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Der abwesende Zeuge

2010
978-3-7720-5352-8
A. Francke Verlag 
Michael Bachmann

In Die Untergegangenen und die Geretteten beschreibt der Holocaust-Überlebende Primo Levi ein Paradox der Zeugenschaft: Die wahren Zeugen der Shoah seien jene, die umgebracht wurden, bevor sie Zeugnis ablegen konnten. Von diesem Paradox ausgehend, untersucht die Arbeit das Problem der Zeugenschaft in bzw. von Holocaust-Darstellungen seit den 1950er Jahren. Mit welchen Strategien ist es diesen Darstellungen - in Theaterinszenierungen, literarischen Texten, Filmen, Hörspielen, Comics und Reportagen - möglich, sich in der von Levi konstatierten Abwesenheit von Zeugen als Zeugnisse zu autorisieren? Welche ethischen Schwierigkeiten sind mit einer solchen Autorisation verbunden? Vor dem Hintergrund der nachhaltigen Verschiebung in der Erinnerungskultur, die mit dem Sterben auch der überlebenden Opfer einhergeht, analysiert die Arbeit eine Vielzahl paradigmatischer Texte und Ereignisse.

Michael Bachmann Der abwesende Zeuge Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah Der abwesende Zeuge Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 42 Michael Bachmann Der abwesende Zeuge Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Studienstiftung Niessen. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8352-5 5 Inhalt VORBEMERKUNG: ZUR SPRACHE „NACH AUSCHWITZ“ ........... 7 I. PROBLEMSTELLUNG: DRAMATURGIE DER ZEUGENSCHAFT Die Zukunft der Erinnerung Literatur und Zeugenschaft (I) ...................................................................... 29 Zeugen in Hollywood? Spielbergs „Race Against Time“ ......................... 38 Polanski, Szpilman und die Redundanz des Zeugen ................................ 49 Die Untergegangenen und die Geretteten (Primo Levi) ........................... 56 Fiktionen der Zeugenschaft Literatur und Zeugenschaft (II) .................................................................... 67 Politik der Zeugenschaft ................................................................................ 79 II. SPIEGEL DER ZEUGENSCHAFT Nacht der Erinnerung: Grundzüge eines Autorisierungsmodells (Elie Wiesel) Aus Nacht und Nebel ..................................................................................... 89 Eichmann oder Die Entstehung des Zeugen ............................................... 100 Stumme Boten: Theatralität und das Phantasma der körperlichen Zeugenschaft ............ 112 Tod im Spiegel - L A N UIT als Autorisierungsmodell .................................119 „Writing Ghosts“ - Anne Frank als Erinnerungsfigur Die Stimme der Toten ..................................................................................... 137 Dreimal Anne: Das „Tagebuch“ am Broadway, 1955-1997 ...................... 151 Autoritätsentzug im G HOST W RITER (Philip Roth) ..................................... 167 Autorisierungsstrategien in H ET A CHTERHUIS ............................................ 175 Zeugenschaft zwischen Repräsentation und „Verkörperung“ Das Haupt der Medusa .................................................................................. 185 Filmtheorie „nach Auschwitz“ - Kracauer und das Primat des Optischen ..................................................... 195 Dialektik des Bildes ........................................................................................ 203 Inszenierung des Realen: Claude Lanzmanns S HOAH .............................. 212 6 III. GEGENMODELLE: PERSPEKTIVEN DER ZEUGENSCHAFT Peter Weiss und der Ort des Nichtzeugen .................................................. 225 Bilder des Autors: Zwischen Spiegelman und M AUS ................................ 235 Überleben/ Schreiben - Vom Zeugen zum Autor (Imre Kertész) ........... 253 EPILOG: DIE ABWESENHEIT DER ZEUGEN ....................................... 267 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 273 Medien- und Aufführungsverzeichnis ..................................................... 290 Abbildungsverzeichnis ................................................................................ 292 Dank ................................................................................................................. 293 Namenregister ................................................................................................ 294 7 Vorbemerkung: Zur Sprache „nach Auschwitz“ ich kann es nicht erzählen ich hab’s aufgeschrieben ich weiß es genau [...] da war eine rampe ein altes abstellgleis zwischen den schwellen blühten im frühling die blumen. 1 Das Hörspiel des saarländischen Autors Ludwig Harig, aus dem die hier zitierten Zeilen stammen, hat den harmlos klingenden Titel EIN BLUMEN- STÜCK (1968). 2 Wer ihm ohne Vorwissen über den Text begegnet, mag an eines der vielen Stillleben denken, die diese Bezeichnung tragen, oder an Robert Schumanns B LUMENSTÜCK für Klavier (op. 19) aus dem Jahr 1839. Solche floral-romantischen Assoziationen liegen bei dem Titel vielleicht näher als der Gedanke an das Thema, das tatsächlich im Zentrum von Harigs Hörspiel steht: Das BLUMENSTÜCK ist eine Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache „nach Auschwitz“. 3 Es konfrontiert Sprachmaterial, das gemeinhin als harmlos gilt, so harmlos wie der Titel suggeriert - Kinderlieder, Versatzstücke aus Märchen, Abzählreime, Zitate aus Naturkundebüchern, etc. -, mit den Aufzeichnungen von Rudolf Höß, der das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von 1940-1943 als Kommandant befehligt hat. Obwohl das Hörspiel diesem Montageprinzip von Anfang an folgt, nennt es die Namen Höß und Auschwitz erst nach rund dreißig Minuten. Darum gehen die erstgenannten Assoziationen nicht völlig fehl. Abhängig vom Vorwissen der Rezipienten sind Gedanken an Blumenmalerei und Schumann ein möglicher Bestandteil der Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, die Harigs B LUMENSTÜCK führt. Das ist nur deshalb möglich, weil es zunächst offen für vielerlei Assoziationen ist - also nicht von den Namen Auschwitz und Höß bestimmt wird. Aus diesem Grund kann das BLUMENSTÜCK die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, wie der zuständige Dramaturg Johann M. Kamps schreibt, als „spielerische Einübung in die Hellhörigkeit“ 4 führen, d.h. in Form eines Sprachspiels, das mit Assoziationen und Erwartungen der Hörer spielt. In 1 Ludwig Harig: EIN BLUMENSTÜCK (Harig 1969, 144). 2 Wie die meisten Hörspiele des Autors wurde das BLUMENSTÜCK beim Saarländischen Rundfunk produziert, Regie führte Hans Bernd Müller. 1979 erstellte der Norddeutsche Rundfunk eine Neuinszenierung, diesmal mit Heinz Hostnig als Regisseur. Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die Erstproduktion von 1968. 3 Zu den Anführungszeichen, die den Ausdruck nach Auschwitz umschließen, siehe unten, S. 19-26. 4 Kamps 1997, 31. 8 dieser Hinsicht ist EIN BLUMENSTÜCK geradezu paradigmatisch für das sogenannte Neue Hörspiel der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, zu dessen wichtigsten Vertretern Harig zählt. 5 Als gemeinsamer Nenner der diversen Ansätze, die unter dem Schlagwort Neues Hörspiel subsumiert werden, zeichnet sich ein veränderter Umgang mit der Rolle der Hörer sowie dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ab: Im Gegensatz zu traditionellen Formen des Hörspiels hat Sprache nicht mehr primär die Aufgabe, ein dramatisches Geschehen über das Zusammenspiel von personal gemeinten Stimmen zu bedeuten. Stattdessen rückt das Handeln der Sprache selbst in den Vordergrund. 6 Dem traditionellen Hörspiel war der Anspruch aufgebürdet, keine Leerstellen zu enthalten, damit es die Hörer auf einer „inneren Bühne“ nachvollziehen können - ganz nach den Intentionen des Autors oder der Autorin. 7 Das Neue Hörspiel hingegen will „Spiel mit Hörer“ sein, wie es ein programmatischer Aufsatz Hellmut Geißners bereits im Titel formuliert. Wenngleich die Materialität der Sprache hier eine eigene Wirklichkeit bildet, macht sie - im Bezug auf die Hörer - Außersprachliches erkennbar, das zuvor vielleicht verborgen blieb: Weil die Sprachrealität des Spiels von den Rezipienten mitkonstituiert wird, „bietet es die Möglichkeit, nicht nur Hör-Erwartung, sondern Bewußtsein zu verändern, je nachdem ob, wobei und wieweit der Hörer mitspielt“, schreibt Geißner. 8 Wie ich im Folgenden zeigen möchte, strebt auch das BLUMENSTÜCK eine solche Bewusstseinsveränderung an. Es ist so komponiert, dass die Hörer - falls das Spiel sein Ziel erreicht - im Lauf von Harigs Text lernen, das scheinbar harmlose Sprachmaterial (die Kinderlieder, die Märchenzitate, etc.) auf Auschwitz zu beziehen. Der Literaturwissenschaftler Stefan Bodo 5 Beim Neuen Hörspiel handelt es sich um die vielleicht am besten erforschte Epoche der deutschen Hörspielgeschichte. Einen guten Überblick liefern die Standardwerke von Döhl (1988) und Schöning (1970). 6 Vgl. die folgende Aussage Franz Mons, die - obwohl auf seine eigene Hörspielpraxis bezogen - auch andere Beispiele des Neuen Hörspiels beschreiben könnte: „es handeln die sprachelemente. subjekte sind die wörter, die wörteragglomerationen, die gestanzten redensarten [...] wörterreihen treten in spannung zu redensarten. redensarten hinterbauen dialoge. dialoge werfen fragen auf, die von wörterreihen beantwortet werden“ (Mon 1970, 128). 7 Im Kontext der Hörspieldramaturgie der 1950er, von der sich die Vertreter des Neuen Hörspiels absetzen, verweist das Konzept der „inneren Bühne“ auf zwei verwandte Vorgänge: Erstens ist damit die Konzentration auf die innere Handlung, d.h. auf die „Seelenvorgänge“ der Protagonisten gemeint; zweitens wird angenommen, dass die innere Handlung sich zugleich im Kopf der Hörer abspiele, dass also alles Äußere zugunsten dieser doppelten Innerlichkeit verloren gehe. Zum Konzept der „inneren Bühne“ und zu der Ästhetik, die mit dieser Begrifflichkeit verbunden ist, vgl. die einflussreiche Dramaturgie und Geschichte des Hörspiels von Heinz Schwitzke, Leiter der Hörspielabteilung des Nordwestdeutschen bzw. Norddeutschen Rundfunks von 1951-1971 (Schwitzke 1963). Siehe auch Bachmann 2009, 198-203. 8 Geißner 1969, 42. Geißner bezieht sich explizit auch auf Harigs B LUMENSTÜCK . 9 Würffel beschreibt diesen Lernprozess als Sensibilisierung der Hörer für die Ambiguität des Gehörten. Idealerweise erfassen sie bald jedes Wort in doppelter Bedeutung [...], ob es sich nun um die gelben Sterne der Blumen, um die braunen Kreuze der Schmetterlinge oder um einen schwarzen Mann handelt, der sein Feuer schürt. 9 Das Hörspiel zitiert oft aus dem Märchenbereich, beispielsweise: „ich tus ja/ sagte der müller/ und hackte der tochter die beiden hände ab“. Solche Sätze verweisen, schreibt Würffel, „immer schon auf Vernichtungsmethoden, bevor diese durch die Höß-Zitate noch direkter evoziert werden.“ 10 Damit spricht der Literaturwissenschaftler, ohne es näher auszuführen, ein entscheidendes Moment der „Einübung in die Hellhörigkeit“ 11 bei Harig an. Es ist nämlich so, dass das wachsende Verständnis für die Doppeldeutigkeit der Wörter mit einer Verengung der Assoziationsfelder einhergeht, die den Hörern zur Verfügung stehen. Während der ersten halben Stunde vermeidet das BLUMENSTÜCK jede historisch konkrete Referenz. Weder der Nationalsozialismus noch die Shoah, weder Auschwitz noch Höß werden in diesem Teil des Hörspiels genannt. Stattdessen sprechen zwei, einander von Zeit zu Zeit abwechselnde, Männerstimmen über Blumen, die zwischen Bahngleisen wachsen. 12 In angenehmem Tonfall erzählen sie über einen Bauernhof und von Spaziergängern, die sich einer verlassenen Fabrik langsam nähern. Nach etwa dreißig Minuten beschreiben die Stimmen ein Schild, das über dem Eingang der Fabrik angebracht sei: „darauf ist für die spaziergänger zu lesen/ arbeit macht frei/ auf dem dach steht ein stern/ es ist ein gelber davidstern“ (177). Auf diese Worte, die das Gebäude als Teil eines Konzentrationslagers ausweisen, folgt im Hörspiel ein Satz, der den Erzählertext - zumindest vorübergehend - an eine Identität bindet: „ich bin rudolf höß, kommandant von auschwitz“. 13 9 Würffel 1978, 160. 