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Narzissmus und Ichideal

2009
978-3-7720-5337-5
A. Francke Verlag 
Peter V. Zima

Im vorliegenden Buch gilt es, die Beziehungen zwischen Narzissmus und Ichideal im Anschluss an Freud und Lacan neu zu bestimmen und die Entwicklung dieser Beziehung im gesellschaftlichen Kontext nachzuzeichnen. Ausgehend von einer kommunikativen Auffassung des Narzissmus, der produktiv sein und den anderen dialogisch in seiner Andersheit wahrnehmen kann, untersucht der Autor die Entwicklung narzisstischen Verhaltens in einer Gesellschaft, deren Wertsystem durch Differenzierung, Arbeitsteilung, Kommerzialisierung und ideologische Konflikte erschüttert wurde. Im Anschluss an Lacan, der ein aus kollektiven Werten hervorgegangenes Ichideal von einem infantilen Idealich unterscheidet, wird gezeigt, wie in einer von Medien dominierten und zur Wertindifferenz tendierenden Postmoderne die Ichideale ausgehöhlt werden, während das Idealich als "infantiles Größenselbst" (Heinz Kohut) erstarkt. Die Studie mündet in die These: Der zeitgenössische Narzissmus verliert an Substanz, weil das Ichideal aus gesellschaftlichen Gründen zerfällt.

Peter V. Zima N A R Z I S S M U S UND ICHIDEAL PSYCHE - GESELLSCHAFT - KULTUR Narzissmus und Ichideal Peter V. Zima N A R Z I S S M U S UND ICHIDEAL PSYCHE - GESELLSCHAFT - KULTUR Umschlagabbildung: John William Waterhouse, Echo and Narzissus Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: AALEXX Druck GmbH, Großburgwedel Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8337-2 In memoriam Joachim Roether v i i Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................... ix Vom Mythos zur Theorie: Narziss ............................................... 1 I. Narzissmus und Ichideal in der Psychoanalyse: Freud und Freudianer ............................................................. 7 1. Zum Ursprung der Psychoanalyse: Philosophisch-literarische Prolegomena .............................................................................. 8 2. Der Narzissmus-Begriff und das narzisstische Subjekt ............ 14 3. Primärer und sekundärer, gesunder und kranker Narzissmus ... 23 4. Narzissmus und Ichideal bei Freud ........................................... 31 5. Der Narzissmus-Begriff bei den Freudianern ........................... 37 (a) Michael Balints Kritik am Begriff des „primären Narzissmus“ ......................................................................... 38 (b) Mutterbindung: Otto Rank ................................................... 42 (c) Homosexualität: Sandor Ferenczi und Melanie Klein ......... 45 (d) Pubertät: Von Anna Freud zu Edith Jacobson und Thomas Ziehe ...................................................................... 50 (e) Narzissmus, Überich und Ichideal: Von Edith Jacobson zu Janine Chasseguet-Smirgel .............................................. 55 II. Narzissmustheorien heute: Ein dialogisches Modell ............ 61 1. Von Freud zu Lacan .................................................................. 63 2. Kohut und Kernberg: Gesunde und kranke Narzissten ............. 71 3. Gesunder und maligner Narzissmus in der zeitgenössischen Psychoanalyse ........................................................................... 81 4. Ein dialogisches Modell ............................................................ 88 5. Beispiele aus Fallstudien ........................................................... 97 6. „Marion“. Eine Falldarstellung von Joachim Roether ........... 102 v i ii III. Der Niedergang des Subjekts und des Ichideals in der postmodernen Gesellschaft ......................................... 113 1. Niedergang des Individualismus: Narzissmus als Kompensationsverhalten ........................................................... 116 2. Systemdifferenzierung und Arbeitsteilung, Ideologisierung und „Zerfall der Werte“ ............................................................. 122 3. Der Zerfall der Familie und der Rückzug des symbolischen Vaters ......................................................................................... 131 4. Der Aufstieg des Idealichs in den Medien ................................ 139 5. Identitätslosigkeit und Narzissmus ............................................ 149 6. Gegenbewegung: Ein weibliches Ichideal? ............................... 155 IV. Kultur, Literatur und Wissenschaft: Zwischen Idealich und Ichideal ............................................................................. 161 1. Der Dandy im Spiegel der Gesellschaft .................................... 162 2. Narzissmus in der Literatur: Marcel Proust, Thomas Mann, Patrick Süskind .......................................................................... 174 (a) Marcels Weg vom mondänen Idealich zum Ichideal der Kunst ................................................................................... 175 (b) Adrian Leverkühns teuflischer Narzissmus ........................ 179 (c) Eine postmoderne Parodie: Patrick Süskinds Das Parfum . 184 3. Bemerkungen zum Narzissmus in der Wissenschaft: Epilog .... 189 Bibliografie ..................................................................................... 195 Personenregister ............................................................................ 201 ix Vorwort In der vorliegenden Studie geht es nicht nur um die Beziehung zwischen zwei Schlüsselbegriffen der Psychoanalyse, sondern auch um die Entwicklung von Narzissmus und Ichideal in einer sich wandelnden Gesellschaft. Die meisten Arbeiten über den Narzissmus berücksichtigen diese Entwicklung nur unzureichend. Einerseits bringt der soziale Strukturwandel Veränderungen in der menschlichen Psyche mit sich; andererseits tragen diese Veränderungen wesentlich zur Umgestaltung der Gesellschaft bei. Sie bewirken auch, dass sich die Semantik von Wörtern wie „Narzissmus“ oder „Ichideal“ ändert und die Theorie sich auf metatheoretischer Ebene genötigt sieht, die Änderungen zu registrieren und ihnen im Rahmen einer historisch reflektierten Begrifflichkeit Rechnung zu tragen. In diesem Kontext sind die beiden komplementären Kernargumente dieses Buches zu betrachten. Das erste hat die Struktur des Narzissmus zum Gegenstand; das zweite bezieht sich auf seinen Funktionswandel im gesellschaftlichen Kontext. Beide visieren die dynamische Beziehung zwischen Narzissmus und Ichideal an. Das erste Argument geht von der Tatsache aus, dass „Narzissmus“ in den neueren Diskussionen (vgl. Kap. II) stärker als bei Freud kommunikativ aufgefasst wird, d.h. als Reaktion des Subjekts auf das Verhalten von Ko-Subjekten. Es gründet auf der Überlegung, dass individuelle (und kollektive) Subjektivität dialogisch strukturiert ist und folglich auch der Narzissmus, der das Subjekt zum Gegenstand hat, im Zusammenhang mit der sich wandelnden gesellschaftlichen Kommunikation verstanden werden muss. Die schon von Freud und seinen Nachfolgern vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einem gesunden und einem malignen Narzissmus erscheint dadurch in einem neuen Licht. Während der maligne Narzisst den anderen als Andersheit monologisch negiert und auf Autarkie pocht, stellt der gesunde Narzisst ein dialogisches Verhältnis zum anderen und seiner Andersheit her. Zugleich bestätigt er den dialogisch-sozialen Ursprung seiner Subjektivität, während der maligne Narzisst letztlich seine eigene Subjektivität in Frage stellt, weil er deren Entstehung im sozialen Dialog nicht wahrhaben will. Sein Grundproblem hat der im zweiten Kapitel ausführlich kommentierte André Green in aller Knappheit zusammengefasst: „Der Narzissmus ist die Tilgung der Spur des Anderen im Einen.“ Allerdings gilt diese Formulierung nur für den krankhaften Narzissmus und nicht für den gesunden, der von der Andersheit lebt und in ihr seine Bestätigung findet. Im Anschluss an diese Überlegungen ist auch die Unterscheidung zwischen dem Idealich und dem Ichideal zu verstehen, die Lacan und einige seiner Schüler eingeführt haben und die hier in einem zugleich psychoanalytischen und soziologischen Kontext aktualisiert wird. Während das Idealich als „Ideal narzisstischer Allmacht“ (Laplanche/ Pontalis) mit dem „infantilen Größenselbst“ im Sinne von Heinz Kohut zu vergleichen ist und vor allem im malignen Narzissmus zur Geltung kommt, entsteht das Ichideal „aus der Konvergenz des Narzissmus (Idealisierung des Ichs) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen“ (Laplanche/ Pontalis). Es ist mit einem gesunden Narzissmus vereinbar, obwohl es durchaus auch in malignen Varianten vorkommen kann: als Identifizierung mit Ideologien, Führergestalten usw. Wie sehr sich die Struktur des Narzissmus als Ausrichtung auf ein Idealich und/ oder ein Ichideal im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung ändern kann, zeigt sich im soziologischen Kontext des dritten Kapitels, in dem das zweite Argument entwickelt wird. Es kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: In einer postmodernen Gesellschaft, deren Wertsystem von Differenzierungsprozessen, Arbeitsteilung, medial vermittelter Kommerzialisierung und ideologischen Konflikten erschüttert wird, kommt es zu einer Schwächung der Ichideale (im religiösen, moralischen, politischen und ästhetischen Sinne) und zu einer Stärkung des Idealichs. Dieses ist als „infantiles Größenselbst“ von sozialen Wertsetzungen weitgehend unabhängig und kann sich in Medien, Moden und verschiedenen Freizeitaktivitäten kurzfristig verwirklichen. Im Gegensatz dazu ist das Ichideal an langfristige Projekte im beruflichen, moralischen oder politischen Sinne gebunden und kann in einer Gesellschaft, deren berufliche Struktur sich immer schneller verändert, deren Wertsetzungen fortschreitender Relativierung ausgesetzt sind, deren Normen und Rollenmuster eine wachsende Anomie zerfallen lässt, nur selten verwirklicht werden. Dies hat zur Folge, dass das vorwiegend maligne, labile und ephemere Idealich für eine nachmoderne Gesellschaft kennzeichnend ist, in der - anders als in der modernen Industriegesellschaft - die Konsum- und Freizeitbereiche überdimensional angewachsen sind. In x xi diesen Bereichen (z. B. in der Fantasiewelt von Second Life: vgl. Kap. III) gedeiht ein infantiles Idealich, das dem anderen, den es vorwiegend als Vorwand behandelt, nichts schuldig zu sein meint. Im letzten Kapitel, das einige Peripetien des Narzissmus in Kultur, Literatur und Wissenschaft zum Gegenstand hat, zeigt sich, dass die spätmoderne (modernistische) und postmoderne Literatur auf die im dritten Kapitel beschriebenen Entwicklungen des Narzissmus reagiert und einige von ihnen veranschaulicht. Das Idealich, das die zeitgenössische Medienwelt beherrscht, tritt auch in einer postmodernen Literatur in den Vordergrund, in der die Kunst, die in der Spätmoderne Marcel Prousts und Thomas Manns noch als oberster Wert oder Erlöserin der Menschheit betrachtet wurde, parodiert wird. Nach dem „Zerfall der Werte“ (H. Broch) kommt sie als Ichideal nicht mehr in Frage. Grenouille, der Held von Patrick Süskinds bekanntem Roman Das Parfum, ist insofern eine postmoderne Gestalt, als er dem Leser die Reduktion aller ästhetischen Ideale der Vergangenheit auf ein flüchtiges Parfum vor Augen führt, das ausschließlich seinem „Größenselbst“ dient. Zu besonderem Dank bin ich meinem Schwager, dem Frankfurter Psychotherapeuten Joachim Roether, verpflichtet, der sich bereit erklärt hat, eine Fallstudie für das zweite Kapitel zur Verfügung zu stellen. Joachim Roether ist am 27. November 2008 unerwartet gestorben, und sein Text musste im stilistischen Bereich geringfügig überarbeitet werden. Obwohl er einige Thesen dieses Buches bestätigt, bildet er eine autonome Einheit und lässt eine Stimme zu Wort kommen, die zu verstehen gibt, dass der Gegenstand „Narzissmus“ auch anders konstruiert werden kann, als es in dem hier entworfenen Ansatz geschieht. 1 Vom Mythos zur Theorie: Narziss Die Struktur des narzisstischen Verlangens ist in dem von Ovid erzählten Mythos angelegt und verbindet das Visuelle mit dem Akustischen. Während Narziss mit fataler Verspätung das Paradox entdeckt, dass ihm sein eigenes im Wasser bewundertes Spiegelbild ewig entgleiten wird, weil es ihm gehört, „bei ihm“ ist, vermag Echos verstümmelte Stimme nur die letzten Worte seiner Rede zu wiederholen. Unfähig, die geliebte Gestalt mit ihrer eigenen Rede zu wecken und beredt zu machen, wird sie zu einem akustischen Spiegel, der die letzten Worte von Narziss’ Reden widerhallen lässt, so dass immer nur das Eine ertönt und das Andere stumm bleibt. Der Mythos erzählt nicht nur das tragische Schicksal der Selbstverliebtheit, sondern auch die Unmöglichkeit, zum anderen vorzudringen. Narziss ist nicht nur auf die eigene Erscheinung fixiert, sondern wird von einer Stimme in die Irre geführt, die aufgrund ihres Gebrechens außerstande ist, sich als andere und andersartige zu erkennen zu geben. Von Narziss heißt es zwar: „Kein Mädchen, kein Mann konnte ihn rühren“; der Erzähler fügt aber hinzu: „Ihn erblickt (...) die stimmbegabte Nymphe, die nie eine Antwort schuldig bleibt und nie als erste sprechen kann, Echo, die Stimme des Widerhalls.“ 1 Während also Narziss ein Gefangener seiner selbst ist und die anderen verschmäht, ist die Hauptprotagonistin der Erzählung „Narziss und Echo“ aufgrund des Sprachhandikaps, mit dem sie von Juno für ihre Komplizenschaft mit dem ehebrechenden Jupiter bestraft wurde, unfähig, sich als andere erkennen zu geben. Wie das Quellwasser, in dem sich Narziss später spiegelt, vermag sie nur die geliebte Person zu verdoppeln, deren Monolog zu reproduzieren. Schließlich erkennt der sich spiegelnde und nach seinem Spiegelbild greifende Narziss seinen Irrtum und ist enttäuscht: „Was ich begehre, ist bei mir! “ 2 Die objektlose Liebe aber ist unmöglich; sie sehnt sich nach einem Objekt: „Ich wollte, der Gegenstand meiner Liebe wäre nicht bei mir! “ 3 Doch dieser Ausruf ist zweideutig, weil Narziss 1 P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch (Übers./ Hrsg. M. von Albrecht), Stuttgart, Reclam (1994), 2003, S. 149. 2 Ibid., S. 157. 3 Ibid. 2 vor dem Objekt flieht (fliehen muss). Davon zeugt - stärker noch als die deutsche Übersetzung - das Original: „vellem, quod amamus, abesset! “ Tatsächlich hat das narzisstische Verlangen keinen Gegenstand, weil es ursprünglich der durch das Inzesttabu verbotenen und unzugänglichen Mutter galt. Auf dieser Ebene wird der Mythos von Heinz Henseler psychoanalytisch aufgeschlüsselt: „Die Angst vor Umarmung und körperlicher Nähe hat nach dem Mythos offenbar etwas zu tun mit der Art und Weise, wie Narzissos aufgewachsen ist. Er ist der wunderschöne Sohn seiner Mutter, einziges Kind, Folge der Vergewaltigung Leiriopes durch den Flußgott Kephissos. In seiner psychischen Entwicklung fehlen Vater und Geschwister. (...) Und worin spiegelt er sich? Er spiegelt sich in dem Wasser der Quelle, dessen Nymphe seine Mutter Leiriope ist! “ 4 Es ist somit das inzestuöse Verlangen, das die Objektliebe (die Liebe zur anderen und andersartigen, andersgeschlechtlichen Person) verhindert. So ist es zu erklären, dass narzisstische Liebe, sofern sie das Verlangen beherrscht und nicht von der Objektliebe durchwirkt ist, nur Pseudoobjekte kennt und grundsätzlich homoerotisch oder homosexuell ausgerichtet ist. Solche Liebe ist todbringend: nicht nur in dem von Ovid erzählten Mythos, wo Narziss „von Liebe ausgezehrt“ stirbt und sich nach seinem Tod in die nach ihm benannte Blume verwandelt, sondern auch in der Literatur, die sich implizit oder explizit mit dem antiken Mythos auseinandersetzt. Auf diesen Tatbestand hat bereits früh der Freudianer Otto Rank hingewiesen und gezeigt, dass dem Thema des Doppelgängers das gegenstandslose, weil unablässig am Inzestverbot scheiternde narzisstische Verlangen innewohnt. Nicht nur E. T. A. Hoffmanns Doppelgänger sind Verdopplungen des narzisstisch liebenden Subjekts und zugleich Inkarnationen des unzugänglichen Mutterobjekts; auch dem bekannten Roman Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray liegt ein narzisstisches Verlangen zugrunde. Rank erinnert an die im Roman erwähnte Ähnlichkeit Dorians mit seiner Mutter und daran, dass Wildes Held in seiner Person die unzugängliche Muttergestalt wiederliebt. 4 H. Henseler, „Narzißmus als Beziehungsform“, in: J. Sandler (Hrsg.), Über Freuds „Zur Einführung des Narzißmus“ (New Haven-London, 1991), Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 2000, S. 268. 3 In seiner Studie über den Doppelgänger kommt er zu dem Schluss, „daß der die narzißtische Selbstliebe verkörpernde Doppelgänger gerade zum Rivalen in der Geschlechtsliebe werden muß“. 5 Tatsächlich ist dieser Doppelgänger zugleich eine Verdopplung der tabuisierten Mutter, die nicht genannt wird. Sowohl im Mythos als auch im Roman geht vom mütterlichen Spiegelbild eine tödliche Wirkung aus. Während die Faszination, die von Leiriopes Spiegelbild ausgeht und die erotische Auszehrung des Narziss zur Folge hat, nicht psychologisch reflektiert wird, führt Dorian Grays Verdopplung in dem von Basil Hallward angefertigten (Spiegel-)Bild zur Erkenntnis des Protagonisten, dass sein Verlangen pervers ist. Es ist - wie schon im Mythos - sowohl für die anderen als auch für den Helden selbst tödlich: Wie Echo, die vor Gram stirbt, weil ihre Liebe nicht erwidert wird, findet Sybil Vane den Tod, als sich der narzisstische Dorian jäh von ihr abwendet. Er vermag nur die von den anderen bewunderte und begehrte Schauspielerin Sibyl Vane zu „lieben“, nicht aber das verliebte Mädchen, das aus Liebe zu ihm sein schauspielerisches Talent verliert. Was Dorian fasziniert, ist das Verlangen selbst (das Verlangen der anderen) und sein eigener Ruhm: „Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine drittklassige Schauspielerin mit einem hübschen Gesicht.“ 6 Ein weiterer Aspekt des Narzissmus tritt in diesen Sätzen zutage: Der andere wird nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern dient dem narzisstischen Verlangen als Vorwand. Für Dorian ist Sybil Vane interessant, solange er sich in ihrem Ruhm sonnen, spiegeln kann: „Du hättest meinen Namen getragen.“ Nicht nur der andere wird in seiner Alterität negiert, sondern die Objektliebe als solche, die nicht fragt, ob der andere etwas leistet oder von anderen begehrt wird. Im Gegensatz zur Objektliebe ist das narzisstische Verlangen objektlos und zirkulär: Es kehrt schließlich zu seinem Ausgangspunkt, zum Subjekt, zurück, das sein ursprüngliches mütterliches Objekt verloren hat und deshalb nicht lieben kann. Es will nur geliebt werden - so wie es einst von der Mutter geliebt wurde. Nicht zufällig entdeckt Dorian seine (vergangene) „Liebe“ für Sibyl nach deren Selbstmord: „O Harry, wie sehr ich sie einmal liebte! “ 7 5 O. Rank, Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie (1925), Wien, Turia und Kant, 1993, S. 117. 6 O. Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray (1891), Stuttgart, Reclam, 2007, S. 126. 7 Ibid., S. 143. 4 Das Objekt kann wieder „geliebt“ werden, sobald es kein wirkliches Objekt mehr ist, sondern durch den Tod endgültig zu dem wird, was es dem malignen narzisstischen Verlangen schon immer war: zum Vorwand. Schließlich wird der Narzissmus Dorian selbst zum Verhängnis, so wie er seinem ersten Protagonisten in der Antike zum Verhängnis wurde. „Ich wünschte, ich könnte lieben! “ 8 , ruft Dorian aus, da die Handlung schon ihrem Ende zustrebt. Es klingt wie ein Echo von Narziss’ Verlangen nach Objektliebe: „Ich wollte, der Gegenstand meiner Liebe wäre nicht bei mir! “ Doch es ist zu spät: Das Bild, das ihn lehrte, seine eigene Schönheit zu lieben, lässt ihn durch seine fortschreitende Entartung immer schonungsloser und rücksichtsloser seine Verderbtheit erkennen. Es hat eine geradezu psychoanalytische Wirkung, die C. G. Jung mit einem anderen Spiegelgleichnis erläutert: „Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.“ 9 Diese „Tiefenspiegelung“ überlebt Dorian Gray nicht: Er durchbohrt das Bild mit einem Messer und fällt tot zu Boden - wie die literarischen Helden, die zugleich mit ihren Doppelgängern sich selbst töten. Im Hinblick auf die älteren und neueren psychoanalytischen Diskussionen erscheint sowohl Ovids als auch Wildes Narzissmus-Bild einseitig, weil es nur die Schattenseiten des Phänomens erkennen lässt. Die Psychoanalyse, die das narzisstische Verlangen zunächst als Perversion oder Krankheit zu verstehen suchte, entdeckte bald einen gesunden Narzissmus. Schon Freud spricht in seiner bekannten Abhandlung „Zur Einführung des Narzissmus“ (1914) von einem „primären und normalen Narzissmus“ 10 , und ein Autor wie Arnold M. Cooper stellt fest, „dass ein jeder Narzissmus-Begriff sowohl normale als auch pathologische, entwicklungstheoretische und deskriptive Aspekte aufweisen sollte“. 11 In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen, die in nahezu allen zeitgenössischen Debatten wiederkehren, im Anschluss an die Theorie 8 Ibid., S. 293. 9 C. G. Jung, Bewußtes und Unbewußtes, Frankfurt, Fischer, 1957, S. 29. 10 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914), Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt, Fischer (1975), 1982, S. 41-42. 11 A. M. Cooper, „Narcissism“, in: A. P. Morrison (Hrsg.), Essential Papers on Narcissism, New York-London, New York Univ. Press, 1986, S. 115. 5 des Subjekts 12 , die mit Bachtin für eine dialogische Auffassung der Subjektivität plädiert, soll in diesem Buch eine dialogische (gesunde) von einer monologischen (malignen) Variante des Narzissmus unterschieden werden. Während das dialogische Subjekt als gesunder Narzisst in der Alterität der anderen seine unentbehrliche Lebensquelle erkennt, pocht das monologische Subjekt als maligner Narzisst auf Autarkie und negiert die anderen und deren Alterität. Freilich handelt es sich in dieser Kurzdarstellung um „Idealtypen“ im Sinne von Max Weber: um Konstruktionen also, „welche nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit [sind] (...), sondern die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes [haben], an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Inhalts gemessen, mit [denen] sie verglichen wird.“ 13 Gäbe es solche Idealtypen wirklich, wäre jede Therapie vergeblich, die, wie vor allem Heinz Kohut zeigt 14 , zum Ziel hat, den gesunden narzisstischen Strebungen im kranken Narzissten zum Durchbruch zu verhelfen. Zugleich ist es schwer vorstellbar, dass es in der Konkurrenzgesellschaft Menschen gibt, die stets unbefangen, vorurteilslos und ohne Neid versuchen, vom anderen und Andersartigen nur das Beste zu übernehmen. Es wird sich zeigen, dass die Wirklichkeit ein ständiges Oszillieren ist zwischen einer dialogischen Einstellung, die den anderen in seiner Andersheit bejaht, und einer monologischen Negation der psychischen, kulturellen und gedanklichen Alterität. Vor allem im wissenschaftlichen Bereich wird gedankliche Alterität oftmals narzisstisch negiert. Der ideologische Impuls, der in den Kultur- und Sozialwissenschaften für unentbehrliches gesellschaftliches Engagement sorgt, ist auch von starken Affekten durchwirkt, die das Eigene aufwerten und zur Abwertung des Andersartigen drängen. In diesem Zusammenhang könnte die Ideologie, die als dualistischer und monologischer Diskurs definiert wurde, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert und konkurrierende Diskurse nicht zu Wort 12 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2007 (2. Aufl.), Kap. V. 13 M. Weber, zit. nach: G. Hartfiel, K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 1972, S. 772. 14 Vgl. H. Kohut, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, Kap. XII. 6 kommen lässt 15 , auf psychologischer Ebene als der narzisstische Diskurs par excellence aufgefasst werden. Dieser Diskurs lässt sowohl im individuellen als auch im kollektiven Bereich (z. B. zwischen Wissenschaftlergruppen) nur das Eigene gelten und lehnt das Andersartige ab (wie Ovids Narziss) oder verwendet es als Vorwand, um sich selbst zu bestätigen (wie Dorian Gray). Im „Idealfall“ versucht er (wie Hegels Philosophie), die gesamte Wirklichkeit zu erfassen, sie mit dem eigenen System zu identifizieren. Im Anschluss an Heinz Kohut, der die „narzisstische Wut“ im psychoanalytischen Kontext analysiert 16 , könnte man die Rolle dieser „Wut“ beim Zustandekommen philosophischer und wissenschaftlicher Systeme untersuchen, die monologisch nach Natur- und Objektbeherrschung streben. Im Gegensatz zur Ideologie, die als dualistischer Monolog und „Identitätsdenken“ (Adorno, Horkheimer) außerstande ist, ihr narzisstisches Gehäuse zu durchbrechen, versucht das Subjekt der Theorie, seinen Diskurs dem Anderen zu öffnen. Es denkt über den kontingenten Charakter seiner Objektkonstruktionen nach und räumt dem anderen Subjekt das Recht ein, die entsprechenden Objekte anders zu konstruieren. Es befriedigt seinen Narzissmus, indem es die fremden Objektkonstruktionen in sein Denken einbezieht, um dieses Denken offen zu halten und zu erweitern. Dieser Gedankengang liegt Adornos essayistischer Bestimmung der Dialektik zugrunde: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 17 Dies wäre zugleich eine Alternative zur „narzisstischen Wut“ des ideologischen Monologs. 15 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX. 16 Vgl. H. Kohut, Die Zukunft der Psychoanalyse. Aufsätze zu allgemeinen Themen und zur Psychologie des Selbst, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 205-251. 17 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. 7 I. Narzissmus und Ichideal in der Psychoanalyse: Freud und die Freudianer Themen, die in Mythos und Literatur verschlüsselt und verdichtet werden und die Fantasie mancher Philologen beflügeln, werden von anderen Wissenschaftlern in ihre Bestandteile zerlegt, erläutert und dem begrifflichen Denken zugänglich gemacht. Ihre Entzauberung im wissenschaftlichen Kommentar hat einerseits zur Folge, dass sie wie von der Sonne gebleichte Muscheln ihre schillernde Anziehungskraft verlieren; sie bewirkt andererseits, dass der Erkenntniswert von Mythos und Literatur zutage tritt - und deren Nähe zur Wissenschaft. Von Ovid bis Oscar Wilde erforschen Dichter das narzisstische Verlangen und seine Fallstricke, seit Ovid liegt die Struktur der scheinbar objektlosen Liebe offen zutage, aber erst Freud versucht, eine umfassende Erklärung dieser Struktur zu finden, so wie er versucht, das von Philologen nur beschriebene Zögern Hamlets als unbewusste Hemmung zu erklären. 1 Die Symbiose von Dichtung und Psychoanalyse scheint darin zu bestehen, dass der Tiefenpsychologe reflektierend auf den Begriff bringt, was der Künstler nur dunkel ahnte, dass dieser oftmals aber die Entdeckungen des Wissenschaftlers - wenn auch in Form von Andeutungen - vorwegnimmt. Freud selbst bringt dieses antizipierende Vermögen des Schriftstellers in einem Brief an Arthur Schnitzler vom 8. Mai 1906 zur Sprache: „Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen könnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objektes erworben und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert.“ 2 Dieser Satz zeugt nicht nur vom Zusammenwirken eines kreativ-bewundernden und eines neidisch-malignen Narzissmus, sondern auch von einer literarisch-wissenschaftlichen Symbiose, die einen allgemeinen und einen besonderen Aspekt aufweist. Der allgemeine Aspekt kommt in der Gabe der Dichter und Künstler zum Ausdruck, wissenschaftliche Probleme in mythisch-fiktiver 1 S. Freud, „Die Traumdeutung“ (1900), Studienausgabe (im Folgenden = StA), Bd. II, Frankfurt, Fischer, 1982, S. 268-270. 2 S. Freud, in: A. Schnitzler, Die Braut. Traumnovelle, Stuttgart, Reclam, 1976 (Vorwort von H. Scheible), S. 105. 8 Form vorwegzunehmen und bisweilen auch einer intuitiven Lösung zuzuführen. Der besondere Aspekt wird hier zum Gegenstand des ersten Abschnitts, in dem die Parallelentwicklung und wechselseitige Erhellung von Philosophie, Literatur und Psychoanalyse zentral ist. Es soll dort gezeigt werden, wie die Psychoanalyse als Erbin der Philosophie Nietzsches aus einer spätmodernen Problematik 3 hervorgeht, die von der Krise der gesellschaftlichen Werte, der strukturellen Ambivalenz und der Entdeckung der unversöhnten Natur in der Kultur geprägt ist. 1. Zum Ursprung der Psychoanalyse: Philosophisch-literarische Prolegomena Freuds Psychoanalyse als Theorie des Unbewussten und des Subjekts ist sicherlich nicht aus dem Einfluss einer Philosophie - etwa der Nietzsches - ableitbar. Um 1900 setzten sich Mediziner und Psychologen intensiv mit einer Erscheinung auseinander, die sie als „Ichspaltung“ oder „multiple Persönlichkeit“ bezeichneten. Sie bezogen sich dabei auf Experimente und Analysen, die Zweifel an der Einheit des individuellen Subjekts aufkommen ließen. Binet veröffentlichte Les Altérations de la personnalité (1892), Ribot Les Maladies de la personnalité (1895), und Max Dessoir sprach vom „Doppel-Ich“. 4 Fast gleichzeitig untersuchte der Schriftsteller und Psychologe Paul Bourget ein Phänomen, für das er den Ausdruck „Vielfalt des Ichs“ oder „multiplicité du moi“ 5 erfand. Mit dieser Vielfalt befasste sich auch Marcel Proust in seiner Recherche, in der er das Wort inconscient 6 gebrauchte, ohne Freuds Psychoanalyse zu kennen. 7 Das Unbewusste im voranalytischen Sinn, das für das Verständnis von Prousts unwillkürlicher Erinnerung so wichtig 3 Zur Definition der spätmodernen (modernistischen) Problematik vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2001 (2. Aufl.), S. 266-268. 4 Vgl. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Bern-Stuttgart-Wien, Huber, 1973, S. 194. 5 M. Mansuy, Un Moderne. Paul Bourget, Paris, Les Belles Lettres, 1968, S. 391. 6 M. Proust, A la recherche du temps perdu, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1954, Bd. III, S. 339. 7 Vgl. J. Zéphir, La Personnalité humaine dans l’œuvre de Marcel Proust, Paris, Minard, 1959, S. 25. 9 ist, wurde bereits von Romantikern wie Chateaubriand (in Mémoires d’outre-tombe), E. T. A. Hoffmann und Gérard de Nerval, auf die sich Proust immer wieder berief, literarisch erforscht. Man geht daher nicht fehl mit der Annahme, dass das Unbewusste und die Zerrissenheit des Subjekts Themen der Jahrhundertwende waren, mit denen sich Freud, der mit den Arbeiten Charcots und seines Schülers Pierre Janet (L’Evolution psychologique de la personnalité, 1929) bestens vertraut war 8 , intensiv auseinandersetzte. Grundsätzlicher als das Subjektproblem, das durch die Entdeckung und Erforschung des Unbewussten um die Jahrhundertwende immer mehr in den Vordergrund rückt, scheint jedoch ein verwandtes Problem zu sein, das die gesamte spätmoderne Problematik durchzieht und die Psychoanalyse mit Philosophie und Literatur verbindet: das Problem der Ambivalenz. Im psychologischen Bereich wurde dieser Terminus von Eugen Bleuler geprägt, der drei Arten von Ambivalenz unterscheidet: die affektive, die intellektuelle und die des Willens. 9 Dass starke ambivalente Regungen, die aus dem Unbewussten hervorgehen, die Einheit des Subjekts in Frage stellen und eine „multiple Persönlichkeit“ zur Folge haben können, wird von Freud in seinem Vortrag „Die Libidotheorie und der Narzißmus“ (1917) bestätigt, in dem er sich auf Bleuler beruft. Von der Ambivalenz sagt er dort: „Wir meinen damit die Richtung entgegengesetzter, zärtlicher und feindseliger, Gefühle gegen dieselbe Person.“ 10 Dies ist allerdings ein nietzscheanisches Problem par excellence und damit ein zentrales Problem der gesamten spätmodernen oder modernistischen Problematik (ca.1850-1950), die hier als ein Ensemble verwandter Probleme definiert wird, auf die Wissenschaftler, Künstler, Philosophen und Politiker unterschiedlich reagieren. Aus dieser Sicht erscheint sie als zugleich homogene und heterogene Einheit. Nietzsche scheint Bleulers und Freuds Vorstellung von der affektiven Ambivalenz vorwegzunehmen, wenn er die psychischen Gegensätze in einer offenen, antihegelianischen Dialektik zusammenführt. Im tiefsten Grunde seiner Seele liebt der Menschenhasser die Menschen: „Misanthropie ist die Folge einer allzu begehrlichen Menschen- 8 Vgl. S. Freud, „Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung“ (1910), StA, Bd. VI, S. 207. 9 Vgl. S. Freud, „Triebe und Triebschicksale“ (1915), StA, Bd. III, S. 94. 10 S. Freud, „Die Libidotheorie und der Narzißmus“ (1917), StA, Bd. I, S. 412. 10 liebe und ‚Menschenfresserei‘ (...).“ 11 Nietzsche nimmt insofern Freuds Trieblehre vorweg, wie Paul-Laurent Assoun gezeigt hat 12 , als er die Ambivalenz menschlicher Regungen zutage treten lässt: eine Ambivalenz, die Freuds Beschreibung des ödipalen Vater-Sohn- Verhältnisses - etwa in „Zur Psychologie des Gymnasiasten“ (1914), wo von „Gefühlsambivalenz“ 13 die Rede ist, - durchzieht. Jedoch ist Nietzsches Philosophie eher geeignet, Licht auf die gesamte spätmoderne Problematik zu werfen als die Freudsche Lehre, weil sie weiter ausholt und indirekt auch die gesellschaftlichen Ursachen der Ambivalenz erkennen lässt. Weit davon entfernt, eine bloß gefühlsmäßige Doppelgleisigkeit zu sein, wird diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem sozialen Phänomen, welches das Wertsystem als ganzes erfasst. In diesem historischen Kontext nimmt Nietzsche einen Standpunkt „jenseits von Gut und Böse“ ein und beschließt, den alten Glauben der Metaphysiker, den Glauben „an die Gegensätze der Werte“ 14 , grundsätzlich in Frage zu stellen: „Es wäre sogar noch möglich, daß was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.“ 15 In diesem Zusammenhang wird Vernunft zur Unvernunft 16 , Wahrheit zur willkürlich festgelegten Konvention 17 und Logik zur Unlogik. 18 Es ist der gesellschaftliche und sprachliche Zusammenhang, in dem die Psychoanalyse ihre großen Entdeckungen macht: in dem Liebe und Hass, Selbstliebe und Selbsthass, Eros und Tod als auf „verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt“ erscheinen, so dass ihre gutgläubige Trennung als vormoderne Naivität diskreditiert wird. Erst in dieser Situation können etablierte Gegensätze überwunden werden, die manichäisch denkende Ideologen seit Jahrhunderten hü- 11 F. Nietzsche, „Die Fröhliche Wissenschaft“, Werke, Bd. III (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 142. 12 Vgl. P.-L. Assoun, Freud et Nietzsche, Paris, PUF (1980), 1998, S. 22. 13 S. Freud, „Zur Psychologie des Gymnasiasten“ (1914), StA, Bd. IV, S. 238-239. 14 F. Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, Werke, Bd. IV, S. 568. 15 Ibid. 16 F. Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches“, Werke, Bd. II, S. 873. 17 Vgl. F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, Werke, Bd. V, S. 314. 18 F. Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“, op. cit., S. 118-119. 11 ten. „Es braucht nicht viel analytischen Scharfsinns“, bemerkt der Nietzscheaner und Modernist Freud, „um zu erraten, daß Gott und Teufel ursprünglich identisch waren.“ 19 Nicht die anthropologische oder religionswissenschaftliche Frage, ob diese Behauptung zutrifft, ist hier wichtig, sondern die Feststellung, dass die Psychoanalyse im Anschluss an Nietzsche „jenseits von Gut und Böse“ denkt. Auf dieser Ebene wird sie von einer spätmodernen (modernistischen) Literatur ergänzt, die bei Kafka die Justiz als „Göttin der Jagd“ darstellt, bei Musil den Pazifismus für den Krieg mitverantwortlich macht, in Thomas Manns Doktor Faustus das Humane mit dem Inhumanen und das Göttliche mit dem Teuflischen verknüpft. Italo Svevo zeigt in seinem Roman La coscienza di Zeno, dass das Subjekt selbst „jenseits von Gut und Böse“ anzusiedeln ist, wenn er seinen Protagonisten die Fragen aufwerfen lässt: „Wer bin ich denn? “ und: „Bin ich gut oder schlecht? “ 20 Die Ambivalenz als destrukturierendes Prinzip der Spätmoderne (des Modernismus) stellt die Einheit des Subjekts in Frage, weil sie die ihm innewohnenden Widersprüche, konträren Regungen und Zweideutigkeiten zutage treten lässt. In diesem Kontext kann es kaum mehr als Zufall erscheinen, dass Musil Ulrichs und Agathes ambivalente Einstellung zum Vater zu einem der Hauptthemen seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften macht und dass die Mythen des Androgynen und des Hermaphroditen einem roten Faden gleich diesen Roman durchziehen. In beiden Fällen handelt es sich um Ausdrucksformen des spätmodernen Prinzips, das Franz Werfels Erzählung „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ innewohnt, und auch in Pirandellos Roman Uno, nessuno e centomila eindeutig ödipale Konnotationen annimmt. Dort erinnert sich der Sohn (als Ich-Erzähler) an das ambivalente Lächeln des Vaters: „Seine Zärtlichkeit für mich, die aus seinen Augen sprach und zugleich das verborgene Grinsen widerspiegelte, erschien mir jetzt erschreckend boshaft: sie enthüllte mir plötzlich viele Dinge, die mir Schauer über den Rücken jagten.“ 21 „Zugleich“ ist hier das Schlüsselwort, weil es zu verstehen gibt, dass die Gegensätze gleichzeitig anwesend sind und zusammenwirken - wie in jeder Dialektik. Sie kön- 19 S. Freud, „Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert“ (1923), StA, Bd. VII, S. 301. 20 I. Svevo, Zeno Cosini (1923), Reinbek, Rowohlt, 1959, S. 345. 21 L. Pirandello, Einer, keiner, hunderttausend (1926), Gesammelte Werke, Bd. V, Berlin, Propyläen, 1998, S. 323. 12 nen nicht voneinander getrennt werden, indem behauptet wird, dass jemand zum Zeitpunkt T 1 liebt und zum Zeitpunkt T 2 hasst. Liebe und Hass treten gleichzeitig auf. Dies ist auch bei Freud der Fall, der symmetrisch zu Pirandello von der „Ambivalenz [des Sohnes] im Verhältnis zum Vater“ 22 spricht und an anderer Stelle die Einheit von Gott und Teufel in die Vatergestalt projiziert: „Der Vater wäre also das individuelle Urbild sowohl Gottes wie des Teufels.“ 23 Möglicherweise ist aber - im Kontext der spätmodernen Ambivalenz - der Sohn nicht minder teuflisch als der Vater. Diesen lässt Kafka in seiner bekannten Erzählung „Das Urteil“ sagen: „Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! “ 24 Man sollte das Ambivalenzproblem weder mit der Vater-Sohn- Beziehung und der ödipalen Szene identifizieren noch auf den psychischen Bereich beschränken. Denn Nietzsche und die Schriftsteller zeigen, dass es nahezu alle Begriffe und Werte der spätmodernen Problematik erfasst, in der Wahrheit und Lüge, Friede und Krieg, Liebe und Hass, Eros und Tod, Schuld und Unschuld schließlich als komplementäre Aspekte eines und desselben Phänomens erkannt werden. In dieser Situation nimmt es kaum wunder, dass bei Freud sogar Liebe und Tod ineinander greifen: „Die Liebesgöttin selbst, die jetzt an die Stelle der Todesgöttin trat, war einst mit ihr identisch gewesen.“ 25 Auch hier geht es nicht primär um die Frage, ob diese Aussage von Anthropologen oder Altphilologen (es geht u.a. um Aphrodite) bestätigt werden könnte. Wichtiger scheint die Frage zu sein, weshalb die Ambivalenz, die Freud eher als anthropologische Konstante behandelt 26 , als nachhegelianische, unaufhebbare Einheit von Gegensätzen die gesamte Spätmoderne strukturiert: von der Philosophie und der Literatur bis zur Psychoanalyse. Sie wird zumindest ansatzweise vom jungen Marx beantwortet, der an der Schwelle zur Spätmoderne das Ambivalenzphänomen mit 22 S. Freud, „Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität“ (1922), StA, Bd. VII, S. 223. 23 S. Freud, „Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert“ (1923), StA, Bd. VII, S. 301. 24 F. Kafka, Das Urteil und andere Erzählungen, Frankfurt, Fischer, 1952, S. 18. 25 S. Freud, „Das Motiv der Kästchenwahl“ (1913), StA, Bd. X, S. 191. 26 Vgl. S. Freud, „Totem und Tabu“ (1912-13), StA, Bd. IX, S. 439. 13 der sich durchsetzenden Geldwirtschaft und der Vermittlung durch den Tauschwert verknüpft. Vom Geld heißt es in „Nationalökonomie und Philosophie“ (1844): „Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, die Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.“ 27 Diese Einschätzung ergänzt später Georg Simmel, wenn er vom Geld sagt, es werde „zum Generalnenner aller Werte“ 28 , deren Eigenart und Unvergleichbarkeit es aushöhlt. So entsteht eine Situation, in der die Kultur der entwickelten Marktgesellschaft um 1900 als konsensfähiges Wertsystem in Frage gestellt und in ihrer Gesamtheit der Ambivalenz überantwortet wird. In Freuds Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“ erscheint sie einerseits als Garantin menschlicher Ordnung, andererseits als kontingentes System und als Zwangsjacke: „Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besetzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.“ 29 Dies geschieht in einer historischen Entwicklungsphase, die schon „jenseits von Gut und Böse“ ist, weil der Gegensatz zwischen den beiden Grundwerten von der Ambivalenz in Frage gestellt wird und nicht mehr „gegeben“ ist: „Das Böse ist oft gar nicht das dem Ich Schädliche oder Gefährliche, im Gegenteil auch etwas, was ihm erwünscht ist, ihm Vergnügen bereitet.“ 30 Zugleich mit der Kultur wird die Natur - als gesellschaftlich vermittelte Naturvorstellung - von der coincidentia oppositorum erfasst: Sowohl in der Literatur als auch in der Psychoanalyse wird sie bald als Bedrohung, bald als Befreiung dargestellt. Während Kafka und Sartre die Gefahren einer ekelerregenden Natur in den Vordergrund treten lassen, feiern Hesse und Camus - mit Nietzsche - die Befreiung des Subjekts in der Natur. 31 27 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Hrsg. S. Landshut, Stuttgart, Kröner, 1971, S. 301. 28 G. Simmel, Das Individuum und die Freiheit, Berlin, Wagenbach, 1984, S. 196. 29 S. Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“ (1929-39), StA, Bd. IX, S. 250. 30 Ibid, S. 251. 31 Vgl. Vf., Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Francke, 2001, Kap. V. 14 Anders als sie hält Freud an einer nachhegelianischen Dialektik, einer Einheit der Gegensätze ohne Synthese, fest, die er in das Subjekt selbst hineinträgt. Sein Struktur- oder Aktantenmodell ist ein ständiges Oszillieren des Ichs zwischen Es und Überich (Kultur-Überich), d.h. zwischen Natur und Kultur. Dieses Modell ist insofern eine Metonymie der gesamten Spätmoderne, als es versucht, den Ambivalenzen der Subjektivität Rechnung zu tragen und zwischen den unvereinbaren Ansprüchen von Kultur und Natur analytisch zu vermitteln. „Wo Es war, soll Ich werden“, aber dieses Ich soll lernen, auf das Es zu hören und es mit den Anforderungen des Überichs zu versöhnen. Dass auch dem Narzissmus die strukturelle Ambivalenz zugrunde liegt, lässt auf besonders prägnante Art der modernistische Roman Oscar Wildes erkennen. In The Picture of Dorian Gray wird die Selbstliebe nietzscheanisch mit dem Selbstmord verknüpft, denn es wird gezeigt, wie der sich spiegelnde Eros, der das Subjekt selbst zum Gegenstand hat, dieses Subjekt schließlich zerstört. Die Unterscheidung zwischen gesundem und krankem Narzissmus mag sinnvoll und nützlich sein, aber auch sie ist nicht jenseits des Ambivalenzprinzips und hat folglich nur einen heuristischen Wert. 2. Der Narzissmus-Begriff und das narzisstische Subjekt Da der Narzissmus als „narzisstische Libido“ immer wieder auf das Ich, das Überich, das Ichideal und das Objekt bezogen wird, scheint es in einem ersten Schritt für die Klärung der Terminologie notwendig zu sein, den Stellenwert des Subjektbegriffs in diesem semantischen Feld näher zu bestimmen. Freud verwendet diesen Begriff selten, aber er verwendet ihn - und zwar als Synonym von „Ich“. So postuliert er etwa in „Triebe und Triebschicksale“ den folgenden Gegensatz: „Subjekt (Ich) - Objekt (Außenwelt)“. 32 Er fährt fort: „Der Gegensatz von Ich - Nicht-Ich (Außen), (Subjekt-Objekt), wird dem Einzelwesen, wie wir bereits erwähnt haben, frühzeitig aufgedrängt (...).“ 33 Einige 32 S. Freud, „Triebe und Triebschicksale“ (1915), StA, S. 96. 33 Ibid. 15 Zeilen weiter ist vom „Ich-Subjekt“ 34 die Rede. Auch Freuds Erben sprechen bisweilen vom Subjekt, wenn sie das Ich meinen. 35 Das ist nicht nur deshalb unbefriedigend, weil eine Unterscheidung eher zur begrifflichen Klärung beiträgt als undifferenzierte Iden tifikationen, sondern auch deshalb, weil im freudianischpsychoanalytischen Kontext Ich, Es und Überich eine, wenn auch spannungsreiche, Einheit bilden, für die die Bezeichnung „Subjekt“ noch am ehesten in Frage kommt. Sie drängt sich geradezu auf, weil bei Freud und den Freudianern immer wieder von „Objekten“ und „Objektbeziehungen“ die Rede ist, die auf Subjekte und subjektive Einstellungen verweisen. (Mit „Objekten“ sind zumeist andere Subjekte gemeint.) Da sich der narzisstische Impuls, wie bereits angedeutet, außer auf das Ich auch auf das Ichideal oder das Überich beziehen kann, erscheint es sinnvoll, an einem philosophischen Begriff festzuhalten, der die handelnde Instanz als ganze, als Einheit bezeichnet: am „Subjekt“. Gemeint ist hier durchweg das individuelle Subjekt, das sich nach Freud aus infra-individuellen Subjekten oder Subjekt-Aktanten (Greimas) zusammensetzt: aus Ich, Es und Überich. Folgerichtig können innerhalb dieser Anordnung im Anschluss an Greimas’ Semiotik 36 individuelle von kollektiven Subjekten oder Subjekt-Aktanten wie Gruppen, Organisationen und Bewegungen unterschieden werden, deren Gegenwart sich auf das Leben der individuellen Subjekte mehr oder weniger stark auswirken kann. Man sollte nicht mit der Bemerkung vorlieb nehmen, dass Freud den Subjektbegriff kaum verwendet, sondern nach einer Erklärung dieser Tatsache suchen. Wenn er in späteren Phasen seiner Entwicklung diesen philosophischen Terminus durch das triadische Struktur- oder Aktantenmodell Ich-Es-Überich ersetzt, so mag dies mit seiner Einsicht in den prekären Charakter spätmoderner Subjektivität zusammenhängen: einer Einsicht, die Jacques Lacan nach dem Zweiten Weltkrieg vertieft und radikalisiert. 34 Ibid, S. 97. 35 Vgl. P. Federn, „Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus“, Kap. XV, in: ders., Ichpsychologie und die Psychosen (1956), Frankfurt, Suhrkamp, 1978 sowie J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay über die ‚Krankheit der Idealität‘ (1975), Frankfurt, Suhrkamp, 1981, 1987, S. 157. 36 Vgl. A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, Kap. II. 16 Im Kontext der Ambivalenz erscheint Freud das Subjekt möglicherweise als „unrettbar“ (Mach) 37 , als eine zwischen Natur und Kultur hin und her gerissene Instanz, deren Einheit weder cartesianisch noch kantianisch vorausgesetzt werden kann. Es ist weder Natur noch Kultur, sondern beides zugleich, d.h. zerrissen zwischen zwei Welten wie die Helden Kafkas und Sartres, die vor ihrer eigenen Natur fliehen, wie die Helden Hesses, Camus’ oder D. H. Lawrences, die vor ihrer Kultur in die Natur flüchten. Die prekäre Position des individuellen Subjekts bei Freud stellt auf besonders anschauliche Art Ernest Jones in seiner Freud-Biographie dar: „Freud gibt zu, daß die kulturellen Errungenschaften der Unterdrückung der Triebe zu verdanken sind, aber er wirft die Frage auf, ob die Grenze dieses Vorganges nicht erreicht sei und ob das, was die Kultur gewonnen habe, nicht schon durch den Schaden, den sie anrichte, aufgewogen werde.“ 38 Diese Frage durchzieht die gesamte spätmoderne Problematik: von Nietzsches Zarathustra bis zu Gides L’Immoraliste. Sie klingt auch in den verschiedenen Narzissmus-Definitionen an, die Kommentatoren in Freuds Werk und vor allem in seinem Aufsatz „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914) gefunden haben. Zu den gründlichsten Analysen des Freudschen Narzissmus-Begriffs gehört wohl Willy Barangers Auflistung der verschiedenen Aspekte dieses Terminus. Baranger unterscheidet neun Definitionen, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen: „Die erste Gruppe bezieht sich im wesentlichen auf den Narzißmus als eine Form der Triebschicksale. Die zweite Gruppe akzentuiert das Objekt in den narzisstischen Stadien, und die Probleme des Narzißmus fallen mit jenen der Identifizierung in ihrer introjektiven Form zusammen. Die letzte Gruppe besteht aus Erweiterungen des Begriffs zur Bezeichnung von Einstellungen, Gefühlen und charakteristischen Zügen, die die Bewertung, Entwertung und Überbewertung eines Aspekts der Person andeuten.“ 39 37 Vgl. E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1922), Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1991, S. 20. 38 E. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. II, Jahre der Reife, 1901-1919, Bern-Stuttgart, Huber, 1962, S. 348. 39 W. Baranger, „Der Narzißmus bei Freud“, in: J. Sandler (Hrsg.), Über Freuds „Zur Einführung des Narzißmus“, (New Haven-London, 1991) Stuttgart-Bad Canstatt, Frommann-Holzboog, 2000, S. 151. 17 Mit den „Triebschicksalen“ sind hier auch die verschiedenen Stadien der Triebentwicklung gemeint, in deren Verlauf eine „autoerotische“ Phase von einer „primärnarzisstischen“ abgelöst wird, der nach einer (problematischen) Objektwahl ein „sekundärer Narzissmus“ folgt. Dieser besteht, wie noch zu zeigen sein wird, in einem Rückzug der Libido von den (enttäuschenden) Objekten in das eigene Ich. Die Narzissmus-Definitionen der zweiten Gruppe beziehen sich auf die Objektwahl, und der Ausdruck „narzisstische Objektwahl“ bedeutet, „daß das Individuum sein Objekt auf der Basis der eigenen Wesensmerkmale wählt“ 40 , also in Übereinstimmung mit seinen eigenen psychischen und physischen Charakterzügen. Die narzisstische Objektwahl kann auch introjiziert sein, so dass sich der Narzissmus nicht auf das Ich, sondern auf das Überich oder das Ichideal bezieht: „Das Zentrum des Narzißmus besteht in diesem Falle nicht aus dem Ich, sondern aus dem Über-Ich oder dem Ich-Ideal, dem es sich anzupassen versucht und das allein wahrhaft bewundernswert ist.“ 41 In diesem Kontext kann auch die „eigene Schönheit“ oder „die Macht der eigenen Gedanken“ narzisstisch besetzt werden. Zur dritten Gruppe der Freudschen Narzissmus-Definitionen gehören psychische und körperliche Aspekte der eigenen Person: das Selbstgefühl, bestimmte Unterscheidungsmerkmale oder der ganze Körper. Durchzogen wird diese Begriffsbestimmung des Freudschen Narzissmus von der Ambivalenz, die auch für das Spannungsverhältnis der das Subjekt konstituierenden Instanzen Ich, Es und Überich verantwortlich ist. Man muss kein Anhänger der Dekonstruktion sein, um festzustellen, dass Barangers terminologische Analyse Widersprüchliches zusammenführt: Die libidinöse Besetzung des eigenen Körpers ist geradezu das Gegenteil einer libidinösen Besetzung des Überichs, in dem Pflichtbewusstsein, Ordnungssinn und Altruismus zum Ausdruck kommen. Wie das labil geschichtete Freudsche Subjekt ist auch Freuds Narzissmus als ambivalentes, widersprüchliches Phänomen noch am ehesten zu verstehen. Davon zeugen auch die vierzehn Aspekte des Begriffs, die Martin Altmeyer in Narzißmus und Objekt (2000) aufgeführt hat. In seiner Darstellung erscheint der Freudsche Narzissmus einerseits als „Be- 40 Ibid. 41 Ibid., S. 152. 18 zeichnung für eine Perversion“, „passive Liebesphantasie“, „Bezeichnung eines regulären Entwicklungsstadiums der Libido“, „Allmachtsphantasie“, „libidinöse Ergänzung zum Egoismus“, „ursprüngliche Libidobesetzung des Ich“; andererseits aber auch als Libidobesetzung des „Ich-Ideals“, als „passiver Anteil der Objektliebe“, „narzißtischer Typus der Objektwahl“, „sekundärer Narzißmus, der durch einen Rückzug der Libido vom bereits besetzten Objekt entsteht“, „narzißtische Identifiziereung“ (mit einer idealisierten Person als Objekt), „Kraftäußerung von Sexualtrieben“, „desexualisierte oder sublimierte Sexualität“ - und als „primärer Narzißmus“ (im Sinne einer „psychischen Fortsetzung der intrauterinen Welt“). 42 Die dem Freudschen Narzissmus zugrunde liegende Ambivalenz nimmt hier eine etwas andere Gestalt an als bei Baranger. Wie bei diesem fällt auch hier der Gegensatz zwischen der libidinösen Besetzung des eigenen Körpers und der Ausrichtung der Libido auf ein Ichideal auf. Zugleich wird jedoch der Gegensatz zwischen einer aktiven und einer passiven Einstellung sichtbar: Während im „passiven Anteil der Objektliebe“ der Wunsch, geliebt zu werden, zum Ausdruck kommt, zeugen „Egoismus“ und narzisstische „Allmachtsphantasie“ von einer aktiven oder gar herrschsüchtigen Einstellung. Narziss erscheint hier als janusköpfige Gestalt, als zugleich körperliches und vergeistigtes, selbstbezogenes und objektorientiertes, passives und aktives Wesen, das einerseits mütterlich geliebt werden möchte, es andererseits aber versteht, sich Bewunderung durch Machtausübung zu verschaffen. Es fragt sich daher, wie diese konträren Elemente im Subjekt zusammenwirken und was „Narzissmus“ in Freuds Werk, vor allem aber in seinem bekannten Aufsatz „Zur Einführung des Narzißmus“, bedeutet. Im Anschluss an Havelock Ellis und Paul Näcke, die in ihren Studien über sexuelle Perversionen nahezu gleichzeitig (um 1900) das Wort „Narzissmus“ in die Diskussion eingeführt haben 43 , greift Freud diesen Terminus, den er auf einer Tagung der Wiener Psychoanalyti- 42 M. Altmeyer, Narzißmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 2004 (2. Aufl.), S. 42- 46. 43 Vgl. H. H. Ellis, „Auto-erotism: A Psychological Study“, in: The Alienist and Neurologist 19, 1898, sowie P. Näcke, „Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualität“, in: Psychiatrisches Archiv für Nervenkrankheiten 32, 1899. 19 schen Gesellschaft am 10. November 1909 zum ersten Mal verwendet, in der zweiten Auflage seiner Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 44 auf. Doch erst in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1914 unternimmt er einen systematischen Versuch, das Phänomen „Narzissmus“ aufzuschlüsseln. Einem aufmerksamen Leser dieses Textes wird nicht entgehen, dass es hier wieder um das zerrissene individuelle Subjekt geht, das die spätmoderne Ambivalenz, die den Diskurs der Psychoanalyse strukturiert, als ein „Doppelwesen“ zwischen Natur und Kultur erscheinen lässt. Von der Kultur wird der Einzelne als Selbstzweck im Kantschen Sinne aufgefasst, von der Natur hingegen dazu bestimmt, der Fortpflanzung als Mittel zu dienen: „Das Individuum führt wirklich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweck und als Glied in einer Kette, der es gegen, jedenfalls ohne seinen Willen dienstbar ist.“ 45 Das Subjekt führt auch ein Doppelleben zwischen Ichtrieben und Sexualtrieben, zwischen Ichlibido und Objektlibido: „Die Sonderung der Libido in eine solche, die dem Ich eigen ist, und eine, die den Objekten angehängt wird, ist eine unerläßliche Fortführung einer ersten Annahme, welche Sexualtriebe und Ichtriebe voneinander schied.“ 46 Abermals wird hier der Einzelne als spätmodern gespaltenes, ambivalentes Wesen dargestellt, das zwischen Ichtrieben (Selbsterhaltungstrieben) und Sexualtrieben aufgerieben zu werden droht, das zwischen Ichliebe und Objektliebe schwankt. Dabei ist das Ich den Spannungen ausgesetzt, die zwischen (Kultur-)Überich und Es entstehen können und das Subjekt als Einheit immer wieder in Frage stellen. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Freuds Narzissmus-Aufsatz einen Wendepunkt in seiner Triebtheorie darstellt, weil der ursprüngliche Gegensatz zwischen Ichtrieben und Sexualtrieben nun vom Gegensatz zwischen narzisstischer Ichlibido und Objektlibido überlagert wird. 47 Dadurch wird der Kontrast zwischen Ichtrieben und Sexualtrieben relativiert, weil das ursprünglich autoerotische Ich 44 Vgl. S. Freud, „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905), StA, Bd. V, S. 56. 45 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914), StA, Bd. III, S. 45. 46 Ibid. 47 P. Schneider, „(In) den Narzißmus einführen. Ein Kommentar zu Freuds ‚Zur Einführung des Narzißmus‘“, in: Psyche. Zs. Für Psychoanalyse 4, 2005, S. 320. 20 nun trotz aller Einwände C. G. Jungs, der die Libido vom Sexuellen ablösen wollte 48 , selbst als mit sexueller Libido besetzt erscheint. Wie sehr Freuds Kommentare zum Ursprung des Narzissmus - als libidinöser Besetzung des Ichs - mit dem bürgerlichen Individualismus seiner Zeit verwachsen sind, zeigt vor allem seine Verknüpfung von Narzissmus und Egoismus: „Der Egoismus ist in all diesen Beziehungen das Selbstverständliche, Konstante, der Narzißmus das variable Element.“ 49 An anderer Stelle wird der Narzissmus als „die libidinöse Ergänzung zum Egoismus“ 50 definiert. Im Vergleich zur Objektliebe wird er als das Ursprüngliche aufgefasst. Denn Freud vertritt die Meinung, „daß dieser Narzissmus der allgemeine und ursprüngliche Zustand ist, aus welchem sich erst später die Objektliebe herausbildete, ohne daß darum der Narzißmus zu verschwinden brauchte“. 51 Völlig verdrängt wird die Objektliebe von der narzisstischen Besetzung des Ichs während einer physischen oder psychischen Krankheit, die zur Folge hat, dass sich das Subjekt auf hypochondrische Art mit seinem kranken Organ beschäftigt oder mit sich selbst. Die Besetzung des Ichs mit sexueller Libido kann, wie Freuds Analyse des Falls „Schreber“ zeigt, in Paranoia (Realitätsverlust und Größenwahn) münden. Dazu bemerkt Freud im Zusammenhang mit Schreber, „daß die frei gewordene Libido bei der Paranoia zum Ich geschlagen, zur Ichvergrößerung verwendet wird“. 52 Zu einer temporären narzisstischen Abwendung von der Wirklichkeit und ihren Objekten kommt es nach Freud auch im Schlaf, wenn sich das Subjekt im Traum mit sich selbst beschäftigt. Zur anthropologisch-kollektiven Erklärung des Narzissmus als Begleiterscheinung des Egoismus, die für die ganze Gesellschaft gilt, gesellt sich bei Freud eine Erklärung, die psychisch-individuellen Charakter hat und sich auf die Entwicklung des männlichen Kindes 48 Vgl. L. Gast, Libido und Narzißmus. Vom Verlust des Sexuellen im psychoanalytischen Diskurs, Tübingen, Edition Diskord, 1992, S. 44. Lili Gast spricht im Zusammenhang mit Jung vom „entsexualisierten Libidobegriff“. 49 S. Freud, „Die Libidotheorie und der Narzißmus“, StA, Bd. I, S. 403. 50 Ibid., S. 402. 51 Ibid., S. 401. 52 S. Freud, „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“ (1911), StA, Bd. VII, S. 194-195. 