340 unterscheidet nun in bezug auf die orientalische Mode zwei große Phasen, die im wesentlichen mit den beiden Jahrhunderthälften gleichzusetzen sind. Die große Zeit des conte oriental ist demnach die Frühaufklärung, und die Gattung erreicht ihren Höhepunkt um 1746, mithin genau zum Zeitpunkt der Arbeit an dem Zadig. Endlich wäre noch einmal auf die Märchenmode 341 zu verweisen, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts eng mit der Krise des klassischen Weltbilds und der Querelle des anciens et des modernes verbunden ist. Deren Hauptvertreter, Charles Perrault, steht mit seinen Histoire ou Contes du temps passé (später: Contes de ma mère l’oie) von 1697 am Anfang einer breiten Mode des Märchenerzählens, die vor allem von Autorinnen wie Mlle Lhéritier, Mlle Bernard, Madame d’Aulnoy, Madame de Murat, Madame d’Auneuil aufgenommen und fortgeführt wurde und schon 1707 in dem ersten großen Cabinet des fées gipfelt. Eine Vertreterin um die Jahrhundertmitte, Mlle de Lubert, Verfasserin von La Princesse Lionette und der Apologie des contes de fées 340 Marie-Louise Dufrenoy, L’Orient romanesque en France, 1704-1789, 2 Bde., Montréal, Beauchemin 1946. 341 Vgl. Vf., „Der verzerrte Spiegel der höfischen Welt. Überlegungen zum historischen Standort des französischen Feenmärchens am Ende des 17. Jahrhunderts und im frühen 18. Jahrhundert“, in: Frühaufklärung, hrsg. von Sebastian Neumeister, München, Fink 1994 (Romanistisches Kolloquium, 6), S. 241-286, sowie Raymonde Robert, Le conte de fées litteraire en France de la fin du XVII e à le fin du XVIII e siècle, Nancy, Presses Universitaires 1982. 177 (1743) war die Nichte Voltaires. Auch in dieser Hinsicht kann man im übrigen - nach den Anfängen um die Jahrhundertwende und einem neuen Schwerpunkt in den 20er Jahren, mithin im Umkreis der Lettres persanes - von einem zeitgeschichtlichen Höhepunkt sprechen, der 1749 in der wichtigen Abhandlung des Comte de Caylus Sur la féerie des anciens comparée à celle des modernes gipfelt. Die Féeries nouvelles (1741) von Caylus und die Contes orientaux (1743) von Cazotte gehen dem Zadig unmittelbar voraus. Überdies verstärkt sich jetzt die Tendenz zum aufklärerischen Erziehungsmärchen, die der Abbé de Fénelon mit seinem Recueil de Fables schon 1721 vorweggenommen hatte. Aber auch ohne diese explizite Instrumentalisierung der Gattung Märchen, sei es in der einheimischen, sei es in der orientalischen Tradition, scheint man von einer tieferen Entsprechung des Märchenschemas zu dem Denken der Aufklärung sprechen zu können. Denn in der märchenhaft archaischen Einkleidung des Geschehens wird ein archetypisches und mithin natürliches Weltverhalten vorgestellt, das auf dem Glauben an eine gerechte Weltordnung basiert. Märchenhafte Gerechtigkeit kompensiert am Ende das erlittene Unrecht und beseitigt die Störung, durch die die Handlung in Gang gesetzt wurde. Aber damit es soweit kommen kann, muss der Held sich lösen und allein die Prüfungen auf sich nehmen. Dies entspricht den Grundvoraussetzungen des neuen psychologisch-realistischen Romans. Der Unterschied ist nur, dass das Märchen eine Erfolgsgarantie gibt, die der Roman als experimentelle Gattung nicht notwendig bereithält. Grundsätzlich aber erscheint das Märchen in solcher Perspektive als korrektive Variante des Romans, gleichsam als Ergebnis des spekulativen Zuendedenkens der gemeinsamen Voraussetzungen bis zu dem Punkt, wo alles so kommt, wie man will. Zugleich wird dann einsichtig, warum etwa Voltaire da nicht auf das Märchen zurückgreift, wo er diese optimistischen Voraussetzungen zumindest diskutieren will - und dies wiederum im Zusammenhang mit einer deutlichen Tendenz der Märchengattung in der zweiten Jahrhunderthälfte, zur Parodie zu erstarren oder sich als Vorform des romantisch-folkloristischen Märchens zu privatisieren. Kurz zum Inhalt des philosophischen Bildungs- und Aufsteigermärchens: 342 Der Held, ein tugendhafter und wohlhabender Bürger aus Babylon, mit allen guten Eigenschaften gesegnet, hat Grund zu der Annahme, glücklich sein zu können. Doch es kommt zunächst anders. Die Liebe zu der schönen Hofdame Sémire endet enttäuschend, und die Ehe mit der tugend- 342 Kritische Ausgabe von Verdun L. Saulnier, Voltaire: Zadig ou la destinée, Genève, Droz / Paris, Minard 1956 (Textes littéraires français) und Georges Ascoli (Hrsg.), Voltaire: Zadig ou la Destinée. Histoire orientale, 2 e tirage revu et complété par Jean Fabre, 2 Bde., Paris, Didier 1962 (Société des textes français modernes). Vgl. auch Marlène Clément, „Zadig ou la destinée“. Histoire orientale de Voltaire. Etude et analyse, Paris, Ed. de la Pensée moderne 1972. 178 haften Azora erweist sich als Trug. Er verstößt die Frau, nachdem sich die „lune de miel“ in die „lune de l’absinthe“ (S. 34) verwandelt hat, und beschließt, auf dem Lande als Philosoph zu leben und das Glück „dans l’étude de la nature“ (S. 34) zu suchen. „Par une bizarrerie ordinaire de la fortune“ kommt das entlaufene Pferd des Königs vorbei, und auch die Hündin der Königin wird gesucht. Zadig, irrtümlich angeklagt, weil er leugnet, die Tiere gesehen zu haben, kann seine Unschuld erweisen, als er zeigt, dass er nur die Spuren korrekt interpretiert hat; sein Ruhm verbreitet sich, aber er muß die Prozesskosten tragen, und als dann noch ein entkommener Gefangener am Haus vorbeikommt, wird er, weil er ihn gesehen hat, „selon la coutume de Babylone“ zu fünfhundert Goldunzen Strafe verurteilt. Es zeigt sich, „qu’il est dangereux de se mettre à la fenêtre! et qu’il est difficile d’être heureux dans cette vie! “ (S. 37) Zadig will nur noch „par la philosophie et par l’amitié“ glücklich werden. Ersteres wird ihm durch den Neid eines chaldäischen Weisen, letzteres durch eine Intrige unmöglich gemacht, die ihn ins Gefängnis bringt, indirekt jedoch seinen Weg zum Aufstieg als erster Minister bahnt, als sich ein angeblich verleumderisches Gedicht als Missverständnis herausstellt. Unglück also als Bedingung von Glück: „Zadig commençait à croire qu’il n’est pas difficile d’être heureux.“ (S. 40) In die allgemeine Bewunderung für den „philosophe“, der sich im theoretischen Denken ebenso wie in den praktischen Geschäften bewährt, mischt sich bald Eifersucht, so dass „le malheur de Zadig vint de son bonheur même“ (S. 47). Er verliebt sich in die Königin, und weil er tugendhaft und standhaft ist, wird er das Opfer einer Palastintrige und wird vertrieben: Fazit: „Si j’eusse été méchant comme tant d’autres, je serais heureux comme eux.“ (S. 51) „Zadig dirigeait sa route sur les étoiles.“ Der ausgestoßene Weise flieht nach Ägypten und irrt wie ein pikaresker Held umher, aber sein Blick ist nicht nach unten gerichtet, sondern auf die Sterne und den „ordre immuable de l’univers“ (S. 51). Indessen begegnet er auf seiner Wanderschaft allen Formen menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Unzulänglichkeit und dient so ähnlich wie der pikareske Held als Medium der Sittenkritik. Ähnliches gilt für das Motiv der Dienerschaft bei einem hohen Herrn. Letzterer, dessen Vertrauen er gewonnen hat, schenkt ihm nach einiger Zeit die Freiheit. Zadig kehrt in die Heimat zurück, wo gerade ein Umsturz stattgefunden hat. Er findet die Königin Astarté als Sklavin wieder und hört ihre Leidensgeschichte: Der König hatte eine andere geliebt, ihr Leben bedroht und war endlich, wahnsinnig geworden, einer Revolte zum Opfer gefallen. Vom Sieger entführt, von Räubern verschleppt und von einem großen Feudalherrn Ogul bedroht, ist sie der Typus der verfolgten Unschuld nach dem Muster des byzantinischen Romans. Als Arzt verkleidet, erwirkt Zadig die Freilassung Astartés und heilt den am Wohlleben erkrankten Ogul; zum Dank soll er vergiftet werden und rettet sich nach Babylon, wo ihn Astarté freudig empfängt. Aber bevor er ihre Hand endgültig gewinnt, muss er drei Prüfungen bestehen: Er muss 179 sich in einem Wettkampf als der tapferste und körperlich Tüchtigste erweisen; ferner braucht er den nötigen Grad der Weisheit und wird daher von einem Einsiedler in die Geheimnisse der Providenz eingeweiht: eben nach dem genannten Merksatz „qu’il n’y a point de mal dont il ne naisse un bien.“ Der Einsiedler wird dabei zum Engel und entzieht sich weiteren Fragen des Helden. Die letzte Stufe bildet die Rätsellösung. Wie einst Ödipus vor der Sphinx - nicht umsonst ist Voltaire ja der Autor eines Ödipus-Dramas - muss Zadig Fragen beantworten, die das Leben selbst betreffen. Nach Überwindung der letzten Widerstände steht dem Glück nun nichts mehr im Wege: „L’empire jouit de la paix, de la gloire et de l’abondance; ce fut le plus beau siècle de la terre: elle était gouvernée par la justice et par l’amour.“ (S. 85) Die glückliche Variante des Ödipusmythos, der das Vaterproblem ausspart und noch nichts mit dem Freudschen Ödipuskomplex zu tun hat, ist mithin zugleich eine sehr deutliche politische Parabel, die von persönlichem und öffentlichem Glück handelt und das höfische Umfeld dabei einer bissigen Satire unterwirft. 343 Die Kette der Rückschläge verhindert nicht die positive Lösung und ist nach dem Muster einer mehrstufigen und kumulativen Initiation angeordnet, die allein den philosophischen Führungsanspruch rechtfertigt. Die Abfolge der einzelnen Stationen erinnert dabei an das mittelalterliche Wege- oder Stationenschema, mit dem die Erzählung auch die allegorische Tendenz gemeinsam hat. Dazu kommt, wie schon angedeutet, das überwölbende Schema von Trennung und Vereinigung, Ausfahrt und Heimkehr, das sowohl an den byzantinischen Roman als auch an mythische Muster epischer Jugendgeschichten erinnert und ebenfalls der Bewährung dient. Betrachten wir noch einmal kurz die einzelnen Etappen. Der auf etwa 60 Seiten eingeschmolzene ‚Roman‘ gliedert sich in die drei Teile: Jugend - Vertreibung - Heimkehr. Der Beginn bringt das Misslingen von 1) Liebe/ Schönheit, 2) Ehe/ Tugend und 3) Freundschaft/ Bildung; letztere betrifft a) praktische Klugheit und b) poetische Fähigkeit, und beide erweisen sich unter den Umständen des höfischen Lebens als gefährlich. Schon hier kann man den Komplex Neid/ Eifersucht als eigentliches psychologisches Leitmotiv bezeichnen. Insofern wiederholt die zweite Intrige um die Liebe des Helden zur Königin die erste Intrige um dessen Gedicht. Ist der Held in Teil I jeweils der Leidtragende, der einsehen muß, dass eigene Tugend allein keine Garantie für Glück ist, so fungiert er in Teil II vor allem als Zuschauer und Zeuge. Er sieht nacheinander menschliche Unzulänglichkeit und Eheprobleme (La femme battue), gesellschaftliche Unterdrückung (L’esclavage), religiösen Fanatismus (Le bûcher), Aberglaube und Vorurteile (Le Souper), die Fragwürdigkeit der Priesterkaste, die mangelhafte staatliche 343 Von „un véritable anti-Versailles“ spricht der Herausgeber Saulnier, a. a. O., S. XIV. 180 Ordnung (Räuberwesen). Die nachgeholte Vorgeschichte von Astarté fügt diesem Spektrum die Aspekte der pervertierten Gewaltherrschaft und der feudalen Willkür und Grausamkeit hinzu. Damit aber wird der Protagonist zugleich wieder selbst beteiligt und entzieht sich dem Ogul, wie sich der schlaue Märchenheld, z. B. im Petit Poucet, dem menschenfressenden Ogre entzieht. Damit hat er jene Schläue bewiesen, die ihn zu praktischer Herrschaft befähigt, und er hat vor allem eine gewisse Tugendnaivität seiner ersten Phase überwunden. Die drei großen Prüfungen in Teil III bereiten ihn zur aktiven Übernahme von Verantwortung vor. Es handelt sich 1) um eine körperliche Prüfung (Les combats), 2) um religiöse und philosophische Belehrung (L’Hermite), und 3) um die große Frage nach dem Leben selbst. Die Handlung legt eine gewisse Relativierung des schon angesprochenen Tugendoptimismus nahe, indem die Frage nach dem Verhältnis von sozialer Organisation, menschlicher Interaktion und individuellem Tugendverhalten gestellt wird. Die eher abstrakt individualistische moral sense philosophy der Frühaufklärung erscheint dadurch in einem problematischen Licht. Oder man könnte auch sagen, der conte philosophique verwandelt die philosophical inquiry in ein fiktionales Experiment. Dazu kommt, dass schon hier, und nicht erst im Candide, offen auf die Theodizee von Leibniz 344 angespielt wird, die zur Zeit Voltaires vor allem durch den Moralphilosophen Christian Wolff (gest. Halle 1754) vulgarisiert worden war. Die französisch verfassten Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, die schon 1710 publiziert wurden, können philosophiegeschichtlich als letzter Versuch gewertet werden, das universale christliche Weltbild im Zeichen des philosophischen Rationalismus zu retten und neu zu begründen. Wie in den Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, 1714 kurz vor dem Tod des Philosophen verfasst, postuliert der Autor, dass Gott als Perfection Suprême bei seiner Schöpfung „le meilleur plan possible“ gewählt habe, dass mithin unter den Umständen einer endlichen Welt und Schöpfung „le Monde actuel le plus parfait qui soit possible“ sei. Ziel ist der Nachweis der Harmonie des Alles im Ganzen und auf der Ebene des Individuums, da die Seele zur Erfahrung dieses Ganzen fähig sei. Das bedeutet freilich nicht, dass die Welt absolut gut ist oder der Mensch „une pleine jouissance“ erreichen könne; vielmehr sind Begehren und Streben bereits im Tugendbegriff angelegt. Es scheint nun, dass sich Voltaire im Zadig noch nicht eindeutig äußert. Dafür spricht auch die Stelle, wo - in bezug auf die - übrigens missverstandene - Leibnizsche Formel der „prästabilisierten Harmonie“ - der Held gewisse Einwände erhebt, der Engel aber bei seinem „Mais …“ (S. 83) sich bereits in die Lüfte erhoben hat. Die Frage kann hier mit leichter Skep- 344 Vgl. W. H. Barber, Leibniz in France. From Arnauld to Voltaire. A Study in French Reaction to Leibnizianism, 1670-1760, Oxford, Clarendon Press 1955. 181 sis offen bleiben, weil es um praktische Lebensphilosophie geht und nicht wie im Candide um das Problem der Providenz Gottes. Lässt man die politischen Implikationen beiseite, so könnte man von einem individuell-gesellschaftlichen Ideal der Ganzheit sprechen. Jacques Gengoux 345 hat die These entwickelt, die deutlich triadische Struktur der Erzählung sei mit den drei Grundvermögen des Menschen, Cœur, corps und esprit in Verbindung zu bringen und gipfle am Ende in der dialektischen Versöhnung der „drei Vermögen“. Zadig erscheint so auch als Beitrag zu der cœur/ esprit-Diskussion des 18. Jahrhunderts. Gegen die Dissoziation des Menschen und das tragische Menschenbild Pascals gewendet, betone Voltaire also die konkrete und natürliche Einheit des Menschen, die in einem Lernprozess erreichbar sei. Verweisen kann man diesbezüglich auf die Pascalkritik im Dictionnaire philosophique, wo der Autor übrigens bei der Kritik Pascals an Montaigne ansetzt und letzteren aufwertet. Steht Teil I im Zeichen der Prüfungen des Herzens und zielt der Mittelteil vor allem auf die Kritikfähigkeit des Geistes, so beweist der Held am Schluss, dass er auch in körperlicher Hinsicht seinen Mann steht, sei es als heilender Arzt oder als Kämpfer gegen ungerechtfertigte Ansprüche. Ja, man kann noch weiter gehen. Die genannte Triade erinnert ja nicht zufällig an die bis auf Plato zurückgehende Vorstellung von Kopf, Herz und Magen, aus der eine organische Staatslehre abgeleitet worden ist. Die Dimension des Körpers würde dann auch den eigentlich privatmenschlichen Bereich von cœur und esprit übersteigen und den Stichpunkt der „Staatsführung“ andeuten. Die Leistung Voltaires liegt nach Gengoux in dieser übergreifenden Fragestellung, durch die außerdem bisherige Oppositionen wie cœur vs. esprit (empfindsames Paradigma) und cœur/ esprit vs. corps/ chair (Libertinismus) überwunden werden. Die Ausführungen Gengoux’s scheinen auch dann wichtig, wenn man die Akzente etwas anders setzt und die Eremitenepisode nicht als störenden Exkurs, der der Handlungseinheit Abbruch tut, begreift. Die metaphysische Frage bleibt ja gestellt, und sie schafft gegenüber der horizontalen Entwicklungsperspektive eine gleichsam vertikale Triade von Mensch, Gesellschaft und Gott/ Weltordnung, die das menschliche Vollkommenheitsstreben legitimiert und den Helden zum Suchenden macht. Entscheidend ist hier freilich offensichtlich der mittlere Bereich der Gesellschaft. Insofern ist der Zadig eine politische Parabel. Charakteristischerweise gelingt ja am Anfang der Rückzug ins Private weder im Sinne persönlichen Glücks noch im Hinblick auf den humanistischen Topos der weisen Muße und des Rückzugs in das Landleben. Eine bloße Erkenntnis der Natur im Kreise Gleichgesinnter scheitert buchstäblich an dem störenden Moment der gesellschaftlichen Dimension selbst der Poesie. Letztere aber ist gleich- 345 Jacques Gengoux, „Zadig ou les trois puissances de Voltaire“, in: Les Lettres romanes 16 (1962), S. 266-274, 340-362. 182 bedeutend mit den Verhältnissen bei Hof, die in den Motiven Missgunst, Verleumdung und Intrige leitmotivisch die ganze Erzählung durchziehen. Wie leicht im übrigen das ganze absolutistische Staatswesen durch die individuelle Verirrung des Königs zu Anarchie und Usurpation führt, zeigen ja die von der Königin berichteten Wirren. Man hat in diesem Zusammenhang auf den historischen Hintergrund des Krieges gegen Österreich und natürlich auf persönliche Erfahrungen des Autors verwiesen. Die Lösung liegt gleichwohl nicht in der Ersetzung der Staatsform, sondern, wie der Begriff eines aufgeklärten Absolutismus in der Hochaufklärung nahelegt, in der Annäherung an das alte platonische Ideal des Philosophenkönigs. Aber Zadig ist zugleich ein Aufsteigermärchen, ähnlich wie Der gestiefelte Kater, doch ohne dessen zynischen Hintergrund. Das heißt, der Held, aus wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen, bewirkt seinen Aufstieg aus eigener Kraft und begründet als Philosoph auf dem Königsthron die gerechte, auf Weisheit gebaute Herrschaft. In der ersten Handlungsphase lediglich Berater und Minister, ist der „homme de bien“ zuletzt auch der Retter der Monarchie, die er gegen Hofintrigen und gegen feudale Missstände verteidigt. Als neuer Ödipus rettet er die Königin, die als Geliebte zugleich das Erbe der Vergangenheit repräsentiert, und er profiliert sich dabei nicht nur in der alten adligen Domäne des corps (Kampf), sondern auch des Herzens und des Geistes, die bürgerliche Überlegenheit andeuten. Eine solche Durchsetzung des Wunschprinzips gegen das Realitätsprinzip ist aber nur im Märchen möglich, und sie setzt eine gewisse Einheit der geschilderten Welt voraus, die den Weg des Helden letztlich doch als providentiellen Weg erscheinen lässt. Beides gilt in der Folge nicht mehr: Die kleine Erzählung Micromégas (1752) nimmt mit dem Motiv der Sternenreise auch das der Fontenelleschen „pluralité des mondes“ und der Relativierung der Maßstäbe auf. Aus der Sicht des jungen Riesen Micromégas, einem Bewohner des Sirius, erscheint „notre petite terre“ eher lächerlich und beleuchtet die „prodigieuses différences que la nature a mises dans tous les êtres“ (S. 131). Auf eine lange Tradition der imaginären Reise gestützt - von Plutarch, Lukian, Cicero bis zu den Mondreisen des 17. Jahrhunderts, besonders den Voyages dans la lune (1656) des libertinistischen Autors Cyrano de Bergerac, der durch das Theaterstück von Edmond de Rostand 1897 um die Jahrhundertwende erneut Berühmtheit erlangte - benützt Voltaire das umgekehrte Schema, um wie in den Lettres persanes den fremden Blick zur Entlarvung des Eigenen einzusetzen. Die satirische Perspektive nivelliert die Unterschiede und reduziert die Welt der Extreme auf ein Narrenspiel, das nach Ira O. Wade den Sinn für die Maßstäbe schärfen soll. 346 Die nämlichen Mechanismen der Dezentrierung und Nivellierung gelten für den Entwicklungsroman Candide ou 346 Ira O. Wade, Voltaire’s ‚Micromegas‘. A Study in the Fusion of Sciences, Myth, and the Art, Princeton, University Press 1950, S. 102. 183 l’optimisme, der kein Entwicklungsprogramm mehr ist und dessen Reiseschema den Leibnizschen Providenzbegriff ironisch ad absurdum führt. Die Frage, die in Zadig eher optimistisch offen geblieben war, bricht mithin jetzt auf und bildet den Kern des Werkes. Um die Radikalisierung der Perspektive und den Abschied vom Aufstiegsmärchen zu erklären, wird gewöhnlich auf die sich verdüsternde Lebenserfahrung des Autors verwiesen, seine negativen Erfahrungen mit Friedrich d. Gr., der für ihn zuerst als Garant des Ideals vom aufgeklärten Herrscher erschienen war, die Kränkungen am Hof und in Frankfurt und die Periode des Herumirrens als persona non grata im Elsass. Auch der allerdings schon zurückliegende Tod der langjährigen Freundin und Gönnerin Madame du Châtelet 1749 kann letztlich dazu beigetragen haben, dass sich der Autor wie der Held in der satirischen Reisererzählung Histoire des voyages de Scarmentado (1756) als lächerlicher Ausgestoßener vorgekommen sein mag. Wichtig sind sicher auch äußere Ereignisse wie der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges 1756 (mit der französischen Niederlage bei Rosbach 1757) und damit das Aufbrechen überwunden geglaubter Gräuel. Für die philosophisch Antithese entscheidend war aber sicherlich das Erdbeben von Lissabon 1755, 347 das in ganz Europa tiefe Betroffenheit auslöste und bei Voltaire zu einer philosophischen Krise führte. Ebenso wie das Erlebnis des Krieges die optimistische Beziehung von Mensch und Geschichte infrage stellt, stellt das Erdbeben als Naturkatastrophe die optimistische und providentielle Verbindung von Mensch und Natur zur Debatte. Die individuelle Ohnmacht des bürgerlichen Autors wird mithin überlagert und verstärkt durch die Krise des geschichtlichen und des providentiellen, metaphysischen Weltbilds. Literarisch bedeutet dies: An die Stelle des programmatischen Lernens und Wirkens, d. h. der Bemächtigung der Welt, tritt ein sinnentleerter Kreislauf, die den negativen Helden ohne Möglichkeit zu handeln als ewig Gejagten und Gefoppten zeigt. Als Marionette eines blinden und destruktiven Schicksals beantwortet er die offene Frage Zadigs nach dem Zufall. Die einheitliche Welt zerfällt; der Blick des anderen ist nicht mehr an bestimmte Bereiche gebunden, sondern betrifft alle Schicksale und Schauplätze und wird mit dem kalt-ironischen Blick des Erzählers identisch. In einer Welt des Horrors und der Lächerlichkeit, einem Panoptikum, das Europa, den Orient und Südamerika einschließt, spielt dann Candide einen Anti-Télémaque, einen Candidus und Jedermann, Tabula Rasa im Sinne der Lockeschen Philosophie, und das einzige Ziel ist noch die wachsende Befreiung von Illusionen und falschen Vorstellungen. 347 Hierzu Harald Weinrich, „Literaturgeschichte eines Weltereignisses, Das Erdbeben von Lissabon“, in: ders., Literatur für Leser, Stuttgart, Kohlhammer 1971, S. 64-76. 184 Als satirische Pikareske 348 ist Candide ou l’Optimisme mithin der Inbegriff eines parodistischen Romans, der in ununterbrochenem Bezug auf die bisherige Tradition geläufige Motive und Muster umdreht und ridikülisiert. Jürgen von Stackelberg 349 hat diese in den Mittelpunkt seiner Interpretation gestellt. Gegen Klischees des Schulwissens über Aufklärung plädiert André Magnan für „une sorte de contrat de lecture“ 350 des 1759 erstmals als angebliche Übersetzung aus dem Deutschen und angeblich in Minden publizierten Werkes, das 1761 seine endgültige Gestalt erfuhr und so gleichsam zum extremen Gegenstück der Nouvelle Héloïse Rousseaus wurde, mit der es die Diagnose eines Bankrotts der Väter teilt. Der Held wächst als Waisenkind im Schloss des westfälischen Barons Thunder-ten-tronckh auf und erhält als Mentor und Erzieher den leibnizianischen Epigonen Pangloss, der ihn lehrt, dass die Welt die beste aller Welten sei. Die Liebe zu der jungen Cunégonde führt dazu, dass er mit Fußtritten aus dem Haus gejagt wird. Er tritt hinaus ins Leben, wie nach dem Sündenfall, und bleibt ziel- und orientierungslos: „Candide, chassé du paradis terrestre, marche longtemps sans savoir où...“ (S. 181). Als „jeune métaphysicien ignorant des choses de ce monde“ (S. 183) wird er das Opfer von Werbesoldaten, gerät in den abarisch-bulgarischen Krieg und entgeht nach der Desertation nur knapp dem Tod. In einem durch Geschwüre entstellten Bettler findet er seinen Lehrer Pangloss wieder, der nach der Verführung des Dienstmädchens Paquette ebenfalls aus dem Haus gejagt worden war. Die beiden treffen den kritischen Anabaptisten Jacques, den Pangloss davon überzeugen will, dass - mit einem Pope-Zitat - „les malheurs particuliers font le bien général“ (S. 187) und schiffen sich mit ihm nach Lissabon ein, wo sie Seesturm und Erdbeben erleben und Zeuge werden, wie der gütige Anabaptist für die Rettung eines unwürdigen und brutalen Matrosen sein Leben opfert. Candide gerät in die Hände der Inquisition und wird wegen öffentlich geäußerter Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit zusammen mit anderen zum Feuertod verurteilt, denn in der Universität Coimbra meint man, dadurch am besten einem neuen Erdbeben vorbeugen zu können. Mit Mühe und mit der Hilfe einer alten Frau entgeht er dem Gericht, nur um Cunégonde als Maîtresse des Großinquisitors wiederzufinden. Sie erzählt ihm ihre Geschichte und u. a. von der Zerstörung des heimatlichen Schosses. Beim anschließenden Abendessen platzt der eifersüchtige Hausherr, ein Jude, herein, stürzt sich auf den Helden und wird von ihm in Notwehr erdolcht. 348 Helmuth Petriconi, „Abenteuer und kein Ende“, in: Romanistisches Jahrbuch 14 (1963), S. 27-44. 349 Jürgen von Stackelberg, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München, Beck 1970, S. 349 ff. 350 André Magnan, Voltaire. Candide ou l’Optimisme, Paris, Presses Universitaires de France 1995 (Etudes llittéraires). 185 Aber auch der Großinquisitor ist angesagt, und so beschließt unser Held, auch jenen gleich umzubringen. Zu Schiff flüchten die beiden Liebenden nach Cadiz und werden durch einen Franziskaner der letzten Barschaft beraubt. Als Trosterzählung im Leid gibt die Alte, die nur noch eine Hinterbacke besitzt, ihre Geschichte zum besten: Sie ist der Inbegriff der Abenteuerparodie: Als Tochter des Papstes war sie von Korsaren gekapert, nach einem Gegenangriff mit Blutbad auf einem Stoß Leichen vergewaltigt worden, als Sklavin nach Tunis verkauft, dann über Tripoli, Alexandria, Smyrna nach Kontantinopel gebracht worden, wo sie als Geliebte eines Aga am türkischrussischen Krieg teilnahm, um als Flüchtige von Russland durch ganz Europa zurückzuirren. Nach diesem Vorgeschmack auf den Lauf der Welt gelangt man nach Buenos-Aires, wo Cunégonde die Geliebte eines reichen Prälaten wird. Der verwirrte Candide lässt sich von seinem schwarzen Diener, den er aus Cacambo nach Cadix mitgebracht hat, zur Flucht überreden, und sie finden den bewundernswerten Jesuitenstaat in Paraguay: „Los Padres y ont tout, et les peuples rien: c’est le chef-d-œuvre de la raison et de la justice.“ (S. 207) U. a. begegnen sie dem Jesuitengeneral, der sich als der eifersüchtige Bruder von Cunégonde herausstellt; er findet im Duell den Tod, und die beiden Flüchtlinge müssen erneut fliehen. Sie fallen in die Hände der Oreillons-Indianer, die sie zunächst für Jesuiten halten und verspeisen wollen. Freigelassen kommen dann Candide und Cacambo in das sagenhafte Land Eldorado, einem Paradies ohne Geld und Zwänge, in dem die Naturreligion verwirklicht ist. Mit einer Hammelherde, beladen mit Goldstaub, brechen die beiden nach einiger Zeit wieder auf, verlieren fast die ganze Herde, begegnen einem verstümmelten Negersklaven und treffen den Philosophen Martin, mit dem Candide sich nach Bordeaux einschifft. Die Überfahrt vergeht mit philosophischen Gesprächen, denn Martin ist Manichäist. Immer noch wohlhabend wird der Held in Paris das Opfer von Betrügereien; eine falsche Cunégonde stellt sich ihm vor, was Martin eher bemerkt als Candide selbst. Angewidert reisen sie in das Land der Freiheit, England, nur um dort sogleich Zeugen der Hinrichtung des Admirals Byng zu werden, für den sich Voltaire übrigens ebenfalls eingesetzt hatte: „parce qu’il n’a pas fait tuer assez de monde“ (S. 238). Candide gibt Martin recht: „tout n’est qu’illusion et calamité.“ (S. 239) Man bricht nach Venedig auf und trifft Paquette als Geliebte des entlaufenen Franziskaners Giroflée. Bei dem venezianischen Edelmann Pococurante ergibt sich die Gelegenheit zu einem Souper mit sechs entthronten Königen. Hier findet man dann auch Cacambo wieder, der erzählt, dass Cunégonde als Sklavin festgehalten werde. Also Aufbruch nach Konstantinopel: Dort trifft man zunächst den totgeglaubten Bruder der Geliebten, der sich durch homosexuelle Abenteuer missliebig gemacht hat, dann wird die - inzwischen durch die Blattern entstellte - Cunegonde freigekauft. Candide heiratet sie aus Trotz gegen den adelsstolzen Bruder und zieht sich mir ihr und den Gefährten auf ein Landgut am Bospo- 186 rus zurück. Die Langeweile wird nur durch die Nachricht eines blutigen Staatsstreichs in Konstantinopel unterbrochen, doch die Lehre ist jetzt „qu’en général ceux qui se mêlent des affaires publiques périssent quelquefois misérablement, et qu’ils le méritent.“ (S. 258) Was also tun, wenn Locke doch mit seiner Theorie der Unruhe des Menschen recht hat? Die Antwort gibt Martin: „Travaillons sans raisonner, ... c’est le seul moyen de rendre la vie supportable.“ Oder mit dem berühmten Satz Candides: „Il faut cultiver notre jardin.“ Jede Inhaltsangabe muss lang ausfallen, weil sonst der groteske Effekt der kumulierten Missgeschicke nicht zu Bewusstsein kommt, aber auch deshalb, weil das Reihenschema kaum eine in sich notwendige, geschlossene Handlungskette nahelegt. Was also in Teil II von Zadig vorübergehend als Mittel benützt wird, um ziellose Wanderung vorzuführen, wird hier zum Inbegriff des Lebens selbst. Ähnliches gilt für das Trennungs- und Wiedervereinigungs-Schema des byzantinischen Romans. Im Zadig als Mittel der Strukturierung begriffen, dient es hier durch die Doppelung der Wiederbegegnung und die Umkehrung der motivischen Voraussetzungen als lächerliche Antiklimax: Wie in der Nouvelle Héloïse wird der Liebende vom Vater der Geliebten hinausgeworfen und trifft die Geliebte unter anderen Umständen wieder; das erste Mal liebt Candide Cunégonde noch, doch sie hat ihre Treue gerade nicht bewahrt und hat dies auch weiter nicht vor; das zweite Mal liebt er sie nicht, aber heiratet sie trotzdem. Das Keuschheitsmotiv bleibt einseitig auf den Dümmling Candide bezogen. Letzterer ist ein lächerlicher Télémaque, freilich ein Télémaque ohne väterliche Spuren. Und dem düpierten Schüler entspricht der düpierte und lächerliche Mentor, der zudem ständig durch andere Begleiter ersetzt wird und zuletzt in dem Philosophen Martin einen ernsthaften Widerpart findet. Während aber der lächerliche Philosoph Pangloss (der Allessager) bis ans Ende an seiner Philosophie festhält, weil sie - wie er sagt - so schön sei und weil Leibniz nicht irren konnte, lernt sein Schüler im Laufe der Zeit doch dazu und zwar negativ: Zum ersten Mal wird hier Aufklärung radikal als Befreiung von Vorurteilen und Illusionen und damit als negativer Erkenntnisweg begriffen. Und dies gilt auch für die Providenz. Sie ist nicht einfach verschwunden, sondern hat sich zu einem negativen Prinzip zum Zwecke der Unglücksmaximierung entwickelt, zu einer Fatalitätsmaschine, die in merkwürdiger Weise derjenigen Prévosts ähnelt - allerdings abzüglich der pathetischen und heroischen Attribute. D. h., die Zufälle sind so zufällig, dass sie schon wieder als fatal erscheinen und als Motor des Geschehens auf das Gesetz des „enchaînement des événements de cet univers“ (S. 254) verweisen. Das denkbar Unwahrscheinlichste dient zur Rechtfertigung einer quasi dämonischen Vorsehung, die das kasperlehafte Spiel der Trennung und Wiederfindung lenkt. Oder anders: Der systematisch eingesetzte Zufall macht diesen zu einer vorhersehbaren Größe und zur negativen Kategorie nicht des Handelns, aber doch des passiven Erlei- 187 dens. Das Spiel funktioniert aber nur deshalb bis zum Schluss, weil sich der Held immer noch einen Rest Illusion bewahrt hat, und es ist in dem Augenblick zuende, da der Held selbst diesem Spiel durch seinen Rückzug und die totale Desillusion ein Ende setzt. Herbert Dieckmann 351 hat also wohl recht, wenn er im Candide weniger die Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem als die Kritik des Autors an einem falschen Bewusstsein sieht und den parodistischen Roman als Mittel der Einübung in die reale Welt interpretiert. Romankritik ist auch Mythenkritik, weil aus der Perspektive des verlorenen Absoluten das Leben zur dämonischen Groteske wird. Dieckmann teilt im Übrigen diese konstruktive Sicht mit einer Reihe moderner Interpreten. So spricht etwa Jean Sareil in seinem Essai sur Candide von „une leçon d’énergie, de courage et de dignité humaine“ 352 und definiert den Roman als „une libération“. Eine solche - vielleicht ein wenig zu emphatische - Charakterisierung wird immerhin gestützt durch den Begriff der menschlichen ARBEIT, die ganz am Ende an die Stelle der pikaresken Unruhe tritt und philosophisch als Lösung der Lockeschen Aporie von Langeweile und Unruhe erscheint: „le travail éloigne de nous trois grands maux, l’ennui, le vice, et le besoin.“ (S. 258) Arbeit wird damit zugleich zum Äquivalent von Realität. Dies wiederum betrifft vor allem den Status von Eldorado. Frühere Interpreten sahen darin noch den eigentlichen Ausdruck des naturrechtlichen Ideals des Autors. Inzwischen sieht man eher eine gewisse Unentschiedenheit Voltaires zwischen Naturrechtsdenken und Fortschrittsglauben und neigt dazu, Eldorado selbst als fragwürdig positiv gezeichnete, aber nicht weniger irreale Gegenwelt zur Wirklichkeit zu interpretieren. So betont besonders Roger Barny 353 das Fehlen aller lebensweltlichen Probleme, die Passivität, Statik, Geschichtslosigkeit und Abgeschlossenheit dieses angeblichen Ideals, in dem das Gold als bloßer Staub gewertet wird. Richtiger wäre wohl, auch hier von einer Entmystifizierung überkommener Muster zu sprechen: Nicht das utopistische Denken der Aufklärung ist gemeint, sondern ein Mythos, der zusammen mit der Inquisition die verhasste Seite des autoritären Katholizismus iberischer Provenienz spiegelt und zu der im 18. Jahrhundert in Frankreich geläufigen leyenda negra eines negativen Spanienbildes gehört. 354 Und wie Candide dieses Paradies im Grunde aus Langeweile verlässt, langweilt er sich zunächst auch am Bosporus, bis 351 Herbert Dieckmann, „Philosophie und literarische Form in Frankreich im 18. Jahrhundert“, in: ders., Diderot und die Aufklärung, Stuttgart, Metzler 1972, S. 53-79. 352 Jean Sareil, Essai sur Candide, Genève, Droz 1967, S. 55 und 104. 353 Roger Barny, „A propos de l’épisode de l’Eldorado dans Candide (Littératures et idéologie)“, in: Affrontements de classes et création littéraire, Paris, Les Belles Lettres 1973, S. 11- 30. 354 Vgl. Joseph Jurt, „L’image de l’Espagne en France au siècle des Lumières“, in: Cosmopolitisme, Patriotisme et Xénophobie en Europe au Siècle des Lumières, éd. par Gonthier-Louis Fink, Strasbourg 1987, S. 301-341. 188 das Heilmittel der Arbeit gefunden wird: „et Martin ne cessait de lui prouver qu’il y avait peu de vertu et peu de bonheur sur la terre; excepté peut-être dans Eldorado, où personne ne pouvait aller.“ (S. 239) Weitergehend können wir dann aber Eldorado als utopisches Zentrum einer Bewegung definieren, die mit der Vertreibung aus dem irdischen Paradies des Schlosses beginnt und mit dem Pachthof am Hellespont endet. Die symbolische Bedeutung ließe sich also wie folgt umschreiben: Der junge Held verliert die Geborgenheit des Schlosses, aber diese Geborgenheit ist erborgt und erscheint nur angesichts der Härte des wirklichen Lebens als ideal. Die bürgerliche Waise hat kein eigentliches Recht auf diese noch feudale Nestwärme und wird daher in die von Eigennutz beherrschte Welt hinausgeworfen. Aber die Flucht in die aufklärerische Utopie erweist sich nicht als tragfähig, da es doch um eine irreale Märchenlösung ginge, die zudem im Lichte des Naturzustands der benachbarten Kannibalen und ihres parodistisch affirmierten „droit naturel“ zum Fressen der Feinde etwas merkwürdig erscheint. Auch das aufklärerische Genre der Utopie ist damit erledigt. Das gleichsam wider Willen befreite bürgerliche Ich findet daher erst in der idealen Gemeinschaft der Arbeit eine neue Aufgabe. Und indem Candide auch die verwahrloste Cunégonde heiratet, wiederholt er den symbolischen Gestus der Rettung der Trümmer der feudalen Welt, wie er positiv bereits von Zadig vorgeführt wurde. Der Vergleich beleuchtet zugleich den Unterschied. Denn im Gegensatz zu der positiven Staatsauffassung des Zadig leugnet dieser Roman jede ernste gesellschaftliche Bindung. Die Einmischung in die „affaires publiques“ erscheint als lebensgefährlich. Der Garten Candides ist mithin Ausdruck nicht einer Versöhnung, sondern eines neuen abgeschlossenen, bürgerlichen Mikrokosmus, der nicht allein die metaphysischen Fragen, sondern auch politisch-historische Probleme zurückweist. Als verwirklichte und bewusst bescheidene Utopie der Arbeit unterscheidet sich dieser Garten zudem von den ländlichen Ruhepunkten des pikaresken Romans. Während die Welt des Draußen als Bereich der kollektiven Verwirrung und Entwurzelung erscheint - man denke nur an die sechs entthronten Könige -, begründet der neu geschaffene Innenbereich eine Zuflucht, die ihre resignativen Züge trotz allem nicht verbergen kann. William F. Bottiglia 355 hat den Garten als Projektion der Société des Philosophes und als radikal säkularisierte und egalitäre Gemeinschaft interpretiert, die sich von jeder staatlichen und religiösen Autorität gelöst hat Ein Vergleich mit der Société de Clarens des Voltaire 355 William F. Bottiglia, „Voltaire’s ‚Candide’: Analysis of a Classic“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century VII (1959). Vgl. auch Geoffrey Murray, Voltaire’s ‚Candide‘. The Protean Gardener = Studies on Voltaire and the Eighteenth Century LXIX (1970), der das Gartenmotiv unter dem contempler (S. 152) mit der Rolle des passiven Geschichtsschreibers, „Voltaire spectator of events“ (S. 140) vergleicht. 189 verhassten Rousseau wäre lohnend. Denn in beiden Fällen ist die Verwirklichung der konkreten Utopie an die Flucht aus der Realität gebunden. Der Robinsonmythos hat viele Gesichter. Anders als Candide beansprucht L’Ingénu, histoire veritable (1767) 356 historisch-realen Status. Und nicht die Flucht aus der als unerträglich empfundenen Gesellschaft, sondern die mühsame Integration steht zur Debatte. Das Schema Ausfahrt und Rückkehr, in Zadig bewusst kreisförmig und im Candide offen und dezentriert, um die Ablösung von der Vergangenheit vorzuführen, ist jetzt um die Heimkehr verkürzt, wie um die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zustands zu unterstreichen. Denn die Geschichte vom Huronen- und Naturkind, das nach Frankreich verschlagen wird, ist ja nicht neu und in fiktiver Form schon Anfang des Jahrhunderts in den Dialogues ou entretiens d’un sauvage et du baron de La Hontan (1704) behandelt worden, doch dort in charakteristischer Weise mit dem Ziel, das Eigene und die europäische Zivilisation mit den Augen des Fremden zu sehen, und gerade nicht im Hinblick auf die Integration des „Wilden“. Voltaire dreht jedoch das Schema um und stellt das Zivilisationsproblem in den Mittelpunkt. Mit einiger Übertreibung könnte man sagen: Er minimiert die herkömmliche Potentialität des Themas und macht aus dem edlen Wilden den Prototyp des ahnungslosen Jünglings, der im Stil des mondänen Gesellschaftsromans in die Welt eingeführt wird. Das rousseauistische Motiv der natürlichen Unschuld wird überlagert von dem Motiv der Erfahrung und des Lernens. Zunächst zum Inhalt: 1689 begegnen der Abbé de Kerkabon und seine Schwester Mlle de Kerkabon an der bretonischen Küste einem jungen Mann, der sich nach längerem Gespräch als Indianer aus dem Stamm der Huronen und zugleich als der vermisste Neffe des Abbé herausstellt. Das sorgt natürlich in der Provinzgesellschaft für eine Sensation. Und der Autor versäumt nicht, sogleich auf eine berechtigte erotische Neugier hinzuweisen: Die kleine rundliche Mlle de Kerkabon betrachtet den jungen Indianer eindringlich, und Mlle de Saint-Yves, die mit dem Abbé de Saint-Yves kommt, „était fort curieuse de savoir comment on faisait l’amour au pays des Hurons.“ (S. 327) Die beiden betrachten den Helden beim Schlafen durchs Schlüsselloch - „dans la plus belle attitude du monde“ (S. 328) - ein erotisches Motiv aus Tausendundeiner Nacht - und alsbald keimt eine zarte Liebe zwischen dem allgemein „L’Ingénu“ genannten Helden und Mlle de Saint-Yves. Zunächst ist aber die Bekehrung wichtig. Der Held wird anständig eingekleidet und soll getauft werden. Am festgesetzten Tag wartet die ganze Kirche, aber er kommt nicht; man findet ihn endlich - erneute pikante Situation - im nahen Bach stehen und auf die Taufe warten. Dann geht alles gut, nur dass der Ingénu nach dem Fest seine Taufpatin „sans façon“ heiraten will. Er eilt zu ihr, 356 Kritische Ausgabe von William R. Jones: Voltaire: L’Ingénu. Histoire véritable, Genève, Droz/ Paris, Minard 1957. 190 bedrängt sie und wird nur mit Mühe von seinem Plan zurückgehalten. Wütend reagiert er dann auf die Nachricht, dass Mlle de St. Yves ins Kloster gebracht worden sei. Auf die private Initiation folgt eine höhere Stufe: Eine Küstenattacke der Engländer wird mit Hilfe des Ingénu zurückgeschlagen. Der Hurone bricht an den Hof auf, um sich vorzustellen und die Heiratserlaubnis zu erwirken. Doch ein Gespräch mit zwei Hugenotten unterwegs führt ihn, von königlichen Spitzeln belauscht, geradewegs in die Bastille: Hier macht er die Bekanntschaft mit dem Jansenisten Gordon, der - anstatt ihn zu bekehren - unmerklich selbst von seiner natürlichen Denkweise beeindruckt wird. Gleichzeitig aber ist dies eine Zeit des intensiven Lernens, in der sich das Naturkind mit der abendländischen Gesellschaft auseinandersetzt. So wird Gordon zum Mentor seines Naturkindes, eines indianischen ‚Télémaque‘, und der Held kann am Ende sagen: „Sans vous, mon cher Gordon, je serais ici dans le néant.“ (S. 355) Mit Recht, denn Gordon gibt ihm auch einen Kurs über französische Klassiker des Theaters, die zugleich im Lichte natürlicher Rezeption getestet werden: „d’après la nature“, nicht nach den Moden der literarischen Kritik (356). Inzwischen hat sich Mlle de Saint- Yves nach Versailles aufgemacht, um den Geliebten wiederzufinden. Der einflussreiche Père de la Chaise versucht, ihre Notlage auszunützen und sie zu erpressen, um ihre Gunst zu gewinnen. Nach langem inneren Kampf gibt sie aus Liebe zum Ingénu und - wie es heißt - „par vertu“ dem Drängen des Erpressers nach - ein geläufiges Motiv - und kann auf diese Weise den Geliebten und Gordon aus dem Gefängnis befreien. Durch eine Indiskretion erführt der Ingénu jedoch den Preis seiner Freiheit und obwohl er die Geliebte seiner ungeminderten Achtung und Liebe versichert, stirbt diese aus Gram über ihre Schande. Zu spät bereut der Père de la Chaise das Unrecht und versucht mit allen Mitteln, das Getane wiedergutzumachen. Durch seine Vermittlung wird der Held zum königlichen Offizier ernannt. Der Ingénu ist bei genauerer Betrachtung ein merkwürdiges Werk. Jean Starobinski 357 hat von „Le fusil à deux coups de Voltaire“ gesprochen und die Dualität als Struktur- und Stilprinzip bezeichnet. Die Geschichte beginnt als komisch-erotische Erzählung im Stil des conte aus der Außenperspektive und verwandelt sich in einen roman sentimental, der den zentralen Konflikt von Liebe und Tugend neu instrumentiert und den Leser mit den Helden mitfühlen lässt. Gleichzeitig gliedert sich der Roman in die zwei Teile einer gleichsam privaten und einer gesellschaftlichen Initiation, wobei die Szenen mit Gordon Angel- und Ruhepunkt des Geschehens bilden. Die Dialektik von Natur und Kultur kommt in deren Gesprächen und in ihrer wechselseitigen Beeinflussung zum Ausdruck. War nämlich die ursprüngliche Natür- 357 Jean Starobinski, Le fusil à deux coups de Voltaire. La philosophie d’un style et le style d’une philosophie, in: Revue de métaphysique et de morale, 71 (1966), S. 277-291, wieder abgedruckt in ders., Le Remède dans le mal, Paris, Gallimard 1989. 191 lichkeit des jungen Protagonisten nur komisch, wenn auch erfrischend, so wird diese Natürlichkeit erst in der fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Kultur wirklich wertvoll und fungiert als Korrektiv falscher Sicht der Wirklichkeit. Dies gilt nur in Nuancen für die Literatur, die als Wert eigener Art begriffen wird, dagegen massiv für die Religion und ihre verschiedenen Konfessionen, die aus dieser Sicht nur entlarvt werden. Grundsätzlich ist aber der allmähliche Übergang von der ironischen Außenzur zustimmenden Innenperspektive selbst Ausdruck eines Wandels, durch den die Natürlichkeit überhaupt erst zum ernstzunehmenden Argument wird. Erst in der Begegnung zwischen dem edlen Wilden und dem edlen Kulturmenschen entsteht mithin das vermittelte und vermittelnde Ideal wahrer Humanität, die von allen Vorurteilen gereinigt und von ursprünglicher Naivität befreit ist. Es ist daher fraglich, ob man mit einem Teil der Kritik von einem nachlassenden Interesse des Lesers an dem allmählich sich kultivierenden Protagonisten sprechen kann. Das hieße ja, den Wert des Romans mit seiner provokatorischen Tendenz gleichzusetzen und zugleich zu vergessen, dass die Provokation am Anfang eher komisch harmlos ist und gerade da sich entfaltet, wo es um die Verletzung des genannten Humanitätsideals geht. Es ist vielleicht bezeichnend, dass uns der Autor das tragische Ende im Verzicht auf jedes Pathos als eine Verkettung von Unzulänglichkeiten und Vorurteilen zeigt und auch den Helden selbst nicht mit einer tragischen Aureole umgibt. Freilich - das ideologische Problem der Anpassung bleibt. Die Freundschaft zwischen dem Ingénu und Gordon ist das einzige, was das ideale Register aufrechterhält, während alle anderen Personen gleichsam abgefunden werden und sich irgendwie trösten. Denn „le temps adoucit tout“ und - wiederum - „malheur est bon à quelque chose“. Le monde comme il va, der Titel einer frühen Erzählung, scheint wieder das Motto, mit dem abgeklärten Altersweisheit, nicht ohne Ironie, den Dingen ihren Stachel nimmt. Von allen erzählenden Werken Voltaires nähert sich L’Ingénu am weitesten einem Roman an, ohne die Züge der experimentellen Erzählung ganz abzustreifen. Der Titel „histoire véritable“ verweist auf die ältere Tradition des psychologischen Kurzromans. Ungeachtet der satirischen und kritischen Elemente bewegt sich der Protagonist in einer realen geschichtlichen Welt, die den Bedingungshorizont der tragischen Liebesgeschichte mit ihren Missverständnissen und Peripetien abgibt und den paradigmatischen Weg des Helden vom Naivling zum Wissenden und von der Illusion zur Desillusion glaubhaft erscheinen lässt. Unmerklich verändert sich damit auch die Perspektive: Ursprünglich als Objekt der Neugierde von außen betrachtet, gewinnt der Ingénu individuelle Dichte; er wird zum Charakter, dessen Leben - nicht ohne autobiographische Anleihen von seiten des Autors - den Leser gefangen nimmt und sich gegen Ende mit dem Tod von Mlle de Saint-Yves im Sinne der histoire-Tradition zu rührendem Höhepunkt steigert. Wieder drängt sich entfernt der Vergleich mit Saint-Preux und Julie in der Nouvelle 192 Hélo ϊ se auf. Am Beispiel der klassischen Tragödie hatte der Held über fiktive Schicksale weinen gelernt und das Gefühl der Rührung eingeübt. Dies ist die Voraussetzung für die Verinnerlichung, die am Ende zum Gegenstand öffentlichen Mitgefühls macht und in dem Andenken an die verlorene Geliebte ein Stück persönlicher Identität schafft. Schuld, Versagen, Trauer und Schmerz setzen sich nicht gegen die Banalität des Lebens durch. Aber sie sorgen für eine tiefere Schicht der Menschlichkeit, die diesen Kurzroman auszeichnet. 358 358 Dass der Stoff nicht als tragisch empfunden wurde, scheint die melodramatische Komödie Le Huron (1770) von Marmontel zu zeigen. 