10 Würffel 1978, 160. Der Märchensatz - er paraphrasiert D AS M ÄDCHEN OHNE H ÄNDE aus der Grimmschen Sammlung - findet sich bei Harig 1969, 154. Alle weiteren Zitate, die sich auf die Buchausgabe des BLUMENSTÜCKS beziehen, werden im Fließtext - mit Seitenzahlen in Klammern - belegt. Das produzierte Hörspiel weicht von der gedruckten Version bisweilen ab. In solchen Fällen mache ich die Abweichung in der Fußnote kenntlich. 11 Kamps 1997, 31. 12 Die beiden Stimmen werden von Günther Sauer und Charles Wirths gesprochen. Die Schauspieler treten in keinen Dialog miteinander, sondern lösen sich in der Erzählerrolle ab, ohne dass der Wechsel besonders auffällig würde. Das liegt nicht nur daran, dass Wirths und Sauer eine ähnliche Sprechhaltung einnehmen, weshalb ihre Stimmen schwer zu unterscheiden sind: Die Texte der beiden Schauspieler bilden Bestandteile einer gemeinsamen Gedankenkette. Dennoch ist der Stimmwechsel durch temporale Unterschiede begründet. Wirths erster Satz beginnt mit den Worten „noch immer führt der weg über den bahndamm“ (Harig 1969, 160; meine Hervorhebung). 13 Diese Identitätszuweisung fehlt im Stücktext der Buchausgabe, wo auch die Rollennamen anonymisiert bleiben (Sprecher, Kinder, Chor). Dem Leser wird der Bezug auf den Auschwitzkommandanten bereits in einer Vorbemerkung zum Hörspiel offen- 10 Im BLUMENSTÜCK ist das die erste historisch und topographisch eindeutige Angabe. Mit ihr beginnt das Hörspiel - in gewisser Weise - nach dreißig Minuten noch einmal von vorne: „ich erinnere mich/ ich weiß es genau/ ich will es erzählen“ (180). Die Anfangssätze der Erzählerstimme, die diesem Kapitel als Eingangszitat dienen, werden mit geringen Abweichungen wiederholt: da war die rampe das alte abstellgleis zwischen den schwellen blühten die blumen [...] eichmann fuhr im frühling nach oberschlesien (180f.) Der Unterschied, so klein er sein mag, ist signifikant: Durch den Wechsel vom unbestimmten zum bestimmten Artikel werden aus einer Rampe und einem Abstellgleis die spezifische Rampe und das Abstellgleis von Auschwitz. Der Frühling, der beim ersten Mal allgemein die Jahreszeit bezeichnet, in der Blumen blühen, wird als der konkrete Frühling ausgewiesen, in dem Adolf Eichmann, einer der maßgeblichen Organisatoren der nationalsozialistischen Judenvernichtung, nach Oberschlesien fährt. Der historischtopographischen Verankerung (Auschwitz, Höß, Eichmann) entspricht eine veränderte Relation von Wissen und Erzählung. „ich kann es nicht erzählen/ ich hab’s aufgeschrieben/ ich weiß es genau“ (144) heißt es zu Beginn des Hörspiels. Jetzt aber soll das schriftlich fixierte Wissen zur Sprache kommen, von dem das „Ich“ nicht reden konnte: „ich weiß es genau/ ich will es erzählen“ (180). Was anfangs unausgesprochen blieb, war der historische Bezugspunkt des Erzählertextes. Dem vagen Hinweis auf eine Quelle („ich hab’s aufgeschrieben“) folgen nun Name und Stellung des Autors: „ich bin rudolf höß, kommandant von auschwitz.“ Die autobiographischen Notizen des ehemaligen Lagerkommandanten Höß, die er vor seiner Hinrichtung 1947 verfasst hat, erschienen erstmals 1958 in einer Schriftenreihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. 14 Viele Passagen in Harigs Hörspiel paraphrasieren Stellen aus diesen Aufzeichnungen; so auch - sehr frei - das Anfangszitat. Höß beginnt seinen Text mit der Behauptung, er wolle versuchen „aus der Erinnerung wirklichkeitsgetreu alle wesentlichen Vorgänge, alle Höhen und Tiefen meines psychischen Lebens und Erlebens wiederzugeben.“ 15 Der Genauigkeitswunsch findet sich an dieser Stelle ebenso wie zu Beginn des BLUMEN- STÜCKS . „Um das Gesamtbild möglichst vollständig zu umreißen“, schreibt bart: „kinderlieder, kinderlieder, abzählreime, zitate aus märchen, lese- und naturkundebüchern und stellen aus dem tagebuch von rudolf höß ranken sich um eine permutationskette, die aus namen von blumen, die auf der rampe wachsen, gebildet ist“ (Harig 1969, 141). Diesem Vorwissen des Lesers entspricht eine andere Rezeptionshaltung als jene, die ich für den Typus des „ahnungslosen“ Hörers beschreibe. 14 Hrsg. von Martin Broszat. Als Kriegsverbrecher wurde Höß am 2. April 1947 vom polnischen Obersten Volksgericht zum Tode verurteilt und vierzehn Tage später in Auschwitz gehenkt. 15 Höß 2006, 31. 11 Höß, „muß ich bis zu meinen frühesten Kindheitserlebnissen zurückgreifen.“ 16 Er erinnert sich, dass „in der weiteren Umgebung unseres Hauses [...] nur einzelne Bauerngehöfte“ standen, und dass er im nahe gelegenen „Wald mit den hohen Schwarzwaldtannen“ nicht spielen durfte. 17 Mit dieser Erinnerung fängt, nach der Reflexion zum Verhältnis von Erzählen, Wissen und Schreiben, auch das BLUMENSTÜCK an. „wir wohnten außerhalb der stadt“, sagt die erste Erzählerstimme, „es gab nur bauerngehöfte/ ganz in der nähe begann der wald [...]/ ich durfte nicht in den wald gehen“ (144f.). Einem „ahnungslosen“ Hörer, dem das Vorwissen über den intertextuellen Bezug dieser Stelle fehlt (weil der Name Höß erst dreißig Minuten später fällt), mag das als belanglose Kindheitserinnerung erscheinen, die die im Titel implizierte Harmlosigkeit fortsetzt. Der Eindruck des Kindlichen wird dadurch verstärkt, dass die Gedankenkette des Erzählers von dem bereits erwähnten Sprachmaterial durchdrungen wird, das vor allem aus Märchen- und Liedzitaten besteht: Diese Texte werden in der Mehrzahl von Kindern gesungen und gesprochen. Die Doppelbödigkeit der Erinnerung entlarvt sich erst später, wenn die Hörer um die Identität des Erinnernden wissen. Nun wäre die Rede von einer allmählichen „Einübung in die Hellhörigkeit“ bei Harig verfehlt, wenn sich das BLUMENSTÜCK in zwei klar getrennte Abschnitte teilen ließe, von denen der eine historisch konkret (Auschwitz, Höß, Eichmann) wäre, während die Doppeldeutigkeit des anderen - des ersten Teils - sich nur dem eingeweihten Hörer bzw. nachträglich erschlösse. Der Satz des Auschwitz-Kommandanten, „ich bin rudolf höß“, ist jedoch kein plötzlicher Wendepunkt im Hörspiel. Vielmehr gibt es bereits in der ersten halben Stunde des BLUMENSTÜCKS Stellen, die selbst bei ahnungslosen Hörern für Irritation sorgen dürften; zum Beispiel im - auch thematisch unmittelbaren - Anschluss an die oben zitierte Erzählpassage. Ein Junge will seinen Spielgefährten nicht in den Wald folgen, weil es die Mutter verboten hat und weil ihm die Blumen auf der Wiese gefallen: „seht doch die großen rosen/ die goldnen bremmen“ (146). Rufend antworten die anderen Kinder: „komm doch mit zu den bäumen/ in die birkenau/ in den buchenwald“ (146). 18 Es ist deutlich, dass ihr Dialog nicht nur Blumen-, Baum- und Straucharten nennt (das lothringische Wort Bremm meint eine Ginstersorte), sondern die Namen von Konzentrations- und Gestapolagern: Goldene Bremm, Buchenwald, Auschwitz-Birkenau und Groß-Rosen. 19 16 Höß 2006, 31. 17 Höß 2006, 31. 18 Im gedruckten Hörspieltext fehlt die direkte Anrede an das einzelne Kind. Dort lautet der erste Halbsatz: „kommt zu den bäumen.“ 19 An der Neuen bzw. Goldenen Bremm bei Saarbrücken betrieb die Gestapo ein „Erweitertes Polizeigefängnis“, ein sogenanntes Gestapolager. Im Gegensatz zu KZs wie Buchenwald, Auschwitz-Birkenau oder Groß-Rosen (zunächst ein Nebenlager von Sachsenhausen) waren die sogenannten Gestapolager nicht dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin unterstellt. 12 Anders als die spätere Nennung von Auschwitz, Höß und Eichmann haben die Kinderworte aber keinen eindeutigen Bezugspunkt in der außersprachlichen Realität. Sie verbleiben, an dieser Stelle, in einem Feld der Verunsicherung und des freien Assoziationsbzw. Sprachspiels. Wenn sie gegen Ende des Hörstücks wiederkehren, werden sie dagegen historisch konkret verwendet: „die goldene bremm war ein deutsches konzentrationslager“, sagen die Kinderstimmen, hier wurden juden gesammelt groß-rosen war ein deutsches konzentrationslager hier wurden juden gequält birkenau war ein deutsches konzentrationslager hier wurden juden vergast (198) An dem Unterschied zwischen den beiden Stellen lässt sich noch einmal ablesen, dass die „Einübung in die Hellhörigkeit“ mit einer Verengung von Assoziationsfeldern einhergeht. Beispielhaft für das BLUMENSTÜCK ist daran auch, dass die erwähnten Lager alle Namen aus dem floralen Bereich tragen. Darauf beruht einerseits die Effektivität des Sprachspiels, die der Lagername Mauthausen zum Beispiel nicht erlauben würde: Er wäre weit weniger doppeldeutig. Andererseits bezieht sich die Rede von den Blumen nicht nur auf die euphemistische Bezeichnung von nationalsozialistischen Vernichtungsstätten: Es geht Harig, wie seine eigene Metaphorik verrät, um einen tiefen „Stachel“ in der deutschen Sprache, die zum „Nährboden“ des Faschismus wird. „das hörspiel ein blumenstück“, schreibt der Autor im Vorwort zur Buchausgabe, „ist ein gebinde aus blüten, die die deutsche sprache im zustand der naturseligkeit getrieben hat“ (141). 20 Das Prinzip von Harigs Hörspiel ist es, Irritationen in die „naturseligkeit“ einzubauen, z.B. in die naturromantischen Kindheitserinnerungen des Beginns, um sie zu dekonstruieren. Eine große Rolle in dieser Hinsicht spielen die musikalischen Stellen, in denen ein hämmerndes Klavier und dissonante Streicher aggressiven Sprechgesang begleiten. Der Gesang zählt nur Blumennamen auf, doch es handelt sich um schaurig klingende Wörter wie Natterkopf oder Katzenrippe. Auch der Löwenzahn öffnet unter den genannten Vorzeichen ein Assoziationsfeld, das seiner wörtlichen Bedeutung, dem Zahn des Raubtiers, näher steht als der harmlosen Pusteblume, die er gemeinhin bezeichnet. 21 Mit Mitteln wie diesen demonstriert Harig die Vergiftung einer Sprache, die zwar „nach Auschwitz“ deutlich wird, sie aber schon im „zustand der naturseligkeit“ prägt. An Märchenzitaten und Kinderliedern - „nach polen wolln wir fahren/ schöner blauer jung [...] wir wolln charlottchen holen/ schöner blauer jung“ (143) - deckt EIN BLU- MENSTÜCK , so Helmut Heißenbüttel, die Vorprägungen auf für das, was „der ungeheuerlichste Schrecken der neueren Geschichte“ wurde. Demnach wäre 20 Zum Begriff des „Stachels“ in Bezug auf das Hörspiel vgl. Heißenbüttel 1983, 269. 21 Zu den Blumennamen vgl. z.B. Harig 1969, 148 u. 151. 13 in Märchenton und Kinderlied bereits das Vorurteil angelegt, in jahrhundertealter gesellschaftlicher Einprägung des Vorurteils, das allzu rasch bereit war, den zum Anderen gestempelten nicht mehr als Menschen zu sehen, sondern als Sache, als Teufel und Untier, das es zu vernichten galt [...]. 22 Eine solche These, die das BLUMENSTÜCK durch seine Montagepraxis künstlerisch vertritt, stößt da an ihre Grenzen, wo der Zusammenhang von Sprachproblematik und Massenvernichtung als einfache Kausalität gedacht wird: Wenn der Grund für die manifeste Gewalt, die der Nationalsozialismus seinen Opfern antut, auf eine latente Gewalt reduziert wird, die den sprachlichen Ausdrücken im „zustand der naturseligkeit“ innewohnt. Harigs BLUMENSTÜCK entgeht dieser Gefahr, die Shoah nur mit den ideologischen Dispositionen in Sprache und Denken zu erklären, die es für die Kinderlieder und Märchenfragmente aufzeigt. Das liegt daran, dass die breite Entwicklungslinie des Hörspiels - seine „Einübung in die Hellhörigkeit“ - auf divergierenden Praktiken beruht: Die Beziehung von Schrecken und Sprache ist nicht für jedes Wort oder jede Phrase des Hörstücks gleich. Drei Praktiken des Sprachspiels, die sich im BLUMENSTÜCK unterscheiden lassen, will ich noch einmal besonders hervorheben: Erstens gibt es den gezielten Einsatz von Wörtern wie Birkenau oder Buchenwald. Im Dialog der Kinder, der auf der inhaltlichen Ebene die harmlose Frage aushandelt, ob man im Wald oder auf der Wiese spielen soll, werden sie aufgrund ihrer historischen Kontaminierung auffällig. Die Doppeldeutigkeit der Textpassage, der irritierende Anklang an die Shoah, beruht auf der geschichtlichen Existenz der Lager, die diese Namen getragen haben. Anders verhält es sich mit der zweiten Praxis des Sprachspiels, für die hier die Begriffe Löwenzahn, Katzenrippe und Natterkopf stehen. Ihre Beziehung zur Shoah entsteht vornehmlich durch Kontextualisierung: Die dissonante Musik und der aggressiv klingende Sprechgesang verstärken die Assoziationen an Tod und Gewalt, die diese Namen mit sich führen. Das geschieht in Umkehrung zur ersten Praxis, wo der historische Bezugspunkt des Sprachmaterials („birkenau war ein deutsches konzentrationslager“ [198]) die wörtliche Bedeutung („komm doch mit [...] in die birkenau“ [146]) überlagert. Aufgrund ihrer Einbettung ziehen sich Begriffe wie Löwenzahn zurück aus dem Feld, das sie üblicherweise bezeichnen: aus einer Pusteblume wird so der Zahn des Raubtiers. Die vage Gewaltsamkeit, welche die musikalische Kontextualisierung für diese Worte betont, lässt sich im Lauf des Hörspiels mehr und mehr auf die Shoah übertragen. Das hängt an der zunehmenden historischen Konkretisierung. Ihr Höhepunkt in Bezug auf den Löwenzahn ist gegen Ende des Stücks erreicht, wenn der Erzählertext über einen Besuch Himmlers in Auschwitz berichtet: 22 Heißenbüttel 1983, 267-268. 