21 bezieht. Es geht um die Mutterbindung des Sohnes, mit der sich Freud in seiner Arbeit über „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910) befasst. In dieser Schrift stellt er eine Konstellation dar, in der die Abwesenheit des Vaters die Fixierung des Sohnes auf die Mutter verstärkt. Dessen Liebe wird jedoch durch das Inzestverbot gehemmt und verfällt der Verdrängung. Dies hat schwerwiegende Folgen, die Freud ausführlich beschreibt: „Der Knabe verdrängt die Liebe zur Mutter, indem er sich selbst an deren Stelle setzt, sich mit der Mutter identifiziert und seine eigene Person zum Vorbild nimmt, in dessen Ähnlichkeit er seine neuen Liebesobjekte auswählt. Er ist so homosexuell geworden; eigentlich ist er in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild (...).“ 53 Spätestens hier wird deutlich, dass Freud für die Entstehung des Narzissmus verschiedene Erklärungen parat hält, die aufgrund ihrer Heterogenität nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Auf kollektiver Ebene geht der Narzissmus aus dem Egoismus (der bürgerlich-individualistischen Gesellschaft) hervor; auf individueller Ebene kann er als Hypochondrie aus einer körperlichen oder (im Rahmen von narzisstischen Neurosen oder Psychosen) psychischen Krankheit hervorgehen. Der Narzissmus des träumenden Schläfers ist normal; nicht jedoch der des jungen Mannes, der so lange und so intensiv auf seine Mutter fixiert bleibt, bis er sich mit ihr und ihrem Verlangen nach ihm identifiziert. Wenn es einen Oberbegriff gibt, dem diese verschiedenen „Narzissmen“ subsumiert werden könnten, so ist es die Ausrichtung des subjektiven Verlangens auf das Subjekt selbst oder die libidinöse Selbstbezogenheit des Subjekts (nicht des Ichs, da das Überich, das Es und der Körper ebenfalls involviert sind). Es wird sich zeigen, dass 53 S. Freud, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910), StA, Bd. X, S. 125. 22 diese Selbstbezogenheit durchaus objektvermittelt, intersubjektiv ist, wie Altmeyer richtig bemerkt. 54 Freuds Unterscheidung zwischen einer narzisstischen Objektwahl und einer Objektwahl nach dem Anlehnungstypus (in „Zur Einführung des Narzißmus“ und in „Die Libidotheorie und der Narzißmus“) kann noch am ehesten im Zusammenhang mit seiner Studie über Leonardo da Vinci verstanden werden. Denn Freud geht von der Hypothese aus, dass die homosexuelle Objektwahl im Gegensatz zur heterosexuellen eine narzisstische Struktur aufweist: Das Subjekt entscheidet sich für ein Objekt, das ihm ähnlich ist. Im Gegensatz dazu erfolgt die heterosexuelle Objektwahl nach dem Anlehnungstypus und visiert beim Mann die „nährende Frau“, bei der Frau „den schützenden Mann“ 55 an. Somit kann die Objektwahl auf zwei verschiedene Arten erfolgen: „Entweder nach dem narzißtischen Typus, indem an die Stelle des eigenen Ichs ein ihm möglichst ähnliches tritt, oder nach dem Anlehnungstypus, indem die Personen, die durch Befriedigung der anderen Lebensbedürfnisse wertvoll geworden sind, auch von der Libido zu Objekten gewählt werden.“ 56 Freud schließt nun die These an, dass „die volle Objektliebe nach dem Anlehnungstypus (...) eigentlich für den Mann charakteristisch [sei]“. 57 Während die männliche Libido objektorientiert, d.h. auf das Andere, ihr Entgegengesetzte ausgerichtet ist, wird die homosexuelle und die weibliche Libido von Freud als narzisstisch im Sinne der Selbstbezogenheit definiert. Anders als der Homosexuelle, der sich mit der Mutter identifiziert und die Mutterliebe reproduziert, wird die Frau durch ihre „Schönheit“, ihre „Selbstgenügsamkeit“ und ihre soziale Rolle in einen passiven Narzissmus gedrängt: „Es stellt sich besonders im Falle der Entwicklung zur Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt. Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden (...).“ 58 54 Vgl. M. Altmeyer, Narzißmus und Objekt, op. cit., S. 16-18. 55 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 56. 56 S. Freud, „Die Libidotheorie und der Narzißmus“, StA, Bd. I, S. 411. 57 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 54-55. 58 Ibid., S. 55. 23 Es ist an dieser Stelle nicht ganz klar, welcher der von Freud genannten Faktoren - „Schönheit“, „Selbstgenügsamkeit“ oder „sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl“ - für die narzisstische Einstellung der Frau verantwortlich ist. Freud würde möglicherweise auf das Zusammenwirken dieser drei Faktoren hinweisen. Aus heutiger Sicht mag eher eine gesellschaftliche Konstruktion des Weiblichen ausschlaggebend erscheinen, die sich am männlichen Blick der Modeschöpfer, Kosmetikspezialisten und Werbefachleute orientiert. Vor diesem Hintergrund erscheint Freuds etwas kursorische Analyse des weiblichen Narzissmus als revisions- und ergänzungsbedürftig. Von ihr gilt, was Juliet Mitchell vom „Penisneid“ sagt: „Und obzwar er den Begriff Penisneid fortentwickelte, ist doch das, was er über das Mädchen sagt, bislang noch reine Spekulation.“ 59 Im dritten Kapitel wird sich zeigen, dass der Begriff des weiblichen Narzissmus vor allem im Hinblick auf das „Ichideal“ auf soziologischer Ebene weiterentwickelt werden muss, um der veränderten Stellung von Frauen in Produktionsprozess und Gesellschaft Rechnung zu tragen. 3. Primärer und sekundärer, gesunder und kranker Narzissmus Freud spricht nicht nur von der narzisstischen „Selbstgenügsamkeit“ der Frau, sondern auch von der des Kindes und setzt einen „primäre[n] Narzissmus des Kindes“ 60 voraus. Diese Vorstellung von einem „primären Narzissmus“ als Entwicklungsstadium im menschlichen Leben war (wie die hier kommentierte Kritik von Michael Balint zeigt: vgl. I, 5 [a]) von Anfang an umstritten, weil sie mit dem Gedanken an eine Autarkie des Subjekts diesseits oder jenseits aller Objektbeziehungen einherging. Freud spricht immer wieder von den „Allmachtsphantasien“ des Kindes, das noch nichts von seinen Abhängigkeiten weiß. Einem solchen Autarkiebewusstein haftet jedoch Widersinn an, weil denkende Subjekte nur durch Interaktion mit anderen Subjekten (ihren Objekten) zustande kommen. Die terminologische Unsicherheit hängt einerseits mit Freuds großzügigem Sprachgebrauch, andererseits mit seiner bisweilen 59 J. Mitchell, Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung (1975), Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 125. 60 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 57. 24 sprunghaften Argumentation zusammen. In „Zur Einführung des Narzißmus“ ist ausgerechnet dort von einem „primären und normalen“ Narzissmus die Rede, also von einem Narzissmus im normativen und positiven Sinne, wo es hauptsächlich um psychische Erkrankungen wie „Dementia praecox“ und „Schizophrenie“ geht: „Ein dringendes Motiv, sich mit der Vorstellung eines primären und normalen Narzißmus zu beschäftigen, ergab sich, als der Versuch unternommen wurde, das Verständnis der Dementia praecox (Kraepelin) oder Schizophrenie (Bleuler) unter die Voraussetzung der Libidotheorie zu bringen.“ 61 Der diesem Satz zugrunde liegende semantische Bruch besteht darin, dass ein primärer und normaler Narzissmus vorausgesetzt, jedoch nicht definiert oder anhand von Beispielen veranschaulicht wird. Stattdessen führt das Argument in den Bereich der Krankheiten. Auch die dem Satz folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf psychische Krankheitsfälle und münden in eine Definition des Narzissmus, der als sekundärer und krankheitsbedingter Narzissmus (wieder normativ) aufgefasst wird: „Der Größenwahn dieser Zustände weist hier den Weg. Er ist wohl auf Kosten der Objektlibido entstanden. Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden, so daß ein Verhalten entstand, welches wir Narzißmus heißen können.“ 62 Unbeantwortet bleibt hier die Frage, wie sich dieser „reaktive“, sekundäre Narzissmus zu dem von Freud vorausgesetzten „primären und normalen Narzissmus“ verhält. Das Verhältnis fasst auf besonders prägnante Art Herbert Rosenfeld zusammen, wenn er im Anschluss an Freud erklärt, „daß das Individuum seine Libido auf das Selbst richtet und daß sekundärer Narzißmus eine Folge des Rückzuges der Libido vom Objekt auf das Selbst sei“. 63 Das terminologische Problem besteht nun darin, dass bei Freud weder vom „Individuum“ noch vom „Selbst“ die Rede ist, sondern von „Ich“, „Es“ und „Überich“, wobei nie geklärt wird, ob die Libido im Ich oder im Es gespeichert ist. 61 Ibid., S. 41-42. 62 Ibid., S. 42. 63 H. Rosenfeld, „Beitrag zur psychoanalytischen Theorie des Lebens- und Todestriebes aus klinischer Sicht: Eine Untersuchung der aggressiven Aspekte des Narzißmus“, in: E. Bott Spillius (Hrsg.), Melanie Klein heute. Entwicklungen in Theorie und Praxis. Bd. I: Beiträge zur Theorie, München-Wien, Verlag Internationale Psychoanalyse, 1990, S. 301. 25 Am eindeutigsten und einleuchtendsten lässt sich Freud selbst über den „primären“ und „normalen“ Narzissmus aus, wenn er diesen als „Intrauterinleben“ und als „Schlaf“ definiert. Beide Zustände können als Phasen des gesunden Lebens betrachtet werden und sind sogar vergleichbar. Freud macht sich den Vergleich zunutze, um den Schlaf als eine Rückkehr zum narzisstischen Urzustand im intrauterinen Dasein zu erklären: „Das Bild der seligen Isolierung im Intrauterinleben, welches uns der Schlafende allnächtlich wieder heraufbeschwört, wird so auch nach der psychischen Seite vervollständigt. Beim Schlafenden hat sich der Urzustand der Libidoverteilung wiederhergestellt, der volle Narzißmus, bei dem Libido und Ichinteresse noch vereint und ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich wohnen.“ 64 Im Anschluss an diese Passage wäre der „primäre Narzissmus“ im Sinne von Freud als notwendige, aber befristete physische, psychische und soziale Isolierung zu definieren, die das Subjekt zu neuer Kommunikation und Interaktion befähigt. Das Problem besteht darin, dass es sich bei der Annäherung des Schlafes an den intrauterinen Zustand lediglich um eine Analogie handelt. Der erwachsene Schläfer ist ein Subjekt, das durch seine Traumarbeit einige seiner im Alltag anfallenden Probleme bewältigen kann, während das Embryo kein Subjekt ist, sondern eine Einheit mit seiner Umwelt bildet und auf seine Subjektwerdung wartet. Hiermit ist das zweite Problem angesprochen, das den Begriff des „primären Narzissmus“ als Entwicklungsstadium in Verruf brachte: Der Zeitpunkt der Subjektkonstitution ist nicht leicht zu bestimmen, und es ist deshalb auch schwierig zu entscheiden, wann eine Subjekt- Objekt-Interkation beginnt, d.h. wann der Säugling aufhört, seine Mutter als Teil seiner selbst zu empfinden, und beginnt, sie als unabhängiges Subjekt-Objekt zu erkennen. 65 Gerhard Dahls Beschreibung des primären Narzissmus beleuchtet dieses Problem von einer anderen Seite, indem sie die Kontinuität von intrauterinem Leben und Kindheit bei Freud hervorhebt: „Diesen sehr primitiven Zustand der Libidounterbringung bezeichnet er als den primären Narzißmus, den er im intrauterinen Leben annimmt und der 64 S. Freud, „Die Libidotheorie des Narzißmus“, StA, Bd. I, S. 402. 65 Vgl. N. Symington, Narzißmus. Neue Erkenntnisse zur Überwindung psychischer Störungen, Gießen, Psychosozial-Verlag, 1999, S. 136-137. Vgl. auch D. W. Winnicott, Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums, Stuttgart, Klett-Cotta, 1990, S. 213. 26 sich in die erste Kindheit fortsetzt.“ 66 Die Geburt ist jedoch - wie Otto Rank wusste - kein geringes Ereignis, und es fragt sich, wie lange die kindliche Vorstellung von einer Einheit mit der Mutter (der Mutterbrust) die Frustrationen des Alltags überdauern und dem „primären Narzissmus“ als Grundlage dienen kann. Gegen Freud wurde jedenfalls der Vorwurf erhoben, dass die Einheit von Säugling und Mutter ein Mythos ist, weil der Säugling sehr bald merkt, dass die Mutterbrust nicht Teil seines Körpers ist. Freuds Auffassung der primärnarzisstischen Entwicklung fasst Dahl zusammen: „Der primär narzißtische Zustand hält solange an, ‚bis das Ich beginnt, die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen, narzißtische in Objektlibido umzusetzen‘.“ 67 Die Beantwortung der Frage, wann das geschieht, wird wohl noch lange auf sich warten lassen. Deshalb wird der Begriff „primärer Narzissmus“ bis auf weiteres umstritten bleiben. Es ist jedoch, wie sich gezeigt hat, nicht notwendig, den Begriff des „Primärnarzissmus“ ausschließlich chronologisch aufzufassen und mit Freud davon auszugehen, dass dieser Narzissmus einem „autoerotischen“ Stadium folgt 68 und anschließend von einem Stadium der libidinösen Objektbesetzung abgelöst wird. (L. Gast spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entwicklungssequenz Autoerotismus - primärer Narzißmus - Objektwahl“.) 69 Denn Freud selbst weist immer wieder darauf hin, dass Autoerotismus, Narzissmus und Objektorientierung des Subjekts beim erwachsenen Menschen als Bewusstseinstypen koexistieren. Davon zeugt nicht nur der narzisstische Zustand des Schlafs, den er mit dem intrauterinen Zustand vergleicht, sondern auch seine bekannte Analogie zwischen der Libidoverteilung beim Menschen und dem Verhalten einfacher Lebewesen, die aus einer wenig differenzierten protoplasmatischen Substanz bestehen: „Sie strecken Fortsätze aus, Pseudopodien genannt, in welche sie ihre Leibessubstanz hinüberfließen lassen. Sie können diese Fortsätze aber auch wieder einziehen und sich zum Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze vergleichen wir nun der Aussendung von Libido auf die Objekte, wäh- 66 G. Dahl, „Primärer Narzißmus und inneres Objekt. Zum Schicksal einer Kontroverse“, in: Psyche 6, 2001, S. 583. 67 Ibid., S. 583. 68 Vgl. S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 44. 69 Vgl. L. Gast, Libido und Narzißmus, op. cit., S. 56. 27 rend die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann, und wir nehmen an, daß unter normalen Verhältnissen Ichlibido ungehindert in Objektlibido umgesetzt und diese wieder ins Ich aufgenommen werden kann.“ 70 In dieser biologisch-psychologischen Analogie geht es nicht um eine Phaseneinteilung, in der ein sekundärer Narzissmus im Stadium der libidinösen Objektbesetzung den primären ablöst, sondern um die Beschreibung eines Gleichgewichts zwischen Ichlibido und Objektlibido. Es kommt hinzu, dass Freud ein Normalzustand vorzuschweben scheint, in dem Ichlibido als „primärer und normaler Narzissmus“ (Freud) in Objektlibido konvertiert werden kann: z.B. als Verliebtheit oder Bewunderung. Sie kann aber auch im Rahmen eines sekundären Narzissmus, z.B. nach einer schweren Enttäuschung, in das Subjekt zurückgeführt werden. Hier wird deutlich, dass die Triade Autoerotismus - Narzissmus - Objektliebe sowohl diachron als auch synchron konstruiert werden kann. Und Jean-Michel Porret hat zweifellos recht mit seinem Hinweis auf die Rolle von Autoerotismus und Narzissmus im erwachsenen Leben: „(...) Tatsächlich sind Autoerotismus und Narzissmus gleichzeitig anwesend in allen Phasen der Entwicklung.“ 71 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die diachrone Perspektive aufgegeben werden sollte. Denn Porret zeigt auch, dass sich der Autoerotismus beim Kind entwickelt: „Die verschiedenen Arten des Autoerotismus (oral primär und sekundär, anal und skopisch) werden erst durch den Primat des phallischen Autoerotismus in der genitalen Organisation des Kindes zusammengeführt.“ 72 Diese Entwicklung, die in einer anderen Form auch beim Narzissmus und bei der Objektliebe zu beobachten ist 73 , sollte jedoch nicht den Ausblick auf das Zusammenwirken der verschiedenen Arten der Libido beim Erwachsenen verstellen. Freuds Vergleich mit dem Plasmatierchen zeigt, dass „Narzissmus“ und „Objektliebe“ Idealtypen oder Idealzustände (im wertfreien Sinne) sind, die es in der Wirklichkeit der erwachsenen Psyche kaum gibt. Der „Normalzustand“ wäre eher ein prekäres Gleichgewicht zwi- 70 S. Freud, „Die Libidotheorie und der Narzißmus“, StA, Bd. I, S. 402. 71 J.-M. Porret, Auto-érotismes, narcissismes et pulsions du moi, Paris, L’Harmattan, 2006, S. 79. 72 Ibid., S. 78. 73 Vgl. ibid., S. 142- 145. 28 schen Ichlibido und Objektlibido, das von einer Ambivalenz geprägt ist, die darin besteht, dass sich nach Freud 74 in jede Liebesbeziehung feindselige Regungen mischen. Es kommt hinzu, dass die reine Objektbesetzung ein Zustand der Verliebtheit ist, „der sich (...) auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten des Objektes zurückführt“. 75 Dieses Ungleichgewicht wird in den meisten Fällen, vor allem nach enttäuschenden Erfahrungen, durch einen sekundärnarzisstischen Rückzug der Libido in das Ich (in das Subjekt als ganzes) korrigiert, der zumeist einen geschärften Blick für die Ambivalenz des Objekts zur Folge hat. Etwas merkwürdig klingt in diesem Zusammenhang die Behauptung von Kurt R. Eissler, „der gesunde, reife Mensch sollte fähig sein, beständige und nahezu ambivalenzfreie Objektbeziehungen aufrechtzuerhalten, ohne daß dabei das Selbst in Gefahr gerät, narzißtisch zu verarmen“. 76 Der reife Mensch sollte im Anschluss an Freud und die philosophisch-literarische Spätmoderne in der Lage sein, mit der psychischen Ambivalenz umzugehen - statt sie zu verdrängen. Angesichts von Freuds und Bleulers Überlegungen zu diesem Phänomen verfährt auch Alberto Eiguer etwas eindimensional, wenn er Freud vorwirft, den positiven Charakter des Narzissmus zu vernachlässigen: „Obwohl er die Welt des Narzissmus erschloss und auf dessen Universalcharakter aufmerksam machte, zögerte Freud, sei nen positiven Charakter hervorzuheben.“ 77 Zeitgenössische Literatur scheint eher dem Wiener Modernisten recht zu geben: Den positiven Einschätzungen des Narzissmus als Selbstliebe und Selbstvertrauen stehen abwertende gegenüber, die ihn - in Übereinstimmung mit den allerersten Studien von Ellis und Näcke - vorwiegend als Pathologie auffassen. 78 Er ist aber in seiner Ambivalenz beides zugleich: der Impuls, der der Selbsterhaltung und der „Selbstachtung“, wie Stolorow 74 Vgl. S. Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915), StA, Bd. IX, S. 58. 75 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 55. 76 K. R. Eissler, Todestrieb, Ambivalenz und Narzißmus, München, Kindler, 1980, S. 34. 77 A. Eiguer, Le Pervers narcissique et son complice, Paris, Dunod, 2003, S. 46. 78 Vgl. A. Lowen, Narcissism. Denial of the True Self, New York, Touchstone (1985), 1997, wo der Narzissmus vorwiegend mit Reizwörtern wie „denial of feeling“, „power“, „seduction and manipulation“ und „horror“ verknüpft wird. 29 sagt 79 , dient, der aber als Rückzug der Libido aus der Welt der Objekte auch in Krankheit (Psychose), Selbstzerstörung und Tod mündet. 80 Die Arbeiten, die Freud dem krankhaften oder malignen Narzissmus gewidmet hat, zählen zu seinen wichtigsten Werken. In ihnen geht es ausschließlich um den sekundären Narzissmus, der nicht nur im gesunden Schlaf zum Ausdruck kommt, sondern auch in einer radikalen Abkehr von der Welt, die Paranoia, dementia paranoides bzw. eine narzisstische Neurose zur Folge haben kann. Freud nimmt - seinen eigenen Aussagen zufolge - die Bezeichnungen für diese verschiedenen Krankheitsbilder nicht so ernst und wendet sie abwechselnd auf ein und dasselbe Phänomen an. 81 Beim Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber, dessen Fall er in einer bekannten Studie über Paranoia oder dementia paranoides beschreibt (1910/ 11), haben wir es mit verdrängter Homosexualität zu tun, deren Verdrängung schließlich in einen narzisstischen Verfolgungs- und Größenwahn umschlägt. Freuds Kurzdarstellung lässt abermals erkennen, wie nah Zuneigung und Abneigung, Liebe und Hass im Kontext der Ambivalenz beieinander wohnen: „Ich denke, wir sträuben uns nicht weiter gegen die Annahme, daß der Anlaß der Erkrankung das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie war, welche die Person des Arztes zu ihrem Objekte genommen hatte. Gegen dieselbe erhob sich von seiten der Persönlichkeit Schrebers ein intensiver Widerstand, und der Abwehrkampf, der vielleicht ebensowohl in anderen Formen sich hätte vollziehen können, wählte aus uns unbekannten Gründen die Form des Verfolgungswahns. Der Ersehnte wurde jetzt zum Verfolger, der Inhalt der Wunschphantasie zum Inhalte der Verfolgung.“ 82 Die Wunschfantasie macht einen zweiten Wandel durch, als Schreber „Gott“ (als Auftraggeber) an die Stelle des ihn behandelnden Arztes Dr. Flechsig treten lässt. Durch die paranoid-homosexuelle Unterwerfung unter Gott-Vater hofft der kranke Schreber nun, die 79 Vgl. R. D. Stolorow, „Toward a Functional Definition of Narcissism“, in: A. P. Morrison (Hrsg.), Essential Papers on Narcissism, New York-London, New York Univ. Press, 1986, S. 204. 80 Vgl. J. Küchenhoff, „‚Zur Einführung des Narzißmus‘ - eine Relektüre“, in: Psyche 2, 2004, S. 163. 81 Vgl. S. Freud, „Psychoanalytische Bemerkungen (...)“, StA, Bd. VII, S. 197. 82 Ibid., S. 173. 30 vom Untergang bedrohte Menschheit erlösen zu können. Sein narzisstischer Größenwahn geht somit unmittelbar aus seinem passivhomosexuellen Wunschtraum hervor. Im letzten Teil seiner Studie erläutert Freud den Funktionswandel der Libido bei Schreber: „Damit ist das aus der Entwicklung der Libido bekannte Stadium des Narzißmus wieder erreicht, in welchem das eigene Ich das einzige Sexualobjekt war. Dieser klinischen Aussage wegen nehmen wir an, daß die Paranoischen eine Fixierung im Narzißmus mitgebracht haben, und sprechen wir aus, daß der Rückschritt von der sublimierten Homosexualität bis zum Narzißmus den Betrag der für die Paranoia charakteristischen Regression angibt.“ 83 Diese Regression hat zur Folge, dass die Libido des Subjekts von der Welt und ihren Objekten abgezogen und auf das Subjekt selbst konzentriert wird. Es geht hier also um die Rückkehr in ein narzisstisch-homosexuelles Stadium, in dem - wie im Falle von Leonardo da Vinci - das männliche Kind so stark auf seine Mutter fixiert war, dass es sich mit ihr identifizierte. 84 Zugleich nahm es eine passiv-feminine Haltung dem Vater gegenüber an, die in Schrebers homosexuellen Fantasien besonders krass zum Ausdruck kommt. Das Krankhafte an Schrebers Narzissmus wäre nach Freud die Regression in ein Stadium, das im Erwachsenenalter gemeinhin als überwunden gilt. Im Hinblick auf den Gegensatz zwischen gesundem und krankem oder malignem Narzissmus ergibt sich aus Freuds Schreber-Analyse das folgende Bild: Die libidinöse Abkehr von der Welt der Objekte kann in verschiedenen Entwicklungsphasen des Einzelnen grundverschiedene Bedeutungen annehmen. Während das selbstgenügsame, narzisstische Kleinkind seine intrauterine Einheit mit der Mutter in seiner Fantasiewelt fortsetzen und dabei einen infantilen Größenwahn entwickeln mag, läuft die Regression des psychisch Kranken in diese Fantasiewelt auf eine drastische Einschränkung seiner kommunikativen Kompetenzen hinaus. In diesem Kontext stellt der Schlaf einen Grenzfall zwischen Gesundheit und Krankheit dar. Während der allnächtliche Schlaf eine Abkehr von den Objekten mit sich bringt, die bei Tagesanbruch rückgängig gemacht wird und bewirkt, dass sich der Einzelne mit neuer 83 Ibid., S. 195. 84 Auf diesen Aspekt geht Freud nicht ein. 31 Energie der Welt zuwenden kann, unterbricht der krankheitsbedingte Schlaf die Kommunikation oder bricht sie gar für immer ab. Die Wechselwirkung zwischen Krankheit, Gesundheit und Libido beschreibt Freud in seinem Narzissmus-Aufsatz: „Der Kranke zieht seine Libidobesetzungen auf sein Ich zurück, um sie nach der Genesung wieder auszusenden.“ 85 Hier ist vor allem die physische Krankheit gemeint, deren Überwindung vorausgesetzt wird. Doch schon die Hypochondrie, von der bei Freud auch die Rede ist, und die aus einem labilen Gesundheitszustand hervorgehen kann, zeigt dass Physis und Psyche nicht zu trennen sind. Der Hypochonder, der unablässig mit seiner latenten oder imaginären Krankheit beschäftigt ist, entwickelt einen malignen Narzissmus, über den sich Molière in seiner bekannten Komödie Der eingebildete Kranke lustig macht. So mancher Hypochonder ist oder wird aber wirklich krank und zeigt, wie schematisch alle Versuche sind, zwischen gesundem und krankem Narzissmus zu unterscheiden: Sie tragen der Ambivalenz des Phänomens nicht Rechnung. Diese kommt auch in der Projektion der narzisstischen Libido auf das Ichideal zum Ausdruck: auf eine Instanz, die Freud immer wieder dem Überich gleichsetzt und die das Ich im Extremfall unablässig tyrannisiert. Bedeutet in diesem Fall „Narzissmus“ nicht das Gegenteil von „Selbstliebe“ - auch jenseits von allen „Dekonstruktionen“? 4. Narzissmus und Ichideal bei Freud Im letzten Teil seines Aufsatzes „Zur Einführung des Narzissmus“ befasst sich Freud mit dem Ichideal, das in mancher Hinsicht den Überich-Begriff ankündigt, den er wesentlich später im Rahmen seines Struktur- oder Aktantenmodells (Ich-Es-Überich) einführen wird. 86 Obwohl sich die Bezeichnungen „Ichideal“ und „Überich“ in der Freudschen Semantik auf zwei verschiedene Funktionen beziehen, werden sie von Freud selbst immer wieder als Synonyme behandelt. Es kommt hinzu, dass Freud auf S. 60 seines Aufsatzes vom „Idealich“ spricht, auf S. 61 hingegen vom „Ichideal“ (Studienausgabe, Bd. III). Da diese Begriffe später - vor allem von Lacan (1954) und Da- 85 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 49. 86 Vgl. S. Freud, „Das Ich und das Es“ (1923), StA, Bd. III. 32 niel Lagache (1966) - mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden, ist es wichtig, jetzt schon auf dieses terminologische Problem hinzuweisen. Dass es in Freuds Werk zu einer semantischen Vermischung von „Ichideal“ und „Überich“ kommt, fiel als einem der ersten Léon Grinberg auf. In einem Brief an Freud bemerkt er: „Das Problem ist, wie das Verhältnis zwischen dem Ich-Ideal und dem Über-Ich zu sehen ist. In späteren Schriften behandeln Sie beide als synonym, doch dann unterscheiden Sie sie wieder und beschreiben das Über-Ich als Träger oder Vermittler des Ich-Ideals.“ 87 Tatsächlich handelt es sich hier um einen funktionalen Unterschied, auf den Jahrzehnte später Rolf Fetscher zu sprechen kommt, wenn er das „Gewissen“ aus Freuds Narzissmus-Aufsatz mit dem späteren „Überich“ vergleicht, das „Ichideal“ hingegen als Erben des frühkindlichen Narzissmus auffasst. Zur Differenzierung von „Überich“ und „Ichideal“ bemerkt er: „Beide haben jedoch unterschiedliche Funktionen: das Ich-Ideal die Rettung des ursprünglichen Narzissmus (...); das Gewissen das Wächteramt darüber, daß das Ich den Idealbildungen entspricht.“ 88 Spätestens hier wird klar, dass das Ichideal ein Ziel ist, während das Überich als Gewissen dafür zu sorgen hat, dass dieses Ziel auf bestimmten Wegen und mit bestimmten Mitteln erreicht wird. Zu Recht bezeichnet Lili Gast „das Ichideal Freuds als narzißtische Bildung“ 89 , d.h. als Ergebnis einer Tätigkeit oder einer Suche. In Freuds Narzissmus-Aufsatz klingt dieser funktionale Unterschied an einigen Textstellen an, während er an anderen Stellen zugunsten einer Identifizierung von „Ichideal“ und „Gewissen“ tendenziell wieder aufgehoben wird. Verwischt wird er, wenn Freud „im Ichideal und den dynamischen Äußerungen des Gewissens auch den Traumzensor“ 90 zu erkennen meint. Zu einer eindeutigen Identifizierung von „Ichideal“ und „Überich“ kommt es viel später in „Das Ich und das Es“ (1923), einem Aufsatz, dessen dritter Teil die Überschrift „Das Ich und das Über-Ich (Ichideal)“ trägt. Auch Freuds Schüler 87 L. Grinberg, „Brief an Sigmund Freud“, in: J. Sandler (Hrsg.), Über Freuds „Zur Einführung des Narzißmus“, op. cit., S. 145. 88 R. Fetscher, „Ich-Ideal und Über-Ich im Rahmen einer modifizierten Strukturtheorie“, in: Psyche 3, 2003, S. 195. 89 L. Gast, Libido und Narzißmus, op. cit., S. 71. 90 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 64. 33 Otto Rank neigt in seinem Buch über Die Don Juan-Gestalt (1924) dazu, „Ichideal“ und „Gewissen“ („Überich“) zu identifizieren: „Unter dem Ichideal versteht Freud eine Zusammenfassung der (...) kritisierenden und zensurierenden Instanzen im Menschen (...).“ 91 Doch das Ichideal erfüllt zugleich eine ganz andere Funktion, die ebenfalls im Narzissmus-Aufsatz zum Ausdruck kommt. Es erscheint dort auch als außerhalb des Subjekts angesiedelt, d.h. als Objekt, dessen sich das Subjekt im Laufe seiner Subjektwerdung oder Identitätsbildung zu bemächtigen hat: „Diesem Idealich [sic] gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß. Der Narzißmus erscheint auf dieses neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten befindet.“ 92 In diesen beiden Sätzen geht es nun keineswegs um eine „kritisierende und zensurierende“ (Rank), sondern um eine geliebte und bewunderte Instanz. Der Unterschied zwischen dem Überich als Gewissen und dem Ichideal als Ziel nimmt hier klare Konturen an: Das Ichideal tritt nun als Erbe des infantil-narzisstischen Ichs auf, dem die Selbstbewunderung und Selbstüberschätzung der frühen Lebensjahre galt. Das Gewissen (später: Überich) wird schon im Narzissmus- Aufsatz als eine Instanz präsentiert, die als Erbin elterlicher Autorität und Erziehung dafür sorgt, dass sich ein Ichideal bildet: „Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war nämlich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen (...).“ 93 An dieser Stelle wird deutlich, weshalb eine Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen „Subjekt“ und „Ich“ sinnvoll ist: Das Ich bildet in Freuds Strukturmodell zusammen mit dem Überich und dem Es das triadisch strukturierte Subjekt, dessen Denken und Handeln aus dem Spannungsverhältnis zwischen den drei Instanzen resultieren. Das Subjekt ist insofern eine dynamische Einheit, als es seine Entwicklung dem sich täglich erneuernden Gleichgewicht zwischen diesen Instanzen verdankt. 91 O. Rank, Die Don Juan-Gestalt, Leipzig-Wien-Zürich, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1924, S. 20. 92 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 60-61. 93 Ibid., S. 62. 34 In diesem Zusammenhang erscheint das Freudsche Ichideal als außerhalb des Subjekts (der Triade) angesiedelt. Es könnte im Sinne von Greimas’ strukturaler Semiotik als der Objekt-Aktant 94 aufgefasst werden, dessen sich das Subjekt (als Subjekt-Aktant) nur bemächtigen kann, wenn es für ein inneres Gleichgewicht zwischen Ich, Es und Überich sorgt. Nur wenn es die Energien des Es zu nutzen versteht und zugleich den Weisungen der primär und sekundär sozialisierenden Instanzen kritisch folgt, wird es mit seinem Ichideal verschmelzen oder sich ihm zumindest asymptotisch nähern. Dies geht recht eindeutig aus einigen Äußerungen Freuds in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) hervor, wo das Ichideal von einer geliebten Person (einem Objekt-Aktanten) verkörpert wird. Das Ichideal befindet sich hier eindeutig außerhalb des triadischen Subjekts: „Bei manchen Formen der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, daß das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen.“ 95 Kurzum: das Ichideal kann nicht im Subjekt enthalten sein (wie das Überich), weil es in vielen Fällen aufgrund seiner Vollkommenheit für das Subjekt unerreichbar bleibt. 96 Es ist ein Leitbild, dem das Subjekt folgt. Dies wird wieder in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ deutlich, wo Freud erklärt: „Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph, wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt.“ 97 Im Anschluss an diese und ähnliche Bemerkungen erscheint das Ichideal als das „Höhere“ im menschlichen Leben, als das gesellschaftlich Erstrebenswerte, das von Epoche zu Epoche in Übereinstimmung mit den sich wandelnden Werten und Normen stets von neuem definiert wird. Diese gesellschaftlich-moralische Auffassung des Ichideals wird von Freud in „Das Ich und das Es“ bestätigt, wo das Ichideal mit dem Überich identifiziert wird. Dort antwortet der Autor auf die von ihm antizipierte Frage des fiktiven Lesers, es müsse im Menschen doch 94 Vgl. A. J. Greimas, Du Sens II, Paris, Seuil, 1983: „Les Actants, les acteurs et les figures“. 95 S. Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), StA, Bd. IX, S. 105. 96 Dass es in diesem Bereich keinen Konsens gibt, lässt ein Aufsatz von Horacio Etchegoyen erkennen: „Zur Einführung des Narzißmus: Text und Kontext“, in: J. Sandler (Hrsg.), Über Freuds „Zur Einführung des Narzißmus“, op. cit., S. 100: „Viele zeitgenössische Autoren betrachten daher das Über-Ich als eine zweiteilige Struktur, die sich aus dem eigentlichen Über-Ich und dem Ich-Ideal zusammensetzt.“ 97 Ibid., S. 122. 35 „ein höheres Wesen“ geben: „Gewiß, und dies ist das höhere Wesen, das Ichideal oder Über-Ich, die Repräsentanz unserer Elternbeziehung.“ 98 Das Überich/ Ichideal erscheint hier als internalisierte Instanz und als „Erbe des Ödipuskomplexes“ (Freud). Zugleich ist es ein von der Gesellschaft gesetzter Wert, den der Einzelne zu verwirklichen sucht. Spätestens hier wird klar, dass auch dem Begriff des Ichideals die spätmoderne Ambivalenz innewohnt, die Freuds Theorie als ganzer zugrunde liegt. Diese Ambivalenz weist mindestens drei Aspekte auf: 1. Das Ichideal ist einerseits - wie sich gezeigt hat - eine Instanz im Subjekt (Überich), andererseits ein zu erreichendes Ziel außerhalb des Subjekts. 2. Es ist einerseits eine kritisierende und zensurierende Instanz, andererseits ein Projekt, dessen Verwirklichung narzisstische Euphorie mit sich bringt. 3. Es ist - wie sich zeigen wird - einerseits eine das Subjekt erhebende Annäherung an ein bewundertes Vorbild, andererseits eine Unterwerfung des Subjekts unter ein Massenidol: einen Führer oder Demagogen. Im letzten Fall kommt hinzu, dass es manchmal schwer fällt, ein bewundernswertes Vorbild von einem Idol zu unterscheiden. Was einst bewundernswert schien, wird wenige Jahre später als verabscheuenswert verdammt. Zu den ersten beiden Punkten bemerkt Jean-Michel Porret: „Ob das reife Ichideal nun im Umkreis des Ichs verbleibt oder auf ein Objekt projiziert wird, ändert nichts an der Sache: Es stellt eine ständige Gefahr für den Narzissmus dar, weil es unablässig die Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheiten des Ichs erkennen lässt, zugleich aber die Kraft ist, die auf deren Beseitigung drängt.“ 99 Auch in dieser Darstellung erscheint das Ichideal als ambivalente Instanz: als bewundertes Objekt und als kritisches Gewissen, welches das Subjekt drängt, sich diesem Objekt zu nähern. Nicht minder ambivalent ist das Ichideal in Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Dort wird gezeigt, dass das Objekt dazu dient, das eigene unvollkommene Ich zu ersetzen. Das Objekt wird aufgrund seiner Vollkommenheiten bewundert und geliebt, „die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen möchte“. 100 Die- 98 S. Freud, „Das Ich und das Es“, StA, Bd. III, S. 303. 99 J.-M. Porret, Auto-érotismes, narcissismes et pulsions du moi, op. cit., S. 144. 100 S. Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, StA, Bd. IX, S. 105. 36 ses Objekt kann ein charismatischer Führer, ein Wissenschaftler, ein Künstler oder - im Extremfall - eine Organisation oder Institution sein. Eine „Erhöhung“ des Subjekts durch Annäherung an das bewunderte Ideal ist in diesem Fall durchaus denkbar. Aber auch das Gegenteil ist vorstellbar: seine Unterwerfung unter einen Demagogen, der die Massen manipuliert. Freud untersucht „das Verhalten des Massenindividuums zum Führer“ 101 und gelangt zum folgenden Ergebnis: „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“ 102 Von „Erhöhung“ oder einem „höheren Wesen“ (s.o.) kann hier nicht mehr die Rede sein: eher von Ichschwäche und einem Verzicht auf das eigene Ichideal und die individuelle Autonomie. Zugleich setzt sich der „Herdentrieb“ durch, dem Freud in seinem Aufsatz einen ganzen Abschnitt widmet. Seine Psychoanalyse partizipiert nicht nur an der spätmodernmodernistischen Problematik (Musils, Hesses, Gides), weil sie die ambivalente Stellung des Einzelnen zwischen Natur und Kultur, Trieb und Verdrängung, Ichideal und Ichverlust darstellt, sondern weil sie auch den Zerfall individueller Autonomie an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zur Sprache bringt. Dadurch nimmt sie wesentliche Argumente der Kritischen Theorie vorweg. In seiner bekannten Schrift „Das Veralten der Psychoanalyse“ (1963) gibt Herbert Marcuse zu bedenken, dass der psychoanalytische Subjektbegriff („Es, Ich und Überich“) veraltet ist, weil die Nachkriegsgesellschaft „das Freudsche Modell durch ein soziales Atom ersetzt, dessen seelische Struktur nicht mehr die Qualitäten aufweist, die Freud dem psychoanalytischen Gegenstand zusprach“. 103 Obwohl er meint, dass die Psychoanalyse „keine politischen Alternativen“ zu bieten hat, erhofft er sich von ihr eine Stärkung individueller Autonomie und bemerkt zur Rolle des Ichideals: „Die Psychoanalyse kann dem Patienten helfen, mit einem eigenen Gewissen und eigenem Ichi- 101 Ibid., S. 107. 102 Ibid., S. 108. 103 H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1970 (8. Aufl.), S. 85. 37 deal zu leben, was durchaus bedeuten kann - in Absage und Opposition gegenüber dem Bestehenden.“ 104 Beim Lesen dieser Zeilen kann der Gedanke an das Veralten einer Kritischen Theorie aufkommen, die Freuds Skepsis dem Ichideal gegenüber überhört und zugleich eine Phase der gesellschaftlichen Entwicklung übersehen hat. Denn Freud deutet auch an, dass das Ichideal von Demagogen, den meneurs de masses des 20. Jahrhunderts 105 , so systematisch ausgeschlachtet wird, dass es nicht mehr der Autonomie, sondern der Unterwerfung des Einzelnen dient. Zugleich büßt es den Charakter eines traditionellen Ideals ein. Im dritten Kapitel wird sich zeigen, dass potentielle Ichideale - zusammen mit anderen ethischen, politischen und ästhetischen Werten - nicht nur dem ideologischen Missbrauch, sondern zunehmend auch der medialen und kommerziellen Manipulierung zum Opfer fallen, so dass sie als Stützen individueller Autonomie kaum noch in Frage kommen. Ihre Entwertung wird auch durch eine fortschreitende soziale Differenzierung beschleunigt, die bewirkt, dass vor allem religiöse oder künstlerische Werte nur noch in bestimmten Enklaven („Systemen“, „Feldern“) gelten und dadurch unverbindlich werden. Um die soziologischen Betrachtungen so konkret wie möglich zu gestalten, sollen am Ende dieses Kapitels neuere Diskussionen über den Begriff des Ichideals kommentiert werden. 5. Der Narzissmus-Begriff bei den Freudianern Im Folgenden geht es primär darum, die Peripetien des Narzissmus- Begriffs bei den Mitarbeitern und Schülern Freuds nachzuzeichnen und zu zeigen, dass dieser Begriff kurze Zeit nach seiner Entstehung heftig umstritten war. Erst im dialogischen und kritischen Kontext der freudianischen und nachfreudianischen Auseinandersetzungen mit Freud nimmt ein Terminus wie „Narzissmus“ konkrete Gestalt an, weil seine verschiedenen, auch widersprüchlichen Aspekte zutage treten. 104 Ibid., S. 105. 105 Vgl. W. R. D. Fairbairn, Psychoanalytic Studies of the Personality (1952), London-New York, Routledge, 2008, Teil III, Kap. I: „The Sociological Significance of Communism Considered in the Light of Psychoanalysis“ (1935). 38 Das zweite Anliegen dieses Schlussteils zielt auf eine andere Art der begrifflichen Konkretisierung: auf die Verknüpfung des Narzissmus-Begriffs mit verwandten Begriffen wie „Mutterbindung“, „Homosexualität“ und „Adoleszenz“. Diese sind zwar, wie sich gezeigt hat, schon von Freud selbst im Zusammenhang mit dem Narzissmus- Problem kommentiert worden; Autoren wie Otto Rank oder Sandor Ferenczi stellen jedoch andere genetische Verbindungen her als Freud und lassen so das Narzissmus-Phänomen in einem etwas anderen Licht erscheinen. Im letzten Abschnitt soll der Nexus von „Überich“ und „Ichideal“ noch einmal aus der Sicht von Edith Jacobson und Janine Chasseguet- Smirgel dargestellt werden. Es wird sich zeigen, dass das Objekt auch anders konstruiert werden kann - jedoch nicht so, dass es nach dekonstruktivistischer Manier zerfällt. (a) Michael Balints Kritik am Begriff des „primären Narzissmus“ Um Balints Kritik richtig einschätzen zu können, ist es notwendig, die drei Aspekte des Narzissmus bei Freud in Erinnerung zu rufen: den zeitlichen, den typologisch-normativen und den situationsgebundenen oder alltäglichen. Es hat sich gezeigt, dass Freud im Normalfall eine Entwicklung vom kindlichen Autoerotismus zum primären Narzissmus und von diesem zur Objektliebe voraussetzt. Zugleich geht er (normativ) davon aus, dass im Kind ein „primärer und normaler Narzissmus“ (s.o.) angelegt ist, der auch im Erwachsenenalter erhalten bleibt (bleiben sollte), sofern sich ein Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Objektliebe herausbildet. Die dritte Art des Narzissmus ist weder normativ aufzufassen, noch ist sie an eine Lebensphase gebunden: Es geht um den allnächtlichen (sekundären) Narzissmus des Schläfers, den Freud mit dem des Embryos im intrauterinen Stadium vergleicht und ihn so wieder mit der diachronen Auffassung des Narzissmus verknüpft. In seiner Kritik bezieht sich Michael Balint nicht so sehr auf den normativen Aspekt des primären Narzissmus, der von Freud auch als „normaler“ Narzissmus aufgefasst wird, auch nicht auf den sekundären Alltagsnarzissmus, dessen Existenz er grundsätzlich nicht anzweifelt, sondern auf den primären Narzissmus als Entwicklungsstadium. Dabei führt er drei Argumente ins Feld. 39 1. Freuds Hypothese, dass es einen primären (infantilen) Narzissmus gibt, ist reine Spekulation ohne empirische Grundlage. 2. Es ist nicht klar, was genau im Stadium des primären Narzissmus besetzt wird, da ein „Ich“ noch nicht ausgebildet ist. 3. Einen objektlosen primären Narzissmus kann es nicht geben, und daher sei der Ausdruck „primäre Objektliebe“ vorzuziehen, der der frühesten Interaktion von Mutter und Kind Rechnung trägt. Aus diesen Argumenten ergibt sich die Schlussfolgerung, dass jeder Narzissmus „sekundär“ ist, so dass die Unterscheidung von „primär“ und „sekundär“ hinfällig wird. Balints erstes Argument ist leicht nachvollziehbar, weil es tatsächlich keine Beweise für die Existenz dieses oft als „mythisch“ apostrophierten primären Stadiums gibt. Balint zieht dessen Existenz in Zweifel, bestätigt jedoch das Phänomen des „sekundären Narzissmus“ (d.h. des Narzissmus tout court): „Der eine, von Freud primärer oder absoluter Narzißmus genannt, ist keine klinische Beobachtungstatsache, sondern eine reine Hypothese (...). Der andere Zustand, in der Regel schlichtweg Narzißmus ohne jedes Attribut genannt, obwohl man genaugenommen von sekundärem Narzissmus sprechen müßte, läßt sich klinisch beobachten; er bezeichnet einen Zustand, in welchem ein Teil, vielleicht ein sehr großer Teil der Libido, der vorher äußere Objekte besetzt hielt, abgezogen und auf das Ich - d.h. eindeutig nicht auf das Es - konzentriert wird.“ 106 Balints zweites Argument bezieht sich auf Freuds Struktur- oder Aktantenmodell, das dem psychoanalytischen Subjektbegriff zugrunde liegt. Die Frage lautet, welche Instanz innerhalb des Subjekts libidinös besetzt wird, wenn es das Ich als Kern des Subjekts noch gar nicht gibt oder geben kann, weil es sich erst im Laufe der primären Sozialisation entwickelt. Nach Balint „bleibt immer noch unklar, was beim primären Narzißmus besetzt wird“. Er fügt hinzu: „Es kann nicht das Ich sein - in diesen frühen Phasen ist es fraglich, ob schon ein Ich existiert, das besetzt werden könnte; es kann auch nicht das Es sein (...).“ 107 Denn das Es wird von Freud immer wieder als „Reservoir“ der Libido bezeichnet 108 (allerdings auch das Ich! ). Kurzum: Wo es 106 M. Balint, Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung (1968), Reinbek, Rowohlt, 1973, S. 50. 107 Ibid., S. 53. 108 Vgl. S. Freud, „Das Ich und das Es“, StA, Bd. III, S. 298. 40 noch kein Ich gibt, kann auch nicht von einer „ursprünglichen Libidobesetzung des Ichs“ 109 im Sinne von Freud die Rede sein. Aus dieser zweifachen Kritik geht schließlich Balints entscheidendes Argument gegen den „primären Narzissmus“ hervor, auf dem er seine eigene Narzissmus-Theorie aufbaut. Es geht um den Gedanken, dass die frühe Mutter-Kind-Beziehung intersubjektiven oder „Objektbeziehungscharakter“ hat, den Freud (1914) aufgegeben hat: „Nur wenn man es (...) unterläßt, die dynamische Struktur des ‚Idealzustandes des Wohlbefindens‘ zu untersuchen, kann man dessen Objektbeziehungscharakter verkennen und ihn ohne weiteres mit dem primären Narzißmus gleichsetzen.“ 110 Mit Recht erinnert Heinz Henseler daran, dass der frühe Sigmund Freud den ursprünglichen, primären Narzissmus sehr wohl interaktionistisch auffasste: „1905 nahm er als primär eine Objektliebe zur Mutter(-Brust) an (...).“ 111 Dies bedeutet, dass Balint in seiner Kritik Freuds erste Theorie wieder aufgreift. Balints Kernthese lautet, dass von Anfang an Objektbeziehungen und eine „interpersonale Dynamik der kindlich-mütterlichen Dual- Union“ 112 existieren und dass folglich nicht von einem objektlosen „primären Narzissmus“, sondern von „primärer Objektliebe“ die Rede sein sollte. Dazu bemerkt Manon Hoffmeister im Sinne von Balint: „In der realen Mutter-Kind-Situation entwickelt sich die primäre Objektbeziehung vom Lebensbeginn des Säuglings an (...).“ 113 Der Vollständigkeit halber sei noch hinzugefügt, dass Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung dazu führen können, dass das Kind sich „von seinem primären Objekt verlassen oder fallengelassen“ 114 fühlt. Dies kann zwei entgegengesetzte Reaktionen zur Folge haben: Oknophilie und Philobatie. Abgeleitet vom griechischen Verb okneo („sich fürchten“, „sich anklammern“), bezeichnet „Oknophilie“ ein 109 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, S. 43. 110 M. Balint, Therapeutische Aspekte der Regression, op. cit., S. 71. 111 H. Henseler, „Die Theorie des Narzißmus“, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. II, Freud und die Folgen (I), Zürich, Kindler, 1976, S. 462. 112 B. Palmowski, „Über Narzißmuskonzepte bei Freud“, in: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 2, 1989, S. 107-108. 113 M. Hoffmeister, „Michael Balints Beitrag zur Theorie und Technik der Psychoanalyse“, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. III. Freud und die Folgen (II), Zürich, Kindler, 1977, S. 264. 114 M. Balint, Angstlust und Regression. Beitrag zur psychologischen Typenlehre (1959), Reinbek, Rowohlt, 1972, S. 97. 41 furchtsames Verhalten, das obejktabhängig ist, wogegen „Philobatie“ (ein von Akrobatie abgeleiteter Neologismus) ein furchtloses, objektunabhängiges oder gar objektmeidendes Verhalten meint. Während der furchtsame Oknophile unablässig eine zuverlässige Person als Ersatz für die fehlende Mutter sucht, glaubt der abenteuerlich veranlagte Philobat, ohne Hilfen und Stützen auszukommen. Beide Extremfälle können als Modelle des Narzissmus aufgefasst werden, weil sich sowohl der Oknophile als auch der Philobat nach der gescheiterten primären Beziehung zum mütterlichen Objekt sehnen und dabei „über die Eigeninteressen der von ihnen benutzten Objekte hinweggehen“. 115 Balint ist allerdings klar, dass sich die Theoretiker des primären Narzissmus nicht so schnell geschlagen geben. Im Anschluss an einige Andeutungen Freuds zur „seligen Isolierung im Intrauterinleben“ 116 verlegen sie den Ursprung des primären Narzissmus in die fötale Phase des menschlichen Lebens. Dazu bemerkt Balint: „Da es unmöglich schien, daß klinische Beobachtungen eine ausreichende Grundlage für die Theorie des primären Narzißmus liefern könnten, nahm die analytische Theorie ihre Zuflucht zur Vordatierung bis zum fötalen Leben.“ 117 Eines der besten Beispiele für diese Argumentationsweise ist das Werk von Béla Grunberger und hier vor allem sein Buch Le Narcissisme (1975), in dem es gleich zu Beginn heißt: „(...) Unsere Hypothese gründet auf dem Postulat eines glückseligen Zustands vor der Geburt, der Ursprung aller Varianten des Narzissmus ist.“ 118 Das Problematische dieses Postulats besteht darin, dass es Freuds These über die „ursprüngliche Libidobesetzung des Ichs“ widerspricht - und zwar deshalb, weil Grunberger sich einen primären Narzissmus ohne Ich vorstellt und behauptet, „dass der Narzissmus bereits existiert, wäh- 115 M. Hoffmeister, „Michael Balints Beitrag zur Theorie und Technik der Psychoanalyse“, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. III, op. cit., S. 277. 116 S. Freud, „Die Libidotheorie und der Narzißmus“, StA, Bd. I, S. 402. 117 M. Balint, Therapeutische Aspekte der Regression, op. cit., S. 92. 118 B. Grunberger, Le Narcissisme. Essais de psychanalyse, Paris, Payot, 1975, S. 28. Vgl. auch die Studie des Grunberger-Schülers Pierre Dessuant, die hauptsächlich den primären Narzissmus zum Gegenstand hat: Le Narcissisme, Paris, PUF, 2004 (4. Aufl.), Kap. II: „Le narcissisme primaire“. 42 rend das Ich als solches noch nicht existiert“. 119 Balints Frage, was nun genau mit Libido besetzt wird, bleibt unbeantwortet. Es wäre sicherlich vermessen, die Debatten über den primären Narzissmus im Rahmen dieser kurzen Betrachtung einem Abschluss zuführen zu wollen. Wäre es aber nicht möglich, Balints „primäre Objektliebe“ zwischen Mutter und Kind als „primärnarzisstisch“ aufzufassen und in ihr die Grundlage für den späteren Narzissmus des Einzelnen, für seine Selbstachtung und Zuversicht zu sehen? (b) Mutterbindung: Otto Rank Dass die Mutterbindung - vor allem des männlichen Kindes - bei der Genese des Narzissmus eine entscheidende Rolle spielt, wird von nahezu allen psychoanalytischen Theorien seit Freud bestätigt. Aber kaum ein Autor hat sich so ausführlich mit der Mutter-Kind- Beziehung in diesem Kontext befasst wie der Freud-Schüler Otto Rank. Mit seinem Buch Das Trauma der Geburt (1924) erhebt Rank eine beiläufige, aber rekurrierende Aussage Freuds, dass der Geburtsakt das erste und nachhaltigste Angsterlebnis des Menschen sei 120 , zur zentralen These der Psychoanalyse und bezieht damit eine Position außerhalb von deren Orthodoxie. Dass diese Positionierung schließlich zum Bruch mit der Freudschen Schule führen musste, ist nicht weiter verwunderlich. Sie hatte aber auch eine Erneuerung der Narzissmus-Theorie zur Folge. Im Anschluss an Freuds These, dass sich homosexuelle Männer nach intensiver Fixierung an die Mutter mit dieser identifizieren „und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen, d.h. vom Narzißmus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat“ 121 , untersucht Rank die Rolle der Mutterbindung bei der Entstehung des Narzissmus. Während er in seinem Buch über den Doppelgänger den männlichen 119 Ibid., S. 133. 120 S. Freud, „Die Traumdeutung“, StA, Bd. II, S. 391. 121 O. Rank, Sexualität und Schuldgefühl. Psychoanalytische Studien, Leipzig- Wien-Zürich, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1926, S. 42. (Ursprünglich erschienen als Artikel: O. Rank, „Ein Beitrag zum Narzissismus“, in: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Leipzig-Wien, 1911, S. 402.) 43 Narzissmus in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, wendet er sich in seinem Narzissmus-Aufsatz vor allem dem weiblichen Narzissmus zu. In beiden Fällen spielt die „intensive Verdrängung einer ursprünglich starken Fixierung an die Mutter auf dem Wege der Identifizierung mit dieser“ 122 eine ausschlaggebende Rolle bei der Genese des Narzissmus und einer narzisstischen Objektwahl. Allerdings wird nicht ganz klar, welche Bedeutung der inzestuösen Fixierung des Mädchens oder der Tochter auf den Vater zukommt, sofern die ödipale Ausgangssituation bei beiden Geschlechtern symmetrisch vorausgesetzt wird. Die Entstehung des männlichen Narzissmus beschreibt Rank im Zusammenhang mit Wildes Roman The Picture of Dorian Gray: „Hier zeigt sich, daß der Narzißt nicht nur insofern seine Objektliebe betätigen kann, als er sich homosexuell in sein junges Ebenbild verliebt, sondern daß er a priori schon am eigenen Körper den Körper einer anderen ehemals geliebten Person mit- und wiederliebt (hier der Mutter).“ 123 Diese Überlegungen bilden die Grundlage von Ranks Theorie des literarischen Doppelgängers, dessen Gegenwart als Schatten und Spiegelbild sowohl bei E.T.A. Hoffmann als auch bei Oscar Wilde die heterosexuelle Liebe zum Scheitern verurteilt. In seiner Arbeit über den Doppelgänger (1925) zeigt Rank immer wieder „wie sich das gefürchtete Ich der Liebe zum Weib hindernd in den Weg stellt“. 124 Dieses „gefürchtete Ich“ ist ein pathologisches Ich, das die Stelle der mit inzestuöser Libido besetzten Muttergestalt innehat. Wie im Narziss-Mythos (vgl. Einleitung) geht von dem im Doppelgänger erscheinenden Spiegelbild eine tödliche Wirkung aus. Jedesmal, wenn der Protagonist versucht, sich einer Frau zu nähern, vereitelt der Doppelgänger sein Vorhaben. In dem Augenblick aber, als der Protagonist sein malignes alter ego aus Verzweiflung tötet, reißt der andere ihn mit sich in den Tod: Er ist nur scheinbar ein anderer, und der Mord an ihm ist in Wirklichkeit der Selbstmord eines narzisstischen Subjekts, das nicht lieben kann. 122 Ibid., S. 57. 123 Ibid. 124 O. Rank, Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie (1925), Wien, Turia und Kant, 1993, S. 99. 44 In Ranks „Beitrag zum Narzissismus“ (1911) wird anhand von verschiedenen Träumen der Fall eines jungen Mädchens kommentiert, dessen unbewusste erotische Fixierung an die Mutter eine homosexuell-narzisstische Einstellung entstehen lässt, die jedoch latent bleibt: „Nun ist aber unsere Träumerin ihrem manifesten Empfinden nach heterosexuell und der Anteil der Mutter an ihrer Objektwahl darum gering, weil die intensive Verdrängung der Neigung zu ihr diesen Einfluß in ihrem Liebesleben abgeschwächt und das Manifestwerden der Homosexualität gehindert hat.“ 125 Die latente Homosexualität des Mädchens bringt ein narzisstisches Verlangen hervor, das einerseits den eigenen Körper zum Gegenstand hat, andererseits das Verlangen des Mannes nach der eigenen Person. Beide Aspekte des Narzissmus werden in Träumen sichtbar, in denen es primär darum geht, die eigene Schönheit bestätigen zu lassen und den bewundernden Blick des Mannes auf sich zu lenken. „Sie liebt ihn, weil er sie liebt“ 126 , fasst Rank zusammen: „Oder mathematischer ausgedrückt: sie liebt ihre Person und er liebt ihre Person, folglich liebt sie auch ihn, aber eigentlich nur sich selbst in ihm.“ 127 In diesem - wie übrigens auch in dem von Freud beschriebenen - Szenario ist einiges unklar. Ein inzestuöses Verlangen des Sohnes nach der Mutter kann am Inzesttabu abprallen und sich verselbständigen, d.h. sich in ein narzisstisches Verlangen nach Liebe, nach ständigem „Geliebtwerden“ verwandeln. Dies muss aber keine Identifizierung mit der Mutter zur Folge haben, es sei denn, dass Zusatzhypothesen herangezogen werden, etwa Freuds Hypothese, dass der Sohn dem Vater gegenüber eine passive, weibliche Haltung annimmt und sich (auch) deshalb mit der Mutter identifiziert. Jedenfalls müsste zwischen einem inzestuösen Verlangen nach der verbotenen Mutter und der (wie auch immer begründeten) Identifizierung mit ihr unterschieden und der Nexus zwischen diesen beiden Affekten untersucht werden. Dies geschieht bei Rank nicht. Die zweite Unklarheit betrifft die Rolle des Vaters im weiblichen Narzissmus. Sie bleibt in Ranks Aufsatz unterbelichtet. Eine ausführliche Fußnote deutet aber darauf hin, dass der eigentliche Ursprung des von Rank untersuchten Narzissmus der „Träumerin“ die inzestuö- 125 O. Rank, Sexualität und Schuldgefühl, op. cit., S. 58. 126 Ibid. 127 Ibid., S. 59. 45 se Liebe zum Vater ist. Da der Vater verboten ist, verselbständigt sich das Verlangen der Tochter nach ihm und wird zu einem narzisstischen Verlangen nach Liebe. Ranks Ausführungen lassen diese Hypothese realistisch erscheinen: „In einem andern aus derselben Zeit der schwankenden Empfindungen stammenden Traume greift die Libido der Träumerin in die frühe Kindheit zurück und sucht ihren Konflikt durch die Heirat mit dem Vater zu lösen. Der Traum führt eine Ehebruchsphantasie der Mutter mit einem Bewerber des Mädchens vor und der Vater, der das entdeckt, nimmt eine Heirat mit der Tochter in Aussicht (...).“ 128 Ist es nicht denkbar, dass „die Rückwendung der Libido auf die eigene Person“ 129 , von der Rank spricht, auf die Unzugänglichkeit des geliebten Vaters zurückzuführen ist, so wie sie im männlichen Bereich durch die Unzugänglichkeit der Mutter verursacht wird? Im zweiten Kapitel sollen die Entstehung und die Peripetien dieses narzisstischen Verlangens ausführlicher im Zusammenhang mit Lacans Psychoanalyse dargestellt werden. Im nächsten Abschnitt steht hier ein Problem im Mittelpunkt, das im Zusammenhang mit Freud und Rank schon mehrmals angeschnitten wurde: die Beziehung zwischen Narzissmus und Homosexualität. (c) Homosexualität: Sandor Ferenczi und Melanie Klein Obwohl Sandor Ferenczi und Melanie Klein beide von Freudschen Prämissen ausgehen, gelangen sie in ihren Darstellungen der Wechselbeziehung von Narzissmus und Homosexualität zu Ergebnissen, die mit Freuds Thesen nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind. Die Abweichungen hängen vor allem mit der unterschiedlichen Einschätzung der Mutter- und Vaterrolle zusammen. Schließlich wird sich zeigen, dass beim männlichen Kind sowohl Identifizierungen mit der Mutter als auch mit dem Vater narzisstisch-homosexuelle Einstellungen hervorbringen können. Bekanntlich erklärt Freud Leonardo da Vincis latente Homosexualität mit Hinweisen auf eine intensive Identifikation mit der Mutter, die zur Folge hat, dass er die Mutterliebe zu ihm wiederholt, indem er sich jungen Männern zuwendet, die „doch nur Ersatzpersonen und 128 Ibid., S. 59. 129 Ibid., S. 60. 46 Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat“. 130 Freud fügt erklärend hinzu: „Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus (...).“ 131 Dies bedeutet, dass er das mütterliche Verlangen mitsamt den ihm eigenen Objekten reproduziert. In seinem Aufsatz über männliche Homosexualität (1914) setzt Ferenczi Freuds Gedankengang fort, indem er an dessen bekanntes Phasenmodell - vom Autoerotismus zum Narzissmus, vom Narzissmus zur Objektliebe - anknüpft. Er fügt hinzu: „Die Homosexuellen sind nur stärker als andere an dieses narzißtische Stadium fixiert; das dem ihrigen gleiche Genitale bleibt für sie zeitlebens Liebesbedingung.“ 132 Es fragt sich warum. Ferenczi unterscheidet zwei Typen von Homosexuellen: den aktiven, den er (etwas missverständlich) Objekt-Homoerotiker nennt, und den passiven, den er als Subjekt-Homoerotiker oder Invertierten bezeichnet. Während sich der erste „fast ausschließlich für junge, zarte Knaben von weibischem Äußeren interessiert, dem Weibe aber mit ausgesprochener Antipathie (...) begegnet“ 133 , ist der passive Invertierte, der Frauen mit Sympathie und eher „kollegial“ behandelt, „nicht sehr leidenschaftlich und verlangt als echter Narzißt von seinem Geliebten hauptsächlich die Anerkennung der körperlichen und sonstigen Vorzüge“. 