193 X. Jean-Jacques Rousseau: Liebesroman, Erziehungsroman, Confessions oder mit Gott gegen Väter und Tradition Das Datum 1750 bedeutet eine Art geistesgeschichtlicher Zäsur. Während mit der Encyclopédie Voltaires und den Nachfolgern das Fortschrittsdenken der Aufklärung erst Gestalt gewinnt, bezeichnet das Denken Rousseaus eben die Krise dieses Fortschrittsparadigmas, den bewusst gewordenen Selbstwiderspruch eines Denkens, das in der Suche nach dem verlorenen Natürlichen an die unendliche perfectibilité glaubt. Deutlich wird dies in den beiden Discours, die Rousseau auf Preisfragen der Akademie hin entwirft und mit denen das Aufklärungsprojekt seine Unschuld verliert: dem Discours sur les sciences et les arts (1750) und dem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1754). Sie stellen den Fortschrittsoptimismus radikal in Frage. Die beiden Jugendschriften bedeuten den Ursprung des Rousseauschen Denkens und den Anfang einer Selbstfindung und Selbstsuche, 359 die Jean Starobinski 360 in seinem Rousseau-Buch La Transparence et l’obstacle allem vorangestellt hat. Rousseau selbst hat in den Confessions den Augenblick, da ihm auf der Landstraße nach Vincennes die These einfiel, als einen Moment fast religiöser Erleuchtung beschrieben. Ausgangspunkt war ja die Preisfrage der Akademie von Dijon, „Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs“. Die von der Akademie preisgekrönte Antwort machte den bisher eher durch Musiktheorien und kleine Opernlibretti bekannten Mann aus der Provinz mit einem Schlag berühmt. 1712 in Genf als Sohn eines kalvinistischen Uhrmachers geboren und seit 1728 auf steter Wanderschaft, zuerst unter fast pikaresken Umständen in Italien (Turin und Venedig), hatte Rousseau sieben Jahre der Idylle 1732 bis 1739 auf dem Landgut der Madame de Warens in Charmettes verlebt, 1740 als Hauslehrer in Lyon gearbeitet, 1743 als Gesandtschaftssekretär den Grafen Montaigu nach Venedig begleitet und war erst 1745 endgültig nach Paris gekommen, wo er mit Diderot und Condillac Bekanntschaft machte. Die Kritik des hergelaufenen Einzelgängers situiert sich in der sog. Luxus-Debatte, die einen Ausgangspunkt in der Bienenfabel des Bernard Mandeville hat; dieser hatte ja in seiner schon 1705 publizierten und 1714 mit dem endgültigen Titel versehenen Schrift The Fable of the Bees, or Private 359 Vgl. Marcel Raymond, Jean-Jacques Rousseau. La quête de soi et la rêverie, Paris, Corti 1962. 360 Jean Starobinski, J.-J. Rousseau. La transparence et l’obstacle, Paris, Gallimard 1971 (Bibliothèque des Idées). 194 Vices, Publick Benefits die Fortschrittsrolle des Luxus betont. 361 Wird der Luxus mithin als Ausdruck der Verfeinerung und Kultivierung im Zusammenhang mit frühliberalistischen Wirtschaftstheorien positiv gesehen, so kehrt Rousseau die Argumentation um und spielt das Jugendalter der Menschheit gegen die spätere kulturelle Reife aus: „Tandis que les commodités de la vie se multiplient, que les arts se perfectionnent et que le luxe s’étend; le vrai courage s’énerve […]“ (S. 52). 362 Verfeinerung und Vervollkommnung gehen Hand in Hand und zerstören die ursprüngliche Einfachheit, „l’image de la simplicité des premiers temps“ (S. 51), welche zugleich die Umwertung und Positivierung des Barbarenbegriffs gegen humanistischaufklärerische Begriffsbildung impliziert. „De quoi s’agit-il donc précisément dans cette question du luxe? De savoir lequel importe le plus aux empires d’être brillants et momentanés, ou vertueux et durables.“ (S. 50) Die Gleichsetzung von pauvreté, ignorance, simplicité und vertu musste die Enzyklopädisten empören, insbesondere einen Voltaire, den „célèbre Arouet“, auf den der noch unbekannte Neuling einen direkten Seitenhieb wagt (S. 51). Getreu dem empfindsamen Tugendpostulat geht es um die Tugendfähigkeit des ursprünglichen Menschen: „O vertu! Science sublime des âmes simples, faut-il donc tant de peines et d’appareil pour te connaître? Tes principes ne sont-ils pas gravés dans tous les cœurs, et ne suffit-il pas pour apprendre tes lois de rentrer en soi-même et d’écouter la voix de sa conscience dans le silence des passions? Voilà la véritable philosophie [...]“ (S. 59) In dieser umgewerteten Weltzeitalterbetrachtung erscheinen die ‚Modernen‘ und ‚Jungen‘ selbst als die ‚Alten‘, die sich von ursprünglicher Naivität entfernt haben. Das Verhältnis von Jung und Alt verschiebt sich im Rekurs auf die angenommene ursprüngliche Unschuld und Jugend, in deren Namen dann auch die angemaßte Autorität der späteren ‚Väter‘ entlarvt werden kann. Die Aufwertung der Naivität ist bekanntlich selbst an das bürgerliche Denken des 18. Jahrhunderts gebunden. 363 Die „philosophie“ der „philosophes“ erscheint damit obsolet. Die Rückkehr zu verlorener Einfachheit ist die Voraussetzung zur Überwindung der gegenwärtigen Entfremdung, und diese Rückkehr wird ermöglicht durch die Autonomie des Gewissens, das keiner „philosophischen“ Führung bedarf und die individuelle Autonomie begründet. Hier liegt der Ursprung des Gewissensbegriffs der späteren Confessions. Aber auch La Nouvelle Héloïse kann, wie wir sehen werden, als Fortset- 361 Otto Bobertag (Hrsg.), Mandevilles Bienenfabel, München 1914 (Bibliothek der Philosophen, 15); vgl. auch F. B. Kaye, „The influence of Bernard Mandeville“, in: Studies in Philology 19 (1922) S. 83-108. Der Vf. weist die öffentliche Verbreitung der Schrift erst seit 1723 nach. 362 Zitate nach Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts. Discours sur l’origine de l’inégalité, éd. par Jacques Roger, Paris, Garnier-Flammarion 1971. 363 Vgl. Hella Jäger, Naivität. Eine kritisch-utopische Kategorie in der bürgerlichen Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/ M., Skriptor 1975. 195 zung des theoretischen Diskurses verstanden werden, insofern es darum geht, in der Unvermitteltheit der Gefühle ein ursprüngliches Menschentum neu zu entdecken. Starobinski hat gezeigt, dass die utopische Gemeinschaft von Clarens, die im zweiten Teil des Romans beschrieben wird, in den hier entwickelten Idealvorstellungen der Unverstelltheit und Einfachheit gründet. Der indirekt angesprochene Mythos des Goldenen Zeitalters, geschichtlich nicht mehr einholbar, wird in die zivilisationsferne und der Hauptstadt entgegengesetzte Idylle verlegt, die allein Transparenz verbürgt und den Menschen als ganzheitliches Wesen restituiert - heißt es doch in dem - später von Hölderlin und von Schiller variierten Satz - im ersten Discours: „Nous avons des physiciens, des géomètres, des chimistes, des astronomes, des poètes, des musiciens, des peintres; nous n’avons plus de citoyens.“ (S. 55) Im folgenden zweiten Discours 364 hat Rousseau dann eine antiprogressistische Entwicklungsgeschichte des Menschengeschlechts im Zeichen der Entfremdung entworfen und in dem berühmten vorangestellten Gleichnis der Statue des Glaucus den Zivilisationsprozess mit wachsender Anlagerung und Verunstaltung des Menschen gleichgesetzt: „Semblable à la statue de Glaucus que le temps, la mer et les orages avaient tellement défigurée qu’elle ressemblait moins à un dieu qu’à une bête féroce, l’âme humaine altérée au sein de la société par mille causes sans cesse renaissantes, par l’acquisition d’une multitude de connaissance et d’erreurs [...] a, pour ainsi dire, changé d’apparence au point d’être presque méconnaissable [...].“ (S. 150) Der Autor spricht jetzt vom „état primitif“ und verlegt den Urzustand in den „homme sauvage“ „sujet à peu de passions, et se suffisant à lui-même“ (S. 202). Denn: „le sauvage vit en lui-même; l’homme sociable toujours hors de lui ne fait vivre que dans l’opinion des autres, et c’est pour ainsi dire, de leur seul jugement qu’il tire le sentiment de sa propre existence.“ (S. 234) Der „homme sauvage sujet à peu de passions, et se suffisant à lui-même“ (S. 202) repräsentiert freilich einen hypothetischen, vorgesellschaftlichen Zustand. Gegen die Gesellschaftstheorie von Hobbes gewendet, entwirft Roussseau daher ein Goldenes Zeitalter 365 kleiner Familiengemeinschaften, das deutlich an der Vorstellung des edlen Wilden 366 orientiert ist. Der gesuchte état primitif, noch ohne Neid, Besitzgier und amour-propre gehorcht dem „pur mouvement de la nature“ (S. 197) und ist auf Mitmenschlichkeit 364 Vgl. hierzu Karlheinz Stierle, „Ursprung und Supplement in Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes“, in: Roland Galle/ Helmut Pfeiffer (Hrsg.), Aufklärung, München, Fink 2007 (Romanistisches Kolloquium XI), S. 171- 198. 365 Vgl. Dieter Beyerle, „Rousseaus zweiter Discours und das Goldene Zeitalter“, in: Romanistisches Jahrbuch 12 (1961), S. 105-123. 366 Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt/ M./ Paris, Qumran-Verlag 1983. 196 und „pitié naturelle“, die Voraussetzung für sensibilité gegründet, doch zugleich lauert die Gefahr des Begehrens. Das Problem ist unauflösbar, denn die „époque d’une première révolution qui forme l’établissement et la distinction des familles“ führte auch zu „une sorte de propriété“ (S. 208). Mit dem berühmten Anfang des zweiten Teils: „Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire: Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.“ (S. 205) Und weiter: „Ce fut là le premier pas vers l’inégalité, et vers le vice en même temps“ mit den Folgen: vanité, mépris, honte und envie. (S. 210) Rousseau entwickelt an die Thesen der Luxusdebatte anknüpfend ein entwicklungsgeschichtliches Tableau, in dem sich die menschliche Gesellschaft über agriculture und métallurgie, Erfindung der Künste und Wissenschaften immer weiter von dem ursprünglichen Ideal entfernt. Fortschrittsgeschichte ist Verfallsgeschichte, Erwachsenwerden die Geschichte wachsender Selbstentfremdung. Voltaire hat in seinem berühmten Brief 1755 an Rousseau höhnisch bemerkt: „On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bête; il prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage.“ (S. 237) Aber Rousseau wusste natürlich, dass die Rückkehr zum Naturzustand unmöglich war; ihm ging es um den Aufweis der „première source des désordres de la société“ (S. 242). Da der Urzustand nicht wiederherstellbar ist, wird es darum gehen, zumindest auf einer höheren Ebene die Entfremdung durch die Gesellschaft zu überwinden. Dies ist der Sinn der dialektischen Struktur des Gesellschaftsmodells von Le Contrat social und des Erziehungsmodells von L’Emile; das Erscheinen der beiden Werke 1762 besiegelt auch äußerlich und offiziell den oppositionellen Status des Autors und macht ihn bis zu seinem Tod in Ermenonville 1778 zum Flüchtling und Außenseiter. Der empfindsame Briefroman Julie ou la Nouvelle Hélo ϊ se 367 ist nach Pelckmans „L’expression la plus complète et, de ce fait, la plus profondément critique de la mythologie familiale de son temps“ 368 , wohl weil hier die Wiederherstellung der ursprünglichen Familie an falscher väterlicher Autorität scheitert und der Versuch der Rückkehr zum Goldenen Zeitalter alle Zeichen der väterlichen Regression trägt. Der Roman, dessen Thema „ce sacrifice des convenances de la nature aux convenances de l’opinion“ (Teil II, Brief 2, S. 170) ist, bezeichnet den endgültigen Bruch mit dem frühaufklärerischen Gesellschaftsroman und seinen Varianten der Emanzipation des jungen Helden und seiner Integration in die Gesellschaft. An die Stelle der Emanzipation tritt das Motiv der Ich-Suche und der unglücklichen Subjektivität eines ‚namenlosen‘ und vaterlosen Helden. Der Roman war 1758 voll- 367 Zitate nach Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse, éd. par René Pomeau, Paris 1960 (Les Classiques Garnier). 368 Paul Pelckmans, Le Sacre du Père. Fictions des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983, S. 491. 197 endet und wurde 1761 zugleich in London und Paris publiziert. Noch im selben Jahr 1761 erschien die deutsche Übersetzung von Gellius. Mitten in der literarischen Flaute der frühen zweiten Jahrhunderthälfte bildet der Roman zugleich einen herausragenden Höhepunkt und das Bindeglied zwischen aufklärerischer Empfindsamkeit und Frühromantik. Der Roman, in dessen Vorwort sich der Autor erstmals explizit an ein ständeübergreifendes Publikum wendet, ist darüber hinaus der größte Publikumserfolg des 18. Jahrhunderts, 369 der die Lesererwartungen, wie Jauß 370 gezeigt hat, zugleich bedient, erweitert, ja überwindet und die Gültigkeit der ‚klassischen‘ Tradition der Väter in Frage stellt. 371 Der ländliche Dekor der Verführung und Liebe erinnert an Richardson; der angedeutete Stadt-Land-Konflikt verweist auf Vorbilder von Prévost bis Baculard d’Arnaud, und der tugendhaft sensible Held Saint-Preux erinnert an den Chevalier Des Grieux. Vor allem der Rückgriff des Autors auf das Heloisenthema, das seinerseits eng mit der Gattung Brief und Briefroman verbunden ist, erlaubt es, das Problem sozialer Schranken zwischen den Liebenden und väterlicher Zensur vor einem gleichsam historischen Hintergrund durchzuspielen. Das Heloisenthema 372 ist das Generationsthema par excellence: Der junge Liebende und ‚namenlose‘ Hauslehrer dringt in die väterliche adlige Welt der Geliebten ein und wird durch Entmannung für diese - nicht nur moralische - Transgression bestraft. David L. Anderson 373 spricht von „one of the greatest myths of modern times“, der erst im Zuge der Frühromantik entdeckt worden sei. Tatsächlich entsprechen ja Motive wie schicksalhafte junge Liebe, vom Unglück und von väterlicher Zensur verfolgter Held, Trennung und Abschiedsschmerz der Liebenden unmittelbar den Leserer- 369 Hierzu Sieghild Bogumil, Rousseau und die Erziehung des Lesens, Bern/ Frankfurt/ M., Herbert und Peter Lang 1974 und Claude Labrosse, Lire au XVIII e siècle. La Nouvelle Hélo ϊ se et ses lecteurs, Lyon, Presses Universitaires 1985. Interessant ist, dass sich in Frankreich die offizielle Kritik einschließlich der großen Vertreter der Aufklärung eher abweisend oder feindselig verhielten, während in Deutschland die geistige Elite den Roman von Anfang an begeistert aufnahm und zum Brevier des beginnenden Sturm und Drang machte. Stücke wie Der Hofmeister (1774) von Lenz und Romane wie Das Fräulein von Sternheim (1771) von Sophie de la Roche und natürlich Die Leiden des jungen Werthers (1774) bezeugen die nachhaltige Wirkung. Aber auch in Frankreich gab es eine Fülle von Nachahmungen und Parodien: Thorel de Campigneule, Le Nouvel Abailard (1763), der anonyme Roman Lettres d’un citoyen de Genève (1763), Durosoi, Lettres de Cécile à Julie (1764), und Durosoi, Clairval philosophe ou la force des passions; mémoires d’une femme retirée (1765). 370 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1984 3 , S. 589-613. 371 Jauß spricht anhand einschlägiger Anspielungen von dem „vollständigsten Autodafé, das die französische Klassik im 18. Jahrhundert erlitt“ (ebd., S. 595). 372 Charlotte Charrier, Héloïse dans l’histoire et la légende, Paris, Champion 1933, Genève, Slatkine Reprint 1977. 373 David L. Anderson, „Abélard and Héloïse: Eighteenth Century Motif“, in: Studies on Voltaire and the Eigtheenth Century 84 (1971), S. 7-51, hier S. 7. 198 wartungen des empfindsamen Zeitalters. Grundlage ist die Historia calamitatum (ca. 1130), in der Petrus Abaelardus an einen Freund gerichtet sein Leben als Trost im Unglück (epistula consolatoria) beschreibt, darunter auch die Geschichte seiner Jugendliebe zu Heloisa, seiner Schülerin, die nach der Trennung die Leitung eines Nonnenklosters übernahm. Nach der Lektüre der Historia richtet Heloisa an den einstigen Geliebten einen zugleich liebevollen und vorwurfsvollen Brief, aus dem sich ein kurzer weiterer Briefwechsel ergibt. Dessen Thema ist die Sublimierung der sinnlichen Leidenschaft zur Gottesliebe. Der in seiner Echtheit wahrscheinliche, aber nicht unumstrittene Briefwechsel war spätestens seit dem 17. Jahrhundert dem französischen Publikum bekannt. 374 Das Motiv der Klage der verlassenen Frau konnte überdies unschwer mit der klassisch-lateinischen Tradition der ovidischen Heroiden verbunden werden. Nach den französischen Übersetzern und Bearbeitern - Bussy Rabutin, 1642 ff., Boursault 1693 - geschieht dies ansatzweise in der Versdichtung des französischen Autors Beauchamps, Les Lettres d’Hélo ϊ se et d’Abélard, mises en vers français (1714, 1721 und 1737) sowie in dem großen Versgedicht des englischen Autors Alexander Pope, Eloisa to Abelard (1717). Die Nähe zum Liebesbriefroman zeigt ein Roman von Jacques Alluis, Les Amours d’Abélard et d’Hélo ϊ se (1676) oder auch die Tatsache, dass die Fassung von Beauchamps 1742 in eine Ausgabe der Lettres portugaises aufgenommen wurde, in der es ja ebenfalls um das Thema der Nonnenklage geht, und zwar unter dem neuen Titel: Lettres d’amour d’une religieuse portugaise. 1758 veröffentlichte der Dichter Colardeau seine Versepisteln Lettres amoureuses d’Héloïse à Abélard, in denen das neue Tugend-Gefühlsparadigma dem Stil der Zeit entsprechend pathetisch gesteigert ist. Dabei ist direkter Einfluss wiederum von Pope wahrscheinlich, da dessen Eloisa-Gedicht um die Jahrhundertmitte in mehreren Übersetzungen vorlag. In dem Vers „When love is liberty and Nature law“ 375 lassen sich unschwer Grundvorstellungen der empfindsamen Epoche festmachen. Colardeaus Versuch wurde seinerseits ergänzt und nachgeahmt von Dorat und Thibouville. Besonders interessant ist dabei, dass das Schema auch schon variiert wurde; so gibt es eine Heroide mit dem Titel Julie, fille d’Auguste, à Ovide (La Haye 1759) von Dorat; dass der Name der Heldin Rousseaus daher kommt, ist einigermaßen wahrscheinlich. Als Lektürehorizont besitzt das Heloisenschema mithin um die Jahrhundertmitte unmittelbare Aktualität. Es ist zum Brevier der Liebenden 376 gegen die Macht der Väter geworden. So wie in Dantes Inferno (Canto V) berichtet wird, dass Francesca da Rimini bei der Lektüre des Lancelot-Romans mit 374 Vgl. Carlo Bozzolo, „L’humaniste Gontier Col et la traduction française des Lettres d’Abélard et Héloïse“, in: Romania 95 (1974), S. 199-215. 375 Eloisa to Abelard, V. 92. 376 Vgl. Harald Weinrich, Literatur für Leser, Stuttgart u. a., Kohlhammer 1971, S. 77 ff. 199 ihrem Schwager Paolo in Versuchung fiel, 377 werden die Protagonisten der Histoire de Milady Juliette Catesby von Madame Riccoboni bei der Lektüre der Briefe schwach. Der Roman Rousseaus nimmt nicht nur in Titel und Personenkonstellation (Hauslehrer vs. adliges Mädchen) auf Abälard und Heloisa Bezug, sondern auch auf dieses Motiv der gemeinsamen Liebeslektüre, die zum Sündenfall führt. Dass die beiden Frauengestalten Madame Riccobonis, Juliette und Henriette, auf Julie und ihre Freundin Henriette d’Orbe nicht ohne Einfluss geblieben sein dürften, sei nur am Rande vermerkt. Überdies macht sich Rousseau die Heloisa-Perspektive zu eigen, gesteht doch die Heldin wie die historische Heloisa, sie hätte auch den Makel akzeptiert, öffentlich als Geliebte des Mannes zu gelten: „ je suis prête à te nommer hautement mon amant, à mourir dans tes bras d’amour et de honte“ (Teil II, Brief 7, S. 187). In Teil I, Brief XXIV an Julie lesen wir: „Quand les lettres d’Héloïse et d’Abélard tombèrent entre vos mains, vous savez ce que je vous dis de cette lecture et de la conduite du théologien. J’ai toujours plaint Héloïse; elle avait un cœur fait pour aimer: mais Abélard ne m’a jamais paru qu’un misérable digne de son sort, et connaissant aussi peu l’amour que la vertu.“ (S. 60) Unabhängig von dieser Kritik hat aber Rousseaus ungeheuer erfolgreicher Roman endgültig zur Konsekration des Mythos beigetragen. Das romantische Grabmal auf dem Père Lachaise zeigt, das die mittelalterlichen Liebenden eine Art Kultfiguren geworden waren. Noch 1803 erschien von Loaisel de Tréogate Héloïse et Abélard ou les victimes de l’amour. Die Nouvelle Héloïse ist ein ländlicher Roman, der sich zugleich gegen die hauptstädtische Aufklärung richtet. Der Untertitel Lettres de deux amants habitants d’une petite ville au pied des Alpes und auch die Préface verweisen auf die implizite Kritik an der Hauptstadt Paris, die im Innern des Romans in den anklagenden Parisbriefen des Protagonisten Saint-Preux ausgeführt wird. In welcher Weise die Lokalisierung am Genfer See und in der Alpenlandschaft sich in die beginnende Mode der Bergidylle einfügt und das alte Stadt-Land-Register neu instrumentalisiert, hat Hans Robert Jauß in rezepetionsästhetischer Perspektive gezeigt. Rousseau appelliert damit auch an ein neues Provinz- und Landbewusstsein, das in der Seconde Préface deutlich den „gens du monde“, für welche dieser Roman nicht geschrieben sei, entgegengehalten wird: „Les gens du bel air, les femmes à la mode, les grands, les militaires: voilà les acteurs de tous vos romans“. (S. 745) Gefragt ist mithin der „natürliche“ Leser in natürlicher Umgebung, denn die Pariser Literatur kenne nur den oberflächlichen Zeitvertreib und: „Tout tourne en dérision la simplicité des mœurs rustiques.“ (S. 746) Der Roman beinhaltet so einen grundsätzlichen Angriff gegen den bestehenden Literaturbetrieb, der nicht von der Aufklärung unterschieden wird. Immerhin hat Voltaire 377 Vgl. die breite themengeschichtliche Studie von Lorenzo Renzi, Le conseguenze di un bacio. L’episodio di Francesca nella „Commedia“ di Dante, Bologna, Il Mulino 2007. 200 soeben (1759) seinen Candide veröffentlicht, während die Encyclopédie, 1751 begonnen, auf dem Höhepunkt steht und aufklärerisches Bewusstsein erstmals als kollektives Ereignis und als progressives Bewusstsein einer Gruppe sichtbar macht. Rousseau aber schreibt: „Les auteurs, les gens de lettres, les philosophes ne cessent de crier que, pour remplir ses devoirs de citoyen [...], il faut habiter les grandes villes. Selon eux, fuir Paris, c’est haïr le genre humain, le peuple de la campagne est nul à leurs yeux; à les entendre, on croirait qu’il n’y a des hommes qu’où il y a des pensions, des académies, et des dîners.“ (S. 746) Genau dies, fuir Paris, hat der Autor selbst getan, als er sich 1756 in die Eremitage der Madame d’Epinay in Montmorency zurückzog und die bisher freundschaftlichen oder zumindest geselligen Bindungen zu den hauptstädtischen Philosophen abbrach, die - wie Diderot oder Grimm - Kritik an seinem Verhalten geäußert hatten. Und genau dies tut der Held des Romans, nachdem er sich in der ersten Liebesverzweiflung in das sittenlose Leben der Hauptstadt gestürzt hatte. Der Roman schildert Ursprünglichkeit und Transparenz auf zwei Ebenen und in zwei Phasen, die grob gesprochen den Themen: schicksalhafte Liebe/ Leidenschaften und Sublimierung/ Sieg der Tugend entsprechen. Etwas ironisch hat Lanson seinerzeit von einem „rêve de volupté redressé en instruction morale“ 378 gesprochen; die Parallelen zu dem Tugend-Verzicht-Paradigma des empfindsamen Romans liegen dabei auf der Hand. Aber bei Rousseau geht es doch um mehr: Als Roman der Leidenschaft und Sinnlichkeit thematisiert die Nouvelle Héloïse zunächst die Unmittelbarkeit der Gefühle gegen den Widerstand und die Verzerrungen der Gesellschaft. Inbegriff dieses Widerstands ist der dünkelhafte Vater Julies. Mit dem Kommentar des Freundes Edouard: „Heureux ceux que l’amour assortit comme aurait fait la raison, et qui n’ont point d’obstacle à vaincre et de préjugés à combattre. Tels seraient nos deux amants sans l’injuste résistance d’un père entêté.“ (Teil II, Brief 2, S. 171) In der Beziehung zwischen dem Hauslehrer Saint Preux und der adligen Tochter wird zugleich die Überwindung der ständischen Schranken - und zwar umgekehrt wie bei Crébillon oder Richardson - vorgeführt. Die Hingabe des tugendhaften Mädchens erfolgt im Namen eines natürlichen Glücksanspruchs, ja geradezu im Namen wahrer, gesellschaftlich nicht verstellter Tugend. Da der Versuch der Eheschließung scheitert, bleibt im zweiten Teil des Romans nur die Möglichkeit der Sublimierung. Das Idealbild der Geliebten wird zurückgenommen auf das der tugendhaften Mutter, Frau und Gattin, die als neue Beatrice den einstigen Geliebten zur Entsagung führt. Das Ideal der Unmittelbarkeit aber wird jetzt zum Gesellschaftsmodell weiterentwickelt und begründet darüber hinaus die problematische Idylle zu dritt, die biographisch sowohl auf das Jugendverhältnis 378 Gustav Lanson: „L’unité de la pensée de Jean-Jacques Rousseau“, in: Annales de Jean-Jacques Rousseau VIII (1912), S.1-32. 201 zu Madame de Warens wie auch auf das zu Madame d’Houdetot, der letzten großen Liebe des Autors, verweist. Gerade das Ungewöhnliche der Situation, das natürlich Anlass zu psychoanalytischen Deutungen gegeben hat, ist Ausdruck eines fast utopischen Vertrauensverhältnisses und eines Neuanfangs - nach dem Scheitern der direkten Beziehung - im Zeichen einer „extrême confiance réciproque“, wie es in den Confessions heißt: „Ainsi s’établit entre nous trois une société sans autre exemple peut-être sur la terre“. 379 Die bedrohte Idylle soll im „petit cercle“ gerettet werden. Doch zum Inhalt. Der Roman gliedert sich in 6 Teile. Er setzt ein mit dem direkten Briefkontakt der Liebenden und kompliziert sich in dem Maße, in dem diese zurücktreten und andere, Freunde und Angehörige, das Wort ergreifen. Unter dem Titel Les amours de Milord Edouard Bomston schließt sich ein romanesker Diskurs an, das der Autor bzw. Herausgeber der anderen Briefe angeblich aus brieflichen Mitteilungen zusammengestellt hat. Das Motiv der Entsagung wird hier in mondäner Umgebung variiert. Bomston erscheint als weltmännisch gereifter „alter ego“ des Helden. I. Der junge bürgerliche Erzieher Saint-Preux unterrichtet in Hause des Barons d’Etanges bei Vevey die Tochter Julie und ihre Kusine Claire d’Orbe. Der Roman setzt ein mit dem atemlosen Liebesgeständnis: „Il faut vous fuir, mademoiselle, je le sens bien: “[...].“ Julie gesteht ihm jedoch ihre eigene leidenschaftliche Liebe und überredet ihn nach einem gefährlichen Kuss im „bosquet“ zur vorübergehenden Trennung, die zur Entdeckung der Alpenlandschaft Anlass findet. Nach seiner Rückkehr gibt sie sich ihm hin und schwankt darauf zwischen Seligkeit und Verzweiflung, während Saint-Preux die Heiligkeit dieser Liebe fast hymnisch beschwört. Die traute Gemeinsamkeit wird aber bald auch von außen gestört. Ein englischer Freund der Familie, Lord Edouard, kommt ins Haus und weckt die Eifersucht des Helden, der in dem Fremden einen Rivalen vermutet. Bevor es jedoch zum Duell kommt, lenkt Edouard, vom Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt, großzügig ein, ja er rät sogar dem Vater, Saint-Preux als Schwiegersohn zu akzeptieren. Der Baron reagiert freilich äußerst schroff und wirft Saint-Preux aus dem Haus. II. Zusammen mit Edouard ist Saint-Preux nach Paris aufgebrochen. Die Weiterreise nach England ist geplant, und Edouard schlägt Julie brieflich vor, nachzukommen und sich heimlich in England trauen zu lassen. Indessen erlebt der Held seine Initiation in das Großstadtleben, das er zunächst heftig kritisiert. Zunehmend gewinnt die Großstadtatmosphäre jedoch Einfluss auf seine Moral. Er gerät in libertinistische Kreise und macht die Bekanntschaft vornehmer Lebedamen, von denen er sich verführen lässt. Julie, die ihm ein Bild geschickt hat und von der Hochzeit Claires berichtet, ist über 379 Rousseau, Les Confessions, éd. par Jacques Voisine, Paris 1964 (Les Classiques Garnier), S. 231. 202 seine Beichte bestürzt. Doch es kommen äußere Komplikationen hinzu. Denn inzwischen hat ihre Mutter die Liebesbriefe entdeckt und ist schwer erkrankt. III. Der Tod der Mutter weckt in Julie heftige Schuldgefühle, da sie durch ihr Verhalten dazu beigetragen zu haben glaubt. Claire, die Zeugin der inneren Krise des Mädchens wird, schreibt an Saint-Preux und mahnt ihn zur Vernunft; als Beispiel stellt sie ihm ihre eigene, nicht auf große Liebe gegründete Ehe vor Augen. Saint-Preux ist beinahe zur Entsagung bereit, als er ein Billet von Julie erhält, in dem sie ihn um die Auflösung ihrer heimlichen Bindung bittet. Dann geht alles sehr schnell. Der Vater schreckt auch gegenüber Julie nicht vor einem beleidigenden und brutalen Verhalten zurück. Von Claire erfährt Saint-Preux von der Heirat Julies mit dem Landedelmann M. de Wolmar, und Julie selbst bittet ihn in einem langen resignierten Abschiedsbrief um Verständnis und Verzeihung. Daraufhin brechen die Freunde nach England. auf. IV. Nach sechs Jahren - Claire ist inzwischen verwitwet - kündigt ihr Saint-Preux seine Rückkehr von einer Weltreise an und wird von Wolmar herzlich empfangen: Julie hat ihm alles gestanden, und der Gatte will ein Beispiel vernünftiger und vertrauensvoller Lebensführung geben. Nach der Aussprache beginnt eine Zeit des gemeinsamen Lebens auf dem Gut Wolmars, der seinen Gast zu einem längeren Aufenthalt ermutigt, zwischendurch - als Vertrauensbeweise - sogar ostentativ verreist und Saint-Preux die Erziehung seiner Kinder anvertraut. Das Gut stellt das Ideal einer aufgeklärten, gerechten und ökonomisch sinnvollen Wirtschaft dar, die ausführlich vorgestellt wird. Die scheinbar zeitlose Idylle vernünftiger Gemeinsamkeit wird jäh gestört, als Julie Saint-Preux gesteht, dass sie trotz allem nicht glücklich ist. Eine Bootsfahrt auf dem Genfer See beschwört alte Erinnerungen herauf und stürzt den Helden in tiefe Melancholie; die herrliche Naturkulisse verstärkt nur das Gefühl der Leere. V. Doch noch einmal gelingt die Restitution der Idylle. Wolmar kehrt zurück, und die Beziehungen scheinen wieder stabilisiert. In langen Briefen wird der friedliche Alltag auf dem Lande geschildert und die Atmosphäre der Bescheidenheit und Herzlichkeit sowohl in der Familie als auch zwischen Herrschaften und Dienstboten hervorgehoben. Eine Ernte und das anschließende Erntefest bilden den Höhepunkt innerhalb des kleinen, autarken Lebensbereiches. Julie beschreibt ihr Erziehungsprogramm und lässt Saint-Preux an allen Verhältnissen der Familie teilhaben. Der gleichförmige Alltag wird unterbrochen durch das Angebot Lord Edouards an Saint-Preux, ihn auf einer Romreise zu begleiten. Der Grund ist jene unglückliche Liebe, die im Anhang näher ausgeführt ist. Fern von Julie hat Saint-Preux eines Nachts einen Angsttraum, in dem ihm die einstige Geliebte mit einem Leichenschleier bedeckt erscheint. Angstvoll wartet er auf die Rückkehr. Inzwi- 203 schen hat Claire der Freundin ihre Zuneigung zu Saint-Preux gestanden; Julie rät ihr zur Ehe mit jenem und schreibt ihm in diesem Sinn. VI. Aus Rom zurückgekehrt, weist Saint-Preux jedoch diesen Vorschlag von sich; als Grund nennt er seinen Wunsch, unabhängig zu bleiben. Ein drittes Mal gelingt indessen die Wiederherstellung der Idylle nicht. Der Angsttraum des Helden erweist sich als prophetisch: Julie hat während einer Kahnfahrt zu der Burg Chinon eines ihrer Kinder aus dem Wasser gerettet und sich dabei selbst tödlich erkältet. Auf dem Totenbett gesteht sie ihre Liebe und betont zugleich die Notwendigkeit der Entsagung. Saint-Preux soll sich der Kinder weiter annehmen. Claire erklärt sich ihm, ist aber ebenfalls bereit zu entsagen. Die bloße Inhaltsangabe sagt - bei einem Briefroman noch weniger als bei auktorialem Erzählstil - wenig über die psychologische und ideologische Motivation. Der entscheidende Unterschied zu der Gattungstradition des sentimentalen Liebesromans, dessen Schemata noch deutlicher erkennbar sind, ist ja der hohe Grad der Reflexion, der dem Roman einen experimentellen Charakter verleiht und ihn eher in die Nähe des Emile als der Manon Lescaut rückt. So geht es nicht einfach um Liebe und Entsagung - dies ist übrigens auch ein wesentlicher Unterschied zu dem lyrisch emphatischen Duktus des Werther-Romans -, sondern um die Erörterung der Natur und Legitimität der Liebe in konkreten Handlungszusammenhängen. Zunächst erscheint die Liebe als höchste Form natürlicher Kommunikation oder - mit den Worten des ersten Discours - als Inbegriff der „facilité de se pénétrer réciproquement“, d. h. sich zu durchschauen und zu verstehen. Nicht zufällig tritt daher der direkte Briefdialog in dem Maße zurück, wie gesellschaftliche Hindernisse sich in den Vordergrund schieben, erste Missverständnisse auftauchen und - mit den Begriffen Starobinskis - die gesuchte transparence durch äußere und innere obstacles unmöglich wird. Den Totenschleier auf dem Gesicht Julies am Ende des Romans hat Starobinski denn auch als tiefsten Ausdruck dieser das Rousseausche Werk durchziehenden Grundproblematik gedeutet. 380 Die Dialektik von présence und absence, von Anfang an für die Gattung Briefroman konstitutiv, wird daher unterstrichen durch Form und Funktion der Briefe, kurz und direkt, wo noch Kommunikation möglich ist, lang, eher indirekt und berichtend, wo es nur noch darum geht, eine Entwicklung zu referieren. Angesichts einer relativ gleichmäßigen Länge der einzelnen Teile ist allein die jeweilige Zahl der Briefe aufschlussreich: Teil I: 150 Seiten mit 65 Briefen, Teil II: 120 Seiten mit 28 Briefen, Teil III: 90 Seiten mit bis zu 26 Briefen, Teil VI. mit 110 Seiten und nur 13 Briefen, d. h. die durchschnittliche Länge der Briefe erhöht sich von 2,2 auf 8,5. Höhepunkt ist auf jeden 380 Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La Transparence et l’obstacle, bes. Kap. IV, S. 84 ff. 204 Fall Teil I, während in II die zeitliche Trennung von drei Jahren bereits die große Trennung nach III vorweg andeutet. Die Folge ist ein Monolog der Entfremdung: „nous ne sommes plus les mêmes, et je ne sais plus à qui j’écris.“ (Teil II, Brief 1, S. 165) Andererseits kann jetzt gerade der Liebesbrief die Überwindung der Distanz und die Verbindung der Liebenden sichtbar machen. Dennoch genügen die Einflüsse von Paris einerseits und die der Eltern andererseits, um die „loi des distances“ wieder bewusst zu machen. Symbolisch kommt dies in der Episode zum Ausdruck, in der die Mutter Julies Briefe findet und an sich nimmt: der entwendete Brief bedeutet die entwendetet Sprache, das Zerbrechen der Kommunikation. Später stellt sich heraus, dass Wolmar die ,entwendeten‘ Briefe besitzt und als symbolischer Ersatzvater damit zum Hüter der Kommunikation zwischen den Liebenden werden kann.: „Je confie Julie épouse et mère à celui qui, maître de contenter ses désirs, sut respecter Julie amante et fille.“ (Teil IV, Brief 12, S. 481) Daher wird uns das weitere Schicksal der Liebenden dann aus den Briefen Dritter einsichtig. Nach der sechsjährigen Pause schließlich könnte man von einer ironischen Verkehrung der genannten présence/ absence-Dialektik sprechen: Julie und Saint-Preux sind zwar beieinander, doch ihr Umgang wird in Briefen an Dritte beschrieben. M. a. W., gerade in der physischen Nähe ist mangels einer direkten Korrespondenz auch ein Kommunikationsdefizit spürbar: „Mais se trouver auprès d’elle, mais la voir, la toucher, lui parler, l’aimer, l’adorer, et, presque en la possédant encore, la sentir perdue à jamais pour moi.“ (Teil IV, Brief 17, S. 504) Kennzeichnenderweise wird Julie dabei immer mehr zum Objekt oder Inhalt der Liebe und des Romans. Ihre eigene Korrespondenz wird seltener, bis sie beinahe ganz verstummt bzw. im Tod zur puren absence wird. Absence aber heißt Undurchdringlichkeit. Und so schreibt ihr eigener Mann einmal an Saint-Preux: „car pour votre amie, on n’en peut parler que par conjecture; un voile de sagesse et d’honnêteté fait tant de replis autour de son cœur, qu’il n’est plus possible à l’œil humain d’y pénétrer, pas même au sien propre.“ (Teil IV, Brief 14, S. 492) Letzteres gibt ja Julie auf dem Totenbett tatsächlich zu. Der Schleier 381 wird zur Metapher der Verdrängung. Das liebende Ich wird mithin auf das hilflose Monologisieren zurückgeworfen, und statt der Perspektive des Briefromans herrscht in V und VI eine Tendenz zum tagebuchähnlichen Rechenschaftsbericht. Das ändert sich erst am Schluss: Die Wiederaufnahme der direkten brieflichen Kommunikation ist freilich gleichbedeutend mit der Entdeckung der Wahrheit, die zum tragischen Ende überleitet. Aber wie das Eingeständnis der Liebe hier auf Teil I zurückverweist, so auch Stil und Funktion der Briefe. Julie: „Quel sentiment délicieux j’éprouve en commençant cette lettre! Voici la première fois de ma vie où j’ai pu vous écrire sans 381 Vgl. allgemein Patricia Oster-Stierle: Der Schleier im Text. Funktionsgrschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, München, Fink 2002, S. 201-238. 205 crainte et sans honte. […] On étouffe des grandes passions; rarement on les épure.“ (Teil VI, Brief 6, S. 652) Und Saint-Preux: „Julie! une lettre de vous! … après sept ans de silence! …“ (Teil VI, Brief 7, S. 662) Für Julie schließt sich der Kreis: „Hélas! j’achève de vivre comme j’ai commencé.“ (Teil VI, Brief 12, S. 731) Das heißt, es geht - über die „convenances de l’opinion“ (S. 170) hinweg - um den Sieg der natürlichen Gefühle. In seinem Brief an Claire spricht Edouard von der gott- und naturgewollten „douce union“ der Liebenden und vergleicht ihren Zustand mit dem paradiesischen Zustand neu erschaffener Reinheit und Unschuld: „Ces deux belles âmes sortirent l’une pour l’autre des mains de la nature.“ (Teil II, Brief 2, S. 169) Das erinnert nicht zufällig an den berühmten Anfangssatz des Emile: „Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme.“ Im Namen einer an den Ursprung gebundenen Unschuld, für die der väterliche Gott steht, wird die verderbte Tradition der ‚Väter‘ zurückgewiesen: Emile wird vaterlos aufwachsen. Daher das leidenschaftliche Plädoyer gegen die Tyrannei der Väter, die die Unnatur der Gesellschaft verkörpern: „Pourquoi faut-il qu’un insensé préjugé vienne changer les directions éternelles et bouleverser l’harmonie des êtres pensants? “ (S. 169). Das natürliche Gesetz des VATERS im Himmel strafe die „vanité d’un père barbare“ Lügen, sei doch „ce chaste noeud de la nature“ weder der Willkür des Herrschers noch der väterlichen Autorität unterworfen. (S. 169) Und Saint-Preux zögert nicht, die „injuste résistance d’un père entêté“, „un veilliard sans raison“ (S. 171) und das eigene Schicksal mit der ungerechten Ordnung der Gesellschaft in Verbindung zu bringen und an die Stelle von Reichtum und Geburt „le mérite“ (S. 170) zu setzen. Nicht allein Julies Vater, die ‚väterlichen‘ Werte der Gesellschaft werden mit dem aufklärerischen Verdikt der Tyrannei belegt und am Ideal einer „justice universelle“ (S. 170), „la loi sacrée de la nature“ (S. 171), gemessen. Die Rückkehr zum Ursprung ist damit überholt; die Leidenschaft, die mit paradiesischen Konnotationen der Unschuld verknüpft war, erscheint im Nachhinein als vorübergehendes Herausfallen aus der väterlichen Ordnung. Adliges, an Erbfolge und väterliches Prestige gebundene „convenances“ stehen gegen den jungen, ‚vaterlosen‘ Aufsteiger. Nicht zufällig hat Marie-Hélène Huet - nur auf den ersten Blick verwunderlich - die Nouvelle Héloïse zu den „romans d’ascension sociale“ 382 gezählt. Tatsächlich lässt die rührende Liebesgeschichte zu leicht vergessen, dass Saint-Preux einen virtuell pikaresken Helden darstellt, von dessen Herkunft nie die Rede ist, der jedoch die gesellschaftlich weit über ihm stehende Geliebte aus dem väterlichen Bereich lösen will. Am Ende steht der Sieg des VATERS. Wal- 382 Marie-Hélène Huet, Le Héros et son double. Essai sur le roman d’ascension sociale au XVIII e siècle, Paris, Corti 1975, S. 75-104. 206 burga Hülk 383 hat auf die Schlüsselszene im 1. Teil des Romans aufmerksam gemacht, in der Julie versehentlich (und auch symbolisch? ) gestürzt ist und vom - plötzlich versöhnlichen - Vater auf den Schoß genommen und in „douces étreintes“ liebkost wird (Teil I, Brief LXIII, S. 150). Die beinahe inzestuösen Konnotationen der Szene, die in Heinrich von Kleists Die Marquise von O... nachgestellt werden wird - der Vater umfasst seufzend die Hüften des Mädchens -, unterstreichen den auch sexuellen Machtbereich des Vaters und die unentrinnbare Verstrickung der Heldin „in die väterliche Ordnung“ 384 . Die Beschreibung des ebenso rührenden wie peinlichen Vorgangs durch die Heldin selbst, einer „scène de la nature“, in der diese „le plus délicieux moment de ma vie“ (S. 151) erlebt zu haben meint, zeigt, dass sie die Zusammenhänge eher ahnt als begreift. Die ‚sexuelle‘ Besitzergreifung des Vaters führt folgerichtig (in Teil II) zur Übergabe des weiblichen Tauschobjekts an den adligen Gatten Wolmar, der alle Züge eines edlen Ersatzvaters trägt und den Sieg der väterlichen Ordnung bekräftigt. Er wird Saint-Preux, der nach den Ausschweifungen an die Tür seines ländlichen Anwesens klopft, zu ewiger Sterilität und Unselbständigkeit verurteilen. Die Aufnahme in die ländliche Gutsgemeinschaft steht in seitenverkehrter Analogie zu der unterschwellig erotischen Vater-Tochter-Szene in Teil I; das ostentative Vertrauen Wolmars beruht auf einer ins Moralische gewendeten ‚Kastration‘ des unglücklichen Liebenden; die Verinnerlichung der väterlichen Normen vollendet den Sieg der Väter. Leidenschaft kennt auch der Roman vor Rousseau, aber erst Rousseau deutet ein neues ganzheitliches Verständnis von Liebe, Leidenschaft und Sinnlichkeit im Zeichen der naturhaften Unschuld an: raison und nature sind keine Widersprüche und stützen die dergestalt legitimierte Liebe: „je vois avec transport combien, dans une âme honnête, les passions les plus vives gardent encore le saint caractère de vertu.“ (Teil I, Brief 5, S. 15) Für Saint- Preux bewahrt gerade die hingehende Liebe „une inaltérable pureté.“ (S. 15) Der Paradiesmythos, der in Manon Lescaut nur als Traum aufgeschienen war, wird hier für Augenblicke eingelöst. Auch Rousseau spricht in der Préface von kindlicher Unschuld: „de jeunes gens, presque des enfants“, die sich einander in gegenseitiger Offenheit ganz hingeben („épanchement du cœur“ - „un amour si tendre et si vrai“, Teil I, Brief II, S. 29). Ihre Liebe ist Inbegriff des „beau moral“, der den schönen Seelen eigen ist, und so appelliert Julie an den Geliebten: „Tu reçus du ciel cet heureux penchant à tout ce qui est bon et honnête; n’écoute que tes propres désirs, ne suis que tes inclinations naturelles; songe surtout à nos premières amours.“ (Teil II, Brief 11, S. 201) Fast 383 Walburga Hülk, „Jean-Jacques Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) und Les Confessions (1782-1789)“, in: Dietmar Rieger (Hrsg.), 18. Jahrhundert. Roman, Tübingen, Stauffenburg 2000, S. 169-203. 384 Ebd., S. 175. 207 möchte man von einer Mystik der Sinnlichkeit sprechen, wenn Saint-Preux nach der Liebesnacht, die zugleich die ideale ‚Hochzeitsnacht‘ ist, an Julie schreibt: „Quelle volupté pure, continue, universelle! Le charme de la jouissance était dans l’âme; “ […].“ (Teil I, Brief 55, S. 123) Dieser zentrale Brief entwirft das Modell einer leib-seelischen Ganzheit in der „félicité suprême“, die eine ganz in Eigenverantwortung übergegangenen Moral voraussetzt: das Befolgen des eigenen inneren Gesetzes gegen die gesellschaftlichen Vorurteile und die väterliche Repression. Unter den gegebenen Umständen muss dieses Modell hypothetisch bleiben. Es ist jedoch kennzeichnend, dass Rousseau an die Stelle reflexionsloser Tugendlarmoyanz die Reflexion über das Verhältnis von Moral und Liebe setzt. Ist Liebeshingabe Natur oder Unnatur? Noch in traditionellen Vorstellungen befangen, schreibt Julie dazu: „Ô toi que j’aime le mieux au monde après les auteurs de mes jours, pourquoi tes lettres viennent-elles contrister mon âme [...]? Tu voudrais que mon cœur s’occupât de toi sans cesse; mais dis-moi, le tien pourrait-il aimer une fille dénaturée à qui les feux de l’amour feraient oublier les droits du sang, et que les plaintes d’un amant rendraient insensible aux caresses d’un père? “ (Teil I, Brief 20, S. 45) So steht dem Paradigma der autonomen Liebe das Gegenparadigma verinnerlichter gesellschaftlicher Sittlichkeit gegenüber, die die „caresses d’un père“ gegen die Liebkosungen des Geliebten ausspielt und symbolisch den Vater zum Rivalen des jungen Mannes macht. Begriffe wie véritable amour, honnêteté, sensibilité, erscheinen plötzlich konkomitant und gipfeln in dem Opfergedanken der sacrifices à la vertu. Julie: „il me semble que le véritable amour est le plus chaste de tous les liens. C’est lui, c’est son feu divin qui sait épurer nos penchants naturels, […].“ (Teil I, Brief 50, S. 113) Dass dieser Gedanke der Reinigung der Leidenschaft ein Irrtum war, wird sich Julie erst auf dem Totenbett eingestehen. Bis dahin aber begründet er das Paradigma der Sublimation, deren Problematik das eigentliche Thema des restlichen Romans ist. So bezeichnet denn Claire, die einen vernunftgemäßen Liebesbegriff vertritt, aber selbst am Ende ins Zwielicht gerät, gegenüber dem Helden die sich selbst genießende Tugend als Leidenschaftsersatz, als gleichsam aufgezehrte Leidenschaft: „vous avez épuisé durant une année les plaisirs d’une vie entière.“ (Teil III, Brief 7, S. 300) Denn: „le véritable amour a cet avantage aussi bien que la vertu qu’il dédommage de tout ce qu’on lui sacrifie, et qu’on jouit en quelque sorte des privations qu’on s’impose par le sentiment même …“ (S. 299) Nun plötzlich kann auch die Dämonie der Leidenschaft sichtbar werden. Von Abgründen (gouffre), Verbrechen (crimes), Verirrung (s’égarer) und von der Selbstentfremdung eines „cœur né pour la vertu“ (Teil III, Brief 18, S. 332) ist bei Julie die Rede. Dementsprechend fungieren Heirat und Familiengründung als Rückkehr zu den traditionellen Vorstellungen, ja als Wiedergutmachung und Selbsterlösung durch das Selbstopfer, das in dem heiligmäßigen Tod Julies gipfelt, der Apotheose der geretteten und wieder- 208 gewonnenen Unschuld. Fast möchte an von einem biblischen Schema sprechen: Unschuld - Sündenfall - Vertreibung aus dem Paradies (des Elternhauses/ der Liebe? ) - Neubegründung der Existenz auf Opfer und Mühe - Erlösung und Himmelfahrt. Aber ganz so einfach ist es wohl nicht. Wenn selbst M. de Wolmar den Tugendschleier als Tugendschutz versteht und wenn Julie vor ihrem Tod zugibt, vielleicht vor einem erneuten ,Sündenfall‘ gestanden zu haben, wenn im zweiten Teil immer wieder die trügerische Ruhe der Idylle durch das Wetterleuchten verdrängter Gefühle unterbrochen wird, dann zeigt der Roman eigentlich weniger den Sieg als die Aporien, die mit dem Sieg der Tugend verbunden sind. Es ist ja auch zumindest merkwürdig, dass Julie, die zeitlebens über den Atheismus ihres Mannes betrübt war und sich darüber auch mit dem Freund ausspricht, ihren eigenen Tod nicht wirklich christlich-erbaulich, sondern eher betont heiter und wissend inszeniert und die erhoffte Unsterblichkeit vor allem als Möglichkeit der Erinnerung an geliebte Menschen, gleichsam der befreiten Erinnerung, begreift. Der Versuch, Pflicht und Neigung miteinander zu versöhnen, Freundschaft und eheliche Liebe nebeneinander bestehen zu lassen, „selon la loi du devoir et de la nature“ (S. 333), erweist sich so gesehen als zumindest prekär. Es ist ein Experiment, das den Einsatz des eigenen Glückes erfordert, um einen Rest dieses Glücks zu retten; und bevor es soweit ist, ist Julie nicht frei von widerstreitenden Gefühlen; „je suis lasse de servir aux dépens de la justice une chimérique vertu. […] Nature, ô douce nature! reprends tous tes droits; j’abjure les barbares vertus qui t’anéantissent.“ (Teil III, Brief 15, S. 314), schreibt sie an den einstigen Geliebten und gesteht, sie sei müde „de servir aux dépens de la justice une chimérique vertu“ (S. 313). Justice läge in der Erfüllung des Naturgesetzes, und so kann Julie guten Gewissens schreiben: „Oui, tendre et généreux amant, ta Julie sera toujours tienne, elle t’aimera toujours; il le faut, je le veux, je le dois.“ (S. 313) In der von M. de Wolmar bewusst inszenierten häuslichen Situation hat die Natur für einen Augenblick den Sieg davongetragen. Symbolisch steht die Natur also offensichtlich im Bunde mit der Liebe oder genauer: mit der Wahrheit dieser Liebe. Mehrere zentrale Szenen punktieren diesbezüglich das Romangeschehen und unterstreichen die genannte Entwicklung von Natürlichkeit zu einer entfremdeten und sublimierten Natur: 1) in Teil I die Kussszene im „bosquet“ (Teil I, Brief 74). Auf seine Weise symbolisiert der Hain Geschlossenheit und Geborgenheit des Paradieses, voller „asiles“ und „retraites“ (S. 36) im Gegensatz zu dem „vaste désert du monde“ (S. 207), in das der Held bald darauf hinausgestoßen wird. Motivisch verweist es auf den berühmten Garten Julies im 4. Teil (Brief 11, S. 453ff.) voraus, in dem sich die einstigen Liebenden wieder begegnen. Wiederum impliziert der Garten intime Zweisamkeit. Im Gegensatz aber zum Hain geht es um einen Landschaftsgarten, der in ursprüngliche Natur über- 209 geht, aber selbst doch künstliche, d. h. vermittelte Natur darstellt, mithin eine Art künstliches Paradies,das an das mittelalterliche Motiv des Paradiesgartens erinnert. 385 Wie Julie selbst sagt, ist hier alles bewusst angelegt und gewollt: ‚kastrierte‘ Natur, die hinter dem scheinbar weiblichen Refugium wiederum die Verinnerlichung der väterlichen Normen sichtbar macht. 