14 himmler besichtigte die faulgas-anlage und die kok-saghyz-pflanzungen das interessierte ihn am meisten (196) Was Kok-Saghyz ist, erklärt das Hörspiel gleich im Anschluss, nämlich „eine abart des löwenzahns“ (196), aus deren Wurzeln und Stängeln Kautschuk gewonnen wird. Demnach stellt der Löwen-Zahn keine bloße Pointe im BLUMENSTÜCK dar, ist er kein zufällig gewähltes Beispiel für einen Blumennamen, der gewalttätig klingen mag. Über die Erklärungen, die das Hörspiel zum Kok-Saghyz-Anbau in Auschwitz gibt, ist er an die Realität der Massenvernichtung gebunden: an die Opfer, die in diesen Pflanzungen arbeiten mussten. Damit ist die dritte Praxis des Harigschen Sprachspiels bereits angedeutet: Die Beziehung zwischen Löwenzahn und Auschwitz, die durch den Bericht von Himmlers Besuch hergestellt wird, verbindet sich zwar mit der Doppeldeutigkeit des Blumennamens, doch sie ist auf diese nicht angewiesen. Während Löwenzahn, Natterrippe und Katzenkopf wohl schon im ersten Teil des Hörspiels irritieren, stören andere Begriffe erst im Kontext ihrer historischen Konkretisierung, d.h. nachdem die Namen Rudolf Höß und Adolf Eichmann zum ersten Mal gefallen sind. Viele Motive, deren Bezug im Anfangsteil des BLUMENSTÜCKS offen oder ambivalent bleibt, werden im Schlussteil wieder aufgegriffen und über die Einfügung solcher historischer Personennamen konkret an die Shoah gebunden. Dabei spielt der Teilsatz „eichmann fuhr“ eine besondere Rolle. Er wird zur häufig eingesetzten Formel, durch die Motive des BLUMENSTÜCKS in der Wiederholung rekontextualisiert werden. Der Frühling, über den es beim zweiten Mal heißt, dass Eichmann zu jener Zeit nach Oberschlesien gefahren sei, ist dafür nicht das einzige Beispiel. Ein anderer Absatz aus dem Erzählertext lautet zunächst: „das schulhaus stand im dorf unter den pappeln/ da regnete es blütenstaub/ wir saßen in den bänken und sahen dem regen zu“ (152). In der Wiederholung wird daraus: während eichmann nach ungarn fuhr regnete es blütenstaub über dem schulhof im dorf in den bänken saßen die kinder (183) Was im Anfangsteil historisch unbestimmt bleibt, bindet sich hier an die Geschichte der Massenvernichtung. In dieser Konstellation stehen die Worte „eichmann“ und „blütenstaub“ nicht einfach nebeneinander. Seit dem Prozess gegen Eichmann in Jerusalem 1961 und Hannah Arendts umstrittenen Thesen zur Banalität des Bösen (1963-65), die sie an seiner Person ausgearbeitet hat, ist der Name „Eichmann“ ein Metonym für die organisierte Massenvernichtung. 23 Zwischen ihm und dem „blütenstaub“ tut sich ein Abgrund auf zwischen Naturromantik und industrialisiertem Mord. 23 Zu Adolf Eichmann und zu Arendts Prozessbericht siehe unten, S. 100-117. 15 Die Wortkonstellation begünstigt eine Lesart des BLUMENSTÜCKS , die ich kontrastiv nennen möchte. Sie bringt „das Schreckliche [hervor] in der unüberbrückbaren Distanz zwischen blühenden Blumen, spielenden Kindern und Massentötung“, wie es bei Heißenbüttel - in Bezug auf den gesamten Text - heißt. 24 Ebenso gültig sei im BLUMENSTÜCK aber auch die andere, bereits erwähnte verbindende Lesart, welcher die Shoah „in Märchenton und Kinderlied“ vorgeprägt findet: „Ist es so oder so? Ich meine, beide Möglichkeiten haben ihren Teil an Harigs Hörspiel.“ 25 In diesem Zusammenhang verweist Heißenbüttel auf die zentrale Rolle des Hörers in Theorie und Praxis des Neuen Hörspiels. Deshalb ist seine Frage, obwohl er sie selbst beantwortet, nicht nur rhetorisch. Als Auftakt einer ganzen Reihe von ähnlichen Fragen („Ist das die wahre Absicht Harigs? “, „Soll ich erkennen...? “ 26 ) verweist sie auf die abwägende Haltung eines - von Heißenbüttel imaginierten - Hörers. „In gewisser Weise“, schreibt er im Anschluss an die Fragenkette, „habe ich selber, als derjenige, der nun über das Hörspiel nachdenkt, mich in die Rolle dieses Zuhörers versetzt, und die möglichen Gedankenzüge nachgezeichnet [...].“ 27 Das Schwanken zwischen verbindender und kontrastiver Lesart ist damit, bis zu einem gewissen Grad, an den individuellen Hörvorgang gebunden. Obwohl der Kontrast zwischen Massenvernichtung und Naturromantik in der Konstellation „eichmann“ - „blütenstaub“ überwiegt, können sich diese Worte über die Assoziationskraft des Hörers auch verbinden. Wegen der Ähnlichkeit von Staub und Asche, und weil der „blüten-staub“ über dem Schulhof regnet (in der Wiederholung fehlen die Bäume, von denen er fällt), mag er an Aschenregen gemahnen, der aus der Verbrennung von Menschen herrührt. Ich etwa denke an eine Sequenz aus Steven Spielbergs Film S CHINDLER ’ S L IST (1993), die so harmlos beginnt wie Harigs Sprachspiel: Oskar Schindler (dargestellt von Liam Neeson) läuft durch die Stadt, als plötzlich Schneeflocken - so scheint es - vom Himmel fallen. Schindler wischt sie von seinem Anzug und schaut skeptisch nach oben. Die nächste Szene zeigt die Massenverbrennung von Menschenleichen. Auch hier ist es die Montage, die Konstellation zweier Bilder, die suggeriert, dass Asche - und nicht Schnee - auf Schindler regnet. Zugleich bleibt jedoch die Möglichkeit bestehen, beide Bilder getrennt voneinander zu lesen, d.h. den „Regen“ nicht als Spur der Verbrennung zu verstehen. Trotz dieser Lesart ließe sich aber keineswegs leugnen, dass Spielbergs Film an dieser Stelle auf den Massenmord an den europäischen Juden verweist. Ebenso wenig wäre es möglich, auf einer „harmlosen“ Lesart des BLUMENSTÜCKS zu beharren. Der Stellenwert, der den individuellen Hörern und ihren Assoziationen in diesem Spiel zukommt, erlaubt ihnen nicht, 24 Heißenbüttel 1983, 268. 25 Heißenbüttel 1983, 268. 26 Heißenbüttel 1983, 269. 27 Heißenbüttel 1983, 269. 16 sich auf eine Position des Nichtwissens zurückzuziehen. Das liegt daran, dass Harigs Hörstück - wie schon beschrieben - über eine Verengung von Assoziationsfeldern funktioniert, bis zu dem Punkt, wo es heißt: „birkenau war ein deutsches konzentrationslager/ hier wurden juden vergast“ (198). „Immer mehr Details“, schreibt Hörspielmacherin Antje Vowinckel über das BLUMENSTÜCK , würden sich mit nationalsozialistischen und rassistischen Anklängen aufladen. Zum Schluss mag man als Hörer tatsächlich kaum noch ein Wort unbedacht in den Mund nehmen. 28 Deshalb kann ich zum Beispiel (Blüten-)Staub und Aschenregen zusammenbringen - eine Assoziation, der wahrscheinlich nicht jeder Hörer folgen will -, während es umgekehrt wohl unmöglich wäre, die historische Kontaminierung der Worte Buchenwald oder Birkenau bis zum Schluss (wenn überhaupt) zu überhören. Obwohl die verbindende und die kontrastierende Lesart für das BLU- MENSTÜCK gleichermaßen gültig sind, eignet nicht allen Sprachspielen die gleiche Balance zwischen beiden Interpretationen. Das Gleichgewicht der Lesarten entsteht erst aus ihrer Kombination. Im Dialog der Kinder wiegt die historische Kontamination der Wörter stärker als der Kontrast zum unschuldigen Spiel, das sie auf der Inhaltsebene aushandeln. Für die Konstellation „eichmann“ - „blütenstaub“ hingegen tritt die Kontrastwirkung klarer hervor als die assoziative Verbindung zum Aschenregen, die ich im Kontext des Gesamthörspiels (aufgrund der „Aufladung“ der Worte) habe. Löwenzahn, Natterkopf und Katzenrippe evozieren, wie die Märchen- und Liedzitate, vornehmlich Tod und Vernichtung. Ihr deutlicher Bezug zur Shoah tritt jedoch erst im Lauf des Hörspiels heraus, mit der zunehmenden Verengung von Assoziationsfeldern in ihrer historischen Konkretisierung. Neben den genannten Praktiken kennt Harigs Sprachspiel auch Konstellationen, die bloße Kontrastbeziehungen zu sein scheinen, z.B. die zwischen den Blumen, die im Frühling blühen, und dem Abstellgleis bzw. der Rampe von Auschwitz. Identifiziert man aber Rudolf Höß als Autor dieser Zeilen („zwischen den schwellen blühten im frühling/ die blumen“ [144]), wie es die Wiederholung im letzten Teil des Hörspiels nahe legt, wird dieser Kontrast schon wieder angegriffen: Blumenliebe und Massenmord konvergieren in der Figur des Auschwitzkommandanten. Anhand der unterschiedlichen Konstellationen oder „permutationsketten“, wie sich mit Harig formulieren lässt, 29 untersucht EIN BLUMENSTÜCK deutsche Sprache „nach Auschwitz“. Es betrachtet die Sprachproblematik aber nicht als etwas, das von außen an sie herangetragen würde. Für Harig gibt es keinen Naturzustand der Sprache, in dem diese „rein“ wäre. Folglich ist es kein ihr äußerlicher Sündenfall (Auschwitz), der sie vergiftet. 28 Vowinckel 1995, 183. 29 Vgl. Harigs Vorbemerkung in der Buchausgabe des BLUMENSTÜCKS (Harig 1969, 141). 17 Vielmehr erscheint die Kontamination der Sprache ebenso wie die Ideologie der Vernichtung bereits im „zustand der naturseligkeit“ angelegt. Zugleich behauptet Harigs BLUMENSTÜCK , wie ich dargelegt habe, keine Kausalbeziehung zwischen Sprachproblematik und Holocaust: Die Massenvernichtung lässt sich nicht einfach aus der latenten Gewalttätigkeit der Sprache ableiten. Heißenbüttels Analyse des BLUMENSTÜCKS endet mit einer Reflexion zum Verhältnis von Sprache und Gewalt. Der Metaphorik Harigs folgend, schreibt der Schriftsteller und Radiomacher Heißenbüttel von einem „Stachel“ in der deutschen Sprache. Er meint, dass „jeder, der heute in dieser Sprache spricht“, eine Sensibilität für die ihr inhärente Gewalt entwickeln sollte: „Man kann diese Sprache nicht weiter sprechen, wenn man diesen Stachel nicht spürt.“ 30 Harigs Hörspiel fordere das „Sprechen im Bewusstsein dessen, daß [sic! ] da in der deutschen Sprache geschehen konnte“. 31 Diese Formulierung fällt hinter die Doppelthese des BLUMENSTÜCKS und hinter Heißenbüttels eigene Analyse zurück. Diese gab zumindest Hinweise darauf, dass sich die Shoah keineswegs auf eine Sprachproblematik reduzieren lässt: Die kontrastive Lesart des BLUMENSTÜCKS erinnert daran, dass Auschwitz nicht nur „in der deutschen Sprache“ geschehen ist. Dennoch besteht eine Komplizenschaft zwischen Sprache und Verbrechen. Auf sie macht Harigs Hörspiel aufmerksam, wenn es „die deutsche sprache im zustand der naturseligkeit“ (141) vorführt und dekonstruiert. Die Forderung, die Heißenbüttel für das BLUMENSTÜCK ausmacht, bleibt deshalb - in korrigierter Form - gültig: dass man spricht und schreibt, ohne das Bewusstsein für die Komplizenschaft zwischen Sprache und Verbrechen zu verlieren. Harigs Projekt lässt sich als der Versuch zusammenfassen, diese Komplizenschaft ästhetisch erfahrbar zu machen und zu zeigen, dass die historische Kontaminierung der Sprache jenseits des Sprechers besteht. Für sie spielt es keine Rolle, wer die Kinder sind, die „in der Birkenau“ oder „im Buchenwald“ spielen wollen und ob sich dieser Dialog auf eine Kindheitserinnerung des Auschwitzkommandanten Höß bezieht. Zugleich macht EIN BLUMENSTÜCK , im Spiel zwischen verbindender und kontrastiver Lesart klar, dass das Verbrechen nicht nur auf ästhetisch-sprachlicher Ebene, sondern in der historischen Wirklichkeit zu verorten ist - dass sich in scheinbar „harmlosen“ Wörtern bereits Vorprägungen des Faschismus und Rassismus finden; aber auch, dass mehr als sechs Millionen Menschen real - nicht nur „in der deutschen Sprache“ - ermordet wurden. In dieser doppelten Perspektive, die sich auf die Ebene des historisch Realen ebenso wie auf seine ästhetisch-sprachliche Vermittlung richtet, wird in der vorliegenden Arbeit die Frage nach Zeugenschaft behandelt. Denn 30 Heißenbüttel 1983, 269. 31 Heißenbüttel 1983, 269. Meine Hervorhebung. 18 zumindest im Blick „auf“ und „nach Auschwitz“ scheint die Figur des Zeugen an der Schnittstelle der beiden Ebenen zu stehen. Es sind Zeugen, die Geschichte erleben und an deren Körpern sie ausgetragen wird. Das ist besonders deutlich für die prekäre Zeugenschaft der Holocaust-Opfer, von denen der Überlebende Primo Levi sagt, die „wahren Zeugen“ seien jene, die in den Lagern ermordet wurden. 