134 Während dieser narzisstischen Homosexualität eine „Entwicklungsanomalie“ zugrunde liege, sei die aktive Objekt-Homoerotik auf eine „Zwangsneurose“ zurückzuführen, meint Ferenczi. Ein theoretisches Problem besteht darin, dass aktive und passive Homosexualität von Freud und Ferenczi genetisch gleich erklärt werden. Beide geben als Ursache die Identifikation des Sohnes mit der Mutter an. Bei Freud lautet die entscheidende Formulierung im Zusammenhang mit Leonardo da Vinci: „Der Knabe verdrängt die Liebe zur Mutter, indem er sich selbst an deren Stelle setzt, sich mit der 130 S. Freud, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“, StA, Bd. X, S. 125. 131 Ibid. 132 S. Ferenczi, „Zur Nosologie der männlichen Homosexualität (Homoerotik)“ (1914), Schriften zur Psychoanalyse, Bd. I, Frankfurt, Fischer, 1970, S. 185. 133 Ibid., S. 186. 134 Ibid., S. 187. 47 Mutter identifiziert (...).“ 135 Analog dazu schreibt Ferenczi über den passiven Homosexuellen (den „Invertierten“): „Schon als kleines Kind phantasiert er sich in die Situation der Mutter und nicht in die des Vaters hinein; er bringt sogar einen invertierten Ödipuskomplex zustande; er wünscht den Tod der Mutter herbei, um ihre Stellung neben dem Vater einzunehmen (...).“ 136 In Ferenczis Darstellung fällt dem Vater eine ebenso wichtige Rolle in der Entwicklung des Sohnes zu wie der Mutter: „Ich kenne Fälle, in denen der narzißtische Knabe die latente Homoerotik des Vaters in Form von Überzärtlichkeit provozierte, was dann zur Fixierung seiner eigenen Inversion nicht wenig beitrug.“ 137 In beiden Argumentationen versucht der Knabe, die Stelle der Mutter einzunehmen. Während er aber bei Freud das Verlangen der Mutter nach dem Sohn wiederbelebt, indem er sich - als aktiver Homosexueller - ihm ähnlichen „heranwachsenden Knaben“ (Freud) zuwendet, die er so liebt, wie seine Mutter ihn geliebt hat, versucht er bei Ferenczi - als passiver Homosexueller - das Verlangen des Vaters und später des aktiven Partners zu wecken. Dies bedeutet konkret, dass „Identifikation mit der Mutter“ einmal aktive, einmal passive Homosexualität zur Folge haben kann. Offen bleibt die Frage, weshalb der Knabe einmal das Verlangen seiner Mutter nach ihm wiederholt, ein andermal versucht, das Verlangen des Vaters und seiner späteren Repräsentanten an sich zu binden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass „Identifikation mit der Mutter“ bei Freud und Ferenczi Verschiedenes bedeutet. Während Freud eine Identifikation aus „verdrängter Liebe“ meint, stellt sich Ferenczi eine Identifikation aus Rivalität und Hass vor. Abermals tritt hier die der Psychoanalyse innewohnende spätmoderne Ambivalenz zutage: Der sich mit der Mutter identifizierende Sohn kann entweder die Mutterliebe narzisstisch-aktiv auf andere (ihm ähnliche) Männer übertragen oder versuchen, narzisstisch-passiv die Mutter beim Vater zu verdrängen. Offen bleibt die Frage, weshalb „Identifikation“ einmal mit „Liebe“, ein andermal mit „Hass“ einhergeht. 135 S. Freud, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“, StA, Bd. X, S. 125. 136 S. Ferenczi, „Zur Nosologie der männlichen Homosexualität“, Schriften zur Psychoanalyse, Bd. I, op. cit., S. 188. 137 Ibid., S. 189. 48 Von Leonardo, der als Kind ohne väterliche Autorität aufgewachsen war, sagt Freud, in der Pubertät habe die „Identifizierung mit dem Vater jede Bedeutung für sein Sexualleben“ 138 verloren. Eine solche Entwicklung muss jedoch nicht auf eine Reproduktion der Mutterliebe und auf aktive Homosexualität hinauslaufen. Denn es heißt bei Ferenczi: „Auch in Familien, wo der Vater lebt, aber minderwertig oder bedeutungslos ist, sehnt sich der Sohn übermäßig nach einem ‚starken‘ Mann und bleibt inversionsgeneigt.“ 139 Die Frage, weshalb sich bei Leonardo statt einer solchen Inversionsneigung ein aktives „mütterliches“ Verlangen nach dem ewig jungen Spiegelbild durchgesetzt hat, bleibt unbeantwortet. Im Anschluss an Freuds Arbeit über Leonardo da Vinci bietet Melanie Klein eine etwas andere Erklärung von Narzissmus und Homosexualität beim Mann an, indem sie eine frühe Fixierung des männlichen Kindes auf den väterlichen Penis voraussetzt. Dabei geht sie von der These aus, „daß der Homosexualität Leonardos die überstarke Bindung an die Mutter, letzten Endes an die Mutterbrust zugrunde lag, die auf den Penis als Objekt der Befriedigung verschoben war“. 140 Sie stützt sich auf ihre eigene klinische Praxis, wenn sie hinzufügt: „Nach meinen Beobachtungen folgt bei jedem Knaben auf die oral-saugende Fixierung an die Mutterbrust diejenige an den väterlichen Penis und bildet die Grundlage der Homosexualität.“ 141 Dies ist freilich eine neue Konstruktion, die nicht ohne weiteres aus Freuds Aufsatz über Leonardo da Vinci ableitbar ist. Denn es ist ein erheblicher Unterschied, ob sich der Sohn durch Identifikation das mütterliche Verlangen zu eigen macht oder die Mutterbrust in einer späteren Phase seiner Entwicklung durch den „väterlichen Penis“ ersetzt. In diesem Zusammenhang liefert Melanie Klein unter dem Titel „Wendung zur Homosexualität“ eine zusätzliche Erklärung, die auf die „narzisstische Objektwahl“ zielt: „Die normale Einstellung des 138 S. Freud, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“, StA, Bd. X, S. 144. 139 S. Ferenczi, „Zur Nosologie der männlichen Homosexualität“, Schriften zur Psychoanalyse, Bd. I, op. cit., S. 189. 140 M. Klein, „Die Auswirkungen früher Angstsituationen auf die männliche Sexualentwicklung“, Gesammelte Schriften, Bd. II, Hrsg. R. Cycon, Stuttgart-Bad Canstatt, Frommann-Holzboog, 1997, S. 303. 141 Ibid. 49 Knaben, durch die der eigene Penis zum Repräsentanten des Ichs und des Bewußten wird (...), erstreckt sich in der Homosexualität mittels der narzißtischen Objektwahl auf den Penis eines anderen Mannes.“ 142 Wie aber kommt die narzisstische Objektwahl zustande? Sollte die Antwort lauten: „durch die frühe Fixierung auf den väterlichen Penis“, so befände sich Melanie Klein außerhalb der Erklärungsmodelle Freuds und Ferenczis. Von diesen Modellen entfernt sie sich jedenfalls, wenn sie Zusatzhypothesen aufnimmt, die sich auf homosexuelle Erfahrungen des Kindes und diverse Angstzustände beziehen. Wiederum beruft sie sich auf ihre Praxis: „In solchen Fällen fand ich, daß eine homosexuelle Beziehung in früher Kindheit die Möglichkeit geboten hatte, die Gefühle von Haß und Angst, die dem Penis des Vaters galten, zu mildern und den Glauben an den guten Penis zu verstärken. Auf diesem Verhältnis bauten sich die späteren homosexuellen Beziehungen auf.“ 143 Was bildet nun die Grundlage der männlichen Homosexualität: die Fixierung auf den väterlichen Penis, die narzisstische Objektwahl (als Folge einer Identifizierung mit der Mutter) - oder „eine homosexuelle Beziehung in früher Kindheit“, die dem Kind hilft, die Angst vor dem „väterlichen Penis“ zu überwinden? Durch weitere Zusatzhypothesen wie „Angst vor dem gefährlichen Mutterleib“ stellt Melanie Klein schließlich ihre gesamte Konstruktion in Frage: „Hingegen trägt in den Fällen, in denen die Angst vor dem gefährlichen Mutterleib zu groß ist und die ‚gute‘ Mutter-Imago sich nicht entwickeln konnte, die Phantasie, sich mit dem Vater gegen die Mutter oder mit dem Bruder gegen die Eltern zu verbinden, zur Befestigung der homosexuellen Position bei.“ 144 Zur Festigung dieser Position können nun anscheinend alle Kombinationen beitragen, die in Familienkonflikten in Frage kommen. Wo Homosexualität einerseits mit einer „starken Bindung an die Mutter“, andererseits mit der „Angst vor dem gefährlichen Mutterleib“, sowohl mit der „Fixierung auf den väterlichen Penis“ als auch mit der Angst vor ihm erklärt wird, droht die Theorie von den spätmodernen Ambivalenzen, die sie analysieren sollte, dekonstruiert zu werden. 142 Ibid., S. 327. 143 Ibid. 144 Ibid., S. 328-329. 50 (d) Pubertät: Von Anna Freud zu Edith Jacobson und Thomas Ziehe Obwohl Anna Freud, Edith Jacobson und Thomas Ziehe verschiedenen Generationen angehören und sich folglich mit grundverschiedenen gesellschaftlichen Situationen und Sozialisationsmustern auseinandersetzen, ist ihnen ein freudianisches Problem gemeinsam: der Übergang vom adoleszenten oder pubertären Narzissmus zur libidinösen Objektbesetzung. Obgleich dieses Problem als Grundstruktur erhalten bleibt, weist es in der postmodernen Nachkriegsgesellschaft, mit der es vor allem Ziehe zu tun hat, neue Aspekte auf. Diese hängen vorwiegend mit der Schwächung der elterlichen Autorität durch Marktmechanismen und neue Technologien zusammen. In ihrem Frühwerk befasst sich Anna Freud mit der Narzissmus- Problematik in der Pubertät und zerlegt sie in vier komplementäre Komponenten: 1. die Differenzierung von Ich und Es im Laufe des Sozialisationsprozesses; 2. die daraus resultierende Zentrierung des jugendlichen Interesses auf die eigene Person; 3. die sie begleitende Unfähigkeit, Objekte libidinös zu besetzen und Objektbeziehungen einzugehen; 4. die damit einhergehende Entwicklung asketischer Ideale. Für die Differenzierung von Ich und Es sind in letzter Instanz die Eltern als Träger der primären Sozialisation verantwortlich: „Jedem ‚Ich will‘ des Triebs wird ein ‚Du darfst nicht‘ des Ichs entgegengestellt, nicht viel anders, wie strenge Eltern es in der ersten Erziehung des Kleinkindes zu halten pflegen.“ 145 Das pubertäre Subjekt ist labil, weil es von der Bleulerschen Ambivalenz, die sich die Psychoanalyse in abgewandelter Form zu eigen gemacht hat, geschwächt wird. Diese Ambivalenz, die sich aus dem Konflikt zwischen Trieb und sozialem Verbot ergibt, fasst Anna Freud mit dem Ausdruck „Abneigung bei gleichzeitiger Begierde“ 146 zusammen. Dieser dem Subjekt innewohnende Widerspruch führt dazu, dass sich der Jugendliche vorwiegend mit sich selbst beschäftigt, um innere Konflikte zu lösen: „Die Vielseitigkeit seiner Interessen hält den Ju- 145 A. Freud, „Triebangst in der Pubertät“, Die Schriften der Anna Freud, Bd. I, 1922-1936, München, Kindler, 1980, S. 335. 146 Ibid., S. 337. 51 gendlichen nicht davon ab, sein Leben eigentlich auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren: auf die Beschäftigung mit seiner eigenen Persönlichkeit.“ 147 Das Ergebnis ist eine narzisstische Charakterstruktur, deren Entstehung auch damit zusammenhängt, dass die alten Objektbeziehungen (vor allem zu den Eltern) an Bedeutung verlieren und neue noch nicht zur Verfügung stehen oder labil und von nur kurzer Dauer sind. Am Ende ihrer Abhandlung über „Triebangst in der Pubertät“ beschreibt Anna Freud einen Vorgang, den man mit Freud als „sekundären Narzissmus“ bezeichnen könnte. Vom Jugendlichen heißt es dort: „Er ist in Gefahr, seine Objektlibido von der Umwelt auf die eigene Person zurückzuziehen, entsprechend den Regressionen in seinem Ich auch im libidinösen Leben von der Objektliebe zum Narzißmus zu regredieren.“ 148 Objekte werden nur unter der Bedingung libidinös besetzt, dass sie als verinnerlichte Objekte dem eigenen Narzissmus dienen. In dieser Situation wenden sich Jugendliche, die „ihre Libido plötzlich und mit einem Schlag von den Eltern [abziehen]“ 149 , einer Figur zu, „die irgendeine Idealforderung verkörpert“. 150 Anna Freud scheint an Sigmund Freuds Schrift über „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ anzuknüpfen, wenn sie zu den Idealforderungen der Jugendlichen anmerkt: „Die Ideale eines Führers, die sozialen oder asozialen Ziele einer Jugendgruppe werden im allgemeinen enthusiastisch und kritiklos übernommen.“ 151 In dieser Situation fällt der psychoanalytischen Therapie die Aufgabe zu, das narzisstische Gehäuse des Jugendlichen aufzubrechen und sein Interesse für andersartige Objekte (Personen) zu wecken, die nicht als Katalysatoren seines narzisstischen Verlangens fungieren. Es ist ein „Schritt vom sekundären Narzissmus zur Objektbesetzung“ 152 , erklärt Anna Freud und beruft sich auf Paul Federns Begriff der 147 Ibid., S. 341. 148 Ibid., S. 350. 149 A. Freud, „Probleme der Pubertät“ (1958), Die Schriften der Anna Freud, Bd. VI, 1956-1965, op. cit., S. 1758. 150 Ibid. 151 Ibid., S. 1759. 152 Ibid., S. 1763. 52 „Ichgrenzen“ 153 , die bei erfolgreicher Behandlung jenseits des Narzissmus auf Andersartiges erweitert werden. Hier knüpft Edith Jacobson an, die sich in ihrem von Heinz Hartmann und Heinz Kohut 154 beeinflussten Buch Das Selbst und die Welt der Objekte (1964) auf Anna Freuds These über „die Intensivierung des Narzissmus in der Adoleszenz“ 155 beruft. Sie tut es jedoch in einem neuen Kontext, in dem es auch darum geht, die Herausbildung eines stabilen Ichs, eines Überichs und eine Ichideals beim Jugendlichen nachzuzeichnen. Zur Intensivierung des Narzissmus in der Adoleszenz bemerkt sie: „Wie wir sehen werden, gewinnt sie jedoch einen wichtigen Stellenwert für das Ich und die Objektbeziehungen.“ 156 Anders als Anna Freud, die die labile Schichtung des Subjekts, den Konflikt zwischen Es und Ich sowie den Rückzug der jugendlichen Libido aus der Objektwelt beschreibt, betrachtet Edith Jacobson auch die Kehrseite des Problems: das Erstarken des Ichs, dessen Ausbildung und Konsolidierung am Ende der Pubertät zu einer Stabilisierung des Subjekts führen kann. Dabei schenkt sie dem Ich als Vermittlungsinstanz zwischen Es und Überich besondere Aufmerksamkeit: „Doch in der späten Adoleszenz tritt langsam aber unverkennbar eine Machtverschiebung zugunsten des Ichs ein, dessen Kraftzuwachs sich in seinem wachsenden Einfluß auf Es und Überich manifestiert und eine partielle Umkehrung der Situation bewirkt.“ 157 Vom Ich sagt sie, es spiele nun „die Rolle eines aktiven Vermittlers“ 158 zwischen den beiden anderen Instanzen. Hier zeigt sich, dass es möglich ist, das Objekt „Pubertät“ auch anders zu konstruieren, als Anna Freud es tut: als eine Phase der Reifung und der subjektiven Konsolidierung, die schließlich den Konflikten, Ungewissheiten und Unwägbarkeiten ein Ende setzt. Jedoch handelt es sich nicht um eine konkurrierende Konstruktion, die Anna 153 Vgl. P. Federn, Ichpsychologie und die Psychosen (1956), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, Kap. XV: „Das Ich als Subjekt und Objekt im Narzissmus“. 154 Vgl. H. Hartmann, Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie (1964), Stuttgart, Klett, 1972 und H. Kohut, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen (1971), Frankfurt, Suhrkamp, 1973. 155 E. Jacobson, Das Selbst und die Welt der Objekte (1964), Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 189. 156 Ibid. 157 Ibid., S. 197. 158 Ibid. 53 Freuds Entwurf in Frage stellt, sondern um eine ergänzende Betrachtung, die komplementäre Aspekte zutage treten lässt. Denn Edith Jacobson sind die narzisstische Isolierung des Jugendlichen und die Gefahren, die sie mit sich bringt, keineswegs entgangen. Das allmähliche Erstarken des Ichs schließt Depressionen nicht aus: „Kein Zweifel: die lange Periode übermäßiger narzißtischer Expansion, des Interesses für hochgradig narzißtische Werte birgt ein gefährliches Potential und erklärt die Neigung des Adoleszenten zu solchen gehobenen und depressiven Stimmungszuständen.“ 159 Mit der „übermäßigen narzißtischen Expansion“ meint Jacobson, die an dieser Stelle von „Verlassenheit und Isolation“ spricht, auch Anna Freuds Rückzug der Libido aus der Objektwelt. Mit den narzisstischen Werten sind allerdings auch Ichideale gemeint, die, wie noch zu zeigen sein wird, aus den Reifungsprozessen der Pubertät hervorgehen. Obwohl es in dieser Lebensphase zu einer Konsolidierung von Idealen kommen kann, die in Anlehnung an das von der elterlichen Sozialisation geformte Überich entstehen, spricht Jacobson in diesem Zusammenhang auch von „Pseudoidealen“. 160 Es geht um Idealisierungen, die ihre Wurzeln oft in der Kindheit haben und in der Pubertät wiederbelebt werden: „Das sind die Fälle, bei denen grandiose, sexuelle und aggressive (prägenital-phallische), narzißtisch-exhibitionistische Strebungen entweder seit der Kindheit unangefochten überlebt haben oder aber in der Adoleszenz wiederbelebt und dermaßen verstärkt wurden, daß es ihnen gelungen ist, ins Überich und die Ich-Ziele einzubrechen und sich dort unter der Maske eines Ideals dauerhaft zu behaupten.“ 161 Heinz Kohut spricht von einem „grandiosen Selbst“, das aus der frühen Kindheit stammt, die Lacanianer von einem „Idealich“ (moiidéal), das im Narzissmus der imaginären Phase beheimatet ist (vgl. Kap. II). Entscheidend ist, dass sich dieses Pseudoideal nicht so sehr aus gesellschaftlichen Werten aus dem Bereich des Überichs zusammensetzt, sondern ausschließlich der Selbsterhöhung des Subjekts dient. Es geht aus der Schwächung des Überichs hervor, die zu einem Kernthema von Thomas Ziehes Buch Pubertät und Narzißmus (1975) 159 Ibid., S. 203. 160 Ibid., S. 212. 161 Ibid., S. 215-216. 54 wird. Dieses Buch, das auch im dritten (soziologischen) Kapitel eine wichtige Rolle spielen wird, könnte parallel zu David Riesmans The Lonely Crowd (1950) gelesen werden, einer Studie, in der gezeigt wird, wie an die Stelle des autonomen (inner-directed) Individuums des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das die Werte der väterlichen Autorität verinnerlicht, nach dem Zweiten Weltkrieg ein „außengelenktes“ (outer- oder other-directed) Individuum tritt, das der Meinung der anderen, der Mode und dem „Trend“ folgt. In diesem Zusammenhang sollte die Kernthese von Ziehes Buch betrachtet werden: „Die Väter selbst sind nicht mehr sicher, was überhaupt ‚Erbe‘ sein soll oder kann. D.h. den Jugendlichen, die nicht er ben wollen, stehen ja Eltern gegenüber, die gar kein Erbe mehr ha ben.“ 162 Zu dieser Verunsicherung des Einzelsubjekts gesellt sich die Verunsicherung durch einen beschleunigten gesellschaftlichen Wan del, der bewirkt, dass nicht mehr die Identifikation mit dem Vater die Sozialisation beherrscht, sondern eine Flucht ins „Archaisch- Mütterliche“ der vorödipalen Phase: „Die Zersetzung der ‚väterlich‘traditionalen Normen durch ‚archaisch-mütterliche‘ soziale Umwälzungen erscheint so als Sieg des unbewußten Mutterbildes über das Vaterbild (...).“ 163 Die Flucht in eine archaische Unmündigkeit, die eine Reaktion auf den Zusammenbruch der väterlichen Ordnung ist, könnte auch als Folge der System- und Strukturzwänge aufgefasst werden, die nach der Ablösung des liberalen Individualismus durch die Konzernwirtschaft zunehmend die Autonomie des Subjekts einschränken. Für den Narzissmus des Einzelnen bedeutet dies, dass er bei schwacher Persönlichkeitskonsistenz außerordentlich labil ist und nicht auf ein Ichideal im eigentlichen Sinne, sondern auf ein Idealich oder ein „infantiles Größenselbst“ (Kohut) ausgerichtet ist, das aus der vorödipalen, inzestuösen Phase stammt. Vom „neuen Sozialisationstyp“ heißt es bei Ziehe, der z.T. Heinz Kohuts Terminologie benutzt: „Das Ichideal wird jetzt nicht aus dem Ich heraus gebildet, sondern (zunächst) ausgehend vom primär-narzißtischen ‚grandiosen Selbst‘.“ 164 Das Ergebnis ist eine „Beschäftigung mit sich selbst“ 165 , 162 Th. Ziehe, Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert? , Frankfurt- Köln, Europäische Verlagsanstalt, 1978 (2. Aufl.), S. 138. 163 Ibid., S. 169. 164 Ibid., S. 181. 165 Ibid., S. 201. 55 die tendenziell die Verwirklichung eines gesellschaftlich anerkannten Ideals ersetzt. Ein Vergleich der drei Positionen von Anna Freud, Jacobson und Ziehe lässt eine gesellschaftlich bedingte Entwicklung erkennen: Anders als bei Jacobson, die Anfang der 1960er Jahre die Pubertät auch als eine Zeit des erstarkenden Ichs betrachtet, treten bei Ziehe in einem neuen sozialen Kontext eher die Risiken und Gefahren in den Vordergrund, die Anna Freud in ihren Kommentaren zur Pubertät analysiert. Der Narzissmus des „neuen Sozialisationstyps“ geht einher mit Ichschwäche und einer „Krise des Selbstwertgefühls“. 166 Seine Ideale sind zumeist schnell sich wandelnde Pseudoideale, deren Kurzlebigkeit im dritten Kapitel in einem soziologischen Kontext untersucht wird. (e) Narzissmus, Überich und Ichideal: Von Edith Jacobson zu Janine Chasseguet-Smirgel „Überich“ und „Ichideal“ sind, wie die beiden Freudschen Neologismen bereits andeuten, dem „Ich“ übergeordnete Strukturen, die aus primären und sekundären Sozialisationsprozessen hervorgehen. Eines der vielen Probleme, das auf beiden Termini seit ihrer Entstehung lastet, besteht darin, dass sie in Freuds Werk verschiedenen theoretischen Phasen angehören: Während das „Ichideal“ im letzten Teil von Freuds Narzissmus-Aufsatz (1914) erläutert wird, wird das „Überich“ fast ein Jahrzehnt später in der Abhandlung über „Das Ich und das Es“ (1923) kommentiert, wo es als Synonym des „Ichideals“ behandelt wird, jedoch eine ganz andere Funktion erfüllt... Angesichts dieses Bedeutungswandels ist Janine Chasseguet- Smirgels Bemerkung zu verstehen, man könne „über die Komplexität des Problems nur verblüfft sein“. 167 Im Folgenden geht es darum, diese Komplexität zu entwirren und eine Unterscheidung zwischen „Ichideal“ und „Idealich“ vorzuschlagen. Ein erster Schritt zu dieser Entwirrung mag die schon ältere, aber immer noch brauchbare Definition des Ichideals sein, die Léon Grinberg in seinem Brief an Freud vorschlägt: „Das normale Ich-Ideal be- 166 Ibid., S. 158. 167 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay über die „Krankheit der Idealität“ (1975), Frankfurt, Suhrkamp, 1981, 1987, S. 11. 56 stimmt seinerseits die Werte und Ideale, nach denen ein Individuum strebt (...).“ 168 Komplementär dazu verhält sich eine zeitgenössische (2002) Definition von Günter H. Seidler, der im Zusammenhang mit dem Ichideal vom „Ensemble von handlungsleitenden Idealen“ 169 spricht. Vor diesem Hintergrund sollen nun die beiden Ansätze von Edith Jacobson und vor allem Janine Chasseguet-Smirgel kommentiert werden. Von Edith Jacobson sagt Chasseguet-Smirgel: „Die Autorin trennt jedoch das Über-Ich nicht vom Ichideal.“ 170 Sie trennt zwar nicht, unterscheidet aber sehr wohl zwischen einem präödipalen Ichideal, das sich in der Pubertät verstärkt zu Wort meldet (s.o.), und einem Überich, das die frühen narzisstischen Strebungen in realistische Bahnen lenkt. Da jedoch das Ichideal - wie das Überich - „aus den Identifizierungen des Kindes mit idealisierten Elternimagines hervorgeht“ 171 , erfüllt es als handlungsleitendes Wertsystem eine Brückenfunktion zwischen Ich und Überich: „Das Ich-Ideal entwickelt sich schließlich zu einer kohärenten Brückenstruktur, die beide Systeme allmählich verbindet und beiden angehört, und das erlaubt offensichtlich dem Ich, Überich-Funktionen zu unterstützen, zu ersetzen und zu ergänzen.“ 172 Diese Einschätzung stimmt weitgehend mit Jacobsons Betrachtungen über die Pubertät überein, die ihr nicht nur als eine Periode narzisstischer Störungen erscheint, sondern auch als eine Phase der Ich-Konsolidierung. Im Gegensatz zu Jacobson erblickt Chasseguet-Smirgel im Ichideal ein ambivalentes Phänomen, das sowohl von der inzestuösen Bindung an die Mutter als auch von der Identifikation mit dem Vater bestimmt werden kann. Der Normalfall ist eine nachödipale Identifikation mit dem Vater: „Der Vater wird zum Ichideal des Knaben.“ 173 Die psychische Entwicklung kann jedoch auch pervertiert werden, 168 L. Grinberg, „Brief an Sigmund Freud“, in: J. Sandler (Hrsg.), Über Freuds „Zur Einführung des Narzißmus“, op. cit., S. 145. 169 G. H. Seidler, „Der Sog der Monade: Die Elimination der ‚dritten Position‘. Klinische Bilder und psychodynamische Abläufe beim ‚destruktiven Narzißmus‘“, in: Das Ich und das Fremde. Klinische und sozialpsychologische Analysen des destruktiven Narzißmus (1994), Gießen, Psychosozialverlag, 2002, S. 20. 170 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal, op. cit., S. 165. 171 E. Jacobson, Das Selbst und die Welt der Objekte, op. cit., S. 198. 172 Ibid., S. 199. 173 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal, op. cit., S. 33. 57 wenn das männliche Kind versucht, den Vater bei der Mutter zu ersetzen, statt sich mit ihm zu identifizieren. In diesem Fall ist es „der adäquate Partner seiner Mutter und folglich konform mit seinem eigenen Ichideal“. 174 Die ödipale, primäre Sozialisation scheitert somit beim Perversen, der die Identifikation mit dem Vater immer hartnäckiger ablehnt und sich auf den Standpunkt stellt, „niemandes Sohn“ 175 zu sein, d.h. dem Vater nichts schuldig zu sein. Auf begrifflicher Ebene kommt es bei Chasseguet-Smirgel zu einer semantischen Verschiebung zugunsten einer Ichideal-Definition, die eher auf die Perversion als auf den Normalfall ausgerichtet ist. Davon zeugt eine Passage, in der sie zwischen Ichideal und Überich unterscheidet und behauptet, „daß auf einem bestimmten Niveau ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Ichideal, dem Erben des primären Narzißmus, und dem Über-Ich, dem Erben des Ödipuskomplexes, besteht“. 176 Wenn jedoch im Normalfall der Vater zum „Ichideal des Knaben“ wird, ist es nicht ohne weiteres möglich, das Ichideal einseitig als „Erben des primären Narzissmus“ aufzufassen, das Überich hingegen als Erben des Ödipuskomplexes: zumal Edith Jacobson zu zeigen versucht, „warum das Überich und das Ich-Ideal in ihrer Tiefe die grandiosen Wünsche des präödipalen Kindes (...) beherbergen“. 177 Wenn sowohl das Ichideal als auch das Überich Elemente des vorödipalen Narzissmus enthalten, ist der von Chasseguet- Smirgel postulierte Gegensatz zwischen Ichideal und Überich in dieser Form kaum zu halten. In ihrem Buch Das Ichideal (1975) fällt diesem Gegensatz eine strukturierende Funktion zu. Er bewirkt, dass das Ichideal primär als Auswuchs einer Pathologie (der Mutterbindung) aufgefasst wird und erst an zweiter Stelle als Produkt von Sozialisationsprozessen. Nicht zufällig lautet der Untertitel von Das Ichideal: Psychoanalytischer Essay über die „Krankheit der Idealität“. Im Anschluss an Freud, der in seinem Narzissmus-Aufsatz das Ichideal aus dem primären Narzissmus hervorgehen lässt, beschreibt Chasseguet-Smirgel diese Krankheit in allen Einzelheiten. Dabei denkt sie auch an Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, wenn sie zur Beziehung von individueller und kollektiver Idealbildung 174 Ibid., S. 38. 175 Ibid., S. 102. 176 Ibid., S. 80. 177 E. Jacobson, Das Selbst und die Welt der Objekte, op. cit., S. 107. 58 bemerkt: „Diese Auslöschung der individuellen Züge, die verknüpft ist mit der Identifizierung der Massenmitglieder miteinander, die ein gemeinsames Ichideal durch Projektion auf dasselbe Objekt, den Führer, errichtet haben, scheint um so absoluter als die individuellen Züge eigentlich mehr Schwäche zeigen.“ 178 In dieser Situation vermittelt der Führer zwischen der Masse und der „ideologischen Illusion“. 179 Chasseguet-Smirgel betont, dass es dabei zu einer „Ausrottung des Vaters und der väterlichen Welt“ 180 kommt. Hier setzt sich die Perversion durch, die darin besteht, dass die Identifikation mit dem Vater blockiert wird, weil „das Ichideal (...) zur Vereinigung mit der Mutter drängt, also zur Überschreitung der Inzestschranke“. 181 Es fragt sich aber, ob es nicht auch ein anderes Ichideal gibt, das aus der Identifikation mit dem Vater hervorgeht, mit dem Überich verbündet ist und der Perversion entgegenwirkt. Chasseguet-Smirgel scheint davon auszugehen, dass es ein solches Ichideal gibt, wenn sie sich vorstellt, dass jemand „eine narzißtische Zufuhr gerade in der Tatsache finden wird, daß er der Verführung durch die Illusion nicht nachgegeben hat“. 182 Zugleich führt sie das Kunstwerk als Verwirklichung des Ichideals des Künstlers und als einen „die Vollkommenheit symbolisierenden Phallus“ 183 an. Es ist zwar bekannt, dass viele - vor allem spätmoderne - Künstler nicht vermochten, sich aus ihrer inzestuösen Bindung an die Mutter und ihrer Hassbeziehung zum Vater zu lösen; es ist aber nicht ohne weiteres möglich, ihr ästhetisches Ichideal mit dem der ideologisierten und fanatisierten Masse zu vergleichen. Auch das Ideal des kritischen Einzelnen (z.B. eines Künstlers wie Thomas Mann oder Hermann Hesse), der sich von dieser Masse abwendet, kann narzisstisch besetzt sein, wie Chasseguet-Smirgel selbst bemerkt. Es ist jedoch anders beschaffen als das Ichideal der im Massenwahn Vereinigten. Es muss folglich ein Ichideal geben, von dem nicht gilt, dass „das Ichideal und die inzestuöse Phantasie eng miteinander verbunden sind“. 184 Es ist ein Ichideal, das aus der (partiellen) Identifikation mit 178 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal, op. cit., S. 83. 179 Ibid., S. 86. 180 Ibid. 181 Ibid., S. 137. 182 Ibid., S. 91. 183 Ibid., S. 144. 184 Ibid., S. 179. 59 dem Vater oder aus der (partiellen) Überwindung der inzestuösen Fantasie und einer engen Beziehung zum Überich hervorgeht. Chasseguet-Smirgel lässt erkennen, dass sie sich ein solches Ichideal durchaus vorstellen kann, wenn sie am Ende ihrer Abhandlung bemerkt: „Das Ichideal kann in gutem Einvernehmen mit dem Über- Ich leben (...).“ 185 Möglicherweise ist dies aber ein anderes Ideal als das, welches mit der inzestuösen Fantasie liiert ist. Im Anschluss an diese Überlegungen scheint es daher sinnvoll zu sein, mit Lacan und Daniel Lagache zwei Begriffe zu unterscheiden: das Ichideal, das hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) aus einer Identifizierung mit dem Vater hervorgeht, und das Idealich, das vorwiegend vom inzestuösen Verlangen nach der Mutter gespeist wird. Im Anhang zu ihrem Buch („Das Ichideal im Werk Freuds“) setzt sich Chasseguet-Smirgel mit dieser Unterscheidung auseinander, übernimmt sie jedoch nicht: „Ich hielt es meinerseits nicht für notwendig, zwischen Ichideal und Idealich zu unterscheiden, da jede Untersuchung des Ichideals auch die verschiedenen Modi des Wiedererlangens des verlorenen Narzißmus impliziert. Zu zeigen, daß einige dieser Modi regressiv sind, andere den Errungenschaften der Entwicklung entsprechen, hatte ich mir unter anderem durchaus vorgenommen.“ 186 Das mag sein; das Buch und die Theorie hätten aber an Stringenz gewonnen, wenn sich der Unterschied zwischen den regressiven und den „entwickelten“ Modi in der Terminologie niedergeschlagen hätte. Er wird in das zweite Kapitel eingehen, wo Idealich und Ichideal als Objekte der Handlung oder Objekt-Aktanten von den das Subjekt konstituierenden Instanzen „Ich“, „Es“ und „Überich“ unterschieden werden. 185 Ibid., S. 183. 186 Ibid., S. 238. 61 II. Narzissmustheorien heute: Ein dialogisches Modell Betrachtet man die verschiedenen Narzissmustheorien, die nach Freud und den Freudianern der ersten Stunde entstanden sind, so drängt sich die Frage auf, was sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geändert hat und warum. Insgesamt können drei Faktoren genannt werden, die in diesem Zeitraum auf die Narzissmus-Diskussionen eingewirkt haben: der von Ziehe kommentierte Zerfall der väterlichen Autorität und der Familie; die wachsende Bedeutung intersubjektiver und dialogischer Ansätze in Philosophie und Psychoanalyse (vgl. Altmeyer); die Aufwertung des Narzissmus als produktiver Kraft - vor allem in den Werken von Béla Grunberger und Heinz Kohut. Obwohl schon Freuds Psychoanalyse als eine Reaktion auf den Niedergang des liberalen Unternehmers, der individuellen Initiative und der Vaterrolle in der Familie aufgefasst werden kann 1 , wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg das Problem des abwesenden Vaters, auf das Alexander Mitscherlichs bekanntes Buch 2 reagiert, sichtbar. Zugleich trat ein komplementäres Problem in den Vordergrund: das der allein erziehenden oder dominierenden narzisstischen Mutter, deren Kinder sich unverstanden oder abgewiesen fühlen und ihrerseits narzisstisch reagieren. Sie ziehen sich - wie Freuds Plasmatierchen - aus der Objektwelt zurück und konzentrieren den größten Teil ihrer Libido auf das eigene Ich, genauer: auf ihre eigene Subjektivität. So entstand einerseits der durchaus richtige Eindruck, dass eine narzisstische Veranlagung im Laufe der primären Sozialisation „vererbt“ werden konnte, andererseits wurde die Theorie stärker als früher für die Tatsache sensibilisiert, dass das Narzissmus-Phänomen interaktionistisch, intersubjektiv oder dialogisch aufgefasst werden sollte. Es kann nicht umfassend erklärt werden, solange das Einzelsubjekt als Monade betrachtet wird - und nicht in seiner Interaktion mit anderen Subjekten (an erster Stelle den Eltern), die für die Entwicklung seiner sozialen Identität unentbehrlich sind. 1 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2007 (2. Aufl.), S. 166-167. 2 Vgl. A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München, Piper, 1973 (10. Aufl.). 62 Vor diesem Hintergrund wurde aber auch klar, dass Kinder von liebenden Eltern einen gesunden und kreativen Narzissmus „erben“ können, der sie im späteren Leben befähigt, Probleme zu lösen und Schwierigkeiten zu überwinden. Dabei trat abermals der ambivalente Charakter des Narzissmus zutage: der Narzissmus als produktive und destruktive Kraft, als Großzügigkeit und Neid, als Bejahung und Verneinung des anderen und der Andersheit. Es wird sich zeigen, dass André Green den malignen Narzissmus als einen Versuch des Subjekts auffasst, jede Spur von Alterität zu tilgen und sich selbst als autarke Einheit zu präsentieren. So ist es wohl zu erklären, dass sich sowohl Grunberger als auch Kohut - jeder auf seine Art - bemühen, dem produktiven Narzissmus ihrer Patienten zum Durchbruch zu verhelfen und ihren destruktiven, malignen Narzissmus zurückzudrängen. Komplementär dazu versuchen Psychologen wie Hans-Jürgen Wirth, in der Politik maligne und todbringende Narzissten von lebensbejahenden Narzissten zu unterscheiden. Solche Unterscheidungen sind nicht unproblematisch, zumal wenn sie zur Folge haben, dass einige Autoren (von denen hier im dritten Abschnitt die Rede sein wird) den Narzissmusbegriff vorwiegend mit positiven Konnotationen besetzen, während andere ihn fast ausschließlich als negative Erscheinung und als „Verleugnung des wahren Selbst“ (Lowen) auffassen. Angesichts solcher Einseitigkeiten kann man Neville Symington nur recht geben, wenn er am Ende seiner Abhandlung über den Narzissmus bemerkt: „Ich habe mehrfach gesagt, daß ich es für einen Fehler halte, Narzißmus in eine positive und eine negative Form aufzuspalten (...).“ 3 Es stellt sich jedoch weiterhin die Frage, wie die lebensbejahenden Komponenten des Narzissmus mit dessen Schattenseiten zusammenhängen. Auf diese Frage soll das im vierten Abschnitt entwickelte Modell antworten, das nicht nur dialogischen, sondern auch dialektischen Charakter hat. Es soll u.a. zeigen, warum die kreativen Kräfte des Narzissten nicht von den destruktiven zu trennen sind: Sie sind „auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt“ (Nietzsche) - aber nicht „wesensgleich“. 3 N. Symington, Narzißmus. Neue Erkenntnisse zur Überwindung psychischer Störungen, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2002 (2. Aufl.), S. 145. 63 Dem Modell liegt die These zugrunde, dass sowohl individuelle als auch kollektive Subjektivität auf dialogischem Wege zustande kommt und dass der maligne Narzissmus den dialogischen Ursprung der eigenen Subjektivität monologisch leugnet, wobei das Subjekt zu sich selbst in Widerspruch gerät. Das Modell soll im fünften Abschnitt durch Hinweise auf einige Fallstudien, aus denen es z.T. hervorgegangen ist, konkretisiert werden. 1. Von Freud zu Lacan „Die Zersetzung der ‚väterlich‘-traditionalen Normen durch ‚archaisch-mütterliche‘ soziale Umwälzungen“, von der Thomas Ziehe spricht (vgl. Kap. I. 5. d), mag als gesellschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt haben, dass Jacques Lacan die Autonomie des individuellen Subjekts (des „Ichs“), die Freud mit Einschränkungen noch bejahte, radikal in Frage stellte: Subjektivität ist vom Zusammenwirken der sprachlichen Signifikanten überdeterminiert und jenseits des subjektiven Bewusstseins angesiedelt. Lacans Paradoxon besteht darin, dass er - im Gegensatz zum skeptischen und selbstkritischen Rationalisten Freud - das Subjekt mit dem Unbewussten identifiziert. Dadurch stellt er die von Descartes begründete rationalistische Tradition der res cogitans auf den Kopf. Dazu bemerkt Alain Juranville: „Dieses von Descartes entdeckte Subjekt wird nun von Lacan als Subjekt des Unbewussten bestimmt.“ 4 Dieses Unbewusste hat sprachlichen Charakter, so dass Lacan behaupten kann: „Das Subjekt weiß nicht, was es sagt, und dies aus gutem Grund, denn es weiß nicht, was es ist.“ 5 Das Subjekt denkt in der Sprache, die Lacan in Anlehnung an Saussure und Jakobson 6 für unbewusst hält 7 , und kann folglich die sprachlichen Vorgänge, von denen es determiniert wird, nicht denken. 4 A. Juranville, Lacan et la philosophie, Paris, PUF (1984), 1996, S. 112. 5 J. Lacan, Le Séminaire. Livre II. Le Moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse, Paris, Seuil, 1978, S. 286. 6 Vgl. E. Roudinesco, Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1996, S. 405-416. 7 Vgl. J. Lacan, Mon enseignement, Paris, Seuil, 2005, S. 42. 64 Es ist hier nicht der Ort, Lacans Theorie des dezentrierten Subjekts darzustellen 8 ; es gilt vielmehr, einen weiteren Aspekt der „‚archaischmütterlichen‘ sozialen Umwälzungen“ (Ziehe) im Auge zu behalten, welcher seine Identifizierung von Subjektivität und Unbewusstem theoretisch ergänzt. Es geht um den Begriff des Imaginären, der bei Lacan zunächst wörtlich das bezeichnet, was nicht der Fall ist. „(...) Jede imaginäre Beziehung ist nach Lacan ihrem Wesen nach der Täuschung preisgegeben“ 9 , erklären Laplanche und Pontalis. Dies gilt vorrangig für die Beziehung des Kleinkindes zur Mutter, in deren Augen es sich spiegelt und mit der es sich im „Spiegelstadium“ („zwischen den ersten sechs bis achtzehn Monaten“) 10 narzisstisch identifiziert. In dieser dyadischen Mutter-Kind-Interaktion, bemerkt Lacan, „existiert das Verlangen nur auf der Ebene der imaginären Beziehung des Spiegelstadiums und wird auf den anderen projiziert und in ihm entfremdet (aliéné)“. 11 Das „Imaginäre“ bezeichnet demnach einen Zustand der ursprünglichen narzisstischen Illusion, in dem sich das Kind mit dem Objekt des Verlangens seiner Mutter identifiziert. Wie Lacans Identifizierung des Subjekts mit dem Unbewussten (der Sprache), so ist auch sein Begriff des „Imaginären“ im Zusammenhang mit dem Niedergang der väterlichen Ordnung und dem Erstarken der „archaisch-mütterlichen“ Sach- und Strukturzwänge zu betrachten. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem Imaginären, dem Realen und dem Symbolischen, versucht Lacan zu zeigen, dass sich im Spiegelstadium des Imaginären keine stabile Subjektivität herausbilden kann, weil das Ich als Moi in der „Vermittlung durch das Verlangen des anderen“ 12 zustande kommt. Dieses kindlich-narzisstische Moi strebt danach, den Vater bei der Mutter zu ersetzen und Phallus für die Mutter zu werden. Einen Ausweg aus diesem narzisstisch-inzestuösen Szenario findet das männliche Kind nur, wenn es sich mit dem Vater identifiziert und 8 Zu Lacans Subjektbegriff vgl. B. Ogilvie, Lacan. Le sujet, Paris, PUF, 1988 (2. Aufl.). 9 J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (1967), Frankfurt, Suhrkamp (1972), 1973, S. 229. 10 Ibid., S. 474. 11 J. Lacan, Le Séminaire. Livre I. Les écrits techniques de Freud (Hrsg. J.-A. Miller), Paris, Seuil, 1975, S. 266. 12 J. Lacan, Ecrits, Paris, Seuil, 1966, S. 98. 65 so in die symbolische Ordnung aufgenommen wird. Es erkennt seine Kastration, d.h. die Unmöglichkeit, Phallus für die Mutter zu sein, und strebt stattdessen danach, wie der Vater den Phallus zu besitzen. Dem Vater als Vertreter der symbolischen Ordnung fällt somit die Aufgabe zu, den Sohn aus der inzestuösen Welt des Imaginären herauszuführen und seine Subjektwerdung in Sprache und Gesellschaft zu ermöglichen. Lacan selbst erklärt den Sachverhalt so: „Die eigentliche Funktion des Vaters besteht darin, (...) ein Verlangen mit dem Gesetz zu verbinden (statt zu entzweien).“ 13 Freilich handelt es sich hier nicht um den realen, sondern um den symbolischen Vater, der die Gesetze von Sprache und Gesellschaft verkörpert. (Es fragt sich allerdings, ob das väterliche Erbe angesichts des „sozialen Niedergangs der väterlichen Imago“ 14 , von dem Philippe Julien spricht, in der heutigen Zeit so unproblematisch ist, wie es Lacan bisweilen darstellt.) 15 In der primären Sozialisation geht es also darum, das inzestuösnarzisstische Verlangen nach der Mutter zu überwinden und das illusorische Ich oder Moi des Imaginären durch gesellschaftliche Subjektivität in der symbolischen Ordnung zu ersetzen. Denn das Moi ist das „von sich selbst entfremdete Subjekt“ („sujet aliéné à lui-même“). 16 Es ist keineswegs sicher, dass eine solche Überwindung in der „vaterlosen Gesellschaft“ möglich ist. Zweifel mögen aufkommen, wenn man sich die lapidare Zusammenfassung des Problems in Juana Danis’ Narzissmus-Buch vor Augen führt: „Unbewußt weiß der Junge, was er für seine Mutter ist. Das ist er dann für sich auch. Seine narzißtische Organisation weist die Wesenszüge der Erstbeziehung mit der Mutter auf.“ 17 Ergänzend bemerkt sie zur Situation des Mädchens, dass es den kritischen Blick seiner Mutter auf den eigenen Körper reproduziert, um das Verlangen des ersten Mannes in seinem Leben zu wecken: des Vaters. 18 13 Ibid., S. 824. 14 Ph. Julien, Pour lire Jacques Lacan, Paris, E.P.E.L., 1990, S. 44. 15 Vgl. den von E. Seifert herausgegebenen Band Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin, Edition Tiamat, 1992, S. 167, wo Philippe Julien u.a. auch die Eingriffe des Staates in das Familienleben für den Niedergang des symbolischen Vaters verantwortlich macht. 16 J. Lacan, Des noms-du-père, Paris, Seuil, 2005, S. 34. 17 J. Danis, Einführung in Lacan. Narzißmus in Mann und Frau, München, Edition Psychosymbolik (1988), 1996 (Neuaufl.), S. 160. 18 Ibid., S. 171. 66 Ganz anders konstruiert Hermann Lang die ödipale Szene, wenn er von der These ausgeht, dass sie für Jungen und Mädchen gleich strukturiert ist: „Das Objekt der inzestuösen Phantasien von beiden ist ursprünglich die Mutter. Und für beide ist der Vater das störende Moment, für beide repräsentiert er das Inzestverbot. Wir konnten deshalb den Ödipuskomplex des Mädchens vernachlässigen.“ 19 So einfach kann es nicht sein: Denn das inzestuöse Verlangen des Jungen nach der Mutter ist heterosexuell, während das des Mädchens gleichgeschlechtlich ist. Es kommt hinzu, dass das Mädchen bewusst und unbewusst mit der Mutter um die Gunst des Vaters wetteifert, d.h. ein eigenes, spezifisches Inzestproblem hat, das sich von der mütterlich-imaginären Fixierung des Jungen unterscheidet. Diese Fixierung kann später immer wieder aktiviert werden. Den Gedanken, dass der Übergang vom Mütterlich-Imaginären zur symbolischen Ordnung der Väter nicht endgültig ist und jederzeit durch Regression rückgängig gemacht werden kann, bestätigt Anika Lemaire in ihrer Studie über Lacan, in der sie bemerkt: „Das Ich (moi) ist das, was am hartnäckigsten der Wahrheit des Seins Widerstand leistet.“ 20 Die soziologische Paraphrase dieses mit Heideggerschen Konnotationen befrachteten Satzes lautet: In einer zerfallenden symbolischen (väterlichen) Ordnung ist eine Regression ins Mütterlich- Imaginäre jederzeit denkbar. Dass diese Regression von den „archaisch-mütterlichen sozialen Umwälzungen“, von denen bei Ziehe die Rede ist, begünstigt wird, ist naheliegend. Im Imaginären Lacans ist nicht nur das Moi beheimatet, das im Gegensatz zum sprachlich-symbolischen Je und zum Subjekt steht 21 , sondern auch das Idealich (moi-idéal), das Lacan und seine Mitarbeiter (Lagache, Leclaire, Mannoni) in den 1950er und 60er Jahren vom Ichideal (idéal du moi) unterscheiden. Obwohl Freud selbst in seinem Narzissmus-Aufsatz (1914) beide deutschen Bezeichnungen verwendet, unterscheidet er sie nicht auf begrifflicher Ebene - wie Janine Chasseguet-Smirgel richtig bemerkt. 22 Er unterscheidet sie jedoch implizit, indem er einem krankhaften, regressiven Narzissmus 19 H. Lang, „Die Konzeption des ‚Vaters‘ bei S. Freud“, in: E. Seifert (Hrsg.), Perversion der Philosophie, op. cit. S. 143. 20 A. Lemaire, Jacques Lacan, Sprimont, Mardaga, 1997 (8. erw. Aufl.), S. 109. 21 J. Lacan, Séminaire. Livre I, op. cit., S. 260. 22 Vgl. J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay über die ‚Krankheit der Idealität‘, Frankfurt, Suhrkamp (1981), 1987, S. 237. 67 und dem narzisstischen Größenwahn Schrebers einen normalen, gesunden Narzissmus gegenüberstellt. Aus Lacans Sicht wäre das Idealich (moi-idéal) ein Produkt der Regression ins Imaginäre, das Ichideal (idéal du moi) hingegen ein Produkt der symbolischen Ordnung. „Das Idealich besteht aus dem Imaginären“ 23 , erklärt Franck Chaumon, und Elisabeth Roudinesco bezeichnet es in Übereinstimmung mit Lacan als „eine narzißtische Bildung“. 24 Dazu heißt es bei Lacan selbst im Seminar vom 31. März 1954: „In der Liebe liebt man sein eigenes Ich (moi), so wie es sich auf der Ebene des Imaginären verwirklicht.“ 25 Das Ichideal (idéal du moi) hingegen gehört der symbolischen Ordnung an und bildet die Grundlage der Subjektivität: „Geleitet und befehligt wird das Subjekt vom Ichideal.“ 26 Da für Lacan der Gegensatz zwischen dem Mütterlich-Imaginären und dem Väterlich-Symbolischen wesentlich ist, ist es im Rahmen seines Ansatzes nur konsequent, das mütterlich-narzisstische Idealich vom väterlichen Ichideal zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist auch im Hinblick auf Freuds Schriften über den Narzissmus zu rechtfertigen, in denen einerseits von einem „primären infantilen Narzissmus“ 27 , andererseits von einem sekundären Narzissmus des Erwachsenenalters die Rede ist. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Ichideale, die diesen weit auseinander liegenden Phasen des Lebens entsprechen, vergleichbar oder gar identisch sind. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass Freud im Zusammenhang mit dem infantilen Narzissmus, aus dem später die Idealisierung hervorgeht, von einem Idealich (und nicht von einem Ichideal) spricht: „Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß.“ 28 Das Ichideal hingegen assoziiert er mit dem Gewissen, das aus der primären und der sekundären Sozialisation her- 23 F. Chaumon, Lacan. La loi, le sujet et la jouissance, Paris, Michalon, 2004, S. 53. 24 E. Roudinesco, Jacques Lacan, op. cit., S. 426. 25 J. Lacan, Le Séminaire. Livre I, op. cit., S. 225. 26 Ibid., S. 224. 27 S. Freud, „Die Libidotheorie und der Narzißmus“ (1917), in: StA, Bd. I, Frankfurt, Fischer (1969), 1982, S. 413. 28 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914), in: StA, Bd. III, Frankfurt, Fischer, 1975, S. 60. 68 vorgeht und, wie Lacan sagen würde, der symbolischen Ordnung angehört: „Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war nämlich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen, an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus angeschlossen hatten.“ 29 Es ist klar, dass an dieser Stelle nicht das mütterlich vermittelte „Idealich“ der infantilen Selbstliebe gemeint sein kann, sondern ein reiferes Ideal, für dessen Bildung beide Eltern verantwortlich sind - d.h. auch der Vater. Selbst wenn man mit Janine Chasseguet-Smirgel die Meinung vertritt, dass Lacans „Idealich“ kein Freudsches Konzept ist, wird man ihr nicht vorbehaltlos zustimmen, wenn sie behauptet, „auch die gründlichste Lektüre der Texte Freuds [lasse] nicht den geringsten Unterschied zwischen Idealich und Ichideal erkennen“. 30 Denn es hat sich gezeigt, dass Freuds Argumentation sehr wohl eine Unterscheidung beinhaltet. Es kommt hinzu, dass sich - unabhängig von allen Psychoanalysen - die Idealisierungen im Erwachsenenalter wesentlich von den Idealisierungen des Kindesalters unterscheiden. Es mag daher kein reiner Zufall sein, dass Freud im Zusammenhang mit der kindlich-narzisstischen Idealisierung vom „Idealich“ spricht, im Zusammenhang mit der reiferen Idealisierung hingegen vom „Ichideal“. Obwohl er diese Wortverbindungen als Synonyme verwendet, mochte er im ersten Fall, ohne lange über die semantischen Implikationen nachgedacht zu haben, das Ich, im zweiten Fall das Ideal betont haben. Und diese Betonung entspricht genau dem semantischen Inhalt, der der Unterscheidung Lacans und seiner Mitarbeiter zugrunde liegt. Denn der Kern des Idealichs ist das narzisstische Moi, das alles unternimmt, um das inzestuöse Verlangen der Mutter auf sich zu len ken. Die Dialektik dieses Verlangens hat der Lacan-Schüler Moustapha Safouan in allen Einzelheiten untersucht. Dabei geht er von der Inzestproblematik aus, die zur Grundlage des narzisstischen Verlangens wird: „Das höchste Gut existiert nicht, die Mutter ist ver- 29 Ibid., S. 62. 30 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal, op. cit., S. 237. 69 boten.“ 31 Was geschieht in dieser Situation mit dem Verlangen des männlichen Kindes, das an ein von der Kultur errichtetes unüberwindliches Hindernis stößt? Das nunmehr objektlose Verlangen verselbständigt sich, und es kommt zu einer Verabsolutierung des Verlangens als désir du désir, als Verlangen nach dem Verlangen, d.h. als Verlangen, geliebt, begehrt, bewundert zu werden: „Anders gesagt, das Verlangen nach der Mutter wird durch ein Verlangen nach ihrem Verlangen erhalten. Da dieses Verlangen dem Subjekt verborgen bleibt (es ist dies auch für die Mutter selbst, da es unbewusst ist), wird das Verlangen nach dem Verlangen (désir du désir) zu einem Verlangen, begehrt zu werden (désir de demande).“ 32 Es wird zugleich zur Grundlage des kindlichen Narzissmus: Das Kind liebt sich so, wie es von seiner Mutter geliebt wurde, und reproduziert das mütterliche Verlangen nach ihm. Joël Dor erklärt, dass das Kind sich mit dem identifiziert, wovon es meint, dass es der „Gegenstand ihres [der Mutter] Verlangens“ 33 ist, und Jacqueline Lanouzière stellt es so dar: „Wenn die Mutter narzisstisch ihr Kind liebt wie sich selbst, so liebt das Kind sich selbst narzisstisch so, wie sie es liebt.“ 34 Hier wird in einem ganz anderen Kontext Martin Altmeyers These über den intersubjektiven Charakter des Narzissmus bestätigt: Das Verlangen, begehrenswert zu erscheinen und begehrt zu werden, hat seinen Ursprung in der primären Interaktion zwischen Mutter und Sohn bzw. zwischen Tochter und Vater (wie J. Danis ergänzend bemerkt: vgl. oben). Denn symmetrisch zu Safouans Darstellung der Mutter-Sohn-Beziehung ließe sich von der Tochter sagen, dass sie unbewusst versucht, das Begehren des Vaters zu wecken, so dass auch ihr Verlangen als ein durch das Inzesttabu gehemmtes désir du désir aufgefasst werden kann. Jedenfalls gilt auch für sie, was Safouan an anderer Stelle bemerkt: „Tatsächlich entzündet sich am Anderen das 31 M. Safouan, „De la structure en psychanalyse. Contribution à une théorie du manque“, in: O. Ducrot u.a., Qu’est-ce que le structuralisme? , Paris, Seuil, 1968, S. 262. 32 Ibid., S. 265. 33 J. Dor, Introduction à la lecture de Lacan, Bd. I: L’inconscient structuré comme un langage, Paris, Denoël, 1985, S. 102. 34 J. Lanouzière, „L’Hystérique et son ‚addiction‘“, in: V. Marinov (Hrsg.), Anorexie, addiction et fragilités narcissiques, Paris, PUF, 2002 (2. Aufl.), S. 146. 70 unbewusste Verlangen (...).“ 35 Somit ist der Ursprung des weiblichen und des männlichen Narzissmus nur intersubjektiv, d.h. im Zusammenhang mit dem unbewussten inzestuösen Verlangen zu verstehen. Dieses Verlangen, das auch nach der Identifizierung des männlichen Kindes mit dem Vater und nach seiner Eingliederung in die symbolische Ordnung nicht verschwindet, durchwirkt weiterhin alle Beziehungen des Subjekts zu seinen Objekten (seinen Ko-Subjekten). Dieser Gedanke klingt schon bei Freud an, der zum narzisstischen Ursprung und zur Kontinuität des Ichideals bemerkt: „Was er [der Mensch] als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.“ 36 Diese Darstellung suggeriert, dass es zwischen den beiden Idealen keinen radikalen Bruch gibt, sondern eher einen Übergang, in dem das kindliche Ideal im Ideal des Erwachsenen „aufgehoben“ wird (hegelianisch ausgedrückt). Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Jacques Ponnier in Narcissisme et séduction Lacans Unterscheidung zwischen „Idealich“ und „Ichideal“ relativiert, indem er auf die Verflechtung der beiden Erscheinungen und auf das Ineinandergreifen der beiden Begriffe bei Lacan hinweist: „In Wirklichkeit besteht das Ichideal (idéal du moi) auch aus den imaginären Formen des Ichs (moi), aus idealen Projektionen, Größenvorstellungen, Phantasmen, die das sexuelle Verlangen und die individuelle Illusion des Willens zur Macht polarisieren. Lacan trennt es also nicht vom Idealich.“ 37 Er trennt die beiden Ideale nicht, aber er unterscheidet sie sehr wohl, da ja das Ichideal der symbolischen Ordnung angehört, während das Idealich aus dem Imaginären hervorgeht. Es wäre jedoch wichtig zu wissen, wie sich Idealich und Ichideal konkret zueinander verhalten und wie es kommt, dass sie in der Psyche des Einzelnen ineinander übergehen. Ein Grund wurde bereits im Zusammenhang mit Freuds Narzissmus-Aufsatz genannt: Das kindlich-narzisstische Idealich wirkt im Ichideal (in den Ichidealen) des Erwachsenen nach und durchdringt die Idealisierungen des reifen Menschen. Es kann sie auch beherrschen und an die Stelle des reifen Ichideals treten. Im vierten Abschnitt dieses Kapitels, in dem ein dia- 35 M. Safouan, L’Inconscient et son scribe, Paris, Seuil, 1982, S. 150. 36 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, StA, Bd. III, op. cit., S. 61. 37 J. Ponnier, Narcissisme et séduction. Pour une critique métapsychologique du concept d’idéalisation, Paris, Anthropos, 2003, S. 79. 71 logisches Modell der Subjektivität und des Narzissmus entworfen wird, soll gezeigt werden, wie eine solche Entwicklung möglich ist. Im dritten Kapitel werden die sozialen Faktoren untersucht, die bewirken, dass das Idealich als Erbe des imaginären Narzissmus immer häufiger an die Stelle eines schwächer werdenden Ichideals tritt. 2. Kohut und Kernberg: Gesunde und kranke Narzissten Heinz Kohut hat mit seinem Buch The Analysis of the Self. A Systematic Approach to the Psychoanalytic Treatment of Narcissistic Personality Disorders, 1971 (dt. 1973) nicht unwesentlich zur Aufwertung des Narzissmus beigetragen. Anders als Freud und Lacan, die im Narzissmus des Erwachsenen zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend eine Pathologie erblicken, hebt Kohut die produktiven und kreativen Aspekte dieses uralten und doch so neuen Phänomens hervor. Seine Psychoanalyse zielt nicht primär darauf ab, den Narzissmus des Patienten oder der Patientin durch Objektliebe zu ersetzen, sondern ist ein Versuch, die narzisstischen Defizite und Kränkungen, die ein Individuum in der frühen Kindheit erlitten hat, therapeutisch wettzumachen. Da er von der Grundannahme ausgeht, dass viele Persönlichkeitsstörungen auf fehlende Empathie seitens der Eltern, vor allem seitens der Mutter, zurückzuführen sind, fasst er die psychoanalytische Therapie als einen Prozess auf, in dessen Verlauf diese Empathie vom Analytiker gleichsam nachgeliefert wird. Zum Narzissmus bemerkt Kohut selbst: „Er ist ein positiver Aspekt menschlicher Wesen. Er bezieht sich nicht nur auf des Menschen Bewußtsein seiner selbst, sondern auch auf seine Fähigkeit, sich selber in einer anderen Person zu erfahren, zu verstehen, wie sie empfindet. Die Empathie ist eine schöpferische Erweiterung des Selbst und deshalb ein Resultat der Entwicklung des Narzißmus.“ 38 Zu dieser Auffassung sei vorerst nur angemerkt, dass sie quer steht zu zahlreichen 38 H. Kohut, in: R. J. Butzer, Heinz Kohut. Zur Einführung, Hamburg, Junius, 1997, S. 50. 72 anderen Auffassungen, denen zufolge der Narzissmus von Egoismus, Kälte und Kommunikationsverweigerung geprägt ist. 39 Trotz dieser konkurrierenden Einschätzungen des Phänomens erfreut sich Kohuts unorthodoxe Verknüpfung von Narzissmus und Empathie internationaler Anerkennung. So schreibt etwa Polona Curk in einem Aufsatz mit dem Titel „From Narcissism to Mutual Recognition“: „Tatsächlich scheint empathische Resonanz Kohuts größte Erneuerung der psychoanalytischen Theorie und Technik zu sein: sowohl im Hinblick auf die Erklärung narzisstischer Störungen in der Kindheit als auch im Hinblick auf die Reaktion des Analytikers in der Therapie, in der es darum geht, die narzisstische Kränkung des Patienten zu überwinden.“ 40 Ergänzend dazu bemerkt Alberto Eiguer: „(...) Kohut zeigt, dass Selbstschätzung zur Herstellung von fruchtbaren Beziehungen zu anderen Menschen beiträgt.“ 41 Im Folgenden geht es jedoch nicht nur um Kohuts Aufwertung des Narzissmus und um Kernbergs Kritik, die die pathologischen Aspekte dieser psychischen Veranlagung hervorhebt, sondern auch um einen Vergleich von Lacans Idealich (moi-idéal) mit Kohuts infantilem Größen-Selbst (grandiose self). Dieser Vergleich ist zwar nicht unproblematisch, weil er sich auf heterogene Theorien und Terminologien bezieht; er soll aber zeigen, wie ambivalent narzisstische Fantasien sind. Sie können, wie schon Freud wusste, als idealisierte Wertsetzungen zur Stärkung des Ichs beitragen; sie können als infantil-regressive Verschmelzungen mit fanatisierten Massen und ihren Führergestalten auch die Ichschwäche besiegeln. So wie Lacans „Idealich“ (wie Ponnier bemerkt) von seinem „Ichideal“ nicht zu trennen ist, weil sich die beiden Ideale wechselseitig bedingen, so ist Kohuts „infantiles Größen-Selbst“ nicht von seinem erwachsenen, gereiften „Größen-Selbst“ zu trennen, zu dessen Stärkung Therapien beitragen sollen. Da es um heterogene Ansätze geht, ist es unvermeidlich, weiter auszuholen und etwas zum Verhältnis von Freuds „Ich“ und Kohuts 39 Vgl. A. Lowen, Narcissism. Denial of the True Self, New York-London- Toronto, Simon-Schuster-Touchstone (1985), 1997 sowie H.-P. Röhr, Narzißmus. Das innere Gefängnis, München, DTV, 2006 (4. Aufl.). 40 P. Curk, „From narcissism to mutual recognition: the ‚mothering‘ support within the intersubjective dialectic“, in: A. Gaitanidis, P. Curk (Hrsg.), Narcissism - A Critical Reader, London, Karnac Books, 2007, S. 74-75. 41 A. Eiguer, Du bon usage du narcissisme, Paris, Bayard, 1999 (2. Aufl.), S. 40. 