386 Es handelt sich um die viel besprochene erste ausführliche Beschreibung eines sog. englischen Gartens 387 in der französischen Literatur und die Stelle hat nachweislich als Auslöser für die Durchsetzung des neuen Geschmacks in Frankreich gedient. Man denke nur an den Park von Ermenonville, den der Rousseauverehrer, der Marquis de Girardin, in den 70er Jahren anlegen ließ und wo der Autor begraben liegt. M. de Wolmar hat nach eigenen Worten die neue Art des Gartens in England kennengelernt, wo der „landscape garden“, wahrscheinlich seinerseits vermittelt über chinesischen Einfluss (jardin anglo-chinois), seit Beginn des 18. Jahrhunderts den am französischen Vorbild geschuldten barock-klassizistischen Garten verdrängt. Wolmar sagt dazu: „Je ne vois dans ces terrains si vastes et si richement ornés que la vanité du propriétaire et de l’artiste, qui, toujours empressés d’étaler, l’un sa richesse et l’autre son talent, préparent, à grands frais, de l’ennui à quiconque voudra jouir de leur ouvrage.“ (S. 463) Die Langeweile resultiert aus falsch verstandener Regelmäßigkeit, „ennemie de la nature et de la variété“. Gewundene Wege ersetzen die langen Alleen, hügeliges Gelände das flache Parterre, das Durcheinander der Blumen und Bäume die strenge Anordnung der Beete, das Spiel von Licht und Schatten, die malerischen Effekte des Wassers und der Perspektive machen den Garten zu einer Gesamtnatur im Kleinen. Rousseau bzw. Wolmar verwendet ausdrücklich den Terminus pittoresque, 388 der als Vorform und Möglichkeit des Romantischen das Naturbild der zweiten Jahrhunderthälfte entscheidend geprägt hat. Doch über diese ästhetikgeschichtliche Symbolik scheinbar emanzipierter Natur hinaus hat der Garten eine zentrale emblematische Bedeutung, wird er doch zum symbolischen Äquivalent eben jener vermittelten Natur hinaus und sublimierten Sinnlichkeit, die die Protagonisten an sich selbst erproben. In seinem Brief an Edouard beschreibt Saint-Preux den Ort als Elysium („Elysée“) und Paradies, in dem „je n’y vois point de travail humain“, aber Nicht-Sehen heißt nicht, dass die Arbeit nicht geleistet worden wäre: „et 385 Vgl. Birgit Wagner, Gärten und Utopien - Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung, Wien/ Köln/ Graz, Böhlau 1985 (Junge Wiener Romanistik, 7), S. 144. 386 Vgl. Walburga Hülk, a. a. O., S. 179. 387 Vgl. Peter V. Conroy jr., „Le jardin polémique chez J.-J. Rousseau“, in: Cahiers de l’Association Internationale des Etudes françaises 34 (1982), S. 91-105. 388 Vgl. Wil Munsters, La poétique du pittoresque en France de 1700 à 1830, Genève, Droz 1991, und Vf. , Artikel „Malerisch/ pittoresk“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. III, Stuttgart/ Weimar, Metzler Verlag 2001, S. 760-790. 210 tout cela ne peut se faire sans un peu d’illusion“ (S. 462), wie Julie selbst zugibt. Den Charakter eines indirekten Hinweises auf die Wahrheit besitzt die Vogelvoliere, durch die das Motiv der freiwilligen Gefangenschaft angedeutet wird und den zwiespältigen Charakter dieses „prétendu verger“ (S. 453) unterstreicht. Das Werk Julies ist mithin zugleich auch das symbolische Gefängnis Julies, das künstliche Labyrinth, in das der Minotaurus Wolmar die Geliebte eingeschlossen hat. Daher fühlt der Held, als er am folgenden Morgen den Garten aufsuchen will und damit gleichsam stellvertretend die Kommunikation mit Julie sucht, einen merkwürdigen Stimmungsumschwung. Erschien ihm der Garten eben noch als „doux aspect de la seule nature“ im Gegensatz zu „tout cet ordre social et factice qui m’a rendu si malheureux“, so verändert die Erinnerung an Wolmar und seine Worte buchstäblich die Szene: „J’ai cru voir l’image de la vertu où je cherchais celle du plaisir; cette image s’est confondue dans mon esprit avec les traits de Mme de Wolmar; et, pour la première fois depuis mon retour, j’ai vu Julie en son absence non telle qu’elle fut pour moi et que j’aime encore à me la représenter, mais telle qu’elle se montre à mes yeux tous les jours.“ (S. 469f.) Der Garten wird zum dialektischen Symbol wiedergewonnener Natürlichkeit, die auf künstlicher Ordnung und Entfremdung beruht, aber gerade darum doch die Wahrheit der Natur andeutet. Es ist kein Zufall, das gleich im Anschluss ein Brief Julies an Claire steht, in dem die innere Problematik angedeutet wird: Julie hat erst jetzt erfahren, dass ihr Mann die verlorenen Liebesbriefe kennt und besitzt und sie damit einer tugendhaften Erpressung aussetzt. Die pittoreske Ästhetik, die als Ästhetik der geschwungenen s-förmigen Linie und des Vorrangs des Lieblichen, Überraschenden und Verführerischen deutlich weiblich konnotiert ist, indiziert hier also zugleich die insgeheim zugerichtete Natur als weibliches Gefängnis, das genau dem Tugendexperiment M. de Wolmars zu entsprechen scheint und sich als Ergebnis gelungener Verdrängung der eigentlichen Natur ausweist. Neben dem Gartenmotiv steht nämlich die nicht entfremdete, große, männlich konnotierte Natur, die auf den Ursprung verweist und als emblematischer Ausdruck Gottes fungiert. Sie begegnet uns zuerst, als Saint-Preux mit dem Bild der Geliebten im Herzen, durch die Berglandschaft des Wallis streift und die ursprünglichen Sitten der bäuerlichen Bevölkerung beschreibt. Es handelt sich um die erste Darstellung der Schweizer Alpen in der französischen Literatur (Teil I, Brief 23). Die unentfremdete wilde und großartige Natur symbolisiert hier die Legitimität natürlicher Leidenschaft und der - jenseits gesellschaftlicher Konventionen liegenden - Erhabenheit der Gefühle. Das Erhabene oder Sublime, seit dem Traktat des sog. Pseudo-Longinos Peri hypsous und bis zu Boileau vor allem eine rhetorische Kategorie der tragischen Dichtkunst, war ja erst durch die Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) des Engländers Edmund Burke zu einer neuen ästhetischen Kategorie geworden, die entscheidend zur Überwindung des 211 klassizistischen Schönheitsbegriffs beitrug. Gegenüber den Eigenschaften des Schönen: dem Glatten, Vollendeten, formal Geschlossenen, verweist das Erhabene auf das Rauhe, Großartige und Schreckliche, das sich jeder gefälligen Formgebung entzieht und als Faktor des Unendlichen auf die metaphysische romantische Landschaft vorausweist. Dieser gleichsam religiöse Schrecken aber wird ästhetisch wahrgenommen, d. h. er wird zum delightful horror oder terror und begründet ein neues Verhältnis des aufgeklärten Menschen zur wilden Natur par excellence, Meer und Berge, die jetzt neu gewertet und metaphysisch, religiös überhöht werden. 389 Die ersten Zeugnisse stammen von englischen und deutschen Reisenden und Dichtern, Dennis, Addison oder Albrecht von Haller, dessen großes deskriptives Gedicht Die Alpen (1732) europaweit berühmt wurde. Im 23. Brief des 1. Teils schließt Rousseau schließt als erster hieran an. Die „relation“, die Saint-Preux an Julie sendet, enthält alle Ingredienzien der neu entdeckten schaurig-schönen Wildnis: „d’immenses rochers“, „de hautes et bruyantes cascades“, „un torrent éternel“, „un abîme dont les yeux n’osaient sonder la profondeur“, die angsterregende Dichte eines Bergwaldes, der wie ein „gouffre“ die „nature sauvage“ von der „nature cultivée“ (S. 50) trennt. Der Held entdeckt die Schönheit der religiös konnotierten vertikalen Perspektive, „car la perspective des monts, étant verticale, frappe les yeux tout à la fois et bien plus puissamment que celle des plaines“ (S. 51) Und er entdeckt mit einer „volupté tranquille“ die „inaltérable pureté“ der in den Äther aufsteigenden Bergregionen, die durch einen Dunstschleier - fast denkt man an Dantes Irdisches Paradies auf der Höhe des Läuterungsberges - von der profanen Ebene geschieden scheinen: „enfin le spectacle ce je ne sais quoi de magique, de surnaturel, qui ravit l’esprit et les sens; on oublie tout, on s’oublie soi-même, on ne sait plus où l’on est.“ (S. 53) Natürlich ist dies zugleich der Bereich des Nichtentfremdeten, „chez un peuple qui vit pour vivre“, nicht auf Glanz und Luxus aus ist und die moderne, entfremdete Geldwirtschaft kaum kennt. Die Berge werfen Saint-Preux das Bild der „première liberté“ zurück (S. 60), das er in seiner Liebe zu sehen glaubt. In ihnen findet er die legitime gottväterliche Dimension wieder, welche die Gesellschaft verweigert und die auch das künstliche pittoreske Idyll, der Ort selbstgenügsamer Weiblichkeit, nicht bieten kann. Dem steht später die Heimfahrt über den See (Teil IV, Brief 17) gegenüber. Auch hier geht es um unverfälschte Natur, und Wolmar ist nicht als Dritter störend im Hintergrund. Aber es ist Natur im Modus der Vergangenheit; die Ursprünglichkeit ist durch die verinnerlichten Zwänge der Mo- 389 Jacek Wo ź niakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit, dt. Frankfurt/ M., Suhrkamp 1987 und Carsten Zelle, „Angenehmes Grauen“. Literarhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg, Felix Meiner 1987. 212 ral und Konvention letztlich unerreichbar. Umso größer ist der Gegensatz zwischen der friedlichen Abendstimmung und den offensichtlich nur mühsam verdrängten, wahren Gefühlen, die eben im Rahmen der erhabenen Natur wieder zu Tage treten. Erinnerung, wahre Natur und die Wahrheit der Gefühle sind isomorph. 390 Das Wasser symbolisiert Ruhe, aber auch Tod. In der fraglichen Szene ist der Held nahe daran, sich in den See zu stürzen, und später wird Julie sich bei einem ähnlichen Versuch unter umgekehrten Vorzeichen die tödliche Erkältung holen. Das Wasser des Sees erinnert aber auch an die künstlichen Rinnsale und Bächlein des Gartens, die ihrerseits ihre natürliche Entsprechung in den Wildbächen haben, von denen im Zusammenhang mit einer kleinen Bergwanderung vom See aus die Rede ist. Wie der See zum erweiterten Rund des Gartens wird und ebenfalls geschlossene Symbolik nahelegt, fungiert der „réduit sauvage“ der Berge als Äquivalent des „bosquet“ und deutet den wilden, ungezähmten Hintergrund der Vordergrundidylle an. Die Beschreibung „de ces sortes de beautés qui ne plaisent qu’aux âmes sensibles“ (S. 501) verweist auf die wilde Alpenlandschaft. Für die symbolische Struktur des Romans ist jedoch die Verklammerung wichtig, die gegen Anfang und gegen Ende die Berglandschaft mit der Geliebten assoziiert und die Einsamkeit der Liebe mit der wilden Einsamkeit der Natur. Als Spiegel der „sentiments violents“ (S. 502) des Helden, aber auch als Landschaft der Erinnerung stehen die Berge für die Stärke und die Dauer des Gefühls, und das heißt zugleich für die eigentliche Wahrheit hinter dem Tugendschleier. Nach dem Unglück auf dem See wird die Heldin diese Wahrheit auszusprechen wagen: „Vous m’avez crue guérie, et j’ai cru l’être … Oui, j’eus beau vouloir étouffer le premier sentiment qui m’a fait vivre, il s’est concentré dans mon cœur. […] Mon ami, je fais cet aveu sans honte; ce sentiment resté malgré moi fut involontaire; il n’a rien coûté à mon innocence; tout ce qui dépend de ma volonté fut pour mon devoir: […] J’ai fait ce que j’ai dû faire; la vertu me reste sans tache, et l’amour m’est resté sans remords.“ (Teil VI, Brief 7, S. 728f.) Roland Galle 391 hat diese Geständnisszene als Wiederaufnahme der zentralen Szene in der Princesse de Clèves interpretiert - nach Jauß nimmt Rousseau eben die Princesse von seiner Kritik der literarischen Tradition aus 392 - und von einer Radikalisierung der ursprünglichen Situation gesprochen: äußerliche Pflicht und innere, natürliche Gefühle treten auseinander, um doch beide bestätigt zu werden. Die Spannung kann nur durch den Tod gelöst werden, der den Kreis schließt („le premier sentiment qui m’a fait vivre“, S. 728) und dem Versteckspiel ein Ende bereitet. 390 Vgl. Wolfgang Matzat, „Vergessen und Erinnern in Rousseaus Nouvelle Héloïse“, in: Aufklärung hrsg. von Roland Galle und Helmut Pfeiffer, München, Fink 2007, S. 355-374. 391 Roland Galle, Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik, München, Fink 1986, S. 55 ff. 392 H. R. Jauß, a. a. O., S. 595. 213 Nach dem Gesagten erscheint auch die Utopie von Clarens in einem eigenartigen Licht. Als eine Art Treffpunkt aller hommes de bonne volonté einschließlich Claire und Edouard fungiert sie als quasi-mythischer Mittelpunkt der Welt im Sinn mythischer Weltmodelle, wie sie Mircea Eliade 393 beschrieben hat. Sie ist ein konzentrischer Flucht-und Ruhepunkt, aus dem man ausbrechen kann, aber an den man auch wieder zurückkommt. Als wiedergefundene Idylle und Elysium ist das Gut überdies symbolischer Nachfolger der ersten Idylle der Liebenden. Die neue Familie tritt an die Stelle der alten Familie und signalisiert natürliche Geborgenheit. Als Teil der Wallislandschaft und an erhöhter Stelle gelegen, ist der besagte Ort zudem ein Teil der idealisierten Naturszenerie, partizipiert also an dem Charakter der Rückzugsidylle, die die Landschaft von Anfang an prägt. Die polare Entgegnung bilden dann die großen Städte: Paris, das mit Ausschweifung und Libertinage verknüpft ist; London, das als Tor zur Welt die bindungslose kosmopolitische Variante der Freiheit, des Reisens und der Weltbegegnung symbolisiert; endlich Rom, das mit der unglücklichen Leidenschaft Lord Edouards zu einer tugendhaften Edelkurtisane assoziiert wird und durchaus auch auf seelische Gefährdung, vielleicht auch den sinnlichen Zauber des Südens verweist. Als Fluchtort ist Clarens nun mit dem Schicksal des Helden verbunden. Saint-Preux, man vergisst es zu leicht, ist nicht nur der große Liebende, sondern auch der verlorene Sohn und der heimatlose Wanderer zwischen den Welten, auf der Suche nach Geborgenheit. Als Hauslehrer in der Familie Julies spielt er fast genau die gleiche Rolle wie später bei M. de Wolmar, so dass man fast von dem unbewussten Versuch sprechen könnte, in die Geborgenheit der Familie zurückzukehren. Er ist der gleichsam namenlose Held, der anders als die pikaresken Helden der ersten Jahrhunderthälfte nie erwachsen wird. Kennzeichnenderweise erfahren wir nichts von seiner Vergangenheit und Herkunft. Das Motiv der Waise ist hier symbolisch vorausgesetzt und weist auf den Emile voraus. Eine Identität erhält Saint-Preux erst durch seine Liebe, aber diese Liebe ist früher wie später nicht ohne die Einnistung in bestehenden Strukturen möglich, bzw. sie wird gerade dadurch wieder unmöglich. Ist der - an die unglücklichen Helden Prévosts erinnernde - Protagonist schon im ersten Teil das hilflose Opfer der stärkeren Vaterfigur, so wiederholt sich auch diese Konstellation in bezug auf M. de Wolmar. Er, der Mittfünfziger, kühl, ruhig, ohne starke Gefühle, Vertreter eines gemäßigten Rationalismus und Tugendoptimist im Stil der englischen moral sense philosophy ist offensichtlich mehr der ‚Vater‘ als der Rivale, und die von ihm durchgesetzte Ordnung steht metonymisch für seine Autorität. Die väterlichen Züge des Mannes, der zu Saint-Preux spricht „comme un 393 Mircea Eliade, Ewige Bilder und Sinnbilder. Über die magisch-religiöse Symbolik, Frankfurt/ M./ Leipzig, Insel 1986, Kap. I: „Die Symbolik des ‚Zentrums‘“. 214 père à son enfant“ (S. 405), werden wiederholt angedeutet. Sie verweisen aber ihrerseits auf die mütterlichen Züge der einstigen Geliebten, die in ihrer Rolle als Mutter unantastbar wird und auch psychoanalytisch-symbolisch gesehen jede Liebesbindung tabu erscheinen lässt. Beachtet man weiter, dass auch Claire als rationales Gegenstück zu Julie an deren Qualitäten partizipiert bzw. auf Wolmar selbst verweist und dass Lord Edouard Bomston die Rolle eines väterlichen Freundes und Mentors im Stil der Bildungsreisenliteratur und des Télémaque spielt, so wird der hilflose, ödipal-jugendliche Status des Helden deutlich, der - ähnlich wie später der junge Wilhelm Meister in die Turmgesellschaft - in die väterliche Welt einer „vie retirée et domestique“ (S. 449) eingeführt wird. „Sors de l’enfance, ami, réveille-toi. Ne livre point ta vie entière au long sommeil de la raison“, (S. 507) schreibt Lord Bomston am Anfang des V. Teils an den inzwischen über dreißigjährigen Helden, der offenbar noch nicht ‚erwachsen‘ geworden ist. Das Initiationserlebnis ist Teil der globalen Strategie des die Fäden ziehenden Wolmar, der den jungen Mann zur Verinnerlichung der Tugend und Selbstdisziplinierung anleitet, wie er dies - beinahe erfolgreich - bereits mit Julie selbst getan hat. Die Abschaffung äußerer Zwänge in der harmonischen Gemeinschaft geht folglich mit der Verinnerlichung von Zwängen Hand in Hand. Der Vorgang erscheint als archetypisch für die Problematik der individuellen Emanzipation im Zivilisationsprozess der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Gegenmodell zur kritisch beurteilten Welt des Draußen steht mithin im Zeichen der geheimen, unsichtbaren Ordnung drinnen, ähnlich wie ja der Garten Julies auf eine unsichtbare Ordnung verweist. Die ideale patriarchalische Welt von Clarens wird von Saint-Preux in dem zentralen zweiten Brief des V. Teils geschildert und steht - fast unmittelbar nach der Bootsfahrtepisode - in ironischem Gegensatz zu der dort deutlich gewordenen Problematik. Die Welt von Clarens ist die Urform und das Vorbild aller ländlichen Utopien des 19. Jahrhunderts von Balzac über George Sand bis zu Zolas Spätwerk, und wie diese partizipiert sie am Zwangscharakter aller Utopien. 394 Vor allem beleuchtet sie indirekt die Problematik, die sich bei der Umsetzung der in den Discours entwickelten Gedanken in die romanesk-lebensweltliche Realität ergibt. Denn wie die ursprüngliche Einfachheit des état primitif unwiederbringlich verloren ist, so ist auch die ursprüngliche Liebe und Unschuld nicht mehr einholbar; beide müssen daher auf einer fortgeschrittenen, höheren Stufe, quasi künstlich dialektisch, restituiert werden. Wenn also die Idylle von Clarens im Zeichen der Natur und der Natürlichkeit steht, so handelt es sich, wie schon gesagt, um eine künstliche Natürlichkeit, die bestimmte Rahmenbedingungen erforderlich macht. Genau dies ist ja in dem Gartenerlebnis Saint-Preux’ zum Ausdruck gebracht, und es 394 Vgl. Nicolas Wagner, „L’utopie de la Nouvelle Hélo ϊ se“, in: Roman et Lumières au XVIII e siècle, Paris, Editions sociales 1970, S. 189-270. 215 spricht für Rousseau, dass er eigene Probleme auf diese Weise durchsichtig macht und das Motiv der Verschleierung einsetzt, um die Hintergründe zu ,entschleiern‘. Dazu nur kurz einige Aspekte; sie zeigen, wie die Abschaffung der väterlichen Zwänge dialektisch in die neuen ‚verschleierten‘ Zwänge eines idealen ‚Vaters‘ umschlagen: 1. Das Grundübel der Gesellschaft seiner Zeit ist die Ungleichheit; dies zeigt der Discours sur l’origine de l’inégalité ebenso wie der Roman selbst. Folglich geht es darum, eine neue gemeinschaftliche Form des Zusammenlebens zu erproben. Das kann aber nicht durch die Auflösung der Standesgrenzen geschehen, sondern nur durch deren Renaturalisierung und Familialisierung im Rahmen einer primär familienbezogenen Ordnung. Die Rede ist von einer „étroite et douce bienveillance qui fait la liaison des états divers.“ (S. 541) Indem man gemeinsam Erntefest feiert, kann man die gesellschaftlichen Beziehungen moralisieren. Die Nähe zum aufklärerischen Ideal der benevolence, schon bei Shaftesbury und Pope, ist offensichtlich. 2. Da das Ziel der Gesellschaft im Sinn der Aufklärung die Beförderung des Glücks ist und die gesellschaftlichen Strukturen dieses gerade verhindern, muss dafür Sorge getragen werden, dass die „félicité permise à l’homme“ (S. 539) auch verwirklicht wird. Das ist natürlich, wie die genannte Formel zeigt, nur mit Einschränkungen möglich. Nicht nur das Schicksal der Liebenden selbst zeigt dies, auch die strenge Trennung der Knechte und Mägde, also eine Art Liebesverbot, das durch ein zusätzliches Denunziationssystem verschärft wird, verweist auf die Grenzen der „fête continuelle“, die das Ideal eines unentfremdeten Lebens darstellt. Ernährungsvorschriften (z. B. nur Milchprodukte statt Wein für Frauen) und Einschränkung der Genussmittel erscheinen dann selbstverständlich. 3. Ursache der Ungleichheit ist das Eigentum, die in einer Geld- und Warenwirtschaft kulminiert. Der antimonetäre Grundzug ist ja allen regressiven Ordnungsutopien gemeinsam. Folglich geht es darum, die Abhängigkeit von der Stadt auf ein Mindestmaß zu reduzieren und die Beinahe-Autarkie der ländlichen Gemeinschaft anzustreben. Tatsächlich werden die Dienstboten und Angestellten nicht oder kaum in Geld, sondern in Naturalien entlohnt. Nicht Geld soll angesammelt werden, sondern „abondance“ und „joie“ unter Umgehung der „échanges intermediaires entre le produit et l’emploi“. 4. Da sich die geschichtliche Entwicklung Rousseau zufolge nicht, wie die Enzyklopädisten glauben, als eine Geschichte des Fortschritts erwiesen hat, sondern als Entwicklung zu Dekadenz und Verfall, kann Geschichtlichkeit als positive oder nur notwendige Kategorie nicht mehr infrage kommen. Der Roman spiegelt dies auf sehr geschickte Weise, indem er für den Bereich des Draußen gelegentliche historische Anspielungen einflicht, die eine grobe Situierung des Geschehens um die Jahrhundertmitte erlau- 216 ben, andererseits den Bereich von Clarens aber davon abhebt. Der einfache, natürliche Rhythmus des Landlebens schafft eine primär zyklisch, jahreszeitlich geprägte Zeitstruktur, die nurmehr Verfließen, nicht Entwicklung und den Mythos der ewigen Wiederkehr 395 nahelegt. Von Julie heißt es einmal: “et tous les matins elle demande au ciel un jour semblable à celui de la veille; elle fait toujours les mêmes choses parce qu’elles sont bien, et qu’elle ne connaît rien de mieux à faire.“ (S. 539) Man muss bis zu Adalbert Stifters Nachsommer und Ernst Wiechert warten, um eine vergleichbare Aufwertung des „einfachen Lebens“ gegenüber den entfremdenden Kräften der Geschichte zu finden. 5. Der vom Helden kritisierte „ordre social et factice“ (S. 469) beruht auf gesellschaftlichen Scheinwerten, auf Verstellung, Abhändigkeit vom „on dit“ und falschen Ehrbegriffen und Wertvorstellungen. Das Gegenmodell fordert, wie Starobinski gezeigt hat, die radikale Transparenz und den Adel der Tugend, den Lord Edouard gegenüber dem adelsstolzen und uneinsichtigen Vater der Heldin, „la vanité d’un père barbare“ (Teil II, Brief 2, S. 169), verteidigt. Wesentlich ist, dass man hier von einer gläsernen Gesellschaft sprechen könnte, in der die Eigenverantwortung mit dem weitgehenden Verlust der Intim- und Privatsphäre - nicht nur bei den Untergebenen - erkauft wird. Die Suche nach der Transparenz enthüllt hier ihren latent terroristischen Charakter, den Rousseau in der unheilvollen Gesellschaftstheorie des Contrat social weiterentwickeln wird. Die seltenen Momente des Glücks und der individuellen Wahrheit sind daher Augenblicke der unbeaufsichtigten Intimität. Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf den romanästhetischen Ort des Werkes, zu dessen Bestimmung der Autor selbst in seiner nachträglichen Préface de Julie ou Entretien sur les romans wichtige Aussagen gemacht hat. Von dem Affront gegenüber dem gebildeten Lesepublikum war eingangs bereits die Rede. In der ersten Préface schließt der Autor/ Herausgeber speziell folgende Gruppen aus: le monde - les gens sévères - les dévots - les philosophes - les libertins - les femmes galantes - les honnêtes femmes, und er schließt ironisch: Wem soll also der Roman gefallen? „Peut-être à moi seul; mais à coup sûr il ne plaira médiocrement à personne.“ Der scheinbare Scherz ist in Wirklichkeit aus der Perspektive der Leserforschung von großer Bedeutung. Die Ausgrenzung der partikulären Ansprechgruppen zielt nämlich offensichtlich auf ein neues, allgemeines, sozial nicht mehr homogenes Publikum, das sich durch enthusiastische Identifikationshaltung auszeichnet. Das moi seul des Autors kommuniziert auf diese Weise mit zahllosen anderen Ichs, die sich nicht durch gemeinsame Klasse und gemeinsame Bildungs- 395 Vgl. Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1966. 217 erwartungen, ästhetische Vorurteile verbunden fühlen. Es geht im Grunde um nicht weniger als die Ersetzung des alten hierarchischen Gesellschaftsmodells von le monde durch die moderne, horizontal stratifikatorische Konzeption (Luhmann) von la société. In stilistischer Hinsicht bedeutet dies tendenziell die Aufgabe eines verbindlichen Stils. Gegen die hauptstädtischen beaux-esprits académiciens und philosophes gerichtet, spielt Rousseau daher bewusst die angeblichen Provinzialismen, Ungenauigkeiten und seinen allgemein schlechten Stil, „le gothique ton“, aus, sollen doch auch „provinciaux, étrangers, solitaires, jeunes gens“ usw. - und besonders wichtig - die im Allgemeinen weniger gebildeten jungen Mädchen und Frauen - für die Lektüre gewonnen werden. Eine besondere Rolle spielt der Gedanke der Alltäglichkeit. Zunächst inhaltlich: Der Autor schildert bewusst eine ganz gewöhnliche Welt ohne große Ereignisse, und die Geschichtsferne könnte man insofern auch mit dem Begriff der Privatisierung der Lebensverhältnisse umschreiben. Damit bezieht der Roman eine Gegenposition zum Memoirenroman, insbesondere auch zu Prévost. Denn letzterer ist wohl gemeint, wenn die Formel „hommes communs - événements rares“ umgedreht wird: „j’aimerais mieux le contraire“, d. h. alltägliche Ereignisse und außergewöhnliche Menschen. Man könnte von einem antiromanesken Authentizitätsanspruch sprechen. In den Confessions rühmt sich Rousseau einmal, das Interesse des Lesers „durant six volumes, sans épisode, sans aventure romanesque“ und nur zwischen drei Hauptpersonen aufrechtzuhalten. Gegen die Mode der kurzen Gesellschaftsromane übernimmt er das Modell Richardsons, drängt aber dessen dramatische Elemente noch weiter zurück. Ziel ist eine epische Breite, wo „les sentiments suppléent aux situations“. Die Langsamkeit der auf solche Weise ganz verinnerlichten Handlung führt auch zu einer neuen Form der Zeit, einer Zeit nicht der dramatischen Ereignisse, sondern des natürlichen Reifens und Wachsens. Der Roman wird dadurch fähig, im Sinne von Lukács Ausdrucksform „extensiver Totalität“ zu werden. Mit Pomeau: „L’Héloïse inaugure ce genre moderne du roman qui se présente comme une somme.“ 396 Damit dies erreicht wird, muss aber Alltäglichkeit sich auch im stilistischen Bereich durchsetzen. Von Rousseaus Kritik an der klassischen Tradition war eingangs schon die Rede. Mit der Nouvelle Héloïse vollzieht sich die Revolution des romanesken Stils von der klassischen Allgemeinheit und Begrifflichkeit zu einem neuen, bildhaften Detailrealismus. Berühmte Beispiele sind die Naturschilderungen oder die Beschreibung von Julies Garten. Dies beinhaltet die Aufwertung des bildhaften Ansdrucks („son langage est toujours figuré“) und des mot propre, und betrifft im übrigen nicht nur die 396 René Pomeau, „Introduction“, S. XXVIII. 218 Inhalte, sondern auch die Sehweise, denn: „la faiblesse du langage prouve la force du sentiment“. Echtheit der Empfindung und Individualität des Stils korrespondieren der Individualität des Ausdrucks und der gemeinten Sache. Die Aufwertung der emotiven Sprache und der Bildlichkeit gegenüber der Begrifflichkeit, die der Autor auch in seinem Essai sur l’origine des langues verteidigt, ist die Voraussetzung für ein neues Verständnis der Volkspoesie und volkstümlicher Traditionen in der Romantik. Der Naturbegriff erweist hier seine Sprengkraft auch im stilistischen und sprachlichen Bereich. Für den Roman bedeutet dies - über den Stil hinaus - das Gestalten in Bildern oder Szenen und - ebenfalls für die Romantik von großer Bedeutung - das Aufladen der Dinge mit subjektiver Symbolik. Inbegriff solcher affektiven Überdeterminierung ist in unserem Roman die Funktion der Erinnerung, die Personen, Dinge und Landschaften mit einem nostalgischen Schimmer umgibt. Die „richesse subconsciente“, von der Pomeau 397 spricht, findet ihre adäquate Verlängerung in der Psyche des aufnehmenden und mitträumenden Lesers. Beispiele wären die Bergwanderung am See oder auch das Wiederbetreten des einstigen Zimmers. Im ersteren Kontext ist die Rede von „ces foules de petits objets qui m’offraient l’image de mon bonheur passé, tout revenait, pour augmenter ma misère présente, prendre place en mon souvenir.“ (S. 503) Von hier führt der Weg über Bernardin de Saint Pierre und Chateaubriand zu Marcel Proust. Die subjektive Erinnerung wird auf diese Weise zu einem Mittel der affektiven Weltaneignung und der Identitätsbildung. Ansatzweise zeigt dies ja die Geschichte des Memoirenromans seit dem ausgehenden Grand Siècle. Aber den entscheidenden Schritt machen erst die Confessions 398 Rousseaus, in denen die Wahrheit der Erinnerung eine eigene subjektive Wahrheit begründet und den Weg zum autobiographischen Konfessionsroman der Romantik weist, dem Adolphe (1816) von Benjamin Constant, den Confessions d’un enfant du siècle (1836) von Alfred de Musset, Le Lys dans la vallée (1835) von Honoré de Balzac bis zu Dominique (1863) von Eugène Formentin. Wenigstens kurz soll darauf eingegangen werden, um vor allem die ästhetikgeschichtlichen Aspekte dieses Werkes zu zeigen, das natürlich streng genommen in der Geschichte der Autobiographie 399 seinen Platz hat. Im übrigen ist die Behandlung der Confessions in unserem Zusammenhang nicht ganz abwegig, wenn man die Geschichte der frühen Rezeption 400 betrachtet. 397 René Pomeau, „Introduction“, S. XXXVI. 398 Rousseau, Les Confessions, éd. par Jacques Voisine, Paris 1964 (Les Classiques Garnier). 399 Vgl. das Standardwerk von Georg Misch, Geschichte der Autobiographie 1949-69, sowie Roy Pascal, Geschichte der Autobiographie, Stuttgart 1965; Bernd Neumann, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankreich 1970; Philippe Lejeune, Le pacte autobiographique, Paris, Editions du Seuil 1975. 400 Bernard Gagnebin, „L’étrange accueil fait aux Confessions de Rousseau au XVIII e siècle“, in: Annales Jean-Jacques Rousseau 38 (1969-71), S. 105-126. 219 Um nämlich den skandalösen Charakter der Selbstenthüllung in einer immer noch klassisch geprägten Gesellschaftskultur zu mildern, verweist schon ein Sébastien Mercier entschuldigend auf die romanhaften Qualitäten, während umgekehrt ein Rétif de la Bretonne - aus oppositionellem Geist - dem Autor die romanhafte Stilisierung gerade zum Vorwurf macht. Noch Chateaubriand wird nur die Elemente der Selbststilisierung von Rousseau übernehmen, auf die Details des realen Lebens und die schonungslose Selbstenthüllung aber verzichten. Friedrich Schlegel sieht umgekehrt in letzterer das entscheidende Element der Wahrheit und schließt daraus - auf den ersten Blick paradox - auf den romantischen und romanhaften Charakter des Werkes: „Die ,Confessions‘ von Rousseau sind in meinen Augen ein höchst vortrefflicher Roman; die ,Hélo ϊ se‘ nur ein sehr mittelmäßiger“ - weil nämlich „wahre Geschichte das Fundament aller romantischen Dichtung“ „und das Beste in den besten Romanen nichts anderes ist als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, die Quintessenz seiner Eigentümlichkeit“. 401 Der Individualitätsbegriff bildet mithin die Klammer zwischen Leben und Werk, Autobiographie und Roman, und Rousseau steht so auch am Anfang einer neuen, ‚romantischen‘ und biographischen Literaturkritik. Tatsächlich ist das eigentliche Schlüsselwort des zwischen 1782 und 1789 postum in Genf publizierten, aber schon zu Lebzeiten z. T. bekannten Werkes - die erste vollständige Ausgabe erschien 1789 - das Attribut unique. Die Einzigartigkeit des individuellen Lebens legitimiert die erzählende Gestaltung dieses Lebens, weil es sich herkömmlichen Normen des Handelns und der Beurteilung entzieht. Programmatisch erhält die Literatur damit die Funktion, nicht mehr wie in der klassischen Episteme verbindliche Normen abzustecken, sondern das je Besondere zu zeigen: „Je résolus d’en faire un ouvrage unique par une véracité sans exemple, afin qu’au moins une fois on pût voir un homme tel qu’il était en dedans.“ (S. 608) Das Besondere ist also an „véracité“ und an den Innenbereich der Seele, das dedans geknüpft. Die alte Dialektik von Schein und Sein ist so überführt in das neue psychologische Paradigma von gesellschaftlicher Oberfläche und individueller Tiefe und wird zugunsten letzterer aufgelöst. Dies bedeutet aber nicht weniger als die endgültige Autonomie der privaten Innerlichkeit, die sich als Selbstwert allen Formen der Beurteilung von außen entgegensetzt. Jürgen Habermas 402 hat die neue Verabsolutierung mit der vollendeten Privatisierung der Produktionssphäre und psychologische Emanzipation mit der individuellen Autonomie des tauschfähigen Eigentümers auf dem Markt in Verbindung 401 Friedrich Schlegel, „Gespräch über die Poesie“ [1800], in: F. Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe, Bd. II, Paderborn, Schöningh 1988, S. 214. 402 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/ M., Luchterhand 1962. 220 gebracht. Die germanistische und anglistische Forschung hat besonders auf pietistische und puritanische Praktiken der Selbsterforschung und Selbstrechenschaftslegung hingewiesen, um die neuartige Dimension der Autobiographie als Mittel der Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung zu erklären. Nicht zufällig ist ja in Deutschland etwa zur gleichen Zeit der pietistische Zeitgenosse Goethes, Ernst Philipp Moritz zugleich der Begründer der romanesken Autobiographie und der neuzeitlich empirischen Psychologie, die er „Erfahrungsseelenkunde“ nennt. In seinem Buch Das erinnerte Ich hat Ralph Rainer Wuthenow 403 diese Entwicklung über Franklin, Gibbon, Alfieri, Seume, Lichtenberg bis zu Jean Paul hin verfolgt. In unserer Perspektive ist die Autobiographie ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Emanzipation, die mit dem Verlust traditionaler Sicherheiten untrennbar verbunden ist. Die Autobiographie ist - das zeigt paradigmatisch das Beispiel Rousseaus - die Selbstbewusstwerdung des Verlorenen Sohnes. Die Gewichte verschieben sich gegenüber der klassischen Autobiographie auf diese Weise grundlegend. Rousseau spricht von Confessions und stellt sich so explizit in die augustinisch-christliche Tradition der Confessiones. Aber es geht nicht um eine Beichte, sondern um eine Rechtfertigung, die - unter Umgehung aller vermittelnden gesellschaftlichen Instanzen - direkt zwischen dem Ich und Gott angesiedelt ist. Wieder geht es um das versuchte Eindringen des pikaresken Außenseiters in die väterliche Gesellschaft, von der sich das Ich gleichzeitig - unter Berufung auf eine unmittelbare Beziehung zum Allmächtigen - ostentativ distanziert. Mit dem berühmten Passus: Que la trompette du jugement dernier sonne quand elle voudra; je viendrai, ce livre à la main, me présenter devant le souverain juge. Je dirai hautement: voilà ce que j’ai fait, ce que j’ai pensé, ce que je fus. J’ai dit le bien et le mal avec la même franchise. … Je me suis montré tel que je fus […], j’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’as vu toi-même. Etre éternel, rassemble autour de moi l’innombrable foule de mes semblables; qu’ils écoutent mes confessions, qu’ils gémissent de mes indignités, qu’ils rougissent de mes misères. Que chacun découvre à son tour son cœur aux pieds de ton trône avec la même sincérité; et puis qu’un seul te dise, s’il l’ose: „Je fus meilleur que cet homme-là.“ (S. 5) Die stolze Geste zeigt zur Genüge, wie die demütige Geste der Selbstentblößung in selbstbestätigende Überhöhung des Ich umschlägt - eine Dialektik, wie sie ähnlich schon bei Prévost zu beobachten ist. Es geht gar nicht mehr um Gut und Böse, sondern in Wahrheit um den Akt der Aufrichtigkeit, der allein Gutsein und Unschuld verbürgt und nicht hinter dem göttlichen Blick in die Tiefe des Herzens zurückbleibt. Rousseau spricht hier mit Gott von 403 Ralph Rainer Wuthenow, Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München, Beck 1974. 221 Gleich zu Gleich und kennt keine überlegene Sehweise Gottes an: „j’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’a vu toi-même“. Und umgekehrt kann das Ich damit wie bisher zur Richtschnur der Menschenkenntnis und Gesellschaftserkenntnis allgemein werden: „je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; et cet homme sera moi. - Moi seul. Je sens mon cœur et je connais les hommes.“ (S. 3) Das ist die Neufassung des cartesianischen Cogito ergo sum. Das Ich wird zum Mittelpunkt der Welt, zum Maßstab der Erkenntnis, die eben nicht mehr rational begründet ist, sondern im Sinn der sensualistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts auf der Wahrheit des Gefühs. Das être sensible bezieht gerade aus der Unabweisbarkeit des ersten Eindrucks und des unmittelbaren Gefühls die Kriterien des Urteils: „Je sentis avant de penser: c’est le sort commun de l’humanité.“ (S. 7) und: „Je n’avais aucune idée des choses, que tous les sentiments m’étaient déjà connus. Je n’avais rien conçu, j’avais tout senti.“ (S. 8), schreibt der Autor mit Bezug auf frühe Lektüren. Damit schließt sich der angedeutete Kreis: „Je ne puis me tromper sur ce que j’ai senti.“ (S. 322) Wenn nicht das Wirkliche zählt und das tatsächliche Handeln, sondern das subjektive Gefühl, das diesem Handeln vorausgeht und es im nachhinein beurteilt, dann wird das fühlende Ich zum nicht mehr hinterfragbaren „Richter“ des Ich, Rousseau juge de Jean-Jacques, wie es der Autor schon 1773 in einem fiktiven Ich-Dialog vorgeführt hat. Frank Baasner 404 hat in seinem großen Buch über die sensibilité im 18. Jahrhundert gezeigt, dass diese hier erstmals über die herkömmliche Funktion des tugendhaften Selbstgenusses hinausgeht und als zentrales Mittel der Selbst- und Welterkenntnis fungiert. Aber das autonome, fühlende Ich ist zugleich immer schon ein defizitäres Ich; es steht im Zeichen des Mangels und des Selbstwiderspruchs. Mit Rousseau beginnt recht eigentlich die neue Tradition der Helden des unglücklichen Bewusstseins, die der junge Lukács in seiner Theorie des Romans als für die Moderne konstitutiv gesehen hat. Dies ist - unabhängig von allen psychoanalytischen Erklärungsmodellen - die wesentliche Bedeutung des bekannten Satzes, in dem der Autor seine Geburt und den gleichzeitigen Tod der Mutter kommentiert: „je nacquis infirme et malade; je coûtai la vie à ma mère, et ma naissance fut le premier de mes malheurs.“ (S. 6) Es ist, als ob der Sündenfall und die daran gebundene Vorstellung der Erbsünde unter den neuen Vorzeichen des emanzipierten Individuums verinnerlicht und unbegriffen wieder auftauchten und - mit Lukács - die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des modernen Helden mit einer Urschuld belasteten. Das Ich wird sich damit selbst zum Problem. Rousseau hat den augustinischen Satz: Ich bin mir selbst zur Frage geworden (mihi quaestio factus sum) zur Grundlage einer quasi neurotischen Ichsuche und Ichproblematik gemacht: „ainsi 404 Frank Baasner, Der Begriff „sensibilité“ im 18. Jahrhundert, Heidelberg, Winter 1988. 222 commençait à se former ou à se montrer en moi ce cœur à la fois fier et si tendre, ce caractère efféminé, mais pourtant indomptable, qui, flottant toujours entre la faiblesse et le courage, entre la mollesse et la vertu, m’a jusqu’au bout mis en contradiction avec moi-même, et a fait que l’abstinence et la jouissance, le plaisir et la sagesse, m’ont également échappé.“ (S. 12) Die Literatur selbst wird dergestalt zum Medium einer im wirklichen Leben nicht gelungenen Versöhnung, d. h. die autobiographische bzw. fiktionale Schreibweise dient nicht dazu, einen Lebensweg oder Lebensentwurf festzuhalten, sondern ihn zu begreifen und ein tieferes Bedürfnis des Ich zu erfüllen: „Je sais bien que le lecteur n’a pas grand besoin de savoir tout cela, mais j’ai besoin, moi, de le lui dire.“ (S. 22) Die obsessionelle Sprache, deren Entdeckung man gemeinhin mit Formen der Moderne verbindet, ist hier bereits angedeutet. Die Sehnsucht nach Transparenz, in der Starobinski den eigentlichen mythe personnel Rousseaus gesehen hat und die zum Leitmotiv aller Werke, besonders der Nouvelle Héloïse geworden ist, erklärt in den Confessions das ständige Ungenügen, den vorwärtsdrängenden Duktus einer suchenden Sprache, die geradezu einem Aufdeckungszwang unterliegt, da sie sich nur so selbst rechtfertigen kann: „L’impossibilité totale où je suis par mon naturel de tenir caché rien de ce que je sens et de ce que je pense.“ (S. XII) Das Ideal des gläsernen Herzens - „mon cœur transparent comme le cristal“ (S. 527) - dieses Ziel impliziert aber die absolute Selbstidentität, die per definitionem nicht im Rückblick erreichbar ist. In ihm kommt trotz aller Bemühungen immer nur der Bereich des dissemblable in den Blick. In einer von der Nouvelle Critique angeregten, existentialpsychologischen Untersuchung hat Marcel Raymond die Diskontinuität im Lebensgefühl des Autors 405 , mit der Suche nach Kontinuität auf gleichsam vorbewusster Ebene in Verbindung gebracht und als den eigentlichen End- und Ruhepunkt die Rêveries du promeneur solitaire (1776-78) ausgemacht, weil hier das unmittelbare präsentische Gefühl vorherrsche und die Vergangenheit des Handelns hinter der Gegenwart der Selbstempfindung zurücktrete. 406 So gesehen muss alle Vergangenheit und damit der Inhalt der Autobiographie als Modus der Entfremdung begriffen werden, der nicht erwachsen gewordene ‚Held‘ schreibt gleichsam gegen die Gesellschaft der ‚Väter‘ an: In seiner „histoire du désir“ bei Rousseau hat Pierre-Paul Clément 407 die Unfähigkeit zum Erwachsenwerden (phantasmatische Struktur der Sexualität und die Obsession der mütterlichen Frau, unbefriedigte kindliche Schaulust, Verharren in einem unreifen Stadium der Sexualität, symbo- 405 Marcel Raymond, Jean-Jacques Rousseau. La quête de soi et la rêverie, Paris, Corti 1962, S. 18. 406 Ebd., S. 157 ff. 407 Pierre-Paul Clément, Jean-Jacques Rousseau, de l’éros coupable à l’éros glorieux, Neuchâtel, La Baconnière 1976. 223 lische Selbstkastration, Onanismus usw.) zum Leitmotiv einer dialektischen Psychokritik gemacht, an deren Ende der „éros glorieux“ des Werkes steht. Mit Marcel Raymond: „Sa vie sera faite d’une succession de chutes, d’exils, d’emprisonnements, et de reconquêtes de l’âge d’or […] où il goûtera alternativement ou tout ensemble l’extase du moi ou celle de la totalité.“ 408 Der Mythos des verlorenen Paradieses bildet mithin eine Art Kryptoleitmotiv der rechtfertigenden Rückschau, die ja immer auch Suche nach dem verlorenen Ursprung ist. Dieselbe regressive Bewegung, die in den beiden Discours die Gegenwart als Entfremdung begreifen lässt und in einem vergangenen état primitif die verlorene Einheit des Menschen sucht, prägt auch die autobiographische Suche. Leben als Entwicklung zum Erwachsenwerden und somit als wachsende Entfernung von ursprünglicher Gefühlseinheit kann so nur als Desillusion in den Blick kommen. Wie sie schon in der Nouvelle Héloïse Wachsen und Reifen als Illusion, als bloße Verschleierung des ursprünglichen Wesens darstellen, ist auch hier Lebenserfahrung nur negativ bestimmbar. „L’on a remarqué que la plupart des hommes sont, dans le cours de leur vie, souvent dissemblables à eux-mêmes, et semblent se transformer en des hommes tout différents.“ (S. 484) Roger Payot 409 hat von dem gnostischen Duktus dieses quasi-mythischen Denkmodells gesprochen, wobei die Beziehungen ebenso zum christlichen wie zum illuministischen Denken des Zeitalters einzubeziehen wären. In dem triadischen Schema: mythischer Ursprung/ Ureinheit/ Selbstidentität - Sündenfall und Selbstentfremdung - Suche nach dem Heil, kommt mithin auch den Confessions als literarischexistentiellem Projekt die typische Funktion dialektischer Versöhnung zu. Inhaltlich präsentieren sich die Confessions als eine rhythmische Folge von Vertreibung und Heimkehr, Flucht und Ruhepunkten, welche letzteres als prekäre Formen des wiedergefundenen Paradieses erscheinen. So beschreibt der Autor seinen Aufenthalt im Park von Montmorency fast hymnisch als Periode des Glücks: „J’étais là dans le Paradis terrestre; j’y vivais avec autant d’innocence, et j’y goûtais le même bonheur.“ (S. 615) Ähnlich wie auf der Ile Saint-Pierre am Schluss wird er zum glücklichen Robinson, mit dem er sich identifiziert und den er im Emile als Vorbild selbstgenügsamen und selbstidentischen Lebens zeigt: „C’est dans cette profonde et silencieuse solitude qu’au milieu des bois et des eaux, aux concerts des oiseaux de toute espèce, au parfum de leur fleur d’orange, je composai dans une continuelle extase le cinquième livre de l’Emile […]“ (S. 614) Ähnliches gilt für die glückliche Zeit bei Mme de Warens in Charmettes, „car en vérité ces tranquilles jouissances ont la sérénité de celles du paradis“ (S. 281). Immer bleibt der Eindruck zeitloser Ruhe bestimmend, der mit dem Moment 408 Ebd., S. 115. 409 Roger Payot, Jean-Jaques Rousseau, ou la gnose tronquée, Grenoble, Presses Universitaires 1978. 224 kindlicher Unschuld verbunden ist und das irdische Paradies als Paradies der Kindheit ausweist: „Mon cœur, neuf encor, se livrait à tout avec un plaisir d’enfant, ou plutôt, si je l’ose dire, avec une volupté d’ange“ (S. 281). Die Spiritualisierung und Innozentierung der Lust, von der in der Nouvelle Héloïse die Rede gewesen ist, sind unabdingbarer Bestandteil wahren Genusses: „Cette vie délicieuse dura quatre ou cinq jours, pendant lesquels je me gorgeai, je m’enivrai des plus douces voluptés. Je les goûtai pures, vives, sans aucun mélange de peine: […].“ (S. 293) Für die Verknüpfung der mehr oder weniger flüchtigen Glücksmomente ist die Erinnerung zuständig, durch welche Kontinuität des Lebens und der Empfingung und damit Identität möglich werden: „Que j’aime à tomber de temps en temps sur les moments agréables de ma jeunesse! Ils m’étaient si doux; ils ont été si courts, si rares […]. Ah! leur seul souvenir rend encore à mon cœur une volupté pure dont j’ai besoin pour ranimer mon courage et soutenir les ennuis du reste de mes ans.“ (S. 149) Das berühmteste Beispiel der eingangs erwähnten affektiven Erinnerung ist in Buch VI die Stelle, wo der Autor erzählt, wie er bei einem Spaziergang ein blühendes Immergrün entdeckt und sich blitzartig und mit überwältigendem Glücksgefühl an eine ähnliche Episode vor dreißig Jahren erinnert: „Ah! voilà de la pervenche“ (S. 261) Die Erinnerung selbst verbürgt Echtheit, wo sie an Glück gebunden ist: „Rien de tout ce qui m’est arrivé durant cette époque chérie, rien de ce que j’ai fait, dit et pensé tout le temps qu’elle a duré, n’est échappé de ma mémoire. Les temps qui précèdent et qui suivent me reviennent par intervalles; je me les rappelle inégalement et confusément: mais je me rappelle celui-là tout entier comme s’il durait encore. Mon imagination, qui dans ma jeunesse allait toujours en avant, et maintenant rétrograde, compense par ces doux souvenirs l’espoir que j’ai pour jamais perdu.“ (S. 260) Lange vor Marcel Proust übernimmt die mémoire involontaire 410 hier eine identitätsstiftende Funktion. „Nous sommes si peu faits pour être heureux ici-bas …“ (S. 286) - dieser Satz aus Buch VII bezeichnet nicht nur eine allgemeine Erfahrung; er markiert auch eine neue Phase im Leben des Autors, die man missglückte Initiation in die Gesellschaft charakterisieren könnte. Angesichts des Fehlens eines angekündigten Dritten Teils der Confessions, gliedert sich das vorhandene Werk mithin in zwei gleichlange Teile von je sechs Büchern, eine Gliederung, die nach Kindheit und Jugend das endgültige Erwachsenwerden als eigentlichen Sündenfall und Ursprung des Unglücks erweist. Diese inhaltliche Gliederung soll hier nur sehr kursorisch angedeutet werden: Buch I beschreibt die 16 Jahre der Kindheit und der frühen Jugend, von der geborgenen Atmosphäre im kleinbürgerlichen Vaterhaus in Genf, unter 410 Dies wäre in dem schönen Aufsatz von Walter Pabst, „Juliane von Krüderer, Jacques Delille und die mémoire involontaire“ zu ergänzen: Themen und Texte, Berlin, Erich Schmidt Verlag 1977, S. 198-233. 225 der Obhut der Tanten „traité en enfant chéri, jamais en enfant gâté“ (S. 10), bis zum Antritt einer Druckerlehre und den ersten Dieberein und Jugendstreichen. Ähnlich wie später bei Rétif de la Bretonne verhindert der positiv gezeichnete Vater nicht die pikaresken Entgleisungen. Was dann Anfang Buch II kommentiert wird: „Je devins polisson, mais non libertin.“ (S. 67) In nuce enthält dieses Entwicklungskapitel - das ist ja die große Entdeckung Rousseaus - die ganze spätere Entwicklung. „En remontant de cette sorte aux premières traces de mon être sensible“ (S. 19), entdeckt das Ich eine ungerechte Züchtigung (zusammen mit seinem Cousin Bernard) als das „premier sentiment de la violence et de la justice“ und als Ursprung von Unglück und Entfremdung, eine mythische Wegscheide wie die Einführung des Eigentums im Discours sur l’origine de l’inégalité: „Là fut le terme de la sérénité de ma vie enfantine. Dès ce moment je cessai de jouir d’un bonheur pur, et je sens aujourd’hui même que le souvenir des charmes de mon enfance s’arrête là.