32 Doch nicht jede Zeugenschaft ist gleich. Neben der Position des toten Opfers, dem die sprachliche Artikulation der „wahren Zeugenschaft“ verweigert wird, gibt es - in Bezug auf die Shoah - Überlebende, Zuschauer und Täter. 33 In unterschiedlicher Weise positionieren sich diese Zeugenfiguren an der Grenze zwischen Sprache und (im Moment der Aussage) abwesender Realität. Zeugenschaft muss hier keine möglichst genaue, „wirklichkeitsgetreue“ Darstellung meinen, wie das BLUMENSTÜCK mit seinem Blick auf die Täterperspektive zeigt. Wenn der Erzähler aus dem Tagebuch von Rudolf Höß zitiert, dass alle in Auschwitz glaubten, der kommandant hat ein schönes leben ja meine familie hatte es in auschwitz gut [...] die kinder konnten frei und ungezwungen leben meine frau hatte ihr blumenparadies (191) - so legt diese Passage Zeugnis vom Schrecken ab vor allem durch den Kontrast, durch die verschobene und wirklichkeitsferne Täter-Perspektive des Auschwitzkommandanten. 34 Im BLUMENSTÜCK wird der Erzählertext nur selten an einen spezifischen Zeugen gebunden, wie es im zitierten Beispiel über die Possessivpronomen („meine familie“, „meine frau“) geschieht. Insofern weist das Hörspiel auf eine weitere Form der Zeugenschaft hin, nämlich das Zeugnis, das unabhängig vom einzelnen Sprecher in der Sprache - über die beschriebene Kontamination der Wörter - abgelegt ist. Trotz dieser Unabhängigkeit vom singulären Sprecher handelt es sich dabei um eine Zeugenschaft, die immer wieder aktualisiert werden muss, damit sie nicht verloren geht. Beim BLUMENSTÜCK geschieht diese Bewusstmachung für den Konnex von Sprache, Verbrechen und Wirklichkeit über die Verengung von Assoziationsfeldern, im Nachvollzug durch die einzelnen Hörer. Bei ihnen kann es sich - wie bei mir, dem Autor dieser Zeilen - um Nichtzeugen handeln; Nichtzeugen insofern, als eine zeitliche und/ oder räumliche Distanz sie schon immer von den Ereignissen getrennt hat. Die „sekundäre Zeugenschaft“ dieser Nichtzeugen darf nicht mit der Zeugenschaft der Zuschauer, Täter oder gar der Opfer verwechselt werden. Sie bestimmt sich nicht über eine irgendwie leibliche Nähe zum Geschehen, sondern darüber, wie sich die 32 Siehe unten, S. 56-62. 33 Vgl. den Titel von Raul Hilbergs Buch P ERPETRATORS , V ICTIMS , B YSTANDERS (Hilberg 1992). 34 Vgl. die entsprechende Passage in Höß 2006, 174-75. 19 einzelnen Hörer des BLUMENSTÜCKS zur Sprache verhalten: ob sie die Forderung vernehmen, im Bewusstsein ihrer Komplizenschaft zu sprechen und zu schreiben. Dieser Forderung nachzukommen, habe ich in dieser Arbeit versucht. Gleichwohl scheint es unmöglich, sie einzulösen. Eine Arbeit über Darstellungen der Shoah ist selbst auf Darstellung - in meinem Fall auf sprachliche Darstellung - angewiesen. Da die Arbeit auf Deutsch geschrieben ist, wären viele Begriffe in Anführungszeichen zu setzen: Begriffe wie „Endlösung“ oder „Umschlagplatz“, deren historische Kontamination (im oben ausgeführten Sinn) darüber hinwegtäuschen mag, dass es sich bei ihnen um Euphemismen handelt, die allesamt Verrat am Realen des Holocaust üben. 35 Bei den genannten Beispielen ist das besonders deutlich: „Endlösung“ legt nahe, dass der sinnlose Massenmord eine angemessene Antwort auf bestehende Probleme gewesen sein könnte, während der Begriff „Umschlagplatz“ die Menschen, die an diesem Ort in Güterzüge gepfercht wurden, noch einmal zu Waren degradiert. Das mag der Realität der Shoah insofern entsprechen, als die Deportierten wie Waren (und schlimmer) behandelt wurden. Im Sinne von Harigs BLUMENSTÜCK verweist dieser Ausdruck auf die Gewalt, die sich in der Sprache vorgeprägt findet. Zugleich aber bleibt er, wegen der gleichen Assoziation, unangebracht: wegen der Vorstellung - so fern sie auch liegen mag -, hier seien tatsächlich nur Waren gehandelt worden. Wenn ich trotzdem darauf verzichte, diese und andere Begriffe durchgehend in Anführungszeichen zu setzen, geschieht das nicht aus Gründen der besseren Lesbarkeit. Eine konsequente Umklammerung, die auf bestimmte Worte beschränkt wäre, könnte den Eindruck erwecken, alle anderen Worte seien unproblematisch. Dass das nicht zutrifft, zeigt Harigs Hörspiel in aller Deutlichkeit. Seine Montagepraxis sucht die Spuren und Vorformen des Faschismus gerade an Sprachmaterial aufzuweisen, das oft als harmlos gilt: Kinderlieder, Naturkundebücher, Märchenzitate, etc. Auch beim Schreiben des vorliegenden Buches bin ich immer wieder über Worte gestolpert, die mir zunächst harmlos erschienen, z.B. der Begriff „Protagonist“ für die zentrale Figur eines Textes (Imre Kertész’ S ORSTALANSÁG [Roman eines Schicksallosen]). Bei Kertész steht der junge György Köves im Mittelpunkt, der nach Auschwitz und Buchenwald deportiert wird. Der Nationalsozialismus raubt ihm die Möglichkeit, selbst zu handeln, d.h. ein eigenes Schicksal zu haben. Vielmehr wird mit dem Jungen gehandelt: Beständig passt er sich den ihm vorgeschriebenen - in letzter Konsequenz (wenngleich nicht für ihn) tödlichen - Verhaltensmustern an. Das Wort Protagonist, das auf einen aktiv Handelnden im Sinne des ersten ( ) 35 Unter dem „Realen“ verstehe ich - im Sinne Jacques Lacans - das, was von einem Ding bliebe, könnte man seine Beschreibung, Repräsentation, Interpretation, usw. abziehen. Vgl. Lacan 1990, 63-66. 20 Wettstreiters ( ) verweist, scheint hier - wie in vielen Texten, die sich auf die Shoah beziehen - kaum angebracht. An diesem Beispiel wird bereits deutlich, dass sich die Sprachproblematik „nach Auschwitz“ nicht allein auf das Deutsche beschränkt. Das liegt daran, dass sie neben Wörtern, die in der Sprache der Mörder verankert bleiben (wie Endlösung oder Umschlagplatz), auch Konzepte betrifft, die auf keine bestimmte Sprache angewiesen sind (z.B. Protagonist). Zudem gibt es deutsche Worte, die gerade in anderssprachigen Texten - und dort mehr als im Deutschen - an die Shoah gemahnen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die Imperative „Raus“ und „Schnell“, wie sie z.B. in Georges Perecs Roman W OU LE SOUVENIR D ’ ENFANCE (1975) eingesetzt werden. Dort heißt es über die Athleten auf der Sportlerinsel W: Mais il faut que les Hommes se lèvent et qu’ils se mettent en rang. Il faut qu’ils sortent des chambrées - Raus! Raus! - il faut qu’ils se mettent à courir - Schnell! Schnell! - il faut qu’ils entrent sur le Stade dans un ordre impeccable! 36 In Perecs Text werden die deutschen Wörter zu Markern des Faschismus. 37 Sie gehören zu den Indizien dafür, dass der Roman die verschlüsselte Darstellung eines Konzentrationslagers liefert. 38 Weitere - sehr deutliche - Belege finden sich im letzten Abschnitt der Inselbeschreibung, wenn es um Ausgrabungen geht, die lange nach dem Ende jener „vergessenen Welt“ Folgendes zutage fördern: Goldzähne, Eheringe, Kleiderstapel, Brillen, staubige Akten und Seife. Diese Objekte müssen nicht auf Deutsch beschrieben werden, um bei Lesern „nach Auschwitz“ Assoziationen an Auschwitz zu wecken. In Perecs Text heißen sie dents d’or, lunettes, stocks de savon, usw. 39 Die Schwierigkeiten der Begriffsbildung „nach Auschwitz“ treffen bekanntermaßen auch jene Bezeichnungen, die für das Ereignis gebraucht werden: seien es Holocaust, Shoah, Churban oder andere Begriffe. In vielen Texten zum Thema finden sich daher Begründungen, welche Begriffsverwendung dem Ereignis am ehesten angemessen sei. Besonders häufig ist die Verurteilung des Begriffs Holocaust, der aus dem Griechischen ( , „gänzlich Verbranntes“) stammt und der in der Septuaginta eine spezielle Form des Brandopfers bezeichnet. Abgelehnt wird er unter anderem we- 36 Perec 1993, 210-211. Kursivdruck im Original. 37 Eine solche Vorgehensweise ist durchaus gebräuchlich. Man denke etwa an die deutschen Sentenzen und Lieder in Pier Paolo Pasolinis Film S ALÒ O LE 120 GIORNATE DI S ODOMA (1975) oder an Jonathan Littels umstrittenen Roman L ES B IENVEILLANTES (2006), an dem die Kritikerin Iris Radisch - scheinbar in Unkenntnis dieser geläufigen Praxis - aussetzt, dass er „auch im französischen Original zu einem beträchtlichen Teil auf Deutsch geschrieben ist “ (Radisch 2008, 52). 38 Zu Perecs Text, der in der jüngeren Forschung zur Zeugenschaft der Shoah viel Aufmerksamkeit erfahren hat, vgl. z.B. Düwell 2004, 80-116 und Dunker 2003, 181- 191 sowie Spiro 2001. 39 Vgl. Perec 1993, 220. 21 gen seiner christlichen Bedeutungsgeschichte, 40 aufgrund seiner Verwendung in anderen Zusammenhängen (z.B. als „atomarer Holocaust“) 41 und weil er die sinnlose Ermordung von Millionen Menschen zu einem heiligen Opfer erhöhe. 42 Weniger Kritik erfahren die hebräischen Begriffe Churban und Shoah, die ebenfalls theologische Obertöne tragen; doch auch ihre Verwendung wird problematisiert: Churban („Vernichtung, Verwüstung“) bezieht sich auf Ereignisse in der jüdischen Geschichte, wie die Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels. Werden die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts diesen historischen Verfolgungen zugeordnet, stehe die Singularität des nationalsozialistischen Massenmords auf dem Spiel, so die Gegner des Begriffs. 43 Gegen Shoah, was „Zerstörung“ oder „Katastrophe“ bedeutet, wird vorgebracht, dass es in der Bibel häufig die Vorstellung einer göttlichen Strafe einschließt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben zitiert in diesem Zusammenhang das Buch Jesaja: „Was wollt ihr tun am Tage der Heimsuchung und des Unglücks [so’ah], das von fern kommt? “ (Jes. 10,3). 44 Trotz dieser Tönung akzeptiert Agamben die Bezeichnung Shoah, da in ihr keinerlei Spott enthalten sei. Demgegenüber müsse die Verwendung des Begriffs Holocaust wie Hohn klingen, da sie „un’inaccettabile equiparazione tra forni crematori e altari [eine unannehmbare Gleichsetzung von Verbrennungsöfen und Altären]“ suggeriere. Wer das Wort weiterhin gebrauche, müsse entweder dumm oder unsensibel sein. 45 Eine solche Abwertung des einen gegenüber des anderen Begriffs zeigt besonders deutlich, dass die Debatten „über die ‚richtige’ Bezeichnung des Ereignisses [...] das Dilemma der ‚richtigen’ Erinnerung“ spiegeln“, wie der Literaturwissenschaftler Norbert Otto Eke schreibt: Bezeichnungen und Namen metaphorisieren [...] die Ereignisse, die durch sie kommuniziert werden, ordnen sie im Rückgriff auf Bekanntes in Kontexte ein. Jeder Metaphorisierungsprozeß wiederum unterlegt dem Geschehen (hier Verfolgung und Tod in den Konzentrationslagern) eine Bedeutung. 46 Eke verweist auf die einflussreiche Studie von James Young, W RITING AND R EWRITING THE H OLOCAUST (1988), die ein ganzes Kapitel dem Ereignis als Metapher widmet. Dort setzt sich Young mit den „Kritikern der Metapher“ (the critics of metaphor) auseinander, die - wie Alvin Rosenfeld - der Meinung sind, dass die Flammen, die Asche und der Rauch von Auschwitz sich nicht in Bedeutung verwandeln lassen. 47 Da diese Kritiker selbst auf 40 Vgl. Agamben 1998, 26-31. 41 Vgl. Weissman 2004, 24-25. 42 Vgl. Young 1988, 87. 43 Vgl. Kranz-Löber 2001, 12. 44 Vgl. Agamben 1998, 29. Für weitere Bibelstellen siehe Kranz-Löber 2001, 12. 45 Vgl. Agamben 1998, 30. Soweit möglich, zitiere ich alle Texte nach den Originalausgaben und gebe meine Übersetzung (für alle Sprachen außer Englisch und Französisch) in eckigen Klammern. 46 Eke 2006, 12-13. 47 Vgl. dazu Rosenfeld 1988, 27. 22 Darstellung angewiesen sind, können sie der Metaphorisierung des Ereignisses jedoch nicht entgehen, so Young: For whether or not one wants meaning in Auschwitz, it is automatically created the instant its smoke and ashes are represented - that is, figured - for us in language. 48 Dieses Argument lässt sich auf die oben beschriebene Vorsicht gegenüber Anführungszeichen beziehen. Die berechtigte Ablehnung eines metaphorischen Wortgebrauchs, der das Leid der Opfer mit höherem Sinn versähe, läuft, wenn Youngs Kritik zutrifft, Gefahr, die eigenen Konzeptualisierungen aus dem Bereich der Figuration zu entziehen, als ob die Tatsachen für sich selbst - unvermittelt - sprechen würden. Wenn nur bestimmte Konzepte als Metaphern gekennzeichnet bzw. in Anführungszeichen gesetzt werden, kann das den eigenen, unmarkierten Sprachgebrauch als problemlos behaupten. Dies passiert z.B. in Agambens Überlegungen zu den Begriffen Holocaust und Shoah. Der Historiker Dominick LaCapra hat darauf hingewiesen, dass die Diskussion der beiden Bezeichnungen bei Agamben stillschweigend auf ein drittes Wort rekurriert. Es handelt sich um den Ausdruck sterminio (Vernichtung): „Anche gli Ebrei si servono, per indicare lo sterminio, di un eufemismo. Si tratta del termine so’ah [Auch die Juden benutzen zur Bezeichnung der Vernichtung einen Euphemismus. Es handelt sich um das Wort so’ah].