73 „Selbst“ („self“) zu sagen. Zunächst ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Kohut in späteren Phasen seiner Entwicklung 42 den „Selbst“- Begriff von Heinz Hartmann übernimmt, ihm allerdings eine andere Funktion zuweist. In seiner Ich-Psychologie umschreibt Hartmann das „Selbst“ mit dem Ausdruck „die eigene Person“. 43 Eine konzise Definition schlägt Rolf Fetscher im Anschluss an Hartmann vor: „Hartmann definierte das Selbst als die Gesamtheit der leib-seelischen Persönlichkeit bzw., in psychoanalytischer Sicht, als die Gesamtheit der Selbstrepräsentan zen (...), das Ich dagegen als ein ‚Teilgebiet der Persönlichkeit, das durch seine Funktionen bestimmt wird‘.“ 44 Demnach wäre das „Selbst“ als Oberbegriff mit dem „Subjekt“ zu vergleichen, dem das „Ich“, das „Überich“ und das „Es“ als infraindividuelle Aktanten subsumiert werden können. Auf dieser Ebene könnte nun Kohuts „infantiles Größen-Selbst“ dem „Idealich“ Lacans angenähert werden - trotz Lacans Skepsis der nordamerikanischen Ich-Psychologie gegenüber. 45 Denn in beiden Fällen handelt es sich um Vorstellungsstrukturen oder „Selbstrepräsentanzen“, die das Subjekt oder das Selbst als Wunschvorstellungen in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft projiziert. In beiden Fällen haben wir es mit Vorstellungen zu tun, die sowohl bei Lacan als auch bei Kohut aus dem „mütterlichen“ Bereich stammen: d.h. aus der problematischen, weil inzestuösen Bindung des (männlichen) Kindes an die Mutter. Mit Otto Rank (vgl. I. 5. b) ließe sich sagen, dass so wohl das Idealich als auch das infantile Größen-Selbst aus der „Mut terbindung“ hervorgehen, libidinös besetzt sind und so zu Trieb- Objekten werden. Immer wieder verknüpft Kohut die Entstehung des Größen-Selbst mit der Mutterbindung: etwa wenn er die „Wiederbelebung des Größenselbst“ bei einem Patienten als „narzißtische Mutterübertragung“ 46 auffasst. In solchen Fällen fungiert die Mutter als Selbstobjekt (selfob- 42 R. J. Butzer, Heinz Kohut, op. cit., S. 57. 43 H. Hartmann, Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie, Stuttgart, Klett, 1972, S. 132. 44 R. Fetscher, „Ich-Ideal und Über-Ich im Rahmen einer modifizierten Strukturtheorie“, in: Psyche 3, 2003, S. 202. 45 Vgl. E. Roudinesco, Jacques Lacan, op. cit., S. 403. 46 H. Kohut, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt, Suhrkamp (1973), 1976, S. 293. 74 ject) des Kindes, indem sie durch Blicke, Gesten und Worte seine Größenfantasien bestätigt oder gar anfacht. Kohut und seine Anhänger unterscheiden zwei Arten von Selbstobjekten: „Diejenigen, die den angeborenen Lebenselan des Kindes, seine Größen- und Vollkommenheitsvorstellungen bestätigen; und diejenigen, zu denen das Kind aufblicken kann und mit denen es wie mit Bildern der Ruhe, der Unfehlbarkeit und Allmacht verschmelzen kann. Die einen werden als spiegelnde Selbstobjekte bezeichnet, die anderen als idealisierte Elternbilder.“ 47 Die Selbstobjekte erfüllen eine wichtige Funktion in der Entwicklung des Kindes und entscheiden häufig darüber, ob sie normal oder pathologisch verläuft: „Eine gestörte Interaktion zwischen dem Kind und seinen Selbstobjekten hat ein beschädigtes Selbst zur Folge (...).“ 48 Dabei fällt der Mutter eine besondere Rolle zu, weil sich das Kind - wie schon Winnicott und Lacan wussten - zuerst in ihren Augen spiegelt. Während aber Lacan die Spiegelung und das Spiegelstadium, das er im Mütterlich-Imaginären ansiedelt, mit dem leurre, der Täuschung und der narzisstischen Leugnung der Wirklichkeit (des réel) verknüpft, besetzt Kohut die Spiegelung des Kindes im Mutterblick mit positiven Konnotationen. Von der Konsistenz und Kontinuität dieser Spiegelung hängen die störungsfreie Entwicklung des Kindes und die Kohärenz seines Selbst ab. Ralph J. Butzer fasst Kohuts Thesen zur Rolle der Spiegelung in der primären Sozialisation prägnant zusammen: „Die Metapher der Spiegelung wird von Kohut häufig verwendet; am bekanntesten ist wohl seine poetische Beschreibung in dem Ausdruck ‚Glanz im Auge der Mutter‘ (...), mit dem er eine Art ‚narzißtischer Speisung von seiten der Mutter‘ (...) meint, d.h., die Mutter soll ihre Freude an der gerade gewonnenen Einheit, der Selbst-Werdung des Kindes ausdrücken.“ 49 Butzer fügt hinzu, „daß das Kind diese mütterliche Aufmerksamkeit und Freude fordert, indem es sich exhibitionistisch zur Schau stellt, um von der Mutter widergespiegelt zu werden“. 50 Dies bedeutet 47 A. Kohut, E. S. Wolf, „The Disorders of the Self and Their Treatment: An Outline“, in: A. P. Morrison (Hrsg.), Essential Papers on Narcissism, New York- London, New York Univ. Press, 1986, S. 177. 48 Ibid. 49 R. J. Butzer, Heinz Kohut, op. cit., S. 68. 50 Ibid., S. 69. 75 konkret, dass die Mutter das „Größen-Selbst“ des Kindes widerspiegeln und auf diese Art bestätigen soll. Tut sie es nicht, kommt es zu ernsthaften Störungen, die das Selbstvertrauen des Kindes schwächen und sogar die Kohärenz seines Selbst in Frage stellen können. Anders als Lacan glaubt Kohut nicht, dass die Spiegelung im Mütterlich-Imaginären durch eine Identifizierung mit dem Vater und die sich daraus ergebende Eingliederung in die symbolische Ordnung überwunden werden soll. Während Lacans Analytiker die versprachlichte symbolische Ordnung der Väter vertritt 51 , fällt Kohuts Analytiker die Aufgabe zu, den defizitären Narzissmus des Patienten oder der Patientin, der sich in der Kindheit wegen eines Versagens der Mutter nicht entfalten konnte, zu stärken. In Kohuts Therapie soll das Größen-Selbst des Patienten, das in der Kindheit zu kurz kam, durch den Psychoanalytiker wiederbelebt werden. Dieser tritt an die Stelle der Mutter und versucht nachzuholen, was im Kindesalter versäumt wurde. Er tut dies im Rahmen einer Psychoanalyse, die auf dem Konzept der Spiegelübertragung gründet. Während dieser Übertragung fungiert der Analytiker - wie seinerzeit die Mutter - als narzisstisches Selbstobjekt des Patienten und spiegelt sein Größen-Selbst wider. Kohut unterscheidet insgesamt drei Formen der Spiegelübertragung: 1. „Die Verschmelzung durch Erweiterung des Größen-Selbst“, 2. „die Alter-Ego- oder Zwillingsübertragung“ sowie 3. „die Spiegelübertragung im engeren Sinne“. 52 In allen drei Fällen geht es darum, das Größen-Selbst, das in der Kindheit unterentwickelt blieb, zu beleben und eine primäre Sozialisation, die versagt hat, unter günstigeren Bedingungen durch gezielte Regression zu wiederholen. Im ersten Fall wird der Analytiker „als eine Erweiterung des Größen-Selbst [des Patienten] wahrgenommen“. 53 Diese vereinnahmende Spiegelübertragung hat u.a. zur Folge, dass er sich vom Patienten, der dazu neigt, seine Subjektivität auf sein Gegenüber auszudehnen, bedrängt fühlt. Im zweiten Fall handelt es sich um eine „weniger archaische Form der Wiederbelebung des Größen-Selbst“ 54 , in welcher der Analytiker vom Patienten als ein alter ego erlebt wird. Die Therapie gründet hier 51 Vgl. J. Lacan, Mon enseignement, op. cit., S. 58-60. 52 Vgl. H. Kohut, Narzißmus, op. cit., S. 139-151. 53 Ibid., S. 139. 54 Ibid., S. 140. 76 auf der illusionären Prämisse, dass der Analytiker genauso empfindet wie der Patient oder diesem zumindest sehr ähnlich ist. Den dritten Fall bezeichnet Kohut als die „reifste Form der therapeutischen Wiederbelebung des Größen-Selbst“ 55 , weil nun der Analytiker vom Patienten als anderer Mensch, d.h. als eigenständige Person und nicht als Ich-Erweiterung betrachtet wird. Im Zusammenhang mit dem dritten Modus der Spiegelübertragung erklärt Kohut: „In diesem engeren Wortsinn ist die Spiegelübertragung die therapeutische Wiederherstellung jener normalen Entwicklungsphase des Größen-Selbst, in der der Glanz im Auge der Mutter, der die exhibitionistische Darbietung des Kindes widerspiegelt, und andere Formen mütterlicher Teilnahme an der narzißtisch-exhibitionistischen Lust des Kindes und der mütterlichen Reaktionen auf sie das Selbstwertgefühl des Kindes stärken und durch eine schrittweise zunehmende Spezifität dieser Reaktionen das Selbstwertgefühl in eine realistischere Richtung lenken.“ 56 Eine aufmerksame Lektüre dieser Passage lässt die Ambivalenz von Kohuts Auffassung des Größen-Selbst erkennen, das es therapeutisch zu rekonstruieren gilt: Es ist einerseits das archaisch-mütterliche Selbst, das dem Idealich (moi-idéal) Lacans durchaus verwandt ist; andererseits ist es als gereiftes und „realistisches“ Selbst eine gesellschaftlich akzeptable Selbstvorstellung, die Lacans Ichideal (idéal du moi) angenähert werden könnte. So gegensätzlich Lacans und Kohuts Betrachtungsweisen auch sein mögen, sie überschneiden sich in einem wesentlichen Punkt: in der Ansicht, dass das aus der Mutterbindung hervorgehende Ideal durch Überführung in die soziale Welt der Erwachsenen einen Reifungsprozess durchmachen muss, wenn sich der Einzelne in der Gesellschaft behaupten will. Dies bedeutet jedoch, dass Ponnier mit seiner Behauptung, Lacan trenne das Idealich nicht vom Ichideal, grundsätzlich recht hat. Eine radikale Trennung der beiden Ideale ist gar nicht möglich, da das kindliche Ideal in das Ideal der Reife eingeht und dort jederzeit aktiviert werden kann: vor allem dann, wenn das Ichideal unerreichbar wirkt oder durch gesellschaftliche Entwicklungen diskreditiert wird (vgl. Kap. III). 55 Ibid. 56 Ibid., S. 141. 77 Dies gilt auch für Kohuts Größen-Selbst: Es mag wie das Idealich „eine narzisstische Instanz als Allmachtsvorstellung sein, die sich frühzeitig im Anschluss an die mütterliche Allmacht konstituiert“ 57 , wie Ponnier es ausdrückt; aber es wird im Laufe der Sozialisation in das reife, erwachsene Größen-Selbst integriert, das am Ende einer erfolgreichen Psychoanalyse im Sinne von Kohut steht. Das erklärte Ziel dieser Therapie ist eine „realistische Einschätzung des Selbst“ 58 - und nicht grandiose Selbstüberschätzung. Doch der Umweg führt über das Größen-Selbst der Kindheit, das reaktiviert werden soll: „Der analytische Prozeß versucht, die infantilen Bedürfnisse aktiv zu erhalten, während er gleichzeitig alle Wege mit Ausnahme desjenigen abschneidet, der zur Reifung und zur realistischen Unterbringung des Triebes führt.“ 59 Diesem Gedankengang fehlt es nicht an Plausibilität. Lacan und seine Anhänger würden jedoch einwenden, dass Kohut die regressiven Kräfte im Subjekt unterschätzt, die zurück zum Imaginären oder - in Kohuts Sprache ausgedrückt - zurück zum infantilen Größen-Selbst drängen. Hier setzt auch Otto Kernbergs Kritik an Heinz Kohut an. Die allgemeinste Prämisse, von der sie ausgeht, lautet, dass Kohut den infantilen Narzissmus, der wiederbelebt werden soll, einseitig als produktive Kraft auffasst und daher seine destruktiven und aggressiven Komponenten vernachlässigt. Es genügt nicht, sagt Kernberg, dass der Analytiker als idealisiertes Selbstobjekt des Patienten auftritt und ihm zeitweise die Wiederbelebung des infantilen Größen-Selbst ermöglicht. Denn die narzisstische Idealisierung ist mit narzisstischer Wut und Aggression kontaminiert. Kohuts und Kernbergs Meinungen treten dort auseinander, wo es um den Ursprung des narzisstischen Größen-Selbst geht. Kernberg, der Kohuts Ausdruck „Gößen-Selbst“ übernimmt, stellt den Dissens so dar: „Es gibt jedoch eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen Kohut und mir, die den Ursprung dieses Größen-Selbst betrifft und insbesondere die Frage, ob es sich dabei um eine Fixierung auf der Stufe eines archaischen, aber ‚normalen‘ infantilen Selbst handelt (so Kohuts Ansicht) oder ob wir es hier mit einer pathologischen 57 J. Ponnier, Narcissisme et séduction, op. cit., S. 88. 58 H. Kohut, Narzißmus, op. cit., S. 222-223. 59 Ibid., S. 227-228. 78 Struktur zu tun haben, die sich eindeutig vom normalen kindlichen Narzißmus unterscheiden läßt (so meine Auffassung).“ 60 Worin besteht nun die Pathologie des (malignen) Narzissmus, der einer Therapie bedarf? Kernberg spricht immer wieder - wie bereits erwähnt - von „narzisstischer Wut“, „Aggression“ und „Perversion“ und wirft Kohut vor, „daß seine Analyse des pathologischen Narzißmus völlig ohne Beziehung zu jeder Untersuchung der Schicksale der Aggression bleibt“. 61 Im Zusammenhang mit dieser Art von Narzissmus spricht Kernberg von der „libidinöse[n] Besetzung einer pathologischen Selbststruktur“. 62 Dies bedeutet konkret, dass beim malignen Narzissten auch die aggressiven Triebe libidinös besetzt sind. Diese aggressiven Triebe richten sich Kernberg zufolge sowohl gegen das narzisstische Selbst (das Subjekt) als auch gegen seine Objekte. Die Narzissten, erklärt er, lieben sich selbst nicht übermäßig und tun dies „in einer ziemlich dürftigen und oft eher selbsterniedrigenden Weise (...), so daß man zu dem Schluß kommen muß, sie behandelten sich selbst auch nicht besser als ihre Bezugspersonen (...).“ 63 Kernberg spricht von der „Tendenz zur Mißachtung anderer Menschen“ 64 bei pathologisch veranlagten Narzissten. Ähnlich wie André Green (vgl. II. 3) diagnostiziert Kernberg bei diesen Patienten ein Streben nach Autarkie und eine „Unfähigkeit der narzisstischen Persönlichkeit, abhängig zu sein“. 65 Sie akzeptiert andere Personen nur als Spiegelbilder ihrer selbst und ist tief enttäuscht, sobald diese Personen ihre Unabhängigkeit behaupten: ihre Andersheit. Dies gilt auch für den Analytiker, der nur solange vom infantilen Narzissten akzeptiert wird, wie er sein Größen-Selbst spiegelt. Sobald er seine Alterität kundtut, hört der Narzisst auf, ihm zuzuhören. Dieser pathologische Komplex, meint Kernberg, kann nicht einfach weitergeführt und schließlich im reifen Größenselbst aufgehoben werden. Vielmehr fällt dem Analytiker die Aufgabe zu, ihn aufzulösen. Kernbergs Einwand gegen Kohuts Auffassung der Analyse kann auch als Fazit seiner theoretischen Kritik an Kohut gelesen werden: 60 O. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt, Suhrkamp (1978), 1983, S. 304. 61 Ibid., S. 309. 62 Ibid., S. 310. 63 Ibid., S. 311. 64 Ibid., S. 312. 65 Ibid., S. 314. 79 „Meiner Ansicht nach führt Kohuts Ansatz (...) zu einer reiferen Funktionsfähigkeit und besseren Anpassung des Größen-Selbst, indem der Patient im Verlaufe der Analyse von primitiveren zu angepaßteren Stufen der Spiegelübertragung voranschreitet, ohne daß aber das von mir als pathologische Struktur angesehene Größen-Selbst von Grund auf durchgearbeitet und aufgelöst würde.“ 66 Anders gesagt: Das Hauptproblem bleibt ungelöst Es kann nicht die Aufgabe dieses Abschnitts sein, die viel kommentierte 67 Kohut-Kernberg-Kontroverse mit einem Schiedsspruch zu beenden - zumal der Autor sich weder der einen noch der anderen Seite ideologisch verbunden fühlt und im übernächsten Abschnitt ein dialogisches Modell vorlegen möchte, das u.a. auch auf Kohuts und Kernbergs Erkenntnissen gründet. Wichtiger ist die Tatsache, dass Kohut und Kernberg in der Ansicht übereinstimmen 68 , eine narzisstische, zugleich aber „überfürsorgliche“ Mutter sei der Ursprung der narzisstischen Störung: „(...) Der wichtigste ätiologische Faktor in der Psychogenese dieser Störung scheint aber doch der Einfluß dominierender, kalter, narzißtischer und zugleich überfürsorglicher Mutterfiguren zu sein. Diese Mütter schließen das Kind während bestimmter Phasen seiner frühen Entwicklung in ihre narzißtische Welt mit ein, umgeben es mit einer Aura des ‚Besonderen‘ und schaffen damit die Grundlage für grandiose Phantasien, aus denen das Größen-Selbst sich herauskristallisiert.“ 69 Bemerkenswert ist hier die Ambivalenz der Mutterfigur: Sie ist zugleich kalt, narzisstisch und überfürsorglich. Sie ist unzugänglich, aber ihre Unzugänglichkeit macht sie nur begehrenswerter. An dieser Stelle ergänzen einander die Narzissmus-Theorien Lacans und Safouans, Kohuts und Kernbergs: Die verbotene oder kalte (narzisstische) Mutter wird zum Gegenstand eines Verlangens, dem das Objekt fehlt, und das sich deshalb als „Verlangen, begehrt zu werden“, reflexiv auf 66 Ibid., S. 353. 67 Vgl. die entsprechenden Kapitel und Abschnitte in: M. Jacoby, Individuation und Narzißmus. Psychologie des Selbst bei C. G. Jung und H. Kohut, München, Verlag J. Pfeiffer, 1985, Kap. VII sowie V. D. Volkan, G. Ast, Spektrum des Narzißmus, Göttingen-Zürich, Vandenhoeck-Ruprecht, 1994, S. 40-44. 68 Vgl. A. M. Cooper, „Narcissism“, in: A. P. Morrison (Hrsg.), On Narcissism, op. cit., S. 138. 69 O. Kernberg, Boderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, op. cit., S. 315. 80 das Subjekt richtet. Anders gesagt: Das narzisstische Verlangen hat ursprünglich die unzugängliche und zugleich „überfürsorgliche“ Mutter zum Gegenstand. Allerdings geht es hier - sowohl bei Lacan und Safouan als auch bei Kohut und Kernberg - vorwiegend um das Verlangen des männlichen Kindes. In allen diesen Ansätzen wird die Struktur des weiblichen Narzissmus, d.h. die Identifikation der Tochter mit der Mutter, ihr unbewusster oder bewusster Wunsch, die Mutter beim Vater zu verdrängen, bestenfalls am Rande behandelt. Safouans Feststellung, die „Mutter [sei] verboten“ („la Mère est interdite“) betrifft vor allem den Sohn... Doch nicht das Verhältnis von männlichem und weiblichem Narzissmus steht in der Kontroverse zwischen Kohut und Kernberg im Mittelpunkt, sondern der Unterschied zwischen normalem (gesundem) und malignem (krankhaftem) Narzissmus. Dabei spielen nicht nur die divergierenden Ansichten zum infantilen Größen-Selbst und zu dessen Funktion in der Übertragung eine Rolle, sondern auch die verschiedenen Auffassungen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Sie bewirken, dass die beiden Analytiker verschiedene theoretische Positionen einnehmen, denen heterogene Diskurse und Objektkonstruktionen entsprechen. Auf metatheoretischer Ebene haben die unterschiedlichen Positionen von Kohut und Kernberg nicht nur gezeigt, dass es in der Narzissmus-Debatte Spielraum für Interpretationen und Konstruktionen gibt, sondern auch, dass diese Konstruktionen - wie Saussure und Prieto wussten 70 - vom anfänglichen Standpunkt des Theoretikers abhängen. Dieser Standpunkt entscheidet über die Relevanzkriterien, die dem theoretischen Diskurs zugrunde liegen, und über seinen gesamten Verlauf. 71 Auf dieser Ebene unterscheiden sich Kohuts und Kernbergs Standpunkte nicht nur dadurch, dass Kohut die vitalen Momente des Narzissmus und des infantilen Größen-Selbst betont, während Kernberg ihre aggressiven Komponenten in den Vordergrund treten lässt, sondern auch dadurch, dass Kohut primär (obwohl nicht ausschließlich) von der Integrität des Subjekts (des Selbst) ausgeht, während Kernberg 70 Vgl. L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, S. 144-145. 71 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke, 2004, S. 53. 81 sein Augenmerk viel stärker auf die Interaktion des Subjekts mit der Objektwelt richtet. Dies ist wohl der Hauptgrund, weshalb die beiden Psychoanalytiker zu grundverschiedenen Einschätzungen des Narzissmus gelangen. Ihre Diskurse gründen letztlich auf verschiedenen Relevanzkriterien. 3. Gesunder und maligner Narzissmus in der zeitgenössischen Psychoanalyse Auch in neueren Arbeiten und Diskussionen über den Narzissmus wird deutlich, dass diejenigen, die ihn eher als subjektives Potential auffassen, dazu neigen, ihn mit positiven Konnotationen zu versehen, während diejenigen, die seine Objektbeziehungen in den Mittelpunkt stellen, ihn eher als maligne Erscheinung in den Bereich der Pathologien relegieren. Freilich geht es hier um Idealtypen, weil kaum ein Autor die „Kehrseite der Medaille“ völlig außer Acht lässt. Nicht zu Unrecht erinnert André Green daran 72 , dass Heinz Kohut einen französischen Vorläufer hat, der im Narzissmus eine produktive Kraft erblickt: Béla Grunberger, der von der Existenz eines primären Narzissmus ausgeht (vgl. Kap. I. 5), welcher bis in die intrauterine Phase des menschlichen Lebens reicht. Dieser Narzissmus geht jeder Art von Subjekt- oder Ich-Bildung voraus und kann daher nicht negativ konnotiert sein: Wo es noch kein Ich gibt, kann es keine Pathologien des Ichs geben. Grunberger sieht es so: „Die gesamte anfängliche Libido ist somit narzisstisch, und dies entspricht der Position, die ich hier vertrete, indem ich behaupte, dass es den Narzissmus gibt, während es das Ich (Moi) als solches noch nicht gibt.“ 73 Es ist nun keineswegs so, dass Grunberger die destruktiven Impulse, die das Handeln von Narzissten bestimmen können, nicht sieht oder nicht wahrhaben will. Im Gegenteil, er widmet ihnen mehrere Aufsätze und ein ganzes Kapitel seines Narzissmus-Buches; es ist aber kein Zufall, dass er sie immer dann zur Sprache bringt, wenn es um die Objektbeziehungen des narzisstischen Subjekts geht. „Das Endziel“, erklärt er, „ist der totale Sieg des Subjekts über das Objekt, 72 Vgl. A. Green, Narcissisme de vie. Narcissisme de mort, Paris, Minuit, 1983, S. 13. 73 B. Grunberger, Le Narcissisme. Essais de psychanalyse, Paris, Payot, 1975, S. 133. 82 was zur Folge hat, dass das Objekt angegriffen und allmählich abgewertet wird, um schließlich aller seiner wesentlichen Charakterzüge beraubt zu werden (...).“ 74 Doch letztlich geht es Grunberger - ähnlich wie Kohut - darum, dem geschwächten Subjekt seinen verlorenen infantilen Narzissmus wiederzugeben. Dies ist das oberste Ziel seiner Therapie: „Die narzisstische Aufwertung muss folglich absolut, lückenlos sein, und zwar vom Anfang der Therapie bis ans Ende.“ 75 Dabei soll der Analytiker - anders als bei Kohut - nicht als „anderer Mensch“ erlebt werden, sondern völlig in den Hintergrund treten. Er dient dem Analysanden als eine Art Katalysator in einem Prozess, der - wie bei Kohut - die Wiederherstellung des verunsicherten und fragmentierten Subjekts zum Ziel hat. Ganz anders wird der Narzissmus von einem theoretischen Subjekt konstruiert, das die Objektbeziehungen des Narzissten in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. So nimmt zwar André Green in seiner Studie Narcissisme de vie. Narcissisme de mort (1983) auch die vitalen Aspekte des Phänomens wahr, etwa wenn er feststellt, dass sexueller Genuss zum „Beweis für eine intakte narzisstische Integrität“ 76 wird; aber sein eigentliches Interesse konzentriert sich auf den tödlichen Narzissmus, der nach Autarkie strebt. Green, der einen körperlichen von einem intellektuellen und einem moralischen Narzissmus unterscheidet 77 , meint, dass allen Varianten des Phänomens eine Sehnsucht nach sozialer und psychischer Autarkie innewohnt. Narzissmus ist die Sehnsucht nach dem Einen ohne das Andere: „Der Narzissmus ist die Tilgung der Spur des Anderen im Einen.“ 78 Diese Definition, die auf den kulturellen, politischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Bereich anwendbar ist (vgl. Kap. III und IV), ergänzt Green, wenn er zur Person des Narziss bemerkt: „Porträt des Narziss: einmalig, allmächtig als Körper und als Geist, der in seinem Wort zum Ausdruck kommt, unabhängig und autonom, sobald er es nur wünscht, von dem aber die anderen abhängen, ohne 74 Ibid., S. 184. 75 Ibid., S. 213. 76 A. Green, Narcissisme de vie. Narcissisme de mort, op. cit., S. 42. 77 Vgl. auch: A. Green, „Der moralische Narzißmus“, in: Psyche 5, 1998, S. 419- 420. 78 A. Green, Narcissisme de vie. Narcissisme de mort, op. cit., S. 127. 83 dass er auch nur das geringste Verlangen nach ihnen verspürte.“ 79 Dieser Narzissmus erweist sich als tödlich, weil er als Streben nach Absolutheit und Autarkie gezwungen ist, jede Art von Verlangen (nach dem Anderen) abzutöten. Letztlich ist er deshalb todbringend, weil er das soziale Wesen des Menschen negiert: die Tatsache, dass er im Dialog und in der Interaktion mit anderen zu dem wird, was er ist. Green scheint Grunbergers - und indirekt auch Kohuts - Argumentation umkehren zu wollen, wenn er den primären Narzissmus, der in das pränatale Leben hineinreicht, mit der Autarkie des Einen verknüpft: „Aus dieser Sicht erscheint der primäre Narzissmus als das Verlangen nach dem Einen, als das Streben nach einer sich selbst genügenden und unsterblichen Totalität, deren Bedingung die Selbstzeugung ist, als Tod und Negation des Todes in einem.“ 80 Der „absolute primäre Narzissmus“ („narcissisme primaire absolu“) 81 , den Grunberger mit euphorischen Konnotationen wie „état élationnel“ besetzt, wird hier mit der tödlichen Versuchung identifiziert, alle sozialen Bande zu kappen und die Autarkie des Subjekts zu proklamieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sich hier die Geister scheiden, weil sie die Ambivalenz des Phänomens nicht wahrnehmen: Der primäre Narzissmus als „Einheit mit der Mutter“ oder „Mutterbindung“ (Rank) ist Leben und Tod in einem, weil er einerseits kindliche Geborgenheit, andererseits vor-subjektiver Zustand ist. Green wirft den Theoretikern des „positiven primären Narzissmus“ vor, dass sie dessen negative, tödliche Komponenten übersehen: „(...) Sie sprechen von ihm wie von einem Narzissmus des Lebens und verschweigen dabei (...) den ihm innewohnenden Narzissmus des Todes, der als Herabsetzung aller Spannungen bis an den Nullpunkt wirkt.“ 82 Green kann so argumentieren, weil er primär die destruktiven Objektbeziehungen des narzisstischen Subjekts anvisiert und nicht dessen Entstehung in der lebensspendenden mütterlichen Symbiose. Die Trennung von lebensbejahendem und lebensfeindlichem Narzissmus hat dazu geführt, dass dieser bald als Lebensquell, bald als todbringende Pathologie dargestellt wird. Seine Ambivalenz bewirkt, dass beide Argumentationsmuster und die ihnen entsprechenden Konstruktionen plausibel erscheinen. Für welche Konstruktion sich eine 79 Ibid., S. 51. 80 Ibid., S. 132. 81 B. Grunberger, Le Narcissisme, op. cit., S. 256. 82 A. Green, Narcissisme de vie. Narcissisme de mort, op. cit., S. 132. 84 Leserschaft entscheidet, ist dann eine Frage ihrer ideologischen Einstellung. Schätzt sie Stirners Apologie des Egoismus in Der Einzige und sein Eigentum (1844), nimmt sie gern Werke zur Kenntnis, in denen sich der gesunde Kern des Narzissmus herauskristallisiert; zieht sie hingegen Werte wie „Solidarität“ und „Kommunitarismus“ im Sinne von Amitai Etzioni 83 vor, bevorzugt sie Abhandlungen über die Pathologien und Perversionen der Narzissten. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Alberto Eiguer in seiner Studie Du bon usage du narcissisme (Über den richtigen Gebrauch des Narzissmus) (1999) immer wieder auf Heinz Kohut beruft: Wie Kohut richtet er sein Augenmerk in erster Linie auf den primärnarzisstischen Ursprung des Subjekts und lässt dessen Objektbeziehungen, die für Kernberg und Green entscheidend sind, in den Hintergrund treten. Man meint Kohut oder Grunberger zu hören, wenn es bei Eiguer heißt: „Der richtige Gebrauch des Narzissmus bedeutet, zur Gewissheit der ursprünglichen Liebe zurückzukehren, zu jenem Nullpunkt des Lebens.“ 84 Green würde an dieser Stelle einwenden, dass der Nullpunkt des Lebens eben - auch - der Tod ist. Untertitel wie „Le vrai self et l’intimité“ („Das wahre Selbst und die Intimität“) oder „Soutenir le self du patient“ („Das Selbst des Patienten stützen“), die für Eiguers Buch charakteristisch sind, zeugen nicht nur von Kohuts Einfluss, sondern verraten auch, dass es primär um die „narzisstischen Grundlagen der Persönlichkeit“ 85 geht, wie Giorgio Sassanelli es ausdrückt, und nicht um ihre Beziehungen zu den anderen. (Dies hat Eiguer nicht daran gehindert, auch die Schattenseiten des Narzissmus wahrzunehmen.) 86 Ganz anders ist die amerikanische Studie von Alexander Lowen Narcissism. Denial of the True Self (1985) angelegt, die als Gegenstück zu Eiguers Abhandlung gelesen werden könnte. In ihr überwiegen die Pathologien des Narzissmus, weil der Autor vorwiegend auf der Ebene der Objektbeziehungen argumentiert und - nicht zufällig - 83 Vgl. A. Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, London, Fontana Press, 1995. 84 A. Eiguer, Du bon usage du narcissisme, Paris, Bayard, 1999, S. 79. 85 G. Sassanelli, Le basi narcisistiche della personalità, Turin, Boringhieri, 1982, „Parte Seconda“: „Narcisismo normale o di base: il Sé coesivo“. 86 Vgl. A. Eiguer, Le Pervers narcissique et son complice, Paris, Dunod, 2003 (3. erw. Aufl.), vor allem Kap. II. 85 eher dem gleich am Anfang (S. 6-7) zitierten Otto Kernberg folgt als Heinz Kohut oder Béla Grunberger. Einige Titel und Untertitel kündigen die Relevanzkriterien des Diskurses und seine Argumentationsmuster an: „Denial of Feeling“ („Leugnung von Gefühlen“), lautet der Titel des dritten Kapitels, dessen erster Untertitel „The Effect on Behavior towards Others“ („Die Auswirkung auf das Verhalten anderen gegenüber“) die Ausrichtung des Diskurses vorgibt. Diese Ausrichtung wird von anderen Titeln wie „The Fear of Helplessness“ („Angst vor Hilflosigkeit“) oder „Seduction and Manipulation“ („Verführung und Manipulation“: Kap. 5) festgeschrieben. In diesem Kontext überrascht es kaum, dass Lowen seiner Studie eine Narzissmus-Definition voranstellt, die zum Teil auf Kernbergs Ansatz gründet. Wesentlicher Bestandteil dieser Definition ist Kernbergs Charakteristik des Narzissten: „unconscious exploitiveness and ruthlessness towards others“ („unbewusste Ausbeutung der anderen und Rücksichtslosigkeit ihnen gegenüber“). 87 Im Mittelpunkt der Studie steht also ein Narzisst, der darauf aus ist, andere zu beherrschen, der beneidet und beneidet werden will, der mit „narzisstischer Wut“ reagiert, sooft die anderen nicht zu ihm aufblicken. Nicht zufällig übernimmt Lowen Kernbergs These, dass es dem Narzissten an Empathie fehlt - und nicht etwa Kohuts Antithese, dass Narzissten mit besonderer Empathie ausgestattet sind: „Psychologisch betrachtet, haben die Narzissten ein dickes Fell. Sie sind anderen und sich selbst gegenüber relativ gefühllos.“ 88 Waren aber Narzissten wie Oscar Wilde, Marcel Proust oder Stefan George „sich selbst und anderen gegenüber gefühllos“? Wer die Biografien dieser Schriftsteller kennt, wird zögern, mit „ja“ oder „nein“ zu antworten, weil ihm die Ambivalenz spätmoderner Autoren - und der ebenfalls spätmodernen psychoanalytischen Terminologie - gegenwärtig ist. Als Erbe Nietzsches konnte ein Dichter wie George aus Feinfühligkeit recht grausam sein - aber „gefühllos“ war er nicht. Es zeigt sich, dass Studien, die den Gegenstand entweder aus der Sicht des Subjekts oder der Objektbeziehungen betrachten, zu kurz greifen, weil sie eindimensional sind und der Janusköpfigkeit des Narzissten nicht Rechnung tragen. Der Narzissmus erscheint entweder als 87 A. Lowen, Narcissism, op. cit., S. 6. 88 Ibid., S. 173. 86 Lebensquelle oder als tödliche Erstarrung, nie als beides zugleich, d.h. als Wechselbeziehung der beiden Komponenten. Insofern haben Psychologen wie Neville Symington recht, wenn sie sich weigern, die destruktiven und die kreativen Impulse des Narzissmus voneinander zu trennen (s.o.). Dies ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Weiterhin bleibt jedoch die Frage unbeantwortet, wie die destruktiven und die kreativen Formen dieses Phänomens ineinander greifen, wie sie „miteinander verhäkelt sind“, um es mit Nietzsche zu sagen. Studien über den politischen Narzissmus lassen erkennen, dass die Psychoanalyse, die in ihrer spätmodernen Wiener Zeit ein feines Gespür für Ambivalenzen hatte, heute eher dazu neigt, die Extreme voneinander zu trennen, statt sie dialektisch aufeinander zu beziehen. So versuchen beispielsweise Vamik D. Volkan und Gabriele Ast in Spektrum des Narzißmus, zwischen „reparativen“ und „destruktiven“ narzisstischen Führern zu unterscheiden. Obwohl sie diesen Versuch durch die Feststellung relativieren, „die Unterscheidung zwischen den beiden Typen [sei] künstlich“ 89 , halten sie an der Dichotomie fest. Der „reparative“ Führer (De Gaulle, Attatürk) fördert vor allem seine Anhänger, um sich deren Unterstützung und Bewunderung zu sichern. „Im Gegensatz dazu schützt der narzißtische Führer des destruktiven Typus die Kohärenz seines grandiosen Selbst vor allem dadurch, daß er eher andere Menschen entwertet, als seine Anhänger zu fördern.“ 90 Dagegen ließe sich einwenden, dass jeder Führer (sogar der Wissenschaftler) dazu neigt, seine Anhänger narzisstisch zu fördern und seine Gegner abzuwerten - es fragt sich, mit welchen Mitteln. Entscheidend ist jedoch, dass die destruktiven und die „reparativen“ Impulse kaum voneinander zu trennen sind. Das Scheitern von Neville Chamberlains Appeasement-Politik im Jahre 1939 brachte in Großbritannien einen Mann an die Macht, dem ein destruktiver Wille keineswegs fremd war, dem es jedoch gelang, ihn im richtigen Augenblick für die richtige Sache einzusetzen. Das Adjektiv „reparativ“ auf Churchill anzuwenden, ist kaum angebracht: Er hat nicht viel repariert - aber zusätzliches Unheil verhindert. 91 Umstritten - weil am- 89 V. D. Volkan, G. Ast, Spektrum des Narzißmus, op. cit., S. 158. 90 Ibid., S. 157. 91 Den Unterschied zwischen gesundem und malignem Narzissmus verdeutlicht der folgende Witz: „When Churchill met Stalin at Yalta they discussed their 87 bivalent - werden Führer wie Lenin und Mao bleiben, die zerstört haben, um Neues aufbauen zu können. Im Rahmen des Gegensatzes reparativ/ destruktiv kaum zu definieren ist Francisco Franco, der für sich noch zu Lebzeiten ein gigantisches Mausoleum im Valle de los Caídos errichten ließ und der immer noch metonymisch das geteilte Spanien verkörpert, in dem es, wie Jean Descola sagt, Mitte der 30er Jahre „keine Gemäßigten mehr gab“. 92 Im Hinblick auf Franco gibt es immer noch keine Gemäßigten in diesem Land: Während die einen ihn für einen „destruktiven Faschisten“ halten, haben ihn die anderen als „reparativen Führer“ in Erinnerung. Das Aufeinandertreffen ihrer Ideologien zeigt, dass die Ambivalenz nicht leicht aufzulösen ist. Ähnlich wie Volkan und Ast argumentiert Uwe Wirth, wenn er sich vornimmt, im politischen Bereich einen malignen von einem gesunden Narzissmus zu unterscheiden. In seinen Kommentaren zur Karriere und zum Selbstmord des CDU-Politikers Uwe Barschel, der eine Zeit lang Ministerpräsident von Schleswig-Holstein war, wird deutlich, wie sehr das Ichideal (mit Hilfe des Überichs) eine Zensurfunktion ausübt: „Barschel gab sich auf, als er sich von seinem eigenen Ich-Ideal, das Leistung, Erfolg und Macht beinhaltete, gehasst und verfolgt fühlte.“ 93 Das Ichideal erscheint hier nicht nur als Objekt und Ziel allen Strebens, sondern auch als Maßstab, an dem das Ich (vom Überich) gemessen wird. Während Barschel als maligner Narzisst dargestellt wird, weil er aufgrund einer inzestuösen Mutterbindung („Uwe wurde mehr und mehr zum Ersatz des Vaters bei der Mutter“) 94 ausschließlich seinem „infantilen Größen-Selbst“ (Kohut) folgte, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Werte oder Mitmenschen zu nehmen, erscheint Oskar Lafontaine Hans-Jürgen Wirth als der Typus des „gesunden“ Narzissten: „In der Gegenüberstellung von Barschel und Lafontaine ließe sich der Unterschied zwischen einem pathologischen Narzissmus und einem hobbies. Churchill: I collect the jokes that people tell about me. Stalin: That’s a coincidence. I collect the people who tell jokes about me.” (Zit. nach: R. Bosewitz, R. Kleinschroth, Joke your Way through English Grammar, Reinbek, Rowohlt, 1989, S. 135.) 92 Vgl. J. Descola, Historia de España, London-Toronto-Wellington, Harrap, 1963, S. 385: „En España ya no hay moderados. (...) Ya no es posible compromiso alguno.“ 93 H.-J. Wirth, Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2006 (3. Aufl.), S. 171. 94 Ibid., S. 125. 88 gesunden Narzissmus herausarbeiten.“ 95 Das kann nicht ohne weiteres behauptet werden, weil nicht nur psychische Faktoren, sondern auch soziale Umstände darüber entscheiden, welche Kräfte sich im ambivalenten Subjekt durchsetzen. Erfolg oder Misserfolg können nicht die einzigen Kriterien sein - zumal auch der Zufall stets mitspielt. Die Biografien von Barschel und Lafontaine sollen hier nicht weiter kommentiert werden. Stattdessen wird im nächsten Abschnitt ein dialogisches Modell entworfen, das zeigt, wie sehr „gesunder“ und „maligner“ Narzissmus miteinander verwandt sind. 4. Ein dialogisches Modell Im Anschluss an das bisher Gesagte lautet die Kernthese dieses Abschnitts: dass der Narzissmus integraler und unverzichtbarer Impuls einer sich dialogisch entwickelnden individuellen Subjektivität ist, die von Kritik und Zustimmung der anderen abhängt, dass er aber jederzeit in eine monologische Negation des anderen umschlagen kann, wenn der andere dem Subjekt als Vorwand oder als Hindernis erscheint oder selbst diese Rolle spielt. Im Folgenden soll diese allgemeine These in Form von Einzelthesen weiterentwickelt werden. Dabei geht es vor allem um Aspekte der Subjektivität und ihrer Entstehung in Psyche, Gesellschaft und Sprache: 1. Die Entstehung individueller Subjektivität und eines gesunden Narzissmus ist nur dialogisch zu verstehen: als Ergebnis einer Interaktion des Einzelnen mit Individuen und Gruppen. 2. Diese Interaktion kann durch Herrschaftsverhältnisse, Marktmechanismen und Ideologien nachhaltig verzerrt werden. Die Verzerrung kann sowohl auf die primäre als auch auf die sekundäre Sozialisation einwirken und schon das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern belasten. 3. In solchen Fällen wird der andere nicht dialogisch als Quelle von Kritik, Wissen, Zuneigung und Zustimmung aufgefasst, sondern monologisch-narzisstisch: als Vorwand bzw. „Spiegel“ oder als Hindernis. (Diese These gilt sowohl für individuelle Subjekte als auch für Gruppen und Organisationen.) 95 Ibid., S. 165. 89 4. Die „instrumentelle“ Einstellung zum anderen kann zwar dem narzisstischen Subjekt aufgrund einer bestimmten primären Sozialisation innewohnen, sie kann ihm aber auch von seinem sozialen, institutionellen Umfeld „sekundär“ aufgezwungen werden. 5. In diesem Kontext wird die Unterscheidung zwischen Ichideal und Idealich mit einer neuen Bedeutung versehen: Während sich das Ichideal aus bestimmten sozialen Werten zusammensetzt, die sich im Dialog mit anderen Subjekten herauskristallisieren, steht das Idealich (zu vergleichen mit Kohuts „infantilem Größen-Selbst“) vorwiegend für die eigene partikulare Subjektivität und deren Erfolg. Dennoch bilden Ichideal und Idealich einen Zusammenhang und können nicht voneinander getrennt werden. 6. Das am Ende dieses Abschnitts entworfene Diagramm soll u.a. zeigen, wie nah gesunder und maligner Narzissmus, Dialog und Monolog beieinander wohnen: Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die eine Einstellung ohne die andere kaum auskommt. Im Anschluss an die deutsche Hermeneutik hat vor allem der russische Literaturwissenschaftler und Philosoph Michail M. Bachtin Subjektivität dialogisch aufgefasst. Seine Bemerkungen zum Romanhelden laufen darauf hinaus, dass das Einzelsubjekt als Monade nicht zu verstehen ist, weil es aus seiner Interaktion mit dem anderen hervorgeht: „Jedes Erlebnis, jeder Gedanke des Helden ist in sich dialogisch, polemisch gefärbt, widersprüchlich oder umgekehrt, fremder Inspiration zugänglich, in jedem Falle nicht einfach auf seinen Gegenstand konzentriert, sondern von dem ständigen Blick auf einen anderen Menschen begleitet.“ 96 Dies bedeutet, dass das Individuum 97 seine Subjektivität der Stimme und dem Blick des anderen verdankt und nicht ausschließlich als gegenständlich oder „sachlich“ handelnde Instanz aufgefasst werden kann. Es geht aus dem Gespräch mit seinen Ko-Subjekten hervor und hat mithin eine dialogische Struktur. Eine dialogische Struktur dieser Art muss nicht in Polyphonie, „multiplicité du moi“ (Bourget) und Ichzerfall ausarten. Sie ist mit der sozialen Autonomie des Einzelsubjekts keineswegs unvereinbar, weil sich das Subjekt aus Elementen seiner gesellschaftlichen Umgebung zusammensetzt. Zu Recht betrachtet der Soziologe Cornelius Castori- 96 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 39. 97 Das „Individuum“ wird hier - wie schon in der Theorie des Subjekts (vgl. Anm. 1) - als die bio-psychische Grundlage der sozialen Subjektivität aufgefasst. 90 adis Subjektivität als das Ergebnis einer Dialektik zwischen Eigenem und Fremdem: „Wenn das Problem der Autonomie darin besteht, dass das Subjekt in sich selbst einen Sinn antrifft, der nicht ihm gehört und den es umgestalten muss, indem es sich seiner bedient; wenn Autonomie die Beziehung meint, in der die anderen schon immer als Alterität und Selbstheit des Subjekts gegenwärtig sind - dann ist Autonomie, schon im philosophischen Sinne, nur als soziales Problem und soziale Beziehung denkbar.“ 98 „Gesunder Narzissmus“ könnte in diesem Zusammenhang als Bewusstsein von der eigenen Dialogizität, d.h. als Einsicht in den dialogischen und gesellschaftlichen Ursprung der eigenen Autonomie aufgefasst werden. Im Gegensatz dazu erscheint der „maligne Narzissmus“ in diesem Kontext (und im Anschluss and André Greens Werk) als ein Pochen auf Autarkie, das die Gegenwart des anderen in der eigenen Subjektivität leugnet. Im psychoanalytischen Bereich hat vor allem Paul Federn die Bedeutung des anderen für die Subjektwerdung hervorgehoben. Die Liebe, meint er, ist letztlich die Kraft, aus der das Ich hervorgeht: „Vor der Psychoanalyse haben wir auch die Liebe nur als Erlebnis des Ichs, als freudiges oder trauriges, aufgefasst. Sie ist es aber - wie wir heute wissen - die erst das Ich schafft und die es erhält.“ 99 Ergänzend bemerkt später Bertrand Ogilvie zu Lacan: „Das Subjekt geht dieser Welt der Formen, die es faszinieren, nicht voraus: es bildet sich in ihnen und durch sie.“ 100 In diesem Zusammenhang beschreibt auch Kohut die Entstehung des Selbst aus den „Selbstobjekten“: aus denen, die die Größenvorstellungen des Kindes spiegeln, und denen, die den idealisierten Elternbildern entsprechen. „Der Glanz im Auge der Mutter“ 101 , von dem er spricht, gehört zu den ersten Blicken des anderen, die dem Kind seine Daseinsberechtigung bestätigen und so zur Konsolidierung seiner Subjektivität und seines Narzissmus beitragen. Die Interaktion zwischen dem entstehenden Subjekt und seiner gesellschaftlichen Umgebung kann nicht auf eine dialogische Idylle reduziert werden, in der der Einzelne ausschließlich Unterstützung und 98 C. Castoriadis, L’Institution imaginaire de la société, Paris, Seuil, 1975, S. 159. 99 P. Federn, Ichpsychologie und die Psychosen (1956), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 47. 100 B. Ogilvie, Lacan, op. cit., S. 106. 101 H. Kohut, Narzißmus, op. cit., S. 141. 91 Ermutigung erfährt. Zerfallende Familien, in denen keine „idealisierte Elternimago“ entstehen kann, können Fehlentwicklungen einleiten - ebenso wie ein überzogener Ehrgeiz der Eltern, der von Herrschaftsverhältnissen, Hierarchien und den Konkurrenzmechanismen des Marktes geprägt ist. „Der Glanz im Auge der Mutter“ kann in der zeitgenössischen Marktgesellschaft durchaus vom „narzisstischen Blick“ auf das Kind verdrängt werden. Volkan und Ast führen ein Beispiel an: „(...) Die Mutter sah das Kind als Instrument an, um ihre eigenen narzißtischen Ziele zu erreichen.“ 102 Da der nach Autarkie und Herrschaft strebende Narzissmus in einer sich individualisierenden Gesellschaft zunimmt, treten auch die von Volkan und Ast beschriebenen Störungen häufiger auf. Wer sich zusätzlich im Laufe seiner Ausbildung in Schule, Hochschule und Arbeitswelt einem wachsenden Konkurrenzdruck ausgesetzt sieht, wird dazu neigen, die anderen nicht dialogisch als Quellen des Wissens, der Zustimmung und Zuneigung zu betrachten, sondern als Konkurrenten, als Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg. Bestenfalls wird er versuchen, sie als Mittel zu instrumentalisieren, so wie ihn die von Volkan und Ast beschriebene narzisstische Mutter instrumentalisiert hat, um schneller seine Ziele zu erreichen. Der gesunde Narzissmus des - im Prinzip - dialogischen Subjekts kann so im Laufe der primären und sekundären Sozialisation von einem malignen Narzissmus verdrängt werden, der den anderen zum Hindernis oder zum Vorwand (Mittel) werden lässt (vgl. Diagramm). Freilich handelt es sich hier um die Darstellung einer Extremsituation: In Wirklichkeit greifen gesunder und maligner Narzissmus ineinander, und die Dominanz der einen über die andere Form hängt nicht nur von den Erlebnissen der Kindheit, sondern auch vom weiteren Verlauf der Sozialisation ab. Wie sehr der andere zu einem - zu beseitigenden - Hindernis werden kann, zeigt die Weltpolitik in ihren verschiedenen Ausprägungen: Er wird als Rivale entweder angeschwärzt oder in extremen Fällen (etwa im Nationalsozialismus oder in Miloševi s Jugoslawien) beseitigt. Hans-Jürgen Wirth zeigt in seinen Kommentaren zu Slobodan Miloševi s Karriere, wie der politische Narzisst alles unternimmt, um 102 V. D. Volkan, G. Ast, Spektrum des Narzißmus, op. cit., S. 66. 92 die „Nummer eins“ im Lande zu bleiben, „selbst wenn er andere dafür zerstören muß“. 103 Wird der andere vom Narzissten als Vorwand definiert, verschwindet ebenfalls seine Andersheit, und er wird nur insofern wahrgenommen, als er der Selbstbestätigung dient. Eine mögliche Variante dieser verzerrenden Einstellung schildert Siegfried Zepf im Zusammenhang mit der intimen Zweierbeziehung: „Da die Triebhandlung lediglich der Unlustvermeidung dient, wird die Person, an der sie realisiert wird, reduziert auf ein bloßes Mittel, das sich dazu eignet. Während das Erleben einer erogenen Lust bei einer Triebbefriedigung impliziert, daß diese Lust auch der Partner, der sie vermittelt, erfährt (...), wird hier nicht mehr dessen Lust als eine unmittelbar zu der eigenen gehörende intendiert.“ 104 Der andere kann dem Narzissten auf viele verschiedene Arten als Vorwand dienen, und dies ist der Grund, weshalb „Vorwand“ hier als ein Oberbegriff eingeführt wird, dem zahlreiche Unterbegriffe wie „Instrumentalisierung“, „Vereinnahmung“ oder „Reduktion“ zugeordnet werden können. Wenn Eltern ihr Kind nur lieben, weil es in der Schule oder der Universität etwas leistet und dadurch ihre Unzulänglichkeiten und Misserfolge der frühen Jahre kompensiert, dient es dem elterlichen Narzissmus als Vorwand. Auch so manchem Politiker, der sich in den tausend Augen seiner applaudierenden Wählerschaft spiegelt, ist es nicht primär um Vollbeschäftigung, Sozial- oder Umweltpolitik zugunsten der Betroffenen zu tun, sondern um Selbstbestätigung durch Wahlerfolg. Im Zusammenhang mit Uwe Barschel bemerkt Hans-Jürgen Wirth: „Letztlich betrachtete Barschel die anderen lediglich als Marionetten, als Schachfiguren in seinem machtpolitischen Spiel.“ 105 Während sein Rivale Engholm beseitigt (diskreditiert) werden sollte, wurden die anderen als Vorwand instrumentalisiert. Hier zeigt sich, wie der pathologische Narzissmus „Vorwand“ und „Hindernis“ kombinieren kann. Diese Art von Narzissmus unterscheidet sich vom gesunden, dialogischen Narzissmus, dessen Subjekt in der Interaktion mit anderen wächst, durch seine monologische Struktur. Es entsteht ein monologi- 103 H.-J. Wirth, Narzissmus und Macht, op. cit., S. 295. 104 S. Zepf, Lust und Narzißmus, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 1997, S. 136. 105 H.-J. Wirth, Narzissmus und Macht, op. cit., S. 153. 93 scher und ideologischer 106 Diskurs, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert und dadurch sowohl den individuellen als auch den kollektiven Narzissmus befriedigt. Der narzisstische Politiker ist an den Meinungen und Bedürfnissen seiner Wählerschaft nicht interessiert, sondern nur an ihren Stimmen. Analog dazu strebt der narzisstische Wissenschaftler danach, seiner Theorie die größtmögliche Resonanz zu sichern, und hat für Gegenargumente kein offenes Ohr (vgl. Kap. IV. 3). Das Tödliche dieser monologisch-narzisstischen Einstellung besteht darin, dass das Subjekt seinen eigenen dialogischen Ursprung negiert: seinen Lebensnerv, der es seit der Kindheit mit den anderen verbindet. Im erotischen Bereich bewirkt diese Einstellung (wie sich weiter oben gezeigt hat) eine Instrumentalisierung des anderen als Psyche und Körper und hat den Untergang des Eros zur Folge; in der Politik kommt es zu einer rhetorischen und medialen Manipulation der Massen, und in der Wissenschaft herrscht Sterilität, weil sich der Einzelne oder die Gruppe weigert, fremde Stimmen und Erkenntnisse, die die Homogenität der eigenen Theorie stören würden, wahrzunehmen. Ob sich ein gesundes oder ein pathologisches Verhältnis zu den anderen durchsetzt, hängt nicht nur von der primären Sozialisation des Subjekts, sondern, wie schon angedeutet, auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Im letzten Kapitel wird sich zeigen, dass die Kommunikationsformen der Londoner, Pariser oder Wiener mondänen Gesellschaft um 1900 so stark von Machtanspruch, Rhetorik und Effekthascherei beherrscht waren, dass der narzisstische Dandy noch am ehesten als sozial vorgeformte Rolle zu verstehen ist. Ebenso lädt eine stark polarisierte politische Situation Politiker dazu ein, dem Gegner eher mit Taktik, Brillanz und Rhetorik zu begegnen als mit dialogischer Gesinnung. Am meisten leidet unter dieser Art von ideologischer Polarisierung die wissenschaftliche Diskussion, in der Narzissmus und Monolog die gemeinsame Suche nach Erkenntnis blockieren. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, die Unterscheidung zwischen Idealich und Ichideal, die im ersten Abschnitt im An- 106 Zur Definition der Ideologie als Monolog vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VIII: „Die diskursiven Verfahren der Ideologie“. 94 schluss an Lacan und seine Anhänger vorgeschlagen wurde, zu konkretisieren. Die Beispiele aus Erotik, Politik und Wissenschaft haben u. a. gezeigt, dass das narzisstische Subjekt, das den anderen als Hindernis oder Vorwand behandelt, nicht so sehr einem gesellschaftlich vorgegebenen Ichideal folgt, sondern eher einem Idealich mütterlichimaginären Ursprungs. Wenn Janine Chasseguet-Smirgel behauptet, „daß das Ichideal (...) zur Vereinigung mit der Mutter drängt, also zur Überschreitung der Inzestschranke“ 107 , so meint sie das Idealich im Sinne von Lacan oder Kohuts „infantiles Größen-Selbst“. Denn dieses Idealich oder Gößen-Selbst liegt allen Versuchen zugrunde, den anderen als Vorwand zu instrumentalisieren oder ihn als Hindernis (mit welchen Mitteln auch immer) zu beseitigen. Der mondäne Causeur und Politiker wie Barschel oder Miloševi versuchen, mit Hilfe der anderen oder auf ihre Kosten gesellschaftlich zu reüssieren. Ihnen geht es nicht darum, bestimmten Wertsetzungen zu folgen und ein ästhetisches oder politisches Ideal zu verwirklichen, sondern darum, sich in Szene zu setzen und die eigene politische Karriere so steil wie möglich zu gestalten. Dabei bleibt der Wirklichkeitssinn häufig auf der Strecke. Im Zusammenhang mit Napoleon und Hitler bemerken Béla Grunberger und Pierre Dessuant: „Den Narzissten ist es unmöglich, zwischen Wirklichkeit und ‚Grandiosität‘ zu unterscheiden, sonst hätte z.B. Napoleon auf den Russland-Feldzug verzichtet.“ 108 Diese Aussage gilt natürlich auch für Hitler. In beiden Fällen wich der Wirklichkeitssinn dem mütterlich-imaginären „Möglichkeitssinn“, der übrigens auch bei Musil - obwohl in einem ganz anderen Kontext 109 - imaginäre Konnotationen aufweist und gegen den Wirklichkeitssinn und die symbolische Ordnung der Väter revoltiert. Er sollte nicht verworfen, sondern auf die empirisch erfahrene Wirklichkeit bezogen werden. Matthias Franz bestätigt diese Erkenntnisse im Bereich der klinischen Praxis, in der sich narzisstische Patienten weigern, die Wirklichkeit und ihre Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen: „Der destruktive 107 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal, op. cit., S. 137. 108 B. Grunberger, P. Dessuant, Narcissisme, christianisme, antisémitisme. Etude psychanalytique, Arles, Actes Sud, 1997, S. 369. 109 Vgl. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, Rowohlt, 1952, Kap. IV: „Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch einen Möglichkeitssinn geben.“ 95 Narzißmus führt so zu einer Verleugnung zentraler Realitäten. Er erzwingt einen in letzter Konsequenz selbstschädigenden Rückzug von der Objektwelt, wenn sich Objekte als selbstbestimmt und damit als nicht mehr kontrollierbar erweisen.“ 110 Wer seinem Idealich folgt, der erwartet von den anderen, dass sie sich als Instrumente seines Ehrgeizes und Größenwahns manipulieren lassen. Er mag einerseits unsicher sein und sich minderwertig fühlen; er wird andererseits aber anmaßend auftreten und von den anderen erwarten, dass sie seinem Idealich eine Substanz zuerkennen, die ihm offenkundig fehlt. Dem Ichideal, wie es hier aufgefasst wird, fehlt diese Substanz (zumindest im Prinzip) nicht. Von Rolf Fetscher wird es im Sinne einer „Sozialisierung des Narzissmus“ aufgefasst: „Die Errichtung idealer Werte bedeutet aber auch, daß der Charakter des Ich-Ideals sich ändert. Seine Zielrichtung geht jetzt über eigentlich narzißtische, unmittelbar auf eine Erhöhung des Selbst bezogene Absichten hinaus und strebt übergeordnete soziale und gegebenenfalls auch transzendente Werte an.“ 111 Der Unterschied zwischen dem Idealich und dem Ichideal besteht folglich auch darin, dass letzteres nicht nur individuellen, sondern auch kollektiven, sozialen Charakter hat. Dies ist wohl der Grund, weshalb in den meisten Gesellschaften diejenigen unter den Politikern geschätzt werden, denen die Verwirklichung überindividueller Werte (als Ichideal) wichtiger war als die eigene Karriere - oder gar der finanzielle Vorteil. Bei realistischer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass es auch hier nicht leicht ist, Idealich und Ichideal sauber voneinander zu trennen. Denn auch die Karrieren der angesehensten Politiker verdeutlichen, dass persönlicher Erfolg, Parteipolitik und staatstragendes Ideal (etwa die deutsche Wiedervereinigung im Falle von Kohl, die Rolle Frankreichs in der Welt im Falle von De Gaulle oder die italienische Demokratie im Falle von De Gasperi) unentwirrbar miteinander ver- 110 M. Franz, „Die ‚negative Psychotherapieakzeptanz‘ als eine Manifestation des destruktiven Narzißmus. Empirische Befunde zur Ablehnung eines Psychotherapieangebotes“, in: G. H. Seidler (Hrsg.), Das Ich und das Fremde. Klinische und sozialpsychologische Analysen des destruktiven Narzißmus“, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2002, S. 242. 111 R. Fetscher, „Ich-Ideal und Über-Ich im Rahmen einer modifizierten Strukturtheorie“, op. cit., S. 209. 96 flochten sind - und dass kleine Unebenheiten und Fragwürdigkeiten keineswegs fehlen. Im Kunstwerk scheinen Idealich und Ichideal, persönliches Anliegen und gesellschaftliche Wertsetzung, Idiolekt und Soziolekt 112 ineinander überzugehen. Dazu bemerkt Chasseguet-Smirgel: „Das Werk repräsentiert auf diese Weise das Bild des idealisierten Ich des Künstlers, das auf einem gewissen Niveau mit einem die Vollkommenheit symbolisierenden Phallus verschmilzt.“ 113 Da das Werk einerseits aus der mütterlich-imaginären Welt hervorgeht, wie Freuds Aufsatz über Leonardo da Vinci erkennen lässt, andererseits in der symbolischen Ordnung des „Vaters“ wirkt, umfasst das „idealisierte Ich“, von dem hier die Rede ist, sowohl das Idealich als auch das Ichideal. Dennoch sind die beiden auch im ästhetischen Bereich zu unterscheiden: denn jeder Künstler, der etwas auf sich hält, wird versuchen, ein Werk zu schaffen, das nicht nur ihn befriedigt, sondern weit über seinen Tod hinaus wirkt, d.h. als bleibender ästhetischer Wert anerkannt wird. Im letzten Kapitel wird sich zeigen, dass diese Kunstauffassung möglicherweise der Vergangenheit angehört. Das folgende Diagramm soll verdeutlichen, wie sich Subjekt und Objekt (Ko-Subjekt), Vorwand und Hindernis, Ichideal und Idealich zueinander verhalten. Dabei soll die Form des Parallelogramms die dem Kräftespiel zugrunde liegende Ambivalenz verdeutlichen: Das gradlinig-dialogische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt (Ko- Subjekt), aus dem ein Ichideal hervorgeht, kann jederzeit in eine monologische Diversion übergehen, in der das Ko-Subjekt zum Hindernis oder zum Vorwand wird. Zugleich kann das angestrebte Ichideal auf ein (weniger anspruchsvolles) Idealich reduziert werden: etwa wenn das Kind in der Familie bewundert werden will, auch ohne die versprochene Leistung erbracht zu haben, wenn der Politiker sich als Staatsmann feiern lässt, auch ohne die große Vision verwirklicht zu haben, und der Künstler auch ohne das große Kunstwerk Anspruch auf Genialität erhebt. „Vorwand“ und „Hindernis“ können als komplementäre Gegensätze aufgefasst werden, weil der andere als Vorwand dem monologischen Subjekt hilft, sein narzisstisches Vorhaben zu verwirklichen, 112 Zur Unterscheidung von „Idiolekt“ und „Soziolekt“ vgl. Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 228-229. 113 J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal, op. cit., S. 144. 