“ (S. 21) Oder anders: ein Schleier legt sich über die ursprüngliche „Transparenz“ der Dinge: „La campagne même perdit à nos yeux cet attrait de douceur et de simplicité qui va au cœur. Elle nous semblait déserte et sombre; elle s’était comme couverte d’un voile qui nous en cachait les beautés.“ (S. 21) Es geht freilich nicht nur um Ungerechtigkeit. Die Episode bezeichnet den Endpunkt des Aufenthalts der beiden Jungen in der Pension der Mlle Lambercier und einer Reihe kleinerer Züchtigungen von Mademoiselle selbst, die Jean-Jacques als lustvoll empfindet. Es ist eine Schlüsselstelle der psychoanalytischen Rousseaukritik, die daraus auf den masochistischen Kern der lebenslangen Selbststilisierung des Autors als Ausgestoßener und Verfolgter geschlossen hat. Wesentlich ist, dass das Herausfallen aus der Unschuld der Kindheit auch mit dem Erwachen eines „sang brûlant de sensualité“ (S. 16) zu tun hat. Eine Kette von Verfehlungen bis zum Exhibitionismus sind die weitere Folge.. Sie markieren den jugendlichen Jean-Jacques als einen pikaresken Helden, der - wie so viele romaneske Helden vor ihm - aus der Geborgenheit der Normen herausgefallen ist und einen mühsamen Weg der Orientierung vor sich hat. Buch II: Buch I führt von 1712 bis 1728. Buch II beschreibt nur die neun Monate bis Dezember 1728: das Heraustreten in die Welt: „J’entrais avec sécurité dans le vaste espace du monde; […].“ (S. 48). Die Flucht aus Genf und die Wanderschaft nach Turin bilden den äußeren Rahmen verschiedener erotischer Erlebnisse, der Begegnung mit der damals 28jährigen Madame de Warens, der Liebesabenteuer mit einer gewissen Madame Basile unterwegs, aber auch der homosexuellen und exhibitionistischen Zwangshandlungen, die in Buch III beschrieben werden. Wieder findet das relative Glück einer „plénitude expansive“ (S. 62) durch ungerechte Anschuldigung ein Ende: Die Episode des gestohlenen Bandes, seitenverkehrt zu Buch I, beleuchtet zugleich die Dialektik von Schuld und Unschuld: Denn diesmal beschuldigt Jean-Jacques ein unschuldiges Dienstmädchen des Hauses, in dem er Unter- 226 schlupf gefunden hat, obwohl oder gerade weil er Zuneigung zu ihr empfindet und sich seiner Tat schämt. Durch diese eigene Schuld, die sich das Ich selbst nicht erklären kann, beginnt nun eine weitere Etappe der Entwurzelung, „la vie d’un vrai vagabond“ (S. 111). Buch III: Aller guten Dinge sind drei. Zweimal hat der Autor bisher einen „aveu pénible“ machen müssen; der „troisième aveu pénible“ (S. 143), mit dem gewissermaßen der dreifache Sündenfall seinen Abschluss findet, betrifft einen Vorfall auf der Rückreise nach Lyon, auf der Jean-Jacques den Musiker Le Maître, einen vertrauten Reisegefährten, bei einem epileptischen Anfall im Stich lässt. Schon zuvor - wir befinden uns im April 1730 - hat er Mme de Warens wiedergesehen, und mir ihr wird das baldige Ende der langen Phase der „vie ambulante“ (S. 195) angedeutet. Buch IV bildet dann den vorläufigen Abschluss des pikaresken Lebens. Jean-Jacques macht die Bekanntschaft der reizenden Mlle de Graffenried und ihrer Freundin, den Vorbildern für Julie und Claire in der Nouvelle Héloïse, und erlebt mit ihnen im Sommer 1730 eine unschuldig glückliche Zeit. Er wandert nach Lausanne, wo ein kleines Musikstück von ihm aufgeführt wird, und nach Vevey, wo er - ähnlich wie später Saint Preux - als Musiklehrer arbeitet. Eine weitere Zeit des Herumziehens schließt sich an, u. a. auch nach Paris und wieder nach Lyon, bis ihm Mme de Warens endlich einen anständigen Verwalterposten verschafft: „C’est ainsi qu’après quatre ou cinq ans de courses, de folies et de souffrances depuis ma sortie de Genève, je commençai pour la première fois de gagner mon pain avec honneur.“ (S. 197f.) Auf die Zeit der Irrungen und Wirrungen folgt das relative Glück, zuerst von 1731 bis 36 (Buch V) im Katasteramt von Annecy und in vertrauter Gemeinschaft mit Mme de Warens, genannt „Maman“, die sich ihm schließlich hingibt, und dann, von 1736 bis 1741 in der Idylle des Landguts von Charmettes, die nur durch eine Kurzreise nach Montpellier (verbunden mit einer stürmischen Liebesbeziehung zu Mme de Larnage) unterbrochen wird und durch die Untreue von „Maman“ ihr Ende findet. Rousseau wird Erzieher bei M. de Mably in Lyon. Am Ende steht die erneute Pikareske, diesmal unter eher mondänen Vorzeichen: Reise nach Paris, Freundschaft mit Fontenelle, Mably und Marivaux, Einführung in das Haus des Herzogs von Broglie, erste musikalische Versuche, die ihm einen bescheidenen Ruhm einbringen, die Fahrt nach Venedig als Sekretär des Botschafters und dort die Bekanntschaft mit schönen Edelkurtisanen (berühmte Zulietta-Episode), nach der Rückkehr die Aufführung einer kleinen Oper Narcisse in der italienischen Oper, die Bekanntschaft mit den philosophes, Condillac, Diderot u. a. Der entscheidende Umschwung situiert sich am Anfang von Buch VIII im Herbst 1749. Die begonnene Integrationsbewegung wird jäh unterbrochen durch die Erleuchtung, die dem Autor auf dem Weg zu Diderot nach Vincennes kommt: Es ist der eingangs erwähnte Ursprung seines Denkens und der Beginn seiner an- 227 genommenen Verfolgung. Und dies während noch die Aufführung des Devin du village und seine Bekanntschaft mit Grimm, d’Holbach, Duclos und Prévost die angefangene Integration zu besiegeln scheinen. Der Autor verpasst die erwartete Pension des Königs, sein Gesundheitszustand lässt nach, er meint, die Anfänge eines Kesseltreibens gegen sich wahrzunehmen; letzterer hat übrigens auch etwas mit seinem Privatleben zu tun: seiner freien Ehe mit Thérèse Levasseur, der Tochter einer Waschfrau, die er auf der Rückreise aus Montaigne - gleichsam als Ersatz für Maman - „un successeur à maman“ (S. 389) - an sich gebunden hatte, und dem Gerücht der Aussetzung seiner Kinder. Die Vertreibung aus dem künstlichen Paradies der Gesellschaft geht Hand in Hand mit der Rückkehr in das Land der Kindheit. Doch diese Rückkehr ist im Grunde versperrt. Ein erneuter Besuch bei Maman ist deprimierend, und die einstige Geliebte wirkt heruntergekommen. Sein Wunsch, nach Genf zu ziehen, wird durch Mme d’Epinay vereitelt, die ihn in Paris schätzen gelernt hat und ihm ihre Eremitage in Montmorency anbietet. Auch diese Episode, April 1756 bis Dezember 1757 (Buch IX), endet mit der Vertreibung. Eine glückliche letzte Liebe zu Mme d’Houdetot bildet den biographischen Hintergrund für die Arbeit an der Nouvelle Héloïse, führt aber über die Eifersucht von Mme d’Epinay und angebliche Indiskretionen der Schwiegermutter zum endgültigen Bruch auch mit der sog. clique der Diderot und D’Holbach. Doch wie es drei Geständnisse gab und drei entscheidende Begegnungen mit Maman, so jetzt drei Orte des Rückzugs und des wiedergefundenen Paradieses im Zeichen der Lebenskatastrophe. Buch X schildert die drei Jahre von Dezember 1757 bis Dezember 1760, in denen Rousseau durch die Vermittlung des Maréchal von Luxembourg bei Montmorency eine neue Bleibe findet. Inzwischen hat die Lettre à d’Alembert sur les spectacles, ein heftiger Angriff auf den hauptstädtischen Theaterbetrieb und die Komplizität der Kunst mit der Unmoral, für weitere Aufregung gesorgt. Die Zeit von der Publikation der Nouvelle Héloïse bis zur Verurteilung des Emile im Juni 1762 schildert Buch XI, und in Buch XII endlich findet der Autor nach seiner Flucht in die Schweiz das dritte irdische Paradies auf der Ile Saint-Pierre im Bieler See, bevor er im Herbst 65 durch die Berner Regierung ausgewiesen wird. Das Buch endet mit dem Grundton des „nouveau désastre“. Jeder Hinweis auf die noch ereignisreichen folgenden Jahre, auch auf Erfolge, fehlt. Wie das Buch es symbolisch vorzeichnet, endet das Leben des Autors in der Rückzugsidylle von Ermenonville. Aus dem einstigen polisson und pícaro ist der große Verfolgte geworden, der mit seinen Lettres de la montagne 1764, einer ersten Rechtfertigungsschrift, auch den alten Mythos des Weisen vom Berge abruft. Dieser Übergang ist, Jacques Voisine hat daran erinnert, mit dem Umschlag von der Selbstanklage zur Gesellschaftsanklage verbunden. Aus eigener Schuld wird so auch die Schuld der anderen. Rousseau hat damit einen 228 zentralen Projektionsmechanismus des modernen Intellektuellen entdeckt und auch schon die neue Dichotonomie zwischen einsamem Ich und der diffus bedrohlichen Gesamtgesellschaft vorweggenommen. Bezeichnenderweise wird ja in der zentralen Erleuchtungsszene von Buch VIII der bisherige Sinn der Begriffe geradewegs vertauscht: Der wachsenden Einsicht des Ich entspricht die Verfinsterung des äußeren Lebens, und diese Einsicht wird als „égarement“ bezeichnet „A l’instant de cette lecture je vis un autre univers et je devins un autre homme. […] Je le fis, et dès cet instant je fus perdu. Tout le reste de ma vie et de mes malheurs fut l’effet inévitable de cet instant d’égarement.“ (S. 416f.) Mit dieser Umwertung vollzieht sich aber etwas ganz Entscheidendes. In dem eingangs angedeuteten, romangeschichtlichen Kontext war klar, dass die Confessions bis in einzelne Motive und Wendungen hinein die Tradition des pikaresken Romans fortführen. André Maurois schreibt dazu: „ Les Confessions de Rousseau forment le meilleur des romans picaresques. Tous les éléments lui étaient donnés un adolescent livré à lui-même; une grande variété de conditions, de caractères et de lieux; des amours et des voyages; la lente découverte de la société par un homme qui jusqu’à quarante ans a pu presque entièrement lui échapper. C’était de quoi faire un Gil Blas sentimental et Rousseau n’y a pas manqué.“ 411 Das trifft den Sachverhalt - bis auf die letzte Bemerkung. Denn Rousseau „y a manqué“, d. h., er hat die pikareske Tradition umgebogen und die endliche Integration à la Gil Blas durch die wachsende Desintegration und Fluchtbewegung ersetzt. „J’étais destiné à être le rebut de tous les états,“ schreibt er rückblickend schon zu Beginn (S. 135) und markiert auf diese Weise seine Version des pikaresken Parvenierens als eine Version des Scheiterns. Dieses Scheitern aber, das macht gerade der Handlungsverlauf klar, ist keine private, romaneske Geschichte, sondern notwendiger Ausdruck eines Systemzwangs. Das Motiv der Schicksalhaftigkeit, der Fatalität, fungiert als poetisches Äquivalent solcher Sehweise. Die Geschichte Rousseaus ist die Geschichte des Kleinbürgers, der den Aufstieg verweigert, weil er nicht zum Komplizen eines Systems der Masken und der mangelnden Transparenz werden will. Der fröhliche pícaro wird so zum öffentlichen Ankläger und Oppositionellen, für den die idyllische Verwalterstelle à la Paysan parvenu nur ein Haltepunkt auf dem Weg zur programmatischen Außenseiterrolle sein kann. Starobinski hat den intimen Zusammenhang zwischen Individualtätsanspruch, Nobilitierung der Gefühle und Nobilitierung des Dritten Standes ohne gleichzeitiges Aufrücken in der Gesellschaftshierarchie gezeigt. Derjenige, der von sich behauptet: „je n’ai jamais été beaucoup tenté d’argent“ (S. 39), verweigert jede Käuflichkeit, weil auch das Geld wie im Mustergut von Clarens als ein intermédiaire zwischen Begehren und Genuss und als 411 André Maurois, „Préface“ der Ausgabe Paris, Bordas 1949. 229 Verschleierung der Dinge erscheint. Die gesuchte transparence, die Unverstelltheit der Dinge, die Wahrheit der Selbstaussprache und Selbstentblößung und die Wahrheit der Gefühle hängen zusammen und verweisen sozial auf einen Bereich des Einfachen und Ländlichen, der der Stadt und der Gesellschaft in emanzipatorischer Perspektive entgegengehalten wird. Auf der ersten Parisreise übernachtet Jean Jacques einmal bei einem Bauern und kommentiert: „Parmi le peuple, où les grandes passions ne parlent que par intervalles, les sentiments de la nature se font plus souvent entendre. Dans les états plus élevés il sont étouffés absolument, et sous le masque du sentiment il n’y a jamais que l’intérêt ou la vanité qui parle.“ (S. 164) Aus dieser Perspektive sind die Confessions keine Beichte, sondern ein Manifest des Dritten Standes, des nach allgemeiner Auffassung kindhaften peuple, das im Zeichen der ursprünglichen Unschuld der Gefühle gegen gesellschaftliche Repression rebelliert. Nach dem Verlust des gütigen, etwas hilflosen Vaters richtet sich der Protest des Verlorenen Sohnes gegen die väterliche Gesellschaft und den Zwang zum Vater-Werden. Projektiv gewendet, heißt das: Wie kann die eben entdeckte Autonomie des Gewissens gewahrt werden und die beschriebene Konfrontation vermieden werden? Oder anders: Wie vermeidet man die Pikareske der Verirrungen, um die Stimme der Natur sprechen zu lassen? Die Antwort gibt der Erziehungsroman Emile ou de l’éducation, 412 der innerhalb der reichen Erziehungsliteratur der Aufklärung die Vorzeichen vertauscht und an die Stelle der Erziehung in der Gesellschaft und für die Gesellschaft die individuelle Autonomie, an die Stelle der gesellschaftlichen Initiation die bewusste Gesellschaftsferne setzt und den Erziehungsprozess als experimentell gelenkte Robinsonade begreift. Gleichzeitig mit La Nouvelle Héloïse konzipiert, erscheint das Werk als Pendant zu dem Liebes- und Familienroman und als dessen notwendige Vorstufe. Nach Benrekassa ist der Emile zugleich eine Vorstufe zu den Confessions und ein weiterer Versuch der Rückkehr zu den Ursprüngen, die sich durch die Ausgrenzung der Sexualität ausweisen. 413 Und wie auch die Nouvelle Héloïse zugleich ein philosophischer Roman ist und die Confessions romanhafte Anleihen machen, so ist der Emile ein philosophischer Traktat, der unversehens zum Roman wird und aus der Beispielfigur einen lebendigen Helden werden lässt. Die Nähe zum Pygmalion- Mythos, der im Rousseauschen Denken eine wesentliche Rolle spielt, drängt sich auf. 414 Aber gleichzeitig musste es für diesen Roman „de la nature hu- 412 Zitate nach J.-J. Rousseau, Emile ou de l’éducation, éd. par François et Pierre Richard, Paris 1961 (Les Classiques Garnier). 413 Georges Benrekassa, „L’individu et le sexe: du discours de l’Emile au texte des Confessions“, in: Revue des Sciences humaines 161 (1976), S. 45-61, betont die narzisstische Tendenz einer „érotique sans sexe“ (S. 52). 414 Vgl. Rainer Warning, „Rousseaus Pygmalion als Szenario des Imaginären“, in: Mathias Mayer/ Gerhard Neumann (Hrsg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abend- 230 maine“ (Teil V) auch darum gehen, wirklich natürliche Bedingungen zu schaffen und zu zeigen. Rousseaus Freund Condillac, 1715 in Grenoble geboren und 1780 nur kurz nach jenem verstorben, hatte 1754 in seinem Traité des sensations tatsächlich versucht, die sensualistische Stufenlehre des Denkens von einfachen Sinneswahrnehmungen bis zur Verknüpfung abstrakter Gedanken an dem experimentellen Beispiel einer belebten Statue vorzuführen. Rousseau behält diese Voraussetzung bei, aber ersetzt die Hypothese durch das lebendige Beispiel und fügt die vergessene soziale Dimension hinzu: Weil das Neue seine Wirksamkeit nur auf einer Tabula rasa erweisen kann, wird die Voraussetzungslosigkeit der Statue durch den Waisenstatus des Knaben ersetzt, der zugleich intertextuell gesehen wiederum die reiche Literaturtradition abruft: „Emile est orphelin.“ (S. 27) Und weil zum Experimentieren immer schon soziale Sicherheit gehört, heißt es: „Choisissons donc un riche; nous serons sûrs au moins d’avoir fait un homme de plus, au lieu qu’un pauvre peut devenir homme de lui-même.“ (S. 27) Damit sind die minimalen Voraussetzungen geschaffen, und es fehlt nur noch der Projektleiter, sprich der Erzieher und Mentor, der wie im Télémaque mangels eines natürlichen Vaters die väterliche Führerrolle übernimmt und den Schützling zum Leben erziehen will: „Vivre est le métier que je lui veux apprendre.“ (S. 12) - was unmittelbar an Montaigne erinnert. Und an Montaigne erinnert auch der essayistisch-moralistische Duktus, in dem der Autor eine experimentell hypothetische Handlungskonstellation verfolgt, ohne auf Abschweifungen und Kommentare zu verzichten. Die ständig an den Leser gerichtete, präsentische Erzählung will nämlich gar kein Roman sein oder höchstens insofern, als: „C’est un assez beau roman que celui de la nature humaine.“ (S. 528) Hatten die Protagonisten die Freiheit zum eigenen Fühlen und Denken, so macht sich hier der auktoriale philosophe selbst zum Mentor eines ideal vorgestellten Geschehnisablaufs. Die natürliche Erziehung ist eine negative Erziehung, denn: „Nous commençons à nous instruire en commençant à vivre; notre éducation commence avec nous.“ (S. 12) Erziehen heißt dann eigentlich nur noch die natürlichen Lernschritte einsichtig machen; und es heißt zugleich, anstatt eines vorgefertigten Modells die natürlichen Anlagen des Kindes zur Reife zu bringen. Ein Gedanke, der in Pestalozzis Lehre der Individualanlage und Individualbestimmung wiederkehren wird und bis in neuere pädagogische Konzepte bei Kerschensteiner, in Summerhill und in den Waldorfschulen nachwirkt. Der Mensch wird also nicht für etwas, sondern für sich erzogen. Und wenn der programmatische Anfangssatz des Buches gilt, wonach „Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme.“, dann geht es darum, den natürlichen Zusammenhang zurückzuländischen Kultur, Freiburg/ Brsg., Rombach 1997, S. 225-251. 231 gewinnen und dem Ich zur Erkenntnis der natürlichen Ordnung zu verhelfen, denn letztere ist ja zugleich Ausdruck der göttlichen Ordnung. „Je sais seulement que la vérité est dans les choses et non pas dans mon esprit qui les juge, et que moins je mets du mien dans les jugements que j’en porte, plus je suis sûr d’approcher de la vérité.“ (S. 327) Man möchte von einem Eingehen auf die Naturordnung und ihre Gesetze sprechen, die nicht allein den Maßstab jedes Urteils abgeben, sondern für eine neue Geborgenheit des Menschen jenseits der fragwürdig gewordenen, gesellschaftlichen Werte sorgen. Nichts ist von dem Pascalschen Gefühl existentieller Angst weiter entfernt als diese Vorstellung der Übereinstimmung des Menschen mit der Natur, die in dem natürlichen Glaubensbekenntnis, „la profession de foi du vicaire savoyard“ in Buch IV gipfelt. Letztere vor allem hat ja zur Verurteilung des Buches durch den Erzbischof von Paris und zur Ächtung des Autors geführt. Die Vorstellung der natürlichen Gotteserkenntnis, die ähnlich wie der Rousseausche Gewissensbegriff bis auf Augustinus zurückgeht, stellt die kirchliche Vermittlungsfunktion in Frage und verleiht zugleich dem Kampf der Aufklärer gegen die Vorurteile und gegen kirchlichen Obskurantismus eine neue, fast noch gefährlichere Wendung. Der Vikar, den Emile und sein Erzieher in den Bergen Savoyens treffen, hat „toute la clarté des lumières primitives“ (S. 321) bewahrt; er verkündet eine natürliche Dogmenlehre, die man philosophisch als gemäßigten Deismus umschreiben könnte. Ihm entspricht ein natürlicher Gottesdienst: „Je n’ai pas besoin qu’on m’enseigne ce culte, il m’est dicté par la nature elle-même.“ (S. 337) Das seit Leibniz wieder ins Bewusstsein getretene Theodizee-Problem, d. h. die Frage nach der Erklärung des Bösen angesichts der Güte und Allmacht Gottes, findet auf dieser Grundlage eine neue Antwort: Das Böse kommt von uns selbst, aus unserer gesellschaftlichen Verfasstheit: „Homme, ne cherche plus l’auteur du mal; cet auteur, c’est toi-même.“ (S. 342) Denn: „C’est l’abus de nos facultés qui nous rend malheureux et méchants. Nos chagrins, nos soucis, nos peines, nous viennent de nous. Le mal moral est incontestablement notre ouvrage, et le mal physique ne serait rien sans nos vices, qui nous l’ont rendu sensible.“ (S. 341) Die Episode des Vikars, die dem im 18. Jahrhundert beliebten Initiationsschema durch einen Weisen folgt und die Ersetzung des natürlichen Vaters durch eine sublime väterliche Autorität vorführt, ist der vorläufige End- und Höhepunkt eines präzis gegliederten Phasenmodells der menschlichen Entwicklung, welches die religiöse Unterweisung erst in der „seconde naissance“ zwischen 16 und 20 Jahren, d. h. mit dem Beginn des moralischen Bewusstseins ansetzt. Die durch ein tätiges und gesundes Leben auf dem Lande hinausgezögerte Pubertät, das Erwachen der Sinnlichkeit, beinhaltet im sensualistischen Verständnis auch die Fähigkeit zum Mitgefühl, zur Großherzigkeit und zur Freundschaft; man könnte auch von der vollen Ausbildung des être sensible sprechen. Bis dahin, d. h. in den Büchern I bis III, durchläuft Emile 232 die drei klassischen Entwicklungs- oder Lebensalterstufen: infans - puer - adolescens, die freilich im Sinne der empirisch-sensualistischen Philosophie neu gewichtet werden. Oberster Grundsatz ist die eigene Erfahrung, d. h. das Kind soll „rien faire par obéissance, mais seulement par nécessité“ (S. 76) und in größtmöglicher Freiheit die Möglichkeit der Selbsterfahrung erhalten; man könnte auch sagen: nicht am Widerstand der Menschen, sondern am natürlichen Widerstand der Dinge lernen. Daraus folgen der Vorrang der Praxis und die Verbannung des Bücherwissens - und - damit verbunden - die durchaus neuartige Vorstellung, dem Kind Zeit bei der Entwicklung zu lassen. Nach der Geschichte der Kindheit des Mentalitätshistorikers Philippe Ariès 415 wird die Entdeckung des Kindes und der Kindheit Rousseau zugeschrieben. Wie in den Confessions die eigene Kindheit als Voraussetzung und Keim der späteren Entwicklung begriffen wird, so wird hier unter idealtypisch-experimentellen Vorzeichen die gelungene Kindheit als Voraussetzung für die Ausbildung des vollständigen Menschen und Citoyen begriffen. Der Emile ist ein Plädoyer für kindgemäße Erziehung gegen „cette éducation barbare qui sacrifie le présent à un avenir incertain, qui charge un enfant de chaînes de toutes espèces, et commence par le rendre misérable.“ (S. 61) Erstmals erscheint die Kindheit als eigenwertige Entwicklungsphase, als „l’âge de la gaieté“ (S. 62). Bekanntlich haben ja gerade die Ausführungen über die Kleinkindpflege - Abhärtung durch kaltes Wasser, Stillen durch die Mütter - damals gesellschaftliches Aufsehen erregt und z. T. eine neue Phase der Mutter-Kind-Beziehung gegenüber der herkömmlichen Ammenerziehung eingeleitet. Der Begriff der Erfahrung betont die Eigenständigkeit und Autonomie des Ich. Er richtet sich zeitgeschichtlich vor allem gegen den Typus der humanistisch-räsonierenden Erziehung und kann sich auf die Pädagogik der Erfahrung bei John Locke berufen. Wenn zuerst die Sinne, dann der Verstand und erst danach das moralische Wesen des Menschen ausgeprägt werden, dann geht es darum, zunächst den natürlichen Eigennutz des Menschen zu kanalisieren, der an sich weder gut noch als böse begriffen wird: „il n’y a point de perversité originelle dans le cœur humain. […] La seule passion naturelle à l’homme est l’amour de soi-même, ou l’amour-propre pris dans un sens étendu.“ (S. 81) Über Gut und Böse entscheidet die praktische Anwendung. Ausgehend - wie bei Locke - von der Natürlichkeit der Bedürfnisse und der Urerfahrung des Mangels wird das Kind mithin in eine Situation versetzt, die dem ursprünglichen Zustand (état primitif) scheinbar entspricht. Dessen Symbolfigur ist der Defoesche Robinson, der auf sich allein gestellt und in der natürlichen Umwelt der Insel noch einmal die Stu- 415 Philippe Ariès, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris, Plon 1960, dt. Geschichte der Kindheit, München, Hanser 1975. 233 fen der Weltaneignung des abendländischen Menschen durchläuft. Das einzige fiktionale Buch, das der Erzieher Emile daher gestaltet, ist der Robinson Crusoe, der hier eine ähnliche Rolle spielt wie der Briefwechsel von Abälard und Heloisa in der Nouvelle Héloïse. Im Robinsonmythos verdichtet sich das frühliberalistische Ideal des autonomen homo faber, der aus der Erkenntnis der Welt die Ordnung der Welt konstruiert. Emile wächst folglich wie ein neuer Robinson auf der von der Gesellschaft abgeschirmten ,Insel‘ seines ländlichen Lebensbereiches auf. Wie Robinson die wesentlichen Stufen der Naturaneignung noch einmal durchlaufen muss, um sich am Leben zu erhalten, entdeckt auch Emile das schon Entdeckte in persönlicher Erfahrung neu und erreicht endlich durch die Erlernung eines Handwerks - hier der Tischlerei - auch die Stufe der praktischen Naturbeherrschung. Rousseau hat damit, wie es in Buch V heißt, den Roman „de la nature humaine“ unter Ausschluss von Vater und Familie geschrieben (S. 528), und es bleibt nur noch die Aufgabe, das Ergebnis in den Zusammenhang der Gesellschaft zu stellen, also die Tragfähigkeit des Modells unter gewöhnlichen Bedingungen zu erproben. Emile wird in die Pariser Gesellschaft eingeführt, und er macht die Bekanntschaft eines Mädchens, Sophie. Auch hier geht es freilich um exemplarische Verhältnisse, wie auch der knappe Abriss über ideale Mädchenerziehung zeigt. Und dabei zeigt sich zugleich, was Eva Knapp-Tepperberg die „Antinomie des bürgerlichen Freiheitsbegriffs“ 416 genannt hat. Als Pendant zu Emile erfährt das Mädchen nämlich keineswegs jene ,natürliche‘ Erziehung, die dem künftigen Manne angemessen schien. Lediglich in seiner Kritik an der Klostererziehung wendet sich der Autor gegen zeitgenössische Usancen, wobei er die allgemeine Auffassung der Aufklärer und der Frauenliteratur seiner Zeit teilt. Im übrigen ist das Ziel einer Erziehung in der Familie und durch die Familie die gebildete Hausfrau und Mutter, die - ähnlich wie Julie in Clarens - als Mittelpunkt eines kleinen geselligen Kreises wirken kann. In gewisser Weise ist der Schluss des Emile also eine harmonisierende Neufassung der Nouvelle Héloïse, denn wieder versucht der Außenseiterheld in die väterliche Machtsphäre der Geliebten einzudringen. Die jugendlichen Helden haben kein Hindernis zu überwinden, aber das Fehlen gesellschaftlicher Konflikte und die gleichberechtigte Liebe lassen auch das Problem der Leidenschaft in den Hintergrund treten. Wie Saint-Preux muss Emile im übrigen eine große Bildungsreise machen, die hier doch als Vorbereitung zur Hochzeit und als Einübung von Selbstbeherrschung dient. Der Télémaque, den ihm Sophie dazu schenkt, ist sein neues Brevier, das den Robinson symbolisch ablöst. Sophie sucht tatsächlich einen Part- 416 Eva-Maria Knapp-Tepperberg, „Rousseaus Emile ou de l’éducation. Sexualauffassung und Bild der Frau. Ein Kapitel zur Antinomie des bürgerlichen Freiheitsbegriffs“, in: Literatur und Unbewusstes, München, Fink 1981, S. 40-62. 234 ner, der ihrem Idealbild Télémaque ähnelt: „je ne veux point un prince, je ne cherche point Télémaque […]; je cherche quelqu’un qui lui ressemble.“ (S. 513) Auf das Ideal einer autonomen Erziehung folgt daher das Ideal eines natürlichen, ausgeglichenen Familienlebens am Rande der Gesellschaft. Ein wenig Gil Blas, ein wenig homme de qualité qui s’est retiré du monde, transponiert Emile das reformatorische Wirken des Télémaque aus dem aristokratischen und staatspolitischen Register in das schlichtere, bürgerliche und landadlige Register des ländlichen Wohltäters, der seine Rolle im engen Kreis des Lebens vorbildlich ausfüllt. Er vertritt damit das angesprochene Zielpublikum der Nouvelle Héloïse und bildet im Umkreis der physiokratischen Ideen der zweiten Jahrhunderthälfte das Urbild aller väterlichen Apostel des einfachen Lebens im 19. Jahrhundert. Emile „va vivre au milieu d’eux (d. h. der Landbevölkerung), cultive leur amitié dans un doux commerce“, er ist „leur bienfaiteur, leur modèle“, und sein Beispiel „leur servira plus que tous nos livres“, denn - wie der Autor, gleichsam sein eigenes Verschulden entschuldigend, meint: „Tous les hommes qui se retirent de la grande société sont utiles précisément parce qu’ils s’en retirent“, ist doch die eigentliche Aufgabe des glücklichen Paares, zu „vivifier la campagne et ranimer le zèle éteint de l’infortuné villageois“ (S. 606). Der ideale Erziehungsroman ist so zugleich ein idealer Eheroman, das Brevier der neuen, auf Gleichgesinntheit der Herzen und Tugend aufgebauten Eheauffassung, die sich der galanten Ehebruchsliteratur entgegensetzt. In dieser Hinsicht konnte sich Rousseau auf Locke beziehen, der im Essay Concerning Civil Government (Sektion 55) die Ehe gegenüber der Familie aufwertet und individuelle gegenseitige Zuneigung zur Grundlage der Bindung macht. Ähnlich wie in bezug auf die Kindererziehung und Kindheitskonzeption wäre Rousseau mithin auch in dieser Hinsicht als Wegbereiter eines mentalitätsgeschichtlichen Umbruchs zu sehen. Programmatisch hebt er die jahrhundertealte Polarisierung von Ehe und Liebe/ Leidenschaft auf und schildert das neue Ideal der durch Gefühle verbundenen Kleinfamilie - ein Ideal, das freilich charakteristischerweise vorerst nur in der Abwendung von der Gesellschaft möglich ist. Seine Formel lautet: „continuer d’être amants quand on est époux.“ (S. 609) - fast die wörtliche Umkehrung des höfischen Credos der Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe, wie es Ende des 12. Jahrhunderts - wegweisend für fünf Jahrhunderte - von Andreas Capellanus formuliert worden war. Der mittelalterliche Theoretiker begründet dies damit, dass Zwang und Liebe sich wechselseitig ausschlössen. 417 Der bürgerliche Theoretiker gibt darauf die Antwort, dass auch in der Ehe die Freiheit des anderen gewahrt bleiben müsse. Mit den Worten des Mentors: „Non, mes enfants, dans le mariage les cœurs sont liés, mais les corps ne sont 417 Vgl. Andreas Königlicher Hofkaplan, Von der Liebe. Drei Bücher, übersetzt von Fritz Peter Knapp, Berlin/ New York, Walter de Gruyter 2006. 235 point asservis. Vous vous devez la fidélité, non la complaisance. Chacun des deux ne peut être qu’à l’autre, mais nul des deux ne doit être à l’autre qu’autant qu’il lui plaît. (S. 610) So ist endlich der Rousseausche Traum vom irdischen Paradies unter neuen Vorzeichen wahr geworden und das Inseldasein Robinsons ist in eine neue Stufe überführt worden. Wie prekär dieses Glück dennoch ist, zeigt das Briefromanfragment Emile et Sophie, ou Les Solitaires, 418 das der Autor zwischen 1762 und 67 verfasst haben muss. Die zuvor nicht thematisierte Problematik der konträren Erziehung Emiles und Sophies - in der Natur/ in der Gesellschaft - bricht hier auf, Sophie erliegt den Verlockungen der Welt und wird dem Geliebten untreu, und Emile fällt in die unglückliche Rolle Saint-Preux’ zurück. Im Briefroman als der realistischen, psychologischen Romanform wird der Schatten Manon Lescauts wieder greifbar, und Emile wird zum zweiten Cleveland. In zwei langen Briefen legt das unglückliche Ich dem ehemaligen maître Rechenschaft über ein misslungenes Leben ab: „Tout s’est évanouï comme un songe, jeune encore j’ai tout perdu, femme, enfans, amis, tout enfin, jusqu’au commerce de mes semblables.“ (S. 53) 419 Als neuer Saint-Preux zieht der Held ziellos hinaus in die Welt, nachdem er die Rückkehr zu der einstigen Frau und Geliebten verworfen und auch den gemeinsamen Sohn verloren hat. Die Vaterwerdung wird symbolisch zurückgenommen. Emile wird wieder zum heimatlosen Wanderer, der nach einer vorübergehenden Stelle in seinem erlernten Tischlerhandwerk „das Wasser des Vergessens trinkt“ („J’ai bu l’eau d’oubli.“ S. 102) und „la vie d’un vagabond“ (S. 106) führt, sich als Matrose verdingt, algerischen Korsaren in die Hände fällt und als frei gelassener Sklave seine offenbar doch wenig realistische, philosophische Lehrzeit bei dem früheren Mentor durch Welterfahrung ergänzt: „il fis sous ces rudes maîtres [sic! ] un cours de Philosophie encore plus utile que celui que j’avais fait près de vous.“ (S. 112), wie er rückblickend schreibt. Wie Emile aus bürgerlicher Bindung in jugendlich pikareske Ungebundenheit zurückfällt, scheint auch der Roman zu seinen Ursprüngen bei Lesage und Prévost zurückzukehren, und die väterliche Autorität des Erziehers sorgt nurmehr für ein symbolisches Publikum, an das sich diese fragmentarische Beichte richtet. Der tragischen Regression entspricht dann die idyllische Regression. Aus den Quellen kennen wir den geplanten Fortgang der Handlung. 420 Emi- 418 Zitate nach Jean-Jacques Rousseau, Emile et Sophie ou les Solitaires éd. par Frédéric S. Eigeldinger, Paris, Champion 2007 (L’Âge des Lumières, 39). 419 Der Satz am Anfang des ersten Briefes klingt wie ein Echo der berühmten Einleitung der Première Promenade der Rêveries du promeneur solitaire, éd. par Henri Roddier, Paris 1960 (Les Classiques Garnier), S. 3: „Me voici donc seul sur la terre, n’ayant plus de frère, de prochain, d’ami de société que moi-même.“ 420 Annexe III, S. 150-154. 236 le sollte frei kommen und auf einer Insel eine wundertätige Mariengrotte 421 besuchen, die schöne Tochter eines schiffbrüchigen Spaniers heiraten und bald darauf die unglückliche Sophie wiedertreffen. Die angedeutete Konstellation des „ménage à trois“ aus den Confessions bestätigt die zwanghafte Infantilisierung des Helden, bevor dieser endgültig mit Sophie versöhnt werden soll. Dass Emile et Sophie „n’est pas le roman de l’échec“ 422 sei, wie der Herausgeber in Übereinstimmung mit Raymond Trousson 423 meint, erscheint unter diesen Umständen mehr als fragwürdig. Das Romanfragment demonstriert inhaltlich und formal den Zusammenbruch der Emanzipationsanstrengungen. Aber es demonstriert in gewisser Weise auch das Versagen des Ersatzvaters, der doch an die Stelle der philosophes treten sollte. Und schließlich demonstriert es in seiner Überspanntheit das Versagen der Romanform selbst. 421 Ein merkwürdiges Motiv angesichts der Feststellung im Emile, dass es keine Wunder gibt: „C’est l’ordre inaltérable de la nature qui montre le mieux la sage main qui la régit; […].“ (S. 366) Nach einer Variante geht es um einen Tempel, deren Priesterin Sophie ist. 422 Frédéric S. Eigeldinger, „Introduction“, S. 44. 423 Raymond Trousson, „Rousseau et le roman de l’épreuve: Emile et Sophie“, in: Hebrew University Studies in Literature and the Arts 11, 3 (1983), S. 18-37. 237 XI. Diderot: Der dramatisierte Roman oder das Rechten mit dem Vater Die Entwicklung von Montesquieu über Voltaire und Rousseau zu Diderot entspricht den drei Phasen Früh-, Hoch- und Spätaufklärung und zeigt zugleich in soziologischer Perspektive die wachsende Partizipation des dritten Standes. Nach dem amtsadligen Libertin Montesquieu und dem gutbürgerlichen Voltaire repräsentieren Rousseau, Diderot, Rétif de la Bretonne bereits die unteren Schichten der „roture“, Handwerker und Bauern. Montesquieu situiert sich noch in dem herkömmlichen akademischen und eruditen Bildungssystem; seine Gesellschaftstheorie und Staatslehre relativiert aber das klassische, zentralistische Weltbild. Voltaire entwickelt die aufklärerische Geschichtstheorie und -philosophie als eine quasi abstrakte Geistesgeschichte der sukzessiven Befreiung von Vorurteilen. Die Generation Diderots begründet nach der Jahrhundertmitte eine umfassende Wissenschaftstheorie, die philosophisch vom Deismus zum Materialismus und soziologisch zu utopischen Gesellschaftsmodellen führt, die über die Revolution hinaus in den romantischen Frühsozialismus hineinwirken. Die zentrale Rolle Diderots 424 ist gerade durch die neuere Forschung wieder verstärkt ins Bewusstsein gerückt worden. Während etwa Voltaire als belletristischer Autor noch durchweg dem klassischen Paradigma zuzurechnen ist und eine ästhetisch konservative Position einnimmt, vertritt Diderot nicht nur als „philosophe“, sondern auch als Erzähler und Dramatiker, Kunstkritiker und Kunsttheoretiker eine fortgeschrittene, zum Teil revolutionäre Haltung; seine Theorie des drame bourgeois etwa bezeichnet das Ende des klassischen Theaters und ist vor allem für Lessing bedeutsam geworden: Überwindung der Ständeklausel, Einbeziehung der alltäglichen Wirklichkeit des bürgerlichen Lebens und Tragik auch der niederen Stände, Ersetzung des allgemeinen, moralistischen Charakterbegriffs durch die Vorstellung des individuellen und des sozialen Charakters (nach dem Vorbild der englischen Empfindsamkeit) - dies sind einige wichtige Aspekte. Als Wegbereiter - neben Marmontel - des conte moral, steht Diderot am Anfang der romantischen Novellistik und nimmt eine Gegenposition zum conte philosophique ein; und als Romanautor endlich repräsentiert er eine experimentelle Tendenz, deren Originalität erst in der jüngeren Forschung - unter dem Eindruck des Nouveau Roman - voll erkannt worden ist. Der Ausdruck „experimentell“ wäre vielleicht als Oberbegriff für das Gesamtwerk zu verwenden. Denn Diderot besticht weniger durch eine geschlossene Konzepti- 424 Herbert Dieckmann, Diderot und die Aufklärung. Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, Metzler 1972. 238 on als durch eine Vielzahl von Versuchen, deren Konzepte in der Praxis nicht immer voll eingelöst werden und die sich vor allem durch ihre fundamentale Offenheit auszeichnen. Ähnlich wie bei Voltaire steht freilich das erzählerische Werk weder im Zentrum der Arbeit, noch kann man von einer frühen und kontinuierlichen Entwicklung sprechen. Mit Ausnahme des freizügigen Erzählzyklus Les Bijoux indiscrets (1748), das sich an der Mode des conte oriental licencieux orientiert und den jüngeren Crébillon von Le Sopha nachahmt, sind die wesentlichen Werke spät entstanden. 1713 als Sohn eines Maître coutelier in der Messerstadt Langres geboren und dort im Jesuitenkolleg erzogen, kam Denis Diderot gegen 1730 nach Paris, wahrscheinlich zunächst an das Lycée Louis le Grand, dann an die Sorbonne, wo er Rechtswissenschaften studierte. Mit Übersetzungen aus dem Englischen, u. a. Shaftesbury, verdiente er sich Geld und muss schon in den 40er Jahren in Pariser Aufklärerkreisen bekannt gewesen sein, wo er im Salon des Barons d’Holbach verkehrte. 1746 fasste er mit d’Alembert den Plan zur Herausgabe einer Enzyklopädie des Wissens, Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. Ursprünglich eher als Übersetzung einer bescheidenen englischen Enzyklopädie konzipiert und von einem Professor am Collège de France herauszugeben, geriet die Leitung des Unternehmens mehr durch Zufall in die Hände der beiden Freunde, die zunächst nur als Übersetzer mithelfen sollten und sich überdies bei dieser Unternehmung heillos entzweiten. Zwischen 1751 und 1780 wurde daraus das Standardwerk der Aufklärung in 17 Bänden. Die folgenden Jahre standen vor allem im Zeichen der theoretischen Arbeit. Die Lettre sur les Aveugles (1749), eine materialistische Erkenntnistheorie, brachte dem Autor Festungshaft in Vincennes ein; die Lettre sur les sourds et muets (1751) führte dagegen zu seiner Aufnahme in die Berliner Akademie. Neben solche Arbeiten traten in den 50er Jahren Schriften über das Theater und die Kunst. Wie die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, so scheint auch die Hinwendung zum bürgerlichen Roman englischem Einfluss zu verdanken zu sein. Der Eloge de Richardson erschien 1762, der Roman La Religieuse 1760, der romanähnliche Dialog Le Neveu de Rameau entstand 1761 bis 1772, und Jacques le Fataliste zwischen 1771 und 1773 (publ. allerdings erst 1778-80 in der Correspondance Littéraire und in Buchform 1796). Die Publikationsumstände zeigen hier wie auch im Fall der Religieuse und des Neveu, dass dieser Teil des Werks den zeitgeschichtlich geringsten Stellenwert einnahm: die Religieuse erschien ja in Buchform auch erst 1796 und der Neveu wurde erst 1823 ediert. Für die Zeitgenossen zählte vor allem der Kunst- und Literaturkritiker, Herausgeber der Correspondance littéraire und der Encyclopédie, der als Berater Katharinas II. von Russland, die er 1773-74 besuchte, den Höhepunkt seines Ansehens erreichte. Das philosophische Werk Le Rêve d’Alembert (entst. 1769), das Supplément au Voyage de Bougainville und 239 Teile der Histoire des deux Indes (1770ff.) (zusammen mit Raynal) sind das philosophische Testament des 1784 in Paris gestorbenen Autors und bezeugen u. a. Diderots Sympathie für die englische moral sense philosophy. In bezug auf die Entwicklung des Romans liegt die Bedeutung Diderots zunächst in seiner Rolle als Vorläufer der Realismustheorien des 19. Jahrhunderts. Der Eloge de Richardson (1762) dokumentiert nicht nur den Einfluss des englischen Autors, sondern dient Diderot selbst auch zur Formulierung seiner eigenen Vorstellungen. „Le lieu où nous vivons est le lieu de la scène“ (S. 30), 425 heißt es da, und „toute la réalité possible“ sei eingefangen: „ses caractères sont pris au milieu de la société“ (S. 31). Die Wahrheit des Ganzen wird gerühmt: „le fond de son drame est vrai“. Auffällig ist dabei die Metaphorik des Dramas. Tatsächlich ist die Grenze zwischen Roman und Drama in Theorie und Praxis Diderots fließend; nicht zufällig bezeichnet er die großen Romane Pamela, Clarissa und Grandisson als „trois grands drames“ (S. 33). Denn entscheidend ist die Konzeption des Romans als „Drama“ und zwar als privates Drama und „scène de la vie privée“, wie es später Balzac formuliert. Das Drama des realen Lebens bedarf keines außergewöhnlichen Helden mehr, und die psychologische Analyse in der Tradition eines Marivaux oder Crébillon wird jetzt durch dynamische Handlung und Entwicklung des Charakters ersetzt. Vorausgesetzt ist der moralische Ernst, der der eher spielerisch-ironischen Haltung des libertinistischen Romans deutlich entgegengesetzt ist. Der Roman wird zu „l’inépuisable fonds de morale, d’expérience, d’observations“ (S. 40), d h. zu jenem Medium gleichsam privater Geschichtsschreibung, das wenig später von Balzac oder Stendhal begründet wird. 426 Vor allem aber geht es jetzt darum, wie Richardson „le flambeau au fond de la caverne“ zu tragen und hinter der Fassade die uneingestandenen und unbewussten Motive hervortreten zu lassen. (S. 32) Diderot hat seinen Ansatz im Anhang zu der Erzählung Les deux amis de Bourbonne weiterentwickelt. Unter den drei Möglichkeiten des conte merveilleux, des conte plaisant und des conte historique legt er den Akzent auf letzteren, dem z. B. Autoren wie Scarron, Cervantes und Marmontel zugerechnet werden. Freilich hat Diderot, wie Coulet 427 gezeigt hat, zu dem Zeitpunkt die Stufe des conte moral im Sinne Marmontels bereits überschritten. Wichtig ist die Betonung der „petites choses“ und der „circonstance fugitive“ (S. 35), welche die Alltagsnähe des Erzählten unterstreichen sollen: „la verrue à la tempe, la coupure à la lèvre, la marque de petite vérole à côté du nez“. Der Erzähler, „à la fois véridiqe et menteur“, 425 Zitate nach Diderot, Œuvres esthétiques, éd. par Paul Vernière, Paris 1959 (Les Classiques Garnier). 426 Vgl. Hans Robert Jauß, „Nachahmungsprinzip und Wirklichkeitsbegriff in der Theorie des Romans von Diderot bis Stendhal“, in: Nachahmung und Illusion, hrsg. von H. R. J., München, Fink 1969 (Poetik und Hermeneutik, 1), S. 157-178. 427 Henri Coulet, Le roman jusqu’à la Révolution, Paris, Colin 1967, S. 496 ff. 240 hat die Aufgabe, die Illusion der Wirklichkeit hervorzubringen. Denn, wie es einmal in Les Bijoux indiscrets heißt, il n’y a que le vrai qui plaise et qui touche“ 428 . Implizit gegen die klassische Tradition gerichtet, nimmt Diderot hier eine generationsspezifische neue Wahrheit für sich in Anspruch; nicht zufällig ist Kapitel 38: Entretien sur les lettres dieses libertinistischen Frühwerks eine Erinnerung an die lange zurückliegende Querelle des anciens et modernes, insofern der Autor im Namen der Natur (und Natürlichkeit) gegen die ‚extravagante‘ Künstlichkeit der klassischen Theatertradition polemisiert. Als Seitenstück des ‚modernen‘ spectacle verfügt der roman domestique, wie der Autor in De la poésie dramatique betont, über „la peinture des mouvements“ und ein „pathétique“ der Rede, die die Personen anschaulich machen: „Je vois le personnage; soit qu’il parle, soit qu’il se taise, je le vois; […].“ 429 Die ‚Modernen‘ sind hier dazu berufen, das Erstarrte lebendig zu machen. Die Dramatisierung und ‚Theatralisierung‘ des Romans ist von Roger Kempf als Ausdruck einer bis in die Bijoux indiscrets zurückreichenden Bemühung Diderots um die intergenerische Annäherung beider Formen, „un perfectionnement du théâtre par le roman, du roman par le théâtre“ 430 gedeutet worden. Wichtig ist aber zugleich der von Kempf angedeutete biographische Hintergrund; die Entscheidung des Dramenautors Diderot für den Roman und die gleichzeitige Absage an das Theater fallen mit dem Tod des tyrannischen Vaters 1759 zusammen und bezeichnen das Ende einer aufgewühlten Zeit, die mit Le Fils naturel (1757) und Le Père de Famille (1758) ihr dramatisches und in letzterem Fall auch skandalöses Äquivalent gefunden hatte. Es geht nicht um symbolische Vatertötung von seiten eines Autors, den Pierre Mesnard in seiner charakterologischen Studie als einen „colérique débridé, c’est-à-dire très nettement émotif et primaire“ 431 einstuft. Von den Dramen bis zum Romanspätwerk sieht Kempf eine Art rückwärtsgewandter Trauerarbeit mit dem Ziel, das Vater-Sohn-Verhältnis von beiden Seiten her zu entlasten, „plaidoyer qui vise à innocenter père et fils, accusé et victime.“ 432 Rudolf Behrens hat in einer sehr genauen psycho-sozialen Rezeptions-Analyse des Père de famille die wechselnde Identifikationsperspektive des Publikums mit Vater und Sohn postuliert und daraus die These einer ideologischen Funktion auch der gefühlsmäßigen Interaktion abgeleitet. 433 Weitergehend 428 Diderot, Œuvres romanesques, éd. par Henri Bénac, Paris 1962 (Les Classiques Garnier), S. 142. 429 Diderot, Œuvres esthétiques, S. 271. 430 Roger Kempf, Diderot et le roman ou le démon de la présence, Paris, Seuil 1964, S. 58. 431 Pierre Mesnard, Le cas Diderot. Etude de caractérologie littéraire, Paris, Presses Universitaires de France 1952, S. 113. 432 Ebd., S. 70. 433 Rudolf Behrens, „Diderots Père de famille. Oder: Wie lässt sich die Problematisierung gesellschaftlicher Leitwerte erfahrbar machen? “, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 9 (1985), S. 41-77. 241 scheint aus der These eines lebenslangen unbewussten Dialogs mit dem Vater auch der Vorrang der dialogischen Struktur abgeleitet werden zu können, die die Vorgaben des dialogischen Briefromans radikalisiert und erstmals die von Michail Bachtin 434 postulierte, konstitutive ‚Dialogizität‘ der Romangattung konsequent verwirklicht. In ihr hat Roland Galle 435 ein wesentliches Element der „Dialogisierung der Aufklärung“ gesehen, die Heinz Thoma 436 zu der These einer „Selbstaufklärung der Aufklärung“ weiterentwickelt hat. Hans Magnus Enzensberger hat in den z. T. von Diderot übernommenen, z. T. erfundenen szenischen Skizzen seines Buches Diderots Schatten 437 eben diesen Ansatz fortgeführt. Das Bemühen um Verlebendigung und Sichtbarmachung ist schon in der scheinbar traditionellen Autobiographie einer Nonne, La Religieuse 438 (1760, 1780 in überarbeiteter Fassung in der Correspondance littéraire und 1796 in Buchform), deutlich. Ausgangspunkt ist der Fall eines Mädchens, Marguerite Delamarre, die ins Kloster gezwungen wurde und vergeblich versucht hatte, gerichtlich gegen das erzwungene Gelübde anzugehen. 439 Kennzeichnend für die Problematik der Wirklichkeitsillusion ist die Entstehungsgeschichte. Diderot und sein Kreis, Grimm, Madame d’Epinay, verfassten nämlich Anfang 1760 die Briefe einer Nonne, um einen Freund, den Marquis de Croismare, an diesem scheinbar realen Schicksal zu interessieren und zur Rückkehr aus der Normandie in die Hauptstadt zu bewegen. Der Marquis glaubte die Geschichte und bot seine Hilfe an, so dass die Freunde das fiktionale Opfer sterben lassen mussten, um die peinliche Situation zu beenden. Der Briefwechsel wurde dann 1770 von Grimm veröffentlicht. Diderot hatte aber zugleich einen Memoirenroman einer Marianne (Marivaux) aus dem Stoff gemacht, der erst 1780 bis 83 publiziert wurde. Nach dem Vorbild der Vie de Marianne schildert hier die Heldin, Suzanne Simonin, die als Waise ins Kloster gezwungen wurde, selbst ihr Leben, aber sie schildert es nicht aus 434 Vgl. Michael Holquist (Hrsg.), The Dialogic Imagination. Four Essays by M. M. Bakhtin, Austin, University of Texas Press 1981. 435 Hierzu Carol Sherman, Diderot and the Art of Dialogue, Genève, Droz 1976 (Histoire des idées et critique littéraire, 156), ferner Roland Galle, „Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung“, in: Jürgen von Stackelberg (Hrsg.) Europäische Aufklärung III, Wiesbaden, Athenaion 1980, S. 209-247. Vgl. allgemein Gabriele Vickermann-Ribémont, Dietmar Rieger (Hrsg.), Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, Tübingen, Narr 2003. 436 Heinz Thoma, „Philosophie - Anthropologie - Erzählen. Der Roman als Instrument der- Selbstaufklärung der Aufklärung“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 216 (1997), S. 55-77. 437 Hans Magnus Enzensberger, Diderots Schatten. Unterhaltungen, Szenen, Essays, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1994. 438 Zitate nach Diderot, Œuvres romanesques, éd. par Henri Bénac, Paris 1962 (Les Classiques Garnier). 