“ 49 Das Wort sterminio wird bei Agamben, im Gegensatz zu den beiden anderen Begriffen, nicht diskutiert. Während er jene Worte als Euphemismen bezeichnet und durch Anführungszeichen („Holocaust“) bzw. Kursivdruck (so’ah) markiert, übergeht er den dritten Ausdruck. Dadurch scheint dieser aus dem Bereich des Metaphorischen gehoben; er wird zur vermeintlich neutralen Referenz der beiden Euphemismen. Es ist diese Neutralität, die LaCapra anzweifelt: „But what about the term ‘extermination’? “, fragt er, „Was this not a term employed by the Nazis - a term that is far from unproblematic? Is it not a component of the discourse of pest control [...]? “ 50 Dass der Historiker die Unterschiede zwischen Deutsch (Vernichtung), Italienisch (sterminio) und Englisch (extermination) vernachlässigt, tut seiner Argumentation keinen Abbruch. 51 Es unterstreicht vielmehr den folgenden Punkt: dass nämlich kein Wort aus dem nationalsozialistischen Vokabular durch kritische Analyse - oder, wie ich ergänzen würde, durch die Übersetzung vom Deutschen in eine andere Sprache - „gereinigt“ (selbst ein höchst problematischer Ausdruck) werden 48 Young 1988, 90. 49 Agamben 1998, 29. 50 LaCapra 2004, 169. 51 LaCapras Nachlässigkeit mag als Beleg dafür gelten, wie sehr bestimmte Begriffe aus dem Bereich des Nationalsozialismus - in diesem Fall „Vernichtung“ - noch in ihrer Übersetzung (sterminio, extermination) an die deutsche Sprache gebunden sind. 23 kann: „There are no pure or innocent terms (however ‘purified’ by critical analysis)“. 52 Indem Agamben zwei Begriffe markiert, den dritten aber unkommentiert lässt, stellt er ihn ungewollt als harmlos oder unschuldig dar. LaCapras Vorschlag, um dieser Gefahr zu entgehen, ist eine Durchstreichung der Begriffe durch Multiplikation: „The best (or ‘good-enough’) strategy may be [...] to avoid fixating on one term as innocent or as taboo“, schreibt der Historiker: Instead, [...] one might employ a multiplicity of terms (Holocaust, Auschwitz, Shoah, Nazi genocide...) in a flexible manner that resists fixation while acknowledging the problem in naming. 53 Diesem Vorschlag folgend, verwende auch ich mehrere Begriffe, meistens Holocaust und Shoah, um das Ereignis zu bezeichnen, dessen Repräsentation die vorliegende Arbeit behandelt. Das bedeutet keinen Verzicht auf die kritische Analyse meines Vokabulars, sondern soll im Gegenteil darauf hinweisen, dass die Wörter - trotz aller Abstufungen, die ich aus ethischen oder moralischen Gründen vornehme - stets unangebracht bleiben. Dass ich viele Anführungszeichen weglasse, die in Anbetracht der Sprachproblematik zu setzen wären, dient demnach einer weiter gefassten Durchstreichung meiner Begriffe. Deshalb ist es weniger inkonsequent als es auf den ersten Blick scheinen mag, wenn ich - abweichend von der eben dargelegten Praxis - den Ausdruck „nach Auschwitz“ grundsätzlich mit Anführungszeichen versehe. Diese Anführungszeichen sollen gleichsam auf die Durchstreichung der Begriffe verweisen und ihren historischen Ort bestimmen, indem sie an Adornos berühmte Formulierung über Lyrik „nach Auschwitz“ gemahnen. Denn dort ist Auschwitz, wie Burkhart Lindner schreibt, nicht bloß Ort, Name für ein Ereignis, sondern selbst ein namenloses Deckwort für ein Unnennbares. Und die adverbiale Bestimmung ‚nach’ meint nicht bloß ‚post’. In ihr ist die Vernichtungsadresse der Nazis angezeigt (nach Auschwitz als Zielangabe der Waggons). Sie enthält einen konsekutiv-argumentativen Nebensinn (Auschwitz zufolge). Sie weckt den Zweifel, ob es das Danach des Nach gibt. 54 Lindners Lesart der Formel „nach Auschwitz“ begreift Auschwitz zugleich als realen Ort (die „Vernichtungsadresse der Nazis“) und als Diskurs („Auschwitz zufolge“), in dem der Name des Konzentrationslagers ein „namenloses Deckwort für ein Unnennbares“ wäre. Es handelt sich also um eine doppelte Positionierung von Auschwitz: erstens in Bezug auf den singulären Ort, als „Name für ein Ereignis“, das dort real stattgefunden 52 LaCapra 2004, 169. 53 LaCapra 2004, 169. 54 Lindner 1998, 283. Das sogenannte Diktum Adornos hat dieser seit 1951 in immer neuen Variationen formuliert. Eine Geschichte der verschiedenen Fassungen und ihrer Unterschiede liefern Trezise (2001) und Jay (1984). 24 hat; zweitens als Rede über dieses „unnennbare“ Ereignis, das von allen Bezeichnungen - Vernichtung, Holocaust, Shoah, etc. - verfehlt wird. Auschwitz wäre demnach ein „namenloses Deckwort“, weil die Namen des Unnennbaren in ihm zusammenfallen. Die Multiplikation und Durchstreichung der Begriffe wird in der Namenlosigkeit verdichtet, die für Adorno - in der Lesart Lindners - den Namen „Auschwitz“ trägt. Diese paradoxe Spannung zwischen Namen, Unnennbarem und Namenlosigkeit scheint, obwohl Lindner ihn nur am Rande erwähnt, 55 von Jean-François Lyotards Adorno-Lektüre geprägt. Unter Bezugnahme auf die N EGATIVE D IALEKTIK (1966) versteht der französische Philosoph „Auschwitz“ als einen Namen, in dem das spekulative Denken (also das Grundprinzip der Hegelschen Dialektik) keinen Ort findet: Ce ne serait donc pas un nom au sens où Hegel l’entend, une figure de la mémoire qui assure la permanence du référent et de ses sens quand l’esprit en a détruit les signes. Ce serait un nom sans « nom » spéculatif, irrelevable en un concept. 56 Hegels Dialektik, erklärt Lyotard, schließt das Negative letztlich aus: Es kommt in ihr zu keinem wirklichen Streitgespräch (discussions), weil im dialektischen Werden die Überwindung des Negativen, d.h. des Widerspruchs - seine Aufhebung zu einer höheren Einheit, zu einem aus dem Widerspruch resultierenden Konzept - bereits mitgedacht ist. Auschwitz, und das Ereignis für das dieses „namenlose Deckwort“ steht, ist jedoch ein „négatif non niable“ - ein Widerspruch ohne Resultat: Er lässt sich in keinem Diskurs aufheben, ist irrelevable. 57 Das liegt mitunter daran, dass es in bzw. „nach Auschwitz“ kein „wir“ gibt, das die Differenz zwischen Opfern und Tätern versöhnen könnte. Wer in den Lagern den Tod befiehlt, ist ein anderer als der, der sterben soll. Wer sterben soll, kann diesem Befehl nicht gehorchen, weil er in den Augen der Täter kein Recht auf Leben besitzt: [Il] ne peut pas être le destinataire d’un ordre de mourir, parce qu’il faudrait qu’il fut capable de donner sa vie pour l’effectuer. Or il ne peut pas donner une vie qu’il n’a pas le droit d’avoir. 58 Der Befehl zu sterben („Qu’il meurt, je l’édicte“) und die Verpflichtung zu sterben („Que je meurt, il l’édicte“) lassen sich nicht verknüpfen, weil das Leben des Opfers für den Täter nichts bedeutet, und weil dem Opfer jeder Platz in der Gemeinschaft verweigert wird, die den Befehl erlässt. Laut 55 In einer Fußnote vermerkt Lindner lediglich, dass Lyotard „die Problematik eines Sprechens ‚nach Auschwitz’ [...] in ihren Paradoxien analysiert“ habe. Vgl. Lindner 1998, 298. 56 Lyotard 1983, 133. Zu Lyotard vgl. auch Bialas’ Ausführungen über die Shoah in der poststrukturalistischen Geschichtsphilosophie (Bialas 1996). 57 Vgl. Lyotard 1981, 288 und Lyotard 1983, 137-145. 58 Lyotard 1983, 150. 25 Lyotard ist es der unaufhebbare Widerstreit (différend) zwischen diesen Sätzen, der in „Auschwitz“ ohne Namen und ohne Resultat bleibt. 59 Diese Unmöglichkeit, den Widerstreit aufzuheben, bedeutet aber nicht, dass es „nach Auschwitz“ keine Diskurse gäbe, die versuchen, das Namenlose zu füllen. Im Gegenteil ist „nach Auschwitz“ - auch darauf sollen die Anführungszeichen hinweisen - selbst eine Diskursformation mit einem spezifisch historischen Ort: Für Lyotard bedeuten „‚Auschwitz’ et ‚après Auschwitz’ [...] la pensée et la vie occidentale maintenant“. 60 Das Problem, das sich für ihn ebenso wie für Adornos negative Dialektik in diesem Zusammenhang stellt, ist der „Zweifel, ob es das Danach des Nach gibt“ (Lindner). 61 Welche Diskurse können an Auschwitz anknüpfen, als Diskurs „nach Auschwitz“ stattfinden, die kein Resultat von Auschwitz wären? Denn als Resultat würden sie die Negativität des Ereignisses negieren, es trotz seiner Unaufhebbarkeit aufheben. 62 In Adornos Worten geht es um die „Utopie der Erkenntnis [...], das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es [das Begrifflose] ihnen [den Begriffen] gleichzumachen.“ 63 Ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer solchen Erkenntnisweise ist die Unterscheidung von Modell und Beispiel, die die N EGATIVE D IALEKTIK einführt. In der Geschichte der westlichen Philosophie, so Adorno, stehen Beispiele in keiner notwendigen Beziehung zu dem, was sie illustrieren: Sie sind dem Illustrierten „gleichgültig“. Modelle hingegen „erläutern nicht einfach allgemeine Erwägungen“, sondern treiben das Denken „ins reale Bereich [sic! ]“ hinein. 64 Für die negative Dialektik ist Auschwitz ein Modell und kein Beispiel, so wie es für Lyotard ein „namenloser Name“ und nicht bloß ein Name ist. Beide Male geht es um den Zusammenhang zwischen (ästhetischer bzw. philosophischer) Darstellung und der undarstellbaren Realität. „Modell“ und „namenloser Name“ bezeichnen Versuche, ein Denksystem „nach Auschwitz“ über seine Berücksichtung des Realen (des différend, des Nichtidentischen) zu autorisieren; in Adornos berühmter Formulierung als Denken, das, „um wahr zu sein [...] auch gegen sich selbst denken“ muss. 65 Obwohl aber das, was Auschwitz, die Shoah, der Holocaust, die Vernichtung bezeichnen, als „Modell“ oder „namenloser Name“ (d.h. in seiner Widerständigkeit gegen Benennung) gedacht wird, trägt es doch einen Namen. Soll es erinnert werden, kann das Unbenennbare nicht außerhalb der Diskurse bleiben, sondern muss benannt - also dargestellt - werden. „[Der] Versuch, die Singularität von Auschwitz im Gedächtnis bewahren zu wollen“, schreiben Elisabeth Weber und Georg Christoph Tholen in einem Kommentar zu der Adorno-Auslegung Lyotards, 59 Vgl. Lyotard 1983, 145-151. 60 Lyotard 1983, 132. Meine Hervorhebung. 61 Lindner 1998, 283. 62 Vgl. Lyotard 1983, 137 u. 145-148. 63 Adorno 2003c, 21. 64 Adorno 2003c, 10. Vgl. auch Lyotard 1983, 130-133. 65 Adorno 2003c, 358. 26 und sie gleichzeitig als keineswegs nur singuläre oder gar akzidentielle Episode zu verorten, gelingt nur, wenn eben diese im Schema kontinuierlicher Abläufe nicht subsumierbare Zäsur bestehen bleibt. 66 Als Zäsur würde sich Auschwitz der „historiographischen Identifizierbarkeit“ entziehen, wäre aber keineswegs als ein „geschichtsferner oder gar überzeitlicher Ort“ zu platzieren. 67 Die Darstellung des Undarstellbaren hat, obwohl das Undarstellbare in der Geschichte nicht aufgeht, eine Geschichte. Das ist der letzte Punkt, an den die Anführungszeichen erinnern sollen: „nach Auschwitz“ gibt es unterschiedliche - historisch variable - Darstellungsmodi für die Beziehung zwischen dem Namenlosen und der Benennung, zwischen einer abwesenden Wirklichkeit und ihrer (Re-)Konstruktion in einem (literarischen, visuellen, theatralen, etc.) Text. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie verschiedene Texte mit der Abwesenheit umgehen, auf die sich ihre Darstellung bezieht und deren Realität sie - im besten Fall - bezeugen. Im Vordergrund steht die Frage, mit welchen Strategien sie sich angesichts dieser Abwesenheit autorisieren. Das ist eine Frage, in der Ethik und Ästhetik aufs Engste verknüpft sind. Jede Darstellung läuft Gefahr, das Dargestellte zu vergessen, seinen Widerspruch aufzuheben oder - in den Worten Adornos - das Begrifflose dem Begriff gleich zu machen. „Représenter ‘Auschwitz’ en images, en mots, c’est une façon de faire oublier cela“, schreibt Lyotard. 