97 während der andere als Hindernis ihm den Weg zum Erfolg verstellt. Gemeinsam ist den anderen als „Vorwand“ und „Hindernis“, dass sie nicht in ihrer Andersheit und um ihrer selbst willen betrachtet werden, sondern rein funktional. Es versteht sich von selbst, dass sich „Vorwand“ in „Hindernis“ verwandeln kann und umgekehrt und dass auch beide zu Ko-Subjekten im dialogischen Sinne werden können - ebenso wie ein Ko-Subjekt zu einem „Hindernis“ oder einem „Vorwand“ degradiert werden kann. Das Schema lässt alle Möglichkeiten der Ambivalenz offen: auch die Möglichkeit, dass das dialogische Ko- Subjekt gleichzeitig als „Vorwand“ behandelt wird - etwa vom narzisstischen Schüler, der sich als Idealich oder Größen-Selbst in seinem Lieblingslehrer oder seiner (mütterlichen) Lieblingslehrerin spiegelt. Der narzisstisch bewunderte Lehrer, der sich nicht vereinnahmen lässt, kann zugleich als dialogisches Ko-Subjekt (als Ichideal) und als Hindernis erfahren werden. (Idealich) Objekt/ Vorwand (Ichideal) Subjekt Objekt/ Ko-Subjekt Objekt/ Hindernis (Idealich) 5. Beispiele aus Fallstudien Eines der Probleme der Narzissmus-Forschung besteht darin, dass die Entstehung eines malignen Narzissmus (wie bereits angedeutet: Kap. II. 2) mit Hilfe von zwei scheinbar konträren Hypothesen erklärt wird: mit der Annahme einer starken Mutterbindung (des männlichen Kindes), die von Freud bis Lacan variiert wurde (vgl. Kap. I. 5. b), und mit der Annahme einer abweisenden, narzisstischen Mutter, deren Verhalten bewirkt, dass sich das (männliche oder weibliche) Kind in 98 eine Art Festung zurückzieht und die Fähigkeit zu lieben oder Liebe zu erwidern verliert. Während sich die erste Hypothese schon in Freuds Aufsatz über Leonardo da Vinci findet, wo die Liebe der Mutter zum Sohn von diesem später reproduziert wird (vgl. Kap. I), liegt die zweite Hypothese den späteren Arbeiten von Heinz Kohut zugrunde, der den malignen Narzissmus im Zusammenhang mit fehlender oder unzureichender Mutterliebe erklärt und vom Therapeuten erwartet, dass er dieses Defizit der frühen Kindheit wettmacht. Kohut selbst berichtet von einem Fall, in dem eine „narzißtische Mutter anscheinend nur zu jeweils einem Kind eine Beziehung aufrechterhalten konnte“. Dies hat „die vollständige und plötzliche Abwendung der Mutter von der narzißtischen Verklammerung mit dem älteren Kind zugunsten einer gleichermaßen einseitigen Beschäftigung mit dem neuen Baby“ 114 zur Folge. Es drängt sich nun die Frage auf, was genau für die Entstehung des malignen Narzissmus verantwortlich ist: die Liebe der Mutter oder die fehlende Mutterliebe? Möglicherweise bietet Lacans und Safouans Position die Möglichkeit, die beiden Hypothesen zur Synthese zu bringen und die Frage zu beantworten: Da die Mutter grundsätzlich verboten ist, handelt es sich in beiden Fällen um ein narzisstisch-inzestuöses Verlangen nach dem Verlangen der Mutter („désir du désir“, Safouan). Im Falle von Freud reproduziert der Sohn das mütterliche Verlangen und richtet es auf sich selbst und seinesgleichen; im Falle von Kohut verselbständigt sich das Verlangen nach der abweisenden (und verbotenen) Mutter und richtet sich abermals auf das Subjekt, das aufgrund der erlittenen narzisstischen Kränkung nach Autarkie strebt und liebesunfähig wird. Während bei Freud vor allem die homosexuelle Komponente des narzisstischen Verlangens in den Vordergrund tritt, herrschen bei Lacan und Kohut Abkapselung und Liebesunfähigkeit vor. In beiden Fällen ist die Fähigkeit des Subjekts beeinträchtigt, heterosexuelle Objektbeziehungen einzugehen. Dies zeigt sich in den folgenden Analysen, die hier auszugsweise wiedergegeben werden. Das Subjekt betrachtet den anderen vorwiegend als Vorwand oder als Hindernis. Als Vorwand für das sich verselbständigende narzisstische Verlangen behandelt Richard Wagner Mathilde Wesendonk. Dazu bemerkt Jacques Ponnier: „Nur in der Einsamkeit kann er sie ‚mit aller 114 H. Kohut, Narzißmus, op. cit., S. 289. 99 Kraft seiner Seele‘ lieben. Allein und aus der Entfernung lieben in Abwesenheit jeglicher sexueller Kontakte.“ 115 Der „Vorwand“ kann auch andere Formen annehmen, etwa wenn sich jemand mit Menschen umgibt, nur um das Verlangen nach ihm selbst zu vervielfältigen und zu perpetuieren. Einen solchen Fall schildern Volkan und Ast: „Für George, einen narzißtischen jungen Arzt, war es undenkbar, mit nur einer Frau eine Beziehung zu haben; er mußte unbedingt mehrere Freundinnen gleichzeitig haben. Bei genauerer Betrachtung schienen diese Frauen austauschbar zu sein, da sie vor allem einem Zweck dienten: sein Gefühl der Überlegenheit zu bestätigen. Er war in keine der drei Frauen wirklich verliebt.“ 116 Man könnte hinzufügen, dass dieses „Gefühl der Überlegenheit“ dem Idealich oder dem infantilen Größen-Selbst entspricht. Von einem analogen Fall berichtet Alexander Lowen, dessen Darstellung mit der schwierigen Beziehung zwischen Mark und seiner trunksüchtigen Mutter beginnt. Marks Verhalten zu anderen Menschen ist monologisch, leistungs- und autarkieorientiert, seine Beziehungen zu Frauen sind auf sexuelle Leistung beschränkt: „Viele Frauen reagierten, aber die Beziehungen blieben unbefriedigend.“ 117 Sie blieben unbefriedigend, weil das Subjekt ausschließlich seine eigene Performanz im Visier hatte und so seine Objektbeziehungen aus dem Blickfeld verlor. Dass es analoge Fälle im Bereich des weiblichen Narzissmus gibt, zeigt eine Fallstudie von D. Toutenu, die vor allem die pathologischen Aspekte des Phänomens beleuchtet. Ähnlich wie Lowens Mark ist Toutenus Violette vorwiegend auf Eroberung und Leistung aus. „Bei ihr macht sich ein zwanghaftes Bedürfnis zu erobern bemerkbar, doch zugleich richtet sie es so ein, dass eine affektive Bindung vermieden wird; die Beziehung muss sich auf eine flüchtige und rein sexuelle Unterhaltung beschränken.“ 118 Dass der andere auch in diesem Fall nur als Vorwand benutzt wird, versteht sich von selbst. Der Vorwand kann sich jedoch unverhofft in ein Hindernis verwandeln, wenn der andere sich diese verdinglichende Behandlung nicht gefallen lässt und entsprechend aggressiv-destruktiv reagiert: 115 J. Ponnier, Narcissisme et séduction, op. cit., S. 194. 116 V. D. Volkan, G. Ast, Spektrum des Narzißmus, op. cit., S. 59. 117 A. Lowen, Narcissism, op. cit., S. 112. 118 D. Toutenu, „Illustration clinique, Violette“, in: J. Bergeret et coll., La Pathologie narcissique, Paris, Dunod, 1996, S. 179. 100 „Nach ihrer Rückkehr im September beschreibt sie mir eine Welt ohne Mitleid. Ihre zahlreichen sexuellen Abenteuer während des Sommers fanden in einer Atmosphäre reiner Grausamkeit statt. Man hat sie nicht geschont, und sie war den anderen gegenüber ebenso rücksichtslos.“ 119 In dieser Situation ist es nicht weiter verwunderlich, dass Violette Zuflucht im Drogenkonsum sucht: Ein Ichideal kennt sie nicht, und ihr Idealich ist auf reine Körperlichkeit zusammengeschrumpft. Auch der Fanatiker oder Terrorist erblickt im anderen und im Andersartigen ein zu bekämpfendes oder zu beseitigendes Hindernis; aber im Gegensatz zu Mark und Violette negiert er seine Körperlichkeit und seine Subjektivität, indem er beide seinem narzisstischen Ichideal opfert. Um den anderen und das verhasste Andere zerstören zu können, opfert er sich selbst: „Es kommt zu einer Verschmelzung von Ich und Ich-Ideal, zu einem Aufgehen des Selbst im grandiosen Selbst, das als unsterblich phantasiert wird, weshalb der eigene reale Tod nicht als Bedrohung, sondern sogar als Erlösung erlebt werden kann.“ 120 Diese Art von Verschmelzung ist - soziologisch gesehen - ein altruistischer Selbstmord im Sinne von Durkheim. 121 Der Attentäter opfert seine Subjektivität, seine Autonomie dem Kollektiv wie der Kamikaze-Pilot: „Das eigene Ideal und das Gruppen-Ideal sind in diesem Moment in höchster Übereinstimmung. Und als Lohn für seine Selbstaufopferung winkt dem Attentäter, der sein eigenes Leben opfert, ein Platz im Jenseits.“ 122 Hier wird klar, was Janine Chasseguet- Smirgel mit dem Ausdruck „Krankheit der Idealität“ meint: Es ist die Krankheit eines Subjekts, das sich zusammen mit dem Objekt in der Abstraktion auflöst. Diese geht aus einem absoluten Herrschaftsanspruch hervor, der in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung den Untergang von Subjekt und Objekt mit sich bringt: „Subjekt und Objekt werden beide nichtig. (...) Die Gleichung von Geist und Welt geht am Ende auf, aber nur so, daß ihre beiden Seiten gegen einander gekürzt werden.“ 123 Nichtig wird auch das missverstandene und missbrauchte 119 Ibid., S. 186. 120 H.-J. Wirth, Narzissmus und Macht, op. cit., S. 373. 121 Vgl. E. Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt, Suhrkamp, 1983. 122 H.-J. Wirth, Narzissmus und Macht, op. cit., S. 374. 123 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 39. 101 Ichideal des Terroristen und seiner Gruppe: Beide entfernen sich von ihrem politischen Ziel, statt sich ihm zu nähern. In dieser Situation fällt der Therapie die Aufgabe zu, das Subjekt so weit zu bringen, dass es aus seinem Monolog ausbricht und die Andersheit des Objekts (des Ko-Subjekts) akzeptiert. Das erste Objekt ist der Therapeut, der nicht länger als Spiegel des Idealichs oder des infantilen Größen-Selbst, sondern als unabhängige Person, als Alterität erlebt werden soll. Dabei bedingen sich Selbstliebe und Objektliebe gegenseitig. Otto Kernberg sieht es so: „(...) Jede Steigerung der libidinösen Selbst-Besetzung [stärkt] auch das Selbst in seiner ‚Güte‘ gegenüber den Objekten und festigt die Objektbindungen. Bildlich gesprochen: Das Aufladen der Batterie des Selbst bewirkt sekundär ein Nachladen der Batterie libidinöser Objektbesetzungen.“ 124 Anders gesagt: Die Therapie soll den gesunden Narzissmus als Selbstliebe mit der Objektliebe verknüpfen und so das Subjekt zu seinem dialogischen Ursprung zurückführen. Denn ein monologisches Subjekt negiert nicht nur die anderen als Quellen lebenswichtiger Erfahrung, sondern auch sich selbst. In der folgenden Fallstudie von Joachim Roether geht es u.a. darum, den Autarkieanspruch der Patientin, mit dem sie auf elterliche Ablehnung in der Kindheit reagiert, zu mäßigen und ihr zu helfen, „sich auf einen anderen Menschen einzulassen“. Der Verlauf der (unabgeschlossenen) Therapie lässt eine Entwicklung vom Monolog zum Dialog erkennen, die die Aufgabe des Autarkieanspruchs, nicht jedoch die Anerkennung des anderen als eigenständiger Person zur Folge hat. Die Studie zeigt aber auch, dass es in der Wirklichkeit keine Idealtypen gibt: Nicht alle Elemente der Theorie kommen im konkreten Fall zur Geltung, und nicht alle Aspekte der Wirklichkeit werden von der Theorie erfasst. 124 O. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, op. cit., S. 364. 102 6. „Marion“. Eine Falldarstellung von Joachim Roether Narzisstisch veranlagte Menschen unterscheiden sich so sehr voneinander wie andere Menschen auch, und nicht einmal Therapeuten untereinander können sich über die korrekte Zuordnung ihrer Fälle immer einigen. Hinzu kommt, dass der Narzissmusbegriff im Alltag durchaus abwertend konnotiert, ja zum Schimpfwort verkommen ist; daher ist er als Diagnose unbeliebt. Allerdings haben Therapeuten die besondere Chance, narzisstische Menschen aus der Nähe kennen zu lernen: weniger von ihrer glänzenden Fassade, die sie so gern hervorkehren, als gerade von ihrer dunklen Seite her, von ihren quälenden Selbstwertzweifeln, Depressionen, Krisen und vielfältigen Symptomen. Sie können miterleben, wie wenig Trost und Hilfe diese Patienten aus ihren Beziehungen zu vertrauten Menschen schöpfen. Nicht so sehr, weil es diese Menschen für sie nicht gibt, sondern weil ihnen die Fähigkeit fehlt, die angebotene Hilfe für sich zu verwerten. Ihren Narzissmus erkennt man daran, dass andere Menschen wenig Bedeutung für sie haben und ihr Interesse selbstbezogen allein um den eigenen Wert kreist. Sie haben keine Wahl, sie müssen, um vor sich selbst bestehen zu können, die Ungewöhnlichsten, Leistungsfähigsten, Attraktivsten oder für das Wohl dieser Welt Bedeutendsten sein und am besten von einem großen Publikum anerkannt werden. Misslingt ihnen das, empfinden sie sich als leer und unbedeutend. Das abrupte Umschlagen eines überhöhten Selbstwertgefühls in sein Gegenteil kommt bei so strukturierten Menschen häufig vor. Die Übersteigerung verstehen wir als Schutz und Kompensation angesichts von erlebter Bedeutungslosigkeit. Narzissmus besteht also nicht aus einem klar zu fassenden Bündel von Merkmalen oder Eigenschaften, sondern es geht um ein dynamisches Konzept, nämlich um eine Abwehrformation gegen Ohnmacht, Leere und Verzweiflung. In bestimmten belastenden Situationen - etwa bei Verlust eines geliebten Menschen - wird jeder mit narzisstischem Rückzug reagieren, sich nach außen hin abschotten, sich vermehrt mit der eigenen Person beschäftigen und so versuchen, das gestörte Selbstgefühl wieder aufzurichten. Wer sich von einer erlittenen Herabsetzung von allein erholt, die narzisstische Einstellung bald wieder ablegt und sich anderen Menschen erneut zuwendet, kann als 103 gesund bezeichnet werden. Von einer narzisstisch gestörten Persönlichkeit kann man dann sprechen, wenn dieser Rückzug habituell geworden ist und die sozialen Beziehungen auf Dauer in charakteristischer Weise einfärbt: gewohnheitsmäßiges, unprovoziertes Misstrauen gegenüber anderen, mangelnder Zugang zu ihnen (Empathiemangel) und übermäßige Beschäftigung mit der eigenen Größe. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass diese Züge schon seit der Kindheit bestehen, in der sich diese Menschen zu wenig beachtet fühlten, herabgesetzt und gedemütigt oder von ihren Eltern aus Eigeninteresse narzisstisch missbraucht wurden. Diese biografische Verwurzelung ist für den Psychoanalytiker besonders wichtig und aussagekräftig, sie soll hier aber nicht im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Wirklich narzisstisch Gestörte erkennt man daran, dass sie unerwartet heftig auf scheinbar geringfügige Herabsetzungen reagieren und dabei in schwere Krisen geraten. Ihnen scheint das gesunde, durch gute Beziehungserfahrungen in früher Kindheit erworbene normale Selbstwertgefühl zu fehlen, von dem sie in Zeiten des Mangels zehren könnten. Ihre Kompensationsmechanismen brechen dann unvermittelt zusammen: Offenbar brauchen sie die kontinuierliche Bestätigung der Illusion eigener Bedeutung in ihrem aktuellen Umfeld wie einen ständigen Strom von Nahrung, um nicht dem Gefühl von Selbstvernichtung anheim zu fallen. Dabei stürzen sich viele von ihnen in gefährliche Abenteuer, in die sie wie im Rausch eigener Selbstüberschätzung eintauchen und dann auch umkommen können. Es gibt keine Schonung für sich selbst oder andere: Dem Wunsch nach Vorankommen und Erfolghaben wird alles andere untergeordnet, auch über lange Zeit bestehende Loyalitäten. Da werden Menschen mitleid- und bedenkenlos entlassen und Rivalen aus dem Wege geräumt. Oder es wird, etwa bei missbräuchlicher Medikamenteneinnahme, die eigene Gesundheit oder sogar das Leben aufs Spiel gesetzt. Diese Mitleidlosigkeit ist ein bezeichnender Zug, der mit der mangelnden Bedeutung der Gefühle anderer Menschen in Anbetracht der gehuldigten eigenen Größe zu tun hat. Jeder, so glauben sie, ist sich schließlich selbst der Nächste, und der eigene Erfolg steht über allem. Den Betroffenen aus dieser Verstrickung herauszuhelfen ist ein schwieriges, oft langwieriges Unterfangen, denn schließlich ist es der eigene Charakter, den sie nicht aufgeben möchten. Oft scheint es, als würden wir diesen Menschen eine ihnen unerwünschte Rettung anbieten. Sie kommen in Behandlung, weil sie ihre Symptome verlieren 104 und noch besser werden wollen. Wer ihnen diese Möglichkeit nimmt, macht sich ihnen verhasst, weil er ihnen etwas Wertvolles wegnimmt: ihre Kompensationsmöglichkeiten. Es geht aber nicht darum, sie in Depression und Leere zu stürzen, sondern ihnen zu zeigen, dass man mit weniger hohen Ansprüchen an sich selbst besser und glücklicher leben kann. Dafür muss man schmerzliche Entbehrungen ihrer Kindheit wiederbeleben, die sie einmal dazu bewogen haben, sich in ihre narzisstische Welt zurückzuziehen. Wenn sich über die Behandlungsziele keine Einigkeit herstellen lässt, brechen diese Menschen die Behandlung häufig ab. In jedem Fall lassen sich Therapeut wie Patient auf einen langwierigen Prozess ein, der auch leicht misslingen kann. Nicht alle narzisstisch gestörten Menschen treten nach außen so auffällig in Erscheinung, dass ihr Streben nach Geltung sofort sichtbar wird. Vielleicht dem weiblichen Rollenklischee entsprechend, können narzisstisch gestörte Frauen bescheiden, besonders angepasst und sehr leise auftreten. Ihre narzisstische Einstellung, ihre heimliche Größe wird erst bei näherem Kennenlernen sichtbar. Marion, eine narzisstische Persönlichkeit So war Marion. Sie kam sehr kleinlaut in meine Praxis. Sie erzählte mir, dass sie von einem meiner Kollegen gleich wieder weggeschickt worden war. Er hatte ihr erklärt, man könnte keine zwei Therapien nebeneinander machen. Genau das strebte sie jedoch an. Sie war eine große, recht hübsche Frau Ende dreißig, naturblond, doch litt ihr Äußeres damals unter ihrem Gesicht, das wie zur Maske erstarrt schien. Ich dachte, sie vermeidet, mir ihr Gefühlsleben zu zeigen. Offenbar stand sie unter großem Druck. Auslösend für die Idee, außer zu ihrer Therapeutin auch noch zu einem Mann in Therapie zu gehen, sei ihre Fantasie während einer Meditation gewesen, während der sie in den Keller hinunterstieg und einem Mann begegnete, mit dem sie nichts anfangen konnte. Sie habe Zweifel, ob ihre Therapeutin, die ich nicht kannte, so viel von Männern verstünde, dass sie ihr da weiterhelfen könnte. Sie erzählte von ihrem Freund, den sie seit Jahren kannte, mit dem sie sich aber nur sporadisch traf. An Sexualität sei sie wenig interessiert, auch von dem Wunsch nach einem Kind sei nie die Rede gewesen. Ihr Vater habe sich wenig um sie gekümmert, anders als um ihre beiden jüngeren Brüder, mit denen er gerne gebastelt habe. Ihre Eltern stritten viel und ließen sich, als sie sieben Jahre alt war, auf 105 Betreiben der Mutter scheiden. Den Vater hatte sie seither wenig gesehen, vor einiger Zeit sei er verstorben. Er habe lange Zeit in Krankenhäusern verbracht, die Ärzte hätten eine Schizophrenie festgestellt. Die Familie lebte in der Zeit nach der Scheidung in großer Armut, nur von den Schwestern der Mutter unterstützt. Von den Brüdern lebt einer noch bei der Mutter und ist vielleicht ebenfalls psychisch krank. Während sie dies ohne sichtbare innere Anteilnahme erzählte, schienen ihr ihre Arbeitsstörung und ihr mangelhaftes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sehr wichtig zu sein. Ich versuchte, sie zu ihrer Therapie zu befragen, aber außer der Auskunft, dass ihre Therapeutin den Plan einer parallel verlaufenden zweiten Therapie unterstützte, erfuhr ich nicht viel. Sie stand zu dieser Frau in deutlicher Loyalität. Wenn jemand um eine Therapie ansucht, der noch woanders in Therapie ist, kann man ohne weiteres von Kritik an der Person dieses Therapeuten/ der Therapeutin oder an der gewählten Methode ausgehen. Diesen Gedanken ließ sie aber nicht aufkommen. Ihr ging es um ihre unsichere Haltung gegenüber Männern. Sie vermutete, dass ihre Therapeutin zu diesem Problem keinen guten Zugang hätte. Ich hatte noch nie von einem Fall gehört, in dem jemand zwei parallele Therapien macht. Normalerweise würde man das Anliegen abweisen, aber das würde sie ebenso wenig verstehen wie die Reaktion des Kollegen, der ihr abgesagt hatte. Ich war also unsicher, wie ich vorgehen sollte. In welche Loyalitätskonflikte würde Marion geraten? Wie wäre es, wenn ihre Therapeutin zu anderen Schlüssen kommen, ganz andere Konzepte verwenden würde? Natürlich erschien der Gedanke dieser Frau, mit Männern besser zurechtzukommen, legitim und versprach Erfolg, aber war er nicht auch verführerisch? Was könnte hinter ihrem Wunsch stecken, einen männlichen Therapeuten hinzuzuziehen? Offenbar wollte sie ihre Therapeutin nicht spüren lassen, dass sie mit ihrem Angebot unzufrieden war. Erst später erfuhr ich, dass diese chronisch krank war und seit einiger Zeit im Rollstuhl saß. Das würde erklären, warum sie unsicher war, wie lange ihr die Therapeutin noch zur Verfügung stehen würde und rechtzeitig wechseln wollte. Damals dachte ich auch daran, dass sie möglicherweise zwischen den Therapien „jonglieren“ wollte, so dass die Erfahrung in der einen Therapie die Erfahrung in der anderen neutralisieren würde. Oder wollte sie ein gut funktionierendes Therapeutenpaar haben, das sie für 106 die Entbehrungen ihrer Kindheit entschädigen sollte? Keine Therapie kann das versprechen. Sicher wäre es zu früh gewesen, ihr diese Überlegungen mitzuteilen, ich nahm mir jedoch vor aufzupassen, ob sie nicht irgendwann dazu neigen würde, die Grenzen der Therapie zu sprengen. Beruflicher Werdegang Ihr beruflicher und sozialer Aufstieg erschien mir bemerkenswert; schade war nur, dass sie selbst nicht angemessen stolz auf ihn sein konnte. Sie war immer eine gute, fleißige Schülerin, studierte nach dem Abitur Volkswirtschaft und erreichte auf Anhieb eine gute Position bei einer großen, bekannten Investitionsbank. Aber dort schien sie innerlich nie richtig angekommen zu sein, schien sich vielmehr ganz fremd zu fühlen. Von einer nörgeligen Vorgesetzten bedrängt, saß sie anfangs unschlüssig und verzweifelt bis spät in die Nacht an ihrem Schreibtisch und konnte die geforderten Berichte nur schwer und mit Verspätung zustande bringen. Ihre Angst zu versagen, von der ganzen Materie nichts zu verstehen und mit diesem Mangel aufzufallen, war schier unüberwindlich, und sie war von der Tatsache der eigenen Unfähigkeit völlig überzeugt. Wegen ihrer Selbstzweifel musste sie sich zwingen, mit den Vorarbeiten zu beginnen, brachte dann tatsächlich wenig zustande und kam in Verzug; ihre Vorgesetzte kritisierte sie für ihr „Trödeln“ und erkannte das Problem des überhöhten Anspruchs an sich selbst nicht, sonst hätte sie ihr Mut gemacht, lieber einmal etwas Unvollkommenes abzugeben. Mit dem Chic und der etwas leichtfertigen Arroganz der Bankenwelt, dem Jonglieren mit großen Geldmengen, die ganz abstrakt verstanden werden, konnte sie sich nicht anfreunden. Als dann tatsächlich eine schwere, allgemeine Finanzkrise ausbrach und sich zeigte, dass sie mit vielen Bedenken recht gehabt hatte, quittierte sie dies mit dem Lächeln heimlicher Überlegenheit. Kontakte zu den Kolleginnen und vor allem den Kollegen pflegte sie nicht. Sie fragte auch nicht, wenn sie Fragen hatte, die andere leicht hätten beantworten könnten, weil sie befürchtete, in ein unvorteilhaftes Licht gerückt zu werden. Sie wohnte in einer winzigen Neubauwohnung, die sie unbeheizt ließ. Ihre Aufgabe bestand in der Einschätzung möglicher Kreditnehmer und der Festsetzung von Limits für die Kreditgewährung. Sie wollte ihre Berichte so genau und unangreifbar wie möglich gestalten. 107 Dass das nicht geht, dass die Berichte der Rating-Agenturen ungenau sind und dass hier Hoffnungen auf die Zukunft verkauft werden und deshalb objektive Maßstäbe nicht greifen können, wollte sie nicht einsehen. Zudem musste sie erleben, dass vom Vorstand doch nach eigenen, oft politischen Kriterien entschieden wurde. Aber es verschaffte ihr keinerlei Entlastung, dass sie es nicht unbedingt so genau nehmen musste. Aus ihren früheren ärmlichen Verhältnissen brachte sie eine sehr ernste Einstellung zum Geld mit und sollte plötzlich über Milliarden entscheiden. Das überforderte sie. Neben ihrer Angst zu versagen hielt sie heimlich an der grandiosen Vorstellung fest, mit ihren Berichten die Welt auszuhebeln. Wenn sich erst einmal herumspräche, wie brillant sie eigentlich ist, würden sich ihre Kollegen vor Beschämung sicher umbringen. Genauso stellte sie sich auch plastisch vor, dass der Therapeut, der sie weggeschickt hatte, inzwischen verrückt geworden war und sich aus Verzweiflung angesichts der versäumten Arbeit mit ihr umgebracht hatte. Solche Vorstellungen teilte sie mir nicht in den Stunden mit, sondern benutzte dazu Mitteilungen auf meinem Anrufbeantworter oder warf mir seitenlange Briefe in den Briefkasten. Das war wie doppelte Buchführung. Sie wusste eben genau, was allgemein als logisch und vernünftig galt, und hielt sich in den Stunden daran, doch wusste sie eben besser, was in Wirklichkeit der Fall war. Auf diese Diskrepanz angesprochen, zuckte sie nur mit den Achseln und bemühte sich nicht sonderlich, ihre private Sicht der Dinge noch einmal zu überprüfen. Ihre Angst, Verantwortung wahrzunehmen, wurde erst vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte verständlich: Sie hatte in der Familie als sehr begabt gegolten, darin ihrer Mutter ähnlich, die nur durch ihr Flüchtlingsschicksal daran gehindert worden war, sich ihrer Begabung entsprechend zu entwickeln. Sie litt nun unter dem niemals erhobenen Vorwurf, sie hätte dem Vater helfen, d.h. sich mehr um ihn kümmern müssen. Sein Leiden und früher Tod hätten so vermieden werden können. Auch hier macht sich eine narzisstische Größen- und Rettungsfantasie bemerkbar. Die Arbeit Ihr Aufstieg aus eigener Kraft hatte mir gefallen, sie war recht offen gewesen und hatte nichts beschönigt, deshalb gab ich ihr eine Zusage. Doch wie sollte ich ihr helfen, ihre Ansprüche zu mäßigen? Auf direk- 108 tem Wege, indem ich sie überzeugte, dass das nicht notwendig und für sie sehr unbequem wäre, war das sicher nicht möglich. Ich musste sie mit ihren Kompensationsbedürfnissen und den dahinter liegenden Motiven vertraut machen, damit sie lernte, locker zu lassen. Erste Gelegenheit dazu ergab sich, als sie den Plan fasste, Trompete spielen zu lernen. Als Kind hatte sie Geige und Blockflöte gelernt, jetzt wollte sie Trompete spielen: „so gut wie Maria Callas singt“. Ich sagte ihr, dass sie vor einem großen Publikum glänzend dastehen möchte, was sie bejahte. Ungläubig schaute sie mich an, wenn ich davon sprach, welch ein unglücklicher Mensch die Callas war, wie abhängig vom rauschenden Beifall des Publikums. Ich wollte ihr so den Zusammenhang zwischen äußeren Erfolgen und einem unsicheren Selbstgefühl nahe bringen. Ich brachte das Gespräch auf die unglückliche Beziehung der Callas zu ihrer Mutter und die Neigung, sich ausbeuten zu lassen. Obwohl sie gerade ein Buch über sie gelesen hatte, waren ihr diese Aspekte offensichtlich völlig entgangen. Sie hielt beharrlich an ihrem Konzept fest und war dann unglücklich, wenn es mit der Trompete nicht recht voranging. Sie beschuldigte mich, nicht zu wollen, dass sie das lernt. So verkehrte sie meine Absicht, ihr eine Enttäuschung zu ersparen und sie auf einen wichtigen Zusammenhang hinzuweisen, ins Gegenteil und machte mich zu einem übel wollenden Tyrannen. Meinen Einwand, dass sie meine Aussagen veränderte, deutete sie als Missbilligung, nicht als Aufforderung zur Klärung ihrer Übertragung auf mich. Entsprechend wuchs die Spannung zwischen uns, und sie hatte Mühe, zu Beginn der Stunden einen Aufhänger für das Gespräch zu finden. Ich musste ihr dabei immer wieder helfen. Besonders schwierig und ziemlich befremdlich war ihr e Überzeugung, dass ich wie der Therapeut, der sie abgewiesen hatte, verrückt wäre. Meine Deutungen, dass sie das ja von ihrem Vater kannte, halfen nicht weiter. Sie erzählte von den beiden Ehemännern ihrer Tanten, die beide versucht hatten, sich ihr intim zu nähern. Sie sei dann nicht mehr hingegangen, obwohl sie ihre Tanten mochte. Als ich ihr sagte, dass sie immerhin in die Stunden zu mir komme, auch wenn sie nicht wisse, wie vertrauenswürdig ich sei, entwickelte sie starke Ängste, dass ich ihr zu nahe treten könnte. Schließlich sagte sie, dass ich ja ganz vernünftig wirken und auch gut spüren würde, was in ihr vorgeht, dass man aber nicht wissen könne, ob ich das nur vorspiele und man nie sicher sein könne; ich könnte ja plötzlich erkranken und mein ganzes Wesen würde sich dann verändern. 109 Schließlich beschwerte sie sich über ein Bild in meinem Behandlungsraum: Es zeigt eine Karikatur, in der ein deutlich erregter Freud auf eine verschüchterte Frau, seine Braut Martha, losspringt. Sie war irritiert, konnte das nicht als eine Karikatur verstehen und unterstellte mir, dass ich an solchen Situationen Gefallen fände. Sie habe auch gehört, dass Freud seine Tochter Anna analysiert hat, was doch unerhört sei. Zuletzt berichtete sie von Situationen, in denen die Familie voller Angst vor dem wütenden Vater ins Haus der Nachbarn geflüchtet war. Von diesem Augenblick an konnten wir dieses Geschehen und die damit verbundenen Ängste näher betrachten. Sie fand jetzt auch ganz in Ordnung, was sich zwischen Freud und seiner Tochter abgespielt hatte. Ihr Unbehagen an dem Bild blieb aber bestehen, und sie brachte mich schließlich dazu, es mit einem Tuch zu verhängen. Mein vorsichtiges „es ist ja nur verhängt, es ist noch da“, überging sie großzügig. Spannend fand ich, dass sie wieder ihr Konzept durchsetzte und sich mit meiner Erklärung „nur eine Karikatur, man kann darüber lachen, weil es eben nicht die Wirklichkeit wiedergibt“, nicht zufrieden gab. Für sie war das bitterer Ernst, und ich hatte das auch so zu sehen. Doch mein Eingehen auf ihren Vorschlag bewirkte, dass sie größeres Vertrauen zu mir fasste. Dabei wurde sie allerdings eher noch depressiver. Sich auf Beziehungen einzulassen, ist für narzisstisch gestörte Menschen ein großes Wagnis und nimmt ihnen einen wichtigen Schutz. Sich auf einen anderen Menschen einzulassen und sich eingestehen zu müssen, dass man ihn braucht, ist ihnen zu riskant, denn man könnte ja auch wieder fallen gelassen werden. Dabei konnte man die Erfolge der Therapie schon gut erkennen: Sie wirkte viel lebendiger und unternahm etwas mit Kolleginnen und Kollegen; wenn sie Probleme hatte, scheute sie sich nicht mehr, bei Kollegen nachzufragen, sie trat sicherer auf und lächelte vor Freude, als sie von den schönen Ferien mit dem Freund erzählte. Während ich sehr erfreut über ihre Mitteilungen war, wirkte sie unerlöst und unzufrieden. Offenbar mochte sie die Fortschritte nicht anerkennen. Vielleicht wollte sie mir nichts verdanken? Später sagte ich ihr einmal in Anlehnung an den Satz von Groucho Marx „ich werde doch keinem Club beitreten, der bereit wäre, einen wie mich als Mitglied zu akzeptieren“. Vielleicht denke Sie ja, der muss verrückt sein, wenn er mit jemandem wie mir gerne arbeiten möchte. Da lachte sie herzlich, nur um gleich sehr ernst hinzuzufügen: Das kann ich eben niemals glauben. Danach gab ich ihr eine längere 110 Erklärung: Sie hatte es ja auch schwer in ihrem Leben. Die Mutter war sehr mit den Brüdern beschäftigt und konnte sich in früher Kindheit nicht ausreichend um sie kümmern, während der Vater als Frauenhasser wenig mit ihr anfangen konnte und lieber mit ihren Brüdern bastelte, als sie wie eine Person wahrzunehmen, die ihm wichtig und wertvoll war. So erklärte sich ihre Scheu anderen gegenüber, da sie sich immer abgelehnt fühlte und von mir auch nichts anderes als Ablehnung erwarten konnte. Das beruhigte sie etwas und nahm ihr zunächst die Angst, dass etwas an ihr sein könnte, das andere Menschen abschreckt. Als ihre Therapeutin, deren Krankheit sich verschlimmert hatte, für sie plötzlich nicht mehr erreichbar war, drohte unsere Behandlung zu scheitern. Die Therapeutin hatte sie für einige Wochen in eine psychosomatische Klinik geschickt, wo sie sich leidlich wohl gefühlt hatte. Danach wollte sie auch bei mir aufhören: Es sei jetzt genug mit Therapie. Sie warf mir vor, ich hätte nur darauf gewartet, dass ihre Therapeutin nicht mehr würde arbeiten können und würde mich nun darüber freuen. Ich antwortete darauf, indem ich meine Person deklarierte: dass ich mich selbst kenne und genau wisse, dass das nicht der Fall ist; schließlich sei mir ganz klar, wie wichtig ihr die Zusammenarbeit gewesen war; sicher brauche sie Hilfe für die Verarbeitung dieses schmerzlichen Einschnitts. Das bewog sie einzulenken. Interessant, dass es an dieser Stelle eine Deklaration meiner eigenen Person war, die weitergeholfen hatte. Dabei wäre es eigentlich um die Frage gegangen, was es bedeutet, künftig der Macht und dem Einfluss eines einzigen Therapeuten ausgesetzt zu sein. Später schloss sie sich einer Selbsterfahrungsgruppe an. Die Wende Inzwischen hat sich das Klima in der Behandlung sehr gewandelt. Sie ist anhänglich geworden und gesteht mir ihre Liebe. Nun tritt das ein, was ich anfänglich befürchtet hatte: Sie drängt heftig darauf, ihre Wünsche ganz real erfüllt zu bekommen. Sie malt sich allerlei Situationen mit mir aus, die mir gewiss unangenehm sind. Mit einer Klärung der Lage und der Frage, was sie dadurch erreichen möchte, dass ich sie beispielsweise umarme, ändert sich nichts an ihrem Beharren auf ihren Wünschen. Dabei entsteht eine sehr warme, dichte Atmosphäre zwischen uns. Das würde bei anderen Patienten in der Regel 111 ausreichen, den Verdacht, dass ich sie ablehne, zu zerstreuen. Sie aber bleibt bei ihrer Auffassung, dass ihr das nicht genügt. Damit versucht sie mich zu manipulieren und missdeutet meine Motive, ihren mich bedrängenden Wünschen nicht nachzugeben. Sie beschäftigt sich nicht mit dem, was ich dazu sage. Ich habe also nur die Wahl nachzugeben und damit meine Potenz als Therapeut aufzugeben oder fest zu bleiben und das Risiko einzugehen, sie wegen meiner Ablehnung als Patientin zu verlieren. Bezeichnend ist, dass sie den Männern genau das vorwirft: Sie bedrängen die Frauen, mit denen sie schlafen möchten, aber die Frau als Person kümmere sie nicht weiter. Indem sie ihre Unzufriedenheit offen zum Ausdruck bringt, erkennt sie immerhin an, dass ihr viel an unserer Beziehung liegt. Ihre oft spröde, distanzierte Haltung der Anfangsphase hat sich jedenfalls völlig aufgelöst. Was sich an Stelle ihres früheren Narzissmus zeigt, ist eine starke, sehr fordernde Abhängigkeit. Wie ein Kind zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr scheint sie ohne enge Beziehungen und ihr liebevoll zugeneigte Menschen nicht auskommen zu können. Es hat den Anschein, dass wir lebensgeschichtlich an den Punkt zurückgekehrt sind, an dem das Problem einst seinen Ausgang genommen hatte. Sie erlebt nun, wie es ist, wenn sich die Eltern zu wenig um einen kümmern, und versucht, das Problem durch Übertragung auf meine Person zu lösen. Entsprechend klagt sie mich der Vernachlässigung an. Es ist durchaus verständlich, dass es ihr an einem solchen Punkt in der Behandlung nicht gut gehen kann, weil eine schwer erträgliche Kindheitssituation neu aufgelegt worden ist. Ihre Unzufriedenheit steht in scharfem Gegensatz zu dem, was ich als ihr Therapeut empfinde: Sie hat enorme Fortschritte gemacht, ist nicht mehr ausschließlich auf Leistung und Erfolg fixiert. Therapeuten sehen darin eine Reifung der Persönlichkeit. Für Marion ist es nur schrecklich. Die Behandlung ist noch nicht zu Ende, und es ist auch klar, dass es sich bei ihrer Einstellung zu mir um alles andere als eine reife Liebe handelt, die den anderen als eigenständige Person sieht und anerkennt. Es kommt nun darauf an, dass wir gemeinsam zu einem guten Ende kommen. Wird sie sich mit den Zielen, die ich mir für die Behandlung setze, identifizieren können? Wird sie über das Erreichte froh sein können, und wird sie das beibehalten können, was wir erarbeitet haben? Und kann sie sich von mir lösen, ohne erneut traumatisiert zu werden? 112 Kritisch anzumerken ist, dass wir vor Beginn einer Behandlung zwar darüber sprechen, dass wir unseren Patienten eine Menge zumuten, wenn wir sie zur Therapie einladen, was oft nicht leicht zu verkraften ist. Es wird ihnen zeitweise schlechter gehen als zuvor. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir das aussprechen, können sie jedoch nicht verstehen, was das bedeutet. Wir führen sie, ihr Einverständnis stillschweigend voraussetzend, innerhalb der Übertragungsbeziehung bewusst und gezielt zurück zu den traumatischen Kindheitssituationen, die für ihre aktuellen Schwierigkeiten bestimmend geworden sind. Das Ergebnis ist oft nicht sehr überzeugend, aber nach unserer Auffassung der einzig erfolgversprechende Weg zu einem etwas besseren Leben. 113 III. Der Niedergang des Subjekts und des Ichideals in der postmodernen Gesellschaft Um Aussagen über den Narzissmus, das Ichideal und die Stellung des Subjekts in der zeitgenössischen Gesellschaft machen zu können, ist es notwendig, über den psychoanalytischen Bereich hinauszugehen und soziale Faktoren zu berücksichtigen, die maßgeblich auf die einzelne Psyche einwirken. Obwohl über die vielfältigen Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Soziologie immer wieder in verschiedenen Kulturkreisen nachgedacht wird 1 , ist der sich wandelnde Nexus zwischen Narzissmus und Ichideal bisher nicht im Lichte soziologischer Theorien dargestellt worden. An soziologischen Versuchen, den Narzissmus im historischen Wandel zu erklären, fehlt es freilich nicht. Zu den bekanntesten gehören wohl Christopher Laschs Studien The Culture of Narcissism (1979) und The Minimal Self (1984), die jedoch der Komplexität des Phänomens - sofern es als soziologisches Phänomen betrachtet wird - nicht immer gerecht werden und das Verhältnis von Narzissmus und Ichideal kaum berühren. Trotz solcher Einwände ist Lasch recht zu geben, wenn er im Anschluss an David Riesmans Theorie der „einsamen Masse“ 2 von dem Gedanken ausgeht, dass das autonome, „innengeleitete“ (innerdirected) Individuum nach dem Zweiten Weltkrieg von „außengeleiteten“ (other-, outer-directed) Menschen abgelöst wird, die sich eher von der öffentlichen Meinung, der Werbung und den Medien leiten lassen, als einem „inneren Kompass“ zu folgen. Als Symptom dieses Niedergangs individueller Autonomie erscheint Lasch die Nachkriegsliteratur: „Weit davon entfernt, das Ich zu glorifizieren, schreiben Dichter und Romanautoren heute an der Chronik seines 1 Ein Beispiel ist der Aufsatz von K. O. Hondrich, „Latente und manifeste Sozialität. Anregungen aus der Psychoanalyse für eine Sozioanalyse“, in: P. Kutter (Hrsg.), Psychoanalyse interdisziplinär, Frankfurt, Suhrkamp, 1997. 2 D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters (1950), Reinbek, Rowohlt (1958), 1982, Kap. I: „Charakter“. 114 Verfalls.“ 3 Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass die nachmoderne Literatur vom Niedergang individueller Subjektivität zeugt. 4 Hinweise auf literarische oder künstlerische Symptome sind jedoch kein Ersatz für soziologische Recherchen. Nach Lasch haben Autoren wie Shahrsad Amiri, Hans-Joachim Busch, Andreas Wintels und Siegfried Zepf versucht, die soziologischen Grundlagen der Subjekt- und Narzissmus-Theorien zu stärken. Busch erinnert zunächst an die enge Verwandtschaft zwischen Riesmans Ansatz und dem Adornos, sofern es um den Niedergang individueller Subjektivität geht: „Wie Adorno selbst vermerkt, ist die Übereinstimmung seines Befundes mit Riesmans zeitdiagnostisch noch anspruchsvollerer These vom ‚außengeleiteten Charakter‘ augenfällig. Die Funktionen, die einst die väterliche Autorität innehatte, werden vollends von immer weniger erreichbaren, abstrakten gesellschaftlichen Autoritätsstrukturen übernommen und von jenen an den einzelnen um so unmenschlicher verübt.“ 5 Wie manche andere zeitgenössische Kritiker distanziert sich Busch vom „Pessimismus“ der Kritischen Theorie und erinnert am Ende seiner Studie im Anschluss an Anthony Giddens und Jürgen Habermas an die neu gewonnen Freiräume des zeitgenössischen Subjekts, das ihm als „mit mehr Freiheiten gesegnet, zugleich aber von größeren Unsicherheiten aufgrund abgestorbener Traditionen geplagt“ 6 erscheint. Die Auswirkungen dieses Traditionsverlustes kommen auch bei Andreas Wintels zur Sprache, dessen Kernthese lautet: „Ohne ausreichende soziale Rückversicherungsmöglichkeiten kämpft das Individuum ständig um sein narzißtisches Gleichgewicht.“ 7 Es käme darauf an, diese Metapher des „narzißtischen Gleichgewichts“ (oder „Ungleichgewichts“) psychologisch und soziologisch zu konkretisieren. 3 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus (1979), Hamburg, Hoffmann und Campe, 1995, S. 57. 4 Vgl. Vf., Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2001, Dritter Teil: „Intertextualität und Subjektivität in der Nachmoderne“. 5 H.-J. Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft, Weilerswist, Velbrück, 2001, S. 82. 6 Ibid., S. 266. 7 A. Wintels, Individualismus und Narzißmus. Analysen zur Zerstörung der Innenwelt, Mainz, Matthias-Grünewald Verlag, 2000, S. 25. 115 Zu konkretisieren wäre auch Siegfried Zepfs in Anlehnung an Lasch formulierte These, „daß der selbstbezogene Narzißt den Alltagscharakter in der modernen Gesellschaft darstellt“. 8 Soziologisch zu beantworten wäre die Frage, weshalb dies so ist und wie der zeitgenössische Narzissmus im Zusammenhang mit den Begriffen „Ichideal“ und „Idealich“ genauer bestimmt werden kann. Im Folgenden soll die Affinität zwischen Soziologie und Psychoanalyse durch die These veranschaulicht werden, dass das Ichideal, wie es von Freud bis Lacan beschrieben wurde, durch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen geschwächt und das Idealich gestärkt wird, so dass ein asozialer Narzissmus der Anomie (Durkheim), der Entfremdung (Marx, 1844) und des Imaginären (Lacan) entsteht. Von Laplanche und Pontalis wird dieses Idealich als „ein Ideal narzißtischer Allmacht [definiert], das nach dem Vorbild des infantilen Narzißmus geprägt ist“. 9 Es ist, wie sich gezeigt hat, mit Kohuts „infantilem Größenselbst“ vergleichbar. Die soziologischen Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und werden in den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels erörtert: l. Der Niedergang des liberalen Unternehmers in der Welt der Konzernwirtschaft, den Adorno und Horkheimer immer wieder zum Ausgangspunkt ihrer Kritik am Spätkapitalismus machen, wird ergänzt durch den Niedergang des Berufsethos in einer Gesellschaft, deren Berufsstruktur sich immer rascher wandelt, so dass der Beruf zum austauschbaren „Job“ wird. Eine der Folgen ist, dass der Einzelne kein berufliches Ichideal mehr vor Augen hat, sondern eher ein in der Freizeit gebildetes Idealich, das nur ihn etwas angeht und gesellschaftlich irrelevant ist. 2. Zugleich wird das Ichideal als gesellschaftliche Wertsetzung durch einen „Zerfall der Werte“ (Hermann Broch) ausgehöhlt, der durch die Systemdifferenzierung, die Marktgesetze und die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschärfenden politisch-ideologischen Konflikte beschleunigt wird. Diese bringen narzisstische Identifizierungen mit Führergestalten mit sich, die den Idealisierungsprozess ad absurdum führen und Wort-Werte wie „Nation“ oder „Vaterland“ in Verruf bringen. 8 S. Zepf, Lust und Narzißmus, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 1997, S. 130. 9 J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (1967), Frankfurt, Suhrkamp (1972), 1973, S. 217. 116 3. Der von Autoren wie Riesman, Mitscherlich und Lasch beschriebene Niedergang der Familie und des „symbolischen Vaters“ (des liberalen Unternehmers) hat eine Abkehr von väterlichen Ichidealen zur Folge und eine Hinwendung zum mütterlich-imaginären Idealich, wie bereits Thomas Ziehe gesehen hat. 10 4. Die den Marktgesetzen gehorchenden medialen Angebote beschleunigen den Wertewandel, schwächen das Ichideal als individuelle und kollektive Wertsetzung und begünstigen die Bildung eines fantastischen Idealichs, das stets labil geschichtet ist (wie „Second Life“ und das österreichische Fernsehprogramm „Starmania“ erkennen lassen). 5. Eine der Folgen ist die von Giampaolo Lai beschriebene „Identitätslosigkeit“, die in Francesco Remottis Plädoyer „gegen die Identität“ mündet. Diese Entwicklung scheint jede Art von subjektorientiertem Narzissmus ad absurdum zu führen. 6. An gegenläufigen Tendenzen fehlt es nicht: Seit Frauen die Berufswelt mitgestalten und deren Normen teilweise neu definieren, kommt es zur Bildung neuer beruflicher, politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer (Ich-)Ideale. Jedoch sind diese - wie die männlichen Ideale - gegen die hier genannten Entwicklungen keineswegs immun, wie sich im letzten Abschnitt zeigen wird. 1. Niedergang des Individualismus: Narzissmus als Kompensations- verhalten Adornos bekannte These, dass der wirtschaftlich und gesellschaftlich bedingte Niedergang des liberalen Individualismus den Narzissmus als Kompensationsverhalten des Einzelnen zur Folge hat, ist in einer postmodernen Gesellschaft, in der global agierende Großkonzerne sogar Regierungen ihren Willen aufzwingen, weiterhin aktuell. In dem von Adorno beschriebenen gesellschaftlichen Zusammenhang genügt es nicht, zwischen „gesundem“ und „krankem“ Narzissmus zu unterscheiden. Denn in der psychischen Krankheit des Einzelnen tritt die maligne Entwicklung der Gesellschaft als ganzer zutage. 10 Vgl. Th. Ziehe, Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert? , Frankfurt-Köln, Europäische Verlagsanstalt, 1978 (2. Aufl.), Teil 6. 117 In seiner Kritik an der „revidierten Psychoanalyse“ Erich Fromms und Karen Horneys stellt Adorno fest, „daß der Narzissmus in seiner heutigen Form nichts anderes ist als eine verzweifelte Anstrengung des Individuums, wenigstens zum Teil das Unrecht zu kompensieren, daß in der Gesellschaft des universalen Tauschs keiner je auf seine Kosten kommt“. 11 Die funktionale Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit der Individuen führt schließlich dazu, dass sich der Einzelne gezwungen sieht, selbst seine Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit hervorzuheben. Von den anderen, die auch vorwiegend mit sich selbst beschäftigt sind, wird sie kaum zur Kenntnis genommen. Karikaturhaft dargestellt: Jeder weist auf sich selbst - zumeist ohne Erfolg. Daher lautet Adornos komplementäre These, „daß das Individuum durch die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sich jeglicher spontanen und direkten Beziehung zwischen Menschen heute in den Weg legen, dazu gezwungen wird, seine ungenutzten Triebenergien auf sich selbst zu lenken“. 12 Die beiden Thesen ergänzen einander insofern, als der Verlust der Autonomie in der marktbedingten Anonymität dazu führt, dass der Einzelne erkennt, wie sehr er auf sich selbst angewiesen ist, und schon aus diesem Grund den anderen vorwiegend als Vorwand oder Hindernis betrachtet. Das im vorigen Kapitel entwickelte dialogische Modell sollte vor allem in diesem sozialen Kontext gedeutet werden. Es ist zwar stets möglich, im Rahmen von Therapien dialogische Beziehungen herzustellen, in denen der andere in seiner Andersheit erkannt und anerkannt wird; nach ihrer Rückkehr in den Alltag werden jedoch Patientinnen und Patienten immer wieder feststellen, dass sie vor allem Kunden und Partner (ein Wort aus dem Geschäftsleben) sind und den anderen meistens als Vorwand dienen - oder von ihnen gar als Hindernisse behandelt werden. In diesem Licht erscheinen Therapien als Versuche, ein „wahres Leben“ im „falschen“ (Adorno) einzurichten - oder zumindest zu mimen. In der Therapie wird das individuelle Subjekt zwar aufgefordert 11 Th. W. Adorno, „Die revidierte Psychoanalyse“, in: M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1973 (3. Aufl.), S. 105. Zum affirmativen Diskurs von Erich Fromm vgl. Vf., „Erich Fromm. Le discours affirmatif“, in: L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris (1974), L’Harmattan, 2005 (erw. Aufl.). 12 Th. W. Adorno, „Die revidierte Psychoanalyse“, op. cit., S. 105. 118 oder ermutigt, durch die Anerkennung des Anderen (im doppelten Sinne dieses Wortes) über sich selbst hinauszugehen und sich der Gesellschaft als Wertsystem zu öffnen; aber im Alltag wird es durch das instrumentelle, anonyme Verhalten der anderen wieder auf sich selbst und seinen malignen Narzissmus zurückgeworfen. Dieser ist nichts anderes als die Krankheit einer postmodernen Gesellschaft, in der - wie es bei Camus heißt - „niemand wiedererkannt wird“ („où personne n’est jamais reconnu“). 13 Das Individuum als liberaler Unternehmer, als notable 14 im Sinne des französischen 19. Jahrhunderts, hat die Initiative verloren und wird in der Nachmoderne der Anonymität der Zahl überantwortet. Es ist bald Vorwand für Politiker, Gewerkschaftsführer oder Werbefachleute, bald Hindernis für Konkurrenten auf dem Markt. Nur selten ist es Selbstzweck. Die Ichideale, die es in Religion, Beruf und Familie fand, lösen sich im Zuge der Säkularisierung, der Umgestaltung der Arbeitswelt und des Zerfalls der Familie auf. Nicht nur das Unternehmertum der liberalen Ära weicht in relativ kurzer Zeit einer globalen Konzernwirtschaft, auch Berufsbilder werden von einem beschleunigten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technischen Strukturwandel erfasst. Dazu heißt es bei Wintels: „Die Beschleunigung zerstört jenen psychischen Beistand der Menschen, der in der Beständigkeit von Objekten, lebenden wie unbelebten, liegt.“ 15 Sie zerstört nicht nur berufliche Identitäten und tradierte Berufsbilder, sondern auch die Ichideale, die mit diesen Identitäten und Bildern einhergehen. Denn sie erfasst das gesamte Berufsleben von der Ausbildung bis zur Berufsausübung, die wieder in Ausbildung als Weiterbildung oder Umschulung münden kann. Diese Vorgänge beschreibt Hartmut Rosa anschaulich in seinem Buch Beschleunigung: „Zunehmend häufiger finden sich etwa Ausbildungsphasen, die traditionell mit dem Jugendalter korreliert sind, auch im reiferen Alter und nach Abschnitten längerer Berufstätigkeit; ähnlich verhält es sich mit biografischen Phasen des Sichverliebens, des Heiratens und des Elternwerdens, während 13 A. Camus, „Le Malentendu“, in: ders., Théâtre, récits, nouvelles, textes établis et annotés par R. Quilliot, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1962, S. 178. 14 D. Halévy, La Fin des notables, Paris, Grasset, 1937. 15 A. Wintels, Individualismus und Narzißmus, op. cit., S. 171. 119 umgekehrt beispielsweise dauerhafte unfreiwillige Exklusion vom Erwerbsleben auch schon im Jugendalter erfahren werden kann.“ 16 Auf den Funktionswandel des Ichideals bezogen bedeutet dies: Der Einzelne, der die soziale Initiative an Konzerne, Organisationen und Verbände abtreten musste, sieht seine Möglichkeiten, kollektiv anerkannte Ideale zu verwirklichen, stark eingeschränkt. Routinearbeit in Gremien, nicht die Verwirklichung autonom bestimmter Ziele ist die Regel in seinem Berufsleben. Seine Vorstellungswelt verkommt immer mehr zur Privatangelegenheit, zumal er von den anderen zunehmend funktional als einsetzbare oder nichteinsetzbare Arbeitskraft, d.h. als Vorwand, nicht als Selbstzweck, behandelt wird. Der Beruf als Repertoire von Ichidealen verliert an Bedeutung: nicht nur weil er einem sich beschleunigenden sozialen Wandel unterliegt, sondern auch weil er als marktvermittelter, oftmals zeitlich begrenzter „Job“ auf eine Geldquelle reduziert wird, die außer dem Tauschwert keine Werte oder Ideale zur Verfügung stellt. Auf diese Situation reagiert das Einzelsubjekt mit Versuchen, sich jenseits der Arbeitswelt in der Freizeit zu verwirklichen: d.h. nicht im Produktionsbereich, sondern im Konsum. Die wachsende Konsumorientierung in der „nachindustriellen Gesellschaft“ haben Daniel Bell und Alain Touraine untersucht. 17 Sie hat u.a. zur Folge, dass die an die Arbeitswelt gebundenen Ideale des Unternehmers, Erfinders oder Forschers in vielen (nicht in allen) Fällen von Ideen und Zielsetzungen abgelöst werden, die dem Bereich des Idealichs angehören. In diesem Bereich herrschen infantile Größenfantasien vor, die mit dem unschätzbaren Vorteil ausgestattet sind, nicht an der Realität der Arbeitswelt und des Marktes zerschellen zu können. Sie gehorchen nicht dem väterlichen Realitätsprinzip (Freud), sondern der Fantasie des Mütterlich-Imaginären im Sinne von Lacan. Aus konservativer Sicht hat diese Entwicklung vor längerer Zeit der amerikanische Soziologe Daniel Bell in seinem bekannten Buch Die nachindustrielle Gesellschaft (The Coming of Post-Industrial Society, 1973) dargestellt. Sein Kerngedanke, dass der Kapitalismus die ihm eigene protestantische Produktionsethik selbst aushöhlt und dass 16 H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2005, S. 363. 17 Vgl. D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (1973), Frankfurt-New York, Campus, 1989 sowie A. Touraine, La Société post-industrielle, Paris, Denoël, 1969. 120 seine Entwicklung in eine spätmoderne Boheme à la Baudelaire mündet, gibt Anlass zu den folgenden Überlegungen: „Das aber führte zu einer Spaltung der Gesellschaftsstruktur. Denn während das System im Hinblick auf die Organisation von Produktion und Arbeit nach wie vor Vorsorge, Fleiß und Selbstdisziplin, Hingabe an die Karriere und den Erfolg verlangt, fördert es im Konsumbereich die Haltung des carpe diem, d.h. Verschwendung, Angeberei und die zwanghafte Jagd nach Amüsement. Eines freilich haben beide Bereiche bei aller Verschiedenartigkeit doch gemein: eine absolute Profanität, da das System keinerlei transzendente Ethik mehr kennt.“ 18 Die beiden Bereiche weisen noch weitere Gemeinsamkeiten auf, die Bell nicht sieht oder nicht wahrhaben will. Sie sind auf die Übertragung der Arbeitsdisziplin in den Konsumbereich zurückzuführen und bringen hybride Synthesen mit sich: die marktgerechte Organisation der Freizeit, die sehr viel „Vorsorge, Fleiß und Selbstdisziplin“ verlangt, die rigorose Kommerzialisierung des Sports, die viel mit Karriere und Selbstdisziplin und nur wenig mit carpe diem zu tun hat, die Selbstdisziplinierung der Joggers, der mit einer Stoppuhr unterwegs ist, und den tierischen Ernst des pensionierten Tennisspielers, der die Leistungsprinzipien seines Berufs unverändert in die Freizeitsphäre überträgt. Kurzum, Bell postuliert einen Gegensatz zwischen Bereichen, die in Wirklichkeit eine Einheit bilden, weil sie gleichermaßen dem Marktgesetz gehorchen. Die Freizeitindustrie (auch als Konsum und Amüsement) stellt keine Herausforderung an den Kapitalismus dar, weil sie integraler Bestandteil seiner Wirtschaft ist und entscheidend zu seiner Expansion beiträgt. Konsum und Wirtschaftswachstum bilden eine Einheit. In einem Punkt hat Bell jedoch recht: Die Freizeitwelt ist die profane Welt der - oft leistungsorientierten - Selbstverwirklichung. Sie ist, anders als die Berufswelt, nicht die Sphäre der religiösen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Ichideale, sondern die Sphäre des Imaginären, in der das Idealich als eigenwillig-egozentrische Größenfantasie herrscht. Sie ist sozialer Zufluchtsort der kommerziell organisierten infantilen Regression, an dem einem erwachsenen Mann sein Motorrad oder Modellflugzeug sehr viel mehr gilt als politische oder künstlerische Probleme. 18 D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, op. cit., S. 363. 121 Über den infantilen „Menschenpark“ schreibt Jürgen Wertheimer, er „beginn[e] sich zu füllen“: „Wenn auch mit ganz anderen Bewohnern als von den ‚Vordenkern‘ geplant: nicht anthropotechnisch gezüchtete Eliten bevölkern ihn, sondern marktgemachte, marktgerechte infantile Kunden.“ 19 Hier wird deutlich, dass Freizeit- und Dienstleistungsindustrie relativ neue Bereiche sind, die sich der Spätkapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg mit wachsendem Erfolg erschließt - wie vor allem die Tourismusbranche mit Pauschalreisen, „Wellness“ und „Animation“ zeigt. Die infantile Regression wird durch diese wirtschaftliche Entwicklung gefördert, weil die Pauschalreise den zur Passivität verurteilten Einzelnen ebenso entmündigt wie der organisierte fun während des Betriebsausflugs oder im „Seniorenheim“. In allen diesen Bereichen, vor allem aber in den Medien, wie sich im Zusammenhang mit „Second Life“ und „Starmania“ zeigen wird (vgl. Abschn. 4), kann sich individueller Narzissmus nur im Idealich, dem infantilen Größenselbst Kohuts, verwirklichen. Die an die Produktions- und Berufssphäre gebundenen Ichideale spielen in der Freizeit- und Konsumwelt kaum eine Rolle. Adorno und Lasch sind sich in dem Gedanken einig, dass narzisstisches Verhalten in dem Maße zunimmt, wie der Einzelne entmündigt, seiner Autonomie beraubt wird. Dies ist jedoch nur ein - wenn auch wesentlicher - Aspekt des Problems, der vor allem mit dem gesellschaftlichen Produktionsbereich als Berufsleben zusammenhängt. Der komplementäre Aspekt ist die scheinbare Freisetzung der Individuen in der Konsumsphäre, in der ihnen die Möglichkeit geboten wird, sich in marktgängigen, oft infantilen Handlungsmustern zu verwirklichen: als Abenteurer auf Safaris, als Entdecker exotischer Länder und Völker, als Sportpiloten, Mountainbiker, Windsurfer - als immer jünger wirkende Fahrer von schnellen Autos. In allen diesen Fällen wird das Idealich des Einzelnen angepeilt, das gesellschaftlich zwar unbedeutend ist, aber von Werbung und Wirtschaft durchaus ausgeschlachtet werden kann. Denn ihr Streben nach Selbstverwirklichung, nach Verwirklichung ihres infantilen Grö- 19 J. Wertheimer, „Geklonte Dummheit: Der infantile Menschenpark“, in: J. Wertheimer, P.V. Zima, Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, München, Beck, 2006 (6. Aufl. ), S. 58. 122 ßenselbst im Imaginären der Warenwelt, ist den Konsumenten viel wert und wird oft teuer bezahlt (im doppelten Sinne des Ausdrucks). Indirekt geht Lasch auch auf diese Problematik ein, wenn er von der Unfähigkeit des zeitgenössischen Menschen spricht, „Interesse an etwas zu finden, das über den eigenen Tod hinausreicht“. 20 Dieses „Etwas“ ist das Ichideal, das es auch in der postmodernen Gesellschaft zweifellos noch gibt und das eine Ausrichtung individuellen Handelns auf überindividuelle, kollektive Werte ermöglicht: auf politische Institutionen, wissenschaftliche Erkenntnisse, künstlerische Innovation oder ein transparentes und funktionierendes Rechtssystem. Seine Zukunft ist jedoch ungewiss. Hier sollte in einem ersten Schritt gezeigt werden, warum diese Ausrichtung individuellen Handelns auf Ichideale in der nachmodernen Gesellschaft immer problematischer wird: Der Einzelne, der in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft seine Autonomie eingeschränkt sieht, weil Entscheidungen zumeist in Kommunikationsprozessen, Gremien und Teams fallen, vermag immer seltener, eine ihm vorschwebende Idee zu verwirklichen. Selbstverwirklichung wird in zunehmendem Maße auf unverbindliche Art im Freizeitbereich praktiziert und systematisch vermarktet, wobei der Freiheitsanspruch, der mit ihr gemeinhin verknüpft wird, fragwürdig erscheint. Diese Entwicklungen begünstigen die Schwächung des Ichideals zugunsten eines im Imaginären verankerten Idealichs. Da soziologische Erklärungen häufig an einer gewissen Abstraktheit kranken, die ihnen den Vorwurf einbringt, die Wirklichkeit fernab von Fakten zu überfliegen, soll im Folgenden die These, dass der zeitgenössische Narzisst dazu neigt, das Ichideal gegen ein Idealich einzutauschen, konkretisiert werden. Sie soll vor allem auf die gesellschaftliche Wertproblematik, den Zerfall der bürgerlichen Familie und bestimmte Entwicklungen im Medienbereich bezogen werden. 2. Systemdifferenzierung und Arbeitsteilung, Ideologisierung und „Zerfall der Werte“ Fast jede gesellschaftliche Entwicklung weist widersprüchliche Aspekte auf, und die These, dass der Einzelne in der globalen Konzern- 20 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 266. 123 wirtschaft der Nachmoderne entmündigt wird, mag nicht in allen Ohren gleich plausibel klingen. Im Anschluss an Soziologen wie Ulrich Beck und Anthony Giddens beschreibt beispielsweise Elisabeth Beck- Gernsheim die „Freisetzungsprozesse“, die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt werden und dem individuellen Subjekt größere soziale Spielräume bieten: „(...) schneller wirtschaftlicher Wiederaufbau und Erhöhung des Lebensstandards, Ausweitung sozialstaatlicher Sicherungsleistungen und Arbeitszeitverkürzung, Bildungsexpansion, soziale und geographische Mobilität“. Beck-Gernsheim kommentiert: „Das Zusammentreffen all dieser Entwicklungen brachte einen Freisetzungsprozeß von bislang unbekannter Reichweite.