439 Dass Diderot selbst 1743 von seinem Vater vorübergehend im Kloster festgehalten wurde, als er den Wunsch einer nicht genehmen Heirat äußerte, mag hier nur am Rande erwähnt werden. 242 der Memoirenperspektive, sondern aus der Angst und Verwirrung einer Heldin, deren Schicksal sich noch nicht entschieden hat: „J’ignore quel est le destin qui m’est réservé“ (S. 392), heißt es in den an den unvollständigen ‚Roman‘ angefügten Fragmenten der Lebensbeichte, die zugleich ein impliziter Dialog ist. Nach der gelungenen Flucht, aber voller Angst und Unsicherheit, richtet sie ihren Lebensbericht an den Helfer und Beschützer, den Marquis de Croismare, den sie um seine Unterstützung anfleht. „Je suis accablée de fatigues, la terreur m’environne, et le repos me fuit.“ (S. 392) Das bedeutet auch, dass wir es nicht wie bei Marivaux um einen ruhigen und ironisch distanzierten Rückblick auf das eigene Leben zu tun haben, sondern dass das Erzählen selbst noch in den pragmatischen Lebenszusammenhang eingebettet ist, weniger Rechenschaftslegung als Strategie und Hilferuf. „Monsieur, hâtez-vous de me secourir“. (S. 391) und: „Monsieur, ayez pitié de moi, et ne vous préparez pas à vous-même de longs regrets.“ (S. 392) Klaus Dirscherl 440 hat die Folgen der „Unmittelbarkeit des Diskurses“ diskutiert, die durch die illusionsfördernde Widersprüchlichkeit der Heldin, einer „Protagonistin, die keine ist“ und ihre unmittelbare Erlebnisperspektive zum Ausdruck kommt. Der zweite entscheidende Aspekt geht daraus hervor: die Perspektive der Naivität, die sich deutlich von dem „double registre“ der Marianne bei Marivaux unterscheidet: „des mémoires, où je peins une partie de mes malheurs, sans talent et sans art, avec la naïveté d’un enfant de mon âge et la franchise de mon caractère“, heißt es im Postskriptum. Weibliche Koketterie bleibt weitgehend unbewusst: „Je suis une femme, peut-être un peu coquette, que sais-je? Mais c’est naturellement et sans artifice.“ (S. 393) In einem solchen gleichsam atemlosen Rückblick: „Ces mémoires que j’écrivais à la hâte“ … (S. 392) ist das Erzählen mithin Teil eines noch nicht abgeschlossenen Weges, eine Art dramatisches Sprechen, welches zu dem dramatischen Charakter des Romans beiträgt. Die Mischung aus Angst und Gefallsucht begründet die Unterlegenheit der noch sehr jungen Heldin gegenüber ihrem väterlichen Beschützer. Anstatt Objektivität vorzutäuschen, verstrickt sich die Heldin in ihrer Lebensbeichte und wird von dem angesprochenen Partner innerlich abhängig. „lorsque les choses peuvent exciter votre estime ou accroître votre commisération, j’écris bien ou mal, mais avec une vitesse et une facilité incroyables; mon âme est gaie, l’expression me vient sans peine, mes larmes coulent avec douceur, il me semble que vous êtes présent, que je vous voie et que vous m’écoutez. Si je suis forcée au contraire de me montrer à vos yeux sous un aspect défavorable, je pense avec difficulté, l’expression se refuse, la plume va mal, le caractère même de mon écriture s’en ressent […].“ (S. 383) Im Lichte der persönlichen Problematik und Schreibsituation verlagert sich mithin das Gewicht vom Inhalt zum Stil 440 Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen, Tübingen, Narr 1985, S. 103 und 101; vgl. auch zur „Immediatisierung des Erzählens“, S. 39-50. 243 und Ausdruck (expression), und die écriture selbst wird zum prinzipiell offenen Abenteuer. Zugleich gelingt es dem Autor auf diese Weise, die Perspektive der Einsamkeit und des Ausgeliefertseins der Heldin überzeugend darzustellen. Eigentliches Thema ist nicht oder nicht nur ein individuelles Schicksal im Stil des „roman sentimental“, sondern die perspektivische Ausleuchtung eines gesellschaftlichen Umfelds in der geschickten Kontrastierung von Individuum und Hintergrund zur psychosozialen Fallstudie fortentwickelt. In diesem Thema wird der Grundkonflikt zwischen institutionellen Zwängen und individueller Glückssuche fokussiert. Vorbilder hatte der Autor ja genug; man denke nur an die Geschichte der Nonne Tervire in der Vie de Marianne oder an die Variationen des Heloisenthemas. Auch Werke wie La Religieuse malgré elle, histoire galante, morale et tragique (1720) von Brunet de Bron oder die Histoire d’une religieuse von Madame de Tencin (allerdings erst 1786 publiziert) wären zu nennen. Der Akzent liegt also auf der Dialektik von Ich und Gemeinschaft, Subjektivität und Anonymität, Macht und Unterdrückung. „Le sadisme de Diderot“, ist ein bekannter Beitrag von Raymond Jean 441 überschrieben. La Religieuse ist eine Studie des kollektiven Sadismus mit verteilten Rollen. Es geht nicht nur, wie auch bei de Sade, um das lustvolle Quälen eines unschuldigen Opfers, das oft zugleich eine „verführte Unschuld“ 442 ist und so den perversen Bedrückungszusammenhang der Gesellschaft für die ‚Jungen‘ sinnfällig macht; Diderots sadistische Perspektive, „le jeu d’un esprit libre, audacieux, affranchi“, wird nach Raymond Jean zugleich zum kritischen Instrument der Aufklärung („instrument ‚critique‘“) 443 im Kampf gegen „un viol permanent de la liberté d’autrui“. La Religieuse ist die Studie einer Verdinglichung des Opfers, 444 das seit dem Eintritt ins Kloster alles wie in einem bösen Traum erlebt. Das anonyme kollektive on wird zum Inbegriff einer feindlichen oder bedrohlichen Kollektivität, der sich das Ich allein gegenübersieht. 445 Die grundsätzliche Viktimisierung des Ich durch die Oberin und die Gemeinschaft erfordert zugleich ein geschlossenes Milieu mit all seinen Zwangsmechanismen, wohl die erste konsequente Milieustudie überhaupt, in der die Bedrückung durch die Welt der Väter in räumlich psychosoziale Koordinaten übersetzt ist. Dies ist lange Zeit und gerade auch in dem milieubesessenen 19. Jahrhundert nicht richtig gesehen und eigentlich erst durch die Diderot-Forschung seit dem Zweiten Weltkrieg erkannt worden und erklärt die lange Unter- oder Falschbewer- 441 Raymond Jean, „Le sadisme de Diderot“, in: ders., La littérature et le réel, Paris, Albin 1965, S. 21-46. 442 Hellmuth Petriconi, Die verführte Unschuld, Hamburg 1953. 443 R. Jean, „Le sadisme de Diderot“, S. 46. 444 Ebd., S. 35. 445 Der Kernsatz „On voilà donc seule dans cette maison, dans le monde“ (S. 324) spiegelt das „Me voilà seul sur la terre“ Rousseaus in den Rêveries. 244 tung des Romans, der gerade nicht dem libertinistischen Genre zugeordnet werden kann. Inhalt ist folglich die progressive Initiation eines arglosen Opfers in die geschlossene Zwangsgemeinschaft des Klosterlebens, die allmähliche Steigerung und Bewusstwerdung und die Flucht. Suzanne Simonin, Tochter eines Notars, ist das klassische Aschenputtel, die jüngste ungeliebte Schwester, die hinter den zwei älteren zurücktreten muss. Natürlich sind die älteren hässlich, während die jüngste unglücklich und schön ist. Den Grund erfährt sie durch den Beichtvater und geistlichen Betreuer des Klosters, in das sie eintreten soll. Sie ist die uneheliche Tochter ihrer Mutter, die sie vergeblich zu erweichen sucht. Nachdem sie sich im ersten Kloster geweigert hatte, die Gelübde abzulegen, kommt sie ins Kloster von Longchamps zu einer gütigen Äbtissin, die ihre religiösen Gefühle weckt und sie schließlich zum Einverständnis bringt. Die Heldin ahnt in der Oberin die verwandte Lebenstragödie, die eine tiefere Übereinstimmung zwischen den beiden Frauen schafft. Deutlich vertritt die Oberin dabei eine Mutterrolle. Die Einkleidungszeremonie verläuft freilich in einer Atmosphäre der Unwirklichkeit und Selbstentfremdung: „j’ai prononcé des vœux, mais je n’en ai nulle mémoire, et je me suis trouvée religieuse aussi innocemment que je fus faite chrétienne.“ (S. 263) Die Heldin spricht davon, „physiquement aliénée“ (S. 264) gewesen zu sein, und vergleicht die Episode mit einer langen Krankheit. Nach dem ersten Märchenmotiv folgt nun das zweite archetypische Motiv im Roman des 18. Jahrhunderts: Suzanne verliert nämlich unmittelbar darauf sowohl den Vater und die Mutter als auch die ihr wohlgesonnene Oberin und wird so zur Waise, die gleichsam in einen gesellschaftlichen Zwangsverband hineingeboren wurde. Sie ist im wörtlichen Sinn allein. Ihre eigentliche Geschichte, die Geschichte des Lernens und der Erfahrung bis hin zur Revolte beginnt erst jetzt. Die neue Leiterin ist das Gegenteil der alten, eine Art böse Stiefmutter, engstirnig und sadistisch. Während Suzanne sich ihren Mitschwestern entfremdet, zieht die Oberin jene auf ihre Seite und macht der Heldin das Leben zur Hölle. Nur eine Mitschwester und ein Arzt helfen ihr seelisch und körperlich weiter. Es gelingt ihr, mit einem Anwalt Verbindung aufzunehmen und endlich in ein anderes Kloster, Saint Eutrope bei Arpajon, verlegt zu werden. Hier herrscht eine eher lasche und liberale Atmosphäre. An die Stelle des Psychoterrors tritt jedoch eine andere Form der Bedrohung. Die Äbtissin ist lesbisch und macht Suzanne gegenüber unzweideutige Avancen, die letztere jedoch lange nicht durchschaut, zumal sie, wie sie eingesteht, „je suis née caressante, et j’aime à être caressée“ (S. 371). Auf einer neuen Stufe wiederholt sich mithin das Komplizitätsverhältnis vor der Ablegung der Gelübde. Erst durch ihren Beichtvater wird sie sich allmählich der Verhältnisse bewußt. Der Beichtvater übernimmt auch die Rolle des Aufklärers, der mit der persönlichen Instruktion die allgemeine Kritik an dem Klosterwesen verbin- 245 det und der Heldin die Augen über die eigentlichen Mechanismen öffnet. Denn die Oberin ist nicht nur abschreckend, sie ist auch ein Double Suzannes, indem sie als Opfer des Klosters ihre Liebesbedürftigkeit in die einzig mögliche Richtung lenkt und in Verzweiflung stirbt. „Quelle mort, monsieur le marquis! je l’ai vue, je l’ai vue la terrible image du désespoir et du crime à sa dernière heure.“ (S. 387) Auch hier geht es um Selbstentfremdung bis hin zum Wahnsinn. Indessen ist die Leidensgeschichte noch nicht zuende: Suzanne wird allgemein verdächtigt, die Oberin verhext zu haben. Im Einverständnis mit dem Beichtvater, der ebenfalls von seinen Vorgesetzten verfolgt wird, beschließt sie zu fliehen. Anstatt freilich gerettet zu sein, wird sie von einem lüsternen Benediktiner entführt und in ein anrüchiges Haus gebracht, flieht wieder, kommt in einer Wäscherei unter, während ihr Entführer von der Polizei geschnappt wird. Ihr Fall ist inzwischen zum öffentlichen Skandal geworden, und sie fürchtet jeden Augenblick, entdeckt zu werden: „Je vis dans des alarmes continuelles …“ (S. 390)! In dieser Situation richtet sie ihren Lebensbericht als Hilferuf an den Marquis, einen älteren Herrn und Vater zweier Kinder, der sich für ihr Schicksal interessiert hat. Die Religieuse ist nicht nur eine aufklärerische Initiationsgeschichte, die bewusst fragmentarisch gehalten ist und die Initiation um wesentliche Dimensionen verkürzt. Die ohnmächtige Heldin ist auch eine unmündige Heldin, die sich an zwei ‚sublime‘ Vaterfiguren anlehnt, den Beichtvater und den Marquis, aber die Stütze der ‚Väter‘ bleibt notwendig unvollkommen, weil diese selbst Teil des gesellschaftlichen Zwangssystems sind, gegen das die Heldin aufbegehrt und aus dem es keine wirkliche Erlösung gibt. Suzanne ist ein Aschenputtel ohne erlösenden Prinzen, und nur der selbstmörderische Sturz in den Brunnen scheint ein Ende der Drangsal zu verheißen. Diderot benützt die angezeigten Märchenmotive, um den Typus des märchenhaften Romans zu desavouieren, und eigentlich benützt er die individuelle Heldin nur, um ein kollektives Psychogramm des Klosterlebens und seiner psychischen Schädigungen zu erstellen. Wie die Heldin einmal zwischendurch schreibt: „J’ai souffert, j’ai beaucoup souffert; mais le sort de mes persécutrices me paraît et m’a toujours paru plus à plaindre que le mien. J’aimerais mieux, j’aurais mieux aimé mourir que de quitter mon rôle, à la condition de prendre le leur.“ (S. 307 f.) Noch unklar erkennt die Heldin hier bereits, daß es weniger um eine besondere, als um eine repräsentative Geschichte geht, in der die verschiedenen Mechanismen der Verdrängung zum Ausdruck kommen. Das ist auch der Unterschied zu den Romanen des Marquis de Sade, mit dessen Roman Les Infortunes de la vertu der Diderotsche Roman z. B. das Motiv der verfolgten Unschuld und der Kumulierung des Horrors gemein hat: „Des horreurs si multipliées, si variées, si continues! Une suite d’atrocités si recherchées dans les âmes religieuses! “ (S. 307), wie Suzanne einmal ausruft, um doch die Wahrhaftigkeit ihres Lebensberichts zu beteuern. Sade kumuliert die Qualen, um seine philosophische These des Bösen 246 der Natur zu beweisen; Diderot verweist auf gesellschaftliche Unzulänglichkeiten und zeigt in der Perversion die frustrierte Glückssuche des geopferten Individuums. Die krankhaften Züge der religiösen Ekstase bei der mütterlichen Oberin am Anfang des Romans, der Sadismus der Oberin von Saint Eutrope stellen drei mögliche Reaktionen dar, die zusammengenommen die Problematik des Klosters als Zwangsgemeinschaft beleuchten, denn religiöser Ernst, starrsinnig fanatische Strenge und ein gewisser Laxismus - die drei Möglichkeiten der Klosterführung - haben gleichermaßen negative Folgen und können nicht nur als Perversionen eines positiven Ideals begriffen werden. Der systemimmanente Aspekt relativiert dann auch die Frage von Gut und Böse. Diderot macht ja deutliche Anleihen beim sentimentalen Schauerroman, aber er verweigert sich jeder dualistischen Vereinfachung, um stattdessen - wie es im Eloge de Richardson hieß - die Fackel der Aufklärung in die Höhlen des Unbewussten zu tragen. Es gibt keine wirklich Schuldigen, denn auch die Schurken sind in Wahrheit Opfer, und die Heldin selbst ist ja nicht nur die unschuldig Verfolgte und kann an ihrem eigenen Verhalten bestimmte Reaktionen nachprüfen und verstehen. Die schon genannte Perspektive der Unschuld und Unwissenheit ist nämlich nur am Anfang zugleich bloße Naivität; im Laufe des Lernens weicht sie einer gewissen Erfahrung, so unreflektiert diese auch sein mag. Aber das entscheidende Mittel, um den Eindruck von Bedrohlichkeit und Fremdheit zu erzeugen, liegt darin, dass der reflexive Stil gemieden wird und in Bericht und Dialog der direkte Eindruck vorherrscht. Melancholische Geistesabwesenheit, Illusion und Täuschung, undeutliche Erinnerung u. ä. tragen zu dem Eindruck nicht einer rekonstruierten, sondern erlittenen und nur z. T. durchschauten Wirklichkeit bei. „Je ne me rappelle, monsieur, que très imparfaitement tout ce qu’il me dit“, schreibt Suzanne einmal. „A présent que je compare son discours [gemeint ist der Beichtvater] - […] avec l’impression terrible qu’il me fit, je n’y trouve pas de comparaison; mais cela vient de ce qu’il me fit, je n’y trouve pas de comparaison; mais cela vient de ce qu’il est brisé, décousu; qu’il y manque beaucoup de choses que je n’ai pas retenues, parce que je n’y attachais aucune idée distincte […]“ (S. 368) Das Stichwort ist décousu. Anders als der klassische Text, dessen Ideal die idée distincte ist, konstruiert der Autor mithin einen löchrigen, bewußt diskontinuierlichen Text, der sich aus Erinnerungsfetzen zusammensetzt. Die nachträgliche Klärung bleibt unvollständig, weil das mangelhafte Verständnis im Augenblick des Erlebens Lücken der Verdrängung und des Vergessens gerissen hat, die auch die spätere Rekonstruktion nicht mehr einholen kann. Auch kommt ja erstmals das Moment der ZEIT hinzu, das beispielsweise in der Autobiographie einer Marianne oder des Rousseauschen Ich noch keine wesentliche Rolle spielt, sondern lediglich den Abstand zwischen Einst und Jetzt, Erleben und Schreiben deutlich macht. Hier dagegen ist Eile geboten und keine ruhige Auseinandersetzung möglich. Ganz am Schluss mündet der Roman 247 in einen atemlosen Telegrammstil, durch den nur noch einzelne Teileindrücke der Fluchtgeschichte angeschnitten werden; ein zusammenhängender Bericht wird daraus gerade nicht. Man möchte von einer existentiellen Schreibweise sprechen: Wie die märchenhafte Scheherazade in 1001 Nacht erzählt die Heldin gegen den Tod oder die Not an; sie schreibt für ihr Heil, da, wie sie sagt, genug Brunnen existieren, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, falls sie ins Kloster zurück muss. Zeit als Funktion der Bedrohung äußert sich dann auch in einer vorwiegend düsteren Stimmung, in den Motiven Angst, Krankheit, Tod, die hier beinahe kafkaeske Dimensionen annehmen, etwa wenn von dem Schlagen der Türen auf unendlichen Gängen die Rede ist; Georges May hat diese Schlüsselstelle ausführlich kommentiert. 446 „J’entendis des portes s’ouvrir, se refermer, des religieuses aller et venir, le murmure de personnes qui se parlent bas.“(S. 313) Und noch ein anderer Aspekt der naiven Perspektive sollte nicht vergessen werden. Dies umso mehr, als die Nonne ja gerade nicht die distanzierte Sehweise eines ungläubigen Opfers vertritt, sondern als Teil des Apparats dessen Sinn zunächst nicht infrage stellt. Die Heldin bedient sich selbstverständlich der biblisch-christlichen Sprache und Denkweise und bleibt damit innerhalb des Diskurses der Klostergemeinschaft. Das führt einerseits, wie einst Leo Spitzer gezeigt hat 447 , zu Anklängen einer christologischen Stilisierung der eigenen Leidens- und Opfergeschichte. Es dient aber andererseits vor allem dazu - und dies hat Georges May gesehen - das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit kommentarlos zum Ausdruck zu bringen. Wie kann man z. B. zwischen bewusster und unbewusster Hypokrisie unterscheiden? Wie soll die Heldin bestimmte Episoden interpretieren, die äußerlich auch harmlos und konform gewesen sein können. Gerade der Dritte Teil mit dem Problem des Sapphismus 448 enthüllt eine fundamentale Ambiguität der Zeichen, die als interpretationsbedürftig erscheinen. Und diese Interpretationsaufgabe kommt dem Beichtvater zu, der das von der Heldin nicht Durchschaute „aufklärt“, d. h. dechiffriert, ohne dass damit das Problem der Ambiguität selbst gelöst würde. Im Laufe des Romans aber wird der Leser natürlich selbst in diesen Prozeß eingebunden und beunruhigt. Dabei geht es ja gerade nicht, wie in der klassischen Episteme, etwa bei Molière, um die Schein-Sein-Dialektik, die man vollständig auflösen kann. Die Zeichen der religiös exaltierten oder der lesbischen Mutter Oberin sind nicht einfach aufzulösen, weil es nicht, wie z. B. bei Tartuffe (Molière) um bloße Täuschung und Verstellung geht, sondern um einen Habitus des Denkens und Verhaltens, der mit der Person und ihrem Unbewussten identisch geworden ist. 446 G. May, Le dilemme du roman au XVIII e siècle, S. 226. 447 Leo Spitzer, „The Style of Diderot“, in: ders., Linguistics and Literary History, Princeton, University Press 1948, S. 135-169. 448 Vgl. G. May, a. a. O., S. 232. 248 Der Autor lässt daher vor allem die Personen selbst zu Wort kommen. Durch Ihre Sprache offenbaren und verbergen sie sich. Die klassische moralistische Perspektive ist damit überholt. Die nächste logische Stufe wäre dann, den Erzähler und Interpreten ganz auszuschalten und die Personen in ihrem zweideutigen Rollenverhalten allein zur Sprache kommen zu lassen. Das Ergebnis wäre ein Dialogroman, der keine feste Orientierung mehr erlaubt und die Interpretation dem Leser überlässt. So wird in den Entretiens sur le fils naturel 449 das dramatische Stück durch einen Dialog zwischen dem fiktiven Autor Dorval und dem Ich als Helden des Dramas ergänzt. In diesem ersten bürgerlichen Drama von 1757, das sich als „wahre Geschichte“ ankündigt, wird der „effet de réel“ (R. Barthes) also bereits systematisch durch fiktionskritische Verfahren dekonstruiert. Dazu kommt, dass Le Fils naturel ou les Epreuves de la vertu eigentlich als „espèce de roman“ geplant war. Diderot, der aus seinen theaterkritischen Vorstellungen schon in den Bijoux indiscrets keinen Hehl gemacht hatte, verfolgt hier nicht weniger als eine Reform des französischen Dramas über die larmoyante Komödie eines Nivelle de La Chaussée hinaus, was freilich ironischerweise von dem fiktiven Autor Dorval bestritten wird. Inhaltlich geht es um „la mémoire d’un événement qui nous touche“, also um die Rekonstruktion eines erbaulichen Ereignisses der Vergangenheit. Moi, dem Dorval diesen eigentlich romanhaften Plan erzählt, wird dieser Rekonstruktion als unerkannter Zuschauer beiwohnen. Als Double des realen Zuschauers spielt er so zugleich die Rolle eines Voyeurs. Das Genre der fiktiven Autobiographie wird mithin gleich mehrfach gebrochen. Diderot präsentiert „une pièce de théâtre écrite à la première personne“ und macht Moi zu einem Kritiker der vorgeführten Ereignisse. Das ist die Vorwegnahme von Pirandellos experimentellem Theater. Die dialogische Vermischung von Roman und Theater nebst der Durchbrechung der Fiktionsillusion praktiziert der Autor auch im Neveu de Rameau, 450 an dem der Autor ja unmittelbar nach der Religieuse zu arbeiten begann; konsequent aber wird das Verfahren erst in Jacques le Fataliste angewandt. Le Neveu de Rameau, der wie schon gesagt erst 1805 durch eine Übersetzung von Goethe bekannt 451 und erstmals 1823 in einer ungenauen französischen Ausgabe gedruckt wurde, entwickelt den Dialog aus der Zufallsbegegnung des Ich-Erzählers (Moi) mit dem stadtbekannten verkommenen Genie und Neffen des Komponisten Rameau, dem ersten Beispiel der spä- 449 In: Œuvres esthétiques, éd. par Paul Vernière, Paris 1959 (Les Classiques Garnier), S. 69- 175. 450 Zitate nach Œuvres romanesques. 451 Hierzu Günter Oesterle, „Goethe und Diderot: Camouflage und Zynismus. Rameaus Neffe als deutsch-französischer Schlüsseltext“, in: Volk - Nation - Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, hrsg. von Alexander von Bormann, Würzburg, Königshausen & Neumann 1998, S. 117-135. 249 teren romantischen Bohème, der vielleicht auch erstmals den späteren Typus des Flaneurs darstellt. Man kann darin die erste Charakterstudie dieser Art in der französischen Literatur sehen und vor allem das wie nebenbei entworfene Sittengemälde des sozialen Umfelds betonen. Entscheidend - auch im Sinne der vorhin skizierten Romankonzeption - ist wohl, dass Diderot sich hier endgültig von der klassischen typisierenden Moralistik verabschiedet, das heißt, moralistische Konventionen dialogisch aufbricht, 452 und in dem kauzigen Parasiten der Gesellschaft ein „Originalgenie“ eigener Art vorführt. Gleich zu Beginn spricht er von der „imagination singulière“ und der „originalité“ (S. 396) dieser merkwürdigen Gestalt, die alle möglichen guten Eigenschaften habe, ohne sie zu zeigen, und alle möglichen schlechten, ohne sich ihrer zu schämen. Das Besondere und Individuelle überschreitet die Kategorien der Einordnung, subvertiert gleichsam das herkömmliche Wertesystem. Und wie die Hefe im Teig, wirkt seine Individualität ansteckend, anregend und individualitätsfördernd: „c’est un grain de levain qui fermente et qui restitue à chacun une portion de son individualité naturelle“ (S. 397). Das ist noch nicht genug, um daraus einen Roman werden zu lassen, aber es suggeriert mögliche Romane, und in gewisser Hinsicht ist auch der sich entspinnende Dialog zwischen Moi und Lui ein Abenteuer des Geistes und ein Roman, in dem sich das Ich unmerklich auf das Spiel einlässt. Das Grundproblem läßt sich dabei auf die Frage zurückführen, ob Anstand und honnêteté die Voraussetzung zum Glücklichsein sind, wie Moi meint, oder ob - im Sadeschen Sinn - „je puis faire mon bonheur par des vices qui me sont naturels“ (S. 433) und die folglich nicht jene Selbstvergewaltigung und jene Verdrängung erfordern, die z. B. für die Gegenfiguren der Religieuse bezeichnend sind. Dort war das christliche Normensystem angesprochen; hier geht es um die Fundierung eines allgemeinen gesellschaftlichen und weltlichen Normensystems, das zu den unreflektierten Grundannahmen der Aufklärung gehört. So gesehen stellt Diderot die von der frühen Aufklärung verdrängten und vergessenen Fragen. Sprachrohr ist der Parasit mit seinem „caractère de fainéant de sot, de vaurien“ (S. 433), der offensichtlich die Rolle eines glücklichen Verlorenen Sohnes spielt und diese - wie es im letzten Satz heißt - gerne noch vierzig Jahre weiter spielen würde. Da er sich zugleich als Kenner der Musik und der Literatur ausweist, repräsentiert er den von gesellschaftlichen ‚väterlichen‘ Normen emanzipierten Künstler und eine Form ‚philosophischer‘ Emanzipation, die dem Aufstiegsmotiv in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entgegengesetzt ist. Auf die Insinuation des Ich hin, dass er doch sicher eine „âme délicate“ habe, antwortet er ironisch: 452 Hans Robert Jauß, „Der dialogische und der dialektische ‚Neveu de Rameau‘ oder: Wie Diderot Sokrates und Hegel Diderot rezipierte“, in: Das Gespräch, hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München, Fink 1984 (Poetik und Hermeneutik), S. 393-419. 250 Moi, point du tout. Que le diable m’emporte si je sais au fond ce que je suis. En général, j’ai l’esprit rond comme une boule, et le caractère franc comme l’osier; jamais faux, pour que j’aie intérêt d’être faux. Je dis les choses comme elles me viennent, sensée, tant mieux; impertinente, on n’y prend pas garde. J’use en plein de mon franc parler. (S. 444) Als Meister des freien Sprechens und der absoluten Spontaneität setzt der Held jugendliche Ziellosigkeit gegen die Zielgerichtetheit einer auf das Arrivieren ausgerichteten Gesellschaft, und als Adept des Zufalls verlacht er die Zwänge scheinbarer Notwendigkeit. In einem Dialogroman, der abgesehen von den einleitenden Worten keinen auktorialen Kommentar mehr erlaubt, also keine Deutungsinstanz zulässt, ist der Neveu de Rameau eine ironische Karikatur des autonomen Ich, das keiner Initiation mehr bedarf, weil er selbst zu denken gelernt hat, der jedoch anders als ein Gil Blas auf jede Vaterrolle verzichtet und das väterliche Gegenüber ins Leere laufen lässt. Diderot, der sich im Neveu de Rameau ironisch in die Reihe der bekannten Namen einreihen lässt, die sein Gegenüber als ‚modisch‘ verspottet, führt das Experiment des subversiven Dialogromans in Jacques le Fataliste et son maître 453 weiter, wo sich das Problem der menschlichen Freiheit mit dem Problem der Romanform verbindet und der philosophische Dialog nicht wie im Neveu als Vorform des Romans, sondern als Zurücknahme und Dekonstruktion des Romans oder als Antiroman zu verstehen ist. Die Stelle des biographischen Ich im Neveu nimmt hier das ironische Erzähler-Ich ein, während der auf den Zufall vertrauende Diener Jacques an den Neveu erinnert. Mit seiner szenischen Umschrift hat Enzensberger 454 gezeigt, dass der Roman sich unschwer als Lesedrama oder Hörspiel einrichten lässt. Der Roman, der ein Paradebeispiel des „unreliable author“ darstellt, beginnt mit einer Reihe von Fragen: „Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde. Comment s’appelaient-ils? Que vous importe? D’où venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Où allaient-ils? Est-ce qu’on sait où l’on va? “ (S. 493) Die Rede ist von der Reise des Dieners Jacques mit seinem Herrn, le Maître. Nach offensichtlich erledigten Geschäften befinden sie sich auf dem Weg ins nächste Dorf, wo sie das Kind eines gewissen Saint- Ouin sehen wollen. Die Suche nach dem angeblichen Bastard deutet eine Vorgeschichte an, die an dieser Stelle, also gleich am Anfang, in die Gegenwart zurückführt. Es ist, als ob wir es mit einem Barockroman mit Kurzschluss zu tun hätten, denn das Wiederfinden steht ja sonst am Ende. Doch es kommt anders: Saint Ouin wird ermordet, Jacques und sein Herr werden daraufhin als Verdächtige festgenommen, später wird Jacques durch Banditen befreit und trifft seinen Herrn in einem Schloss Desgland wieder, das er 453 Zitate nach den Œuvres romanesques. 454 Hans Magnus Enzensberger, Diderots Schatten. „Jakob und sein Herr. Ein Radio-Roman“, S. 153-258. 251 als Ort seiner Jugendliebe wiedererkennt und vor der Plünderung bewahrt. Also eine erneute Trennungs- und Wiedervereinigungsgeschichte, nur dass es sich hier um einen möglichen Schluss des éditeur handelt, dem keine Verbindlichkeit zukommt. In Wirklichkeit ist wahrscheinlich nicht einmal soviel passiert. Man könnte von Varianten der Handlung oder potentiellen Geschichten im Stil eines Robbe-Grillet sprechen. Ursache ist die Unwissenheit des Erzählers, der seine eigene Inkompetenz gesteht. „Et moi, je m’arrête, parce que je vous ai dit de ces deux personnes tout ce que j’en sais.“ (S. 777) Wenn der Leser also unbedingt wissen wolle, wie es weiter ging, so solle er sie doch einfach nach seinem Geschmack fortsetzen. Der Autor bietet hier mehrere Lösungen ironisch an. Aber ernstnehmen kann man das nicht, denn „on ne peut s’intéresser qu’à ce qu’on croit vrai.“ Dies scheint das Stichwort: Die Ästhetik des Wahren wird bis zu dem Punkt getrieben, wo das Erzählen unmöglich wird und jede Darstellung der Wirklichkeit als Fantasie und Fiktion ausweist. Der Erzähler selbst thematisiert seine Willkür: „Vous voyez, lecteur combien je suis obligeant; il ne tiendrait qu’à moi de donner un coup de fouet aux chevaux qui traînent le carosse [...]“. (S. 551) Dies umso mehr, als ja schon die Helden selbst sich über ihre Geschichte kaum klar werden können bzw. nie soweit gelangen, diese folgerichtig zuende zu erzählen. Aus einer erzählten Handlung wird so ein Knäuel von Anekdoten und Erlebnissen, die die Personen selbst erzählen wollen, und wieder wird ein typisches Requisit des Barockromans, die nachgeholte Vorgeschichte, sinnentleert. Die Geschichten in der Geschichte müssen hier leider unbeachtet bleiben. Die Haupthandlung, die Reise des Herrn und des Dieners, ist nicht mehr als ein missglücktes Fragment, eine Handlungslinie, die dauernd Seitenwege auftut, und nicht nur die der Helden, sondern auch die Geschichten von Personen, die man zufällig trifft und die Geschichten erzählen, die ihnen andere Personen erzählt haben, die sie wieder von jemand anderem hatten. Zusammengehalten wird dies nur durch ein elementares chronologisches Gerüst: die Schlacht von Fontenoy 1745, in der Jacques am Knie verwundet wurde, der Bericht des Maître über ein Ereignis etwa 11 Jahre vor der gegenwärtigen Reise, 1754; und das Datum dieser Reise selbst 1765, 20 Jahre nach der Schlacht. Jacques ist seit 1755 der Diener seines Herrn, so dass eigentlich kein Erzählbedarf zwischen den beiden mehr bestehen dürfte. Ganz abgesehen davon ist es natürlich eine leere Chronologie; die Pseudohistorizität führt nur in die Irre, weil sie keine Funktion mehr besitzt. Kleine und große Geschichte bedingen sich, aber subvertieren sich auch wechselseitig, und so wird auch der Wahrheitsanspruch, ja die Erzählbarkeit des „fait historique“ (S. 542) fragwürdig. Und weil ja alle das Recht haben, Geschichten zu erzählen, will auch der Autor selbst nicht zurückstehen, und in den Pausen, in denen die Helden nichts zu sagen haben, ergreift er selbst das Wort, nur um abzubrechen, als er die Verstimmung des Lesers bemerkt: „Je vous entends, vous en avez assez, et votre avis serait que 252 nous allassions rejoindre nos deux voyageurs. Lecteur, vous me traitez comme un automate, cela n’est pas poli.“ (S. 556) Die literarhistorische Filiation ist klar. Wie schon der roman comique des 17. Jahrhunderts den Barockroman parodiert und die Gestalt des sich einmischenden Erzählers („intruding author“! ) kreiert hatte, greift Diderot auf diese Mittel zurück, um die Forderung nach einer geschlossenen Handlung überhaupt ad absurdum zu führen. 455 Die Lebenswahrheit ist gewissermaßen das offene Ende, die Heterogeneität der Zufälle und Begegnungen, die keine einheitliche Struktur ergeben. Hier, an diesem Grundproblem von Zufall und Providenz, Offenheit und Geschlossenheit, setzt die zentrale philosophische Diskussion an. Strukturell radikalisiert Diderot jedoch das überkommene Schema durch den expliziten Rekurs auf den Tristran Shandy von Laurence Sterne. Rainer Warning hat diesen Bezug ausführlich behandelt. 456 Ausgangspunkt von Diderots Roman ist danach die bei Sterne periphere Episode The Story of the King of Bohemia: Der Korporal Trim will ständig eine Geschichte erzählen und wird unweigerlich von seinem Zuhörer, Onkel Toby, unterbrochen; die Erzählung geht in eine Diskussion über das Erzählte und das Erzählen selbst über. In diesem Zusammenhang steht die berühmte Schlangenlinie, die ein dezentriertes Erzählen symbolisiert. Friedrich Schlegel wird daraus später seine Theorie der Arabeske als einer Form romantisch-ironischer Dichtung ableiten; in einem Brief über den Roman bezeichnet er Jacques le Fataliste als Meisterwerk der Arabeske und als Muster der Gattung. 457 Das Herr-Diener-Schema bei Diderot und bei Sterne geht aber natürlich auf Don Quijote und Sancho Panza bei Cervantes zurück, die auch auf S. 553 genannt werden. Und auf letzteren Autor bezieht sich vor allem das Reisemotiv, das hier die absolute Offenheit und Unverfügbarkeit des Lebens, ja gleichsam die zeitliche Dynamik des Erzählens selbst deutlich werden lässt. Die Struktur der Arabeske verweist auf Unvorhersehbarkeit und auf das Problem der Individualität, die die Normen sprengt. Von einem „experimentell-exploratorischen Erzählen“ spricht Siegfried Jüttner 458 , der den Roman gleichwohl gegen modernistische Vereinnahmungen in Schutz nimmt. Das Stichwort bizarre bei Diderot entspricht in etwa dem Sterneschen Aus- 455 Hierzu auch Robert Mauzi, „La parodie romanesque dans Jacques le Fataliste“, in: Diderot Studies VI (1964), S. 89-132. 456 Rainer Warning, „Fiktion und Wirklichkeit in Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques le Fataliste, in: Nachahmung und Illusion, München, Fink 1964 (Poetik und Hermeneutik), S. 96-112, sowie ders. Illlusion und Wirklichkeit in „Tristram Shandy“ und „Jacques le fataliste“, München, Fink 1965. 457 Friedrich Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente, hrsg. von Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn u. a., Schöningh 1988 (Studienausgabe), Bd. 2, S. 210. 458 Siegfried Jüttner, „Experimentell-exploratorisches Erzählen. Zur Analyse des Jacques le Fataliste et son maître von Diderot“, in: Romanische Forschungen XC (1978), S. 192-225. 253 druck whimsical. Während aber letzterer doch auf die subjektive Wahnwelt beschränkt bleibt, ist das Bizarre für Diderot Ausdruck des Geschehens selbst, wird als eine objektive Kategorie des Lebens und seiner Undurchschaubarkeit begriffen. Insofern entspricht die Zerstörung der Romanform einem philosophischen Anlass: […] „la nature est si variée, surtout dans les instincts et les caractères, qu’il n’y a rien de si bizarre dans l’imagination d’un poète dont l’expérience et l’observation ne vous offrissent le modèle dans la nature. (S. 533) Während so die Romanfiktion lächerlich wird, gewinnt das Leben auf eine negative Art romanhafte Qualitäten: „Je vous fais grâce de toutes ces choses, que vous trouvez dans le roman, dans la comédie ancienne et dans la société.“ (S. 507) Das Missverständnis ist allgegenwärtig, denn weil das Leben so bizarr ist, ist es so einfach, darüber zu erzählen: „Tandis que je vous faisais cette histoire, que vous prendrez pour un conte …“ (S. 577). Der Erzähler variiert immer wieder die zentrale Ambiguität, die er in der Erzählung mit dem Titel Ceci n’est pas un conte behandelt. Aber nicht nur die Struktur und die Ironisierung des Erzählens erinnern an Sterne, sondern auch inhaltlich ideologische Aspekte. So zunächst das ironische Verhältnis von Herr und Knecht, und das daran aufgehängte Problem von Determinismus und Freiheit. Denn wie Trim vertritt ja Jacques den fatalistischen Standpunkt, dass alles vorherbestimmt sei und so kommen musste, wie es kam: que c’était écrit là-haut, wie es leitmotivisch heißt, was auf Sternes that everything was predestined for us in this world verweist. Aber auch hier ist Diderot konsequenter und geht weiter als sein Vorbild. Zunächst erscheint der Fatalismus von Jacques als Ausdruck einer tieferen Weisheit und eines stoischen Gleichmuts, der nicht unvereinbar mit der Offenheit des Lebens ist: „Mon maître, on ne sait de quoi de réjouir, ni de quoi s’affliger dans la vie. Nous marchons dans la nuit au-dessous de ce qui est écrit la-haut, également insensés dans nos souhaits, dans notre joie et dans notre affliction.“ (S. 573) Es ist klar, daß der Diener damit das Lebensgefühl des Autors und seine philosophische Position eines materialistischen Agnostizismus weitgehend vertritt. Jacques, dessen Ähnlichkeit mit Sokrates hervorgehoben wird und dessen „est-ce que l’on sait où l’on va? “ auf das sokratische Was weiß ich? verweist, ist somit der Philosoph, der die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit erkannt hat. Nicht der Herr belehrt den Diener, sondern der Diener den Herrn. Das erinnert ein wenig an Marivaux. Begreift man überdies das Herr-Diener-Verhältnis als sozialsymbolische Umsetzung eines Vater-Sohn-Verhältnisses, so wird erst die ganze Tragweite dieses Umwertungsprozesses klar, der nicht weniger als die Bodenlosigkeit der väterlich-herrschaftlichen Autorität durchspielt. Während Jacques den geistesgegenwärtig Lebendigen und zur Rührung fähigen, d. h. jung gebliebenen Helden darstellt, erscheint der Maître als gealterter Langweiler und eingefahrener Automat: „il se laisse exister; c’est sa fonction habituelle. L’automate allait devant lui“ (S. 516). „N’avez-vous pas été ma marionette, et n’auriez- 254 vous pas continué d’être mon polichinelle pendant un mois, si je me l’étais proposé? “ (S. 775) sagt Jacques am Ende des Romans und zieht so das Fazit aus einer neuen Rollenverteilung. Bei der Suche nach einer soziologischen Erklärung des leitmotivischen Fatalismus empfiehlt sich ein Blick auf den fundamentalen Aufsatz von Erich Köhler. 459 Dazu müssen zunächst die Rollen geklärt werden. Es fällt ja zunächst auf, dass - abgesehen von dem Erzähler-Ich - der eigentliche Erzähler Jacques ist und dass der Diener somit sowohl die Funktion des Philosophen als auch die des Erzählers einnimmt. Er erzählt die Geschichte von seinem verwundeten Knie, von seinem Hauptmann Jacques, von einem Freund, von seinem Bruder und sogar die des Geschlechts der Desglands, die mit dem Schloss am Ende der Geschichte verknüpft ist. Er verfügt also gewissermaßen über die verschiedenen Bereiche des Lebens, die eigene und fremde Biographie, die Geschichte und auch die adlige Geschichte - wenngleich das alles wieder ironisch infrage gestellt wird bzw. er als Philosoph sein Erzählen selbst infrage stellt. Der Maître dagegen beschränkt sich auf eine zuhörende und zuweilen ermahnende Rolle. Offensichtlich wird also Aufklärung von einem Angehörigen des Dienstbotenstandes vertreten. Und seine Philosophie setzt ihn erst in Stand, frei und lebensklug zu handeln. Der Passivität des Vertreters der Oberschicht setzt er mithin die aktive Lebensbewältigung entgegen und zeigt, wie abhängig der Maître von ihm ist. Von dem Vorwurf, dass er lebe wie ein Automat, war schon die Rede. Nun wirft auch der Erzähler dem Leser an der vorhin genannten Stelle vor, er behandle ihn wie einen Automaten, weil seine Freiheit des Erzählens nicht anerkannt werde. Man kann daraus schließen, daß das romaneske Klischee mit der Oberschicht, die Freiheit des Erzählens mit dem plebejischen Philosophen gleichgesetzt wird. Der Maître hat ja nicht zufällig keinen eigenen Namen - im Gegensatz zu Jacques. Er vertritt nämlich nicht jene bizarre Individualität, die als eigentliches Kriterium der Lebenswahrheit den romanhaften Erwartungshorizont sprengt. Der Nachfahre des Don Quijote ist zur Karikatur geworden: „c’étaient les trois grandes ressources de sa vie, qui se passait à prendre du tabac, à regarder l’heure qu’il était, à questionner Jacques“ (S. 516) - d. h. automatisierter Genuß, entleerte Zeit und Abhängigkeit vom Diener, um die Langeweile zu töten. Trotzdem pocht der Maître auf seine Willensfreiheit und lacht über Jacques Leitspruch, dass „c’était écrit là-haut.“ Freilich kann er ihm nicht ernsthaft widersprechen, denn auf Jacques Theorie fällt ihm nur ein, dass „Il y a beaucoup de choses à dire là-dessus...“ (S. 504) Beachtet man schließlich noch, dass auch im alltäglichen Verhalten selbst eine Rollenverkehrung stattgefunden hat, dass der Maître ständig einschläft, 459 Erich Köhler, „,Est-ce que l’on sait où l’on va? ‘ Zur strukturellen Einheit von Diderots Jacques le Fataliste et son Maître“, in: ders., Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft, München, Fink 1976, S. 219-239. 255 sich vor Räubern fürchtet, so wird die ideologische Botschaft deutlich. Die höfliche Überlegenheit des Herrn reduziert sich auf die Gewohnheit einer herrschenden Kaste, die längst auf die Bewältigung des Lebens verzichtet hat. Das fatalistische Sichtreibenlassen ist so gesehen das Attribut des Maître. Jacques dagegen wird nicht nur notwendig für seinen Herrn, er wird auch andeutungsweise zum Gefährten und sogar Rivalen. Hier mit der Mehrzahl der Diderotforscher, Crocker, May, Mauzi, Jean Fabre, Herbert Dieckmann, Roger Laufer u. a., lediglich ein philosophisches Profil zu sehen und etwa - wie Fabre 460 von einer Versöhnung von reiner und praktischer Vernunft zu sprechen, wird also der ideologischen Intention dieses philosophischen Romans kaum gerecht. Erich Köhler hat die Lösung in der Dialektik von Herr und Knecht gesucht, wie sie Hegel in der Phänomenologie des Geistes 461 entwickelt hat. Nach letzterem ist die Beziehung des Herrn zum Sein durch den Diener oder Knecht vermittelt: „der Herr aber, der den Knecht zwischen es und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen, und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überlässt er dem Knechte, der es bearbeitet.“ 462 Sowohl in bezug auf das Sein als auch in bezug auf sein „Anerkanntsein durch ein anderes Bewusstsein“ wird er somit abhängig und ist nicht mehr frei. Denn: „Die Wahrheit des selbständigen Bewusstseins ist demnach das knechtische Bewusstsein.“ 463 Auf Diderot bezogen hieße das, dass der Maître nur die Illusion der Freiheit und Selbständigkeit hegt, während Jacques die „Wahrheit des selbständigen Bewusstseins“ vertritt. Jede Gestalt würde dann durch ihr Verhalten den Beweis für die Richtigkeit der Theorie des anderen liefern, der Maître für den Fatalismus des Dieners und der Diener für den Optimismus des Herrn. Dass es sich trotzdem nicht um einen Selbstwiderspruch handelt, wird aber nur durch die schon angedeutete soziale und ideologische Lesart klar. Denn vor dem Hintergrund der noch bestehenden Gesellschaftsordnung erweist sich der Fatalismus des Dieners insofern als optimistisch, als der objektive historische Prozeß nur für den Diener arbeiten kann. Der Fatalismus ist gleichsam in einer optimistischen geschichtsphilosophischen Vision aufgehoben. Daher verzichtet Jacques anders als seine literarischen Vorgänger auf das Motiv des sozialen Aufstiegs. Die Veränderung des gesamten Systems steht an, nicht mehr das bloße Arrivieren des einzelnen. Jacques: 460 Jean Fabre: „Sagesse et Morale dans Jacques le Fataliste“, in: The Age of Enlightenment. Studies presented to Theodore Bestermann, hrsg. von W. H. Barber u. a., Edinburgh/ London, Oliver & Boyd 1967, S. 171-187. 461 G. Wilh. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister (Sämtliche Werke, Bd. V), Hamburg, Meiner 1952, „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft“, S. 141-150. 462 Ebd., S. 146 f. 463 Ebd., S. 147. 256 Oui, si cela est écrit là-haut. Mais pourquoi ne sortirait-il pas un Cromwell de la boutique d’un tourneur? Celui qui fit couper la tête à son roi, n’était-il pas sorti de la boutique d’un brasseur, et ne dit-on pas aujourdhui? … (S. 768) Die Pünktchen und die Antwort des Maître: „Laissons cela“ sind aufschlussreich. „Tu te portes bien, tu sais mes amours; en conscience tu ne peux te dispenser de reprendre l’histoire des tiennes.“(S. 768) Der Maître zieht sich auf die privaten Liebesabenteuer und den gegenwärtigen Zustand zurück; der Diener aber weigert sich an dieser Stelle, von den vergangenen Geschichten zu erzählen und verweist ironisch in die Zukunft. Das paradoxe Verhältnis wird erst in dem Augenblick geklärt werden, da Jacques zwischen den nominellen und den realen Verhältnissen unterscheidet: „Toutes nos querelles ne sont venues jusqu’à présent que parce que nous ne nous étions pas encore bien dit, vous, que vous vous appelleriez mon maître, et que c’est moi que serais le vôtre. Mais voilà qui est entendu; et nous n’avons plus qu’à cheminer en conséquence.“ Wie es bei Hegel heißt: „echtes Sein“ ist nur in der Tat. 464 Der adlige Anspruch bleibt nominell bestehen, während die faktische Macht längst an den Dritten Stand übergegangen ist. Jetzt wird zudem auch klar, warum Jacques’ Geschichten immer offen bleiben, während die wenigen Ereignisse aus dem Leben des Herrn bekannt und erzählt sind. Das offene Erzählen bezeichnet den offenen Horizont. Die Geschichte von unten ist ja noch nicht zuende und kann so auch gar nicht zuende erzählt werden. So hat denn Jacques auch „un diable de pressentiment que j’ai là … que cette histoire ne doit pas finir“ (S. 768), und wenig später sagt er: „Il me semble à présent que je vois le destin moins noir.“ (S. 769) Es ist nur folgerichtig, dass am Schluss nur noch von Jacques überhaupt die Rede ist, aber zugleich kann auch da keine abgeschlossene Story vorgesetzt werden. Als rein private Liebesgeschichte wäre sie ein Rückfall in die Tradition jenes sentimentalen Romans, den die Parodie Diderots ja gerade überwindet, und als Rückfall in jene private Rolle, die hier längst der aristokratische Maître übernommen hat. Mit der Überlagerung psychologisch-lebensweltlicher und sozialer Rollenverteilung ist die Geschichte der Abwertung der Vaterinstanzen an ihr poetologisches Ende gelangt, von jetzt an erzählt der Sohn eine offene Geschichte. 464 Ebd., S. 237. („Physiognomik und Schädellehre“). 257 XII. Libertinistische Autonomie zwischen Briefroman, Memoiren und exemplarischem Erzählen 1. Laclos: Die Selbstermächtigung der Jungen Der Libertinismus, der auf freigeistige Tendenzen des Reformationszeitalters zurückgeht 465 und erst gegen Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. wieder in Erscheinung tritt, darf als genuin emanzipatorische, ja anti-autoritäre Bewegung verstanden werden, die die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zum eigenen Denken den traditionsbestimmten Zwängen entgegensetzt. Insofern möchte man mit Pelckmans 466 von einer „poussée œdipienne“ sprechen, die zugleich in wachsendem Maße psychologische Mechanismen der Selbstbehauptung und der Macht über andere entdeckt und geltend macht. Daher dient die ursprünglich bürgerlich-humanistische und klassenübergreifende Denkrichtung jetzt vor allem als letztes Machtinstrument eines deklassierten Adels. Bevorzugter Bereich libertinistischer Selbsterziehung ist nicht mehr die Religion, sondern das Feld der Liebe, auf dem die Kultur der Empfindsamkeit mit dem Kult des Mitleids und der Tugend dem libertinistischen Machtanspruch Konkurrenz macht. In ihrer schon mehrfach genannten Studie über Libertinage und Wahnsinn spricht Michèle Bokobza- Kahan von einer „peur de la dépossession de soi“ 467 im libertinistischen Liebesdiskurs, der durch „une volonté délirante de maîtrise de soi“ 468 geprägt sei. Dem Gefühlskult, „l’apanage des faibles“ 469 setzt der Libertin daher eine Überlegenheitsattitüde entgegen, die auf ständige Selbstbeobachtung und Selbstkritik gegründet ist und bis zur theatralischen Selbstmodellierung geht. Das Fin de Siècle-Syndrom des Lebens als Kunstwerk gewinnt erstmals in der libertinistischen Kultur der Aufklärung Gestalt: „choisir d’être comédien dans la réalité de sa propre vie“ 470 . In Dorats Les sacrifices de l’amour (1771) fürchtet die Heldin daher jede Form der Überwältigung durch das Gefühl als eine Form des Selbstverlusts, durch die ihr Leben seine raison d’être verlöre. 465 Gerhard Schneider, Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart, Metzler 1970. 466 Paul Pelckmans, Le Sacre du Père. Fictions des Lumières et historicité d’Œdipe 1699-1775, Amsterdam, Rodopi 1983. 467 Michèle Bokobza-Kahan, Libertinage et folie dans le roman du 18 e siècle, Leuven, Peeters 2000, S. 120. 468 Ebd., S. 112. 469 Ebd., S. 114. 470 Ebd., S. 139. 