68 Dennoch gibt es Arten der Autorisierung, welche die Abwesenheit des Dargestellten mehr verdecken als andere: Nicht jeder Text fördert das Vergessen in gleichem Maße. 69 Die Frage, in welchem Verhältnis Text und abwesende Wirklichkeit zueinander stehen, ist geradezu Grundlage meiner kritischen Analyse von Autorisierungsstrategien. Dennoch eignet die Gefahr des Vergessens, d.h. die Spannung zwischen der abwesenden Wirklichkeit und ihrer Repräsentation, allen Texten „nach Auschwitz“. Sie betrifft auch die vorliegende Arbeit, obwohl Darstellung in ihr unter dem Vorzeichen des Abwesenden betrachtet wird. Denn letztlich bleiben Abwesenheit und „der abwesende Zeuge“ selbst Namen, Konzepte, Worte, wenngleich sie auf die reale Abwesenheit, auf die Ermordung von Millionen Menschen verweisen. Auch das soll hier niemals vergessen werden. 66 Weber/ Tholen 1997, 13. 67 Vgl. Weber/ Tholen 1997, 13. 68 Lyotard 1988, 50. Vgl. auch 14-15 u. 37. 69 Vor dem Hintergrund der Darstellungsproblematik plädieren Adorno wie Lyotard für eine Ästhetik der negativen Darstellung oder „Bildlosigkeit“, die der eine bei dem Dramatiker Samuel Beckett (vgl. Adorno 2003c, 373-374), der andere bei dem Filmemacher Claude Lanzmann (vgl. Lyotard 1988, 51-52) verwirklicht findet. I. Problemstellung: Dramaturgie der Zeugenschaft 29 Die Zukunft der Erinnerung Literatur und Zeugenschaft (I) Über die literarische Darstellung der Shoah schreibt Lawrence Langer, dass üblicherweise zwei Kräfte in ihr am Werk seien: die historischen Tatsachen und die Imagination des Schriftstellers. „The literature of atrocity“, wie Langer die Literatur nennt, die sich mit dem Grauen der Lager auseinandersetzt, is never wholly invented: the memory of the literal Holocaust seethes endlessly in its subterranean depths. But such literature is never wholly factual either, it perpetually designs windows [...] ‘that will give us back our perspective,’ it is no mere docile dog on the leash of history. 1 Langers Studie von 1975, T HE H OLOCAUST AND THE L ITERARY I MAGINA- TION , ist eines der frühesten Werke, das sich ausführlich mit den Darstellungsmodi (und nicht mit der Geschichte) der Shoah beschäftigt. Mehr noch: Die Studie operiert mit einer Gegenüberstellung von Geschichte und Literatur, die der letzteren das Privileg zuweist, die Erinnerung an die Geschehnisse aufrecht zu erhalten. Diese, zumindest für die siebziger Jahre, ungewöhnliche Dominantsetzung wird mit der „Ausschließlichkeit“ (exclusiveness) des Holocaust begründet, mit der Abwesenheit jeder gemeinsamen Erfahrungsgrundlage zwischen den Zeugen des Ereignisses - den überlebenden Opfern - und dem Rest der Welt. 2 In S E QUESTO È UN U OMO (Ist das ein Mensch? [1947/ 1958]) 3 formuliert der Chemiker und Schriftsteller Primo Levi diese Differenz in Bezug auf die Sprachproblematik, die ihn trifft, sobald er - der überlebende Zeuge - über Auschwitz berichten möchte: Come questa nostra fame non è la sensazione di chi ha saltato un pasto, così il nostro modo di aver freddo esigerebbe un nome particolare. Noi diciamo “fame”, diciamo “stanchezza”, “paura”, e “dolore”, diciamo “inverno”, e sono altre cose. Sono parole libere, create e usate da uomini liberi che vivevano, godendo e soffrendo, nelle loro case. [So wie unser Hunger nicht die Empfindung desjenigen ist, der eine Mahlzeit übersprungen hat, so verlangt unsere Art zu frieren nach einem speziellen Namen. 1 Langer 1975, 8. Das Zitat im Zitat bezieht sich auf Günter Grass’ Roman H UNDE- JAHRE (1963). 2 Vgl. Langer 1975, 289. 3 Levis Text wurde von dem Verlag Einaudi zunächst mit der Begründung abgelehnt, dass niemand einen solchen Bericht lesen wolle. S E Q UESTO È UN U OMO erschien deshalb zunächst bei einem kleinen Turiner Verlagshaus (De Silva). Der weltweite Erfolg des Buches setzte erst 1958, mit der Wiederveröffentlichung bei Einaudi ein. 30 Wir sagen „Hunger“, wir sagen „Müdigkeit“, „Angst“ und „Schmerz“, wir sagen „Winter“, und das sind andere Dinge. Es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen, die in ihrem Zuhause gelebt, Freude empfunden und gelitten haben]. 4 Der Bruch, den Langer und Levi zwischen dem Erfahrungsbereich der „freien Menschen“ und dem der Opfer konstatieren, scheint Literatur wie Geschichtsschreibung gleichermaßen zu betreffen: Auf welche Weise sollen diese ein Ereignis vermitteln, das im eben beschriebenen Sinn nicht vermittelbar, sondern „exklusiv“ ist? Auch Langer sieht, dass beide Zugriffe auf die Shoah mit diesem Problem belastet sind. Der Unterschied besteht für ihn darin, dass der Historiker (wie Langer ihn in T HE H OLOCAUST AND THE L ITERARY I MAGINATION begreift) nur Fakten liefere: „History provides the details - then abruptly stops“ 5 , weil die Vorstellungskraft diese Fakten wegen der unbegreiflichen Realität der Ereignisse nicht verarbeiten könne. „How is one to understand a reality that includes such phenomena? “, fragt Langer. 6 Der „Literatur des Grauens“ (literature of atrocity) sind in seiner Konzeption andere Grenzen gesetzt als der Historie, weil sie - obwohl der Realität der Shoah verpflichtet - keineswegs bei den Tatsachen enden muss. Wie es in dem Zitat oben heißt, läuft sie nicht an der Leine der Geschichte, sondern ist ein „Zwitterwesen“ zwischen Fakt und Fiktion (never wholly invented, never wholly factual). Diese Freiheit könne Literatur dazu nutzen, die „unmögliche Realität“ des Grauens, die ihrer Unmöglichkeit zum Trotz stattgefunden hat, für die Vorstellungskraft greifbar zu machen. „At Auschwitz“, soll der jüdische Philosoph Hans Jonas gesagt haben, „much more was real than is possible.“ 7 Langer, der Jonas nicht zitiert, scheint dennoch in einen Dialog mit ihm zu treten, wenn er schreibt, dass Literatur „nach Auschwitz“ es sich zur Aufgabe gemacht habe „making such reality ‘possible’ for the imagination.“ 8 Für den Literaturwissenschaftler unterscheidet sich Literatur von Geschichte durch ihre Öffnung zum Fiktionalen. Das ist der Mehrwert, den sie gegenüber einer „rein faktischen“ Darstellung 9 besitzt. Die 4 Levi 1976, 126-127. 5 Langer 1975, 9. Zu Langers Konzeption des Historikers vgl. z.B. auch 78-79. 6 Langer 1975, 9. 7 Zit. nach Hartman 1996, 88. 8 Langer 1975, 8. 9 Es ist bemerkenswert, dass Langers T HE H OLOCAUST AND THE L ITERARY I MAGI- NATION die Hybridität von Literatur betont, Geschichtsschreibung aber auf Faktentreue begrenzt. Wie die Studien von Hayden White gezeigt haben, ist auch letztere durch eine Vorstellungs- oder Einbildungskraft - „the historical imagination“ - geprägt. Vgl. White 1973. Zwar teilt Langer nicht die Ansicht, dass der Historiker darstellen könne, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Trotzdem bleibt er dem bekannten Diktum Leopold von Rankes (1795-1886) verpflichtet, wenn er 31 Imagination taucht demnach auf beiden Seiten von Langers Gleichung auf: Es ist die literarische Vorstellungskraft des Autors oder der Autorin, d.h. die fiktionalen Elemente der „literature of atrocity“, die die Faktizität des dargestellten Ereignisses für die Vorstellungskraft der Leser glaubhaft bzw. „möglich“ machen. Dementsprechend besteht die künstlerische Aufgabe, wie Langer sie begreift, in der Suche nach ästhetischen Strategien, mit deren Hilfe das unglaubliche Ereignis der Shoah beglaubigt werden kann: The mind resists what it feels to be imaginatively valid but wants to disbelieve; and the task of the artist is to find a style and form to present the atmosphere or landscape of atrocity, to make it compelling, to coax the reader into credulity - and ultimately, complicity. 10 Mit seiner negativen Konnotation scheint „Leichtgläubigkeit“ (credulity) kein gut gewähltes Wort hinsichtlich der künstlerischen Darstellung der Shoah zu sein, zumal diese Darstellung von Langer nicht abgelehnt wird. Das verdeutlicht die Fortsetzung des Zitats: „The fundamental task of the critic“, schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler, is not to ask whether it should or can be done, since it already has been, but to evaluate how it has been done, judge its effectiveness, and analyze its implications for literature and for society. 11 Der von Langer eingeschobene Nebensatz „since it already has been“ lässt sich auf zwei Arten verstehen. Zum einen kann man ihn als Versuch deuten, das aus der Undarstellbarkeit der Shoah entwickelte Darstellungsverbot empirisch zu widerlegen: Es gibt Literatur, welche die „Landschaft der Grauens“ (landscape of atrocity) präsentiert, also ist diese - wie unzulänglich auch immer (d.h. trotz ihrer Undarstellbarkeit) - darstellbar. Zum anderen besitzt Langers Nebensatz einen apologetischen Unterton: Zwar sollte die Shoah nicht literarisch dargestellt werden, da dies aber geschieht, muss sich die Literaturwissenschaft jenen Darstellungen widmen. Die „unglückliche“ Wortwahl in der ersten Hälfte des Zitats, der zufolge die „literature of atrocity“ ihre Leser zur „Leichtgläubigkeit“ überrede, könnte dann als Beleg für eine unterschwellig apologetische Haltung verstanden werden. Unabhängig davon, welche Lesart des Nebensatzes im Vordergrund steht, skizziert Langer hier ein kritisches Projekt, das spätere Entwicklungen der Holocaustforschung vorwegnimmt. Er weist der Literaturkritik „nach Auschwitz“ die Aufgabe zu, die historisch verwirklichten Darstellungsmodi der Shoah (how it has been done) sowie ihre ethischen und ästhetischen Implikationen (implications for literature die Schwäche der Historie gerade darin sieht, dass sie an dieser Aufgabe scheitert - sich aber, im Gegensatz zur Literatur, keine Vorstellungskraft leisten kann. 10 Langer 1975, 22. 11 Langer 1975, 22. 32 and for society) zu untersuchen. Zwanzig Jahre nach Langer schreiben Nicolas Berg, Jess Jochimsen und Bernd Stiegler in ihrem vielzitierten Sammelband S HOAH : F ORMEN DER E RINNERUNG (1996), dass die „Infragestellung der Aussagbarkeit und Tradierbarkeit der Shoah“ in der jüngeren Forschungsliteratur abgelöst werde „durch eine Reflexion über die Darstellungsformen und ihre Voraussetzungen und Konsequenzen.“ 12 Das von Langer skizzierte Projekt verweist bereits auf diese Verschiebung, wenngleich die Untersuchung der gesellschaftlichen oder - wie ich übersetzt habe - ethischen Implikationen (d.h. die Konsequenzen der Darstellung) in H OLOCAUST AND THE L ITERARY I MAGINA- TION noch eine untergeordnete Rolle spielt. Das bedeutet nicht, dass Langer sein kritisches Projekt vernachlässigt. Die Marginalisierung der ethischen Fragestellung liegt vielmehr darin begründet, wie er das hybride Wesen der Holocaust-Literatur definiert. Obwohl Langer sie zwischen Fakt und Fiktion, „literal Holocaust“ und „literary imagination“ positioniert, bleiben diese Bereiche in einem Spannungsverhältnis, das seines Erachtens niemals aufgehoben wird. Die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion sind gewissermaßen streng gezogen. Selbst wenn die fiktionalen Anteile, „the garments of literary invention“, überwiegen würden, könnten sie „the actual scars of the Holocaust“ nicht verdecken, meint Langer. 13 Die Vorstellungskraft, die das Unvorstellbare vorstellbar macht, liefe demnach nie Gefahr, die Realität der Shoah zu verraten. Für Langer bleibt die Differenz zwischen abwesender Wirklichkeit und Repräsentation in allen Werken der „literature of atrocity“ als Spannung erhalten. 14 Vor diesem Hintergrund muss die Frage nach einer Ethik der Darstellung sekundär erscheinen. Rund fünfzehn Jahre später kommt Langer zu einer anderen Einschätzung, was das Verhältnis von künstlerischer Darstellung und Realität betrifft. 1991 publiziert er H OLOCAUST T ESTIMONIES : T HE R UINS OF M EMORY . Diese Studie ist für die Beschäftigung mit der Zeugenschaft Überlebender mindestens so einflussreich, wie es das frühere Buch für die Untersuchung von Holocaust-Literatur war. Im Vorwort schreibt Langer, dass literarische Darstellungen der Shoah, ebenso wie die Beschäftigung mit ihnen, „issues of style and form and tone and figurative language“ in den Vordergrund rücken, „that - I now see - can deflect our attention from the ‘dreadful familiarity’ of the event itself.“ 15 Hier scheint der apologetische Subtext des Zitats von 1975 die Oberhand zu gewinnen. Das erste Buch setzte dem Zweifel an den Fä- 12 Berg/ Jochimsen/ Stiegler 1996, 7. 13 Vgl. Langer 1975, 91. 14 Vgl. Langer 1975, 193-194 u. 284-285. 15 Langer 1991, xii-xiii. Alle weiteren Zitate aus Langers Studie werden im laufenden Text, mit Seitenzahlen in Klammern, belegt. 33 higkeiten der Literatur die These entgegen, dass nur die literarische Vorstellungskraft (d.h. die Suche nach „style and form“) die „Landschaft des Grauens“ glaubhaft mache. Ihr Vorteil gegenüber der Geschichtsschreibung sei, dass Literatur zwischen zwei Erfahrungsbereichen - dem der Opfer und dem der „freien Menschen“ - vermittle, ohne die Differenz jemals aufzuheben (denn die Spannung zwischen Unvorstellbarem und Vorstellung, Realität und Fiktion würde der „literature of atrocity“ eingeschrieben bleiben). 