“ 21 Das ist zweifellos richtig, aber auch hier sind gegenläufige Tendenzen zu beobachten. Die Sicherungsleistungen des Staates gehen mit einem staatlichen Interventionismus einher, der bis in die Familie hineinreicht; die schnell aufeinander folgenden Bildungsreformen, die der „Bildungsexpansion“ Rechnung tragen sollen, laufen letztlich auf eine drastische Verkürzung der Studienzeit und auf eine noch nie dagewesene Reglementierung des Studiums hinaus. Beide Maßnahmen schwächen in einem frühen Stadium der menschlichen Entwicklung die individuelle Autonomie. Sie tragen auch dazu bei, dass Humboldts Ideal der „Einheit von Lehre und Forschung“, zu dem sich noch zahlreiche Universitätsdozenten bekennen, ausgehöhlt wird. Es ist im Rahmen von Regelstudien kaum noch zu verwirklichen. Spätestens hier wird deutlich, dass die Freisetzung des Einzelnen aus Zwängen der Tradition, die Giddens auch als disembedding 22 bezeichnet, in neue Zwangslagen mündet, in denen subjektive Autonomie abermals in Frage gestellt wird. Ihre Schwächung hängt gerade mit dem Zerfall von Traditionen zusammen, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für ein starkes Ichideal im religiösen, politischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Sinne bürgten. Dieses Ichideal wird nicht nur durch die Einschränkung individueller Autonomie in einer staatlich gestützten Konzernwirtschaft und ihrer entmündigenden Freizeitindustrie ausgehöhlt, sondern auch 21 E. Beck-Gernsheim, „Individualisierungstheorie: Veränderungen des Lebenslaufs in der Moderne“, in: H. Keupp, Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1998 (3. Aufl. ), S. 132. 22 Vgl. A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1991, S. 17-20. 124 durch komplementäre gesellschaftliche Entwicklungen. Zu ihnen gehören Systemdifferenzierung, Arbeitsteilung, die ideologische Zersplitterung der Gesellschaft und der „Zerfall der Werte“ (Broch) in postmoderner Indifferenz. Luhmann spricht von der „Ausdifferenzierung des Systems mit Hilfe besonderer Sinngrenzen“ 23 und gibt damit zu verstehen, dass es Sinnkonstitution und Sinn nur innerhalb von Systemen wie „Religion“, „Recht“, „Politik“, „Wirtschaft“, „Wissenschaft“ oder „Kunst“ gibt. Aussagen, die im System „Religion“ für sinnvoll oder bedeutsam gehalten werden, können im Rechts- oder Wissenschaftssystem für sinnlos erklärt werden - und umgekehrt. Die in der Moderne beschleunigte Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autonome, autopoietische Systeme führt nicht nur dazu, dass Systeme funktional nicht austauschbar sind („Recht“ kann nicht durch „Religion“, „Kunst“ nicht durch „Wissenschaft“ ersetzt werden), sondern auch dazu, dass Wertsetzung in zunehmendem Maße systemspezifischen Charakter annimmt. Was in einem System als wertvoll gilt, kann in einem anderen System als belanglos angesehen werden. Für die Entwicklung des Ichideals bedeutet dies, dass es durch die fortschreitende gesellschaftliche Differenzierung geschwächt wird. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa im Wilhelminischen Deutschland oder in Österreich-Ungarn, religiöse Ideale - zumindest offiziell - noch systemübergreifend wirkten und das Bildungsbürgertum gemeinsam mit dem Adel die Allgemeingültigkeit künstlerischer Werte verkündete, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Religion und Kunst nach und nach in „Systeme“ oder „Felder“ verbannt, die Luhmann und Bourdieu später beschrieben. In einer solchen Situation gelten religiöse oder künstlerische Ichideale nur noch in klar begrenzten Bereichen. Außerhalb dieser Bereiche kann ihr Anspruch zurückgewiesen, ihr Sinn angezweifelt werden. 24 Dadurch wird das (religiöse, künstlerische) Ichideal relativiert und in seiner Wirkung dem Idealich angenähert, das über die Privatsphäre nicht hinausreicht. 23 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 96. 24 Vgl. Vf., Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen-Basel, Francke, 2008, Kap. VIII: „Ende der Literatur und der Kunst? “ 125 Der Geistliche erhebt nicht länger den Anspruch, bei Taufen, Hochzeiten oder Begräbnissen Prinzipien oder Ideale zu verkünden, die für die gesamte Gesellschaft (und für alle Anwesenden) gelten. Immer häufiger beschränkt er sich auf das Ritual, das man von ihm bei solchen Gelegenheiten erwartet. Er hat sich damit abgefunden, dass er in und vor einer säkularisierten Gesellschaft auftritt. 25 Deutsche und französische Diskussionen über Literatur und Kunst zeugen von einer analogen Entwicklung im ästhetischen Bereich. Symptomatisch für diese Entwicklung ist Bodo Kirchhoffs Bemerkung, die Günter Seubold in seiner Studie über Das Ende der Kunst zitiert: „Es gab bei uns eine Zeit, in der Schriftsteller Einfluß auf die öffentliche Meinung hatten. Diese Zeit ist vorüber... Wir sind Kollegen in der Ohnmacht.“ 26 In Yves Michauds La Crise de l’art contemporain geht es u.a. um die eingeschränkte Legitimität zeitgenössischer Malerei, die der ideologischen Zersplitterung und der postmodernen Indifferenz zum Opfer fällt: „In der heutigen Zeit koexistiert alles konfliktfrei, weniger im Frieden der Koexistenz als in dem der Indifferenz, d.h. ohne Austausch: für jeden Geschmack etwas. Alle Produkte beanspruchen die gleiche Legitimität, ohne hoffen zu können, dass ihnen diese Legitimität oder eine Aufwertung jemals zuteil wird.“ 27 Undenkbar wird in dieser Situation der Universalanspruch von Literatur und Kunst, den noch Marcel Proust zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkündete. Sein Ichideal, das in dem von religiösen Konnotationen begleiteten „Jüngsten Gericht“ der Literatur zum Ausdruck kam, hat endgültig seine gesellschaftliche Legitimität eingebüßt. Auch politische Ideale, die mit der Nation, der Freiheit oder der Weltrevolution zusammenfallen, sind nur noch in bestimmten Kontexten artikulierbar und werden selten von einem gesellschaftlichen Konsens getragen. Dies hängt vor allem mit dem Missbrauch der Ichideale durch die ideologischen Diskurse der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- 25 Vgl. J. Matthes, Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Bd. I, Reinbek, Rowohlt, 1967, S. 93. 26 B. Kirchhoff, in: G. Seubold, Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der Ästhetik. Philosophische Untersuchungen zu Adorno, Heidegger und Gehlen in systematischer Absicht, Freiburg-München, Alber, 1998 (2. Aufl.), S. 39. 27 Y. Michaud, La Crise de l’art contemporain. Utopie, démocratie et comédie, Paris, PUF (1997), 2006, S. 62. 126 derts zusammen. Jahrzehntelang förderten Faschismus, Nationalsozialismus und Marxismus-Leninismus eine falsche, krankhafte Idealität im Sinne von Chasseguet-Smirgel, die entscheidend zum Verschleiß politischer Ideen und zu ihrem Niedergang in der Postmoderne (nach dem Zweiten Weltkrieg) beigetragen hat. Die blinde Identifikation mit dem Duce, dem Führer oder Stalin, die alle sozialen Systeme erfasste und bis in die Kunst hineinreichte, konnte nach dem Scheitern des Totalitarismus nur eine anhaltende Desillusion zur Folge haben. Zeitgenössische Politiker sind deshalb eher mit Parteipolitik und Wahlstrategien beschäftigt als mit Visionen oder Wertsetzungen, die auch außerhalb des politischen Systems zu Ichidealen werden könnten. Für die Stabilität des Subjekts und seinen Narzissmus scheinen solche Wertsetzungen jedoch unverzichtbar zu sein. Dazu bemerkt Andreas Wintels: „Die Selbstpsychologie betont den zentralen Stellenwert von Werten, Idealen und Ambitionen für die Intaktheit des Selbst und Stärkung des Selbstgefühls.“ 28 Ohne sich der hier eingeführten Terminologie zu bedienen, evoziert Wintels den Unterschied zwischen Ichideal und Idealich, wenn er an anderer Stelle bemerkt: „Die Flucht zu fiktiven Ideal-Bildern (...) ist nur ein Schutzmittel gegen die Entbehrung einer sinnstiftenden Einheitserfahrung.“ 29 Mit anderen Worten: Die Flucht ins Imaginäre, zum Idealich ist auch eine narzisstische Reaktion auf den hier beschriebenen Sinn- und Legitimitätsverlust, der mit der sozialen Differenzierung und der ideologischen Fragmentierung einhergeht. Diese Reaktion wird durch die soziale Arbeitsteilung begünstigt, die dem Differenzierungsprozess innewohnt. Das arbeitsteilige Prinzip, das Durkheim als funktionale Differenzierung und als Grundlage der „organischen Solidarität“ auffasst, bringt ein Spezialistentum hervor, das konsensfähige Wertsetzungen oder Ichideale ausschließt. Der Spezialist - ob Betriebswirt, Wissenschaftler oder Ministerialbeamter - konzentriert sich innerhalb seines Systems zumeist auf einen kleinen Ausschnitt der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Verwaltung, der von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wird und von ihr daher auch nicht als gesamtgesellschaftliches Ideal erkannt werden kann. Selbst wenn der Spezialist seine Tätigkeit narzisstisch besetzt, kann er kaum hoffen, dass seine Erfolge von einem breiteren Publi- 28 A. Wintels, Individualismus und Narzißmus, op. cit., S. 163. 29 Ibid., S. 19. 127 kum anerkannt werden. Verständnis für sein Ichideal kann er allenfalls von seiner unmittelbaren kollegialen Umgebung erwarten. Das Ichideal erscheint somit als auf ein besonderes System und innerhalb dieses Systems auf einen - oft winzigen - Handlungsbereich eingeschränkt. Dies kann zur Folge haben, dass der Einzelne seinen Beruf nicht als Berufung erlebt, umwälzende Veränderungen oder Neuerungen herbeizuführen, sondern rein funktional: als „Job“, der von den meisten Laien nicht verstanden wird. Seinen Narzissmus befriedigt er möglicherweise im Idealich der Freizeit, in der er als Taucher, Bergsteiger oder Sportflieger eher bewundernde Blicke auf sich ziehen kann. Denn die meisten Freizeitaktivitäten haben den Vorteil, dass sie von Nichtbeteiligten eher verstanden werden als technische, juristische, wissenschaftliche oder medizinische Berufe. Vom „Werteverlust in den westlichen Industrienationen“ 30 ist im Zusammenhang mit dem Narzissmus häufig die Rede. Soziologisch betrachtet ist es jedoch keineswegs so, dass es in den zeitgenössischen Gesellschaften keine oder „immer weniger“ Werte gibt. Im Gegenteil, es koexistieren zahlreiche Wertsysteme religiösen, ideologischen oder beruflichen Ursprungs, die z.T. unvereinbar sind. Sie widersprechen einander so, wie Luhmanns Systeme einander widersprechen: Jedes von ihnen gründet auf anderen Zielsetzungen, Regeln und Idealen. Jedes verwendet besondere Sprach- und Kommunikationsformen, die in den anderen kaum verstanden werden. So ist es beispielsweise nicht möglich, die Anliegen einer Wissenschaft ohne Verzerrungen in Systemen wie „Religion“ oder „Kunst“ wiederzugeben. Dies meint Hermann Broch, wenn er in seiner Romantrilogie Die Schlafwandler (1931/ 32) vom „Zerfall der Werte“ spricht. Von den verschiedenen „Wertgebieten“ heißt es dort: „(...) Gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines ‚Geschäftemachens an sich‘ neben einem künstlerischen des l’art pour l’art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes autonom, jedes ‚an sich‘, ein jedes in seiner Autonomie ‚entfesselt‘, ein jedes bemüht, mit aller Radikalität seiner Logik die letzten Konsequenzen zu ziehen und die eigenen Rekorde zu brechen. Und wehe, wenn in diesem Widerstreit von Wertgebieten, 30 H.-P. Röhr, Narzißmus. Das innere Gefängnis (1999), München, DTV, 2006 (4. Aufl.), S. 156. 128 die sich eben noch die Balance halten, eines das Übergewicht erhält, emporwachsend über allen anderen Werten, emporwachsend wie das Militärische jetzt im Kriege oder wie das ökonomische Weltbild, dem sogar der Krieg untertan ist, - wehe! Denn es umfaßt die Welt, es umfaßt alle anderen Werte und rottet sie aus wie ein Heuschreckenschwarm, der über ein Feld zieht.“ 31 Der „Zerfall der Werte“ erscheint hier als eine Folge des sich verschärfenden Antagonismus zwischen gesellschaftlichen Wertsystemen, die einander durch ihre bloße Existenz in ihren Ansprüchen, Normen und Zielsetzungen negieren. Zwischen diesen Systemen, von denen ein jedes auf einem kollektiven Narzissmus gründet, kann kein gesamtgesellschaftliches Ichideal entstehen, an dem sich ein Narzisst orientieren könnte. Schlimmer noch: jedes Ichideal, das in einem der Wertsysteme als erstrebenswert erscheint, wird von den anderen Wertsystemen relativiert oder gar bagatellisiert. Ähnlich wie die Koexistenz von Luhmanns funktionalen Systemen führt das Nebeneinander und Gegeneinander von Brochs Wertgebieten dazu, dass Werte, Ideale und Ichideale einen partikularen, lokalen Charakter annehmen und sich gegenseitig in Frage stellen. Dies hat abermals zur Folge, dass narzisstische Individuen ihr Heil eher im Imaginären und im Idealich suchen als in der realen Welt der Ichideale. Denn diese werden nicht nur durch die Koexistenz heterogener Systeme und Wertbereiche relativiert, sondern auch durch ideologische Auseinandersetzungen diskreditiert. In einer Gesellschaft, in der bei jedem Wahlkampf konservative, liberale, sozialistische, nationalistische, „grüne“ und feministische Rhetoriken den Verschleiß der Sprache beschleunigen und ihre Wort- Werte entwerten, setzt sich eine Skepsis gegenüber allen Ideen und Idealen durch, die an Unglauben grenzt. Der Linguist und Semantiker Algirdas J. Greimas sieht es so: „Die Geschichte des Turmbaus zu Babel wiederholt sich: Die Vielzahl der Diskurse, die sich wechselseitig durchdringen und umschlingen, von denen ein jeder seine Wahrheitskriterien hat, die terrorisierende oder verächtliche Konnotationen mit sich führen, kann nur eine Situation der Entfremdung durch die 31 H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/ 32), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 498. 129 Sprache hervorbringen, die bestenfalls in einer Ära des Unglaubens ausmündet.“ 32 In einer solchen gesellschaftlichen Situation fällt es schwer, Werte und Ichideale, die stets sprachlich artikuliert werden, für verbindlich zu halten und zu verwirklichen. Denn der Glaube an bestimmte Werte hängt auch von deren Konsensfähigkeit ab. Wo ein Wert täglich relativiert oder gar angefochten wird, dort büßt er mit der Zeit seine Glaubwürdigkeit ein. Dies gilt auch für die Ichideale, die in bestimmten Wertsystemen verankert sind. Im Gegensatz zu ihnen hat das Idealich rein persönlichen Charakter, weil es aus der infantilen Größenfantasie des Einzelnen hervorgeht. Es steht nicht im Dienst eines Kollektivs - einer Nation, einer Partei oder einer Organisation -, sondern ist rein individuell. Es antwortet nicht auf die Frage, was der Einzelne im Namen des Kollektivs leistet, sondern auf die Fragen, die Shahrsad Amiri im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Narzissmus aufwirft: „Narzißmustheoretisch bewegen wir uns damit von der Selbstwertauf die Selbstebene: Von der Achtung und Anerkennung zur Beachtung und Erkennung. Von der Frage ‚Wie bin ich? ‘ / ‚Bin ich nicht toll? ‘ zu der Frage: ‚Bin ich? ‘.“ 33 Beide Fragen beziehen sich auf das Idealich und sind unabhängig von Kollektiven und ihren Ichidealen. Der hier skizzierte gesellschaftliche Zusammenhang wird in der Postmoderne - viel stärker als in der Moderne 34 - von einem Wert eingefasst, der tendenziell alle kulturellen (religiösen, moralischen, politischen oder ästhetischen) Wertsetzungen negiert: vom Tauschwert der Marktwirtschaft. Schon Hermann Broch war bewusst, dass ihm als Wert-Unwert die Zukunft der Moderne (in der Postmoderne) gehörte. Luhmann fasst zwar die Beziehungen zwischen den von ihm beschriebenen sozialen Systemen als von Reziprozität und Gleichgewicht gekennzeichnet auf, aber seine Kritiker fragen nicht zu Unrecht nach der Dominanten unter den Systemen. Vom Verhältnis der Wirtschaft zu den anderen Systemen sagt William Rasch in seiner Kritik 32 A. J. Greimas, Du Sens II, Paris, Seuil, 1983, S. 109. 33 S. Amiri, Narzißmus im Zivilisationsprozeß. Zum gesellschaftlichen Wandel der Affektivität, Bielefeld, Transcript, 2008, S. 333. 34 Zur Abgrenzung von Moderne, Spätmoderne und Postmoderne vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2001 (2. Aufl.), Kap. I. 130 an Luhmann: „Aber eben weil sie diese Systeme braucht, determiniert sie diese Systeme; sie determiniert ihren Funktionsmodus.“ 35 Durch die Dominanz der Wirtschaft, die der Dominanz der Religion im Feudalismus analog ist, setzt sich die Herrschaft des Tauschwerts in der Postmoderne auf allen Ebenen durch - und zusammen mit ihr die Indifferenz als Austauschbarkeit aller Wertsetzungen. Der „Nihilismus des Tauschwerts“ 36 , von dem Gianni Vattimo in seinem Buch über das Ende der Moderne spricht, ist letztlich für den Niedergang der Ichideale und für den Aufstieg des Idealichs in der Postmoderne verantwortlich. In einer Situation, in welcher der einzige von allen gleichermaßen anerkannte Wert der Geldwert ist, der die Kommunikation zwischen den Systemen und Wertbereichen regelt, verlieren Ichideale im religiösen, politischen, moralischen oder künstlerischen Sinn ihre Konsensfähigkeit und ihre Glaubwürdigkeit als gesellschaftliche Fakten, als faits sociaux im Sinne von Durkheim und Marcel Mauss. 37 Das individuelle Idealich hingegen gedeiht in Austauschbarkeit, Indifferenz und Beliebigkeit, weil es nicht den Anspruch erhebt, über die Partikularität des individuellen Größenselbst hinauszugehen. In diesem gesellschaftlichen Kontext ist ein konkreteres Verständnis des im vorigen Kapitel entwickelten Modells möglich. Wo Ichideale unglaubwürdig werden, dort ist der Einzelne auf sich selbst angewiesen: auf seine besonderen, privaten Vorstellungen. Alles, was über den Bereich individueller Subjektivität hinausgeht, wird abgewertet oder vernachlässigt. Überindividuelle, kollektive Werte, die Individuen miteinander verbinden, solidarisieren, treten in den Hintergrund und werden durch Vorstellungen ersetzt, die dem Bereich des Idealichs angehören. In diesem Bereich erscheint der andere vorwiegend als Vorwand oder gar als zu meidendes oder zu beseitigendes Hindernis - nicht als Vertreter einer Wertgemeinschaft, als Ko- Subjekt. Der Therapeut kann zwar versuchen, die verlorene Wertgemeinschaft auf intersubjektiver Ebene wiederherzustellen; er kann aber die destruktiven Auswirkungen der Differenzierung, der Arbeitsteilung, 35 W. Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation, Stanford, Univ. Press, 2000, S. 207. 36 G. Vattimo, La fine della modernità. Nichilismo ed ermeneutica nella cultura post-moderna, Mailand, Garzanti, 1985, S. 29. 37 Vgl. B. Karsenti, Marcel Mauss. Le fait social total, Paris, PUF, 1994. 131 der ideologischen Konflikte und der Marktgesetze auf das soziale Gefüge nicht ungeschehen machen. Adornos Gedanke, dass der Einzelne mit seinem Narzissmus das Leid kompensiert, das ihm die spätkapitalistische Gesellschaft zufügt, ist zwar richtig, sollte aber durch die Überlegung ergänzt werden, dass das Idealich als Idealersatz das individuelle Subjekt isoliert. Seine grandiosen Freizeitvorstellungen kaschieren lediglich die Tatsache, dass es zunehmend vereinsamt. 3. Der Zerfall der Familie und der Rückzug des symbolischen Vaters Auf mikrosoziologischer Ebene erscheint der Zerfall der Familie als Hauptgrund für den Niedergang des Ichideals in der postmodernen Nachkriegsgesellschaft und als Konkretisierung der makrosoziologischen Prozesse. Denn die Familie ist oder war die kleinste Wertgemeinschaft, in der das Überich und das Ichideal, „ein Ideal, das in der patriarchalen Familie den Sohn an den Vater bindet“ 38 , zustande kamen; in der Mutter und Vater als Vorbilder der heranwachsenden Kinder die Werte der Gesamtgesellschaft oder zumindest eines ihrer Bereiche verkörperten. Als Vertreter der symbolischen Ordnung soll in Lacans Theorie der Vater dafür sorgen, dass sein Sohn nicht im Imaginären verharrt, sondern in die soziale Welt der Sprache und der Sprechenden aufgenommen wird. Lacan erklärt: „Die eigentliche Funktion des Vaters besteht darin (...), ein Verlangen mit dem Gesetz zu verbinden (statt zu entzweien).“ 39 Es geht hier, wie Markos Zafiropoulos zu Recht bemerkt, nicht um den realen, sondern um den sozialen, den symbolischen Vater. 40 Was geschieht aber, wenn das Gesetz unbestimmbar wird wie in Kafkas Prozess-Roman, weil das Wertsystem, aus dem es hervorging, zerfiel? In einer solchen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation büßt der reale Vater seine Autorität ein, gibt das väterliche Ichideal auf und verlässt häufig die Familie, um sich der „Selbstverwirklichung“ im Idealich zu widmen. Verallgemeinernd stellt Christopher Lasch fest, 38 M. Zafiropoulos, Lacan et les sciences sociales. Le déclin du père (1938-1953), Paris, PUF, 2001, S. 232. 39 J. Lacan, Ecrits, Paris, Seuil, 1966, S. 824. 40 Vgl. M. Zafiropoulos, Lacan et les sciences sociales, op. cit., S. 205. 132 „daß viele Beobachter die Abwesenheit des Vaters für den auffallendsten Aspekt der zeitgenössischen Familie halten“. 41 Nicht nur der Zerfall des gesellschaftlichen Wertsystems, der symbolischen Ordnung, schwächt die Stellung des Vaters innerhalb der Familie, sondern auch der Übergang von der liberalen Wirtschaftsform zur Konzernwirtschaft und die ihn begleitende Intensivierung der Arbeitsteilung, die häufig auf eine Fragmentierung der Arbeit hinausläuft. Diesen Prozess hat Alexander Mitscherlich in seinem bekannten Werk über die „vaterlose Gesellschaft“ anschaulich beschrieben: „Die fortschreitende Arbeitsfragmentierung im Zusammenhang mit maschineller Massenproduktion und einer komplizierten Massenverwaltung, die Zerreißung von Wohn- und Arbeitsplatz, der Übergang vom selbständigen Produzenten in den Stand des Arbeiters und Angestellten, der Lohn empfängt und Konsumgüter verbraucht, hat unaufhörlich zur Entleerung der auctoritas und zur Verringerung der innerfamiliären wie überfamiliären potestas des Vaters beigetragen.“ 42 Im Anschluss an Mitscherlich stellt Siegfried Zepf den Niedergang der väterlichen Autorität um die Jahrtausendwende dar. Es zeigt sich, dass Mitscherlichs Bestandsaufnahme aus den 60er Jahren kaum an Aktualität verloren hat: „Vom selbständig disponierenden und verfügenden, ihr eigenes Leben wie das ihrer Familie bestimmenden, autonom handelnden Subjekt wandelten sich die Väter in Angestellte in einem zunehmend anonymer werdenden gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß, in dem sie kaum weniger hilflos wurden, als es ihre Kinder waren.“ 43 Das Ende des Satzes deutet auf den Nexus zwischen Entmündigung, Schwächung des Subjekts und Infantilisierung in der Fungesellschaft hin. Diese komplementären Prozesse führen dazu, dass das „infantile Größenselbst“ als Idealich allmählich an die Stelle der zerfallenden Ichideale rückt. Die von Mitscherlich und Zepf beschriebene Entwicklung erfährt in der Postmoderne eine Beschleunigung, die ihre Auswirkungen auf die Familie und die individuelle Psyche weiter intensiviert. Hartmut Rosa zeigt, wie die Fragmentierung der Arbeit, des Zeit- und Raumempfindens sowie des Alltags die Kohärenz der Subjektivität in Frage 41 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 267. 42 A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie (1963), München, Piper, 1973 (10. Aufl.), S. 183. 43 S. Zepf, Lust und Narzißmus, op. cit., S. 127. 133 stellt: „Denn die in der alltäglichen Identitätsarbeit zu leistende Verknüpfung der Zeithorizonte des Alltags, des je eigenen Lebens und der historischen Epoche wird außerordentlich prekär, wenn am Anspruch einer Autonomie des Subjekts festgehalten werden soll.“ 44 Anders gesagt: Die beschleunigten Prozesse der Differenzierung, der Arbeitsteilung und der ideologischen Fragmentierung der sozialen Welt stellen die Kohärenz des Subjekts in Frage und führen dazu, dass der Vater als Angestellter, Beamter oder Arbeiter es vorzieht, sein Heil beim Idealich der Freizeit zu suchen, statt einem beruflichen oder erzieherischen Ichideal nachzueifern. Seine Trennung von der Familie kann verschiedene Formen annehmen - je nach Situation und Neigung. Es kann eine räumliche Trennung sein, die mit der Anbahnung einer neuen Beziehung einhergeht, von der sich der sich selbst suchende Narzisst Verjüngung und ein neues Leben verspricht. Es kann auch eine Art „innerer Emigration“ innerhalb der Familie sein, die zur Folge hat, dass der Vater sich um die Erziehung der Kinder kaum kümmert, sie der Mutter überlässt oder das Problem durch häufige Abwesenheit meidet. Winfrid Trimborns Berichte aus der eigenen therapeutischen Praxis scheinen die Diagnosen von Mitscherlich und Lasch zu bestätigen. Von einer fünfunddreißigjährigen Frau, die er eine Zeit lang behandelt hat, heißt es: „Den Vater, der in ihrer Schilderung nicht vorkam, beschrieb sie auf meine Nachfrage als einen völlig schwachen und abhängigen Mann, dem in ihrem Zuhause keinerlei Bedeutung zukam.“ 45 In manchen Fällen kann „Abwesenheit des Vaters“ auch seinen Tod bedeuten: „Katjas Vater kam schon vor ihrer Geburt durch einen Schuß Heroin zu Tode.“ 46 Trimborns Resümee bestätigt abermals die älteren Befunde von Mitscherlich, Lasch und Zepf: „Bei all diesen Kindern fällt in den Familien immer wieder die Abwesenheit der Väter auf, aber auch deren Versagen und soziale Schwäche, was sich darüber hinaus in sexuellem Mißbrauch und sadistisch-ohnmächtiger Gewalt manifestiert.“ 47 Wird dieser Befund im Zusammenhang mit dem Narzissmus- Modell des zweiten Kapitels gelesen, so wird deutlich, dass die Ab- 44 H. Rosa, Beschleunigung, op. cit., S. 380. 45 W. Trimborn, „Der Verrat am Selbst - Zur Gewalt narzißtischer Abwehr“, in: Psyche 11, 2003, S. 1046. 46 Ibid., S. 1048. 47 Ibid., S. 1049. 134 wendung des Subjekts vom Ichideal und seine Fixierung auf ein Idealich nicht nur soziale Isolierung, sondern auch einen Zusammenbruch sozialer Kommunikation zur Folge haben kann. Wer unfähig ist, eine durch gesellschaftliche Werte vermittelte dialogische Beziehung zu anderen einzugehen, wird schließlich dazu neigen, auch das eigene Kind als Vorwand oder Hindernis zu behandeln - oder als beides zugleich. Das Verharren im Imaginären und die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, sich mit der zerfallenden symbolischen Ordnung zu identifizieren, bewirken nicht nur egozentrisches Verhalten und infantile Regression, sondern auch Gewalt. Die zunehmende Gewalttätigkeit in der Familie könnte in diesem Kontext erklärt werden. Hans-Joachim Busch versucht, die These über die „vaterlose Gesellschaft“ zu korrigierten und zu vervollständigen, indem er das Augenmerk auf die sich wandelnde Mutterrolle richtet. Er stellt fest, dass „die Abgeschlossenheit der Mutterrolle von Gesellschaft und Beruf“ 48 konfliktträchtig ist und sich nachteilig auf die Entwicklung der Kinder auswirkt. Die von ihm diagnostizierte „Mutterdominanz“, die sich komplementär zur väterlichen Schwäche verhält, bestätigt die These über die Vorherrschaft des Imaginären und des Idealichs der symbolischen Ordnung und dem Ichideal gegenüber. Busch knüpft an Thomas Ziehes Gedanken an (vgl. Kap. II), dass die gegenwärtige Gesellschaft durch eine Sehnsucht nach primärnarzisstischer Geborgenheit im Mütterlichen gekennzeichnet ist: „Die gesellschaftliche Schwächung der Mutterrolle infolge zunehmender Integration der Frauen in außerfamiliale Sozialbereiche wird von den Müttern, wie Ziehe folgert, vielfach mit einem überstarken gefühlsmäßigen Klammern an die Mutterpflichten, an die symbiotische Verbindung mit dem kleinen Kind beantwortet.“ 49 Diese Symbiose hat jedoch keine allseitige Befriedigung des Kleinkindes zur Folge, sondern lässt traumatische Defizite entstehen, weil die Mutter außerstande ist, für eine vollkommene Einheit zu sorgen. Solche Defizite prägen schließlich das Verhalten des heranwachsenden Kindes, ja sogar das des Erwachsenen in der zeitgenössischen Gesellschaft: „Das Kind hält innerlich fest an dem, was ihm nicht aus- 48 H.-J. Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft, op. cit., S. 104. 49 Ibid., S. 119. 135 reichend zuteil wurde, an den Gefühlen primärnarzißtischer Ungetrenntheit, Geborgenheit und auch Allmacht.“ 50 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich im Bereich der Familie folgendes Bild: Die soziale oder räumliche Abwesenheit des (symbolischen) Vaters hat zur Folge, dass die heranwachsenden Kinder ohne ein Identifikationsangebot aus dem Bereich der symbolischen Ordnung auskommen müssen, zumal der oft nur physisch anwesende Vater die zur Verfügung stehenden Ichideale gegen ein Idealich (ein infantiles Größenselbst) eingetauscht hat, das dem Imaginären angehört. Dieses gewinnt innerhalb der Familie durch die von der Mutter angestrebte, aber nie erreichte vollkommene Symbiose mit dem Kind weiter an Einfluss. Das Ergebnis ist eine Familienstruktur, in der ein vom Idealich gespeister Narzissmus gedeiht, der durch die reale oder soziale Abwesenheit des Vaters und das von Busch beschriebene Verhalten der Mutter gestärkt wird. Eine solche Struktur ist dazu angetan, den Narzissmus innerhalb der Familie als Institution zu perpetuieren. Er wird zu einem sozialpsychischen „Erbe“, das von den Eltern an die Kinder weitergereicht wird. Wie sehr der maligne Narzissmus von Generation zu Generation vererbt wird, lassen verschiedene Studien erkennen, in denen die narzisstischen Störungen der Kinder aus dem Narzissmus der Eltern abgeleitet werden. Das grundsätzliche Problem fasst Françoise Neau zusammen, wenn sie feststellt: „Obwohl die Geburt eines Kindes bei der Frau zur vollen Objektliebe führen kann, bleibt das Kind dennoch für beide Eltern ein Abbild ihres eigenen Narzissmus (...).“ 51 Innerhalb der Familie wird dieser elementare Narzissmus von einer Generation zur nächsten vererbt. Spezifischer argumentiert Heinz-Peter Röhr, wenn er beschreibt, wie die Mutter ihren Narzissmus an ihr Kind weitergibt: „Auszugehen ist von einer narzißtischen Verwundung, die während der frühkindlichen Entwicklung stattfand. Dies führte zu einer Entwicklungshemmung oder Blockade. Meist ist die Mutter selbst narzißtisch gestört und konnte dem Kind das Ausleben bestimmter Gefühle nicht erlauben, insbesondere Neid- und Wutgefühle durften nicht gezeigt wer- 50 Ibid. 51 F. Neau, „Histoire et psychopathologie“ (Kap. I), in: N. Jeammet, F. Neau, R. Roussillon, Narcissisme et perversion, Paris, Dunod, 2004, S. 13. 136 den.“ 52 Das mütterliche Streben nach tadelloser Symbiose mit dem narzisstisch geliebten Kind, das Busch beschreibt, ist ein Streben nach vollkommener Harmonie, das Konflikte und feindselige Regungen im Keim erstickt. Vorgetäuscht wird eine konfliktfreie Einheit, die in Wirklichkeit eine Zweiheit kaschiert, die Andersheit, Dissens und Konflikte birgt. Gerade diese Zweiheit wird von einer Mutter negiert, die das Kind als Teil ihrer selbst und als narzisstische Erweiterung betrachtet, d.h. als Vorwand, nicht als Andersheit, die ein dialogisches Verhältnis fordert. Aus dieser zum Scheitern verurteilten Symbiose geht ein neuer Narzissmus hervor: der Narzissmus der jungen Generation, die wiederum nach „primärnarzißtischer Ungetrenntheit, Geborgenheit und auch Allmacht“ (Busch) strebt. Ihr Streben gehört dem mütterlich-imaginären Bereich an, der vom Idealich beherrscht wird und sich auf Kosten des Ichideals ausdehnt. In diesem Zusammenhang bemerkt Thomas Ziehe, der auf den Unterschied zwischen Ichideal und Idealich nicht eingeht: „Das hochfliegende Ichideal bleibt gegenüber dem schwachen Ich ich-fremd.“ 53 An die Stelle der Ichideale könnten beim „neuen Sozialisationstypus“ - Ziehe zufolge - Konsumangebote und Waren treten. Die ersehnte Geborgenheit im Imaginären wäre letztlich die Geborgenheit im Konsum, nicht im Elternhaus oder - wie Mitscherlich annimmt 54 - in der peer-group: „Die Verhaltens- und Bewußtseinsprägung des ‚neuen Sozialisationstyps‘ durch situationelle Stimuli wäre nicht eigentlich eine durch die peer-group selbst, sondern dieser käme nur eine quasi-‚ichlose‘ Vermittlerfunktion zum phantastischen, aber weitgehend irrealen Reichtum der Warenwelt zu.“ 55 Allerdings schränkt Ziehe die Tragweite dieser Hypothese wieder ein, wenn er zu bedenken gibt, „daß die ständige warenästhetische Nutzung die Phantasiewerte verschleißt“. 56 Es wird sich zeigen, dass er die Wirkung von Werbung und Medien unterschätzt. Vor allem die Medien, von denen die meisten der Werbung zur Verfügung stehen, erschließen immer neue Bereiche und faszinieren die Öffentlichkeit 52 H.-P. Röhr, Narzißmus, op. cit., S. 182. 53 Th. Ziehe, Pubertät und Narzißmus, op. cit., S. 182. 54 A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, op. cit., S. 186. 55 Th. Ziehe, Pubertät und Narzißmus, op. cit., S. 198. 56 Ibid. 137 mit neuen Angeboten und Möglichkeiten - wie „Second Life“ und „Starmania“ (Abschn. 4) zeigen. Auf diese Angebote und Möglichkeiten reagiert der postmoderne Narzisst, indem er sein infantiles Idealich in die medial vermittelte Konsumwelt projiziert. In dieser Welt geht es nicht um Kontinuität, Kohärenz und Identität, sondern um die rasche Verwirklichung von Wünschen und Fantasien, die - wie alles andere - einem beschleunigten Wandel unterliegen. Im Gegensatz zum Ichideal, das relativ stabil war und religiöse, politische, künstlerische oder berufliche Vorstellungen mehrerer Generationen artikulierte, drückt das Idealich eine ephemere Wunschvorstellung aus, die einige Monate oder gar Wochen später angesichts neuer Konsumangebote oder Medientrends obsolet wirkt. In diesem Zusammenhang ist eine gesellschaftliche Entwicklung zu erklären, die in zahlreichen Narzissmus-Studien im Mittelpunkt steht: der sich ausbreitende Körperkult und die Ausrichtung des Narzissmus auf den eigenen Körper als Idealich. Noch nie war der physische Aspekt der Persönlichkeit so wichtig wie in der nachmodernen Nachkriegsgesellschaft, deren Medien und Werbeagenturen nicht nur Frauen, sondern in zunehmendem Maße auch Männern suggerieren, dass Subjektivität vor allem Körperlichkeit ist und dass Kleider, Kosmetika und Lebensstile Leute machen. Vom Bodybuilding bis zum Facelift reichen die Angebote, die über die Sterblichkeit des Körpers (als Hülle mit oder ohne seelischen Inhalt) hinwegtäuschen und das Idealich mit ewiger Jugend identifizieren. Diese Entwicklung ist insofern für den Aufstieg des Mütterlich- Imaginären symptomatisch, als dieses mit der vorödipalen, primärnarzisstischen Phase zusammenfällt und keinen Zeitbegriff kennt. Das Subjekt, das sich vom Narzissmus des Idealichs leiten lässt, verkennt sich so, wie sich der Narziss der antiken Sage und Wildes Dorian Gray verkennen. Es nimmt nur den Augenblick wahr, nicht jedoch Subjektivität als Entwicklung, als endlichen Prozess. Wie sehr der Körper zum Fluchtpunkt der Subjektivität wird, zeigen ältere und neuere Narzissmus-Studien. So bemerkt beispielsweise Shahrsad Amiri im Anschluss an Zygmunt Bauman, dass in der zeitgenössischen Gesellschaft „der Körper gleichsam zum letzten Rückzugsgebiet von Kontinuität und Langlebigkeit geworden ist“. 57 Es ist 57 S. Amiri, Narzißmus im Zivilisationsprozeß, op. cit., S. 407. 138 jedoch keineswegs sicher, dass der sich wandelnde Körper als Garant für Kontinuität fungieren kann, zumal das ihn leitende Ideal einem beschleunigten Kulturwandel gehorcht, der bald „Piercing“, bald Tätowierung befiehlt, bald für obsolet erklärt. 58 Auch Andreas Wintels diagnostiziert eine „wachsende Konzentration auf den eigenen Körper“ 59 und weist auf die Gefahr hin, „daß das Selbstbild auf ein reines Körperbild reduziert wird“. 60 Damit wäre der Narzissmus mangels glaubwürdiger Ichideale wieder bei der Körperlichkeit der antiken Erzählung oder bei der eines Dorian Gray angelangt. Dass die postmoderne Konzentration auf die körperliche Physis die soziale Kommunikation ausschließt oder zumindest drastisch reduziert, klingt ebenfalls bei Wintels an: „Wenn der kulturelle Zwang zur Individualisierung neben der Abnahme selbstverständlicher sozialer Zugehörigkeit die Zunahme von Beziehungsstörungen bedeutet, so ist in der Hinwendung zum eignen Körper und den Zurichtungen seiner äußeren Schicht ein demonstrativer Akt der eigenen Selbstgenügsamkeit zu sehen. Die Selbstverliebtheit beim Blick in den Spiegel dokumentiert die Überhöhung eines Autarkie-Ideals und gleichzeitige Abwertung ängstigender Objekte.“ 61 Im Hinblick auf das im zweiten Kapitel entwickelte dialogische Modell bedeutet dies, dass der im Mütterlich-Imaginären lebende Narzisst der Nachmoderne allen Ichidealen absagt und das Idealich auf die eigene Körperlichkeit reduziert. In diesem Zustand der rein materiellen Selbstverliebtheit kann genuine Kommunikation mit anderen Personen nicht wirklich von Bedeutung sein. Denn der Narzisst hat alles als Ballast abgeworfen, was ihn mit den anderen verbinden könnte: überindividuelle Werte und Zielsetzungen, künftige Generationen, das Überleben der menschlichen Gattung. Der andere kann ihm nur als Vorwand oder Mittel erscheinen: als jemand, der ihm als Arzt oder Trainer zu einem noch „besseren“ oder „jüngeren“ Körper verhilft - oder als Hindernis, falls er jünger, schöner, größer, stärker ist und als Helfer nicht in Frage kommt. Kurzum: die Eindimensionalität der postmodernen Gesellschaft ist auch als Reduktion des Ichideals auf das körperliche Idealich darstellbar. Diese ist jedoch nur ein Aspekt der Eindimensionalität, die im 58 Vgl. den Artikel „Think before you ink“ in: Daily Telegraph, 16. 7. 08. 59 A. Wintels, Individualismus und Narzißmus, op. cit., S. 206. 60 Ibid. 61 Ibid., S. 208. 139 Wesentlichen mit der Auflösung aller kulturellen Werte im Tauschwert zusammenhängt. 4. Der Aufstieg des Idealichs in den Medien Die Medien begünstigen die Entfaltung des Idealichs, weil sie das Realitätsprinzip - zumindest tendenziell - aufheben. Wünsche, deren Erfüllung die gesellschaftliche Wirklichkeit dem Einzelnen versagt, werden in der medialen Welt berücksichtigt - wenn auch nicht erfüllt. In dieser Welt scheitern die Wunschvorstellungen und Selbstprojektionen des Subjekts nicht an einer widerspenstigen Wirklichkeit, sondern werden auf vielfältige und vieldeutige Art bestätigt. Die Sehnsucht nach Ferne und Abenteuer, nach Stärke, Schönheit und Größe wird durch mannigfaltige Identifikationsangebote im Personen- und Ereignisbereich befriedigt. Das Fernsehen gestattet nicht nur die narzisstische Projektion eines Idealichs in die Ereignisse eines Abenteuer- oder Liebesfilms, sondern lässt diese Projektion an die Stelle der intersubjektiven Kommunikation treten. Schon Günther Anders hat gezeigt, wie sehr der Fernseher die Funktion des Familientisches usurpiert, wie er das Gespräch zwischen den einzelnen Familienmitgliedern verstummen lässt: „(...) Denn was nun durch TV zu Hause herrscht, ist die gesendete - wirkliche oder fiktive - Außenwelt; und diese herrscht so unumschränkt, daß sie damit die Realität des Heims - nicht nur die der vier Wände und des Mobiliars, sondern die des gesamten Lebens, ungültig und phantomhaft macht.“ 62 Anders gesagt: Die in der Familie oft umkämpften (weil mit narzisstischer Libido besetzten) Fernsehprogramme ersetzen die Kommunikation zwischen den Familienangehörigen. Dies bedeutet im Anschluss an das im zweiten Kapitel entwickelte Modell, dass dialogische Beziehungen durch monologisch-narzisstische Projektionen von Idealich-Vorstellungen ersetzt werden. Während das einzelne Familienmitglied darauf aus ist, diese Vorstellungen von Film und Werbung bestätigen zu lassen, zerfällt allmählich der familiäre Kommunikationszusammenhang. Entscheidend ist, dass 62 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München, Beck, 1983 (2. Aufl.), S. 105. 140 diese sprachlich-affektive Atrophie von den Betroffenen kaum wahrgenommen wird. Schließlich stellen sie als Gefangene des eigenen Narzissmus fest, dass sie einander nicht mehr verstehen oder dass sie einander nichts zu sagen haben. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass jeder von ihnen in der Medienwelt einem anderen Idealich folgt, das der Familie als Gruppe völlig fremd ist. Es ist auch außerhalb der Familie - in Alltag und Beruf - unauffindbar, so dass der Einzelne auf „sein“ Fernsehprogramm angewiesen bleibt, solange er an seinem Idealich (z.B. dem Helden oder der Heldin einer Fernsehserie) festhält. Insofern übertreibt Jean Baudrillard kaum, wenn er behauptet, die Wirklichkeit habe sich verflüchtigt: „Es gibt keine ‚objektive‘ Wirklichkeit mehr.“ 63 Allerdings behält diese These nur dann ihre Gültigkeit, solange sie auf den Narzissmus der mütterlich-imaginären Sphäre und die entsprechende Suche nach dem Idealich bezogen wird. Denn außerhalb dieser Sphäre gibt es sehr wohl noch eine wirkliche Welt der Arbeit, die - wie sich zeigen wird : Abschn. 6 - ihre Ichideale kennt. Jedenfalls gehört Baudrillards Behauptung, der Arbeitsbegriff habe „seine Definition verloren“ („a perdu sa définition“) 64 , zu seinen weniger brauchbaren Übertreibungen. Eines hat jedoch die Welt der Arbeit mit der Freizeitwelt der Medien gemeinsam: Beide Welten ändern sich in einem schwindelerregenden Tempo. Dies hat einerseits zur Folge, dass - wie bereits erwähnt - die beruflichen Ichideale ins Wanken geraten; es bedeutet andererseits, dass auch das durch Medien vermittelte Idealich labil bleibt und der narzisstischen Identitätssuche keine Stabilität gewährt. Was Hartmut Rosa über das Identitätsproblem in der „Beschleunigungsgesellschaft“ schreibt, gilt für beide Welten, für die mediale Freizeitwelt ebenso wie für die Berufswelt: „Ebendies ist ein funktionales Erfordernis einer radikalisierten ‚Beschleunigungsgesellschaft‘, in der Bezugsgruppen, Kommunikationspartner, Gegenstände, Ideen, Jobs etc. so schnell wechseln, dass ihre Inhalte zunehmend gleichgültig und austauschbar werden; umgekehrt heißt dies: Je gleichgültiger Subjekte gegenüber Inhalten werden, umso besser können sie sich den Beschleunigungs- und Flexibilitätserfordernissen anpassen.“ 65 Kon- 63 J. Baudrillard, L’Echange impossible, Paris, Galilée, 1999, S. 33. 64 Ibid., S. 32. 65 H. Rosa, Beschleunigung, op. cit., S. 378. 141 kret bedeutet dies, dass sowohl Ichideale als auch Vorstellungen vom Idealich immer labiler und kurzlebiger werden. Es entsteht das, was Rosa als das „situative Selbst“ bezeichnet, ein Subjekt, dem eher permanenter Identitätswandel als eine stabile Identität vorschwebt: „Das situative Selbst mag kontextabhängig gewaltige Anstrengungen auf sich nehmen, um seine Ziele zu erreichen und/ oder soziale Ansprüche zu erfüllen, aber es verzichtet darauf, sich langfristig bindende, kontextübergreifende ‚Lebensziele‘ zu setzen.“ 66 Die Tatsache, dass der Autor das Wort „Lebensziele“ in Anführungszeichen setzt, suggeriert, dass der Zustand der Sprache eine spontane oder gar naive Verwendung dieser Vokabel verbietet. Lebensziele setzen zumeist Ichideale voraus, deren beschleunigter Wandel und Zerfall eine langfristige Planung grundsätzlich in Frage stellen. Mit solcher Planung sind auch die ephemeren Ideale der Medien unvereinbar, die sich im Extremfall von TV-Serie zu TV-Serie ändern können. Dass manche Fernsehprogramme bestimmte Vorstellungen vom Idealich wachrufen können, die zu einer kurzlebigen, aber intensiven Identitätssuche einladen, zeigt das österreichische Fernsehprogramm „Starmania“, das Carolina Elisabeth Roth in ihrer Studie Identitäten aus der Starfabrik untersucht. (Es handelt sich um ein Äquivalent des deutschen Programms „Deutschland sucht einen Superstar“.) Es ist eine „Castingshow“, an der Jugendliche zwischen 16 und 28 Jahren teilnehmen, die gern singen und in einem Selektionsverfahren ihr Talent unter Beweis gestellt haben. Dazu bemerkt Roth: „Sie werden - mithilfe der medialen Inszenierungsmaschinerie (...) - zu Stars hochstilisiert. Starmania erscheint als ‚Starfabrik‘, die das Unmögliche möglich macht: Berühmtheit über Nacht.“ 67 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind jedoch „Stars“ auf Abruf, und die meisten von ihnen verschwinden bald im Strudel der medialen Beschleunigung: „Jene, die schon früh vom Publikum abgewählt werden, gelangen - wenn sie nicht durch besondere ‚Attraktionen‘ wie eine Trennung von der Partnerin/ vom Partner auf sich aufmerksam machen - relativ schnell aus dem Fokus der Berichterstattung.“ 68 66 Ibid., S. 383. 67 C. E. Roth, Identitäten aus der Starfabrik. Identätsbildung im Kontext der Aneignung von crossmedialen Inszenierungen am Beispiel von „Starmania. The New Generation“, Diss. Univ. Klagenfurt, 2007, S. 125. 68 Ibid., S. 126. 142 Obwohl die Starkarriere im Fernsehprogramm als „gesellschaftliches Ideal präsentiert“ 69 wird, lässt die Kurzlebigkeit der jugendlichen Laufbahnen vermuten, dass es im Wesentlichen um die Befriedigung eines infantilen Narzissmus geht, der primär auf das Idealich als „grandioses Selbst“ ausgerichtet ist und dem die Verwirklichung gesellschaftlicher, künstlerischer Normen und Werte nichts gilt - zumal in den Augen vieler Teilnehmer „die Körperinszenierungen der Stars“ 70 im Mittelpunkt stehen. Roths Kommentare bestätigen diese Vermutung: „Im Rahmen dieser Performance-Experimente zeigen sich bei den interviewten Jugendlichen Tendenzen zur Idealisierung des eigenen Ichs, zu Allmachts- und Größenfantasien. In der Psychoanalyse wird dieses Phänomen als adoleszenter Narzissmus beschrieben.“ 71 Diese Art von Selbstidealisierung ist zwar für die Adoleszenz kennzeichnend, kommt jedoch in einer nachmodernen Mediengesellschaft immer häufiger auch bei Erwachsenen vor - wie schon Laschs Arbeiten gezeigt haben. Besonders aufschlussreich ist in dem hier konstruierten Kontext der von Roth kommentierte Fall „Emma“, weil er eine Beziehung zwischen dem Zerfall der zeitgenössischen Familie und der Entstehung narzisstischer Größenfantasien suggeriert. Von Emmas Familiensituation heißt es, sie sei „zerrüttet“. 72 Umso grandioser ist ihre Vorstellung vom eigenen Ich: „Emmas Vision lässt sich vergleichen mit den Allmachtsfantasien kleiner Kinder, die als Ritter oder Superwoman die Welt retten oder bekämpfen.“ 73 Anscheinend handelt es sich hier um ein narzisstisches Kompensationsverhalten, welches das Subjekt darüber hinwegtrösten soll, dass es dem Zusammenbruch der eigenen Familie hilflos gegenübersteht. Anders als traditionelle Fernsehprogramme ist die Castingshow Starmania interaktiv. Sie fördert jedoch keineswegs die soziale Kommunikation, weil sie, wie sich gezeigt hat, die zwanghafte Selbstverwirklichung als Jagd nach dem Idealich intensiviert und dadurch den von der „Manie“ Angesteckten eher von seinem sozialen Umfeld isoliert. 69 Ibid., S. 148. 70 Ibid., S. 188. 71 Ibid., S. 183. 72 Ibid., S. 149. 73 Ibid. 143 Ähnliches ließe sich von Second Life sagen. Es handelt sich um eine virtuelle Welt, die die in San Francisco ansässige kalifornische Firma Linden Lab im Internet ins Leben rief und die inzwischen (Stand: 2007) von sieben Millionen Individuen - d.h. ihren „Avataren“ - bewohnt wird. Jeder Teilnehmer bzw. Bewohner der fiktiven, digitalen Welt konstruiert seinen Avatar (sanskr.: avatara = Abstammung; in der hinduistischen Religion jede der Inkarnationen Vischnus; allgem. Verwandlung) mit den ihm von Linden Lab zur Verfügung gestellten digitalen Bausteinen. Der Avatar fungiert als zweite Identität des mit der sozialen Wirklichkeit unzufriedenen Subjekts, das sich nach einer Alternativexistenz, nach Utopie sehnt: „In ‚Second Life‘ kann nämlich jeder, der das möchte und sich etwas anstrengt, seinen Traum wahr machen. Das klingt nach Werbespruch.“ 74 Und das ist es auch. Denn die Avatare von Second Life orientieren sich am Markt, gleichen sich wie von der Stange gekaufte Anzüge und erinnern an die stets lachenden oder lächelnden Gesichter der Werbung, die schon nach kurzer Zeit kaum auseinander zu halten sind: „Obwohl es potentiell unendlich viele Formen von Avataren gibt, sehen die meisten sich recht ähnlich - sie haben die Form von Menschen und mehrheitlich eine weiße Hautfarbe. Sie sind mittelalt, ‚in ihren besten Jahren‘, Frauen und Männer verfügen über durchtrainierte Körper und gute Haut, eine hinreißende Frisur und gute Kleidung natürlich. Sie wirken erfolgreich, souverän und immer nur einen Hauch exzentrisch, nur eine Spur, sodass viele hinschauen, aber niemand wegsieht.“ 75 Spätestens hier wird deutlich, dass Second Life keine utopischen Alternativen zur bestehenden Wirklichkeit entwirft, sondern die marktvermittelten Schablonen dieser Wirklichkeit reproduziert. „Dann gab mir Juliet ein neues Gesicht - und zack, sah ich aus wie die vielen Modepüppchen hier, bloß blasser (aber besser schattiert als vorher)“ 76 , heißt es in Christian Stöckers „Gebrauchsanweisung“. Die Ideale von Second Life stimmen weitgehend mit denen der Werbung überein. Ähnlich wie in Starmania stehen auch hier die „Körperinszenierun- 74 S. Stillich, Second Life. Wie virtuelle Welten unser Leben verändern, Berlin, Ullstein, 2007, S. 63. 75 Ibid., S. 166. 76 Ch. Stöcker, Second Life. Eine Gebrauchsanweisung für die digitale Wunderwelt, München, Goldmann, 2007, S. 57. 144 gen“ (Körper, Haut, Kleidung, Frisur) der Beteiligten im Mittelpunkt des Interesses. Der Avatar als Idealkörper fällt in Second Life mit dem Idealich zusammen, das versuchen soll, die Misserfolge und Enttäuschungen des realen Subjekts in der realen Welt auszugleichen. Es handelt sich um einen kompensatorischen Narzissmus im Sinne von Adorno, der keineswegs über die bestehenden Verhältnisse hinausgeht, sondern lediglich die sie legitimierenden Ideologien, Werbeschablonen und Warenästhetiken 77 bestätigt und beschönigt. „Mein Leben ist hier viel freier - und ... utopischer“ 78 , heißt es im Bericht von Sven Stillich, der als Avatar Ava Milner die Welt von Second Life bereist. Doch weit davon entfernt, utopisch über die eindimensionale Warenwelt hinauszuweisen, schreibt Second Life deren Gesetzmäßigkeiten fest. Es zeugt von der postmodernen Verwindung, von der Vattimo im Anschluss an Heidegger spricht 79 , und schließt jede Art von Überwindung (auch im Sinne einer radikalen, rettenden Reform) aus. Insgesamt erscheint Second Life als eine organisierte Flucht ins Mütterlich-Imaginäre und ins Idealich: als eine Suche nach Kohuts „infantilem Größenselbst“ und als eine monologische Selbstbestätigung im Sinne des zweiten Kapitels. Das wird in Mark Stephen Meadows’ praxisorientierter Darstellung überdeutlich, die in einem anderen kulturellen Kontext Stillichs schablonenartige Porträts der Avatare bestätigt: „Sonnengebräunte, breitschultrige Adonise mit eckigen Kieferknochen wandeln durch die Landschaft, Menschen die sich perfekter Gesundheit zu erfreuen scheinen - virile, fruchtbare griechische Götter, die gerade von einem nahe gelegenen Olymp herabgestiegen sind.“ 80 Von den „beautiful people“ 81 , die diese virtuelle Welt bevölkern, heißt es, dass „ihre Fantasie das einzige ist, was ihrem Potential Schranken setzt“. 82 Es ist die Fantasie des Imaginären, das die gesamte Welt von Second Life beherrscht. Radikaler ausgedrückt: Second 77 Noch nie war W. F. Haugs Kritik der Warenästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1976 (5. Aufl.) so aktuell wie heute. 78 S. Stillich, Second Life, op. cit., S. 36. 79 Vgl. G. Vattimo, La fine della modernità, op. cit., S. 19. 80 M. S. Meadows, I, Avatar. The Culture and Consequences of Having a Second Life, Berkeley (CA), New Riders, 2008, S. 7. 81 Ibid., S. 7. 82 Ibid. 145 Life ist eine digitale Inszenierung des Imaginären, die dem Idealich neue Dimensionen erschließt. Meadows geht von einer multiplen, flexiblen Subjektivität aus, die sich in verschiedenen Avataren verwirklichen kann. „Welchen Teil meiner Persönlichkeit stellt dieser Avatar am besten dar? “ 83 , lautet eine seiner Fragen. Sie lädt zur Einübung in das „situative Selbst“ ein, das nach Hartmut Rosa Subjektivität in der postmodernen Gesellschaft kennzeichnet. Denn diese Gesellschaft ist nicht mehr an stabilen Subjekten interessiert, die tradierte Ichideale als Bestandteile ihrer Identität zu verwirklichen suchen. Sie braucht flexible Subjekte, die bei näherer Betrachtung keine mehr sind, weil sie sich chamäleonartig wandeln und undefinierbar werden: „Ephemeralität wird zur Notwendigkeit, Substanz wird nebensächlich.“ 84 Um welche Gesellschaft es sich handelt, wird in Sven Stillichs Buch deutlich. Vom Linden Dollar, der durchaus realen, weil konvertiblen Währung von Second Life, heißt es dort: „Der Linden Dollar ist gekoppelt an den echten US-Dollar, er ist die einzige fest verdrahtete Verbindung zum realen Leben. Das heißt: Wer in der digitalen Welt ‚Linden‘ verdient, wie die Währung in ‚Second Life‘ selbst genannt wird, der kann diese in US-Dollar umtauschen, andersherum kann er reales Geld von seiner Kreditkarte abbuchen lassen und Linden Dollar daraus machen.“ 85 Diese „fest verdrahtete Verbindung“ entscheidet über die gesamte Wirklichkeit von Second Life, die eine euphemistische Version der spätkapitalistischen Postmoderne ist. Lästige Alltagsprobleme werden auf digitalem Wege getilgt: „Abenteurer finden in ‚Second Life‘ eine Welt ohne AIDS und ungewollten Kindern vor.“ 86 Es ist aber jederzeit möglich, - wie in der realen Welt - viel Geld zu verdienen und anschließend „shoppen“ zu gehen: „Avatare gehen gerne shoppen in ‚Second Life‘ (...).“ 87 Hier trifft sich die virtuelle Welt mit der realen... Sie trifft sich mit ihr auch auf anderen Ebenen: „Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass es in der digitalen Welt auch Kinderpornografie gibt.“ 88 Es gibt noch sehr viel mehr, was an die wirkliche 83 Ibid., S. 96. 84 H. Rosa, Beschleunigung, op. cit., S. 379. 85 S. Stillich, Second Life, op. cit., S. 90. 86 Ibid., S. 145. 87 Ibid., S. 92. 88 Ibid., S. 154. 146 Welt erinnert: „Einige der virtuellen Spielhöllen sollen Umsätze von mehr als einer halben Million Linden Dollar im Monat machen (...).“ 89 Wenn diese Entwicklung anhält, wird die digitale Utopie die kapitalistische Wirklichkeit bald eingeholt haben. Entscheidend ist, dass Second Life - trotz der betont interaktiven Struktur dieser virtuellen Welt - die gesellschaftliche Kommunikation eher einschränkt als fördert. Darin ist es dem Fernsehen, das auch in seiner neuesten Ausprägung (vgl. Starmania) kaum als kommunikationsfreundlich zu bezeichnen ist, durchaus ähnlich. Dies wird vor allem im letzten Teil von Meadows’ I, Avatar deutlich, wo der Autor feststellt, dass der Aufenthalt in Second Life die Interaktion mit Freunden und Familienangehörigen merklich reduziert. Von den Abenteurern in der digitalen Welt heißt es: „So verbringen sie beispielsweise 25% weniger Zeit mit Telefongesprächen mit Freunden und Familienangehörigen.“ 90 Schließlich wirkt sich Second Life auf das soziale Leben ähnlich aus wie das Fernsehen: Es fördert die narzisstische Suche nach dem imaginären Idealich auf Kosten realer sozialer Beziehungen. Es verstärkt zugleich die Auffassung des anderen als Vorwand oder Hindernis, weil es eine Anonymität mit sich bringt, die die wachsende Anonymität zeitgenössischer Gesellschaften noch übertrifft. Vom Abenteurer in Second Life heißt es bei Stillich: „Er hat Sex in der virtuellen Welt, allerdings mit austauschbaren Partnern, deren Namen er sich nicht merken wird.“ 91 Statt utopische Alternativen vorzuschlagen, verstärkt Second Life die fatalen Neigungen postmoderner Gesellschaften: vor allem einen malignen Narzissmus, der die Dialogizität der Indifferenz als Austauschbarkeit opfert. Diese Indifferenz setzt sich auch in einer von den Medien zunehmend abhängigen Politik durch, wo es mittlerweile eher auf die Kultivierung von ephemeren Images ankommt als auf die Verwirklichung langfristiger Ichideale. Wie in Second Life werden in der postmodernen Politik die anderen instrumentalisiert, d.h als Wähler, Wahlhelfer oder applaudierendes Publikum für die Selbstdarstellung des narzisstischen Politikers benutzt. Diesem geht es in erster Linie um sein medi- 89 Ibid., S. 148. 90 M. S. Meadows, I, Avatar, op. cit., S. 82. 91 S. Stillich, Second Life, op. cit., S. 144. 147 al aufgebauschtes Image, das sich weitgehend mit seinem Idealich deckt. Im vorigen Kapitel war im Zusammenhang mit Hans-Jürgen Wirths Studie Narzissmus und Macht u.a. auch von Uwe Barschels politischer Karriere die Rede. Wenn man Wirths Recherchen glauben darf, so gehörte Barschel zum Typ des ödipalen Medienpolitikers, „der seine Minderwertigkeitsgefühle durch Gefallsucht und Großmannsgehabe übertünchte, der aber beständig fürchtete, die Mutter würde ihm letztlich doch einen erwachsenen Partner, nämlich den Vater, vorziehen“. 92 Für die Postmoderne charakteristisch ist ein solcher Politiker, weil er - wie die Abenteurer von Second Life - nur noch das Idealich kennt, das aus der von Wirth beschriebenen imaginären, vaterlosen Konstellation hervorgeht. Wenn Wirth von Barschel sagt, er habe die anderen „lediglich als Marionetten, als Schachfiguren in seinem politischen Machtspiel“ 93 betrachtet, so nähert er ihn den Protagonisten von Second Life an, die es mit austauschbaren, indifferenten Partnern zu tun haben, deren Namen sie wenig später vergessen. In der zeitgenössischen Politik scheint es immer mehr auf Imagepflege und raschen Erfolg anzukommen und immer weniger auf die Verwirklichung langfristiger Ziele und Ichideale. Während Nachkriegspolitiker wie Adenauer, Churchill, De Gaulle und De Gasperi solche Ziele noch vor Augen hatten, neigen zeitgenössische Politiker aller Parteien und Lager dazu, vor allem ihr Idealich (Größe, Brillanz, Kompetenz) in den Medien darstellen zu lassen. Ihre Subjektivität gründet nicht mehr auf stabilen Wertsetzungen und Programmen, sondern setzt sich vorwiegend aus Medienereignissen zusammen. Giampaolo Lai spricht in diesem Zusammenhang von „Identitätslosigkeit“ oder „disidentità“. Während amerikanische Präsidenten, die um 1900 zur Welt kamen, nach Kohärenz und Identität strebten und dabei langfristige Ziele verfolgten, haben sich Politiker der Nachkriegsgeneration mit dem abgefunden, was Hartmut Rosa als „situative Identität“ bezeichnet: „Die folgende Generation, der Bill Clinton und die zwischen 1946 und 1964 geborenen Babyboomer angehören, 92 H.-J. Wirth, Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2006 (3. Aufl.), S. 135. 93 Ibid., S. 153. 148 die in den 80er Jahren zwischen 18 und 40 waren, und aus der zahlreiche westliche Regierungschefs hervorgegangen sind wie Bill Clinton, Massimo D’Alema und Tony Blair, ist von der Leidenschaft der Zersplitterung, der Inkohärenz und der Neigung geprägt, verschiedene Richtungen einzuschlagen (die Ehefrau und die kindliche Geliebte; der Sozialismus und die kriegerische Intervention). In unserer Terminologie ausgedrückt: Wenn Eisenhower und Reagan im Zeichen der Einheit und der starken Identität handelten, so handeln Clinton, D’Alema und Blair im Zeichen der Vielheit, der schwachen Identität oder der Identitätslosigkeit (disidentità)“. 