258 Eben dies gilt auch für die Protagonisten und Drahtzieher Valmont und die Marquis de de Merteuil in Laclos’ Les Liaisons dangereuses, der konsequentesten Studie libertinistischer Intellektualität und Amoralität im 18. Jahrhundert. Durch die Verteilung von Gefühl/ Naivität und routinierter Erfahrung bildet sich im Kreis dieser Gesellschaft der ‚Jungen‘ eine Zweiklassengesellschaft mit gruppendynamischen Zügen heraus; die fehlende väterliche Autorität wird durch den Autonomieanspruch und das Machtkalkül der libertinistischen Elite ersetzt, für die das Aufbegehren des Sohnes zum Selbstzweck geworden ist. Und nichts verrät zunächst das Korrektiv einer Tugendperspektive, die sich gleichsam tarnt, zugleich als Waffe der Personen im Kampf um Selbstbehauptung und als Ausdruck der Naivität der Opfer dient. 471 Denn Rousseauscher Einfluss steht auch hinter diesem einzigen großen Roman von Choderlos de Laclos, dessen Erscheinen 1782 für eine Sensation sorgten. Der Autor, amtsadliger Herkunft und bis zu seinem Tod 1803 Offizier, war Anhänger Rousseaus und hatte offensichtlich die Absicht, einen gesellschaftskritischen Roman in dessen Sinn zu verfassen. Aus seinen wieder aufgefundenen Briefen geht hervor, dass er ein durchaus häusliches und bürgerliches Ideal verfocht. Es wäre also nicht falsch, das Rousseausche Motto „J’ai vu les mœurs de ce siècle, et j’ai publié ces lettres“ auch ihm zuzuschreiben. Indessen wurde aus solcher Intention, auf die im Avertissement 472 verwiesen wird, ein Skandalroman, von dem in weniger als zwei Monaten 2500 Exemplare verkauft wurden und der bis 1796 15 Auflagen erlebte, dann aber gerade darum während des 19. Jahrhunderts in Misskredit geriet und erst durch die Autoren der frühen Moderne, Gide, Giraudoux, Malraux u. a. neu entdeckt und rehabilitiert wurde. Den Wendepunkt bezeichnete Roger Vaillands Laclos par lui-même (1953). 473 Tatsächlich sind die Liaisons dangereuses 474 ohne die Nouvelle Héloïse nicht vorstellbar, freilich einer Héloïse, die in die mondänen Pariser Bedingungen zurückübersetzt erscheint. Die Trennung von guten Personen und schlechter Gesellschaft ist so nicht möglich, ebenso wenig wie das Postulat eines gegensätzlichen Verhältnisses von Stadt/ Gesellschaft und Land/ Idylle. Nichts stört hier mehr die psychologische Präzision der mondänen Atmosphäre, mit deren Thematisierung der Autor an Crébillon anknüpft. Die beiden Hauptfiguren, die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont, 471 Vgl. jetzt David McCallam, L’Art de l’équivoque chez Laclos, Genève, Droz 2008 (Bibliothèque des Lumières, 72). 472 Vgl. Frédéric Calas, „Le discours préfacial comme prélecture. Les deux pseudo-préfaces des Liaisons dangereuses“, in: Jan Hermann/ Paul Pelckmans (Hrsg.), L’Epreuve du lecteur. Livres et lectures dans le roman d’Ancien Régime, Louvain-la-Neuve/ Paris 1995, S. 436-448. 473 Standardwerk: Laurent Versini, Laclos et la tradition. Essai sur les sources et la technique des „Liaisons dangereuses“, Paris, Klincksieck 1968. 474 Zitate nach Choderlos de Laclos, Les Liaisons dangereuses, éd. par Yves Le Hir, Paris 1961 (Les Classiques Garnier) 259 bewundern und zitieren Rousseau sogar, und die Marquise bemerkt einmal (Brief 33) die Héloïse sei der einzige gelungene Liebesroman; dennoch geschieht dies „par antiphrase“, ähnlich wie die Personen selbst ja Gegenfiguren zu Julie und Saint-Preux sind. Jean Rousset 475 spricht denn auch von „une Héloïse renversée“, in der es nicht um die Demonstration des Guten, sondern die Dämonie des Bösen geht. Dementsprechend dient die relative Geschlossenheit des gesellschaftlichen Umfelds als Möglichkeit der Verdichtung und Dramatisierung, die gegenüber dem eher episch gleichmäßigen Fluß des Rousseauschen Romans einen fast klassischen, an die Princesse de Clèves erinnernden Stilduktus begründet. Dies ist nebenbei bemerkt einer der wesentlichen Gründe, warum gerade die Autoren der Nouvelle Revue Française - in ihrer Wendung gegen den herkömmlichen, episch-realistischen Romantypus - den Autor Anfang des 20. Jahrhunderts neu entdeckten. Laclos lernt von Rousseau und natürlich auch von Richardson die Verbindung von psychologischer und perspektivistischer Komplexität, aber stellt sich mit den Liaisons in die frühere Tradition des „roman de la mondanité“ eines Marivaux und Crébillon. Dabei mag auch ein Crébillonepigone, der Abbé Gérard, mit seinem erbaulichen Thesenroman Le Comte de Valmont ou Les égarements de la raison (1774) einen Anstoß gegeben haben, denn wir haben es hier ähnlich wie bei Laclos mit einem Richardson auf aristokratischer Ebene zu tun, und die Standardfiguren sind von denen unseres Romans nicht allzu weit entfernt: der gewissenlose Verführer, der arglose junge Mann, die tugendhafte Gattin, der treue Vertraute. Der Unterschied ist nur, dass hier keine Ermahnungen eines weisen Vaters fruchten; nach Ausschalten der väterlichen Instanz treiben die libertinistischen Protagonisten in ihrer maßlosen Selbstüberschätzung auf die Katastrophe zu. Ein weiteres Vorbild bildet möglicherweise der libertinistische Briefroman Les Malheurs de l’inconstance 476 von Claude-Joseph Dorat. 1772, zehn Jahre vor den Liaisons dangereuses erschienen, demonstriert das Werk des fruchtbaren Roman- und Theaterautors aus auvergnatischem Amtsadel, nach Alain Clerval eines typischen Epigonen des ‚Louis XV‘ 477 , genau jenen „mariage de la frivolité et de la tragédie“ 478 , der auch für Laclos charakteristisch sein wird. Der Duc de ..., ein Libertin aus Überzeugung, der die Macht des Bösen durch die von ihm gelenkten Intrigen gegen die unschuldige Marquise de Syrcé beweisen will, ist bereits ein ‚philosophischer‘ Held; er nimmt in gewisser Hinsicht den „Kunstcharakter des Bösen“ vorweg, durch den sich nach der 475 Jean Rousset, Forme et signification. Essais sur les structures littéraires de Corneille à Claudel, Paris, Corti 1962, S. 94. 476 C. J. Dorat, Les Malheurs de l’inconstance ou Lettres de la marquise de Cyrcé et du comte de Mirbelle, Préface de Alain Clerval, Paris, Editions Desjonquères 1983. 477 „Préface“, S. V. 478 Ebd., S. VII. 260 These von Helmut Knufmann 479 die Aufklärung bei Laclos entlarvt und selbst zerstört. Anders als bei Laclos bleibt hier freilich wenigstens eine ohnmächtige und unglückliche Vaterfigur übrig, die das larmoyante ‚Schlusswort‘ spricht und selbst als Exempel für die bereits im Titel angedeutete Tugendperspektive fungiert: „Puisse au moins mon exemple effrayer tous ceux qui se font un jeu de l’inconstance et de la perfidie! Qu’ils me contemplent, ils frémiront et peut-être ils seront corrigés.“ (S. 349) Eben dieses väterliche Korrektiv fehlt in dem Reigen der Verstrickung, mit dem Laclos das Thema der Verführung aus System orchestriert. Zwar wird auch hier am Ende der Zusammenbruch des ‚Systems‘ sichtbar; der Tod bzw. die Verbannung der beiden Schuldigen lassen sich als fällige Bestrafung lesen, doch wird keine übergeordnete Instanz ein Urteil über die beiden Hauptfiguren sprechen, die weniger an ihrer Bosheit als an der Unzulänglichkeit und fehlenden Konsequenz ihres libertinistischen Credos scheitern. Die Leistung Laclos’ gegenüber möglichen Vorbildern liegt also in der Radikalisierung, mit der die Tugendperspektive dem Leser anheim gestellt wird. Dem implizit moralisierenden Diskurs setzt Laclos das Bild eines sich selbst zerstörenden „mundus immundus“ entgegen. 480 Betrachten wir zunächst den Inhalt: Die Marquise de Merteuil, eine noch junge und schöne Witwe, wurde vor geraumer Zeit von ihrem Liebhaber, dem Comte de Gercourt, im Stich gelassen und vor einer Rivalin gedemütigt. Der bisherige Liebhaber dieser Rivalin, einer Amtsadligen, hat darauf die Stelle des Geliebten bei ihr eingenommen. Es ist der Vicomte de Valmont. Die beiden haben sich inzwischen freundschaftlich getrennt, um frei ihren libertinistischen Neigungen leben zu können. Valmont hat indessen die Hoffnung auf ein erneutes Verhältnis mit ihr nicht aufgegeben. Die Handlung beginnt mit der Heimkehr der 15-jährigen Cécile de Volanges aus dem Kloster. Cécile ist, obwohl aus amtsadliger Familie, eine entfernte Verwandte der Marquise. Sie soll nun Gercourt heiraten. Dies ist die Möglichkeit zur Rache, auf die die Marquise lange gewartet hat. Sie beauftragt Valmont, das Mädchen noch vor der Ehe zu verführen und Gercourt damit zugleich lächerlich zu machen. Valmont aber ist eigentlich anderweitig beschäftigt, denn er hat gerade die tugendhafte und schöne Présidente de Tourvel auf einem Landgut seiner Tante, Mme de Rosemonde, kennen und schätzen gelernt. Im Dorf hat er sich als zurückhaltender homme d’honneur und selbstloser Philanthrop hervorgetan oder getarnt und seine libertinisti- 479 Helmut Knufmann, Das Böse in den „Liaisons dangereuses“ des Choderlos de Laclos, München, Fink 1965 (Freiburger Schriften zur romanischen Philologie, 5), bes. S. 96 ff. und S. 1911-196. 480 So Christine Belcikoswki, Poétique des „Liaisons dangereuses“, Paris, Corti 1972: „Le paysage moral des Liaisons dangereuses [...] prent, au dénouement un aspect ruiniforme.“ (S. 179) 261 schen Neigungen geschickt versteckt. Inzwischen hat Cécile den unerfahrenen und edlen Chevalier Danceny getroffen, und zwischen den beiden ist eine rührend unschuldige Liebe aufgekeimt. Als mütterliche Freundin gewinnt die Marquise das Vertrauen des Mädchens und intrigiert behutsam gegen die Mutter, bei der sie zugleich als um das Kind besorgte Freundin agiert. Ihr Ziel ist, die Sinnlichkeit Céciles zu wecken und ihre strenge Klostermoral zu erschüttern. Als aber Danceny und Cécile ihre negativen Erwartungen nicht erfüllen, denunziert sie ihn bei der Mutter, um das ganze Verhältnis auf die Ebene einer heimlichen, auf Zwischenträger angewiesenen Beziehung zu drücken. Als angeblicher Freund Dancenys kann Valmont dabei eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig kämpft die Marquise gegen Valmonts ‚Liebe‘ zu Mme de Tourvel: Sie ist für sie ein Verrat an dem libertinistischen Standesethos. Für seine Rückkehr auf den ‚rechten Pfad‘ stellt sie ihm eine Liebesnacht in Aussicht und bemüht sich im übrigen, seine Eifersucht durch Berichte über eigene Eroberungen, u. a. des berüchtigten Libertin Prévan, anzustacheln. Aber auch Mme de Volanges möchte ihre Freundin, Mme de Tourvel, vor Valmonts Einfluß bewahren. Da rächt sich Valmont zynisch durch die Verführung Céciles und macht Danceny sogar zu seinem unwillentlichen Zuhälter. Die Marquise, von der die Idee kam, ist nun selbst eifersüchtig geworden und fürchtet in der jungen Cécile die künftige Rivalin, zumal jene alsbald in den Sog der Ausschweifung gerät. Als Gegenmaßnahme unternimmt sie den erfolgreichen Versuch, Danceny zu korrumpieren. Indessen hat Valmont seinen Kampf um die Présidente nicht aufgegeben und geht bis zur gespielten Verzweiflung. Die Frau, die ihn längst heimlich liebt, gibt sich ihm darauf hin, um ihn zu retten. Wider Erwarten empfindet Valmont echtes Glück und ist mithin dabei, seine libertinistische Überlegenheitspose zu verlieren. Vor sich und der Marquise, die er auf dem laufenden gehalten hat, in seiner libertinistischen Ehre gedemütigt, macht er bewusst einige Seitensprünge und lässt sich von der Freundin sogar dazu überreden, der Geliebten einen scherzhaften, von der Marquise entworfenen Abschiedsbrief zu schreiben. Mme de Tourvel bricht zusammen, Valmont erwartet nun von der Freundin die Einlösung ihres Versprechens, wird aber von ihr noch hingehalten, bis er ihr ein Ultimatum stellt und ihr den Krieg erklärt. Er verschafft Danceny für die selbe Nacht, in der ihn die Marquise erwartet, ein Rendezvous mit Cécile und demütigt die Marquise dadurch zutiefst. Jene kennt nun ihrerseits kein Halten mehr. Sie denunziert Valmont bei Danceny und provoziert ein Duell, bei dem Valmont getötet wird, aber noch Zeit findet, den Gegner aufzuklären und ihm die kompromittierenden Briefe zu übergeben. Ihr Bekanntwerden verursacht einen gesellschaftlichen Skandal, durch den die Marquise Schlag um Schlag ihren Einfluss und ihr Vermögen verliert. Von den Pocken nach schwerer Krankheit entstellt, flieht sie nach Holland. Cécile geht ins Kloster zurück, Danceny zu seinem Orden nach Malta. 262 Beginnen wir nicht mit der Struktur, sondern mit der Sprache, auf die der Herausgeber Le Hir besonders eingeht. Denn in diesem Punkt entfernt sich der Autor sowohl von Rousseau als auch von der Tradition des psychologischen Romans, wenn man von gewissen Ansätzen zu einer persönlichen Sprache bei Marivaux absieht. Der epische Realismus, auf den Laclos äußerlich verzichtet, findet sich nämlich indirekt in der Selbstcharakterisierung der Personen durch die Sprache wieder und begründet zwar anders als bei Diderot, aber doch auf psychologischer Ebene ‚Dialogizität‘. So zeichnen sich etwa die Briefe der jungen Cécile durch eine ungelenke, undisziplinierte Ausdrucksweise aus; sie sind rückhaltlos ehrlich und zuweilen fast dumm. Der junge Chevalier spricht dagen die gängige pathetische Sprache der romanesken Liebe und benützt dabei auch die herkömmlichen Klischees. Die amtsadlige Présidente legt eine diskrete Zurückhaltung an den Tag; ihre Sprache ist gekennzeichnet durch leicht preziöse Tendenzen wie Umschreibungen, Euphemismen, uneigentliche Ausdrücke, auch nach dem Umschlag in eine leidenschaftliche und tief empfundene Liebe. Ganz mondän und treffsicher à la mode ist dagegen die Sprache der Marquise, die den mondänen Jargon beherrscht und alle Register des adligen badinage zieht: indirekte Anspielung auf Insiderwissen, Herunterspielen des Wichtigen, Übertreiben des Unwichtigen. Ähnlich natürlich Valmont, der als männlicher Vertreter der hochadligen Gesellschaft und Libertin sich auch die Freiheit zum direkten Ausdruck und zur knappen, anschaulichen Anekdote nimmt. Seine Sprache vermittelt zwischen Sinnlichkeit und zerebraler Abstraktheit. Und das Gesagte gilt nicht nur für die Hauptpersonen. Die alte Tante Valmonts z. B., Mme de Rosemonde, spricht noch die Sprache des 17. Jahrhunderts, eines Bossuet und einer Mme de Sévigné. Der Père Anselme benüzt den salbungsvollen Jargon der Kirche. Der Kammerdiener und Jäger Valmonts zeigt die typischen Ungeschicklichkeiten des einfachen Mannes, der sich um sprachliche Korrektheit bemüht. Die persönliche Art zu sprechen bzw. zu schreiben erscheint somit als eine Form der Selbstcharakterisierung, aber natürlich auch der Selbsttarnung oder der Selbstentlarvung: „… quand vous écrivez à quelqu’un,“ rät die Marquise einmal Cécile, „c’est pour lui et non pas pour vous: vous devez donc moins chercher à lui dire ce que vous pensez, que ce qui lui plaît davantage.“ Aus dem Gesagten ergibt sich ja zwangsläufig die Einteilung des Personals in sprachmächtige Intriganten und dumme Opfer. M. a. W., die Sprache wird wahlweise als Ausdrucksmittel und als strategisches Instrument eingesetzt. Über die Mitteilungsfunktion hinaus erhält der Brief damit eine handlungsfördernde Funktion, er wird Teil einer Strategie und begründet den dramatischen Reigen. Dadurch sind - im Gegensatz etwa zu Rousseau - Briefschreiber und Romanpersonen weitgehend identisch, was in der Nouvelle Héloise nur am Anfang der Fall war. Und da es sich - abgesehen von dem Landhaus der Tante Valmonts - um den Pariser Raum handelt, in dem die Postzustellung mit Boten nur kurze Zeit verlangt, 263 resultiert aus den Gegebenheiten die Dramatizität des Handlungsablaufs, der nach dem Muster des Intrigendramas konstruiert ist. In wenigen Monaten - von August bis Januar - schnürt und löst sich der Knoten, der als Funktion des Briefwechsels erscheint. Die Liaisons dangereuses sind ein mehrstimmiger Briefroman 481 mit nur einer Handlung, ohne Abschweifungen oder Nebenschauplätze. Verbunden mit dem Kunstmittel der personenspezifischen Sprache erzeugt dies die Möglichkeit einer konsequent durchgeführten Mehrperspektivität. Das heißt, derselbe Vorgang kann aus unterschiedlicher Perspektive gesehen und berichtet werden. Da man grundsätzlich zwischen wissenden und nichtwissenden Personen unterscheiden muss, haben wir es also mit einem eingebauten, zynisch entlarvenden Kommentar zu tun. Die Merteuil und Valmont verständigen sich bis zu ihrem Bruch über die anderen Personen hinweg und nehmen zuweilen beinahe die Position eines allwissenden, ironischen Erzählers ein. Zugleich begründen sie - strukturell gesprochen - zwei große Einfluss-Sphären oder Handlungskreise, die durch ihren Briefwechsel zusammengehalten und zusammengeführt werden. Jean-Luc Seylaz spricht diesbezüglich von einer „géométrie visible“ 482 , die die herkömmliche Dialektik von Schein und Sein zu einem dramatischen Gestaltungsmittel macht. Wann werden welche Personen worüber informiert? Und wie? In welchem Lichte erscheinen die Handlungen angesichts des Vorwissens des Lesers, der entweder naiv oder mit den Augen der Drahtzieher lesen kann und auf jeden Fall als neugieriger Leser 483 unwillkürlich zum Komplizen der Intrige wird, deren präzises Funktionieren er nur fasziniert verfolgen kann. Steht z. B. der strategisch wichtige Brief XX der Marquise an Valmont entgegen der ursprünglichen Anordnung hinter dem Briefwechsel Cécile-Danceny und vor der Handlung Valmont-Tourvel; er durchkreuzt so zwei starke und echte Beziehungen durch die drohende Intrige und lässt durch seine Mittelstellung die eigentliche Protagonistin erkennen; selbst Valmont erscheint in dieser Perspektive als tendenzielles Opfer. Oder betrachten wir die Briefe 64 bis 67. Der Schlüsselbrief der Marquise, in dem sie die Intrige gegen Danceny bei Mme de Volanges berichtet, geht voraus und schließt wiederum an fragende und verzweifelte Briefe von Cécile, Danceny und Mme de Volanges an. Der Brief 67 von Mme de Tourvel an Valmont stand ursprünglich am Anfang der Reihe. In der jetzigen Fassung steht er am Ende, so daß die Intrige gegen die Gruppe der 481 Vgl. Dorothy-R. Thalander, Laclos and the Epistolary Novel, Genève, Droz 1963 (Histoire des idées et critique littéraire). 482 Jean-Luc Seylaz, „Les Liaisons dangereuses“ et la création romanesque chez Laclos, Genève, Droz 1958, S. 33. 483 Vgl. Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans. Richardson’s „Clarissa“, Laclos’ „Liaisons dangereuses“, Freiburg Brsg., Rombach 1991. 264 naiven Personen abgeschlossen erscheint, bevor die problematischere Beziehung zu Mme de Tourvel im Lichte der vorausgegangenen Schändlichkeiten angesprochen wird. Und wie wird der Leser dann den Satz Valmonts verstehen: „Comment oser être vrai, quand ma sincérité peut me perdre auprès de vous? “ (Brief 68, S. 137) Jede Nuance der Anordnung entscheidet mithin über die Interpretation. Nähe und Ferne der Briefe zueinander werden zu wesentlichen Faktoren der Selbstkommentierung der Handlung. Das erinnert an die Szenenfolge im Theater und begründet über die psychologische Motivation hinaus ein inneres Netz der Verweise und Spiegelungen. So wird z. B. die gelungene Verführung am Anfang des dritten Teils in enger Parallele eingeführt: Brief 90 liefert das Eingeständnis der Schwäche der Präsidentin, in Brief 96 berichtet Valmont von der gelungenen Verführung Céciles, die gleich im Anschluss, in Brief 97, einen eher albernen Eigenbericht aus der Sicht der Betroffenen liefert. Wir haben mithin zwei Varianten des Motivs der verführten Unschuld auf verschiedenen Registerebenen, während andererseits der Ton des Werbens in den Briefen Valmonts an die Präsidentin und von Danceny an Cécile durchaus ähnlich ist, und endlich konstatieren wir eine ähnliche treuherzig ehrliche Verlogenheit oder umgekehrt bei Cécile und bei Danceny in bezug auf ihre Verführer. Usw. Wie die Handlung selbst, so ist auch ihre Struktur ein Triumph der Intelligenz, welcher das Ideal der sincérité in einem zweideutigen Licht erscheinen lässt. Die ursprüngliche äußere Einteilung sah zwei Teile vor, später wurden daraus aus verlegerischen Gründen, um die vier Duodezbände zu füllen, vier Teile, die sich jedoch als stringent erweisen. Teil I umfasst bis einschl. Brief 50 die Vorgeschichte und die Voraussetzungen der Intrige. Im Mittelpunkt stehen die beiden Paare Cécile-Danceny und Tourvel-Valmont. Teil II (Brief 51-87) setzt ein mit der unverhohlenen Mahnung der Marquise: „En vérité, Vicomte, vous êtes insupportable.“ Sie rückt dadurch sofort in den Vordergrund und ergänzt dies in Brief 81 durch ihre libertinistische „profession de foi“, die aus der oberflächlichen Intrige ein philosophisch-weltanschauliches Experiment, die Probe auf die Überlegenheit der libertinistischen Welthaltung, macht. Hier werden zugleich die Voraussetzungen für die Doppelstrategie geschaffen. Andererseits schaffen kleinere Nebenepisoden und Eskapaden eine novellesk entspannte Atmosphäre, die in langen, anschaulichen Briefberichten zum Ausdruck kommt. Teil III (Brief 88-124) bringt mit dem Doppelsieg Valmonts eine deutliche dramatische Akzeleration ins Spiel. Die rasche Korruption Céciles und die beginnende Verblendung Dancenys beweisen die Schnelligkeit der Veränderungen, die Labilität der Tugend und der großen Liebe und sorgen zugleich für die Illusion eines raschen Endes der Handlung. Teil IV (Brief 125-175) ist der längste. Er umfasst den Höhepunkt der Intrige und die Katastrophe, so dass dramentechnisch gesprochen Akt IV und V verbunden sind. Ausführlich geschildert werden nur noch die Leidenschaft und der Zusammenbruch von Mme de Tourvel. Dann geht al- 265 les sehr schnell. Die wechselseitige Kriegserklärung der beiden Verbündeten in Brief 153 und 154 steht genau in der Mitte und besiegelt den Fehlschlag der nach außen erfolgreichen Strategie. Diesem vierteiligen Schema entspricht bei genauerer Betrachtung die wachsende Komplizierung der Handlungsfäden, die sich im wörtlichen Sinn immer mehr überkreuzen. Haben wir anfangs noch klar voneinander getrennte Brief- und Kontaktgruppen, so werden allmählich alle Personen in den Sog der Handlung gezogen und treten mittel- oder unmittelbar in Kontakt zueinander. Also zunächst: Cécile-Danceny, Valmont-Merteuil, dann: Valmont-Tourvel, Valmont-Cécile, Merteuil-Volanges, Merteuil-Cécile, Merteuil-Danceny, usw. In Teil I und II beobachten wir dabei die wachsende Bedeutung der Marquise, in Teil III und IV dagegen diejenige Valmonts, der - anders als die Marquise - als Verführer und Opfer mit fast allen Personen in direktem Kontakt steht. Das numerische Übergewicht seiner Korrespondenz über die der Marquise ist auffällig. Dem entspricht dann die sich steigernde Rivalität und Aggressivität zwischen den beiden Hauptfiguren. In einem interessanten Beitrag zur Strategie in den Liaisons dangereuses hat Michael Bernsen den Roman vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden militärstrategischen Veränderungen am Vorabend der Revolution und der napoleonischen Feldzüge gelesen und daraus den Schluss gezogen, dass die Zukunft „nicht länger den auf der Stelle tretenden, bekenntnishaften Darlegungen“ des herkömmlichen Briefromans gehörte, sondern „jener vorwärtsgerichteten Erzählweise des nach dramatischen Regeln konstruierten Romans“. 484 Nach diesen Kriterien wäre Valmont „als Manövrierkünstler“ 485 und Verfechter der „pureté de méthode“ (Brief 125) der kämpferischen Marquise entgegengesetzt und letztlich unterlegen. Gleichzeitig ginge es um einen Paradigmenwechsel der Gattung Briefroman selbst, dessen dramatische Intrige an die Stelle der bisherigen gattungsspezifischen „Ermattungsstrategie“ tritt und den Briefroman zum virtuell auktorialen Fallbeispiel mit verteilten Rollen macht. Während die Marquise de Marteuil schon im 2. Brief die Strategie vorgibt und die junge Cécile ironisch als „l’héroïne de ce nouveau roman“ (S. 10) apostrophiert, zieht Madame de Volanges in Brief 175 dann für den Autor das Fazit: „Qui pourrait ne pas frémir en songeant aux malheurs que peut causer une seule liaison dangereuse! “ (S. 395) Die Struktur selbst zeigt freilich, wie die Vernichtungsstrategie der Helden auf diese zurückschlägt und sie in einer Art ungebremster Lust am eigenen Untergang mit sich fortreißt. Psychologisch wäre dieser Vorgang, den man 484 Michael Bernsen, „Der Strategiestreit in den Liaisons dangereuses. Von der Ermattungszur Niederwerfungsstrategie“, in: Das fremde Wort. Studien zur Interdependenz von Texten. Karl Maurer zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ilse Nolting-Hauff und Joachim Schulze, Amsterdam, B. R. Grüner 1988, S. 276-305, hier S. 283. 485 Ebd., S. 305. 266 mit dem Cocteauschen Titel einer machine infernale umschreiben könnte, aus der freigesetzten Aggressivität einer tendenziell vaterlosen Gesellschaft zu erklären, die sich in der exklusiven Enge des funktionslosen Hochadels 486 bewegt: An die Stelle des Ringens mit den Vätern tritt so die Rivalität der Söhne, die keine Väter kennen. Am Ende des Ancien Régime beschreibt Laclos eine statisch geschichtslose Insider-Atmosphäre ohne Vergangenheit noch Zukunft. Rationales Handeln beruht auf dem irrationalen Bemächtigungstrieb, der sich in der ermüdenden Mechanik sexueller Unterwerfung äußert. Die Aggressivität ist wie die Liebe ein irrationaler Impuls, der mit der ursprünglichen rationalen und kühlen Planung des Unternehmens nicht vereinbar ist. Esther Suzanne Pabst hat die „subversive Komponente“ der weiblichen Libertinage 487 betont und zugleich mit Anke Wortmann 488 gezeigt, wie der Rückzug der Merteuil am Ende des Romans die bislang vorherrschende „Perspektive auf die erzählte Welt“ unbeantwortet lässt. 489 Besonders Jean Rousset hat betont, dass dem oberflächlichen Sieg des Kalküls in Wahrheit die wachsende Bedeutung des Zufalls und der Unordnung gegenübersteht. So heißt es schon am Anfang von Brief 10: Merteuil - Valmont: „Nous voilà donc vous conduisant sans principes, et donnant tout au hasard, ou plutôt au caprice.“ (S. 25) Die zerstörerische Wirkung resultiert aus dem Irrationalen, das letztlich auch dem wechselseitigen Pakt zugrundeliegt. Seylaz spricht von „une part de ténèbres“ hinter der genialen ästhetischen Konstruktion. Und Rousset meint: „C’est le roman de l’amour, du triomphe de l’amour, où tout le monde aime contre le principe qui lui interdit d’aimer.“ 490 Selbst wenn man nicht so weit gehen möchte, wird man doch den Effekt der Verdunkelung einräumen müssen. Valmont ist von Anfang an in Gefahr, das Opfer seiner Machenschaften zu werden, aber die Pointe scheint darin zu liegen, dass er genau in dem Augenblick, da er mit Mme de Tourvel auch seine eigene mögliche Anfälligkeit für die Liebe und das Gefühl besiegt hat oder besiegt glaubt, das Opfer seiner Illusion in bezug auf die Marquise und ehemalige Geliebte wird. In der Terminologie der klassischen Tragödie würde man von Verblendung sprechen. Die Intelligenz des und der beiden Pro- 486 Vgl. Karlheinz Bender, „L’origine sociale de malheur ou l’exclusivisme de la haute aristocratie dans Les Liaisons dangereuses“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 7 (1983), S. 53-75. 487 Esther Suzanne Pabst, Die Erfindung der ‚weiblichen‘ Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts, Göttingen, Wallstein 2007, S. 300. 488 Anke Wortmann, „Choderlos de Laclos, Les Liaisons dangereuses (1782)“, in: Dietmar Rieger (Hrsg.), 18. Jahrhundert: Roman, Tübingen, Stauffenburg 2000, S. 253-302, hier 297. 489 E. S. Pabst, a. a. O., S. 301. 490 Rousset, a. a. O., S. 98. Hierzu auch Jürgen von Stackelberg, „,L’amour de la guerre et la guerre de l’amour‘. Der ‚Krieg der Geschlechter in Laclos’ Les Liaisons dangereuses“, in: ders., Themen der Aufklärung, München, Fink 1979, S. 129-150. 267 tagonisten ist die eigentliche tragische Hybris, und die Fallhöhe ist der Selbstüberhebung angemessen. Insofern ist der moralische Schluss nicht moralisierend, sondern entspricht der Konzeption einer klassischen Tragödie und beleuchtet den Zusammenbruch einer künstlichen Ideologie. Der Zwang zur Überlegenheit: „Il faut vaincre ou mourir.“ (Brief 81, S. 181, Merteuil-Valmont) erklärt die Steigerung des Bösen zu einer gottähnlichen Allmacht, mit der die Protagonistin über die Personen verfügen zu können glauben: „N’est-il pas plaisant, en effet, de consoler pour et contre, et d’être le seul agent de deux intérêts directement contraires? Me voilà comme la Divinité, recevant les vœux opposés des aveugles mortels, et ne changeant rien à mes décrets immuables.“ (Brief 63, S. 126, Merteuil-Valmont) Eine solche Haltung erinnert an den romantischen Satanismus und hat nicht zufällig auf einen Flaubert oder Baudelaire eine große Faszination ausgeübt. 491 In der kühlen impassibilité wird der Intrigant und Drahtzieher zum intellektuellen Spieler, dessen psychologische Überlegenheit zugleich eine ästhetische Überlegenheit ist. „Je puis dire que je suis mon ouvrage“, sagt die Marquise einmal und verwendet damit genau jenes Motiv der prometheischen Selbstsetzung, das der junge Goethe in seinem berühmten Prometheus-Gedicht („Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz …“) anspricht. Daher verständigen sich die beiden Spieler über die Köpfe der anderen hinweg über deren Schicksal und machen deren Leben zum Spielfeld. Die Kritik hat darauf hingewiesen, daß der geniale Kunstgriff Laclos’ auch darin besteht, das klassische Motiv des oder der Vertrauten aufzuwerten und die Vertrauten zu Hauptpersonen zu machen. Das Medium des Spiels bilden die Gefühle, insbesondere die Erotik, die aus der Sicht der Opfer als emotionale Beglückung und Gefährdung, aus der Sicht der Täter aber als intellektuelles Spiel der Macht und der Bemächtigung, mithin als érotisme, begriffen wird. Die Konstruktion bricht in dem Augenblick zusammen, da Valmont die Ebene des Spielleiters verlässt und sich in ein psychologischerotisches Duell mit der Marquise selbst einlässt. Er gefährdet damit seine eigene Rolle ebenso wie die der Marquise, die damit die Fiktion des Ich als selbstgemachtes Kunstwerk aufs Spiel setzt und ihre raison d’être verliert. 492 Vorläufig ist freilich die Überlegenheit der Marquise als Spielleiterin gesichert. Die Tatsache, dass Valmont immer mehr als handelnde Person in Erscheinung tritt, ist zugleich ein Grund für seine Unterlegenheit. Er ist gleichsam ein Spielleiter minderer Ordnung, während die Marquise im Hintergrund die Fäden zieht. Schlüssel ihrer Haltung ist der große Brief 81, in dem sie 491 Vgl. Sabine Friedrich, Die Imagination des Bösen. Zur narrativen Modellierung der Transgression bei Laclos, Sade und Flaubert, Tübingen, Narr 1998. 492 Michèle Bokobza-Kahan, Libertinage et folie dans le roman du 18 e siècle, Leuven, Peeters 2000, S. 142. 268 ihre libertinistische Selbsterziehung beschreibt und sich selbst zum Vorbild mythisiert. „Nouvelle Dalila, j’ai toujours comme elle, employé ma puissance à surprendre ce secret important. De combien de nos Samsons modernes, ne tiens-je pas la chevelure sous le ciseau? “ (S. 179) Als weibliches Pendant zu dem Versac der Egarements Crébillons, als Ève satanique im Sinne Baudelaires, wird sie zur neuen Dalila und männermordenden Gottheit, die die Natur in sich zum Schweigen gebracht hat und die ursprüngliche Schwäche in Stärke umgemünzt hat. „Mais moi, qu’ai-je de commun avec des femmes inconsidérées? “ (S. 175), schreibt sie verächtlich über ihre gefühlsgeleiteten Geschlechtsgenossinnen: „Ma tête seule fermentait; je n’avais pas l’idée de jouir, je voulais savoir; le désir de m’instruire m’en suggèra les moyens.“ (S. 176) Bewundernd spricht Valmont von der „pureté de méthode“ (S. 125) seiner Partnerin, der die vollendete Künstlichkeit zur zweiten Natur geworden ist. Sie ist mithin das Gegenteil und die Gegenfigur der Mme de Tourvel. Die Marquise will nicht genießen, und insofern ist auch die Sexualität nur als vermittelnde intellektuelle Form der Bemächtigung denkbar. Sie repräsentiert jene frigide und zerebrale Variante der femme fatale, die im Fin de Siècle als Typus wieder in den Vordergrund treten wird. Nun ist diese Form des Lebens- und Genussverzichts offensichtlich eine Art der perversen Askese, deren Funktion man nur soziologisch erklären kann. Wenn sich ein Baudelaire als Dandy und Aristokrat des Geistes auf dieses Ideal bezieht, so zeigt er damit auch den eigentlichen Impetus jener prometheischen Selbsterhöhung, die zugleich eine Selbstverweigerung ist. „Les sots sont ici-bas pour nos menus plaisirs,“(S. 126) heißt es einmal mit einem Zitat in bezug auf solche machines à plaisir wie Cécile. Das Leben überlässt man den Dienstboten! Wie der Maître in Jacques le Fataliste zieht sich die Marquise aus dem unmittelbaren Leben zurück, im Gegensatz zu ihm verzichtet sie aber nicht auf das Handeln. Sowohl die Marquise als auch der Vicomte repräsentieren als Angehörige des Hoch- und Schwertadels eine kämpferische Ideologie, die ihre eigentliche historische Funktion eingebüßt hat. „Conquérir est notre destin“ (S. 12), lautet das stolze Motto Valmonts zu Beginn des Romans (Brief 4). Aber die kriegerische Aufgabe kann nurmehr indirekt, ja metaphorisch in der Wahrung des Status und in der inneren Überlegenheit zum Ausdruck kommen. Daher der militärische und strategische Wortschatz, wenn es um erotische und sexuelle Abenteuer geht; und daher auch die Haltung libertinistischer Freizügigkeit, die sich weder den bürgerlichen Tugendrigorismus noch dem bürgerlichen Kult des Gefühls ausliefert. Nicht dass jene per se mit aristokratischem Gefühl unvereinbar wären. Gerade der Tugendrigorismus ist ja im Grand Siècle in eminentem Maße eine aristokratische Attitüde und begründet dort den Heroismus des Verzichts. Doch letzterer ist auch schon vom Bürgertum entdeckt worden, und so erhält der Libertinismus die Funktion der ideologischen Abgrenzung gegenüber bürgerlichen Werten. Wie sich im 19. Jahrhundert das Bürgertum 269 gegenüber dem vierten Stand des einfachen Volkes und dem Proletariat durch die Ausgrenzung des „Natürlichen“ legitimiert, so legitimiert sich hier der Schwertadel durch die Ausgrenzung des Gefühls. Der Konflikt des Romans ist mithin ein klarer Standeskonflikt, in dem die hochadligen Protagonisten ein letztes Mal Überlegenheit demonstrieren. Doch das gilt nur in der Theorie. Die psychologische Entwicklung und der Schluss zeigen, wie problematisch ein solches ideologisches Projekt im Ausgang des 18. Jahrhunderts erscheinen mußte. Valmont ist ja außerordentlich durch das Gefühl gefährdet: „Mais quelle fatalité m’attache à cette femme? […] Ah! pourquoi? … Je l’ignore, mais je l’éprouve fortement. Il n’est plus pour moi de bonheur, de repos que par la possession de cette femme que je hais et que j’aime avec une égale fureur.“ (S. 231) Valmont hat Angst vor der sensibilité. Anlässlich einer barmherzigen Gabe gesteht er: „J’avouerai ma faiblesse. Mes yeux se sont mouillés de larmes et j’ai senti en moi un mouvement involontaire, mais délicieux. Je serais tenté de croire qu’il y a vraiment du plaisir à faire du bien. […].“ (Brief 21, S. 45) Und noch einmal an anderer Stelle - unter dem Stichwort „vertu“: „Mais je m’étonne du charme inconnu que j’ai ressenti. Serait-il donc vrai que la vertu augmentât le prix d’une femme? “[…] (Brief 125, S. 292) Die Marquise erkennt im übrigen diese traurige Schwäche des Libertins, dessen eigentliche Stärke dann in Wahrheit Feigheit ist: „Oui, Vicomte, vous aimiez beaucoup Mme de Tourvel, et même vous l’aimez encore; vous l’aimez comme un fou: mais parce que je m’amusais à vous en faire honte, vous l’avez bravement sacrifiée. Vous en auriez sacrifié mille, plutôt que de souffrir une plaisanterie.“ (Brief 145, S. 340) Die Angst vor der Lächerlichkeit zeigt nicht zuletzt die Angst vor der Gesellschaft und lässt den Überlegenheitsanspruch in einem merkwürdigen Licht erscheinen. Aber dieser Adel ist nicht nur bedroht von bürgerlichem Gefühl und gesellschaftlichen Zwängen, er ist auch abhängig vom Geld, und das heißt um dieses Zeit vor allem: von bürgerlichem Kapital. „Nous ne sommes plus au temps de Mme de Sévigné. Le luxe absorbe tout: on le blâme, mais il faut l’imiter,“ schreibt die Merteuil an Mme de Volanges (Brief 104, S. 241). Für die Marquise ist das Geldargument z. B. in bezug auf Cécile von wesentlicher Bedeutung, und auch sonst spielt das Geld eine nicht unwesentliche Rolle. Die Chancenlosigkeit eines Danceny hat z. B. auch etwas mit seiner Stellung als unvermögender Chevalier zu tun. Die wirklich Jungen haben in dieser Welt keine Chance. Es ist die Welt der arrivierten Söhne und Töchter, deren libertinistisches Credo ihnen erlaubt, sich der gesellschaftlichen Mechanismen zu bedienen. Keine elterliche Autorität macht sich mehr störend oder helfend bemerkbar. Dem libertinistischen Ziel der Selbstermächtigung entspricht die Autonomie des Handelns in einer geschlossenen mondänen Welt, in der die Naiven die Opfer der Geschichte sind und das alte Spiel der „dupes“ seine Fortsetzung erfährt. Die aufklärerische Emanzipation scheint an ihr Ziel gelangt in dem Augenblick, da es 270 keine Generationenkonflikte mehr gibt und eine müßige Schicht junger ‚Spieler‘ den ererbten Reichtum dazu benützt, das Leben zum Spiel der Selbstdarstellung und ‚Selbstverwirklichung‘ umzufunktionieren. 2. Rétif de la Bretonne: Der ideale und der dämonische Vater Die Großstadt bildet mit Lesage und Marivaux immer wieder den Rahmen jugendlicher Initiation, bei Prévost auch den Hintergrund moralischer Korruption, aber erst bei Rétif de La Bretonne spiegelt sie auch eine neue mentalitätsgeschichtliche Erfahrung. Ausgehend von Diderot könnte man nun verschiedene Linien der Entwicklung andeuten. Ähnliches wie in Les Nuits de Paris (1788) von Mercier wird die Großstadt erstmals nicht bloßer Hintergrund des Geschehens, sondern eigentliches Objekt der Beobachtung und als neuartiges psychologisch-soziales Phänomen begriffen. Hier finden wir auch bereits jene Mischung aus Faszination und Ablehnung, Komplizität und Distanz, die in gewisser Weise für die weitere Entwicklung des Großstadtmotivs auch im 19. und 20. Jahrhundert charakteristisch bleiben wird. 493 Für Rétif de La Bretonne, den man den Rousseau der Gosse genannt hat, gilt auch der berühmte Anfangssatz der Préface der Nouvelle Héloïse: „Il faut des spectacles dans les grandes villes, et des romans aux peuples corrompus“ - freilich in umgekehrter Hinsicht: Die Stadt ist Sündenbabel und Lebenschance zugleich. Verglichen mit der patriarchalischen Unschuld des Landes erscheint sie als „corrompue“, aber im Vergleich mit der versklavenden Atmosphäre des Dorfes und der Kleinstadt und ihrer engen ständischen Gebundenheit ist Paris, „cette ville immense“, ein Raum der Befreiung: „où l’on voit non seulement la nation dans toute sa majesté, mais où le genre humain respire l’air salutaire et le précieux parfum de l’égalité. Je n’ai jamais entrevu Paris de loin qu’avec le tendre sentiment d’un fils qui revoit sa mère.“(S. 153) 494 Paris signalisiert als ‚Mutterstadt‘ offensichtlich die zumindest vorläufige Befreiung aus väterlicher Vormundschaft. Denn heimatliche Geborgenheit heißt auch Enge und Konvention einschließlich des Machtmissbrauchs z. B. der reichen Grundbesitzer. „A Paris, au contraire, l’homme est encore plus libre qu’ici; il n’y a qu’un maître, qui l’est tout le monde […].“ (S. 153) Vater- und Mutterbild, maître und mère, sind abstrakte Begriffe, die die Entfaltung des jugendlichen Helden nicht behindern. 493 Volker Klotz, Die erzählte Stadt, München, Beck 1969. 494 Zitate nach Rétif de la Bretonne, La Vie de mon père, éd. par Gilbert Rouger, Paris 1970 (Les Classiques Garnier). 271 Paris 495 ist eine Art neues Rom und begründet die neue Freiheit des Romanciers. Als Gegenstand und nicht nur als Raum der Beobachtung rückt die Stadt damit zum Inbegriff des Romanhaften und der Vielfalt des Lebens auf. Sie wird der Erlebnisraum des Sohnes auf der Flucht vor der väterlichen Tradition. Im Anschluss an die „féerie“ der höfischen Märchentradition entdeckt daher Rétif eine neue Qualität des merveilleux quotidien, das über Balzac bis zu den Surrealisten nachwirken sollte; noch Le Paysan de Paris von Aragon verweist auf diese Tradition. Denn: „cette grande ville est un spectacle continuel où les scènes changent à chaque pas et à chaque instant […], c’est un livre toujours ouvert.“ (S. 153). Der Romancier der Nuits de Paris ist wie Harun als Raschid in 1001 Nacht auf der Suche nach den verborgenen Seiten des Lebens in der Großstadt. Es sind zugleich die dunklen, beunruhigenden Seiten, die das Ich nicht unähnlich dem Diable boiteux von Lesage mit den dämonischen, illegitimen Formen väterlicher Autorität konfrontieren. Dem Lob der „grandes villes“ in der Préface von Le Paysan perverti steht daher am Ende des Romans die Ächtung der Stadt für die Landbevölkerung gegenüber; die Wiege der großen kulturellen Errungenschaften unter dem aufklärerischen Stichwort perfection ist zugleich der Ort der corruption. Die Autobiographie Monsieur Nicolas ou le cœur dévoilé (1796) debütiert im Zeichen der ländlichen Idylle, um im Anschluss sowohl die Brutalität des Landlebens zu hinterfragen als auch den Aufbruch in die Großstadt als das Ende allen Glücks darzustellen: „Lecteur! Les plus heureux de mes jours sont passés! A mesure que l’innocence s’échappe, la félicité pure disparaît avec elle! Nouvel Icare, je vais affronter les dangers, imprudent comme lui! “ 496 Als neuer Ikarus, der sich gegen das Verbot des Vaters Daedalus zu fliegen anschickt, zeigt der Held die moralische Problematik der Emanzipation, die laut dem Avis des Paysan perverti in Schande und Tod führt. Doch eben diese Spannung zwischen Einst und Jetzt, zwischen Vaterverehrung und Vaterproblem prägt die Ambivalenz eines Werkes, das zwischen Rousseau und dem Libertinismus vermittelt. In La Vie de mon père, Biographie, Autobiographie und ethnographisches Dokument zugleich, 497 gestaltet der Autor dieses Grundmotiv des Zerbröckelns der alten Ordnung und der Entwurzelung, die ähnlich wie bei Prévost Vertreibung und Flucht zugleich ist. Das Schlüsselwerk, das nach dem Herausgeber Rouger „relève un peu du genre hagiographique“ 498 , bildet die positive Kontrastfolie der libertinistischen Fallstudien: ein Universum der Ordnung und Selbstbescheidung, in 495 Vgl. den Sammelband Rétif de la Bretonne et la ville, publ. par Pierre Hartmann, Strasbourg, Presses Universitaires 1993. 496 Monsieur Nicolas ou le cœur humain dévoilé, 6 Bde., éd. nouv. Paris, J.-J. Pauvert 1959, Bd. I, S. 165. 497 Vgl. Richard Veasey, „La vie de mon père. Biography, autobiography, ethnography? “, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century CXII (1982), S. 213-224. 498 Ebd., S. XIV. 272 dem kluges soziales Wirken den Drang nach gesellschaftlichem Aufstieg ersetzt: „Mon fils, nous sommes aujourd’hui roturiers, et je m’en félicite sincèrement.“ (S. 56) Der strenge Großvater ist hier geradezu das idealisierte Gegenbild des Ich, und auch der Vater repräsentiert den Sieg der Tugend über gefährliche Empfindsamkeit und den Vorrang der Ordnung: „La vie patriarcale de mon père“. Als Familienoberhaupt, Richter und Gemeindevorstand steht er für die bereits insgeheim bedrohte Ordnung, die als ursprüngliches Paradies erst in dem Augenblick empfunden wird, da der Sohn bereits zum Opfer der „dépravation actuelle“ geworden ist.: „Je n’oublie aucun de ses traits, qui peignent la vraie piété filiale, réduites à de pures grimaces dans les villes. Ces mœurs simples, si conformes à celles des premiers âges, tiennent plus à l’innocence et aux bons principes qu’on ne le croit.“ (S. 108) Das Idealbild des Vaters wird zum negativen Maß für die Schuldgefühle des Sohnes, dem die Verbindung von Selbsthingabe und Selbstbewahrung nicht mehr gelingt und dem die Suche nach dem Glück zu einer Kette der Selbsterniedrigung gerät. Das Beispiel des ‚verlorenen Sohnes‘ Edmond, der nach dem Verrat am Vater reuevoll ins väterliche Haus zurückkehrt, verweist auf das Grundübel wachsender Entwurzelung, die seit Lesage ein Leitthema des aufklärerischen Romans bildet. Am Beispiel der beiden Romane Le Paysan perverti (1775) und La Paysanne pervertie (1784) hat Michèle Bokobza-Kahan die Didaktik zwischen dem Vatermythos, „la dimension totalitaire de l’image du père“ 499 , und der „profanation des valeurs parentales“ 500 beleuchtet, eine Dialektik, die so weit geht, dass der sich verstoßen fühlende junge Libertin neben dem sublimen, verlorenen Vater das Bild eines libertinistischen Ersatzvaters, Gaudet, aufrichtet. La Malédiction paternelle, ein autobiographischer Briefroman, kreist um diese Schuldproblematik, die in einem anderen Roman, La dernière aventure d’un homme de 45 ans, wieder aufgenommen und mit dem Thema der unglücklichen und pervertierten Liebe verbunden wird. Hier schimmert auch die Vater-Tochter-Problematik durch, die ein unterschwelliges Leitmotiv des Werkes darstellt und letztlich auf die Ambiguität der eigenen Vaterrolle des Autors hinweist. L’Ecole des Pères, ein erzählerischer Leitfaden für Väter, beleuchtet die Dialektik des Vater-Sohn-Verhältnisses. Wir können hier das Werk des Vielschreibers Rétif 501 kaum streifen. Von den einen als „Schwein“ („ce pourceau de Rétif“, Ferdinand Brunetière), von den anderen als „größter Schriftsteller des 18. Jahrhunderts“ (Funck-Brentano) gepriesen, ist dieses enfant terrible seiner Zeit, für den sich noch Goethe und Tieck interessierten, nach der Revolution schnell in Vergessenheit gera- 499 M. Bokobza-Kahan, Libertinage et folie dans le roman du 18 e siècle, S. 202. 500 Ebd., S. 182. 501 Eine Gesamtausgabe existiert nur in Form der Reprint-Ausgabe, Genève, Slatkine 1988- 1989, 76 Bände. 273 ten. Sainte-Beuve vergleicht ihn mit dem von ihm verachteten Eugène Sue, Gérard Nerval nimmt ihn in die Reihe der Illuminés auf; Alexandre Dumas publiziert 1854 einen biographischen Rétif-Roman, Ingénue, über das Inzestmotiv zwischen Vater und Tochter; unter dem Titel Rétif de la Bretonne, le Rousseau des Halles wird der Roman dramatisiert und 1855 in den Folies Dramatiques aufgeführt. Brunetière sieht in ihm den Vorläufer des obszönen Naturalismus, und für Gustave Lanson steht der Autor fast außerhalb der Literatur. Eine Neubewertung erfolgte erst nach 1920 zunächst aus geistesgeschichtlicher Perspektive, dann im Zusammenhang mit der Neubewertung des Sade-Bildes nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit verbunden war freilich auch die Verschiebung von den sittenkritischen Aspekten des Werkes zu dessen autobiographisch-obsessionellem Grundzug, der das vielfältige Werk auch als eine einzige Konfession und Selbstrechtfertigung 502 lesbar macht. Betont etwa Trahard die Verschmelzung von frühromantischer sensibilité mit einem neuen Detailrealismus, so liegt jetzt der Akzent eher auf den zwanghaften Konstanten eines Werkes, dessen schiere Vielfalt zur Bewältigung eigener Ängste und Komplexe zu dienen scheint und so eher in der Tradition Rousseaus als in der eines Diderot steht. Die Spannung zwischen Sensibilität und Sensualismus bis hin zur Pornographie, Sehnsucht nach Reinheit und zynische Beschreibung des Lasters, der Traum vom Land und die Faszination der Großstadt, das Erlebnis von Angst und Einsamkeit und die gleichzeitige größenwahnsinnige Selbstüberhöhung - im Wechsel zwischen Selbsthass und Sadismus -, in solcher Polarisierung wird eine neue Persönlichkeitsproblematik 503 sichtbar, die gegen Ausgang des 18. Jahrhunderts die Krise des aufklärerischen Optimismus beleuchtet. Der Autor Rétif begründet kein neues Romanmodell, 504 sondern übernimmt, pervertiert und radikalisiert die ältere Tradition. So stehen die Anfänge des 1734 als Sohn eines wohlhabenden Weinbauern bei Auxerre geborenen und ursprünglich für die Klerikerlaufbahn bestimmten Buchdruckers, der 1755 als Geselle nach Paris gekommen war, unter dem Eindruck des sentimentalen bürgerlichen Familien- und Aufsteigerromans 505 , der mit der libertinistischen Tradition verschmolzen wird. La Fille naturelle und Le Pornographe (1769) verweisen auf die beiden Richtungen. Die Nouveaux Mémoires d’un homme de qualité (1770) führt Prévostsche Ansätze fort; Le Paysan perverti, ou les Dangers de la ville (1775) bezieht sich natürlich eben- 502 Charles-A. Porter, Restif’s Novels or An Autobiography in Search of an Author, New Haven/ London, Yale University Press 1967. 503 Vgl. Daniel Baruch, Nicolas Edme Restif de La Bretonne, Paris, Fayard 1996, und Jacques Cellard, Un génie dévergondé: Nicolas Edme Rétif, dit „de la Bretonne“, 1734-1806, Paris, Plon 2000. 504 Vgl. Pierre Testud, Rétif de La Bretonne et la création littéraire, Genève, Droz 1977. 505 Hierzu bes. Marie-Hélène Huet, Le Héros et son double. Essai sur le roman d’ascension sociale au XVIII e siècle, Paris, Corti 1975, chap. VI, S. 127-149. 