1991 hingegen sieht Langer das vermittelnde Potential der literarischen Vorstellungskraft eher als Gefahr denn als Vorteil. Wieder beruft er sich auf einen Bruch zwischen den Erfahrungsbereichen, „the vast imaginative space separating what [the victim] has endured from our capacity to absorb it“ (19). Die literarischen Strategien, die Autoren - auch überlebende Opfer - einsetzen, um ihre Geschichte zu vermitteln, könnten beim Leser, so Langer 1991, einen Eindruck falscher Vertrautheit erwecken. Ihre Schriften strive to narrow this [imaginative] space, easing us into their unfamiliar world through familiar (and hence comforting? ) literary devices. The impulse to portray (and thus refine) reality when we write about it seems irresistible. (19) In diesem Zitat scheint nicht mehr ausgemacht, dass die Spannung zwischen Fakt und Fiktion in der Holocaust-Literatur deutlich bleibt. Hier bezweifelt Langer, dass die - wie es in dem früheren Buch hieß - „actual scars of the Holocaust“ niemals verdeckt würden: „One has the uneasy feeling of the literary transforming the real in a way that obscures even as it seeks to enlighten“ (19). Der Unterschied in Langers Auffassung kann nicht einfach mit einer gestiegenen Sensibilität für die ethischen Implikationen der Holocaust-Darstellung erklärt werden. Wenn Literatur 1991 nicht mehr als der einzig gangbare Weg erscheint, um das Grauen zu vermitteln - bzw. ihre Vermittlung dahingehend problematisiert wird, dass sie das Reale in falsche Vertrautheit transformiere -, liegt das auch daran, dass für Langer ein drittes „Genre“ neben Literatur und Geschichtsschreibung tritt: die mündliche Zeugenschaft der Überlebenden. H OLOCAUST T ESTIMONIES ist eine Untersuchung von Videoaufnahmen mit Zeugnissen überlebender Opfer, die das Fortunoff Archive an der Universität Yale seit 1979 sammelt. Während literarische Strategien den Leser von der „dreadful familiarity“ des Ereignisses ablenken, erlebt der Hörer bzw. Zuschauer - so Langer - eine unmittelbare Konfrontation: Nothing [...] distracts us from the immediacy and the intimacy of conducting interviews with former victims (which I have done) or watching them on a screen. Struggling to identify with the voices of the witnesses who themselves are struggling to discover voices trustworthy enough to tell their whole stories [...], I often found myself naked before their nakedness, defenseless in the presence of their vulnerability. (xiii) 34 Literatur und Zeugenschaft bieten also einen unterschiedlichen Zugriff auf das Ereignis, wiewohl beide eine Form der „Vertrautheit“ (familiarity) schaffen. Der Unterschied liegt für Langer darin, dass es sich im Fall der Literatur um falsche Vertrautheit handle: Oft werde das, was passiert ist, in tendenziell tröstendes (comforting) Vokabular „gekleidet“ - insbesondere wendet sich der Literaturwissenschaftler gegen Darstellungsformen, die eine „grammar of heroism and martyrdom“ (162) benutzen. Sie sei mit den Erfahrungen der Opfer kaum in Einklang zu bringen. Gegenüber der „falschen“ Vertrautheit, welche die „Nacktheit“ der Opfer bedecke, etabliere Zeugenschaft ein anderes Zusammentreffen. Hierfür nutzt Langer den Ausdruck „dreadful familiarity“ - eine Anspielung auf den Schriftsteller Aharon Appelfeld, der von der Notwendigkeit spricht, die Opfer aus ihrer „dreadful anonymity“ zu befreien. 16 1975 wie 1991 sieht er das Wesen der Holocaust-Literatur darin, dass sie den Schrecken mit Hilfe der Vorstellungskraft vermittle. Was sich ändert, ist die Bewertung dieses Vorgangs und zwar deshalb, weil Langer nun - in der oralen Zeugenschaft der Überlebenden - eine Möglichkeit findet, die „actual scars of the Holocaust“ ohne „the garments of literary invention“ zu vermitteln 17 : Die „Nacktheit“ der Opfer bleibt für den Zuhörer bestehen. Er selbst fühlt sich „naked before their nakedness, defenseless in the presence of their vulnerability“ (xiii). Mit anderen Worten geht die Vermittlung zwischen zwei Erfahrungsbereichen hier nicht vom Vertrauten der literarischen Vorstellungskraft aus, den „familiar (and hence comforting? ) literary devices“ (19), sondern vom Fremden, von der „unfamiliar world“ (19) der Opfer. In Langers Beschreibung der Zeugenschaft handelt es sich dabei um eine wesentliche Fremdheit, die in der anhaltenden Traumatisierung der Opfer angelegt ist. Sie scheint zu verhindern, dass die Überlebenden im Moment der Zeugenaussage zu einem einheitlichen Selbst finden, das ihnen erlauben würde mit einer Stimme zu sprechen. 18 Die Zeugen sind sich insofern selbst fremd und vermitteln das durchlebte Ereignis in seiner „vertrauten Fremdheit“ für den Zuhörer, als „‘dreadful familiarity’ of the event“ (xii-xiii). Deshalb kann Zeugenschaft in Langers Konzeption das Ereignis ebenso wenig wie Literatur oder Geschichtsschreibung darstellen, „wie es eigentlich gewesen“ ist, falls eine solche Darstellung realistisch-abbildend gedacht wird. Ihre Unmittelbarkeit zum Ereignis entsteht für 16 Für den Ausdruck „dreadful anonymity“ vgl. Appelfeld 1988, 92, zit. bei Langer 1991, xiv. 17 Zu diesen Zitaten vgl. nochmals Langer 1975, 91. 18 Vgl. dazu das erste und zweite Kapitel von H OLOCAUST T ESTIMONIES . Bereits ihre Titel verweisen auf die beschriebene Spaltung der Überlebenden. Sie heißen Deep Memory. The Buried Self bzw. Anguished Memory. The Divided Self. Siehe Langer 1991, 1-76. 35 Langer gerade dann, wenn es die Überlebenden nicht schaffen, das Trauma in gewöhnliche narrative Erinnerung zu verwandeln. Das heißt, dass die „oral testimonies“ der Shoah das Geschehene vor allem in der Unmöglichkeit bezeugen, es zu erzählen: in den Brüchen und Entstellungen der Sprache. Meine Arbeit liest diese Annahmen, die auf einem traumatischen Konzept der Zeugenschaft beruhen, gewissermaßen gegen den Strich. Sie nutzt sie als Ausgangspunkt, um vor einem veränderten historischen Hintergrund (dem Sterben der Überlebenden) auf die Fragen zurückzukommen, die Langer 1975 zwar impliziert, aber nur ansatzweise verfolgt: Auf welche Weise können Darstellungen der Shoah - z.B. Filme, Theaterinszenierungen, literarische Texte, Hörspiele und Comics - das Ereignis beglaubigen, auf das sie sich beziehen? Wie ist es ihnen möglich, den Holocaust für Leser, Hörer oder Zuschauer glaubhaft zu vermitteln, wenn sich das, was passiert ist, der Vermittlung in hohem Maße entzieht? Mit welchen Mitteln können sie verhindern, dass ihre fiktionalen Anteile („the garments of literary invention“) die Faktizität des Geschehens angreifen? In Auseinandersetzung mit Primo Levis Konzept der testimonianza integrale, demzufolge die wahren Zeugen der Shoah abwesend (ermordet oder „zum Schweigen gebracht“) sind, frage ich nach den unterschiedlichen Autorisierungsstrategien, die Texte einsetzen, um - vor dem Hintergrund dieser Abwesenheit - Zeugnis abzulegen. Denn Texte, auch wenn sie von Zeugen stammen, sind als Darstellung immer schon von dem Ereignis getrennt, das sie darstellen. Ein traumatisches Konzept von Zeugenschaft, wie es hinter Langers späten Analysen steht, scheint in dieser Hinsicht besonders interessant: Es postuliert ein Zusammenbrechen der Grenzen zwischen zwei unterschiedlichen Zeit/ Räumen, dem Hier und Jetzt der mündlichen Zeugenaussage und der abwesenden Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht. Diese Grenzüberschreitung, die das Vergangene in die Gegenwart holt, verläuft jenseits realistischer Darstellungsmodi: Das Ereignis wird für den Hörer gerade dadurch greifbar, dass die Zeugen es nicht in lückenlose Erzählung verwandeln können. An den Bruchstellen ihrer Aussage würde das Ereignis körperlich-performativ bezeugt. Für Langer macht es dabei keinen Unterschied, ob die Zeugen körperlich anwesend sind, oder ob ein bewegtes Bild sie ersetzt: „Nothing […] distracts us from the immediacy and the intimacy of conducting interviews with former victims (which I have done) or watching them on a screen“ (xiii; meine Hervorhebung). H OLOCAUST T ESTIMONIES operiert also mit einer doppelten Grenzüberschreitung: Wie Vergangenheit und Gegenwart, abwesende Wirklichkeit und sprachliche Darstellung am Körper des Zeugen zusammenfallen, löst sich auch die mediale Grenze zwischen audiovisueller Repräsentation und realer Gesprächssituation in Langers Beschreibung 36 auf. Innerhalb seines Textes wird er zum Zeugen für die Zeugen („conducting interviews [...] which I have done“), der die Videoaufnahmen als gültigen Ersatz für die abwesende Wirklichkeit der Interviews beglaubigt. In einem zweiten Schritt autorisiert H OLOCAUST T ESTIMONIES die eigene Beschreibung und Analyse der Video-Zeugnisse als angemessene „literarische“ Strategie, das Gesehene bzw. Gehörte weiterzugeben. Wieder benutzt Langer die Kleidermetapher, um seine Suche nach einem Stil darzustellen, der die „Nacktheit“ der Opfer zwar bedeckt, ihre Wunden jedoch nicht verbirgt: Perhaps my own effort to develop a style and form and tone and language, to capture the implications of their ordeal, in addition to reflecting a tribute to their raw frankness, represents a desire to find moral and intellectual garb more relevant than my discarded attire. I am still not sure how durable such raiment may be in our post-Holocaust era; but in our age of atrocity […], one dons such clothing as one can. (xiii) Langers Text mischt verschiedene Ebenen der Autorisierung: erstens die Beglaubigung der Zeugenaussage am Körper der Zeugen, der die traumatische Beziehung zwischen Ereignis und Erzählung bekräftigt; zweitens den Realismus des Videobildes, dem die gleiche Unmittelbarkeit zugesprochen wird wie dem eigentlichen Interview; drittens die Sprache von Langers Studie, deren Ton sich mittels Rückgriff auf die Opfer legitimiert. Diese Mischung der Ebenen erlaubt es einem Text, der per se von den überlebenden Zeugen getrennt ist, Rekurs auf deren körperliche Verbindung zum Ereignis zu nehmen. So beglaubigt er sich ebenso wie die abwesende Wirklichkeit, über die er berichtet. Auf diese Weise dekonstruiert, erscheint die traumatische Zeugenschaft bei Langer als eine Möglichkeit, Literatur (nämlich Langers Text) testimonial - über die Autorität der überlebenden Opfer - zu autorisieren. Zugleich nutzt Langer, der kein Zeuge der Shoah ist, seine eigene Position als Gesprächspartner und Wissenschaftler dazu, das Zeugnis der Opfer für die Nachwelt zu beglaubigen - und ihrer Erinnerung eine Zukunft zu geben. Die Frage nach der Zukunft der Erinnerung bildet einen wichtigen Hintergrund des vorliegenden Buches. „In zehn Jahren“, erklärte der Holocaust-Überlebende und Schriftsteller Jorge Semprun 2005 bei einer Rede zur 60-jährigen Befreiung des Lagers Buchenwald, wird es keine Zeugen mehr geben. Wir werden kein Zeugnis mehr geben können von den Erfahrungen in den Nazilagern. Es wird keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis. Das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangen sein. 19 19 Semprun 2005, 52. 37 Wenn Langer video testimonies als „unmittelbare Erinnerung“ und Fortschreibung des „lebendigen Gedächtnisses“ der Shoah autorisiert, ist dies nur eine Möglichkeit, mit dem Verschwinden der Zeugen umzugehen. Semprun z.B. schlägt eine andere Art des Umgangs vor, die an den Langer von 1975 erinnert. Sempruns Meinung nach können nur Schriftsteller das Gedenken an die Shoah aufrecht erhalten, wenn sie „frei beschließen, [...] sich das Unvorstellbare vorzustellen“ und versuchen, „die unglaubliche historische Wahrheit literarisch wahrscheinlich zu machen.“ 20 Im Gegensatz zu Historikern und Soziologen könnten sie „die lebendige und vitale Erinnerung wieder zum Leben erwecken - das von uns Erlebte, die wir gestorben sein werden.“ 21 Meine Arbeit beschäftigt sich mit dem Problem der Zeugenschaft in bzw. von Darstellungen der Shoah. Sie untersucht diese vor dem Hintergrund jener nachhaltigen Verschiebung der Erinnerungskultur, über die Semprun redet: dass die Erinnerung an die Shoah von einem kommunikativen in ein rein kulturelles Gedächtnis wechselt, das ohne die Anwesenheit erinnernder Zeugen funktioniert. 