94 Diese schwache, situative Identität wird vom Idealich beherrscht, von dessen Ursprung im Imaginären die jugendlich-infantilen Vornamen einiger zeitgenössischer Politiker zeugen: Bill (statt William Clinton), Joschka (statt Josef Fischer), Tony (statt Anthony Blair), Jimmy statt (James Carter). Sie konnotieren nicht nur populäre Neigungen, sondern auch die unbewusste Ablehnung der väterlichen Identität, der Identifikation mit dem Vater, sowie die komplementäre Neigung, weiterhin Sohn der Mutter zu sein - statt die Rolle des symbolischen Vaters zu spielen. Wie sehr das Idealich als körperbezogener Narzissmus die Politik beherrscht, zeigt am deutlichsten das Verhalten Silvio Berlusconis, der bisweilen den Eindruck erweckt, ihm seien sein Haarwuchs und seine Frisur wichtiger als der Name seiner Partei oder sein politisches Programm. 95 Dieses Verhalten mag auch - zumindest teilweise - den Niedergang von Parteiideologien und politischen Ideen erklären: nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern, wo die Verwirklichung von Ideen der Selbstverwirklichung von Politikern gewichen ist. Möglicherweise ist zeitgenössische Politik längst zu einer Art Second Life geworden, weil auch von ihr und ihren „Images“ gilt: „Wenn ein Avatar zu intensiv benutzt wird, kann er uns von unserer realen gesellschaftlichen Welt entfernen. Wir verlieren den Kontakt zur Wirklichkeit.“ 96 94 G. Lai, Disidentità (1988), Mailand, Franco Angeli, 1999, S. 16. 95 Vgl. G. Parotto, Silvio Berlusconi. Der doppelte Körper des Politikers, München, Fink, 2009, Kap. III. 4: „Der mediale Körper Berlusconis“. 96 M. S. Meadows, I, Avatar, op. cit., S. 82. 149 5. Identitätslosigkeit und Narzissmus Schon der Titel dieses Abschnitts klingt paradox, wenn man an die Egozentrik, die Ich-Zentriertheit des Narzissten denkt. In diesem Zusammenhang sei noch einmal an die ursprüngliche Narzissmus- Definition bei Freud als „libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes“ 97 und als „Ichlibido“ erinnert: „Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden (...).“ 98 Altmeyer spricht im Anschluss an Freud von einer „ursprüngliche[n] Libidobesetzung des Ichs“. 99 In einer Situation, in der „situative Identität“ und sogar „Identitätslosigkeit“ immer häufiger vorkommen, stellt sich die Frage, was nun genau mit Libido besetzt wird. Wenn das Ich tatsächlich „unrettbar“ ist, wie Ernst Mach einst voraussagte, dann könnte es geschehen, dass der Narzissmus gerade in der postmodernen Ära, in der er (nach Lasch) zu einem Zeichen der Zeit wird, seinen Gegenstand verliert. Der Höhepunkt des Individualismus, der mit einem ungezügelten Egoismus einhergeht, könnte mit einem Ichverlust zusammenfallen, den Lai als disidentità, als „Identitätslosigkeit“ bezeichnet. Tatsächlich spricht schon Lasch von einer „Sackgasse“ des Narzissmus: „Das vorliegende Buch beschreibt jedoch einen niedergehenden Lebensstil - die Kultur des vom Konkurrenzdenken geprägten Individualismus, die in ihrem Niedergang die Logik des Individualismus ins Extrem eines Krieges aller gegen alle getrieben und das Streben nach Glück in die Sackgasse einer narzißtischen Selbstbeschäftigung abgedrängt hat.“ 100 Die Unterscheidung zwischen Ichideal und Idealich könnte erklären, worin der Niedergang der individualistischen Kultur und die „Sackgasse einer narzißtischen Selbstbeschäftigung“ genau bestehen. Der Individualismus, der schon von Denkern der Renaissance wie Machiavelli und Hobbes als Grundlage der Gesellschaft vorausgesetzt wurde, ist nur scheinbar ein Atomismus, weil er, wie Durkheim später hervorhob, in sozialen Werten und Normen verwurzelt ist. So ist auch 97 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914), SA, Bd. III, Frankfurt, Fischer, 1982, S. 41. 98 Ibid., S. 42. 99 M. Altmeyer, Narzißmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 2004 (2. Aufl.), S. 43. 100 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 14. 150 das Ichideal im Sinne von Freud und Lacan (idéal du moi) zu verstehen: Es ist - ähnlich wie das Überich - der kollektive Aspekt individueller Subjektivität. Das bestätigt die von Laplanche und Pontalis vorgeschlagene Definition: „Instanz der Persönlichkeit, die aus der Konvergenz des Narzißmus (Idealisierung des Ichs) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen entsteht. Als gesonderte Instanz stellt das Ichideal ein Vorbild dar, an das das Subjekt sich anzugleichen sucht.“ 101 In einer Gesellschaft, in der, wie schon Durkheim wusste 102 , zusammen mit dem „Kollektivbewusstsein“ auch das Wertbewusstsein geschwächt wird, so dass das Werte- und Normensystem allmählich zerfällt, kann auch die von Laplanche und Pontalis beschriebene „Konvergenz“ zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene nicht zustande kommen. Das auf sich selbst gestellte individuelle Subjekt neigt in einer solchen Situation dazu, das sich auflösende Ichideal durch ein rein persönliches Idealich zu ersetzen. Dadurch verliert es seine soziale Basis. Denn es hat sich gezeigt, dass das im Imaginären verwurzelte Idealich labil ist und sich schnell wandeln kann. Das in Second Life verwendete Wort „Avatar“, das sich funktional mit dem „Idealich“ überschneidet, kann als Symptom dieser gesellschaftlich-psychischen Konstellation aufgefasst werden: zumal es Bewohner von Second Life gibt, die sich zwei oder mehrere Avatare zulegen. Dies bedeutet aber, dass das Idealich - im Gegensatz zum Ichideal - eher zur Ichauflösung als zur Ichkonstitution beiträgt. Wenn Lasch also von der „Sackgasse“ einer „narzißtischen Selbstbeschäftigung“ spricht, so bezieht er sich, ohne den Sachverhalt zu erläutern, auf eine gesellschaftliche und sprachliche Situation, in der das Ichideal vom Idealich verdrängt wird: in der das individuelle Subjekt seine soziale Substanz verliert und sie durch ephemere, oft medial vermittelte Fantasien zu ersetzen sucht. Implizit ist auch in Giampaolo Lais Disidentità von dieser Situation die Rede - und zwar vor allem im Hinblick auf die psychoanalytische Therapie. Lai geht von der These aus, dass Therapien, die auf 101 J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, op. cit., S. 202- 203. 102 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (1893), Frankfurt, Suhrkamp, 1988 (2. Aufl.), Kap. V: „Fortschreitendes Übergewicht der organischen Solidarität und dessen Folgen“. 151 stabilen Identitäten gründen, in zunehmendem Maße durch Therapien ersetzt werden, die Identitätswandel und sogar Identitätslosigkeit voraussetzen: „So wurde die Identität des Therapeuten, die auf der Identität seiner einheitlichen Therapien gründete, in dem Maße zersetzt, wie die Anzahl der identitätslosen Therapien des mutierenden oder postmutierenden Zeitalters zunahm.“ 103 Mit dem „mutierenden Zeitalter“ könnte eine postmoderne Ära gemeint sein, in der angesichts „situativer“, labiler Identitäten eine relativ homogene Subjektivität, die auf einem zusammenhängenden narrativen Programm 104 als Lebensprogramm gründet, nicht mehr wünschenswert erscheint. Heiner Keupp in Deutschland und Francesco Remotti in Italien nehmen in diesem Zusammenhang Standpunkte ein, die schon jenseits der (Spät-)Moderne zu liegen scheinen. So meint beispielsweise Keupp, es sei in der zeitgenössischen Gesellschaft kaum noch möglich und sinnvoll, „ein in sich geschlossenes Identitätssystem aufrecht- und durchzuhalten, sondern notwendig [sei] die Verfügung über ein System multipler Identitäten, die in konkreten Situationen verhandlungsfähig bleiben“. 105 Diese Darstellung wäre durch den Gedanken zu ergänzen, dass ein kohärentes Identitätssystem nicht geschlossen sein muss, dass es relativ heterogen sein kann (wie eine Föderation auf politischer Ebene) und dass ein Subjekt durchaus verschiedene Identitäten verwirklichen kann, sofern sie kompatibel sind. Kohärenz ist - wie literarische, philosophische und sogar wissenschaftliche Texte zeigen - stets relativ. Auf diesen Gedanken lässt sich Francesco Remotti erst gar nicht ein, sondern radikalisiert Keupps Position, indem er noch weiter geht als Lai und mit dem ominösen Titel Contro l’identità schlicht gegen die Identität und den Identitätszwang plädiert. Allerdings geht sein Plädoyer von der fragwürdigen Prämisse aus, dass Identität Alterität ausschließt: „Zwischen Identität und Alterität herrscht Spannung: Die Identität - man hat es gesehen - wird auf Kosten der Alterität hergestellt, wobei alternative Möglichkeiten drastisch reduziert werden; es 103 G. Lai, Disidentità, op. cit., S. 27. 104 Zur Bedeutung des „narrativen Programms“ für die Subjektkonstitution vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2007 (2. Aufl.), S. 10. 105 H. Keupp, Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation. Sozialpsychologische Studien, Heidelberg, Asanger, 1988, S. 40. 152 ist folglich ein Anliegen der Identität, die Alterität vom Horizont zu tilgen, verschwinden zu lassen.“ 106 Unberücksichtigt bleibt die hermeneutisch-dialektische These, auf der auch dieses Buch gründet, dass eine wohlverstandene, nicht pathologische Subjektivität aus dem Dialog mit dem Anderen hervorgeht und somit der Alterität ihre Existenz verdankt. Schließlich erlernt jedes Kind mit Hilfe der Mutter und der vielen anderen seine Muttersprache, die Teil seiner Identität ist. Es lernt alle anderen Sprachen, die in seine Identität eingehen, mit Hilfe der anderen. Remotti fasst Alterität nicht als wesentlichen Bestandteil der Subjektkonstruktion auf, sondern als Gefahr für die (stets repressive) Identität: „Die ‚anderen‘, die ‚Alterität‘ - die von der Identitätskonstruktion selbst hervorgebracht werden - sind dazu da, den Zweifel zu schüren, stets bereit, die Grundlosigkeit der Identitätskonstruktion zu demonstrieren (...).“ 107 Unberücksichtigt bleibt die von Bachtin immer wieder hervorgehobene Tatsache, dass es Identität ohne die anderen nicht gäbe. Bei näheren Hinsehen wird deutlich, dass Remotti nur eine Identität kennt, nämlich die des monologischen, malignen Narzissmus: „Innerhalb einer streng identitären Logik können sich die anderen kaum der Rolle von Phantasmen entziehen, die die Legitimität stören, einer schleichenden, versteckten oder sichtbaren Gefahr gleich.“ 108 An anderer Stelle ist von den „solitären und tendenziell narzisstischen und autistischen Ansprüchen der Identität“ 109 die Rede. Es hat sich jedoch gezeigt (Kap. II), dass es auch einen gesunden Narzissmus geben kann, der vom Dialog mit den anderen und dem Anderen lebt. Für Lais und Remottis Polemiken gegen die Identität - und letztlich gegen Subjektivität schlechthin, sofern Subjektivität als Prozess, als Identitätskonstruktion definiert wird 110 , - gibt es zwei Gründe. Der erste fällt mit der Tatsache zusammen, dass der maligne Narzissmus, der sich an ein infantiles Idealich klammert und dazu neigt, alles Andersartige abzulehnen, in der zeitgenössischen Gesellschaft zunimmt und von beiden Autoren abgelehnt wird. Der zweite Grund mag die augenfällige Zunahme „situativer“, „schwacher“ Identitäten sein, die 106 F. Remotti, Contro l’identità, Bari, Laterza, 1999, S. 61. 107 Ibid., S. 98. 108 Ibid. 109 Ibid., S. 99. 110 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., Kap. I. 153 zu einer Anpassung an den Trend einlädt. In einer Zeit, in der eher Flexibilität als Standhaftigkeit verlangt wird, mag es vielen sinnvoll erscheinen, für schwache Identität oder gar Identitätslosigkeit zu plädieren. Es ist hier nicht der Ort, die dialogische Subjektivität, die durchaus auf Kohärenz gründet (nicht jedoch auf Geschlossenheit), als Alternative darzustellen. 111 Wichtiger scheint die Frage zu sein, was mit dem Narzissmus in einer Zeit geschieht, in der „Identitätslosigkeit“ zum Desiderat wird. Abermals muss die Antwort lauten, dass der Narzissmus in einem solchen Fall seinen ursprünglichen Gegenstand verliert, weil Subjektivität zur Atrophie verurteilt wird. Dies bedeutet nicht, dass er als libidinöser Impuls verschwindet; er hat jedoch nicht länger ein zusammenhängendes Subjekt, das sich an Ichidealen orientiert, zum Gegenstand, sondern wird in ein ephemeres, infantiles Idealich investiert, das in vielen Fällen mit dem Körper und der Körperlichkeit (Habitus, Kleidung, Auftreten) zusammenfällt. Kurzum, die Identitätslosigkeit als Zerfall des Ichideals hat eine Stärkung des Idealichs und des von Remotti implizit kritisierten malignen Narzissmus zur Folge. Wird Literatur als soziales Barometer gelesen, das auf die Peripetien der gesellschaftlichen Entwicklung reagiert, so stellt sich heraus, dass schon die literarische Spätmoderne (der Modernismus) Identitätslosigkeit und eine reduzierte Subjektivität ankündigt. Nicht nur Kafkas Josef K. zeugt mit seinem abgekürzten Nachnamen und seiner Anonymität von dieser Reduktion; auch die Helden des Existentialismus, etwa Sartres Antoine Roquentin und Camus’ Meursault, kündigen eine Subjektivität an, die Mühe hat, sich zu behaupten (Roquentin), oder auf Selbstbehauptung verzichtet (Meursault). Von Meursault sagt Jean-Claude Coquet zu Recht, er habe keinen Objekt-Aktanten: „Er scheint von der Kombinatorik ausgeschlossen zu sein, weil für Meursault jede Art von Suche undenkbar ist; er lebt wie andere Protagonisten Camus’ ‚eine Zeit des Verlangens ohne Objekt‘.“ 112 Wo das Objekt dem erzählenden und handelnden Subjekt abhanden kommt, dort fehlt auch das identitätsbildende narrative Programm, das letztlich Subjektivität begründet. 111 Vgl. ibid., Kap. V. 112 J.-Cl. Coquet, Sémiotique littéraire. Contribution à l’analyse sémantique du discours, Tours, Maison Mâme, 1973, S. 57. 154 Namenlosigkeit, Ichschwäche und das Fehlen eines Charakters scheinen für die Romane des Existentialismus und der gesamten Spätmoderne kennzeichnend zu sein. Dies fiel schon in den 60er Jahren Alain Robbe-Grillet, einem der Hauptvertreter des Nouveau Roman, auf: „Wie viele Leser werden sich noch an den Namen des Erzählers von La Nausée oder L’Etranger erinnern? Geht es dort wirklich um menschliche Typen? Wäre es nicht vielmehr die größte Absurdität, diese Bücher als Charakterstudien aufzufassen? “ 113 Charakter und Persönlichkeit, die im 18. und 19. Jahrhundert zu den Hauptthemen des Romans gehörten, werden schon im ausgehenden 19. Jahrhundert - angesichts eines erstarkenden Idealichs - in Frage gestellt (etwa bei Huysmans) und verfallen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der spätmodernen Kritik. 114 In der postmodernen Literatur ist die Dominanz des Idealichs kaum zu übersehen. In Thomas Bernhards Kurzroman Der Untergeher kapseln sich drei Klavierspieler mit der Zeit von der Öffentlichkeit ab, sagen allen gesellschaftlich gewachsenen Ichidealen ab und konzentrieren ihren Narzissmus auf ein nahezu autistisches Idealich, das im Zusammenhang mit dem fiktiven Glenn Gould am deutlichsten zum Ausdruck kommt: „Und Glenn spielte ja auch nur zwei oder drei Jahre öffentlich, dann ertrug er es nicht mehr und blieb zuhause und wurde da, in seinem Haus in Amerika, der beste und der wichtigste aller Klavierspieler.“ 115 Der Bruch mit der Öffentlichkeit zeugt in diesem Fall vom Niedergang des Ichideals, das vom postmodernen Künstler nicht mehr verkörpert wird. Sein Ideal ist ein Spleen, denn es fällt mit dem pathologischen Verlangen zusammen, mit dem Klavier zu verschmelzen und zu einer perfekten Maschine zu werden: „Eines Tages aufwachen und Steinway und Glenn in einem sein, sagte er, dachte ich, Glenn Steinway, Steinway Glenn nur für Bach.“ 116 Die infantil-narzisstischen Elemente des Idealichs fasst der Ich-Erzähler zusammen, wenn er im Hinblick auf Glenn Gould notiert: „Musik/ Besessenheit/ Ruhmsucht/ Glenn (...).“ 117 Doch auch er selbst gehorcht den Imperativen eines Idealichs, das nicht aus kollektiven Werten und Normen hervorgeht, sondern von der 113 A. Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Paris, Gallimard, 1963, S. 32. 114 Vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne, op. cit., Kap. V. 3. 115 Th. Bernhard, Der Untergeher, Frankfurt, Suhrkamp (1983), 1988, S. 25. 116 Ibid., S. 119. 117 Ibid., S. 59. 155 Gegnerschaft zu Familie und Gesellschaft lebt: „Nicht die Kunst, nicht die Musik, nicht das Klavierspiel ist es gewesen, nur die Opposition gegen die Meinigen, dachte ich.“ 118 Die drei Negationen verschmelzen zu einer einzigen Negation des Ichideals, das dem Idealich weicht: einer widersprüchlichen, labilen Instanz, die größtenteils aus einer ambivalenten, neid- und hasserfüllten Bewunderung für Glenn Gould besteht. Bernhards Roman könnte in seiner Gesamtheit als Analyse eines malignen Narzissmus gelesen werden, der von Neid, Hass und einer infantilen Selbstüberschätzung genährt wird. Dass diese Art von Narzissmus für die Postmoderne charakteristisch ist, lässt ein anderer zeitgenössischer Roman erkennen, der im letzten Kapitel ausführlicher zur Sprache kommt: Patrick Süskinds Das Parfum. Wie kein anderer postmoderner Text führt Das Parfum dem Leser die Reduktion der Ichideale auf ein ephemeres Idealich vor Augen, das sich schließlich zusammen mit dem Parfum auflöst. 6. Gegenbewegung: Ein weibliches Ichideal? Es mag auch in diesem Fall nützlich sein, „gegen sich selbst [zu] denken, ohne sich preiszugeben“ 119 , wie Adorno es ausdrückt. Denn wo vom Niedergang der Ichideale die Rede ist, drängt sich der Einwand auf, dass es Ichideale weiterhin gibt und dass sie im weiblichen Teil der Gesellschaft sogar stärker vertreten sind als in der Vergangenheit. An der Existenz von Ichidealen sowie den ihnen entsprechenden Formen des Narzissmus, die in der Gesellschaft als produktiv und kreativ anerkannt werden, ist nicht zu zweifeln. Auch die Postmoderne ist in ihrer Gesamtheit nicht als eine Welt aufzufassen, die ausschließlich dem infantilen Narzissmus des Idealichs huldigt und eine Wirklichkeit außerhalb des Imaginären nicht zu erkennen vermag. Es gibt weiterhin Berufsgruppen - Ärzte, Wissenschaftler, Künstler -, die sich trotz widriger Umstände wie Zeitmangel, Geldnot und Überlastung bemühen, hochgesteckte Ziele in Übereinstimmung mit bestimmten Werten und Normen zu erreichen. Anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören diesen Berufsgruppen zahlreiche Frauen an, die die in ihrem Bereich gel- 118 Ibid., S. 29. 119 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. 156 tenden Normen bisweilen noch ernster nehmen als ihre Kollegen, weil sie sich stärker als diese kritischen Blicken ausgesetzt fühlen. Die gegenläufige Tendenz, die es zu berücksichtigen gilt, ist folglich der Eintritt der Frauen in die Produktionssphären der Gesellschaft und die mit ihm einhergehende weibliche Deutung oder Umdeutung der geltenden Ichideale und des Narzissmus als sozialer Erscheinung. Diese Umdeutung wird von einer feministischen Ideologie begleitet und legitimiert, die im Gegensatz zum dekonstruktiven Feminismus 120 den Subjektbegriff nicht ablehnt, sondern sich um seine Neudefinition im feministischen Sinne bemüht. Diese Position wird u.a. von Honi Fern Haber verteidigt, die der postmodernen Skepsis dem Subjektbegriff gegenüber absagt und sich für weibliche Subjektivität als agency, als individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit, einsetzt: „Postmoderne Politik stellt keine Option dar (...), denn sie schließt Gemeinschaftsbildung und zusammenhängende Subjekte (coherent subjects) aus, die beide für die Identitätsbildung des Andersartigen wesentlich sind.“ 121 Mit dem Andersartigen ist hier das Weibliche gemeint, das sich gegen heteronome Deutungen und Benachteiligungen zur Wehr setzt. Konkretisiert wird diese Position in den Arbeiten von Françoise Gaspard, die im Anschluss an Alain Touraines Soziologie der Bewegungen das Schicksal weiblicher Subjektivität mit der Zukunft der Frauenbewegung verknüpft in der Hoffnung, so eine Brücke vom Individuum zum Kollektiv zu schlagen. Sie spricht von Frauen als „kollektiver Kraft“ 122 und gibt damit zu verstehen, dass die Einzelschicksale von Frauen in Familie, Ausbildung und Beruf im Rahmen von Gruppenauseinandersetzungen zu betrachten sind, deren Geschichte seit der Französischen Revolution sie untersucht. Wie solche Einzelschicksale aussehen können, beschreibt Regina Becker-Schmidt: „In der sozialen Praxis - der privaten wie beruflichen - erweisen sich Frauen der Sache nach durchaus als geeignete Vorbilder. Sie können auch Männern Anlaß geben, sich an ihrem Ehr- 120 Zum dekonstruktiven Feminismus vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., Kap. III. 8. 121 H. Fern Haber, Beyond Postmodern Politics. Lyotard, Rorty, Foucault, London- New York, Routledge, 1994, S. 130. 122 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, in: F. Dubet, M. Wieviorka (Hrsg.), Penser le sujet. Autour d’Alain Touraine, Paris, Fayard, 1995, S. 151. 157 geiz ein Beispiel zu nehmen.“ 123 Es geht hier nicht um das feministische Engagement der Autorin, sondern um die Tatsache, dass Frauen in nahezu allen Berufen vertreten sind und die Wertsysteme, Normen und Ichideale dieser Berufe in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen, Interessen - und ihrem Narzissmus - interpretieren. Von den heranwachsenden Mädchen heißt es bei Becker-Schmidt: „Sie orientieren sich an weiblichen wie männlichen Vorbildern - sie wollen Entdecker und Schauspielerin, Stewardeß und Architekt werden.“ 124 Man sollte hinzufügen, dass sich diese Vorbilder in dem Maße ändern, wie die beruflichen Rollen von Frauen besetzt und umgestaltet werden. Angesichts solcher Entwicklungen fällt es schwer, weiblichen Narzissmus ausschließlich mit Körperlichkeit, Kleidung und élégance zu identifizieren und den männlichen vorwiegend im beruflichen Bereich anzusiedeln. Jacqueline Lanouzière mag nicht ganz unrecht haben mit ihrer Behauptung, weiblicher Narzissmus entstehe „durch die Tyrannei des Sichtbaren“ 125 , konzentriere sich also auf das Aussehen. Davon zeugen vor allem die Mode und die Werbung für kosmetische Produkte. Doch auch Männer bekommen die „Tyrannei des Sichtbaren“ immer häufiger zu spüren und können sich dem Druck, ihr Äußeres zu pflegen, immer seltener entziehen, zumal sie diesem Druck auch im Beruf ausgesetzt sind. Daraus ergibt sich das folgende Szenario: Während Frauen in Berufe drängen, die früher als männlich definiert wurden, entdecken viele Männer ihren Körper im Sinne von Sportlichkeit, Athletik oder modebewusster Eleganz, die bisweilen sogar an den Dandyismus der vorigen Jahrhundertwende erinnert (vgl. Kap. IV). Der Narzissmus beider Geschlechter kann sich sowohl in Beruf und Familie, im Besitz, im Streben nach Macht als auch in medial vermittelten Fantasien verwirklichen. Dabei tritt bald das Ichideal, bald das Idealich in den Vordergrund. Die gesellschaftliche Situation ist jedoch so beschaffen, dass es beiden Geschlechtern aus den eingangs erwähnten Gründen immer 123 R. Becker-Schmidt, „Mädchen und Jungen auf der Suche nach geschlechtlicher Identität“, in: J. Wiesse (Hrsg.), Identität und Einsamkeit. Zur Psychoanalyse von Narzißmus und Beziehung, Göttingen, Vandehoeck-Ruprecht, 2000, S. 82. 124 Ibid., S. 87. 125 J. Lanouzière, in: N. Jeammet, F. Neau, R. Roussillon, Narcissisme et perversion, op. cit., S. 39. 158 schwerer fällt, Ichideale zu verwirklichen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich Frauen verstärkt in Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft zu Wort melden. Eine Nummer der amerikanischen Zeitschrift Fortune, die sich vorwiegend mit Wirtschaftsfragen befasst, zeigt warum. In der Ausgabe vom 13. Oktober 2008 stehen zwei Berichte an prominenter Stelle: „The Most Powerful Women. Silicon Valley’s New Social Network“ und „The International Top 50 Women in Business“. Während es im ersten Bericht vor allem um networking und gesellschaftliche Macht geht, wie der Titel bereits andeutet, geht es im zweiten Bericht um „Image“ und Geld. Die einleitenden Sätze fassen das Anliegen des ersten Berichts zusammen: „The tech world has a new inner circle. They’re young, they’re global, they have power marriages and little kids. And unlike their predecessors, they’re relying on a unique social network to get ahead.“ 126 Networking scheint hier der zentrale Gedanke zu sein, der es ermöglichen soll, die beiden obersten Ziele zu erreichen: mehr Macht, mehr Geld. Der Beruf ist keine Berufung mehr, sondern „Job“. Dass es primär um Geld geht, zeigt eine kurze Mitteilung über die Transport-Managerin Maria Ramos in Südafrika: „Ramos, 49, keeps Transnet on track. Her five-year restructuring of the state-owned transportation company is working, turning a money-losing company into a money-maker that boosted the top line by 12% last year.“ 127 Die Frage, ob dieses südafrikanische Transportsystem nun besser funktioniert und die Reisenden zufriedener sind als vorher, wird gar nicht gestellt, da es ja um Sanierung im finanziellen Sinne geht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die reale Welt der berufstätigen Frauen und Männer nicht wesentlich von den Fiktionen in Second Life. Hier wie dort geht es letztlich darum, den Gewinn zu steigern, der allein für eine erfolgreiche Karriere und ein unversehrtes Idealich bürgt, das von Laplanche und Pontalis als „Ideal narzisstischer Allmacht“ definiert wird (s.o.). Reale und fiktive Welt haben eine und dieselbe Grundlage, die im Zusammenhang mit Second Life von Wirtschaftswissenschaftlern der Mainzer Universität untersucht wurde. Ihr Fazit lautet: „Die vorliegende Studie beweist, dass sich ein gut gemachter Unternehmens- 126 P. Sellers, „The New Valley Girls“, in: Fortune, 13. Oktober 2008, S. 69. 127 J. Mero, „International Power“, in: Fortune, op. cit., S. 79. 159 auftritt in Second Life trotz der in jüngster Zeit zahlreichen Meldungen über Flops renommierter Unternehmen in diesem Medium für die beteiligten Unternehmen durchaus in hohem Maße lohnen kann.“ 128 Solche Aussagen gelten selbstverständlich auch für die reale Welt - und in zunehmendem Maße auch für die Universität. Zu Harvard bemerkt John H. Summers als Lektor, „dass seine Lehrtätigkeit zu kaum mehr als einer Dienstleistung zur Vorbereitung seiner Klienten auf einkommensträchtige Karrieren degradiert worden war“. 129 Es liegt auf der Hand, dass in einer solchen Situation Ichideale bestenfalls in beschützten Enklaven gedeihen. In beiden Welten herrscht in letzter Instanz der Tauschwert als einziger gemeinsamer Nenner aller gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme, in denen Ichideale durchaus noch ihre - wenn auch begrenzte - Bedeutung haben mögen. Doch verallgemeinerungsfähig sind sie nicht mehr. In einer Gesellschaft, in der sich jede religiöse, ethische, politische oder ästhetische Wertsetzung als partikular erweist, weil sie auf Widerstand, Gegnerschaft und Gegenmeinung stößt, vermag sich jenseits aller ideologischen Konflikte nur noch die Frage nach dem Wieviel zu behaupten. In dieser Situation hat der Narzissmus des Idealichs dem des Ichideals gegenüber den Vorteil, dass er seinen partikularen, individuellen Charakter unumwunden zugibt, während der Narzissmus des Ichideals oft ein Täuschungsmanöver ist (der Narzisst tut so, als folgte er einem Ichideal, hat in Wirklichkeit aber nur sein Idealich im Sinn). Man könnte noch weiter gehen und behaupten, dass der Narzissmus des Idealichs der zeitgemäße Narzissmus ist, weil er postmodernflexibel ist und weil der Narzissmus der Ichideale seine malignen Seiten hatte: etwa die von Freud analysierte Identifikation des Einzelnen mit dem Diktator. Trotz ihres Wahrheitsmoments ist diese Auffassung einseitig: Denn das flexible Idealich schließt eine Identifikation mit Diktatoren ebenso wenig aus wie eine Unterwerfung unter totalitäre Medienmagnaten, die nun das Erbe der Diktatoren antreten und auf eine Manipu- 128 F. Huber, J. Vogel, S. Skipalski, „Second Life: Your World. Your Imagination. - Your Success? Eine empirische Analyse des Erfolgspotentials von Second Life“, Centre of Market-Oriented Product and Production Management, Univ. Mainz, Mainz, 2008, Wiss. Arbeitspapiere, P 13, „Abstract“. 129 J. H. Summers, „Alle Privilegierten sollten Preise bekommen. Harvard aus der Sicht eines Lektors“, in: Forschung und Lehre 10, 2008, S. 668. 160 lation des Idealichs aus sind. Es kommt hinzu, dass der Aufstieg des Idealichs den „Zerfall der Werte“ beschleunigt und den Zusammenhalt der von Anomien heimgesuchten Gesellschaft gefährdet. Dennoch kann sich der informierte Leser nach einer Lektüre der beiden Berichte in Fortune des Gefühls nicht erwehren, dass Freuds (und Lacans) Ichideal als obsolete Vokabel der Sprachkritik verfällt. Es lohnt sich jedoch, diese Vokabel weiterhin zu verwenden, weil nur so das Idealich (gleichsam als Antonym) im Kontext zu bestimmen ist und weil der semantische Niedergang des „Ichideals“ erkennen lässt, was seit dem Anbruch der Postmoderne verloren gegangen ist. 161 IV. Kultur, Literatur und Wissenschaft: Zwischen Idealich und Ichideal Im vorigen Kapitel galt es, zwei komplementäre Entwicklungen nachzuzeichnen: den Niedergang moderner Ichideale in einer zur Wertindifferenz tendierenden Postmoderne und den Aufstieg des gesellschaftlich unverbindlichen Idealichs, das aus den Größenfantasien des Einzelnen hervorgeht. Parallelentwicklungen in Literatur, Kunst und Kultur 1 zeigen allerdings, dass es sich nicht um einen linearen Prozess handelt, in dessen Verlauf das Ichideal immer mehr ausgehöhlt wird, während das Idealich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt erstarkt. Gegenläufige Tendenzen sind immer wieder zu beobachten. Während die Dandys des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihr Aussehen und Auftreten zu einem mondänen Ideal stilisierten, in dem das Idealich als Größenfantasie dominierte, polemisierte Proust zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die ephemeren Fantasien der Salonwelt und verkündete apodiktisch die Ewigkeit der Kunst, in der schon Mallarmé sein Ichideal erkannt hatte. Die Lebensgeschichte seines Ich-Erzählers zeigt jedoch, dass ihm das mondäne Idealich und der mit ihm liierte Narzissmus der Salongesellschaft keineswegs fremd waren. Ähnliches ließe sich von Thomas Manns Held Adrian Leverkühn sagen, der mit seinem infantilen Idealich in der mütterlichen Welt des Imaginären verharrt, während sein Ichideal die weltverändernden Ambitionen des Künstlers zum Ausdruck bringt. Sowohl bei Proust als auch bei Thomas Mann wird aber deutlich, dass Ichideal und Idealich nicht sauber voneinander zu trennen sind, weil auch das künstlerische Ichideal letztlich aus einer von der Muttergestalt dominierten Kindheit hervorgeht. Dieses Szenario, das die spätmoderne (modernistische) Literatur trotz ihrer Gesellschaftskritik und ihrer antibürgerlichen Revolten unwiderruflich an die Erfahrungswelt des europäischen Bildungsbürgertums bindet, ändert sich radikal in Patrick Süskinds postmodernem 1 Zum Narzissmus in Literatur und Kunst vgl. den von Ursula Orlowsky und Rebekka Orlowsky herausgegebenen Band Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung, München, Fink, 1992. 162 Roman Das Parfum, der in vieler Hinsicht als Parodie der Künstlerromane Prousts und Manns zu lesen ist. 2 Zusammen mit allen tradierten Werten im religiösen, moralischen oder künstlerischen Sinn verschwindet bei Süskind das Ichideal. An seine Stelle tritt das Idealich eines infantilen Mörders, der sich keine Wertsetzungen jenseits seiner eigenen Körperlichkeit vorzustellen vermag. Von ihm gilt, was Christopher Lasch vom zeitgenössischen Menschen sagt: dass er unfähig sei, „Interesse an etwas zu finden, das über den eigenen Tod hinausreicht“. 3 Die Eindimensionalität des postmodernen Narzissmus, die im dritten Kapitel eher als Möglichkeit oder sich durchsetzende Tendenz dargestellt wurde, erscheint in Süskinds Roman als vollendete Tatsache. Einmal mehr zeigt sich hier, dass Kunst als soziales Barometer der gesellschaftlichen Entwicklung vorauseilen und ihre Ergebnisse vorwegnehmen kann. Der internationale Erfolg dieses Romans, der keineswegs auf „Die Geschichte eines Mörders“ (so der Untertitel) zurückgeführt werden kann, wäre in diesem Kontext zu erklären. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird in aller Knappheit die Wechselbeziehung zwischen Idealich und Ichideal in der zeitgenössischen Wissenschaft untersucht. Es zeigt sich, dass Einzelwissenschaftler und Wissenschaftlergruppen gegen einen Narzissmus des Idealichs keineswegs gefeit sind. Dieser nimmt in vielen Fällen die Form eines individuellen oder kollektiven Monologs an. 1. Der Dandy im Spiegel der Gesellschaft Da das Dandytum der Londoner, Pariser oder Wiener Gesellschaft der vorigen Jahrhundertwende gemeinhin mit Müßiggang, Eitelkeit und einem exzentrischen Modebewusstsein assoziiert wird, liegt es nahe, den Dandy dieser Zeit als eine Inkarnation des Idealichs zu verstehen. Obwohl diese Betrachtungsweise sicherlich nicht unberechtigt ist, weil es dem Dandy primär um seine eigene Person und deren mondä- 2 Vgl. Vf., „Postmoderne Parodien des Künstlerromans: Von Michel Butor zu Patrick Süskind“, in: Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008. 3 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus (1979), Hamburg, Hoffmann und Campe, 1995, S. 266. 163 ne Wirkung geht, sollte das mondäne Ideal, das der Dandy auch verkörperte, nicht aus dem Blickfeld verschwinden. 4 Denn die Karriere eines Dandys war nicht bloß ein ego trip im postmodernen Sinn. Im Idealfall fasste sie die Vorstellungen einer Mußeklasse im Sinne von Veblen 5 zusammen: einer Klasse, die im 19. Jahrhundert aus der Symbiose von Adel und Großbürgertum (Bildungsbürgertum) hervorgegangen war und später gegen den sich durchsetzenden Utilitarismus des Wirtschaftsbürgertums aufbegehrte. Die Angehörigen dieser Klasse, die von Landbesitz, Aktien und Renten lebten, betrachteten mit Nostalgie den Niedergang des europäischen Adels und unternahmen alles, um seinen Lebensstil zu retten: seine Umgangsformen, seine Konversation, sein Modebewusstsein sowie seine Vorliebe für Kunstgegenstände und andere Kostbarkeiten. Der Dandy trat als wandelndes Symbol dieser bürgerlich-adeligen Symbiose auf, deren radikaler Ästhetizismus und Antiutilitarismus in dem Maße zunahm, wie ihr politischer Einfluss schwand. Charles Baudelaire hat als einer der ersten den historischen und gesellschaftlichen Standort der Dandys bezeichnet, als er bemerkte: „Das Dandytum tritt vor allem in Zeiten des Übergangs in Erscheinung, in denen die Demokratie noch nicht allmächtig und die Aristokratie nur teilweise geschwächt und entwertet ist.“ 6 Der Erklärung folgt ein recht eindeutiges Werturteil: „Das Dandytum ist das letzte Aufleuchten des Heldentums in der Dekadenz (...).“ 7 Diese Bemerkungen lassen vermuten, dass der „culte de soimême“ 8 , von dem ebenfalls bei Baudelaire die Rede ist, nicht auf den Narzissmus des Idealichs reduziert werden kann. Denn dieser Kult der eigenen Person geht auch über sie hinaus, weil der Dandy durch seine mondäne Exzentrik die aristokratischen Werte verkörpert, für deren Überleben der untergehende Adel und das ihn begleitende Bildungsbürgertum in anachronistischen Rückzugsgefechten kämpfen. Nur so 4 Vgl. Vf., „Vom Dandy zum Künstler - oder Narcissus bifrons“, in: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen, Francke, 2001. 5 Vgl. T. Veblen, The Theory of the Leisure Class, New York, Macmillan, 1899, 1912. 6 Ch. Baudelaire, „Le Dandy“, in: Œuvres complètes, Bd. II, texte établi, présenté et annoté par Cl. Pichois, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1976, S. 711. 7 Ibid. 8 Ibid., S. 710. 164 ist Baudelaires Bewunderung für den Dandy zu erklären. Angesichts einer erstarkenden Demokratie, deren ideologisches Repertoire von Egalitarismus und Utilitarismus beherrscht wird, hebt Baudelaire das Streben nach distinction, nach der Erhaltung des feinen Unterschieds hervor, das er beim Dandy noch vorfindet. So können Patrick Favardin und Laurent Boüexière in ihren Kommentaren zu George Brummell und Barbey d’Aurevilly mit einer gewissen Berechtigung vom Dandyismus als Ichideal sprechen: „Er ist ein Ideal, das außergewöhnliche Menschen im geistigen Bereich zusammenführt.“ 9 Jedoch ist diese Auffassung etwas zu idealistisch, weil die aristokratischen Allüren der Dandys letztlich keine andere Grundlage haben als das akkumulierte Kapital des von ihnen verachteten Wirtschaftsbürgertums. Anders als der Feudaladel, der sich auf seinen Land- und Waffenbesitz berufen konnte, fristen die Angehörigen der Mußeklasse ein parasitäres Dasein. Obwohl sie gegen den sich durchsetzenden Tauschwert revoltieren, leben sie von ihm. Ihre Existenz hat weder eine politische noch eine wirtschaftliche Substanz, sondern erschöpft sich in reinen Formen: in einem mondänen Habitus, in perfekter Kleidung und einer stets originellen Konversation. „Ein Dandy tut nichts“ 10 , bemerkt Baudelaire und deutet an, dass der Dandy zusammen mit dem Utilitarismus jede Art von nützlicher Beschäftigung, jede Art von Arbeit verachtet. Im Zusammenhang mit George Brummell, dem ersten großen Dandy der Londoner Salongesellschaft um 1800, ist bei Emilien Carassus gar von einer „gewissen Verachtung der Künstler“ 11 die Rede. Der Dandy lehnt die produktive Tätigkeit des Künstlers, Unternehmers oder Wissenschaftlers ab, weil er sich selbst zu einem wandelnden Kunstwerk stilisiert. Seine gesamte ästhetische Energie investiert er in seine Person und seinen Habitus. Diesen definiert Bourdieu als „das, was man erworben hat und was dauerhaft vom Körper in Form von permanenten Anlagen aufgenommen wurde“. 12 9 P. Favardin, L. Boüexière, Le Dandysme, Lyon, La Manufacture, 1988, S. 103. 10 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: Œuvres complètes, Bd. I, texte établi, présenté et annoté par Cl. Pichois, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1975, S. 684. 11 E. Carassus, Le Mythe du dandy, Paris, Colin, 1971, S. 33. 12 P. Bourdieu, Questions de sociologie, Paris, Minuit, 1980, S. 134. 165 Es mag sein, dass dieser Habitus ein mondänes Ideal des ausgehenden 19. und noch des beginnenden 20. Jahrhunderts verkörpert; er geht aber kaum über die Person des Dandys hinaus. Insofern entspricht er eher dem narzisstischen Idealich als dem Ichideal. Letzteres ist stets produktiv und kreativ im künstlerischen, politischen oder wissenschaftlichen Sinne. Der Narzissmus der Dandys ist jedoch vorwiegend selbstbezogen. Schon Baudelaire stellte fest: „Der Dandy muss danach streben, ununterbrochen erhaben zu sein; er muss vor einem Spiegel leben und schlafen.“ 13 Die Ironie deutet an, dass er eigentlich nicht schlafen dürfte, weil der Schlaf ein natürlicher Zustand der Entspannung und des Sich-Gehen-Lassens ist, den sich der mondäne Ästhet nicht leisten kann, sofern er seinem Idealich treu bleiben will. Der Spiegel des im Imaginären verharrenden Dandys sind die anderen. In seinem Buch über Robert de Montesquiou skizziert Philippe Jullian mit wenigen Worten die gesellschaftliche Situation eines Dandys und dessen Verhältnis zu den anderen: „Der Dandy ist ein Narzisst. Er will sich in bewundernden Blicken spiegeln und sucht im Porträt die Komplimente seines Spiegels.“ 14 Ein solches Porträt hat im Jahre 1897 Giovanni Boldini 15 vom Grafen Robert de Montesquiou angefertigt. Das Gemälde verrät einiges über den Habitus des Adeligen, dessen Vater sich gezwungen sah, eine reiche Protestantin bürgerlicher Herkunft zu heiraten, um die hohen Kosten seines standesgemäßen Lebenswandels bestreiten zu können. Der dandyhafte Habitus ist, wie Jullian bemerkt 16 , durchaus als Kompensationsverhalten zu verstehen, das auf die Verbürgerlichung der Familie mit Stilisierung reagiert. 13 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: Œuvres complètes, Bd. I, op. cit., S. 678. 14 P. Jullian, Robert de Montesquiou. Un Prince 1900-1930, Paris, Perrin, 1965, S. 64. 15 Giovanni (Jean) Boldini (Ferrara 1842 - Paris 1932) war der Maler der mondänen Gesellschaft. Nach seiner Ausbildung in Florenz verließ er 1865 Italien und widmete sich in London mit großem Erfolg der Porträtmalerei. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er in Paris, wo er sich 1872 niederließ und prominente Personen der Salongesellschaft - vor allem des Faubourg Saint-Germain - malte. 16 P. Jullian, Robert de Montesquiou, op. cit., S. 161. 166 Giovanni BOLDINI (1842-1931) Le comte Robert de Montesquiou, 1897 (© bpk / Paris, Musée d’Orsay / Hervé Lewandowski) 167 Die elegante Kleidung und vor allem die weißen Handschuhe deuten an, dass es sich um einen Angehörigen der leisure class handelt, dem die Arbeitswelt und jede Art von nützlicher Tätigkeit fremd sind. Das eher blasse Gesicht bestätigt Baudelaires These über die Unnatürlichkeit des Dandys, durch die er sich von der Frau unterscheide. 17 Das gepflegte Bärtchen ergänzt die sorgfältige Stilisierung der Kleidung. Doch wichtiger als alle diese Aspekte des Habitus ist die narzisstische Weltabgewandtheit des Porträtierten: Er scheint ausschließlich mit sich selbst, genauer gesagt mit dem Knauf seines Spazierstocks beschäftigt zu sein. Der Bewunderte, der die Blicke aller Anwesenden auf sich ziehen will, darf den Blick des anderen nicht erwidern. Er hält konsequent am „Kult der Kälte“ fest, von dem Hiltrud Gnüg spricht 18 , und der zugleich ein Ichkult, ein Kult des Selbst als Idealich ist. Zur Metonymie oder Synekdoche dieses Kults wird im vorliegenden Fall der Kopf Montesquious, den der Maler - zusammen mit dem weißen Hemd, dem dunklen Halstuch und den weißen Handschuhen - gleichsam als pars pro toto hervortreten lässt, indem er für den Rest des Gemäldes ein unscheinbares Graubraun verwendet. Das Porträt ist insofern ein Modell des Dandytums, als es die Geste der Weltabgewandtheit darstellt und dadurch den narzisstischen Willen des Dandys zu erkennen gibt, um jeden Preis Distanz zu wahren. Dazu bemerkt Gnüg, die den Liebenswürdigen, „der sympathisch wirken möchte“, dem Dandy gegenüberstellt: „Der Dandy in seiner Lust, Erstaunen, Verblüffung, Irritation zu produzieren, bedarf im Gegenteil der Distanz, der Aura der Undurchschaubarkeit, um aus dem Dunkel seiner undurchdringlichen Psyche seine Überraschungsblitze abzuschießen, er entblößt sich nicht, genießt es aber, die Blößen anderer mit brillanter Impertinenz, geistvollen Sarkasmen zu entlarven.“ 19 Hier wird zwischen den Zeilen klar, dass der Narzissmus des Dandys mit einem Herrschaftsanspruch einhergeht, der ebenfalls in Boldinis Porträt zum Ausdruck kommt: in Montesquious Blick auf seinen phallischen Spazierstock, der zugleich als Herrschaftsinstrument zu 17 Vgl. Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: Œuvres complètes, Bd. I, op. cit., S. 677. 18 Vgl. H. Gnüg, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart, Metzler, 1988, S. 7-11. 19 Ibid., S. 23. 168 deuten ist. So ergänzen einander Weltabgewandtheit, Selbstverliebtheit und Herrschaftsprinzip in der stummen Geste des Gemalten, der in mancher Hinsicht narzisstischen Politikern gleicht, die durch ihre auratische Abgeschiedenheit die Massen faszinieren. Diese drei Aspekte des Habitus finden sich in der mondänen Konversation wieder, die der Dandy als Causeur in allen ihren Finessen beherrscht. Er spricht nicht, um etwas mitzuteilen oder um sich mitzuteilen, sondern um Bewunderung für sich als Causeur zu wecken. Die anderen sind ihm bald Spiegel, wenn es um seine Erscheinung geht, bald Echo, wenn seine Sprache zur Geltung kommen soll. So aktualisiert er beide Aspekte des antiken Mythos, indem er es ablehnt, die bewundernden Blicke zu erwidern, und nur das Echo duldet, nicht aber den Dialog, in dem der andere als eigenständige Person und gleichberechtigter Partner auftritt. Der Dandy als Causeur ist ein Beispiel für monologisch-narzisstisches Verhalten, das den anderen nur als Hindernis oder Vorwand kennt und seine Anerkennung als Andersheit vorab ausschließt. Die elementare Strategie des Dandys besteht darin, stets im Mittelpunkt des Geschehens zu sein und sich optimal in Szene zu setzen. Von dieser Strategie zeugt Edward Bulwers Dandy-Roman Pelham (1828), zu dessen Erzählstruktur Ellen Moers bemerkt: „Selbstliebe ist auch das Prinzip, das Pelhams Erzählmethode zugrunde liegt. Obwohl er an den Hauptereignissen der Geschichte nur aus der Ferne teilnimmt, schafft er es, den Mittelpunkt einer jeden Szene zu bilden. Er beobachtet sich selbst als Beobachter.“ 20 Man wird an Baudelaires Bemerkung erinnert, dass der echte Dandy sein ganzes Leben vor einem Spiegel verbringt: Er darf sich selbst nicht aus den Augen lassen. Hier wird deutlich, wie sehr Herrschaft über andere Selbstbeherrschung im Sinne der Dialektik der Aufklärung voraussetzt. In mancher Hinsicht ist die Konversation des Causeurs als sprachlicher Ausdruck dieses Herrschaftsprinzips aufzufassen. Denn der Dandy als Causeur verfolgt zwei Ziele gleichzeitig: die Aufmerksamkeit der Anwesenden erregen und die verbale und nichtverbale Kommunikation seiner Umgebung beherrschen. Selbst in einem Zwiegespräch heischt er nach Bewunderung und erwartet Komplimente. Dieses subtile fishing for compliments macht 20 E. Moers, The Dandy. Brummell to Beerbohm, London, Secker and Warburg, 1960, S. 78. 169 sich immer wieder in Hofmannsthals Konversationsdrama (Lustspiel) Der Schwierige (1921) bemerkbar, etwa wenn Hans Karl (Graf Bühl), der in der Wiener Salonwelt als Causeur bestens bekannt ist, seinen Neffen Stani lächelnd mit der rhetorischen Frage konfrontiert: „Ich bin kein großer Causeur, nicht wahr, Stani? “ 21 Erwartungsgemäß provoziert diese Frage sowohl Komplimente des Neffen als auch die des ebenfalls anwesenden Barons Neuhoff. Doch es genügt nicht, sich in den bewundernden Blicken der anderen zu spiegeln; es gilt zugleich, die Konversation zu beherrschen: durch unerwartete Einwürfe oder Repliken, durch eine stets sorgfältig kalkulierte impertinence, die durchaus verletzend, nie jedoch vulgär sein darf, vor allem aber durch die tadellose Beherrschung des symbolischen und sprachlichen Kapitals (im Sinne von Bourdieu). Wie dieses Kapital eingesetzt werden kann, schildert Abel Hermant in seinen Kommentaren zur Pariser Salongesellschaft um 1900. Über das Verhältnis einer philosophierenden mondänen Dame zum Causeur schreibt er: „Sie besaß das Vokabular der Philosophen, und dadurch erwies sie sich als nützlich für den Causeur (...).“ 22 Das Wort „besaß“ suggeriert, dass es sich hier tatsächlich um eine Art von Kapital handelt, das dem Causeur bei Bedarf zur Verfügung gestellt wird, damit ihm die Herrschaft über die Konversation und seine Zuhörer nicht entgleite. Das Wort „nützlich“ deutet an, dass der Salonredner, wie so mancher andere Narzisst, die anderen ausschließlich als Vorwand (oder Hindernis) im Sinne des zweiten Kapitels betrachtet, nicht als genuine Gesprächspartner. Im Gegenteil, er findet als sadistischer Narzisst Gefallen daran, seine Bewunderer zu erniedrigen und verwendet das „Wort als Waffe“ 23 , wie Fernand Hörner in seiner Studie über den Dandy treffend bemerkt. Von Robert de Montesquiou heißt es bei Favardin und Boüexière: „Seine Dreistigkeit, das Raffinement seiner Konversation und seine Geistesgegenwart lassen die Snobs jeder Couleur, die in den aristokratischen Salons verkehren, buchstäblich erzittern: Seine Bewunderer traktiert er mit schweren Kränkungen, die oft von erschre- 21 H. von Hofmannsthal, „Der Schwierige“ (1921), in: Dramen, Bd. IV. Lustspiele, Frankfurt, Fischer, 1979, S. 360. 22 A. Hermant, „Du monde et de la conversation“, in: ders., Souvenirs du Vicomte de Courpière - par un témoin, Paris, Flammarion, s.d., S. 137. 23 F. Hörner, Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie, Bielefeld, Transcript, 2008, S. 68. 170 ckender Grausamkeit sind.“ 24 Hier zeigt sich, wie der Herrschaftsanspruch des Dandys in einen narzisstischen Sadismus übergeht. Die Objektliebe ist dem Dandy jedoch fremd, ja sie ist ihm versagt, weil er ausschließlich das Verlangen des anderen nach seinem narzisstischen Ich lieben darf, nicht jedoch die Person des anderen. Sein eigenes Verlangen ist ein désir du désir im Sinne von Moustapha Safouan: ein Verlangen nach dem Verlangen, das kein Objekt kennt und folglich nie verwirklicht werden kann. Ein Dandy kann sich, wie Wildes The Picture of Dorian Gray zeigt, nicht verlieben: Die scheinbar geliebte Frau (Sibyl Vane) dient ihm nur als Vorwand. Dennoch ist der Dandy - trotz seiner Gefühlskälte, seiner impertinence und seiner Verachtung der Anwesenden - nichts ohne die bewundernden Blicke der anderen; der Causeur ist nichts ohne deren bewunderndes Echo. So werden Spiegel und Echo als visuelle und akustische Komponenten des antiken Mythos im Auftreten des Dandys aktualisiert. Dessen Narzissmus ist labil geschichtet, weil er auf die nie erlahmende Aufmerksamkeit der anderen angewiesen ist. Sobald der mondäne Spiegel und das Echo der Konversation fehlen, droht die Identität des Dandys zu zerfallen. Diese ist nichts als Form: lässt die Aufmerksamkeit der anderen nach, weil die Gesten nicht mehr wirken, weil das Vokabular nicht mehr aktuell ist oder nicht optimal eingesetzt wird, ist die Erhabenheit, von der Baudelaire spricht, dahin oder schlägt gar ins Lächerliche um. Die schlimmste Strafe, die einen Dandy ereilen kann, ist das Exil, das Oscar Wilde nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis erleiden musste. Der Verbannte wurde sowohl des Spiegels als auch des Echos beraubt. Eine schlimmere narzisstische Kränkung ist kaum vorstellbar. Die Tatsache, dass der Dandy sowohl auf visueller als auch auf akustischer Ebene von der Gegenwart der anderen abhängig ist, zeugt von einem Narzissmus im Sinne des Idealichs: von einem Narzissmus, der im Imaginären Lacans beheimatet ist und in diesem aufgeht. Was dem Dandy vorschwebt, ist tatsächlich „ein Ideal narzißtischer Allmacht (...), das nach dem Vorbild des infantilen Narzißmus geprägt ist“. 25 24 P. Favardin, L. Boüexière, Le Dandysme, op. cit., S. 129. 25 J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (1967), Frankfurt, Suhrkamp, 1986 (7. Aufl.), S. 217. 171 An dieser Stelle wird sowohl die Verwandtschaft als auch die Gegnerschaft zwischen Dandy und Künstler sichtbar: Beide sind - in der Spätmoderne als Modernismus - dem Mütterlich-Imaginären verpflichtet, aus dem das Idealich hervorgeht; während aber der Dandy über diese Sphäre kaum hinausgelangt, findet der Künstler ein durch gesellschaftliche Werte und Normen vermitteltes Ichideal, auf das seine gesamte Produktivität ausgerichtet ist. Dass Ichideal und Idealich in den meisten Fällen ineinander greifen und nicht sauber zu trennen sind, ist kaum verwunderlich. Denn der Künstler, der seinen Weg sucht und noch kein klares Ziel vor Augen hat, folgt zunächst einem infantilen Größenselbst, das erst im Verlauf eines oft schwierigen Reifungsprozesses in ein Ichideal übergeht. Zu den anschaulichsten Beschreibungen dieses Reifungsprozesses gehört Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu, der im nächsten Abschnitt zur Sprache kommt. Dort wird gezeigt, wie sich der infantile Narzissmus des Erzählers allmählich von den mondänen Mythen der Dandys und Snobs löst und sein Ichideal in einer religiös konnotierten Literatur findet. Die Verwandtschaft von Dandy und Künstler im Idealich erklärt, warum so viele Künstler des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts als Dandys auftraten und warum einige Dandys - etwa Robert de Montesquiou - auch als Dichter ihr Glück versuchten. Ralph-Rainer Wuthenow sieht den Dandy als Verkleidungsform des Künstlers: „Wie der Flaneur eine Erscheinungsform des Dandy, so ist der Dandy eine der möglichen Verkleidungsformen des Dichters, des Künstlers, wie dies bei Baudelaire, zuweilen bei Gérard de Nerval, bei Barbey d’Aurevilly, bei Oscar Wilde und Aubrey Beardsley, freilich auch in der zugleich exklusiven und rebellischen Haltung eines Stefan George sichtbar wird.“ 26 Tatsächlich schwankte der Dichter-Dandy Oscar Wilde Zeit seines Lebens zwischen dem Idealich des Dandys, dem jede Arbeit als nützliche Tätigkeit suspekt ist, und dem Ichideal des Dichters, der jede Minute, die er nicht mit seinem Werk verbringt, für verschwendet hält. Seine Einstellung zum Werk ist ambivalent. In einem Brief an André Gide schlägt er einen dandyhaften, mondänen Ton an, wenn er seinen Roman The Picture of Dorian Gray als Zufallsprodukt einer 26 R.-R. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 190-191. 172 Wette darstellt: „Ich habe ihn in einigen Tagen geschrieben, weil einer meiner Freunde behauptete, dass ich keinen Roman schreiben könnte. Das Schreiben langweilt mich so.“ 27 Nun hat Wilde nicht nur diesen Roman geschrieben, sondern verschiedene Konversationsdramen, Erzählungen und noch einiges mehr, so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass seine Blasiertheit gespielt ist. Sie ist aber nicht nur Maske, sondern zeugt von einem Dandytum, das zweifellos Teil seines narzisstischen Charakters war. Eindeutiger als die Einstellung Wildes ist die eines Robert de Montesquiou, der gern als Dichter anerkannt worden wäre, letztlich aber nur als „authentischer Dandy“ 28 in die Literaturgeschichten und die Literatur eingegangen ist. Als Dandy und Décadent erscheint er in der Gestalt Des Esseintes’ in Joris-Karl Huysmans’ Roman A Rebours (1884), der eine Zeit lang als Manifest des Ästhetizismus gelesen wurde; als Baron de Charlus tritt er in Prousts Recherche auf und wird dort zum Repräsentanten einer sich auflösenden Aristokratie und eines entartenden Dandytums. Von einem authentischen Dichter wie Mallarmé (den er nachahmt) unterscheidet er sich wesentlich dadurch, dass er eher dem Idealich als dem Ichideal folgt - wie sich im Zusammenhang mit Proust noch zeigen wird. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Narzissmus des Dandys und dem des Künstlers gründet auf der Einstellung zur Gesellschaft und deren Kommunikationsformen. Vom Dandy sagt Wuthenow: „(...) Als Schauspieler denunziert er den Künstler, seinen Bruder, der mit ihm das gemeine, geldraffend Erniedrigende des bürgerlichen Alltags verabscheut.“ 29 Zum Abschluss soll gezeigt werden, dass der Dandy-Schauspieler dem Künstler unterlegen ist, weil er, ohne es zu wissen, die gesellschaftlichen Verhältnisse bejaht, gegen die er aufbegehrt. Sowohl der Dandy als auch der Dichter sind Ästheten, und es ist sicherlich kein Zufall, dass Schriftsteller wie Hofmannsthal, Wilde und Proust von der ästhetisierenden Sprache der mondänen Konversation fasziniert waren. Doch sie erlagen dieser Faszination nicht, sondern verarbeiteten sie in ihren Werken: in den Konversationsdramen 27 O. Wilde, in: K. Reijnders (Hrsg.), Couperus bij van Deyssel. Een chronische konfrontatie in beschouwingen, brieven en notities, Amsterdam, Atheneum- Polak-Van Gennep, 1968, S. 486-487. 28 P. Favardin, L. Boüexière, Le Dandysme, op. cit., S. 132. 29 R.-R. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse, op. cit., S. 185. 173 und im Roman. Ihnen war Konversation nicht Selbstzweck, sondern Mittel, das einem höheren Zweck diente. Dandys wie Brummell, der Comte d’Orsay und sogar der Salondichter Montesquiou gingen in ihr auf. Dadurch unterwarfen sie sich dem Gesetz des Tausches: Ihr Äußeres und ihre Sprache tauschten sie als symbolisches Kapital (Bourdieu) gegen die bewundernden Blicke und die Schmeicheleien der anderen. Ihre auf dem Herrschaftsprinzip gründende Kommunikation war zugleich durch den Tausch und den Tauschwert vermittelt. Von ihr gilt, was Adorno von der kommunikativen Sprache insgesamt sagt: „Denn Kommunikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welche er sich unter die Waren einreiht (...).“ 30 Er fügt hinzu: „Das Prinzip des Füranderesseins, scheinbar Widerpart des Fetischismus, ist das des Tausches und in ihm vermummt sich die Herrschaft.“ 31 Der Dandy als Ästhet, Modemann und Causeur ist ausschließlich für die anderen da: nicht jedoch im Sinne des Dialogs, sondern im Sinne der Manipulation. Streng genommen sind die anderen für ihn da - solange sie sich beherrschen und manipulieren lassen. Für die Subjektivität des Dandys ist Einsamkeit ruinös, denn er existiert nur, solange die anderen ihm als Spiegel und Echo dienen. Bei Mallarmé und Proust hingegen ist Einsamkeit gerade die Grundvoraussetzung für dichterisches Schaffen. Der Narzissmus dieser Dichter läuft auf einen radikalen Bruch mit der Kommunikation hinaus. Bekannt ist Mallarmés Kritik der Alltagskommunikation, die er als „universelle Reportage“ bezeichnet: „Erzählen, lehren, selbst beschreiben, das geht, und wiewohl es Jedem vielleicht zum Austausch des menschlichen Denkens genügen würde, aus der Hand des Nächsten schweigend eine Münze zu nehmen oder in sie zu legen, unterhält der elementare Gebrauch der Rede die universelle Reportage, an der, die Literatur ausgenommen, alles teilhat im gegenwärtigen Schrifttum.“ 32 Der Dandy verdankt dieser „universellen Reportage“ sein Dasein. Seine Sprache und seine Existenz verfallen der Kritik des Künstlers, von dem Proust sagt, er „lebe allein“: „l’artiste vit seul“. 33 30 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 115. 31 Ibid., S. 337. 32 S. Mallarmé, Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, Hrsg. G. Goebel, B. Rommel, Gerlingen, Lambert Schneider-Bleicher, 1998, S. 229. 33 M. Proust, Contre Sainte-Beuve, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1971, S. 215. 174 Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, wie er, der von der Pariser Salongesellschaft so fasziniert war, zu diesem Urteil gelangte. 