274 so auf Marivaux und die schon erwähnte Reihe der Paysan-Nachahmungen, wie La Paysanne pervertie 1784 als Aufsteigerroman auf La Vie de Marianne Bezug nimmt. Auch eine Imitation von Lesage, Le fin matois (1770), fehlt nicht. Mit Rousseau setzt sich der Autor in der Folge auseinander: Le Nouvel Emile (1770ff.), Le Nouvel Abeilard ou Lettres de deux amants qui ne se sont jamais vus (1778), endlich der autobiographische Roman La Vie de mon père (1779), der der Arbeit an der eigenen Autobiographie seit 1783, M. Nicolas ou le cœur humain dévoilé, vorausgeht. An ihr arbeitet der Autor bis zu seinem Tod 1806. Auch die weiteren Werke sind fast immer Antworten auf andere Autoren: Les Nuits de Paris auf Louis-Sébastien Mercier, mit dem Rétif inzwischen Bekanntschaft gemacht hatte; Ingénue Saxancour ou la femme séparée (1789) auf die Tradition des Frauenromans und besonders Sade und L’Anti-Justine, ou les délices de l’amour (1798) natürlich explizit auf die Justine-Romane de Sades. Man sollte diese Eigenart einer entfesselten Intertextualität nicht mit dem Maßstab der Originalität messen, sondern darin eine Spiegelung autobiographischer Problematik sehen, die Problematik des Zuspätkommens und der Verführbarkeit, aber auch der Beliebigkeit, die als Ergebnis der Zerstörung fester Ordnungen erscheint. Psychologisch gesprochen, bleibt der emanzipierte ‚Sohn‘ von den literarischen ‚Vätern‘ abhängig, deren schillernde Vielfalt freilich zugleich das Problem der Vorbildhaftigkeit aufwirft und die eigene Originalität des Zuspätgekommenen bedroht. Das Thema der Verführung und Verführbarkeit ist die unmittelbare Konsequenz der Emanzipation aus eindeutiger väterlicher Autorität. Ein Glanzstück in der Reihe der Thematisierungen der verfolgten weiblichen Unschuld ist z. B. der Roman Ingénue Saxancour ou la femme séparée. Es handelt sich um einen Memoirenroman aus der Sicht der jungen Frau, die gegen den Willen des Vaters geheiratet hat („une fille se marie malgré son père, à un homme vil“, Avis de l’éditeur) und in eine endlose Kette von Demütigungen und Quälereien geraten ist, bevor sie sich endlich zum Vater flüchtet. „Une fille imprudente, qui se marie, malgré son père, à un infâme, un homme faux, qui, avant le mariage, a menti les mœurs et la fortune […]; à un homme qui, après le mariage, laisse voir tous les vices, soumet son épouse infortunée à tous les caprices d’un libertin, à toutes les turpitudes d’un débauché, à toutes les infamies d’un scélérat corrompu […].“ (Avis de l’éditeur) 506 Die verfolgte Tugend ist mithin die Konsequenz der Untreue gegen den Vater: „Mais qu’ici les suites en sont terribles! A quelles affreuses extrémités l’infortunée Saxancour n’est-elle pas sans cesse réduite! […] Lisez, jeunes filles, et tremblez! “ (Avis) Aber der Roman ist nicht wegen dieses sentimen- 506 Restif de la Bretonne, Romans, édition établie par Daniel Baruch, t. II, Paris, Robert Laffont 2002 (Coll. Bouquins), S. 473. Gesonderte Ausgabe von Gilbert Lély, Paris, Pauvert 1960. 275 tal-moralisierenden Zuschnitts von Interesse. Er zeigt zum einen die Spaltung des Autor-Ich in eine idealisierte Vaterfigur und in die Gestalt des Schurken Moresquin, der ebenfalls autobiographische Züge trägt. Er gesteht einmal, dass er seine Frau nicht aus Abneigung, sondern aus Hass gegen den Schwiegervater quält. Der Roman zeigt weiter - ähnlich wie bei Sade - den sadomasochistischen Bedingungszusammenhang zwischen der zwanghaften Demütigung des Liebesobjekts und der Selbstdemütigung der Frau. Die scheinbar mechanische Repetition von Handlungselementen gehorcht daher einem Gesetz der psychologischen Steigerung, das als unaufhaltsamer Degradationsprozess begriffen wird. In der Introduction zu seiner Autobiographie M. Nicolas ou le cœur humain dévoilé schreibt Rétif einmal, es gehe ihm nicht wie Rousseau um eine Beichte, sondern um die Bloßlegung der „ressorts du cœur humain“: „je disséquerai l’homme ordinaire“ (XLI und XXXVIII). „Je vous raconterais la Vie d’un homme naturel“ (XLIV), und so sei das Buch zugleich „un livre d’histoire naturelle“ und „un livre de philosophie“ - ersteres verweist auf Buffon, letzteres auf die philosophische Tradition. Der „homme naturel“ ist hier nicht mehr der ursprüngliche Mensch im Sinne des Rousseauschen Optimismus, sondern der problematische und widersprüchliche Mensch in der Gesellschaft, dessen Funktionsweise mit naturwissenschaftlicher Präzision beschrieben werden kann: „Inconcevable labyrinthe du cœur humain! ô caos, qui renferme tous les contraires, qui te débrouillera? … Moi, […] dans moi-même.“ (S. XLIII) Nur als mythischer Traum ist die Vorstellung von Einheit und Unschuld noch denkbar. Ja, in gewisser Weise erscheint auch das Labyrinthische und Böse als ohnmächtige, selbstquälerische Antwort auf diese verlorene, ideale Dimension. Der Bruch mit den traditionalen Werten, die Emanzipationsbewegung und Freisetzung des Ich, mit denen die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts einsetzen, werden mithin in den Schriften Rétifs nicht nur explizit thematisiert, sondern darüber hinaus auch in den äußersten psychologischen Konsequenzen vorgeführt. Deshalb schreibt der Autor die herkömmlichen Romane und Romanmuster gleichsam um und neu, indem er das Gewicht auf die Nachtseite der psychologischen Mechanismen legt. Der monströse Schwiegersohn, „le Monstre“ genannt, ist auch ein Teil des Autor-Ich, und sein scheinbarer Haß auf die Heldin ist in Wahrheit der abgeleitete Hass auf die Vaterfigur und die verlorenen Werte. Nicht zufällig besteht ein enger Bezug zwischen der privaten Beschmutzungsphantasie und dem großstädtischen Hintergrund mit den Motiven der Einsamkeit, Vermassung und Korruption: „La corruption des mœurs est portée au dernier point de nos jours,“ heißt es in M. Nicolas (Bd. 1, S. 125). Neu ist nämlich auch die Einsicht, dass all die Entgleisungen und Perversionen nur in der anonymen Atmosphäre der Großstadt möglich sind. Wozu Sade in Les cent jours de Sodome noch ein abgelegenes Schloss braucht, das wird jetzt in die Gesellschaft selbst verlagert. Letztere schließt alle Schichten und 276 vor allem auch das niedere Volk ein, als dessen besonderer Kenner sich Rétif in Les Nuits de Paris bezeichnet. Der sozialgeschichtliche Hintergrund der Entwurzelung als Voraussetzung für die Mythisierung des Bösen wird in dem Motiv der verführten ländlichen Unschuld sichtbar. Le Paysan perverti ou les dangers de la ville (1776) findet seine Ergänzung in La Paysanne pervertie (1784), und umgekehrt 507 und beide zusammen bilden dann mit einigen Veränderungen den gemeinsamen Roman Le Paysan et la paysanne pervertis (1784-87). Das Werk ist abgesehen von der auktorialen Einleitung als Briefroman konzipiert. Im Avis heißt es: „Vous y verrez d’abord le jeune Paysan prospérer un peu, perdre ensuite petit-à-petit ses bons sentiments, devenir libertin, criminel, et de là tomber dans l’infamie, y entraîner une malheureuse sœur, la perdre tout à fait, se relever ensuite, pour retomber plus bas.“ 508 Der Degradationsprozeß verläuft symbolisch in zwei Phasen, zunächst in der heimatlichen Provinzstadt Auxerre, und dann in Paris. I. Der Bauernjunge Edmond, der in das Atelier des Künstlers Paragon in Auxerre eingetreten ist, heiratet ahnungslos Manon, die verführte Geliebte seines Meisters, und verführt seinerseits, den Einflüsterungen eines libertinistischen Freundes, Gaudet d’Arras, vertrauend, das Mädchen Laurette. Seine Frau stirbt aus Eifersucht, er selbst schiebt seinem Bruder ein bereits verführtes Mädchen zu und vergewaltigt zuletzt die Frau des Meisters. II. Er bricht nach Paris auf, um die von einem Marquis entführte Schwester Ursule heimzuholen. Aber die Liebe zur Frau des Entführers lässt ihn in einen Tauschhandel einwilligen, der beide Geschwister endgültig depraviert. Ursule gerät auf die abschüssige Bahn, spielt und gerät einem italienischen Zuhälter in die Hände. Nach zahlreichen sexuellen Abenteuern heiratet sie den Marquis, wird also Marquise. Die Heirat mit einer reichen alten Frau, die bald darauf stirbt, führt zur Anklage wegen Giftmord und zur Verurteilung des Helden, der nach neun Jahren auf den Galeeren entkommt und nach langen Irrungen in die Heimat zurückkehrt. Eine besondere Rolle spielt dabei der ehemalige Mönch Gaudet. Die Schwester wird von Gaudet getötet, der selbst bei einem Unfall umkommt. Nach dem Tod der Eltern ruft die Familie dazu auf, ein Musterdorf auf genossenschaftlicher Grundlage zu gründen, um junge Menschen fortan davon abzuhalten, in die Stadt abzuwandern. 509 507 Vgl. Claude Klein, „De l’image spéculaire dans Le Paysan et la Paysanne pervertis“, in: Etudes rétiviennes 18 (1993), S. 33-48. 508 Romans, t. I (Coll. Bouquins), S. 215. 509 Vgl. Marc Poster, The Utopian Thought of Restif de La Bretonne, New York, University Press 1971. 277 Das erinnert zunächst an die maßlosen Übertreibungen des Schauerromans, freilich eines Schauerromans, dessen Schrecken nicht im Ambiente, sondern in der Psychologie verankert ist. Diese dienen jedoch dazu, den Umschlag von banaler Freizügigkeit in die dämonische Perversion eines „narcissisme pathologique“ 510 zu zeigen. Von der ursprünglichen Heiterkeit des Marivaux’schen Helden und seinem ausgeglichenen amour-propre ist nichts mehr übrig geblieben, und die aufklärerische Vorstellung vom Recht auf Glück entpuppt sich als satanische Verführung: „La vérité est que nous sommes faits pour être heureux, que nous y tendons sans cesse, et que le plaisir est la route du bonheur. Tout ce qui est vrai plaisir, est permis“ (S. 286), heißt es z. B. selbstsicher in Brief 67, der eine Moral des hedonistischen Maßhaltens entwickelt, wie um dem Leser die Haltlosigkeit bestimmter Vorstellungen der Aufklärung vor Augen zu führen. 511 Daher ist der Schauerroman zugleich ein philosophischer Roman, der Aufklärung gleichsam parodiert. Der Übergang von der ländlichen Unschuld zu städtischer Verderbtheit beinhaltet die Überwindung der bisherigen „Vorurteile“ (préjugés): „Honneur, vertu, pudeur, grands mots du dictionnaire des prudes! Mais l’amour, le plaisir, voilà les arbitres du sort …“ (S. 54) Dabei verweist die Leichtigkeit des Verführungsgeschäfts auf die unbewusste Bereitschaft des jeweiligen Opfers und auf die moralische Anfälligkeit des sich selbst überlassenen Menschen. Die Rousseausche Kulturkritik verbindet sich mithin mit einer negativen Anthropologie. Folglich bleibt es auch nicht beim bloßen Genuss. Der Libertinismus führt zum Sadismus, dessen Mechanismen vor allem in der Großstadt Paris zum Ausdruck kommen. Dem mondänen Paris der bisherigen Romantradition setzt der Autor hier ein schmuddeliges, düsteres Hintertreppen-Paris gegenüber, das den sozialen und den moralischen Abstieg sinnfällig macht. Gerade in der Geschichte der weiblichen Heldin, die von einem sadistischen Italiener und seinem schwarzen Diener gequält wird, wird eine perverse Atmosphäre des Huis-clos evoziert, die an Ingénue Saxancour erinnert. Denn auch hier setzt die sadistische Aggression die masochistische Identifikation des Opfers mit dem Täter voraus und führt bis zum Genuss im Selbsthass. In einem Brief an den Bruder schreibt die Heldin im Anschluss an eine inzestuöse Szene mit dem Bruder Edmond: „Mon tempérament est devenue une fureur, mon goût pour la crapule, une rage! Je veux m’anéantir dans l’infamie, je veux être par goût, par jouissance, ce que l’Italien m’avait faite par force […].“ (S. 203) Die letzte Stufe der Bewusstwerdung im Bösen erreicht jedoch nur der Held selbst, und zwar durch den entlaufenen Mönch Gaudet, dessen Widersprüchlichkeit gepaart mit narzisstischem Größenwahn Bokobza-Kahan 512 510 M. Bokobza-Kahan, a. a. O., S. 179-208. 511 Vgl. Robert Mauzi, L’idée de bonheur au XVIII e siècle, chap. X. 512 Bokobza-Kahan, a. a. O., S. 185. 278 als letzte Aufgipfelung des libertinistischen ‚Bemächtigungstriebs‘ interpretiert hat. Dieser Vorläufer des dämonischen Vautrin von Balzac fungiert als Helfer und führt den Helden in die Geheimnisse des Bösen ein. Als negativer libertinistischer VATER ersetzt er den „digne père“ (S. 45) in der Heimat. Gaudet entwickelt eine regelrechte Philosophie der amoralischen Macht und zeigt so die gesellschaftliche Dimension der individuellen Perversion: „il faut une révolution physique ou morale pour rajeunir; […] Notre grand but sera donc de faire régner la philosophie, et de l’établir partout.“ (S. 236) Der ,böse‘ Vater tritt mithin an die Stelle der idealisierten Vaterfigur und übernimmt die Rolle Mentors im Télémaque. Genauer gesagt, schreibt der Autor nicht nur einen Anti-Télémaque; er führt auch die Rolle eines Versac in den Egarements von Crébillon fils bis zu ihren extremen Konsequenzen: Die mondäne Initiation in das Funktionieren der Gesellschaft wird so zur materialistischen Initiation in die Mechanismen amoralischer und aus allen sozialen Bindungen entlassener individueller Macht. Letztere setzt jedoch eine anonyme Gesellschaft voraus, die eben nichts mehr mit der mondänen Gesellschaft eines Marivaux oder Crébillon gemein hat. Die Machtphantasie des Opfers gründet auf dessen Ohnmachtserfahrung gegenüber einem nicht mehr greifbaren gesellschaftlichen Ganzen. In einem Brief Ursules wird der psychologische Mechanismus deutlich: „Ah! que le plaisir de tromper est doux, pour un cœur ulcéré contre le genre humain, qui hait ses semblables, pour qui le bonheur des autres est un supplice, et qui voudrait envelopper tous les hommes de l’infamie dont il est couvert.“ (S. 224f.) Die Großstadterfahrung ist notwendiger Hintergrund einer solchen Sehweise, die bereits das Paradigma Ich-Gesellschaft im bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts andeutet. Der negative Vater Gaudet ist wie sein Nachfahre Vautrin in den Illusions perdues von Balzac die Verkörperung der dämonischen Kehrseite der wölfischen Konkurrenzgesellschaft. Der Mönch als Inkarnation des Schauerromans - man denke nur an den berühmten Roman The Monk (1796) von M.G. Lewis - verweist auf den Zerfall der alten Ordnung und führt an seiner eigenen Person den Umschlag von Emanzipation in Machtstreben vor. Rétif de La Bretonne verfasst - anders als Sade - keine persönliche Apologie des Bösen. Wie die balladenhafte Zusammenfassung des Lebens der beiden Geschwister am Schluss von La Paysanne pervertie, Complainte du Paysan et de la Paysanne chantée dans leur pays, zeigt, behält der Roman seine parabelhafte, indirekt moralisierende Funktion bei, eine traurige und abschreckende Geschichte zu erzählen. Die Geschichte der Söhne und Töchter wird gleichsam aus der tugendhaften Perspektive der Väter geschildert. Dennoch verschiebt sich das Schwergewicht zu der Schilderung des Negativen, das offensichtlich - wie Coulet andeutet - untrennbar mit der Entscheidung zur Schilderung der realen Welt verbunden ist. Die Kritik hat immer wieder die Fülle und Breite der geschilderten Verhältnisse gerade in 279 diesem Roman hervorgehoben und damit dem Autor selbst nachträglich recht gegeben, der in seiner Autobiographie von einem „roman absolument complet, et digne d’être comparé, soit à l’Héloïse, soit aux romans de Richardson, plein de choses et de chaleur“ 513 spricht. 3. Loaisel de Tréogate und Louvet de Couvray: Jugendliche Identitätsproblematik Von dem Einfluss Rousseaus bei Laclos war bereits die Rede. Tatsächlich zeichnet sich spätestens seit der Mitte der 60er Jahre die - paradoxe - Verbindung der libertinistischen Tradition mit empfindsamen und moralisierenden Tendenzen ab. Coulet verweist auf einen wechselseitigen Motivationszusammenhang von Immoralität bzw. Amoralität und Moral: „le libertinage galant moralise et s’attendrit […], le roman galant peint le vice aimable accompagné de vertus qui préparent un repentir et une conversion sincères“. 514 Bestehende Unmoral dient als Begründung für moralisierende Darstellung. Klare soziologisch-ideologische Unterscheidungen sind nicht mehr möglich, wo sich adliger Libertinage mit bürgerlichen Apologien des Gefühls verbündet und tugendhafter Libertinismus in der Selbstbeobachtung zugleich über sich selbst moralisiert. Romantitel wie Clairval philosophe, ou la force des passions: Mémoires d’une femme retirée du monde (1765), von Durosoi, oder Le libertin devenu vertueux, ou Mémoires du comte de … (1777), von Domairon, scheinen für diese Richtung ebenso typisch wie die Werke eines Loaisel de Tréogate oder Louvet de Couvray, in denen die sensibilité-Tradition über Prévost hinaus zur Apologie der Sinnlichkeit gesteigert wird. Die Vaterfiguren vertreten in dieser Welt entfesselter Gefühle die Rolle von Zuschauern, das mäßigende Korrektiv jugendlicher Extremerfahrung. Joseph-Marie Loaisel de Tréogate (1752 im Morbihan geboren und 1812 in Paris gestorben, Gendarm der königlichen Garde), 515 der Autor der Soirées de mélancolie (1777), ist nach Coulet „un des nombreux romanciers larmoyants et mélodramatiques“ 516 , welche die romantische Wende vorbereiten und zwischen Prévost und Chateaubriand vermitteln. In dem „espace de la douleur“ 517 von Drama und Roman werden Schmerz und Melancholoie 513 M. Nicolas, S. 14f. 514 Henri Coulet, Le Roman jusqu’à la Révolution, Paris, Colin 1967, S. 448. 515 Vgl. Townend Whelen Bowling, The Life, Works, and Literary Career of Loaisel de Tréogate, Oxford, The Voltaire Foundation 1981. 516 Ebd., S. 440. 517 Raphaël Gimenez, L’Espace de la douleur chez Loaisel de Tréogate (1752-1812), Paris, Minard 1992. 280 zum Ausweis menschlichen Seins und persönlicher Wertigkeit, doch im Gegensatz zur Romantik ist der roman sentimental immer auch ein roman philosophique, der den Helden (häufig mit autobiographischem Hintergrund) Gelegenheit zur moralisierenden Selbstbeobachtung gibt. Exzessive Selbsterfahrung mit beinahe existentiellen Zügen spiegelt offensichtlich das Herausfallen aus einer mäßigenden Tradition und äußert sich in einer Poetik der Kontraste und der Übertreibung, in der Idylle und Hölle, Naturseligkeit und heulende Verzweiflung, Träumerei und Verbrechen, Frömmigkeit und aberwitzige Sinnenlust unverbunden nebeneinander stehen. Fast wie bei de Sade bedeutet Naturnachfolge die Wendung gegen gesellschaftliche Bindungen und Konventionen. Die menschlichen Gesetze, heißt es in La comtesse d’Alibre ou le cri du sentiment (1779), verstoßen gegen den Willen des ‚Höchsten Wesens‘, insofern sie die Selbstentfaltung des Ich behindern. Schwäche und Anpassung sind in Umkehrung der bisherigen Ordnung untugendhafte Verhaltensweisen; starke Sensibilität ist das Siegel fataler Prädestination zur Selbstauslöschung eines maßlosen Ich. Freilich, wie Coulet betont: „La religiosité et le moralisme qu’il affiche interdisent à Loaisel les précisions d’un Sade“. 518 Wie zwiespältig der Kult des Exzesses ist, zeigt der Memoirenroman Dolbreuse, ou l’homme du siècle ramené à la Vérité par le Sentiment et par la Raison (1783). 519 Die „histoire philosophique“ handelt vom Versagen des libertinistischen Helden, der die eigentlich geliebte Frau (Ermance) nach der Hochzeit durch ausschweifende Liebesabenteuer betrügt und so auch die Hoffnung der beiden Väter, die diese Ehe gewünscht hatten, grausam enttäuscht. Erst nach den égarements in der Stadt findet der Held im Rahmen der „agremens de la vie champêtre“ (Teil II, S. 68) zu sich selbst und zu den väterlichen Werten zurück. Ein väterlicher Mönch hat ihn zur Beichte und Bekehrung geführt. Der libertinistische Roman endet als regelrechte Apotheose der väterlichen Ordnung. So heißt es nach der Versöhnung mit der Ehegattin, die den Gatten Dolbreuse aus dem Schuldgefängnis ausgelöst hat: „Nous lisions les anciens qui parlent au cœur par la touchante simplicité de leurs maximes […].“ (Teil II, S. 76) Die Rede ist auch von der Erhaltung der alten Architektur und der (zumindest äußeren) Treue zu der religiösen Tradition. Die moderne Parabel von der Rückkehr des Verlorenen Sohnes - die Rede ist von einer „brébis égarée“ (Teil II, S. 47) - ist zugleich eine Huldigung an die Väter: „Nous ne fumes point élevés par des sages, mais par deux hommes ,qui, bien que nés dans le dix-huitième siècle, tenaient encore aux mœurs antiques, & surtout à l’esprit exalté de l’ancienne Chevalerie.“ (Teil I, S. 9) Es geht um Kreuzzugsdenken (auch dies eine Vorwegnahme Chateaubriands), und natürlich bildet das 518 H. Coulet, a. a. O., S. 441. 519 Ausgabe von Rapha ё l Gimenez, Paris, Lettres Modernes 1993 (Bibliothèque introuvable, 17). 281 Motiv der Kinderliebe in dem mittelalterlichen Roman von Floire und Blancheflor 520 den Hintergrund für die ebenfalls am selben Tag geborenen Kinder, die von den befreundeten Vätern zur Ehe bestimmt werden. Die Ansprache des Vaters an den Sohn: „va te former dans toutes les vertus morales & guerrieres qui furent celles de tes Ayeux“ Teil I, S. 33) kann daher als antiaufklärerisches Programm begriffen werden, mit dessen Hilfe die libertinistischen Versuchungen gebannt werden sollen. Die ehelichen „délectations de l’esprit & du cœur“ (Teil II, S. 102) bilden den Gegensatz zu den libertinistischen „égarements du cœur et de l’esprit“, und das - an Lesage erinnernde - Motiv der Vaterwerdung - nach dem Tod der Frau bleibt Dolbreuse mit seiner Tochter auf dem alten Landschloss zurück - verweist ebenfalls auf die Neubewertung der väterlichen Instanz. Der ‚veraltete‘, in Traditionen befangene Vater ist hier der gute Vater, der sich der aufgeklärten Selbstbefreiung des Sohnes im Namen des Gefühls entgegenstellt. Die Natürlichkeit der zerstörerischen sensibilité, des „cri du sentiment“, wird gleichsam durch höherwertige ‚Natürlichkeit‘ traditionaler Bindungen im Rahmen der heimatlichen Landschaft aufgefangen. Letztlich, so scheint es, hilft die väterliche Instanz die heimliche Angst bannen, die nach Coulet 521 das Werk des unangepassten Autors an der Schwelle zur Moderne durchzieht. Anders als bei Loaisel de Tréogate vollzieht sich die Zurücknahme der libertinistischen Revolte bei Jean-Baptiste Louvet de Couvray (1760-1797) vor dem Hintergrund scheinbar gutgelaunter Rokoko-Extravaganzen, deren bunte Häufung bereits an Alexandre Dumas erinnert. Die Neuauflage der Pikareske unter empfindsamen Vorzeichen verbindet das libertinistische Register mit dem bürgerlichen Abenteuer- und Familienroman - nicht ohne dass die Grenzen zwischen Libertinage und Schlüpfrigkeit (grivoiserie), zuweilen durchlässig werden: Die dreiteiligen Amours du chevalier de Faublas (1787-1790) 522 beuten nach Coulet 523 “six siècles de plaisanteries sur les maris trompés, les femmes faciles, les virginités perdues, les travestis scabreux“ aus. Doch der Memoirenroman des späteren Gegners von Robespierre ist auch ein ironischer Bildungs- und Erziehungsroman, der noch Stendhal beeinflussen sollte und der in seiner fröhlichen Epigonalität als Schlusspunkt einer ganzen literarischen Tradition erscheint. Der pedantische Lektürekanon, den der junge Held an einer Stelle aufzählt, „les plus estimables talents 520 Vgl. Patricia E. Grieve, „Floire et Blancheflor“ and the European Romance, Cambridge, University Press 1997. Es sei daran erinnert, dass La Bibliothèque universelle des Romans seit 1775 die alten ‚Ritterromane‘ wieder zugänglich gemacht und zur Entstehung der Mode des genre troubadour beigetragen haben. 521 Coulet, a. a. O., S. 441. 522 Une année de la vie de Faublas, Six semaines de la vie de Faublas, La fin des amours de Faublas. Zitate nach Romanciers du XVIIIe siècle, éd. par Etiemble, Paris, Gallimard 1965 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. II. 523 H. Coulet, a. a. O., S. 450. 282 ou les plus beaux génies dont notre littérature puisse s’enorgueillir“ (S. 629), umfasst fast die gesamte, damals ‚neuere‘ Literatur und weist den pikaresken Libertin erstmals als lesenden Helden aus. An intertextuellen Bezügen ist dementsprechend auch kein Mangel. Großzügig mit Briefen und theatralischen Partien 524 durchsetzt, verbindet der Roman das Crébillonsche Grundschema der „mauvaise éducation“ mit Prévostschem Pathos und dem Motiv der Verführbarkeit à la Marivaux, mit Anspielungen auf die Nouvelle Héloïse und auf das Motiv des Stolzes auf die eigene Vaterwerdung im Gil Blas. Wie bei Rétif de la Bretonne spielt der Umzug von Land in die Großstadt eine negative Rolle, und wie Jean-Jacques in den Confessions wird der sich als neuer Saint-Preux begreifende Held die geliebte ‚mütterliche‘ Marquise und Erstverführerin mit „Maman“ anreden. Auch bei diesem „faux (Gil) Blas“ steht am Ende der (problematische) Sieg der Tugend über libertinistische Verirrungen. Freilich kann man von einer Selbstgewinnung gerade nicht sprechen. Der Held, der vorübergehend in Wahnsinn versinkt, wirkt vielmehr wie ein Spielball der sich übersteigernden Ereignisse und Episoden, wobei vor allem das auffällige, mehrfach eingesetzte Motiv der Verkleidung und Verwechslung 525 (der Held als Frau, die Marquise als Mann) auf eine geschlechtliche Identitätsproblematik zu verweisen scheint. Endlich variiert der Roman wie Dolbreuse das Schema des griechischen Liebesromans, indem der Held am Anfang des zweiten Teils von seiner eben angetrauten Frau Sophie getrennt wird und erst am Ende des dritten Teils (nach Festungshaft und nach schwerer Krankheit) wieder mit ihr vereint wird. Wie in Dolbreuse gibt die lange Trennung dem Helden Gelegenheit zu amourösen Abenteuern, bevor der tragische Ausgang der leitmotivischen Liaison mit „Maman“ der libertinistischen Phase ein Ende setzt. Kommt das Erwachsenwerden einem Identitätsverlust gleich? Eine entscheidende Rolle spielen auch hier wieder zwei Väter, der eigene Vater, der in Prévostscher Weise zum Hüter und Mahner des Jungen wird, und der Vater der geliebten Sophie, der Freund des Vaters; mit ihm, der sich als der polnische Graf und Freiheitskämpfer Lovzinski erweisen wird, aber zunächst unter dem Namen Du Portail im Pariser Exil liebt, wird die Familie am Ende ihrerseits ins Exil nach Polen aufbrechen. Der Vater des Helden, der Baron de Faublas, verweist zunächst auf das „syndrome Des Grieux“ 526 . Als moralische Instanz des Sohnes, der nach dem Tod der Mutter Halbwaise ist, warnt er ihn vor den Folgen der Ausschweifung und zögert auch nicht, ihn zu 524 Hierzu Catherine Ramond, „Eléments théâtraux dans les Amours du chevalier de Faublas“, in. Entre Libertinage et Révolution. Jean-Baptiste Louvet (1760-1797), publ. par Pierre Hartmann, Strasbourg, Presses Universitaires 1999, S. 63-72. 525 Michèle Bokobza-Kahan, Libertinage et folie dans le roman du 18e siècle, Leuven, Peeters 2000, S. 145-178. 526 Maurice Daumas, Le syndrome Des Grieux. La relation père-fils au X VIII e siècle, Paris, Seuil 1990. 283 strengem Hausarrest zu verurteilen. In wachsendem Maße erscheint er als geradezu fanatisch liebender Vater, der im Leben des Sohnes stets gegenwärtig bleibt und sich in einer letzten Duellszene sogar vor seinen Augen für ihn opfert. Marie-Anne Arnaud-Toulouse spricht von einen „amour oblatif“. 527 Einerseits tritt der Sohn so nie aus dem väterlichen Schatten heraus; zum anderen bleibt der Vater dem libertinistischen Sohn komplizenhaft verbunden. Sein Selbstopfer bezeichnet überdies sein Zurücktreten vor dem Schwiegervater und Ersatzvater. Dieser mag ein „solennel fantoche“ sein, wie Coulet 528 anmerkt; doch das ändert nichts daran, dass der neue Vater den Weg in die Geschichte bezeichnet. Der Held sucht seine Heilung nicht in der väterlichen Tradition. Indem der „père-citoyen“ der postrevolutionären Epoche, „l’homme du devoir patriotique“ an die Stelle des ‚natürlichen‘ „meilleur des pères“ 529 tritt, signalisiert er den Übertritt des Helden aus der rokokohaften Welt der Libertinage in eine neue Ernsthaftigkeit der Geschichte, die eine ganze literarisch-kulturelle Epoche ablöst. Kein Wunder, dass dieser Ersatzvater auch usurpatorische, unheimliche Züge trägt und so zugleich an die dämonischen Vaterfiguren von Rétif de la Bretonne bis Balzac erinnert. Der Held, der seit seinem Eintritt in den monde eine durchweg passive Rolle der Identitätsverweigerung gespielt hat, wird auf diese Weise sich selbst vollends entfremdet. „Cependant, plaignez-moi, j’ai perdu ma patrie, et je ne puis me charger d’aucun emploi dans les armées de la république; il me faut, pour toute ma vie peut-être, renoncer à l’état auquel je semblais appelé.“ (S. 1222) Die Erkenntnis kommt spät, umschreibt aber gleichwohl eine neue Funktionslosigkeit, die auch die eigene Vaterrolle des Helden zur Belanglosigkeit verurteilt. Der Roman endet 1785, aber öffnet das Fenster zur Geschichte der Revolution. Der Vatertausch unterstreicht die Tatsache, dass sich eine ganze Epoche überlebt hat, aber die Länge des Romans, der erst ganz am Ende auf das neue Register umschwenkt, zeigt, wie schwer dieser Abschied fällt. Diese Länge, für die das Nebeneinander von sensibilité und erotischer Libertinage charakteristisch ist, verweist auf die Krise 530 nicht nur des libertinistischen Genres, sondern offenbar der Romanform im Stil des 18. Jahrhunderts. Auch hier steht eine Art Reue und Bilanz am Ende der Verwicklungen: „Voilà donc le fruit de mes égarements... Des remords grands dieux! Et pourquoi? Vous m’avez donné le cœur le plus aimant et les sens les plus vifs [...].“ (S. 1196) Aber der schwache Held ist zu echter Einkehr und Umkehr nicht fähig und steht nun vor dem Scherbenhaufen seiner Amouren. 527 Marie-Anne Arnaud-Toulouse, „La figure paternelle dans les Amours du chevalier de Faublas“, in: Entre Libertinage et Révolution, S. 83-96, hier S. 90. 528 Coulet, a. a. O., S. 453. 529 Vgl. M.-A. Arnaud-Toulouse, a. a. O., S. 91. 530 Vgl. Michel Delon, „Préface“ der Textausgabe in der coll. Folio-Classique, Paris, Gallimard 1996, S. 14. 284 Die Geschichte selbst wird für die notwendige Wende sorgen. Der Unentschlossenheit des zugleich liebenden und genusssüchtigen Helden - „Le moyen d’entrendre la raison, quand le plaisir est là? “ (S. 858) - entspricht die Unentschlossenheit des Romans selbst, der gleichsam strukturlos das Ende der libertinistischen Phase einläutet. Pierre Hartmann hat diesbezüglich von einem „roman virtuel“ oder „roman tangenciel“ 531 gesprochen, der ständig Fenster zu anderen, möglichen Romanen öffnet, ohne selbst eine eigene Konsistenz zu erreichen. Gattungsgeschichtlich wird die Zukunft dem historischen Roman gehören. Die beiden rivalisierenden Vatergestalten scheinen für die beiden Romanformen zu stehen, deren Verbindung der Autor offensichtlich mehr schlecht als recht vorgeführt hat. 4. Der Marquis de Sade oder die Revanche der Väter Mit dem Marquis de Sade schließt sich der Kreis der Aufklärung. Wie in einer Apotheose des Emanzipations- und Erziehungsgedankens spielt de Sade am Ende des Jahrhunderts noch einmal aus der höhnisch sarkastischen Perspektive des adligen Verlierers alle Themen und Formtraditionen der Aufklärung durch 532 und macht dabei Aufklärung selbst zum Thema eines perversen neorealistisch philosophischen Diskurses, der die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ Kants zur Legitimierung des Schreckens 533 einsetzt. Vom zeitgenössischen Schauerroman entleiht er sich gerade so viel, wie er zur Widerlegung des optimistischen Fortschritts- und Tugendparadigmas braucht. Indem Sade den aufklärerischen Naturbegriff zu Ende denkt, führt er das gleichzeitige Tugendpostulat ad absurdum, ohne die normative Funktion des Naturbegriffs aufzugeben. 534 Dem offenen Horizont Rousseaus und der aufklärerischen Befreiung von gottväterlicher Providenz setzt er eine dämonische Bestimmung zum Bösen entgegen, welche die Tugendopfer der Lächerlichkeit preisgibt und das Verdrängte der Aufklärung in Erinnerung ruft. Später wird man von einer Vorwegnahme sozialdarwinistischer Vor- 531 Pierre Hartmann, „Louvet ou le roman virtuel“, in: Entre Libertinage et Révolution, S. 169-182, hier S. 180. 532 H.-U. Seifert, Sade: Leser und Autor. Quellenstudien, Kommentare und Interpretationen zu Romanen und Romantheorie von D. A. F. de Sade, Frankfurt/ M. u. a., Peter Lang 1983. 533 Michael Bernsen, Angst und Schrecken in der Erzählliteratur des französischen und englischen 18. Jahrhunderts. Wege moderner Selbstbewertung im Auflösungsprozess der theologisch-teleologischen Weltanschauung, München, Fink 1996 (Beihefte zur Poetica, 20). 534 Peter Bürger, „Moral und Gesellschaft bei Diderot und Sade“, in: Gert Mattenklott/ Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert, Kronberg/ Ts., Skriptor 1993, S. 77-104, hier S. 96, spricht von der Beibehaltung des normativen Begriffs und der Zurücknahme des bürgerlichen Moralpostulats. 285 stellungen sprechen. Aufklärerisches Denken mündet in Gegenaufklärung, als wolle der Autor die von Horkheimer und Adorno beschriebene „Dialektik der Aufklärung“ vorführen. 535 Die Steigerung des libertinistischen Machtstrebens entlarvt im ‚sadistischen‘ Paroxysmus die ‚fragwürdigen‘ optimistischen Voraussetzungen des Zeitalters der Vernunft und der Empfindsamkeit und erklärt die Wiederentdeckung des Autors und seine Aktualität im Surrealismus und nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie Bürger 536 gezeigt hat, fordert Sade dabei nicht nur die Aufklärung heraus, auf deren große Namen er sich ständig beruft; er bildet auch eine Herausforderung an das selbstgerecht harmonistische Weltbild des Bürgertums als dessen Albtraum er im ganzen 19. Jahrhundert fungieren wird. Erst die Krise des bürgerlichen Humanismus nach dem Ersten Weltkrieg schafft die Voraussetzungen für eine noch immer nicht abgeschlossene Neubewertung, die inzwischen droht, ins Gegenteil übertriebener Hochschätzung umzuschlagen. Der 1840 aus altem provenzalischem Adel geborene Skandalautor, der bis zu seinem Tod 1814 insgesamt dreißig Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, verbindet Literatur mit Leben, maßlose écriture 537 mit maßloser Lebensgier, als ob es darum ginge, den experimentellen Ansatz der Aufklärung und besonders der Generation Diderots in existentielle Radikalität umzusetzen. Gaëtan Picon hat die paroxystische Steigerung des Begehrens in diesem Sinn als Ausdruck der Erkenntnis der „irréductibilité de tout objet possible au désir humain“ 538 existentialistisch gedeutet. Dieses obsessive Element stellt aber auch die Vorstellung eines „Sade libérateur“ bei Apollinaire und den Surrealisten in Frage. Schon Pierre Klossowski hatte in Sade mon prochain 539 diesen emphatischen Mythos zerstört und dem blasphemischen Duktus des Autors als ohnmächtige Revolte und als Zeichen des Verhaftetseins in der verwünschten Welt gedeutet. Nach Picon ist „cette morne et géniale épopée de la perversité“ durch die Unfähigkeit zum Genuss (und sei es des perversen Genusses) geprägt: „Le véritable nom de l’unique passion de Sade, c’est l’indifférence.“ 540 Die monotonen Wahnbilder, der sog. 535 Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/ M., Fischer Verlag 1969, Exkurs II: „Juliette oder Aufklärung und Moral“. 536 Peter Bürger, „Moral und Gesellschaft bei Diderot und Sade“, a. a. O. 537 Hubert Damisch, „Die maßlose Schreibweise“, in: Das Denken von Sade herausgegeben von „Tel Quel“, München, Hanser 1969, S. 82-106. 538 Gaëtan Picon, „Sade et l’indifférence“, in: ders., L’Usage de la lecture, Paris, Mercure 1960, S. 55-64, hier S. 62. 539 Pierre Klossowski, Sade mon prochain, Paris, Edition du Seuil 1967. 540 Picon, „Sade et l’indifférence, S. 61. 286 Sade-Effekt, gehorchen nach Michel Tort 541 einer obsessiven präzisen Choreographie, nach Roland Barthes einer erotischen Grammatik 542 , die gerade keine befreiende und öffnende Funktion hat, sondern den Leser mit den Personen in einem sadomasochistischen Spielfeld einschließt. Die Spielleiter eines solchen experimentellen Theaters, dessen Konzept ja schon bei Marivaux begegnet, repräsentieren den Aufstand einer zum Untergang verurteilten Tradition, in der das libertinistische Erbe kultisch überhöht wird. 543 In der manischen Beschreibung des Perversen steigert sich Rationalität ins Paroxystische; die Rhetorik der Ausschweifung tendiert, wie Barthes betont, zur écriture pure dessen, der sich in der Schrift Idée sur les romans als „homme de la nature“ begreift und alle gesellschaftlichen Fesseln abwerfen und in der Reinheit des zerebral praktizierten Verbrechens auch jedes eigene mögliche Gefühl tilgen muss: „Mais point d’amour“, heißt es einmal in den Crimes de l’amour, „du sangfroid; enchaîne-la, et ne t’en laisse pas maîtriser; si le sentiment s’en mêle, mes projets sont au diable.“ 544 Deutlich ist dies in dem relativ frühen Skandalwerk Les 120 Journées de Sodome, das 1785 begonnen wurde, unvollendet blieb und erst 1931-35 von Maurice Heine veröffentlicht wurde. Vier Hochadlige, die sich durch Betrug und Verbrechen bereichert haben, tauschen ihre Töchter/ Nichten aus, mit denen sie schon zuvor inzestuösen Verkehr hatten, und brechen nach der Hochzeit mit einem gewaltigen Tross in das abgeschirmte Schwarzwaldschloss Silling auf; ein komplizierter Tagesablauf mit Steigerungszwang von der Sodomie über Koprophagie und Nekrophilie bis zu sadistischer Quälerei und Lustmord soll zusammen mit der alten Tradition des Reihumerzählens (vgl. die Gliederung in Journées) der kalkulierten Lusterzeugung dienen. Das Werk, das zu den sog. „œuvres inavouables“ zählt, überzeugt weniger durch literarische Qualität als durch die thesenhafte Konsequenz, mit der die mimetische Funktion der Sprache durch die Rhetorik der Ausschweifung (Barthes) ad absurdum geführt wird. Lély attestierte dem Werk 541 Michel Tort, „Der Sadeeffekt“, in: Das Denken von Sade …, S. 107-133. 542 Roland Barthes, „Der Baum des Verbrechens“, in: Das Denken von Sade …, S. 391-61, bes. S. 52 f. Der Vf. spricht hier vom „panischen Charakter der Libertinage“, und der „Suche nach der totalen Figur“. (S. 53) Vgl. auch R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Paris, Seuil 1971, S. 19 ff. und bes. S. 169, „La Grammaire“. 543 Peter Brockmeier, „,Le mal s’insurge contre le bien‘. Sade et Lautréamont“, in: P. Brockmeier / Stéphane Michaud (Hrsg.), Sitten und Sittlichkeit im 19. Jahrhundert/ Les Morales au XIX e siècle, Berlin, M & P. Verlag für Wissenschaft und Forschung 1993, S. 250-277, hat - vor Bernsen - die Nähe Sades zum Begriff des schrecklich Erhabenen bei Edmund Burke und zum Geniebegriff der Encyclopédie betont und den prometheischen Charakter der Suche nach der letzten Wahrheit gezeigt. 544 Marquis de Sade, Les crimes de l’amour, Paris, 10/ 18 1971, „Introduction“ par Gilbert Lély, S. 231. Es geht um die „nouvelle tragique“, Eugénie de Franval, deren Heldin „à la fois l’horreur et le miracle de la nature“ (S. 207) repräsentiert. 287 zu Recht einen „caractère de traité médical“ 545 , dessen Voraussetzung die experimentelle Abschließung von der Außenwelt ist: „il fallait […] faire murer toutes les portes par lesquelles on pénétrait dans l’intérieur, et s’enfermer absolument dans la place comme dans une citadelle assiégée, sans laisser la plus petite issue“ (Bd. I, S. 83). Tatsächlich nimmt der Marquis hier zugleich ein Grundprinzip des experimentellen Romans vom Naturalismus zur Moderne vorweg. Entscheidend ist aber noch ein Detail, mit dem sich der Sadesche Roman von dem libertinistischen Szenario eines Laclos und anderer Autoren absetzt. Die Spielleiter nämlich sind hier die (adligen) Väter, die das Machtritual libertinistischer Selbstbestimmung in die Hand genommen haben. Anstatt in den Hintergrund zu treten oder sich mit einer Zuschauerrolle zu begnügen, beanspruchen sie die vordersten Plätze in diesem geschlossenen Universum. Wenn der Libertin - mit Roland Barthes - die Macht über die Sprache hat („Seule cette parole est libre, inventée, se confondant entièrement avec l’énergie du vice“ 546 ) dann haben die durch den Libertinismus verdrängten Väter die Macht des Wortes wiederentdeckt und damit auch den adligen Machtanspruch über bürgerliche Tugendlarmoyanz: „Dans la cité sadienne, la parole est peut-être le seul privilège de caste qu’on puisse réduire“. 547 In diesem verdunkelten Universum scheinen selbst die äußeren Kräfte (Geschichte, Kosmos) im Bunde mit den verbrecherischen Vätern zu stehen, die die Übereinstimmung mit den göttlichen Gesetzen für sich in Anspruch nehmen. In dem Justine-Roman wird die Heldin am Ende von ihren Folterern nackt ins Gewitter hinausgejagt; man will feststellen, ob Gott sie verschonen will. Der Blitz trifft das Opfer nach wenigen Schritten. Justine ou les malheurs de la vertu, verfasst 1788, publiziert 1791, ist eine Überarbeitung des ursprünglichen Werkes Les Infortunes de la vertu, das 1787 entstand und erst 1930 veröffentlich wurde. In einer überarbeiteten und erweiterten Fassung, 1797 anonym publiziert, La Nouvelle Justine ou les Malheurs de la vertu, suivie de l’Histoire de Juliette, sa sœur wird die jugendliche Opferrolle der Titelheldin durch diejenige der libertinistischen Schwester ergänzt, die bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte und in dem Roman Histoire de Juliette ou les Prospérités du vice (1790) behandelt worden war. Die monströse Doppelgeschichte über das Schicksal der beiden ungleichen Schwestern greift im Unterschied zu der ursprünglichen Konzeption auch in den historischen Bereich aus und schildert zwischen Paris, Rom und Neapel eine Welt des Grauens, in der nur das Laster triumphiert und der libertinistische Machtanspruch wie in einem wahnhaften Traum der Selbstüberhöhung zur Herrschaft gelangt ist. Die Thesen- 545 Marquis de Sade, Les 120 journées de Sodome ou l’école du libertinage, 2 Bde., Paris, 19/ 18 1975, „Préface“ de Gilbert Lély, S. 10. 546 R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, S. 36. 547 Ebd. 288 haftigkeit der Infortunes 548 weist die Erzählung als conte philosophique aus, der sich indessen als weiblicher Memoirenroman die Perspektive des tugendhaften Opfers zu eigen macht. Die „histoire de ma vie“, „l’exemple le plus frappant des malheurs de l’innocence“ (S. 34), übernimmt mit dem Konfessionsgedanken auch die Vorstellung einer negativen Auserwählung von Prévost: „Sous quelle étoile fatale faut-il que je sois née, me dis-je, pour qu’il me soit devenu impossible de concevoir un seul sentiment de vertu qui n’ait été aussitôt suivi d’un déluge de maux […]? “ (S. 179) Auch der Ausgangspunkt erinnert an Manon Lescaut. Die libertinistische, aber noch nicht völlig verdorbene Juliette wird bei einem Gefangenentransport auf ein junges Mädchen aufmerksam, dessen Geschichte sie sich erzählen lässt und in der sie ihre Schwester Justine-Sophie wiedererkennt. Justine-Sophie kommt frei und zieht mit Juliette auf ein Landgut, wo sie zum Opfer eines Verführers wird und am Ende in dem Augenblick vom Blitz erschlagen wird, als sie helfen will. Der erbauliche Schluss, wonach „le véritable bonheur n’est que dans le sein de la vertu“ (S. 187) und Gott das irdische Martyrium vergilt, kann angesichts einer providence, die selbst gute Ansätze ins Böse umschlagen lässt, nur als bittere Ironie bezeichnet werden; denn das Gute wird auf diese Weise praktisch unmöglich. Ähnlich wie Voltaire in Candide häuft Sade die grotesken Umschläge aufeinander: Eine Falschmünzerei wird entdeckt, als der wahre Verbrecher in Sicherheit ist, doch sein unschuldiger Nachfolger wird hingerichtet; Sophie will ein Kind aus den Flammen retten und lässt es unwillkürlich, durch eine „impulsion de la nature“ (S. 174), fallen; ein Unbekannter, den sie retten will, stirbt in ihren Armen und lenkt so den Mordverdacht auf sie; usw. Die junge Heldin besetzt eine paradigmatische Opferrolle, die nicht einmal geadelt wird, erscheinen doch Tugend und Reue als Frucht eines unreifen, nicht aufgeklärten Verstandes, „seul fruit de l’ignorance, de la pusillanimité et de l’éducation“ (S. 162), während die Bosheit des Menschen die adäquate Antwort auf die Herrschaft des Bösen „dans un monde totalement corrompu“ (S. 158) ist. Die Ordnung der Welt wird hier durch die Tugend gestört, die folglich eliminiert werden muss. Noch einmal bemüht der Autor das Schema der aufklärerischen Initiation, das hier der depravierten Dubois als weiblichem Mentor in den Mund gelegt wird. Die Lehre krönt den negativen Erziehungsprozess. Wie die Heldin zuvor einen „cours de libertinage aussi complet que la fille du monde la plus stylée à ces exercices impurs“ (S. 119) absolviert und später - auf eigene Kosten - in die „exécrables jouissances“ sadistischer Lust eingeführt wird (S. 147), wird sie am Ende mit den Grundlagen einer negativen Theodizee des Schreckens vertraut gemacht. Michael Bernsen spricht von einer „En- 548 Zitate nach Marquis de Sade, Les Infortunes de la vertu, Paris, 10/ 18 1968, „Introduction“ par Gilbert Lély. 289 zyklopädie des Schreckens“ 549 , die gegen Rousseau gerichtet die optimistischen Grundlagen der Aufklärung zerstört und jugendliche Emanzipation zwischen Depravierung und Opferrolle ansiedelt. Die gesuchte Befreiung ist die Befreiung der Wissenden und Perversen, die ihren Machtanspruch gegen die Opfer geltend machen. 550 In der dritten Fassung des Justine-Romans werden wir es folglich mit einer libertinistischen Verschwörung in allen Bereichen der Gesellschaft zu tun haben. Dass die über ein Jahrhundert in den ‚Giftschrank‘ verbannten Werke des Marquis neuerdings in den Rang von - verkannter! - Weltliteratur erhoben werden, sollte nicht vergessen lassen, mit welcher Unbekümmertheit der Autor die wesentlichen Traditionen des 18. Jahrhunderts plagiiert und so auch in formaler Hinsicht den Kreis schließt, indem er praktisch eine ganze Tradition mittels intertextueller Techniken dekonstruiert. Roland Barthes hat von einem pikaresken Autor gesprochen, der kein Ziel mehr hat; die „pérégrination romanesque“ „est mate et comme insignifiante, soustraite à toute transcendance, dépourvue de terme: elle ne révèle pas […], ne transforme pas, ne mûrit pas, n’eduque pas [...], ne récupère rien sinon le présent lui-même“ 551 . Das Leitmotiv der Erziehung zum Genuss, das Valérie Van Crugten-André 552 für den spätlibertinistischen Roman und Sade geltend gemacht hat, ist so tatsächlich nur Verpackung und Einkleidung für die ermüdende Aufzählung. Dieses zugleich monomanische und monotone Tendenz verstärkt sich in den sog. „œuvres inavouables“, während sich der Autor in dem einzigen, zu Lebzeiten veröffentlichten Roman noch um eine minimale Konsequenz bemüht. In Aline et Valcour, ou le roman philosophique 553 wird der libertinistische Roman zum philosophischen Roman; Schicksalsroman und Pikareske fallen ebenso zusammen wie Briefroman und Memoirenperspektive. Im Avis de l’Editeur des schon 1786 begonnenen, aber erst 1795 vollendeten Roman, „écrit à la Bastille un an avant la Révolution en France“, rühmt sich der Autor überdies der „réunion dans le même ouvrage de trois genres: comique, sentimental et érotique“ (S. 20). Und eben diese synthetisierende Tendenz trägt zur Ambiguisierung aller Aussagen und letztlich zur Infragestellung des aufklärerischen Emanzipationsgedankens selbst bei. Denn durch die gattungsspezifische Perspektivierung wird die Austauschbarkeit, je Beliebigkeit der moralischen Normen im Zeichen des aufklärerischen Naturbegriffs vorgeführt. Das Grundschema von Aline et Valcour ist 549 M. Bernsen, Angst und Schrecken ..., München, Fink 1996, S. 248. 550 Vgl. Léopold Ducloux, „Sade: ambiguïté d’une apothéose“, in: La Nouvelle Critique 181 (1960-61), S. 57-74. 551 R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, S. 153 f. 552 Valérie Van Crugten-André, Le roman du libertinage 1782-1815. Redécouverte et réhabilitation, Paris, Champion 1997 (Les dix-huitième siècles, 9), bes. 306-317 und S. 321-332. 