2. Narzissmus in der Literatur: Marcel Proust, Thomas Mann, Patrick Süskind Dichter wie Charles Baudelaire, Robert de Montesquiou und Oscar Wilde waren mehr oder weniger erfolgreiche Dandys; andere Dichter wie Stéphane Mallarmé und Marcel Proust hatten mondäne Ambitionen, wandten sich später aber von der Salongesellschaft ab, um sich ausschließlich der Literatur zu widmen. Sie brachen mit dem Narzissmus der mondänen Kommunikation, um sich in ihren Werken zu spiegeln. Von dieser Bekehrung zur Kunst zeugt die Entwicklung von Prousts Ich-Erzähler Marcel, der am Ende des autobiographischen Romans die Literatur mit dem wahren Leben identifiziert. Auch Thomas Manns genialer Komponist Adrian Leverkühn erscheint zunächst als Narzisst, der es versteht, durch seine Distanziertheit und Kälte sowohl den Erzähler Zeitblom als auch andere Protagonisten des Romans in seinen Bann zu schlagen. Letztlich entdeckt er aber in der Kunst und im Kunstwerk das eigentliche Ziel seines einsam-narzisstischen Lebens. Mit Prousts Marcel verbindet ihn die Verwandlung des Narzissmus in eine produktive Kraft, die ganz auf das Werk als Ichideal ausgerichtet ist. Von diesen beiden Protagonisten der Spätmoderne (als Modernismus) unterscheidet sich Patrick Süskinds Held Grenouille dadurch, dass er als postmoderne Parodie des modernen Künstlers keine Kunstwerke kennt. Als genialer Parfumeur und raffinierter Mörder kombiniert er unnachahmbare Essenzen, um seine hässliche Gestalt unwiderstehlich zu machen. Das flüchtige Parfum erscheint hier als Parodie des großen Werks, von dem behauptet wird, es habe Ewigkeitswert. Parodiert wird schließlich auch der romantische und spätmoderne Narzissmus, weil der Held von Süskinds Roman den eigenen parfümierten Körper zum obersten Wert macht und an die Stelle des großen Kunstwerks treten lässt. Dieser Roman ist für die im vorigen Kapitel beschriebene gesellschaftliche Entwicklung symptomatisch, in deren Verlauf das Idealich (als durchtrainierter, parfümierter Körper) die Ichideale der Vergangenheit verdrängt. 175 (a) Marcels Weg vom mondänen Idealich zum Ichideal der Kunst Ähnlich wie Marcel Proust selbst, der in einer von der Mutter und der Großmutter behüteten Welt aufwuchs und sich stets weigerte, in die symbolische Ordnung der väterlichen Berufswelt einzutreten 34 , verharrt sein Ich-Erzähler Marcel im mütterlich-imaginären Bereich, der ganz von der literarischen Lektüre geprägt ist. Statt mit Freunden zu spielen, lässt er sich von seiner Mutter Werke der Literatur vorlesen, etwa François le Champi von George Sand. Dieser Roman ist insofern eine Metonymie der Proustschen Recherche, als die Autorin eine Müllerin auftreten lässt, die nach dem Tod ihres von Eifersucht geplagten Mannes ihren Adoptivsohn, den „Champi“, heiratet. 35 Die inzestuöse Sehnsucht nach der verbotenen Mutter kommt wohl am deutlichsten in der bekannten Szene zum Ausdruck, in welcher der kleine Marcel die väterliche Autorität herausfordert, indem er am nächtlichen Gang seiner Mutter auflauert und sie dazu bringt, den Vater zu verlassen, in sein Schlafzimmer zu gehen und ihm den ersehnten Gute-Nacht-Kuss zu geben. 36 Dieses Verlangen nach der Mutter verselbständigt sich als narzisstisches „Verlangen nach dem Verlangen“, als „désir du désir“ im Sinne von M. Safouan (vgl. Kap. II), und liegt als objektloses Verlangen Prousts Recherche-Roman zugrunde. Immer wieder zeigt sich der Ich-Erzähler Marcel enttäuscht von der Wirklichkeit, weil sein Verlangen weder den Personen noch den Gegenständen gilt, sondern dem eigenen Ich, das sich nach der Liebe der Mutter sehnt. Es will begehrt, bewundert werden und entwirft zu diesem Zweck ein infantiles Größenselbst als Idealich. Besonders klar tritt diese narzisstische Strategie in einer Szene von A l’ombre des jeunes filles en fleurs (Im Schatten junger Mädchenblüte) in Erscheinung, in der Marcel versucht, die Bewunderung eines Mädchens zu wecken, das am Brückengeländer sitzt und fischt. Er möchte, „daß die diesem Menschenkind sich mitteilende Vorstellung 34 Vgl. M. Schneider, Subversive Ästhetik. Regression als Bedingung und Thema von Marcel Prousts Romankunst, Tübingen, Niemeyer, 1975, S. 45-48, sowie F. Krotz, Das Kind und Combray in Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“, Heidelberg, Winter, 1990, S. 87. 35 Vgl. G. Sand, François le Champi (1859), Paris, Garnier, 1962, S. 286-287. 36 Vgl. M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927), Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp (1953), 2000, S. 50-53. 176 von meiner Person in ihm haften bliebe und mir nicht nur Aufmerksamkeit, sondern Bewunderung eintrüge, ja Verlangen sogar, und das Mädchen zwingen möchte, die Erinnerung an mich bis zu dem Tag zu bewahren, da ich sie wieder träfe“. 37 Um die Bewunderung des Mädchens zu wecken, wendet der Ich- Erzähler eine Strategie der Pariser Salongesellschaft an, die in der Recherche sowohl von ihm als auch von anderen Protagonisten endlos variiert wird: Er assoziiert seine Person mit der einer adeligen Dame, der Marquise de Villeparisis, deren Wagen mit zwei Pferden nur wenige Schritte entfernt ist. Sobald das infantile Größenselbst in der Fantasie des Erzählers herbeigezaubert wurde, verschwindet das Verlangen nach dem Objekt, das nie als wirkliche Person, sondern ausschließlich als Vorwand und Spiegel, als Quelle der Bewunderung, wahrgenommen wurde: „Ich wollte, daß sie das alles erführe, um von mir eine große Meinung zu bekommen. Aber als ich die Worte ‚Marquise‘ und ‚zwei Pferde‘ ausgesprochen hatte, kam bereits eine große Beruhigung über mich. Ich spürte, daß die Fischerin sich an mich erinnern würde, und mit der Angst, ich würde sie nicht wiederfinden können, schwand auch schon in mir der Wunsch, sie überhaupt später noch einmal zu sehen.“ 38 Es ist von einem „Besitzergreifen von ihrem Geist“ die Rede, in dem der narzisstische Charakter des Verlangens, das ausschließlich das Verlangen des anderen zum Gegenstand hat, zutage tritt. In dieser psychischen Konstellation erscheinen letztlich nur noch Objekte begehrenswert, die sich dem Subjekt endlos entziehen: „Schon die Unmöglichkeit, bei einer Frau zu verweilen, die drohende Gefahr, ihr nie wieder zu begegnen, verleihen ihr plötzlich den Reiz, den ein Land in unseren Augen durch Krankheit oder Armut bekommt, die uns unmöglich machen, es aufzusuchen (...).“ 39 Tatsächlich stellt Prousts Erzähler immer wieder fest, dass nur die unzugängliche oder fantasierte Ortschaft oder Gegend reizvoll ist. Die Ortsnamen, die die Fantasie ansprechen und zur Reise einlanden, halten nicht, was sie versprechen. Ist das Reiseziel einmal erreicht, stellt sich Enttäuschung ein. Schließlich verzichtet der mehrfach Enttäuschte auf die Reise: „Ich hatte zu sehr die Unmöglichkeit an mir selbst 37 Ibid., S. 942. 38 Ibid., S. 943. 39 Ibid., S. 937. 177 erlebt, in der Wirklichkeit zu erreichen, was auf dem Grunde meines Inneren ruhte; ebensowenig auf dem Markusplatz wie bei meiner zweiten Reise nach Balbec oder meiner Rückkehr nach Tansonville, um Gilberte zu sehen, würde ich die verlorene Zeit wiederfinden, und die Reise, die mir nur noch ein weiteres Mal die Illusion vorgaukelte, daß diese alten Eindrücke außerhalb von mir selbst an der Ecke eines bestimmten Platzes existierten, konnte nicht das von mir gesuchte Mittel sein.“ 40 Er verzichtet auf die Reise, weil er in den unbewusst ablaufenden Prozessen der unwillkürlichen Erinnerung die Eindrücke und Empfindungen der Vergangenheit wiederfindet, die er in der Wirklichkeit vergeblich sucht. Den Beschluss, mit der Wirklichkeit zu brechen und eine Reise in die eigene Innerlichkeit anzutreten, haben vor ihm schon Mallarmé und Huysmans gefasst. Lange vor Prousts Recherche - in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts - beschließt Huysmans’ Held des Esseintes, zu Hause zu bleiben, statt eine Reise nach London zu wagen, die ihm nur Enttäuschungen bescheren würde. Wie die onirischen Gegenstände in Prousts Roman (die ungleichen Pflastersteine, die Serviette, die Made leine) weckt ein Briefbeschwerer einen „Schwarm von Erinnerungen“ , und der von der Welt angeekelte Ästhet beschließt, sich ungestört seinem Traum hinzugeben: „Wozu den Ort wechseln, wo es doch leicht ist, so wunderbar in einem Sessel zu reisen? War er nicht schon in London, dessen Gerüche, dessen Atmosphäre, Einwohner, Grasweiden und Utensilien ihn umgaben? Was konnte er sich schon erhoffen - außer neuen Enttäuschungen wie in Holland? “ 41 Wie bei Proust geht auch hier der Objektverzicht mit einer Hinwendung zum eigenen Ich einher. Analog dazu fühlt sich Mallarmé beim Rauchen seiner Pfeife nach London versetzt, in ein London „wie ich es [vor einem Jahr] als ganzes völlig allein erlebt hatte“. 42 Auch Mallarmé und die Protagonisten seiner Gedichte tauschen das wirkliche Objekt gegen eine narzisstisch besetzte unwillkürliche Erinnerung ein, die Proust später zur ästhetischen Grundlage seines Romanschaffens machen wird. 40 M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. III, op. cit., S. 3959. 41 J.-K. Huysmans, A Rebours (1884), Paris, Fasquelle, 1970, S. 178. 42 S. Mallarmé, Gedichte. Französisch und Deutsch, Hrsg. G. Goebel, Gerlingen, Lambert Schneider, 1993, S. 175. 178 Die Ähnlichkeiten zwischen den drei Autoren sind nicht ausschließlich zufallsbedingt, sondern zeugen vom kollektiven Narzissmus einer mondänen Salongesellschaft, die das Ästhetische in den Mittelpunkt ihrer Erfahrungen stellt. Zum Ästhetischen in diesem allgemeinen Sinn gehört auch die Konversation der Dandys und Causeurs, die als unproduktive Hingabe an Machtstreben und Gefallsucht von Mallarmé, Huysmans und Proust schließlich abgelehnt wird. In seinem großen Roman lässt Proust die Literatur an ihre Stelle treten und ersetzt die Ästhetik des gesprochenen Wortes durch die des Schreibens. 43 Zugleich ersetzt er das mondäne Idealich durch das Ichideal des produktiven Künstlers. Am Ende der Recherche geht es seinem Ich- Erzähler Marcel nicht mehr darum, seine Person durch die Nähe zu adeligen Damen in den Augen anderer aufzuwerten, sondern darum, das geplante Werk zu vollenden. Ähnlich wie sein Erzähler widmet sich der an Asthma leidende Romancier in seinen letzten Lebensjahren ausschließlich seinem Romanwerk. In Le Temps retrouvé (Die wiedergefundene Zeit) wird Marcels Bruch mit der mondänen Konversation des Faubourg Saint-Germain von einer Apotheose der Literatur begleitet: „Mehr als alles andere würde ich jene Worte ausscheiden, die von den Lippen eher als vom Geiste gewählt werden, jene Worte voller Humor, wie man sie in der Konversation gebraucht (...).“ 44 Nicht zufällig lässt Proust, der seine letzten Jahre in der Einsamkeit seines Arbeitszimmers verbrachte, seinen Erzähler sagen, dass die Bücher eines Causeurs wie Sainte- Beuve nur oberflächliche Einsichten vermitteln, „während wahre Bücher Kinder nicht des hellen Tageslichts und der Plauderei sein sollen, sondern vielmehr der Stille und der Dunkelheit“. 45 Hier findet eine funktionale Verwandlung des Narzissmus statt: Aus dem Narzissmus des kommunizierenden und sich in den Augen der anderen spiegelnden Causeurs wird der produktive Narzissmus des Schriftstellers, der seine Libido in das Werk als Ichideal projiziert, weil ihm „die Kunst [als] das Wirklichste, was es gibt, [als] die 43 Vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris (1980), L’Harmattan, 2002, Kap. VI: „L’aporie d’une écriture narcissique“. 44 M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. III, op. cit., S. 3988. 45 Ibid. 179 strengste Schule des Lebens und das wahre Jüngste Gericht“ 46 erscheint. Postmoderne Parodien des Künstlerromans 47 lassen vermuten, dass dieses religiös konnotierte Ichideal seine Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, zumal es schon in Sartres Erstlingsroman La Nausée (1938) in Frage gestellt wurde. Es ist jedoch ein Ideal, dem seit Ovid („Iamque opus exegi.../ Nun habe ich ein Werk vollendet...“) 48 unzählige Künstler folgten, die wie Proust einem ephemeren Idealich den Rücken gekehrt hatten. Der Niedergang dieses Ichideals in Literatur und Kunst hat symptomatischen Wert, weil er zeigt, wie problematisch Wertsetzungen in einer zur Wertindifferenz tendierenden Postmoderne geworden sind. Eine religiös konnotierte Kunst büßt ihre Aura ein, weil auch die Wertsetzungen der verschiedenen Religionen pluralistisch relativiert und der Kontingenz überantwortet werden. In diesem Kontext ist der Funktionswandel des Narzissmus zu verstehen. (b) Adrian Leverkühns teuflischer Narzissmus Wie Prousts Marcel verdankt Thomas Manns „Tonsetzer“ Adrian Leverkühn seine künstlerische Ader dem mütterlichen Erbe und macht eine Entwicklung durch, die vom erotisch geprägten Idealich zum künstlerischen Ichideal führt. Der Erzähler Serenus Zeitblom betont die körperliche Ähnlichkeit und die „innere Musikalität“, die Mutter und Sohn miteinander verbinden, wenn er feststellt, „dass das Genie des Sohnes der vitalen Wohlschaffenheit dieser Mutter viel zu danken hatte“. 49 Entscheidend für die Entwicklung dieses Künstler-Helden, dessen Schicksal dem Friedrich Nietzsches nachempfunden ist, ist sein Verharren im Mütterlich-Imaginären. Leverkühn verlässt sein Elternhaus, nur um sich in Pfeiffering einer Ersatzmutter anzuvertrauen, deren 46 Ibid., S. 3963. 47 Vgl. Vf., Der europäische Künstlerroman, op. cit., Teil II: „Postmoderne als Parodie, Spiel und Revolte“. 48 P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch, Stuttgart, Reclam, 2003, S. 848-849. 49 Th. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn (1947). Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans (1949), Frankfurt, Fischer, 2001, S. 32. 180 Äußeres an das von Elsbeth Leverkühn erinnert. Der mit der Psychoanalyse vertraute Thomas Mann 50 lässt dieses regressive Verhalten von seinem Erzähler mit ungewöhnlicher Eindeutigkeit kommentieren: „Eine solche das Früheste wiederherstellende Aufenthaltswahl, dieses sich Bergen im Ältest-Abgelebten, der Kindheit, oder wenigstens ihren äußeren Umständen, mag von Anhänglichkeit zeugen, sagt aber doch Beklemmendes aus über eines Mannes Seelenleben.“ 51 Dieses Seelenleben wird vom inzestuösen Verlangen nach der verbotenen und sich daher stets entziehende n Muttergestalt beherrscht. Davon zeugen Leverkühns narzisstische Beziehungen zu Frau von Tolna und der Schweizerin Marie Godeau. Beide dienen dem Komponisten als Spiegel, in dem er seine eigene Person betrachtet. Die stets abwesende Frau von Tolna, die Leverkühn nie persönlich kennen lernt, symbolisiert das sich verselbständigende zirkuläre Verlangen nach dem Verlangen, das letztlich das Subjekt selbst zum Gegenstand hat. Obwohl die eigentliche Absicht der Frau von Tolna im Dunkeln bleibt, wird ihre Zugehörigkeit zum mütterlich-imaginären Bereich vom Erzähler selbst bestätigt: „War es ihre Idee, sich diesen Mutter- Figuren anzuschließen und sie Schwester zu heißen? Welcher Name gebührte ihr - im Verhältnis zu Adrian Leverkühn? Welchen wünschte sie sich, nahm sie in Anspruch? Den einer Schutzgöttin, einer Egeria, einer geisterhaften Geliebten? “ 52 Die Mutter vereinigt in ihrer Person alle diese Gestalten, weil sie sich schützend vor den Sohn stellt, ihm wie die weise Nymphe mit Rat und Tat beisteht und zugleich seine erste, aber verbotene Geliebte ist. Noch eindeutiger als Frau von Tolna wird Marie Godeau im Roman als mütterliche Figur im ursprünglichen Sinne dargestellt, weil der Erzähler auf die „Ähnlichkeit ihrer Stimme mit der seiner [von Leverkühns] Mutter“ 53 hinweist. Insofern ist Peter V. Brinkemper recht zu geben, wenn er zu dieser Beziehung bemerkt: „Marie Godeau wiederholt die Mutterimago nicht nur durch ihre schwarzen Augen, 50 Vgl. Th. Mann, „Mein Verhältnis zur Psychoanalyse“, in: Essays, Bd. II, Das neue Deutschland 1919-1925, Hrsg. H. Kurzke, S. Stachorski, Frankfurt, Fischer, 1993. 51 Th. Mann, Doktor Faustus, op. cit., S. 39. 52 Ibid., S. 522. 53 Ibid., S. 559. 181 sondern auch durch ihr Stimmtimbre.“ 54 Wie immer ist die Bewunderung, welche die junge Frau dem Komponisten zollt, diesem wichtiger als ihre Person, von der er - dem Erzähler zufolge - „kein enthusiastisches Portrait“ 55 zeichnet. Obwohl er weiß, dass in diesem Fall von einer Objektliebe nicht die Rede sein kann, setzt Leverkühn Marie Godeaus Zustimmung zu einer Heirat mit ihm voraus. Letztlich dient sie ihm nur als Vorwand, der seine narzisstische Selbstliebe und sein Idealich als infantile Selbstvorstellung bestätigen soll. Diese Selbstliebe wird nachhaltig durch den Geiger Rudi Schwerdtfeger verletzt, den eine latent homosexuelle Freundschaft mit Leverkühn verbindet, der aber aus seiner (echten) Liebe zu Marie Godeau kein Hehl macht. Leverkühn rächt sich an seinem Freund, indem er ihn als Boten benutzt, der Marie seinen Heiratsantrag überbringen soll. Schwerdtfeger entledigt sich zwar dieser Aufgabe, zeigt sich jedoch hocherfreut, als er von Marie erfährt, dass sie nicht Leverkühn, sondern ihn liebt. Die bald eingeleiteten Hochzeitsvorbereitungen werden jäh durch eine Katastrophe unterbrochen: Die unglücklich verheiratete Ines Institoris, die früher Schwerdtfegers Geliebte war, rächt sich an dem Geiger, indem sie ihn nach seinem erfolgreichsten Konzert in der Straßenbahn erschießt. Zu der narzisstischen Ambivalenz des latent homosexuellen Leverkühn bemerkt sein treuester Freund, der Erzähler Serenus Zeitblom: „Er hatte Freund und Geliebte auf einmal verloren, durch eigene Schuld, so mußte man sagen, - wenn man, wenn ich nur ganz gewiß gewesen wäre, daß es sich hier um eine Schuld, einen unbewußten Mißgriff, eine fatale Unbesonnenheit handelte! Wenn nur nicht der Argwohn sich immer wieder in meine Grübeleien gestohlen hätte, daß er, was geschehen würde, mehr oder weniger vorausgesehen hatte, und daß es nach seinem Willen geschehen war! “ 56 Thomas Manns Kommentare in Die Entstehung des Doktor Faustus bereiten der Ungewissheit des Lesers ein Ende: „Was er an Rudi verübt, ist ein prämeditierter, vom Teufel verlangter Mord - und Zeitblom weiß es.“ 57 Es ist zugleich ein Mord, der die narzisstische Kränkung des Idealichs ahndet: Leverkühn rächt sich an Schwerdtfeger für dessen homo- 54 P. V. Brinkemper, Spiegel und Echo. Intermedialität und Musikphilosophie im „Doktor Faustus“, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1997, S. 130. 55 Th. Mann, Doktor Faustus, op. cit., S. 55. 56 Ibid., S. 586. 57 Th. Mann, Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus, op. cit., S. 700. 182 sexuelle Untreue und an Marie Godeau für deren Weigerung, seinen Narzissmus heterosexuell zu bedienen. Der Pakt mit dem Teufel, der in Doktor Faustus zentral ist und seine Opfer verlangt, führt zur Kunst. Leverkühn, der keine außer der inzestuös-narzisstischen Liebe kennt, zieht sich schließlich in die Einsamkeit des Künstlers zurück, für die sich auch Prousts Erzähler am Ende der Recherche entscheidet. Wie im Falle von Proust geht diese Einsamkeit einher mit der Krankheit: mit einer tödlichen Ansteckung, die sich der junge Leverkühn bei der Prostituierten Hetaera Esmeralda holt. Auch sie gehört der mütterlich-imaginären Sphäre an, die sie jedoch (im Gegensatz zu den anderen Muttergestalten des Romans) auf skandalöse Art mit dem künstlerischen Genie verknüpft. Denn sie vermittelt zwischen Leverkühn und dem Teufel, der in seinem Pakt mit dem Komponisten diesem Genialität verspricht, wenn er ihm sein Leben verpfändet. Zugleich gibt er sich als „Esmeraldas Freund und Zuhalt“ 58 zu erkennen. Die Künstlerschaft, die er Leverkühn anbietet, ist mütterlich -inzestu ösen Ursprungs und richtet sich gegen die symbolische Ord nung der Väter in deren bürgerlich-humanistischer Gestalt. 59 Lever kühns Kunst wird zugleich antibürgerlich und inhuman im Sinne von Adorno sein: eine narzisstische Kunst der Kälte, die durch rigorose, hermetische Formgebung das humane Bedürfnis nach Kommunikation negiert. Leverkühn weiß, dass nach dem Liebesverbot, das der Teufel im Rahmen des Pakts über ihn verhängt, nur die narzisstische Selbstliebe als Liebe zum künstlerischen Ichideal für ihn in Frage kommt. Nach dem Scheitern des Idealichs in seinen heterosexuellen und homosexuellen Beziehungen bleibt ihm nur noch Nietzsches „Heimat Einsamkeit“ 60 , aus der das Kunstschaffen hervorgeht. 58 Th. Mann, Doktor Faustus, op. cit., S. 315. 59 Zur Funktion des regressiven Verhaltens in der Kunst vgl. K. Stockreiter, Narzißmus und Kunst. Das erotische Bündnis der ästhetischen Illusion, Wien, Turia und Kant, 1992, S. 106: „Der Kunst hingegen sind die Tore auf ihrem Weg der Regression passierbar (...).“ 60 Vgl. F. Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“, in: Werke, Bd. III, Hrsg. K. Schlechta, München, Hanser, 1980, S. 432: „O Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! “ 183 Wie sehr dieser Rückzug in die schöpferische Einsamkeit von der Krankheit begünstigt wird, beschreibt der Teufel im Gespräch mit Leverkühn: „Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit, schafft einen gewissen kritischen Gegensatz zur Welt, zum Lebensdurchschnitt, stimmt aufsässig und ironisch gegen die bürgerliche Ordnung und läßt ihren Mann Schutz suchen beim freien Geist, bei Büchern, beim Gedanken.“ 61 Diese „Aufsässigkeit“ gegen das Bürgertum und seinen Humanismus unterscheidet den kritischen Intellektuellen Leverkühn von Prousts Bildungsbürger Marcel: Während Marcels Kunstideal durchaus noch mit den Idealen des Bildungsbürgertums der Belle Epoque zu vereinbaren ist, ist Leverkühns inhumane Musik am ehesten als negatives Ideal zu verstehen: als Negativität, die alle bildungsbürgerlichen Ideale in Frage stellt. Dennoch wird sie - als solche - zu Leverkühns Lebensziel. Der „‚Durchbruch‘ zur Zwölftontechnik“ 62 , von dem Matthias Schulze im Zusammenhang mit Leverkühns letztem Werk, Doktor Fausti Weheklag, spricht, wird zum Ichideal des fiktiven Künstlers, der sich vornimmt, die Musik durch rigoros-inhumane Formgebung in extremis zu retten. Diese Annahme wird von Leverkühn selbst bestätigt, wenn er vom revolutionären Durchbruch sagt: „Wem also der Durchbruch gelänge aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls, ihn sollte man wohl den Erlöser der Kunst nennen.“ 63 Nicht zufällig erinnern hier die religiösen Konnotationen des Wortes „Erlöser“ an die von Prousts „Jugement dernier“ („Jüngstes Gericht“): In der Spätmoderne erschien die Kunst noch vielen als eine gesellschaftliche Instanz, in der die religiöse Utopie aufgehoben war und weiterlebte. Diese Vorstellung von einer Erlösung der Kunst im großen Werk wurde von der Hoffnung getragen, dass der Künstler entscheidend zur Erlösung der Menschheit beitragen könnte. Leverkühn stellt sich, ähnlich wie Adorno, der zur Gestaltung seiner Ge- 61 Th. Mann, Doktor Faustus, op. cit., S. 314. 62 M. Schulze, Die Musik als zeitgeschichtliches Paradigma. Zu Hesses „Glasperlenspiel“ und Thomas Manns „Doktor Faustus“, Frankfurt-Berlin-Bern, Lang, 1998, S. 62. 63 Th. Mann, Doktor Faustus, op. cit., S. 431. 184 dankenwelt nicht unwesentlich beitrug 64 , eine negierende Kunst vor, die durch ihre Inhumanität eine neue Menschlichkeit ankündigt. Dies ist der Grund, warum der spätmoderne Faust die Idee der Rettung und der rettenden Gnade schließlich zurückweist: „Damit aber verbindet sich eine Umkehrung der Versuchungsidee, dergestalt, daß Faust den Gedanken der Rettung als Versuchung zurückweist, - nicht nur aus formeller Treue zum Pakt, und weil es ‚zu spät‘ ist, sondern weil er die Positivität der Welt, zu der man ihn retten möchte, die Lüge ihrer Gottseligkeit, von ganzer Seele verachtet.“ 65 Indem er aber sein Ichideal in die utopische Negativität der Kunst projiziert, evoziert Thomas Manns fiktiver Komponist - zusammen mit seinem Autor 66 - die Krise der Kunst und kündigt die Negation der Ichideale in der Postmoderne an. (c) Eine postmoderne Parodie: Patrick Süskinds „Das Parfum“ Während in den spätmodernen oder modernistischen Romanen Prousts und Thomas Manns eine Verlagerung der narzisstischen Libido vom Idealich zum Ichideal noch möglich erscheint, weil die Arbeit am Werk alle Energien des Subjekts in Anspruch nimmt, wird der Narzissmus im Sinne des Ichideals in der Postmoderne grundsätzlich in Frage gestellt. Am Ende des vorigen Kapitels wurde deutlich, dass in Thomas Bernhards Roman Der Untergeher die infantil-narzisstischen Elemente, die für das Idealich konstitutiv sind, dominieren. Nicht das große Werk steht dort im Mittelpunkt, sondern „Musikbesessenheit“, Hass auf die Öffentlichkeit und Neid. Es kommt hinzu, dass das Genie nicht mehr wie in Romantik und Spätmoderne mit dem schöpferischen Impuls oder dem Werk assoziiert wird, sondern mit Reproduktion und technischer Perfektion. 67 Vergleichbare Tendenzen finden sich in Patrick Süskinds Roman Das Parfum, der immer wieder als eine Parodie des Künstlerromans 64 Vgl. Vf., „Thomas Mann und Theodor W. Adorno: Das Menschliche des Inhumanen: Epilog II“, in: Der europäische Künstlerroman, op. cit., S. 265-270. 65 Th. Mann, Doktor Faustus, op. cit., S. 649. 66 Vgl. Th. Mann, Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus, op. cit., S. 705. 67 Vgl. Vf., Der europäische Künstlerroman, op. cit., Kap. VII. 3. 185 (des Bildungsromans, des historischen Romans, des Kriminalromans) gelesen wird. 68 Zunächst fällt auf, dass es in diesem Roman, der von vielen auch für postmodern gehalten wird 69 , im Vergleich zur romantischen und spätmodernen Literatur zu einer Umkehrung des Mutter-Sohn- Verhältnisses kommt. Statt für die Bildung des Sohnes zu sorgen und ihm eine künstlerische oder andere Begabung zu vererben, trachtet ihm die Mutter, eine Fischhändlerin, nach dem Leben. Sie nabelt das Neugeborene mit einem Fischmesser ab und entsorgt es zusammen mit dem Fischabfall unter dem Ladentisch: „Und weil sie geständig ist und ohne weiteres zugibt, daß sie das Ding bestimmt würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit vier anderen getan habe, macht man ihr den Prozeß, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindermords und schlägt ihr ein paar Wochen später auf der Place de Grève den Kopf ab.“ 70 Postmodern ist dieses Szenario vor allem aus drei Gründen: Die Mutter erscheint nicht mehr als Behüterin der Kindheit, die ihre Talente an den Sohn weitergibt; die Abwesenheit des Vaters, der im Roman nicht genannt wird, ist ein Symptom der „vaterlosen Gesellschaft“ im Sinne von Mitscherlich; die Entsorgung des Kleinkindes zusammen mit dem Abfall, die in der zeitgenössischen Gesellschaft immer wieder vorkommt und für Schlagzeilen sorgt, zeugt von einer Indifferenz, die sich schon jenseits des bürgerlich-humanistischen Wertsystems der Moderne befindet. Obwohl sich die Romanhandlung im Frankreich des 18. Jahrhunderts abspielt, weist sie nicht auf historisch-archaische, sondern auf postmoderne Verhältnisse hin. Für diese ist die wertfreie und wertindifferente Weltbetrachtung des Romanhelden Grenouille kennzeichnend: „Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. - was damit ausgedrückt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.“ 71 Eine solche Einstellung zeugt nicht nur vom „Zerfall 68 Vgl. H.-P. Reisner, Patrick Süskind. Das Parfum, Stuttgart-Düsseldorf-Leipzig, Klett, 2005 (7. Aufl.), S. 124. 69 Vgl. M. R. Jacobson, „Patrick Süskind’s Das Parfum: A Postmodern Künstlerroman“, in: The German Quarterly 1, Winter 1992, S. 201. 70 P. Süskind, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Zürich, Diogenes (1985), 1994, S. 9. 71 Ibid., S. 33. 186 der Werte“ im Sinne von Hermann Broch, sondern auch von der prekären Situation des Ichideals in nachmoderner Zeit. Grenouille, dessen ganze Subjektivität sich auf den Geruchssinn beschränkt, schwebt nur ein Ideal vor Augen: die Erzeugung eines unwiderstehlichen Parfums, das alle existierenden Düfte übertrifft. Es ist irreführend, dieses Ideal mit anderen künstlerischen Idealen zu vergleichen, wie es implizit Frizen und Spancken tun: „Die Parfumeurskunst ist nur eine umfassende Metapher für die Kunst überhaupt. Grenouille ist Künstler aller Klassen, Universalkünstler.“ 72 Grenouille ist alles andere als Universalkünstler, weil sein Talent auf den Geruchssinn beschränkt ist, und die Parfumeurskunst ist keine Kunst im ursprünglichen Sinne des Wortes, weil sie keine bleibenden Werke und Werte hervorbringt. Süskinds Antiheld, dessen animalische Eigenschaften und Gesten ihn ebenso charakterisieren wie seine Begeisterung für Parfums, wird vom Erzähler mit einer Zecke verglichen 73 und verhält sich ähnlich wie dieses Insekt. Er mordet junge Mädchen, um sich ihren Duft anzueignen und später für seine Parfums zu verwenden: „Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war übervoll von ihr. Er wollte nichts von ihrem Duft verschütten.“ 74 Im Gegensatz zu Kunstwerken der Literatur, der Malerei oder der Musik ist dieser Duft ein ephemerer Gegenstand. Schon auf der ersten Seite des Romans ist vom „flüchtigen Reich der Gerüche“ 75 die Rede. Der Duft ist nicht Selbstzweck wie das Schöne Kants, auch kein ästhetisches Objekt mit Wahrheitsgehalt im Sinne von Gadamer oder Adorno, sondern Mittel zum Zweck: Er soll den Narzissmus seines Benutzers befriedigen, indem er diesen begehrenswert macht. Wie den Dandys, wie Prousts Erzähler Marcel geht es Süskinds Grenouille darum, das Verlangen der anderen nach seiner Person zu wecken. Da er hässlich ist („ein Scheusal mit Talent“) 76 , bleibt ihm als „Geruchsgenie“ nichts anderes übrig, als das „Verlangen nach dem Verlangen“ im Bereich der Düfte zu befriedigen. 72 W. Frizen, M. Spancken, Patrick Süskind. Das Parfum, München, Oldenbourg, 1998 (2. Aufl.), S. 54. 73 Vgl. P. Süskind, Das Parfum, op. cit., S. 90. 74 Ibid., S. 56. 75 Ibid., S. 5. 76 Ibid., S. 80. 187 Grenouilles Narzissmus geht einher mit einer sexuellen Perversion: Da er zur Objektliebe („Freude“, „Dankbarkeit“) unfähig ist, interessiert er sich nicht im geringsten für den Körper der von ihm überfallenen Mädchen, sondern nur für den Duft, den er ihnen raubt, um ihn in seinen Parfums zu verarbeiten. Dieser Duft interessiert ihn auch nicht als Gegenstand, als „Kunstwerk“, sondern ausschließlich als seine künftige Eigenschaft: „Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mädchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den künftigen eigenen.“ 77 Der Erzähler fasst das Vorhaben seines Helden in wenigen Worten zusammen, wenn er sagt, Grenouille würde nach seinem Mord an der schönen Laure Richis „Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden“. 78 Diesem Pseudokünstler, der die Künstlergestalten der Romantik und der Spätmoderne parodiert, ist es nicht um sein Produkt als „Kunstwerk“ zu tun, sondern ausschließlich um sein Ich als parfümiertes Idealich. Parodiert wird daher auch das „unvergängliche Kunstwerk“, das als flüchtiges Parfum und Gebrauchsgegenstand weit davon entfernt ist, ein Ichideal zu verkörpern. Es dient dem postmodernen Idealich, wie es schon dem der Dandys gedient hat. Doch auch der Dandy wird in Grenouilles Gestalt parodiert. Sein subtiles Spiel mit dem Verlangen der bald geschmeichelten, bald brüskierten Bewunderer der Salonwelt wird am Ende von Süskinds Roman durch plumpe Begierde ersetzt. Grenouille wird in Grasse gefangen, als Mörder von Laure Richis entlarvt und zum Tode verurteilt. Doch kurz vor seiner Hinrichtung, auf die alle sehnsüchtig warten, beginnt sein Parfum zu wirken und schlägt die versammelte Menschenmenge - vom Bauern bis zum Bischof - in seinen Bann. Rachegelüste verwandeln sich in sexuelle Ekstasen: „Es überkam sie ein mächtiges Gefühl von Zuneigung, von Zärtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Mördermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun.“ 79 Etwas später fügt der Erzähler hinzu: „Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgefühl und Rührung verspürt hatte, der war nun von nackter Begehrlichkeit erfüllt, wer zunächst bewundert 77 Ibid., S. 242. 78 Ibid., S. 268. 79 Ibid., S. 300. 188 und begehrt hatte, den Trieb es zur Ekstase.“ 80 Schließlich artet die geplante Hinrichtung in ein Bacchanal aus. Wenn der Erzähler gleichsam nebenbei bemerkt, dass Grenouille den umstehenden Männern „als ein ideales Abbild ihrer selbst“ 81 erschien, so deutet er an, dass in einer solchen Situation das Ichideal nur in seiner negativen Form als „Krankheit der Idealität“ 82 , wie Janine Chasseguet-Smirgel sagt, realisiert wird. Es wird zur Identifikation mit einer verbrecherischen Führergestalt, und Grenouilles Auftritt in Grasse wird zur einer Allegorie des Dritten Reiches. 83 Auch auf dieser Ebene wird der Niedergang des Ichideals im Anschluss an dessen Missbrauch im Totalitarismus registriert. Aber auch das Idealich, das in der Postmoderne auf Kosten der Ichideale aufgewertet wird (vgl. Kap. III), wird parodiert und schließlich ad absurdum geführt. Denn Grenouilles infantiles Ideal, als der „bestriechende Mensch auf Erden“ seine Umwelt zu betören, wird am Ende des Romans wörtlich genommen und dadurch karikiert. Der perfekt parfümierte, aber von der Welt angeekelte, lebensmüde Antiheld, will nur noch „nach Paris gehen und sterben“. 84 Sein narzisstischnekrophiler Wunsch geht auf makabre Art in Erfüllung, denn er wird in der Hauptstadt von Outsidern der Gesellschaft so leidenschaftlich begehrt, dass sie ihn auffressen: Sie haben ihn „zum Fressen gern“. Von den Kannibalen sagt der Erzähler im letzten Satz: „Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan.“ 85 Damit erreicht die Parodie ihren Höhenpunkt. Parodiert wird vor allem der Narzissmus: Grenouilles Wunsch, bewundert, begehrt, geliebt zu werden, wird zwar erfüllt, aber so, dass das narzisstische Verlangen als Idealich zugleich abstoßend und lächerlich wirkt. Der Narzissmus, der in der Spätmoderne der Dandys noch von kühl kalkulierter Distanziertheit lebte, der nach Aura und Erhabenheit strebte, wird im postmodernen Roman mit dem Kannibalismus verknüpft und dadurch trivialisiert. In diesem Kontext wird auch die Ob- 80 Ibid., S. 302-303. 81 Ibid., S. 303. 82 Vgl. J. Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay über die „Krankheit der Idealität“, Frankfurt, Suhrkamp (1981), 1987. 83 Vgl. M. Reich-Ranicki, „Des Mörders betörender Duft. Patrick Süskinds erstaunlicher Roman Das Pafum“, in: FAZ, 2. 3. 85. 84 P. Süskind, Das Parfum, op. cit., S. 315. 85 Ibid., S. 320. 189 jektliebe zur Absurdität, weil der Ausdruck „jemanden zum Fressen gern haben“ wie in einem Witz wörtlich genommen wird. Als soziales Barometer lässt Süskinds Roman den trivialen Charakter eines postmodernen Narzissmus erkennen, der sich vorwiegend am infantilen Idealich, am „Ideal narzisstischer Allmacht“, orientiert. Denn ein solcher Narzissmus stellt letztlich den zugleich sozialen und autonomen Charakter des Subjekts in Frage, dem er dienen sollte. 3. Bemerkungen zum Narzissmus in der Wissenschaft: Epilog Eine wissenschaftliche Abhandlung über den Narzissmus wäre unvollständig, wenn sie es versäumte, über den Narzissmus der Wissenschaftler und der Wissenschaftlergruppen nachzudenken. Denn nicht nur Schriftsteller und ihre Helden oszillieren zwischen einem infantilen Idealich, das sie in frühen Jahren anspornt, die schriftstellerische Laufbahn einzuschlagen, und dem Ichideal des großen Werks; auch Wissenschaftler durchlaufen diese beiden Phasen des Narzissmus, wenn sie zunächst mit einer Mischung aus Ehrgeiz, Gefallsucht und Ignoranz an die Sache herangehen und erst später die wissenschaftliche Erkenntnis in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. In der Welt der Wissenschaft ist es dennoch prekär, den Faktor „Narzissmus“ zu untersuchen, weil stillschweigend angenommen wird, dass es den Gelehrten ausschließlich um Erkenntnis und Wahrheit zu tun ist. Man läuft Gefahr, als ungebetener Gast, als verdächtiger Bote der Psychoanalyse aus dem Gelehrtentempel hinauskomplimentiert zu werden. Es kommt hinzu, dass ein Soziologe wie Luhmann von der Annahme ausgeht, dass der Gegensatz wahr/ unwahr eine Eigenschaft des Wissenschaftssystems ist, so dass weder Individuen noch Gruppen über den Wahrheitsgehalt der Theorien befinden, sondern das System als solches: „Was immer als Wahrheit zählt, ist im System selbst konstituiert (...).“ 86 Wenn das zuträfe, hätte „Wahrheit“ nichts mit den Ansprüchen narzisstischer Subjekte zu tun. Das Problem besteht darin, dass es im Wissenschaftssystem - vor allem aber im Bereich der Sozialwissenschaften - verschiedene mit- 86 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 198. 190 einander konkurrierende Wahrheiten gibt, die durchaus subjektiven Charakter haben. Luhmann selbst bemerkt, die Systemtheorie von Talcott Parsons sei „nie angemessen widerlegt worden“. 87 Dies bedeutet, dass sie weiterhin mit neueren Theorien und ihren Wahrheiten konkurriert. Aus dieser Sicht erscheint Wahrheit als ein Erkenntnismoment, das sich in den Auseinandersetzungen zwischen Einzelwissenschaftlern und Wissenschaftlergruppen herauskristallisiert. Es liegt auf der Hand, dass in diesen Auseinandersetzungen, in denen es, wie Bourdieu wusste 88 , auch um Macht und Prestige geht, individueller und kollektiver Narzissmus ein nicht geringer Faktor ist. Der individuelle Narzissmus in der Wissenschaft kann noch am ehesten im Zusammenhang mit den zahlreichen Konflikten in der Psychoanalyse veranschaulicht werden. Zur beginnenden Rivalität zwischen Freud und Jung bemerkt Max Schur: „Jungs Experimente, und mehr noch seine Erklärungen, gingen jedoch weit über allgemeine Behauptungen über die Existenz und Echtheit außersinnlicher Wahrnehmungen hinaus. Freud fühlte sich infolgedessen gezwungen, sich selber zu warnen: Sei auf der Hut vor diesem glänzend begabten jungen Mann; du hast ihn gerade zu deinem Nachfolger bestimmt, aber schon streckt er die Hand nach deiner Krone aus wie Heinrich IV. Denk auch an Fließ! “ 89 Ähnliche Rivalitäten und Eitelkeiten haben der Ecole freudienne de Paris ein Ende bereitet. 90 Die Frage, wie sich diese Art von Narzissmus auf Forschung und Theoriebildung auswirkt, ist zweifellos wichtig und sollte sowohl die Wissenschaftsgeschichte als auch die Wissenschaftstheorie beschäftigen. Allerdings würde ihre Beantwortung den Rahmen dieses Epilogs sprengen, in dem lediglich einige Kernprobleme skizziert werden. Die Wechselbeziehung zwischen individuellen und kollektiven Faktoren im wissenschaftlichen Bereich lässt das distanzierte Verhältnis zwischen Emile Durkheim und Max Weber erkennen. Die Tatsa- 87 Ibid., S. 240. 88 Vgl. P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité. Cours du Collège de France 2000-2001, Paris, Raisons d’Agir, 2001, S. 138. 89 M. Schur, Sigmund Freud. Leben und Sterben (1972), Frankfurt, Suhrkamp (1973), 1982, S. 304. 90 Vgl. E. Roudinesco, Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems (1993), Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1996, S. 627-648: „Das freudianische Frankreich: eine Bestandsaufnahme“. 191 che, dass die beiden es ablehnten, einander zur Kenntnis zu nehmen, kommentiert E. A. Tiryakian wie folgt: „Da sich jeder mit seinem Land als Ganzem vielleicht stärker identifizierte als sonst ein Franzose oder Deutscher der Zeit (eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Charakters der Soziologie? ), könnten sie entgegen ihrem Bekenntnis zu dem wissenschaftlichen Kriterium der Universalität eine nationalistische Antipathie gegeneinander entwickelt haben, gerade weil jeder in dem anderen nicht nur den fähigsten Kopf der Sozialwissenschaft in seinem eigenen Land, sondern auch das repräsentative Symbol einer feindlichen Kultur sah.“ 91 Der von nationalistischen Ideologien getragene individuelle und kollektive Narzissmus blockiert in diesem Fall auf beiden Seiten die Dialogbereitschaft und bewirkt, dass sich deutsche und französische Soziologien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert gegeneinander abkapseln und monologisch entwickeln. Es käme darauf an zu erkennen, dass sie nicht nur „gesellschaftlichen“ (Tiryakian), sondern auch „psychischen Charakter“ haben. Dies wird weitgehend von neueren Studien aus dem naturwissenschaftlichen Bereich bestätigt, die Karin Knorr-Cetina vorgelegt hat. Über das Verhalten von Wissenschaftlern im Labor schreibt sie: „Kurz, die discoveries werden im Labor in Hinblick auf riskierte Anfeindungen und Allianzen ebenso wie in Hinblick auf erhoffte Anerkennung und Kooperationen gemacht.“ 92 Dies mag etwas zu pragmatisch formuliert sein, da sich Entdeckungen im Laufe der Zeit auch aus sachlichen Gründen als fruchtbar oder problematisch erweisen können; die Autorin hebt aber zu Recht die individuellen und kollektiven Strategien der Wissenschaftler hervor, die primär auf Anerkennung (und Finanzierung) aus sind. Dieser narzisstische Aspekt ihres Verhaltens, der bei Knorr-Cetina nur implizit angesprochen wird, hat häufig zur Folge, dass ein Idealich entsteht, dem es nicht primär um Erkenntnis, sondern um Erfolg zu tun ist. Obwohl das Streben nach Erfolg nebenbei durchaus richtige und verwertbare Erkenntnisse hervorbringen kann, ist ein solches 91 E. A. Tiryakian, „Ein Problem für die Wissenssoziologie: Die gegenseitige Nichtbeachtung von Emile Durkheim und Max Weber“, in: W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd. IV, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 24. 92 K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 29. 192 Verhalten grundsätzlich dysfunktional, weil den Beteiligten letztlich auch fragwürdige Mittel und Zwecke recht sind. 93 In den Kultur- und Sozialwissenschaften führt kollektiver Narzissmus zur Entstehung hermetischer Gruppen, von denen eine jede ihren Sprachgebrauch für den einzig möglichen hält und die Terminologien anderer Gruppen negativ konnotiert. Sie werden als „anthropozentrisch“, „logozentrisch“, „idealistisch“, „vulgärmaterialistisch“ - oder als schlicht „unwissenschaftlich“ verabschiedet. Nur die eigene Terminologie erscheint zeitgemäß, dem Gegenstand angemessen und nachvollziehbar. Die Tatsache, dass sie nur in einer Gruppe gilt, die sich auf Lacans Psychoanalyse, Luhmanns Systemtheorie oder Poppers Kritischen Rationalismus beruft, stört ihre Angehörigen nicht, weil diese für ihren partikularen Standpunkt universelle Geltung beanspruchen. Dem „Ideal narzißtischer Allmacht“ folgend, behaupten sie, die Wahrheit zu besitzen und so allen anderen Wissenschaftlergruppen überlegen zu sein. Dadurch verwandeln sie ihren Diskurs in einen ideologischen Monolog, dessen struktureller Narzissmus in seiner Geschlossenheit und seiner Ausgrenzung des Andersartigen besteht. 94 Wie wissenschaftliche Monologe dieser Art begründet werden, zeigen programmatische Aussagen Niklas Luhmanns, die den Pluralismus als theoretische Vielfalt verurteilen: „Eine weitere Möglichkeit, der faulste aller Kompromisse, ist: sich auf ‚Pluralismus‘ zu einigen.“ 95 Anscheinend soll die Systemtheorie als die einzige Möglichkeit im soziologischen Bereich legitimiert werden. Analog zu Luhmann argumentiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Siegfried J. Schmidt, wenn er von seiner Empirischen Literaturwissenschaft 93 Vgl. A. Bammé, Science Wars. Von der akademischen zur postakademischen Wissenschaft, Frankfurt-New York, Campus, 2004, Kap. III. 94 Der monologische und dualistische Charakter von Ideologien wird vom Vf. ausführlich kommentiert in: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VIII. Vgl. auch Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen- Basel, Francke, 2004, Kap. II. 95 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 61. 193 behauptet, sie habe „sich als Alternative zu (allen) anderen Varianten von Literaturwissenschaft verstanden“. 96 Das zugleich soziologische und psychologische Problem besteht darin, dass andere Soziologen und Literaturwissenschaftler Luhmanns und Schmidts Monologe nicht akzeptieren und ihre eigenen Varianten von Soziologie und Literaturwissenschaft (weiter) entwickeln. Dadurch entsteht ein beziehungsloses Nebeneinander von Theorien, das eine heillose Zersplitterung des wissenschaftlichen Bereichs zur Folge hat - und ein Misstrauen aller Theorie gegenüber. Wie im Alltag, wo jeder Narzisst um Anerkennung für sein Idealich wirbt, versuchen an Universitäten und Instituten Wissenschaftler und Wissenschaftlergruppen ihre hermetischen Gruppensprachen als Monologe zu rechtfertigen. Jede Gruppe neigt dazu, ihre Sprache und ihre Objektkonstruktionen mit der Wirklichkeit zu identifizieren und die wissenschaftlichen Ansprüche anderer Gruppen zu negieren oder zu bagatellisieren. Sooft sich diese Gruppen in ihren Sprachen und Terminologien kritisch zu Wort melden, fügen sie der kritisierten Gruppe eine narzisstische Kränkung zu und provozieren narzisstische Wut. Dies wird im „Positivismusstreit“ sowohl auf Seiten der Kritischen Theorie als auch auf Seiten des Kritischen Rationalismus deutlich. 97 Man kann es auch in den Auseinandersetzungen zwischen Derrida und Searle beobachten. 98 Dabei spielt häufig ein missverstandenes Ichideal oder eine Verwechslung von Ichideal und Idealich eine fatale Rolle: Man meint für die Sache der Psychoanalyse, der Soziologie, der Literaturwissenschaft oder des Kritischen Rationalismus zu kämpfen und kämpft in Wirklichkeit um seine eigene Position im „wissenschaftlichen Feld“, wie Bourdieu es ausdrücken würde. Obwohl ein solcher Kampf keineswegs ergebnislos verlaufen muss (dem Narzisst als Wissenschaftler können wie dem Dandy bril- 96 S. J. Schmidt, „Allgemeine Literaturwissenschaft - ein Entwurf und die Folgen“, in: C. Zelle (Hrsg.), Allgemeine Literaturwissenschaft. Konturen und Profile im Pluralismus, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 106. 97 Vgl. H. Albert, „Kleines verwundertes Nachwort zu einer großen Einleitung“, in: Th. W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1972, S. 338-339. 98 Vgl. J. Derrida, Limited Inc., Paris, Galilée, 1990, S. 201-285: „Vers une éthique de la discussion“. 194 lante Formulierungen, ja sogar Argumente einfallen), verlieren die Beteiligten das Wesentliche schnell aus den Augen: die wissenschaftliche Erkenntnis, die in diesem Kontext wohl als einzige die Bezeichnung „Ichideal“ verdient. Denn sie ist es, die alle Theorien - von Lacans Psychoanalyse und Luhmanns Systemtheorie bis zum Kritischen Rationalismus und zur Kritischen Theorie - mit Leben erfüllt und am Leben erhält. Leben ist aber, wie sich im zweiten Kapitel gezeigt hat, nur um den Preis der dialogischen Öffnung zu haben: der Öffnung zum Anderen. Eine wissenschaftliche Theorie kann sich nur entwickeln, wenn sie eine permanente Auseinandersetzung mit dem theoretisch Andersartigen sucht, statt es monologisch zu negieren. Ein produktiver Narzissmus kommt nur dann zustande, wenn dieses terminologisch und methodologisch Andersartige um des eigenen Anliegens willen anerkannt und mitgedacht wird, statt als Vorwand vereinnahmt oder als Hindernis beseitigt, ausgeblendet zu werden. Dem systematischen Narzissten Hegel erschienen andere Philosophien lediglich als Vorwand für den Ausbau des eigenen Systems - oder als zu beseitigende Hindernisse. 99 Luhmann neigt - wie Hegel, wie alle Systemdenker - dazu, andersartige, ihm fremde Theorien (etwa Touraines sociologie de l’action) abzuwerten. Eine der Folgen ist, dass nun jenseits seines Systems weitergedacht wird. Die andere Theorie ist weder Vorwand noch Hindernis, sondern Lebensbedingung: Grundvoraussetzung für die Entwicklung des eigenen Ansatzes. Wie der erfolgreiche Patient, der es am Ende seiner Therapie versteht, auf die Alterität des Therapeuten einzugehen, so müsste der Theoretiker es lernen, die Andersartigkeit konkurrierender Theorien gleichsam mitzudenken. In diesem Kontext wird auch der Vorschlag plausibel erscheinen, die Psychoanalyse und ihren Narzissmusbegriff in das wissenschaftstheoretische Repertoire aufzunehmen. Denn es zeigt sich immer wieder, dass das Idealich als Streben nach „narzisstischer Allmacht“ einerseits durchaus Energien in Forschung und Theoriebildung freisetzen kann, andererseits aber dazu angetan ist, das Ichideal wissenschaftlicher Erkenntnis zu gefährden. Denn eine Immunität gegen Ideologie, Rhetorik und Gefallsucht ist auch dem Wissenschaftlerberuf nicht eigen. 99 Vgl. P. Macherey, Hegel ou Spinoza, Paris, Maspero, 1979, S. 94. 195 Bibliografie In diese Bibliografie wurden ausschließlich Titel aufgenommen, die für die Narzissmus-Problematik in diesem Buch von Bedeutung sind. Adorno, Th. 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E. 29 Fließ, W. 190 Franco, F. 87 Franz, M. 94-95 Freud, A. 50-53, 55 Freud, S. vii, 4, 7-42, 44-49, 51, 55-57, 59, 61, 63-64, 66-68, 70-72, 96-98, 109, 115, 149- 150, 159-160, 190 Frizen, W. 186 Fromm, E. 117 Gadamer, H.-G. 186 Gaitanidis, A. 72 Gaspard, F. 156 Gast, L. 20, 26, 32 George, S. 85, 99, 164, 171, 175 Giddens, A. 114, 123 Gide, A. 16, 36, 171 Gnüg, H. 167 Goebel, G. 173, 177 Gould, G. 154 Green, A. vii, 62, 78, 81-85, 90 Greimas, A. J. 15, 34, 128-129 Grinberg, L. 32, 55-56 Grunberger, B. 41, 61-62, 81-85, 94 Habermas, J. 114 Halévy, D. 118 Hartfiel, G. 5 Hartmann, H. 52, 73 Haug, W. F. 144 Hegel, G. W. F. 6, 194 Heidegger, M. 66, 144 Henseler, H. 2, 40 Hermant, A. 169 Hesse, H. 13, 16, 36, 58 Hillmann, K.-H. 5 Hitler, A. 94 Hobbes, Th. 149 Horkheimer, M. 115 Hörner, F. 169 Horney, K. 117 Hoffmann, E. T. A. 2, 9, 43 Hoffmeister, M. 40-41 Hofmannsthal, H. von 169 Hondrich, K. O. 113 Horkheimer, M. 6, 100 Huber, F. 159 Huysmans, J.-K. 154, 172, 177- 178 Jacobson, E. 38, 50, 52-53, 55-57 Jacobson, M. R. 185 Jacoby, M. 79 Janet, P. 9 Jeammet, N. 135, 157 Jones, E. 16 Julien, Ph. 65 Jullian, Ph. 165 Jung, C. G. 4, 20, 190 Juranville, A. 63 Kafka, F. 11-13, 16, 131, 153 Kant, I. 19 203 Karsenti, B. 130 Kernberg, O. 71-72, 77-80, 84- 85, 101 Keupp, H. 123, 151 Kirchhoff, B. 125 Klein, M. 24, 45, 48-49 Kleinschroth, R. 87 Knorr-Cetina, K. 191 Kohl, H. 95 Kohut, H. viii, 5, 52-54, 61-62, 71-85, 87, 89-90, 94, 98, 115, 121, 144 Kraepelin, E. 24 Krotz, F. 175 Küchenhoff , J. 29 Kurzke, H. 180 Kutter, P. 113 Lacan, J. 15, 31, 45, 59, 63-80, 90, 94, 97-98, 115, 119, 131, 150, 160, 170, 192, 194 Lafontaine, O. 87-88 Lagache, D. 32, 59, 66 Lai, G. 116, 147, 150-152 Landshut, S. 13 Lang, H. 66 Lanouzière, J. 69, 157 Laplanche, J. viii, 64, 115, 150, 158, 170 Lasch, Ch. 113-114, 121-122, 131-132, 149, 162 Lawrence, D. H. 16 Leclaire, S. 66 Lemaire, A. 66 Lenin, V. 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(Ovid) 1, 4, 7, 179 Palmowski, B. 40 Parotto, G. 148 Parsons, T. 190 Pichois, Cl. 163-164 204 Pirandello, L. 11-12 Ponnier, J. 70, 72, 76-77, 98-99 Pontalis, J.-B. viii, 64, 115, 150, 158, 170 Popper, K. R. 192 Porret, J.-M. 27, 35 Prieto, L. J. 80 Proust, M. ix, 8, 85, 125, 161- 162, 171-179, 182-184, 186 Quilliot, R. 118 Ramos, M. 158 Rank, O. 2, 26, 33, 38, 42-45, 73, 83 Rasch, W. 129-130 Reagan, R. 148 Reich-Ranicki, M. 188 Reijnders, K. 172 Reisner, H.-P. 185 Remotti, F. 116, 151-152 Ribot, T. A. 8 Riesman, D. 54, 113, 116 Roether, J. ix, 101-102 Röhr, H.-P. 72, 127, 135-136 Robbe-Grillet, A. 154 Rommel, B. 173 Rosa, H. 118-119, 140-141, 145, 147 Roth, C. E. 141-142 Rosenfeld, H. 24 Roudinesco, E. 63, 67, 73, 190 Roussillon, R. 135, 157 Safouan, M. 68-70, 79-80, 98, 170, 175 Sainte-Beuve, Ch. A. 173, 178 Sand, G. 175 Sandler, J. 2, 16, 32, 34, 56 Sartre, J.-P. 13, 16, 153, 179 Sassanelli, G. 84 Saussure, F. 63, 80 Scheible, H. 7 Schlechta, K. 10, 182 Schmidt, S. J. 192-193 Schneider, P. 19 Schnitzler, A. 7 Schreber, D. P. 20, 29-30, 67 Schulze, M. 183 Schur, M. 190 Searle, J. 193 Seidler, G. H. 56, 95 Seifert, E. 65-66 Sellers, P. 158 Seubold, G. 125 Simmel, G. 13 Skiplaski, S. 159 Spancken, M. 186 Stachorski, S. 180 Stalin, J. W. 86-87, 126 Stillich, S. 143-144, 145-146 Stirner, M. 84 Stockreiter, K. 182 Stöcker, Ch. 143 Stolorow, R. D. 28-29 Summers, J. H. 159 Süskind, P. ix, 155,161-162, 174, 184-189 Svevo, I. 11 Symington, N. 25, 62, 86 Tiryakian, E. A. 191 Touraine, A. 119, 156 Toutenu, D. 99 Trimborn, W. 133 Vattimo, G. 130, 144 Veblen , T. 163 Vinci, L. da 21-22, 30, 45-48, 96, 98 Vogel, J. 159 Volkan, V. D. 79, 86-87, 91, 99 Wagner, R. 98 Weber, M. 5, 190-191 Werfel, F. 11 205 Wertheimer, J. 121 Wesendonk, M. 98 Wiesse, J. 157 Wieviorka, M. 156 Wilde, O. 2, 4, 7, 14, 43, 85, 137, 170-172, 174 Wintels, A. 114, 118, 126, 138 Winnicott, D. W. 25, 74 Wirth, H.-J. 62, 87, 91-92, 100, 147 Wolf, E. S. 74 Wuthenow, R. R. 171-172 Zafiropoulos, M. 131 Zelle, C. 193 Zepf, S. 92, 114-115, 132-133 Zéphir, J. 8 Ziehe, Th. 50, 53-55, 61, 63-64, 66, 116, 134, 136 Zima, P. V. 121, 178, 184 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de In diesem Buch geht es nicht nur um die Gestalt des Künstlers in der europäischen Romanliteratur, sondern auch um das Schicksal der Kunst zwischen Romantik und Postmoderne. Werden die hier kommentierten Romane der Romantik, der Spätmoderne und der Postmoderne als Barometer der gesellschaftlichen Entwicklung zwischen 1800 und 1990 gelesen, so zeigt sich, daß einerseits der Künstler als Seher und Verkünder einer besseren Welt abdankt, andererseits die Kunst als Statthalterin sozialer Utopien unglaubwürdig wird. Die komplementären Prozesse der Säkularisierung, der sozialen Differenzierung, der ideologischen Zersplitterung und der Vermarktung bewirken den Rückzug der Kunst in eine Enklave, die Soziologen als „System“, „Subsystem“ oder „Feld“ bezeichnen. Auf diese Entwicklung reagieren postmoderne Künstlerromane, indem sie den Anspruch romantischer und spätmoderner Kunst, das kritisch-utopische Gewissen der Gesellschaft zu sein, parodieren. Sie haben sich mit der Tatsache abgefunden, daß Kunst ein „Sprachspiel“ unter vielen ist und nicht länger oberste kritische Instanz oder weltliche Erbin religiöser Prophetie. Peter V. Zima Der europäische Künstlerroman Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie 2008, XVI, 517 Seiten, €[D] 39,00/ Sfr 66,00 ISBN 978-3-7720-8263-4 UTB Soziologie A. Francke Preisänderungen vorbehalten Peter V. Zima Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften UTB 2589 S, 2004, XIV, 308 Seiten, EUR 18,90/ SFr 33,40 UTB-ISBN 978-3-8252-2589-6 Was ist Theorie und welche Bedeutung haben Ideologie und Werturteile für sie? Wie könnte ein kultur- und sozialwissenschaftlicher Theoriebegriff aussehen? Der Autor antwortet auf diese Fragen, indem er zunächst klärt, wie sich Theorien in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen definieren lassen. Daran anschließend werden die wichtigsten Theoriedebatten des 20. Jahrhunderts dargestellt und ihre Voraussetzungen, Ziele und Implikationen in anschaulicher Form präsentiert, aber auch kritisch bewertet. Am Schluß des Bandes steht die Zusammenführung der unterschiedlichen Ansätze im Konzept einer Dialogischen Theorie, die den Besonderheiten der Kultur- und Sozialwissenschaften Rechnung trägt. Literaturwissenschaft Peter V. Zima Theorie des Subjekts Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne XIV, 454 Seiten, 19,90/ SFr 33,80 ISBN 978-3-8252-2176-8 Unterschiedlichste kulturelle und soziale Phänomene wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit dem Hinweis auf die Krise bzw. den Zerfall des Subjekts in Spätmoderne und Nachmoderne erklärt. In seinem Buch gibt Peter V. Zima einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Positionen zum Thema Subjektivität und Identität, die solchen Erklärungen zugrunde liegen. Die interdisziplinär angelegte Studie stellt die Begriffsbildung und den Diskussionsstand in Philosophie, Psychologie, Soziologie und Literaturwissenschaft ausführlich dar. Aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Subjektivitätsproblematik in Moderne und Postmoderne (von Descartes und Kant bis Adorno und Lyotard) geht im letzten Kapitel der Entwurf einer dialogischen Subjektivität hervor, die zur Grundlage einer dialogischen Theorie wird. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Postfach 2560 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 979711 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de 2., durchgesehene Auflage 2007, Literaturwissenschaft Peter V. Zima Das literarische Subjekt Zwischen Spätmoderne und Postmoderne 2001, X, 247 Seiten, 29, - / SFr 50,70 ISBN 978-3-7720-2775-8 In diesem Buch wird die individuelle Subjektivität in der spätmodernen und postmodernen Literatur nachgezeichnet. Während in der Spätmoderne (bei Mallarmé, Valéry, Adorno) Negativität und Ambivalenz, das Schöne und das Erhabene der Stärkung subjektiver Autonomie dienten, schlägt in nachmodernen Texten das Erhabene in Subjektnegation um. Komplementär dazu verwandelt sich das Schreiben, das im Modernismus Prousts, Woolfs, Svevos, Unamunos wesentlich zur ästhetischen Subjektkonstitution beitrug, in der Postmoderne in eine Subversion individueller Subjektivität. So ist u.a. der Funktionswandel von Intertextualität und Zitat zu erklären. Peter V. Zima zeigt in seiner Studie, wie in einigen nachmodernen Texten (bei Robbe- Grillet, Süskind, Del Giudice) Subjektivität im Zuge der beschriebenen Entwicklung auf reine Körperlichkeit reduziert wird. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Postfach 2560 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 752 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Preisänderungen vorbehalten A. Francke Peter V. Zima Die Dekonstruktion Einführung und Kritik UTB 1805 S, 1994, XII, 251 Seiten, € 16,90/ SFr 30,10 UTB-ISBN 978-3-8252-1805-8 Das Buch vermittelt eine Übersicht über die Dekonstruktion, die Jacques Derrida als radikale Kritik an der metaphysischen Tradition der abendländischen Philosophie konzipiert hat und die in den USA von Literaturtheoretikern wie Paul de Man, J. Hillis Miller und Geoffrey H. Hartman weiterentwickelt wurde. Es werden die philosophisch-ästhetischen Grundlagen und die Schlüsselbegriffe der verschiedenen dekonstruktivistischen Ansätze erläutert. Das Werk im Spiegel der Presse: »Zimas Buch ist eine vorzügliche Einführung nicht nur in die Dekonstruktion selbst, sondern auch in wichtige von ihr angestoßene Debatten«. Das Argument »Mit dieser Untersuchung […] werden die philosophischästhetischen Grundlagen sowie die Schlüsselbegriffe der verschiedenen dekonstruktivistischen Ansätze erläutert, wobei ein Brückenschlag von der Theorie zur Praxis der Dekonstruktion erfolgt«. Bibliographie de la Philosophie UTB Germanistik A. Francke Preisänderungen vorbehalten Peter V. Zima Moderne / Postmoderne Gesellschaft, Philosophie, Literatur UTB 1967, 2., überarbeitete Auflage 2001, 440 Seiten, 19,90/ SFr 34,90 UTB-ISBN 978-3-8252-1967-3 Das Buch leistet eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Moderne, Modernismus und Postmoderne auf soziologischer, philosophischer und literarischer Ebene sowie eine Abgrenzung der Begriffe Neuzeit, Moderne, Modernismus, Postmoderne, Posthistoire und nachindustrielle Gesellschaft. Der Autor versucht, sowohl der Ideologisierung als auch der Indifferenz zu entgehen, indem er im letzten Kapitel eine dialogische Theorie vorschlägt, die zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen Indifferenz und ideologischem Engagement vermittelt. „Der Verfasser bietet hier eine eigenständige und, was aus einer didaktischen Perspektive betont werden soll, verständige und verständliche Darstellung des ausufernden Diskurses über die kontroversen Bestimmungen und Besetzungen moderner und nachmoderner Denkprozesse." Referatedienst zur Literaturwissenschaft