553 Marquis de Sade, Aline et Valcour ou Le roman philosophique, 2 Bde., Paris, 10/ 18 1971, „Préface“ par Gilbert Lély. 290 das der verfolgten Unschuld, das in zwei parallelen Handlungssträngen ‚durchgearbeitet‘ wird. Der Protagonist ist entsprechend der libertinistischen Tradition der ausschweifende und grausame Parlamentspräsident Blamont, der seine Tochter Aline mit dem ihr verhassten Financier Dolbourg verheiraten will. Der Name soll natürlich an Valmont bei Laclos erinnern. Die Handlung setzt ein mit der Entführung von Sophie, die er für seine nach der Geburt in Pflege gegebene Tochter hält und die er später im Tausch für die Töchter Dolbourgs als Lustobjekt anbieten wollte. Das Opfer der Intrige ist Valcourt - der Name erinnert an den Gercourt in den Liaisons dangereuses -, der einem Anschlag nur knapp entgeht und am Ende in einem Kloster Zuflucht findet. Durch verschiedene Zufälle im Stil des Schicksalsromans bleibt die Identität der echten Tochter dem Präsidenten verborgen. Sophie, inzwischen missbraucht und misshandelt, begibt sich unter den Schutz der tugendhaften Gattin des Verbrechers, doch gelingt es Blamont, sie erneut zu entführen und zu missbrauchen. Dabei hält er sie noch immer für seine Tochter. Nach einer Reihe von Intrigen gibt sich Sophie selbst den Tod; Blamonts Gattin, die den Plänen des Präsidenten im Weg ist, stirbt an Gift. Ein scheinbar erbauliches Ende mit der Bekehrung Dolbourgs und der Flucht Blamonts nach England (wo er ermordet wird) beschließt diese ‚liaisons dangereuses‘, die den Rousseauschen Optimismus widerlegen sollten: „et voilà donc les hommes! Est-il possible qu’on ne trouve jamais avec eux que fourberie, débauche, méchanceté, trahison, violence? … Est-ce donc là l’ouvrage d’un être bon? “ (Bd. II, S. 268) Doch die Opferrolle ist hier ambivalent. In ihrer Studie über The Sadian Woman hat Angela Carter 554 den selbstzweckhaften, egoistischen Charakter auch der tugendhaften Sophie betont, die ihre Freiheit selbst verspielt und so zum Urbild des passiven Frauentypus der folgenden Jahrhunderte wird. Ein zweiter Erzählstrang innerhalb der Haupthandlung betrifft die zweite Tochter Léonore, von der bisher nur kurz die Rede war. Auch sie ist zunächst das verfolgte Opfer, gewinnt aber zusehends an Statur. Mit ihrem Mann Sainville kommt sie während der Abwesenheit des Präsidenten zufällig in das Haus Blamonts. Der Leser erfährt von den Irrfahrten der beiden Liebenden, die nach der Entführung der Geliebten aus einem Kloster in Venedig gewaltsam getrennt wurden. Das Heliodorsche Schema erlaubt zunächst, Sainville zum Helden einer Odyssee à la Télémaque 555 zu machen. Dessen Aufenthalt bei dem Eingeborenenstamm der Monomotapa, in dem Kannibalismus, Gewalt und Perversion an der Tagesordnung sind, widerlegt die aufklärerische Vorstellung vom Edlen Wilden. Als negativer Initiator und philosophe zerstört 554 Angela Carter, The Sadian Woman, London 1979, dt. Sexualität ist Macht. Die Frau bei De Sade, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1981, S. 74 f. 555 Vgl. Roger Mercier, „Sade et le thème des voyages dans Aline et Valcour“, in: DHS 1 (1996), S. 337-352. 291 der Portugiese Sarmiento die tugendhaften Vorurteile Sainvilles und verkündet eine Apologie des Bösen als Grundlage naturgemäßen Handelns. 556 Auf den Anti-Télémaque folgt die sozialistische Utopie der Insel Tamoé (im Stil Fontentelles), wo ein roi-philosophe bereit ist, seine Macht an eine republikanische Staatsform abzugeben. Sprecher ist hier der Weise Jauné, der seine Theorie eines „esprit des lois“ 557 entwickelt. Während dessen muss Léonore ihre Tugend und Treue gegen die unausgesetzten Übergriffe der Männer in einer wölfischen Welt verteidigen. Als eine Art Anti-Cunégonde (Candide) flieht sie über Kario und Westafrika in das Königreich der Butua, ohne zu wissen, dass sich ihre Flucht mit dem Lebensweg des Geliebten mehrfach gekreuzt hat. Nachdem sie beide in Spanien beinahe Opfer der Inquisition geworden sind, finden sie endlich in Frankreich wieder zueinander. In einem Gespräch unter Frauen wird sie darüber aufgeklärt, dass „les passions de l’homme sont inconcevables“ und dass der libertinistische Exzess nicht die Gegenseite der Empfindsamkeit darstellt, sondern deren folgerichtige Konsequenz: „Tout homme naît avec plus ou moins de dispositions à ces écarts qui te surprennent […]“ (Bd. II, S. 98), wird die Heldin belehrt. Das Verbrechen ist nichts anderes als „le ton excessif des passions“, „une flamme ardente qui consume tout ce qu’elle rencontre, et qui regarde comme un aliment de plus à son ardeur tout ce qu’on lui présente pour l’étouffer.“ (Bd. II, S. 98) Die Haupthandlung erweist sich als Extremführung der anthropologischen, im Laufe der Irrfahrten erworbenen Erkenntnis, dass es keine zwei Welten (tugendhaft vs. libertinistisch) gibt und dass das Ausmessen der Grenzen, das allein auch den extremen Genuss verspricht, durchaus naturgemäß ist: „Etudions la nature; suivons-la jusque dans ses bornes les plus éloignées de nous; travaillons même à les reculer […] nous ne sommes faits que pour les suivre […]“. (Bd. II, S. 318) Der Roman zieht die fiktionalen Konsequenzen aus den experimentellen Prämissen der Frühaufklärung. Nicht zufällig macht selbst das Opfer Aline in einem Abschiedsbrief an Valcour die Notwendigkeit des Heraustretens aus dem Irdischen Paradies geltend, um (im Sinne Schillers? ) den Weg der notwendigen Erfahrung vor dem noch Schlimmeren zu preisen: „Remercions l’Eternel de nous avoir présenté le calice avant qu’il ne fût plus amer […].“ (Bd. II, S. 499) Der tugendhafte Schluss verdeckt nicht die gegenläufige leçon eines Libertinismus, der an Extremerfahrung gebunden ist und aus dem der Mensch allein seine innere 556 Vgl. D. Favre, Sade utopiste. Sexualité, pouvoir et Etat dans le roman „Aline et Valcour“, Paris, Presses Universitaires de France 1967. 557 Gilbert Lély, „Préface“, S. 10. Vgl. B. Wagner, „,Schwarze‘ und ‚weiße‘ Utopien und ein Garten des Marquis de S. (Zu Aline et Valcour), in: B. W. (Hrsg.), Gärten und Utopien. Natur und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung, Wien u. a., Böhlau 1985, S. 160-175. Ferner H. A. Glaser, „Utopie und Gegenutopie. Zu Sades Aline et Valcour“, in: Poetica 13 (1981), S. 67-81. 292 Überlegenheit bezieht. Denn: „l’homme parfaitement heureux pourrait bien être celui qui, renversant toutes vos idées sociales, se ferait des vertus de vos vices et de toutes vos vertus.“ (Bd. II, S. 455) Die Umwertung aller Werte privilegiert hier im Übrigen nicht die schwachen jungen Helden, die in ihrer ironischen Titelheldenrolle zu bloßen Opfern und Zuschauern degradiert werden, sondern die überlegenen ‚Väter‘, die ihre Lektion gelernt haben und aus philosophischer Erkenntnis heraus handeln: „ce n’est que par réflexion que pêche l’homme mûr, ses fautes émanent de sa philosophie.“ (Bd. I, S. 160 ff.) Wenn Verderbnis naturgemäß ist und „l’homme se corrompt dans le sein de la nature“ (Bd. I, S. 317), wie es in einem Gespräch zwischen dem negativen Philosophen Sarmiento und der - Prévost nachempfundenen - Tugendgestalt Valcour einmal heißt, dann ist jeder Tugendansatz dem zentralen Gesetz unterworfen, wonach „le vice écrasera la vertu“ (Bd. II, S. 389). Sarmiento (in exotistischer Umgebung) und Blamont verweisen wechselseitig aufeinander; sie vertreten offensichtlich gegen die tugendhaften Stimmen die eigentliche Wahrheit des Romans. Léonore gewinnt nicht zuletzt dadurch an Statur, dass sie dem Vater Blamont gegen Ende immer ähnlicher wird. Denn der verbrecherische Vater ist hier der ‚gute‘ Vater. Der Roman thematisiert die Revanche der Väter gegenüber dem Aufstand der Söhne. 293 XII. Bernardin de Saint-Pierre und Louis Sébastien Mercier: Fallbeispiele der tragischen vaterlosen und der missglückten väterlichen Idylle 1. Bernardin de Saint-Pierre und die idealen Mütter Im Ausgang des Jahrhunderts mündet die versuchte Befreiung von väterlichen Zwängen in den großen idyllischen und exotistischen Roman Paul et Virginie (1787) des Rousseau-Schülers Bernardin de Saint-Pierre. Das wahrscheinlich bewusst gegen Laclos und Rétif de la Bretonne geschriebene Werk ist Gegenentwurf und utopisches Projekt, das die klassenübergreifende mütterliche Idylle gegen die brutale männliche Sklavenhalter-Gesellschaft in Stellung bringt und an den eigenen verdrängten Widersprüchen scheitert. Ähnlich wie bei Mercier ist die tugendhafte Liebe und reine Empfindsamkeit an das Motiv der Kinderliebe gebunden, und wie bei jenem steht die familiäre Geborgenheit den Gefährdungen durch die Gesellschaft gegenüber. Jene trägt denn auch die Schuld für den tragischen Ausgang, der Generationen von Lesern zu Tränen gerührt hat. Hinrich Hudde 558 hat die lange Rezeptionsgeschichte untersucht, die den Roman zugleich zu einem Wegbereiter der Romantik macht. Zu den Bewunderern gehörten Napoleon und Chateaubriand, Nodier und Balzac oder George Sand. Noch Flaubert lässt seine Heldin Emma Bovary in ihrer Jugend Paul et Virginie lesen, freilich jetzt mit der Absicht, die ‚bovarystische‘ Verleugnung der Wirklichkeit deutlich zu machen. Lithographien und Holzschnitte sorgen darüber hinaus für die Popularisierung des Stoffes, den ein holländischer Reisender von 1819 selbst auf den Tapeten von Wirtshäusern wiedererkennt. Anders als es bei den meisten anderen Werken des 18. Jahrhunderts der Fall ist, hat der Roman seine Beliebtheit bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts bewahrt. Zwischen 1788 und 1967 zählt man im Durchschnitt pro Jahr 1 ½ Editionen. Die höchsten Werte erreicht die Bewertungsskala zwischen 1928 und 1938. Theaterbearbeitungen, Filme und sogar eine bande dessinée (Paris Match 1966) bezeugen die fortdauernde ideologische Verwertbarkeit des Romans, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - mit dem Entstehen einer breiten Jugendbuchliteratur - neben der Comtesse de Ségur oder Jules Verne - auch als Kinder- und Jugendbuch adaptiert wurde. Dabei ist der Roman - ähnlich übrigens wie bei Laclos - eher ein Zufallsprodukt. Als vierter Band der Etudes de la nature, die der Autor seit seiner Freundschaft mit Rousseau 1772 ausarbeitete, hat er exemplarischen oder 558 Hinrich Hudde, Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie. Studien zum Roman und seiner Wirkung, München, Fink 1975 (Münchner romanistische Arbeiten, 41). 294 wenn man so will: auch experimentellen Charakter. Der 1737 in Le Havre geborene Bernardin de Saint-Pierre, Ingenieur, Sozialreformer und Naturforscher, hatte 1761 nach Abschluss seiner Ingenieursstudien zunächst einmal ausgedehnte Reisen unternommen, Malta, Russland und Polen besucht, um sich nach den Möglichkeiten zur Verwirklichung eines Jugendtraums, der natürlichen Republik, umzusehen. Von 1768 bis 71 hatte er sich in Madagaskar und auf der Insel Mauritius, der damaligen Ile de France, aufgehalten, einem scheinbaren irdischen Paradies, dessen Idylle nur durch die sozialen Verhältnisse und die Probleme der Sklaverei getrübt wurde. Naturkunde, Idylle und Sozialkritik prägen daher nebeneinander den nachfolgenden Bericht Voyage à l’Ile de France von 1773, mit dem der Autor zugleich ein neues Kapitel exotistisch deskriptiver Prosa aufschlägt. Das Thema der Sklaverei gewann in den folgenden Jahren verstärkte Bedeutung, und auch der spätere Roman kann wenigstens zum Teil als Beitrag zu diesem Thema gelesen werden, das 1781 in den Réflexions sur l’esclavage des nègres (unter einem Pseudonym) von Condorcet behandelt wurde. Während der Revolutionsjahre war der Autor Intendant des Jardin des Plantes, später Professeur de morale an der Ecole Normale Supérieure und seit 1795 Mitglied des Institut Français. Er starb 1814. Sozialkritik und Naturidylle haben ihren gemeinsamen Ort in einem optimistischen Naturbegriff, der ausgehend von Rousseau bis in das Zeitalter Napoleons hinein nachwirkt und verbunden mit illuministischen Strömungen nach 1800 die modische Harmonie- oder Kompensationslehre begründet, wonach ein Gesetz des universellen Ausgleichs alle Lebensäußerungen bestimmt. Die Etudes de la Nature sind pastoral-idyllische Naturstudien, z. T. utopischen Charakters, die das Ziel verfolgen, das Wirken der Vorsehung in der Natur zu beweisen. Mensch und Natur befinden sich nach dieser Lehre in einem kosmischen Zusammenhang, der mit moralischer, tugendhafter Sinngebung identisch ist. Die Einfühlung in diese Ordnung - nach dem Vermögen der sensibilité - bringt Glücksverlangen und Moral in Übereinstimmung und ist natürlich unabhängig von ständischer Gebundenheit: „Je ne désire pour amis que des âmes simples, vraies, douces, innocentes et sensibles. Elles m’intéressent plus innocentes que savantes, souffrantes qu’heureuses, dans des cabanes que dans des palais.“ 559 Einen ersten praktischen Entwurf bietet das Fragment L’Arcadie, das vor 1784 redigiert wurde und die soziale Umsetzung des Traumes vom natürlichen Leben vorführt. Wie bei Rousseau geht es um die erste und frühe Stufe der Vergesellschaftung nach dem état primitif. Arkadien liegt zwischen dem barbarischen und noch wilden Gallien und dem hochzivilisierten, dekadenten Ägypten und ist durch die bürgerlichen, weiblich konnotierten Tugenden Naturliebe, Got- 559 Etudes de la nature, Œuvres de Jacques-Henri-Bernardin de Saint-Pierre, éd. par L. Aimé- Martin, Paris 1836, Bd. IV, S. LXXX. 295 tesfurcht, Keuschheit und Ehrbarkeit geprägt. Entscheidend ist - wie im Préambule zum Roman - der Kult der Familie und der Frau, die als „fondatrice d’une société humaine“ 560 gleichsam jenseits aller gesellschaftlichen Unterschiede die natürliche Gesellschaft gewährleistet. Ideologiegeschichtlich steht Bernardin de Saint-Pierre damit natürlich in der Tradition des bürgerlichen Familienparadigmas, das besonders durch das modische Rührstück und die zeitgenössische Malerei verbreitet wird. Man denke nur an die Stücke Diderots Le Père de famille, Le Fils naturel oder an Titel wie La Bonne mère, La Mère laborieuse, le Retour de l’enfant prodigue usw. In geistes- und gattungsgeschichtlicher Perspektive ist aber wesentlich, dass der Autor solche zeitgeschichtlichen Vorstellungen in das pastorale und bukolische Paradigma überführt und zudem mit dem exotistischen Mythos der ursprünglichen Paradiese verbindet. In seinem Avant-Propos 561 spricht er von der pastoralen Tradition, die er in ein tropisches Ambiente übertragen habe und im Préambule stellt er seine „humble pastorale“ (S. 5) in eine Reihe mit der klassischen Tradition. Die Georgica Vergils wurden ja wenig später vom Abbé Delille unter dem Titel L’Homme des champs übersetzt und umgedichtet. Pate standen dabei die Dichtungen Albrecht Hallers, die Idyllen Gessners und der Essai sur la pastorale (1787) des empfindsamen Romanciers und Fabeldichters Jean Pierre Calris de Florian (Galatée, roman pastoral, 1783). Mit Florian, dem Autor von Estelle et Némorin (1788), hat Bernardin auch das Thema der Kinder- und Jugendliebe gemein, das mit dem Paradigma der Ursprünglichkeit und Unschuld verbunden wird. Auch in diesem Fall wird ein antikes Vorbild, nämlich Daphnis und Chloë, von Longos, unter empfindsamen Vorzeichen neu interpretiert. Der Inhalt des Romans geht auf ein Fait divers vor der Insel Mauritius zurück. Beim Kentern eines Schiffes vor der Küste hatte ein Mädchen ihren Retter mit in den Tod gerissen, weil es sich weigerte, die Kleider abzulegen. Auf der Ile de France begegnet das Erzähler-Ich einem alten Mann, der sich beim Anblick zweier verlassener Hütten an die Geschichte von Paul und Virginie erinnert. Er erzählt ihm die „histoire touchante“ der beiden Kinder, die zugleich ein Exempel der geretteten Unschuld und ein Beispiel für die Opfer der Gesellschaft ist. Thema ist eine weibliche „colonie“, die bereits Züge der Sozialromantik des 19. Jahrhunderts vorwegnimmt. Zwei Mütter, die adlige Madame de la Tour, die ihren bürgerlichen Mann nach einer illegalen Liebesheirat in Madagascar verloren hat, und die bäuerliche Bretonin Marguerite, die von einem adligen Libertin sitzen gelassen wurde, tun sich mit ihren Kindern Virginie und Paul zusammen und beschließen, ihre Kinder gemeinsam zu erziehen. Die treuen Sklaven Dominique und Marie ver- 560 Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie, éd. par Pierre Trahard, Paris 1964 (Les Classiques Garnier), Préambule, S. 57. 561 Ebd., S. CXLV f. 296 vollkommnen die Familienidylle und fühlen sich den beiden Familien zugehörig. Das Leben der beiden Kinder verrinnt in den einfachen Verrichtungen des Alltags und ist von der paradiesischen Natur im Osten der Insel geprägt: Die Anlage eines Gartens, das Füttern der Vögel, Spaziergänge füllen die „première enfance comme une belle aube qui annonce un plus beau jour“ (S. 91). Die Lebensproblematik kommt von draußen: Eine zerlumpte entlaufene Sklavin steht eines Tages vor den Hütten und fleht um den Schutz der Kinder, deren Mütter zur Messe gegangen sind. (Der Autor verwendet hier eine autobiographische Episode, die er im Voyage à l’Ile de France berichtet.) Paul und Virginie begleiten sie zu ihrem grausamen Herrn zurück und erlangen Straffreiheit, freilich - wie es heißt - „non pas pour l’amour de Dieu, mais pour l’amour d’elle“ (S. 97), d. h. unserer Heldin, deren jungmädchenhafte Schönheit tiefen Eindruck auf den Sklavenhalter gemacht hat. Unterschwellig klingt so das Thema des Erwachsenwerdens und der Gefährdung durch die Sexualität an. Das Erwachen der Sinnlichkeit in der Pubertät wird denn auch von dem Mädchen als „un mal inconnu“ erfahren, und die bisherige geschwisterliche Vertrautheit macht einer gewissen Befangenheit Platz. Die erotischen Etappen werden symbolisch angedeutet: Auf dem Rückweg von der Sklavenplantage verirren sich die beiden Protagonisten im Wald, und als Paul Virginie über einen Bach trägt, fühlt er bis dahin unbekannte zärtliche Regungen. Wenig später - in einer schwülen Tropennacht - badet Virginie in der nahen Quelle, denkt an Paul und fühlt sich von einem „feu dévorant“ ergriffen (S. 134). Die dritte Stufe, die Zerstörung des Vogelparadieses durch einen Wirbelsturm, bezeichnet das Ende der kindlichen Idylle. Mme de la Tour, die die beiden Kinder verheiraten möchte, erhält einen Brief aus Paris: Die Tante Virginies bietet eine standesgemäße Erziehung in Frankreich an. Vergeblich wehren sich die Kinder gegen das Zuraten auch des Gouverneurs und des Beichtvaters; ein wohlgefüllter Beutel Geld soll die Entscheidung erleichtern und zieht sogleich die Begehrlichkeit der Händler auf sich. Virginie wird ausgestattet und schifft sich nach Paris ein. Indessen wird die Zeit bei der dünkelhaften, hartherzigen und geizigen Tante zum Martyrium. Erst nach längerer Zeit erhalten die Familien einen verzweifelten Brief, nachdem offensichtlich frühere Briefe abgefangen worden waren. Für noch größere Unruhe sorgt das Gerücht einer bevorstehenden Heirat mit einem Edelmann bei Hofe. Paul, der sein Herz bei dem alten Mann ausschüttet, ist „accablé de mélancolie“ (S. 174) und wird von seinem väterlichen Mentor über die Verhältnisse in Europa aufgeklärt. Der lange direkte Dialog ist ein Muster aufklärerischer Didaktik und dient hier dem Ziel, Tugend und Arbeitsethos gegen ständische Borniertheit und die Sucht nach Bereicherung zu setzen. Es ist zugleich ein Plädoyer gegen den kolonialen Status der Insel, auf die man ja - wie es einmal heißt - komme, um sich zu bereichern: „faire la fortune“. Als die Tante daher Virginie enterbt, weil diese sich einer Geldheirat verweigert, ist Virginie schutzlos und kündigt 297 ihre rasche Rückkehr an. Paul erwartet die Ankunft des Schiffes, als ein plötzlicher Seesturm losbricht und die Landung unmöglich macht. Hilflos muß Paul vom Ufer aus zusehen, wie das Schiff kentert. Vergeblich versucht er das Schiff zu erreichen. Wie die Zuschauer später von einem geretteten Matrosen erfahren, hat dieser sich vor Virginie geworfen und sie beschworen, sich ihrer Kleider zu entledigen, damit er sie schwimmend retten könne. Doch Virginie war standhaft und hatte den Tod vorgezogen. Das Begräbnis im Beisein des Gouverneurs und der ganzen Inselbevölkerung wird zur Apotheose der Tugend. Aber Paul stirbt zwei Monate später an gebrochenem Herzen, und wenig später sterben auch die beiden Frauen. Die symbolische Struktur des Romans, der nicht zufällig an der Schnittstelle zwischen der exemplarischen Tradition der auktorialen Erzählformen von conte und nouvelle (historique) und des in die Erzählung eingeschobenen Erfahrungsberichts steht, ist offensichtlich. Denn abgesehen von der Rolle, das berichtete Geschehen zu beglaubigen und den auktorialen Modus zu umgehen, führt der fiktionsinterne Erzähler die Rolle des erklärenden Weisen im utopischen Roman fort und sorgt für eine ‚väterliche‘ Sicht auf die vaterlose Handlung, die immer noch Züge des conte philosophique trägt. Einer ersten Phase des Glücks und der Unschuld in Übereinstimmung mit der Natur entspricht die zweite Phase des Unglücks und der Entfremdung unter den verschiedenen Einflüssen der Gesellschaft. Die Entwicklung der Handlung suggeriert die Vertreibung aus dem Paradies und dessen Rückgewinnung am Schluss - doch nur unter Preisgabe des Lebens. Das natürliche Paradies, nicht die Personen stehen im Vordergrund: Erstmals im Roman des 18. Jahrhunderts beginnt ein Roman mit der Beschreibung der Örtlichkeiten der Handlung 562 - auch dies eine Vorwegnahme des Milieubegriffs im bürgerlichen Roman -, und die summarische Deskription der Ostküste der Insel führt zu dem umschlossenen Bereich des „bassin“ hinter den Bergen, die die exotistische Variante des Irdischen Paradieses abschließen: Un grand silence règne dans leur enceinte, où tout est paisible, l’air, les eaux et la lumière. A peine l’écho y répète le murmure des palmistes qui croissent sur leurs plateaux élévés, et dont on voit les longues flèches toujours balancées par les vents. Un jour doux éclaire le fond de ce bassin, où le soleil ne luit qu’à midi; mais dès l’aurore ses rayons en frappent le couronnement, dont les pics s’élevant au-dessus des ombres de la montagne, paraissent d’or et de pourpre sur l’azur des lieux. (S. 78 f.) Die für ihre Anschaulichkeit berühmte Stelle schildert einen Ort gesellschaftsenthobener Gemeinsamkeit jenseits gesellschaftlicher Zwänge. Das 562 Vgl. J. M. Racault, „Système de la toponymie et organisation de l’espace romanesque dans Paul et Virginie“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 242 (1986), S. 377- 419. 298 ursprüngliche Paradies ist ein zeitloses, nicht von der Zivilisation beeinträchtigtes Refugium, das von der natürlichen und das heißt hier auch: von einer weiblichen Ordnung bestimmt ist: „Paul et Virginie n’avaient ni horloges, ni almanachs, ni livres de chronologie, d’histoire, et de philosophie. Les périodes de leur vie se réglaient sur celles de la nature.“ (S. 129) Aber dieses Paradies ist zugleich ein Fluchtraum, in dem die beiden Familien nach den Erfahrungen in der Gesellschaft ein prekäres Glück gefunden haben und das jederzeit von außen bedroht ist. Daher der starke Dualismus: Drinnen- Draußen, Geschützt-Offen, Überschaubar-Amorph. Nicht die Insel an sich ist ja das Paradies, sondern nur der engere Lebensraum, dessen Kreisförmigkeit Geschlossenheit symbolisiert und gegen das Außen abgeschirmt ist: „comme si des rochers étaient des remparts contre l’infortune, et comme si le calme de la nature pouvait apaiser les troubles malheureux de l’âme“ (S. 82). Selbst die Pflanzung Pauls ist kreisförmig: „Ce vaste enclos paraissait de son centre comme un amphithéâtre de verdure, de fruits et de fleurs, […] il avait pratiqué un sentier qui tournait autour de ce bassin et dont plusieurs rameaux venaient se rendre de la circonférence au centre.“ (S. 111) Die Metaphorik der „enceinte“ und des Nestes (nid) unterstreicht das Gesagte. Wir haben es also im Sinne von Gaston Bachelards „phénoménologie du rond“ 563 mit dem Sinnbild des in sich ruhenden Lebens zu tun, das entsprechend Erich Neumann 564 auf eine kindliche Stufe verweist. Es ist das Reich der MÜTTER, unter Ausschluß der Väter und damit offenbar auch der Sexualität. „Au matin de la vie, ils en avaient toute la fraîcheur: tels dans le jardin d’Eden parurent nos premiers parents, lorsque, sortant des mains de Dieu, ils se virent, s’approchèrent, et conversèrent d’abord comme frère et comme sœur.“ (S. 130) Bernardin de Saint-Pierre hat hier den einleitenden Satz des Émile von Rousseau in romanhafte Koordinaten übersetzt. In seiner semiotischen Analyse des Romans hat Philip Mestry die biblischen Konnotationen der „plénitude édénique“ wiedergefundener Unschuld verfolgt. 565 Utopien haben immer wieder Probleme mit der Sexualität, und die Brüderlichkeitsrhetorik überdeckt die Angst vor der Zerstörung der gleichbleibenden kreisförmigen Ruhe. Hier liegt auch die eigentliche Problematik dieses tugendhaften Liebesromans, der mit den Vätern auch Entwicklung und Geschichte auszuschließen scheint. Denn im Gegensatz zu dem oben genannten harmonistischen Naturbegriff nistet der Keim des Unglücks auch in der Naturidylle selbst und ist nicht nur an das feindliche Draußen gebunden, wie Mme de la Tour meint: „Oh! mes chers enfants, le malheur ne m’est 563 Gaston Bachelard, La poétique de l’espace, Paris, PUF 1957, S. 210ff. 564 Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. Mit einem Vorwort von C. G. Jung, Zürich, Rascher 1949. 565 Philip Mestry, Une analyse des macro-structures de „Paul et Virginie“, Paris, Nizet 1990, S. 43 ff. 299 venu que de loin; le bonheur est autour de moi.“ (S. 95) Das zeigt die Begegnung mit dem Sklavenhalter, das anschließende Motiv des Sichverirrens und nicht zuletzt das Bad in der Quelle. Wald, Wasser und Nacht symbolisieren eine bedrohliche Natur, und während Paul, der sich noch im Stande der Unschuld befindet, Virginie über den Bergbach tragen kann, ist es ihm am Ende nicht mehr möglich, Virginie aus dem Aufruhr der Elemente zu retten. Das weibliche Element des Wassers selbst symbolisiert zugleich Geborgenheit und Gefahr. Dabei weist schon die Zerstörung des Vogelparadieses durch den Orkan auf den späteren Seesturm voraus und zeigt die geheimnisvolle Beziehung zwischen Liebe und Tod. Das mitternächtliche Bad Virginies ist, wie Hinrich Hudde 566 gezeigt hat, als abgebrochener Individuations- und Bewusstwerdungsprozess zu verstehen, aber als Verbindung von Wasser und Feuer, Nacht und Tag bezeichnet es auch die mythische Wende, von der aus das tragische Geschehen der Entfremdung bis zum Tod seinen Lauf nimmt. Die angedeutete Sinnlichkeit steht im Zeichen der Tugend, die von der mütterlichen Instanz vertreten wird: „Songe que nous ne sommes sur la terre que pour exercer la vertu.“ (S. 134) Die Quelle der Erkenntnis ist zugleich die Quelle der Lust und fordert daher die kosmische Rache heraus: Auch sie wird von dem Sturm zerstört und deutet wiederum auf eine ambivalente Natur. Erst jetzt können die perfiden Außeneinflüsse zur Geltung gelangen. Die grundlegende symbolische Ambiguität berührt selbstverständlich auch die Gesamtinerpretation des Romans. In welchem Verhältnis stehen ursprüngliche Tugend und abschließender Opfertod zueinander? Bezahlt Virginie den Ausflug in die Gesellschaft mit dem Leben oder übernimmt sie gar deren Werk? 567 Virginie ist ja auch die Reinkarnation der klassischen Virginia, die ihre Keuschheit mit dem Tod bezahlt, und als solche erscheint sie als eine Variante des im 18. Jahrhundert vorrangigen Motivs der verfolgten Unschuld. Oder ist Virginie gar, wie Mestry argumentiert, ein weiblicher Messias, der in der angedeuteten „Quête de l’argent“ die Rolle eines Sühneopfers spielt? 568 Sie wehrt sich gegen die Begehrlichkeit des Sklavenhalters ebenso wie gegen den Versuch der Tante, sie durch eine Geldheirat zu korrumpieren; aber sie wehrt sich auch dagegen, gerettet zu werden und zerstört damit die Möglichkeit der Vereinigung mit Paul. Die Neuinterpretation des römischen Virginia-Stoffs, in dem der Vater die geschändete Ehre der Tochter durch deren Tod wiederherstellt, macht in ihren christologischen 566 Hinrich Hudde, a. a. O., S. 52 ff. Vgl. auch ders., Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie (1788), in: Dietmar Rieger (Hrsg.), 18. Jahrhundert. Roman, Tübingen, Stauffenburg 2000, S. 303-326. 567 Hierzu J. M. Racault, „Virginie entre la nature et la vertu: cohésion narrative et contradictions idéologiques dans Paul et Virginie“, in: XVIII e siècle 18 (1986), S. 389-404. 568 Philip Mestry, Une analyse …, S. 82 und ff. 300 Konnotationen auf das Fehlen der normsetzenden Vaterfigur aufmerksam und scheint damit auch die Lebensfähigkeit der vaterlosen Idylle in Frage zu stellen. Der einfache Tugendglaube der Mutter erweist sich als irrig: „Elle sera vertueuse, dit-elle, et elle sera heureuse. Je n’ai connu le malheur qu’en m’écartant de la vertu.“ (S. 85) Und problematisch erscheint auch eine moderne soziologische Interpretation von Gerd Pinkernell, wonach alle Personen als Opfer der spätadligen Gesellschaft erscheinen. 569 In Wirklichkeit ist der negative Außenbereich ebenso durch die libertinistische Adelsgesellschaft in Frankreich wie auch durch die Verhältnisse auf der Insel selbst bestimmt, und beide Bereiche sind im Zeichen des GELDES miteinander verbunden. Das Geld ist hier mit Verführung und Korruption konnotiert; es macht insbesondere die Frau zum Objekt eines Handelns. Nach Prévosts Manon Lescault ist Paul et Virginie der zweite wichtige Roman, der die ‚Geldfrage‘ stellt und in dem eine große Liebe am Geld zerbricht. Der überwältigenden väterlichen Präsenz bei Prévost setzt Bernardin de Saint-Pierre das Experiment einer unentfremdeten Welt der Mütter entgegen, die offensichtlich ebenfalls zum Scheitern verurteilt ist. Denn die Gegenwelt der Sklavenbesitzer stellt eine nicht überwundene, sondern nur ‚verdrängte‘ Welt der ‚Väter‘ dar. In diesem Sinn ist es vielleicht von Interesse, dass der ursprüngliche Titel Histoire de Mlle Virginie de la Tour lauten sollte und damit die adlige weibliche Protagonistin in den Vordergrund gestellt war. Tatsächlich spielt Paul als Romanheld nur eine sekundäre Rolle. Entscheidend ist das Problem des Mädchens und der Frau, die ihre Tugend nur gegen die Gesellschaft retten kann. Sie erhält dadurch zugleich den Status eines Sühneopfers. Indem sie sich mit dem Geld der Tante einkleiden lässt und zum Objekt der Kaufleute und Händler wird, macht sie sich symbolisch schuldig und begibt sich auf jenes „élément furieux“ (S. 124), welches der Inbegriff des Draußen, aber auch von Handel und Verkehr darstellt. Die Gestalt der Tante selbst macht die angedeutete weibliche Idylle fragwürdig. Virginies Rückkehr auf die Insel ist somit ein Akt der Flucht, aber auch der Reue und der Sühne, der notwendig im Tod und in der damit verbundenen Erlösung gipfelt. Wie in der Nouvelle Héloïse ist die Vereinigung der Liebenden erst jenseits des Grabes möglich, aber während dort noch die bestehende eheliche Bindung ein echtes Hindernis bleibt, bleibt der Tugendbegriff hier leer. Es ist Tugend um der Tugend willen, die sich gegen das eigene Ich richtet und den masochistischen Charakter der bürgerlichen Tugendemphase im Zeitalter der Empfindsamkeit deutlich macht. Die eigentliche Bedeutung liegt daher wieder in den bildhaft-symbolischen Konnotationen. Der von den Wellenbrechern zerschundene Paul, der nicht zur Geliebten gelangen kann - die theatralisch in 569 Gerd Pinkernell, „Die Aristokratie als Oppression und destruktive Macht in Bernardin de Saint Pierres Paul et Virginie, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 35 (1975), S. 32- 46. 301 hellen Gewändern auf dem Schiffsdeck aufgerichtete Virginie, die verächtlich den Matrosen von sich stößt: dies sind die pathetischen Bilder einer unmöglichen Vereinigung, die zuletzt die Kindheitsidylle der klassenlosen Gesellschaft Lügen strafen und Virginie als adliges Objekt des Begehrens dem Liebenden einfacher Herkunft entzieht. Der bürgerliche Held wird - im wörtlichen Sinn - auf sich zurückgeworfen, und sein Tod ist Ausdruck des Verzichts auf Bemächtigung. Die Natur aber wird zum Instrument und zur Komplizin dieser doppelten Selbstbestrafung. Der Roman macht sinnfällig, dass die ursprüngliche und die spätere Tugend nichts miteinander zu tun haben und dass die bürgerliche Tugend nicht im Einklang mit der Natur steht, sondern deren Überwindung voraussetzt. Ohne es klar zu sagen oder zu wollen, kommt der Roman damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Marquis de Sade, der den optimistischen Naturbegriff der Aufklärung ad absurdum führt; der libertinistische Autor tut dies, indem er das Böse als natürlich schildert und die tugendhafte Person grundsätzlich zum Opfer werden lässt, so wie dies die nur undeutlich geahnten Pariser Erlebnisse der Heldin Virginie zeigen. So gesehen wäre also auch noch die Idylle der seitenverkehrte Spiegel des roman libertin. 2. Louis-Sébastien Mercier und die idealen Väter Das Motiv der gestörten Idylle erfährt eine interessante Ergänzung durch den Verweis auf einen exotistischen Roman, der Paul et Virginie vorausgeht und so auch als Vorbild des Bernardinschen Werkes gedient haben könnte: L’Homme sauvage, schon 1767 und dann in überarbeiteter Form 1784 publiziert. Der Autor, Louis-Sébastien Mercier, 1740 in Paris geboren und wie Bernardin de Saint-Pierre da auch 1714 gestorben, hat trotz der parallelen Lebensdaten wenig mit letzterem gemein, obwohl beide weit ins 19. Jahrhundert hineingewirkt haben und für den neuen deskriptiven Realismus in Anspruch genommen wurden. Auch verehrten beide Autoren Rousseau und sahen sich als seinen Schüler; Mercier, der zwischen 1788 und 1793 mit dem Abbé Brizard die gesammelten Werke Rousseaus herausgab, schlug sogar einen neuen Schluss für die Nouvelle Héloïse vor. Die Bedeutung Merciers, „un hérétique en littérature“ 570 , dessen ‚Aktualität‘ von der Romantik bis zum Surrealismus reicht, 571 liegt zunächst weniger in der erzählenden Litera- 570 So Jean-Claude Bonnet (Hrsg.), L. S. Mercier (1740-1814). Un hérétique en littérature, Paris, Mercure 1995. 571 Hierzu Louis-Sébastien Mercier précurseur et sa fortune, sous la direction de Hermann Hofer, München, Fink 1977. Vgl. in diesem Band besonders Helen Temple Patterson, „Les grands poètes romantiques français et Mercier“, S. 197-246. 302 tur als im Bereich des Theaters, wo der Autor mit eigenen (historischen und genrehaften) Stücken und theoretischen Schriften die Ansätze Diderots aufnahm, und vor allem in dem epochalen Tableau de Paris 572 , einem anonym zwischen 1781 und 1788 publizierten, essayistischen Werk, das die Anregungen von Lesages Le diable boiteux in diskursive Tableaus überführt und sowohl die Stadtliteratur als auch den Paris-Mythos des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis Aragon begründet. Auch die Uchronie L’An 2440, rêve s’il en fut jamais 573 , 1770 erstmals publiziert und 1786 in erweiterter Form neu aufgelegt, steht in dieser Tradition des ironisch-satirischen Sittenbildes. Doch der spätere Gegner Napoleons war wohl weniger originell, als heute gern behauptet wird. Das erzählerische Werk, das zeitgenössischen Vorbildern der histoire und des conte moral (Marmontel) verpflichtet ist, hat wenig Gewicht. Der genannte Roman L’Homme sauvage 574 , der ebenso wie der sentimentale erbauliche Roman Les Incas ou la destruction de l’empire du Perou (1777) von Marmontel der spätaufklärerischen Rezeption der proinkaischen Comentarios reales von Garcilaso de La Vega el Inca geschuldet sind 575 , stehen letztlich in der Tradition des aufklärerischen conte und verbinden den historischen Vorwurf mit dem Mythos des edlen Wilden, der hier nach La Hontans Dialogues avec un sauvage, den Lettres péruviennes von Madame de Graffigny und Voltaires L’Ingénu endlich selbst zum Helden und Erzähler avanciert und prompt zugleich an die unglücklichen Söhne bei Prévost erinnert. Der in hohem Maße epigonale und intertextuell vernetzbare Roman einer Kinder- und Jugendliebe soll noch Vorbild für Chateaubriands Atala gewesen sein. Anders als Paul et Virginie, freilich auf ganz andere Art, scheint er beweisen zu wollen, dass es eine väterliche Idylle geben kann. Es handelt sich um einen ‚philosophischen‘ Roman (aus Versatzstücken der Aufklärung), an dessen Ende ein moralisierender Essay über das Problem der ursprünglichen Güte und Tugendhaftigkeit des Menschen steht. Wie die Romanhandlung selbst belegt, sind Einschränkungen an dem Rousseauschen Mythos notwendig. Der Autor zögert nicht, den Begriff état sauvage nach dem Muster von Rousseaus Discours sur l’origine auf die zivilisatorisch geläuterte Familienidylle einzuschränken und den Mythos des edlen Wilden durch den (ebenfalls rousseauistischen) Mythos der ursprünglichen Kleinfamilie zu ersetzen, der ja implizit hinter der Konzeption des bürgerlichen Trauerspiels steht: „et je pense qu’il faut vivre dans un état sauvage, 572 Louis-Sébastien Mercier, Le tableau de Paris. Introduction et choix des textes par Jeffry Kaplow, Paris, Maspero 1979 (coll. La Découverte). Dazu bes. Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München/ Wien, Hanser 1999. 573 Louis-Sébastien Mercier, L’An deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut jamais, éd. par Raymond Trousson, Paris, Editions Ducros 1971. 574 Zitate nach der Ausgabe Neuchâtel 1784. 575 Vgl. Luis Alberto Sánchez, Garcilaso Inca de la Vega. Primer criollo, Santiago de Chile, Ediciones Ercilla, 1945 4 , S. 245-253. 303 c’est-à-dire, borné à une unique et petite famille, telle que celle dont j’ai fait la peinture, ou jouir complètement de tous les avantages de la civilisation.“ (S. 268) Wie Prévost wählt Mercier die Form der Memoirenerzählung, der aus der Idylle in die pikareske Welt der Abenteuer führt, und wieder ist ein ‚Sohn‘ das Opfer der Gefühle. Ein Inkaspross, der Indianer Zidzem, erzählt dem englischen Freund die Geschichte seines Lebens als Nachfahre eines Indianerstamms, der durch Missionare in einen Bürgerkrieg getrieben und von den Spaniern vernichtet worden war. Der erste Teil ist wie im Cleveland die Geschichte der Flucht des Vaters Azeb mit den Kindern Zidzem und Zaka und einem Diener in eine höhlenartige Behausung, in der ein Leben fern der Gesellschaft und Geschichte in natürlicher Unschuld möglich ist. Nimmt man den Diener dazu, so wird der ‚Naturzustand‘ hier nicht wie in Paul et Virginie von zwei Müttern (unterschiedlichen Standes), sondern von zwei Vaterfiguren (unterschiedlichen Standes) vertreten, wobei die sog. natürliche Erziehung eine bislang ungeahnte Freiheit eröffnet. Der Vater, bemerkt der Ich-Erzähler, „avait résolu de nous abandonner aux leçons de la bonne et simple nature, persuadé que tout ce qu’elle fait est bien fait, et que ce n’est qu’en la contredisant que nous nous sommes ouvert la source de tant de maux.“ (S. 33) An Stelle der geschwisterähnlichen Beziehungen von Paul und Virginie, vor deren Liebe eine symbolische Inzestschranke zu stehen scheint, haben wir es hier mit der inzestuösen Liebe der von der Außenwelt isolierten Geschwister zu tun, das heißt, der Autor behandelt das - von Montesquieu bis Diderot - zentrale Thema des Inzests 576 unter exotistischen Extrembedingungen. Die pubertäre Krise („Je réfléchis sur moi-même, je m’interrogeai, je sondai l’abyme de mon cœur“, S. 46) wird nicht wie bei Bernardin de Saint-Pierre verdrängt: Der erste größere Ausflug der Liebenden zu einer einsamen Quelle mündet im Schatten eines Baumes in die gegenseitige sexuelle Hingabe. Das Paradiesmotiv unterstreicht die wiedergefundene Unschuld. Daher folgt auf die sexuelle Initiation die religiöse Bewusstwerdung und Offenbarung im Angesicht der Natur: Nach dem Vorbild der „profession de foi du vicaire savoyard“ im Emile finden die Geschwister in ‚natürlicher‘ Weise zu Gott, und die Geburt einer Tochter beschließt diese philosophische Repristinierung des Irdischen Paradieses. 576 Vorbild könnte auch die Erzählung Annette et Lubin aus den Contes moraux (1761) von Marmontel sein; auch hier wird das Inzestmotiv im Sinne des Naturrechts thematisiert. Zu diesem ‚Komplex‘ der Aufklärung siehe Georges Benrekassa, „Loi naturelle et loi civile. L’idéologie des Lumières et la prohibition de l’inceste“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 87 (1972), S. 115-144. Am Beispiel von de Sades Eugénie de Franval zeigt der Vf., dass die Inzest-Vorstellungen des 18. Jahrhunderts „restent tributaires de systèmes de représentations qui les empêchent de penser de façon cohérente aussi bien l’interdit que sa transgression“ (S. 144). 304 Doch wie bei Bernardin de Saint-Pierre kommt die Bedrohung von außen: Die Rettung eines verunglückten Engländers, Lodever, führt direkt in die Krise und zur Ablösung der Idylle durch den sentimentalen Schicksalsroman. Anders als die keusche Virginie verliebt sich die Heldin Zaka in den Fremden - „est-ce un crime que d’avoir un cœur tendre et compatissant? “ (S. 116f.). Freilich kämpft „cette belle âme que la nature s’étoit plû à cacher dans un immense désert“ (S. 141) gegen die neue Leidenschaft. Nach dramatischen Szenen der Verzweiflung und einem „aveu“ erklärt sich der Held jedoch dazu bereit, die geliebte Schwester mit dem Freund zu teilen: Im Zeichen der „bonté naturelle“ (S. 146) erscheint das Rousseausche Motiv des „ménage à trois“ (Confessions) als Sieg der Natur, die noch keine moralische Anfechtung kennt: „Aucune idée honteuse ne se mêlait à ce partage.“ (S. 147) Noch scheint die Idylle erweitert, aber nicht gefährdet. Da wandelt sich das Tableau ohne ersichtlichen Grund und initiiert das Scheitern des aufklärerischen Experiments mit der Natur. Offensichtlich wird auch die Vaterinstanz mit einem Mal als störend empfunden. Denn während der Diener Opfer einer Entführung wird, wird der Vater eines Tages vergiftet aufgefunden. Der Fremde aber wandelt sich zum eigentlichen Schurken dieses ‚bürgerlichen Trauerspiels‘ und - wie bei Rétif de la Bretonne - zum bösen Übervater: „Dès ce moment Lodever devint notre maître absolu […].“ (S. 179) Wie bei Rétif ist die nachfolgende Initiation in die Gesellschaft an die Entdeckung des Bösen und wie bei Prévost an die Kontingenz eines entwurzelten Lebens geknüpft. Es folgen: ein Mordversuch Lodevers, der angebliche Tod der Schwester-Geliebten, die Rettung des verfolgten Helden durch einen wilden Indianerstamm. Später - man denkt natürlich an Candide - wird er ein portugiesisches Mädchen vor dem Feuertod retten und mir ihr eine enthaltsame Josephsehe führen. Homosexuelle Untertöne begleiten die Geschichte seiner Bekehrung von der natürlichen Religion durch einen Jesuiten. In San Salvador trifft er Zaka in einem Kloster wieder und erfährt ihre Vorgeschichte als ‚verfolgte Tugend‘. Natürlich ist die Fortsetzung einer inzestuösen Ehe unmöglich. Der verzweifelte Held verbringt den Rest seines Lebens in Europa - das Gegenteil des edlen Wilden, der bei La Hontan nach Amerika zurückkehrt, um die überlegene europäische Kultur einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Was wie Paul et Virginie begann, endet wie Candide. Dazwischen stehen Prévost, Marivaux u.a., deren Erzählmuster die Auslöschung des Vaters und die Einsamkeit eines von seinen Wurzeln abgeschnittenen, noch immer tugendhaften Helden zu verlangen scheinen; wie der Chevalier des Grieux in Manon Lescaut wird er dem Freund aus seinem Leben berichten, und unmerklich gehen die Memoiren dabei in eine confession 577 über, die die Schuld- 577 Vgl. Jean Rousset, Narcisse romancier. Essai sur la première personne dans le roman, Paris, Corti 1973. 305 gefühle eines gleichsam unschuldig schuldig Gewordenen belegt. Dass die naturhafte Idylle doch zum Scheitern verurteilt war und der edle Vater das Opfer krimineller Impulse wurde, taucht auch das wiedergewonnene Paradies und die problemlose Vater-Sohn-Beziehung nachträglich noch in ein fragwürdiges Licht. Interpretiert man die Ereignisse um den Auftritt des Fremden und den Verlust des Paradieses als eigentlichen Beginn des Erwachsenwerdens, so kann man auch hier von einem Tabu sprechen. Merciers Idylle des „homme sauvage“ ist nicht vaterlos, doch in das geschichtliche Leben ist sie nicht übertragbar, und im Lichte der realen Umstände erweist sie sich noch rückblickend als trügerisch. Der Roman markiert das Scheitern des Paradieses unter väterlichen Vorzeichen ebenso wie das Heraustreten des Sohnes aus dem Paradies. 307 Bibliographie Adam, Antoine (Hrsg.): Voltaire: Le Siècle de Louis XIV, 2 Bde., Paris, Garnier- Flammarion 1966. Aimé-Martin, M. (Hrsg.): Œuvres de Jacques-Henri-Bernardin de Saint-Pierre, Etudes de la nature, Bd. 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KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Das Lehrbuch vermittelt den Studierenden Schritt für Schritt die Basisfertigkeiten der Literaturwissenschaft. Es stellt Modelle zur Analyse literarischer Texte vor, führt in die französischen Spezifika literarischer Gattungen ein wobei auch Genres wie Film und Hyperfiction nicht fehlen. Die beigefügte CD-ROM präsentiert den Stoff übersichtlich aufbereitet als Hypertext-Dokument in verschiedenen Modulen. Schwerpunkt sind interaktive Übungen mit tutoriellem Charakter, so dass der Lernende das im Buch erarbeitete Wissen aktiv vertiefen kann. Jochen Mecke Hermann H. Wetzel (Hrsg.) Französische Literaturwissenschaft Eine Einführung UTB 2417 M 2009, XVIII, 350 Seiten, div. Abb. und Tab.,+ CD-ROM €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-8252-2417-2 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Unter welchen Voraussetzungen kann man von „dem“ Historischen Roman sprechen? Und was macht diese Hybride aus Fiktionen und Fakten so vital? Können verschiedene Literaturen einander fruchtbar wechselseitig interpretieren? Wie modern war schon das 19. Jahrhundert, wie traditionell und wieder realistisch sind Moderne und Postmoderne? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Anspruch und Unterhaltung, Bestsellern und „großer“ Literatur? Im Mittelpunkt dieser transnational angeleg ten Gattungsgeschichte stehen Einzelporträts von zahlreichen Romanen der deutschen, englisch-amerikanischen und französischen Literatur. Dazu kommen Quer- und Längsschnitte durch literarische Felder und Traditionen. Der gesuchten Vielfalt der Aspekte entgegen steht die systematisch orientierte, zugleich viele weitere Beispiele erschließende Skizze einer Poetik des historischen Romans, seiner paradoxen Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort. Hans Vilmar Geppert Der Historische Roman Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart 2009, VIII, 434 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-7720-8325-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Im vorliegenden Buch gilt es, die Beziehungen zwischen Narzissmus und Ichideal im Anschluss an Freud und Lacan neu zu bestimmen und die Ent wicklung dieser Beziehung im gesellschaftlichen Kontext nachzuzeichnen. Ausgehend von einer kommunikativen Auffassung des Narzissmus, der produktiv sein und den anderen dialogisch in seiner Andersheit wahrnehmen kann, untersucht der Autor die Entwicklung narzisstischen Verhaltens in einer Gesellschaf t, deren Wer tsystem durch Dif ferenzier ung, Arbeitsteilung, Kommer zialisier ung und ideologische Konflikte erschüttert wurde. Im Anschluss an Lacan, der ein aus kollektiven Werten hervorgegangenes Ichideal von einem infantilen Idealich unterscheidet, wird gezeigt, wie in einer von Medien dominierten und zur Wertindifferenz tendierenden Postmoderne die Ichideale ausgehöhlt werden, während das Idealich als „infantiles Größenselbst“ (Heinz Kohut) erstarkt. Die Studie mündet in die These: Der zeitgenössische Narzissmus verliert an Substanz, weil das Ichideal aus gesellschaftlichen Gründen zerfällt. Peter V. Zima Narzissmus und Ichideal Psyche - Gesellschaft - Kultur 2009, XII, 212 Seiten, €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-7720-8337-2 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de By analyzing the Kantian response to the query What is Enlightenment? , esotericism, and, more specifically, Freemasonry as a spiritual search, this study offers a re-interpretation of the eighteenth century, one in which Enlightenment, as the predominance of rationalism, and Illuminisme are viewed as complementary rather than antithetical. By focusing on the history and nature of continental Freemasonry and the Masonic affi liation of two French authors as expressed in their work - Louis-Claude de Saint-Martin and Dominique Vivant Denon - this study addresses issues of importance today. Links between material possessions, human self-realization, and regeneration, which were exploited by these writers, call for a new look at the esoteric origins of and component in psychoanalysis, spirituality, sexuality, and power, and, ultimately, cause us to view our modern society as, in part, the inheritor of a spiritual legacy from the eighteenth century. Giovanna Summerfield Credere aude Mystifying Enlightenment études littéraires françaises, Band 72 2008, 147 Seiten, €[D] 39,00/ Sfr 66,00 ISBN 978-3-8233-6383-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Aufklärer und Illuministen erheben im 18. Jahrhundert gleichermaßen den Anspruch, auf der Seite des Lichts der Erkenntnis zu stehen. Aber wo die illuministischen Esoteriker sich dazu auf einen theosophisch begründeten Geistbegriff berufen, verkünden die Aufklärer den Anspruch einer natürlichen Vernunft. Ziel der Studie ist, zunächst im Rahmen einer diskursarchäologischen Untersuchung den Anteil beider Seiten an der Episteme ihrer Epoche herauszuarbeiten und nach der epochenspezifischen ‚Vernünftigkeit’ ihrer Diskussionsbeiträge zu fragen. Der zweite Teil wechselt sodann von der synchronischen zu einer diachronischen Perspektive und zeig t das Entstehen einer neuen Konstellation um 1800, zu deren Herausbildung Aufklärer wie Diderot und theosophische Mystiker wie Saint-Martin aus ihren gegensätzlichen Positionen gleichermaßen beigetragen haben. Florian Mehltretter Der Text unserer Natur Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Romanica Monacensia, Band 77 2009, 594 Seiten, €[D] 78,00/ SFr 132,00 ISBN 978-3-8233-6479-5