22 Dieser Gedächtniswandel ist in jeder medialen Umsetzung des Holocaust vorgezeichnet, da sich diese Umsetzung - wenngleich auf unterschiedliche Weise - vom Körper der Zeugen trennt. Die vorliegende Studie fragt, mit welchen Strategien verschiedene Darstellungen der Shoah versuchen, die Erinnerung - wie es bei Semprun heißt - „zum Leben [zu] erwecken“, auch dann, wenn das „lebendige Gedächtnis“ verschwunden ist. Bevor ich den weiteren Aufbau der Arbeit erläutere und ihre Grundbegriffe an zwei Filmen (Roman Polanskis T HE P IANIST [2002] und Louis Malles A U R EVOIR LES E NFANTS [1987]) sowie in Auseinandersetzung mit Primo Levis Konzept der Zeugenschaft entwickle, möchte ich den von Semprun angesprochenen Gedächtniswandel an Hollywoods Beziehung zum Holocaust darstellen. Die amerikanische Filmindustrie scheint die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden erst als Thema zu entdecken, seit der Wechsel vom kommunikativen zum rein kulturellen Gedächtnis in greifbare Nähe gerückt ist. Steven Spielbergs S CHINDLER ’ S L IST (1993) und das damit verbundene Projekt, die Zeugnisse der Überlebenden auf Video zu sammeln, markiert diesen Übergang - in seiner Bedeutung für die Zukunft der Zeugenschaft - besonders deutlich. Eine kurze Analyse von Spielbergs Unternehmung steht deshalb, je unterschiedlich akzentuiert, am Anfang wie am Ende des vorliegenden Buches. 20 Semprun 2005, 52. 21 Semprun 2005, 52. 22 Zu den Begriffen kommunikatives und kulturelles Gedächtnis vgl. J. Assmann 2002, 48-66. 38 Zeugen in Hollywood? Spielbergs „Race Against Time“ 2003 fand die Oscarverleihung zum 75. Mal statt. In diesem Jubiläumsjahr entschied sich die für die Preisvergabe zuständige Academy of Motion Picture Arts and Sciences, den Schauspieler Adrien Brody als besten Hauptdarsteller auszuzeichnen. Er bekam den Oscar für seine Rolle in Polanskis T HE P IANIST . Der Film basiert auf einem autobiographischen Bericht des polnisch-jüdischen Musikers W adys aw Szpilman, den dieser 1946 unter dem Titel MIER M IASTA (Tod einer Stadt) veröffentlicht hat. 23 In Polanskis Fassung spielt Brody den Pianisten Szpilman, der aus dem Warschauer Ghetto fliehen kann und die Vernichtung der europäischen Juden im Versteck überlebt. Es ist ihm jedoch unmöglich, den Rest seiner Familie zu schützen. Szpilmans Eltern und Geschwister werden in ein Konzentrationslager transportiert und dort ermordet. Das zeigt der Film zwar nicht, doch er macht unmissverständlich klar, dass es für Familie Szpilman keine Rettung gibt. Anders sieht es für den Pianisten aus: Kurz vor Ende des Krieges entdeckt ihn ein Wehrmachtsoffizier in einem seiner Verstecke. Gegen alle Wahrscheinlichkeit - aber der Biographie des Musikers entsprechend - liefert er Szpilman nicht aus. Stattdessen hilft ihm der deutsche Offizier weiter am Leben zu bleiben. Neben der Auszeichnung für Adrien Brody erhielt T HE P IANIST auch den Oscar für die beste Regie und das beste (adaptierte) Drehbuch. Zum dritten Mal innerhalb von zehn Jahren wurde damit - nach Steven Spielbergs S CHINDLER ’ S L IST und Roberto Benignis L A V ITA È B ELLA (1997) - ein Spielfilm in zentralen Kategorien der Academy Awards ausgezeichnet, der die Shoah zum Gegenstand hat. 24 Diese Dominanz ist bemerkenswert, auch weil sich die amerikanische Filmindustrie, zu deren wichtigsten Zeremonien die Oscarverleihung gehört, jahrzehntelang kaum mit der Shoah befasst hat. Bis Ende der 1970er Jahre blieben Spielfilme zu dem Thema, zumal im Mainstream- Kino, die große Ausnahme. 25 Als Wendepunkt gilt der enorme Publikumserfolg einer umstrittenen Fernsehserie. 1978 strahlte der amerika- 23 Der deutsche Titel des Buches sieht von einer wörtlichen Übersetzung ab. In der Erstedition von 1998 hieß er D AS W UNDERBARE Ü BERLEBEN : W ARSCHAUER E RIN- NERUNGEN , 1939-1945. Nach dem Erfolg von Polanskis Film wurde der Titel geändert in D ER P IANIST : M EIN W UNDERBARES Ü BERLEBEN . Vgl. Szpilman 2004. 24 S CHINDLER ’ S L IST erhielt sieben Oscars; unter anderem für die beste Regie, den besten Film, das beste Drehbuch und die beste Kameraarbeit. L A V ITA È B ELLA wurde mit drei Oscars ausgezeichnet: für den besten fremdsprachigen Film, den besten Hauptdarsteller und die beste Musik. 25 Zu den bekanntesten Ausnahmen zählen Stanley Kramers J UDGMENT AT N UREM - BERG (1961) und George Stevens’ T HE D IARY OF A NNE F RANK (1959). Letzteren Film behandle ich im Kapitel über Anne Frank. Zu Kramers Werk und seiner Stellung im Erinnerungsdiskurs der Shoah vgl. Mintz 2001, 85-105. 39 nische Sender NBC das vierteilige Geschichtsdrama H OLOCAUST : T HE S TORY OF THE F AMILY W EISS aus - „the most important moment in the entry of the Holocaust into general American consciousness“, wie nicht nur der Historiker Peter Novick meint. 26 In den USA erreichte die Erstausstrahlung ungefähr 120 Millionen Zuschauer bei nahezu fünfzig Prozent Marktanteil. Die westdeutsche Ursendung ein Jahr später hatte auf den dritten Programmen - je nach Folge - eine Einschaltquote zwischen 31 und 40 Prozent. 27 Auch I NDELIBLE S HADOWS (1983), Annette Insdorfs Standardwerk zur Filmgeschichte der Shoah wurde, wie die Autorin zwanzig Jahre später schreibt, im Zuge jener Ausstrahlung konzipiert. Das Buch sollte gewissermaßen ein Korrektiv darstellen zu der „amerikanisierten“ Version der Ereignisse, welche die Miniserie von Gerald Green (Drehbuch) und Marvin Chomsky (Regie) geliefert hatte. Es sei ihr Anliegen gewesen, so Insdorf, nicht nur amerikanische Werke zu analysieren, sondern auch „to bring relatively unknown foreign films to attention.“ 28 In der Neuauflage von I NDELIBLE S HADOWS , aus der diese Selbstreflexion stammt, zählt sie denn auch - sicher nicht zu Unrecht - ihre eigene Arbeit zu den Marksteinen auf dem Weg „[in which] the Shoah has entered mainstream culture.“ 29 Insdorf betont, wie wenig sie 1979 mit dieser Entwicklung gerechnet habe: It never occurred to me that, by the year 2001, films about the Nazi era and its Jewish victims would be so numerous as to constitute a veritable genre - including consistent Oscar winners - nor did I foresee how this genre would be part of a wider cultural embracing of the Shoah. 30 Wie Insdorf begreife ich Hollywoods steigendes Interesse am Holocaust als Ausdruck und Bestandteil einer breiteren kulturellen Wandlung, die die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden immer mehr ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins rückt. Die kurze Übersicht, die Insdorf zu dieser Entwicklung liefert, beginnt mit der Ausstrahlung von H OLOCAUST und der Erstveröffentlichung ihres eigenen Buches. Sie endet mit der Aufzählung einer großen Menge an Filmen, die sich mit der Shoah auseinandersetzen, nach 1993 ins Kino oder ins Fernsehen kamen und alle mit mindestens einem Oscar ausgezeichnet wurden. Neben den bereits aufgezählten Produktionen von 26 Novick 1999, 209. Die Bedeutung von H OLOCAUST unterstreicht z.B. auch Shandler 1999, xv. Zur Debatte um die Fernsehserie und zur Rezeption in Deutschland vgl. Frenzel/ Märthesheimer (Hg.) 1979 und Knilli/ Zielinski (Hg.) 1982. 27 Zu diesen Zahlen vgl. Shandler (1999, 150), der verschiedene Quellen - unter anderem die New York Times - zitiert. Thiele (2001, 309) spricht von „über 70 Millionen Zuschauer[n]“ für die USA. 28 Insdorf 2003, 245. 29 Insdorf 2003, 245. 30 Insdorf 2003, 245. 40 Polanski, Spielberg und Benigni sind das Dokumentarfilme wie A NNE F RANK R EMEMBERED (1995), T HE L ONG W AY H OME (1997), T HE L AST D AYS (1998), I NTO THE A RMS OF S TRANGERS : S TORIES OF THE K INDER- TRANSPORT (2000) und einige mehr. 31 In diesem Zusammenhang erwähnt die Filmwissenschaftlerin zwei weitere Ereignisse, die die Shoah ins Zentrum der Erinnerungskultur rücken. Da ist zum einen die Gründung des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Universität Yale im Jahr 1979, eine direkte Reaktion auf den Erfolg der NBC-Serie. Zum anderen nennt Insdorf den - dieser Unternehmung ähnelnden, aber bekannteren - Versuch Steven Spielbergs, die Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden auf Video zu sammeln und öffentlich zugänglich zu machen. Das geschieht im Rahmen der Survivors of the Shoah Visual History Foundation, die der Hollywoodregisseur 1994 gründete - im Jahr der Verleihung der Academy Awards an S CHINDLER ’ S L IST . 32 Am Anfang wie am Ende des Wegs, den Insdorf für die Popularisierung des Holocaust- Diskurses zeichnet, stehen ein erfolgreicher Spielfilm bzw. eine Fernsehserie und das systematische Sammeln von Zeugnissen. In beiden Fällen wurzelt die Gründung der Sammlung unmittelbar im Publikumserfolg der Filme. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied, wie die Historikerin Annette Wieviorka betont: alors que les survivants témoignèrent en opposition avec le feuilleton Holocauste, pour faire entendre une autre voix, on peut dire qu’ils témoignèrent en symbiose avec La Liste de Schindler, en complément, et non en opposition. 33 Die Ankunft der Zeugen in Hollywood, wie ich sie im Folgenden darstelle, lässt sich demnach als Zusammenführung des fiktionalen und des testimonialen Diskurses zur Shoah begreifen, welche zum Zeitpunkt von H OLOCAUST noch als unvereinbar galten. „So many lost their lives“, beschreibt der Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman die Angst der Überlebenden vor dem Einfluss der NBC-Serie, „will their life story be taken away? [...] Any survivor could tell a history more true and terrible in its detail, more authentic in its depiction.“ 34 Die Beziehung zwischen S CHINDLER ’ S L IST und den Überlebenden ist - trotz aller Kritik, die an dem Film geübt wurde 35 - eine andere: Ihre Zeugnisse und die Filmerzählung treten in keine Konkurrenz zueinander, sondern beglaubigen sich gegenseitig. Das ist weniger eine Frage des „Wahrheitsgehalts“ von Spielbergs Film, sondern betrifft vielmehr dessen Inszenierungsstrategien ebenso wie die kulturhistorische Posi- 31 Vgl. Insdorf 2003, 246. 32 Vgl. Insdorf 2003, 245-246. 33 Wieviorka 1998, 144. 34 Hartman 1996, 143. 35 Vgl. zusammenfassend Weiß 1995 und Loshitzky 1997. 41 tion fast fünfzig Jahre nach den Ereignissen - d.h. zu einem Zeitpunkt, da die „lebendige Erinnerung“ an die Shoah langsam verschwindet. Im Gegensatz zu 1978/ 79, wo die Angst vor dem Verlust der eigenen Geschichte noch zu einer öffentlich wirksamen Gegenerzählung der Überlebenden führt, autorisiert sich Spielbergs Projekt erfolgreich als legitimes Erbe der „lebendigen Erinnerung“. Drei Momente dieser Autorisierung möchte ich explizit hervorheben: die Dankesreden bei der Oscarverleihung 1994, die Schlussszene von S CHINDLER ’ S L IST und die Selbstdarstellung der Shoah Visual History Foundation. Sie kennzeichnen die Ankunft des Zeugen in Hollywood nicht nur als Höhe-, sondern auch als Endpunkt der testimonialen Autorität der Überlebenden, von deren realer Existenz sich diese Autorität bei Spielberg - noch in dem Moment, da ihr Zusammenhalt behauptet wird - abspaltet. Zu den Produzenten von S CHINDLER ’ S L IST , die am Abend des 21. März 1994 den Oscar für den besten Film entgegennehmen, gehört auch Branko Lustig, ein Überlebender von Auschwitz und Bergen- Belsen. In seiner Dankesrede akzeptiert er den Preis ausdrücklich in der Eigenschaft als Zeuge und Überlebender: „My number was 83317; I am a Holocaust survivor.“ 36 Mit der Produktion von S CHINDLER ’ S L IST habe er gehofft, einem Auftrag der Ermordeten nachzukommen: „People died in front of me in the camps. Their last words were: ‘Be a witness of my murder. Tell the world how I died. Remember.’“ Auch Spielberg bezieht sich in seiner Rede auf das Wissen derer, die - wie Lustig - deportiert wurden. Er endet seinen Dank mit einem Aufruf an alle Lehrer, die Erinnerung an die Shoah mit Hilfe der Überlebenden aufrecht zu erhalten: Please do not allow the Holocaust to remain a footnote in history. There are 350,000 experts who just want to be useful with the remainder of their lives. Please listen to the words, the echoes and the ghosts. Please teach this in your schools. 37 Spielbergs Worte, die den Überlebenden eine zentrale Rolle für die Übermittlung der Shoah zusprechen, weisen auch darauf hin, dass eben diese Überlebenden die ihnen zugewiesene Rolle nicht immer ausüben können. Die Wendung „with the remainder of their lives“ gemahnt an das fortgeschrittene Alter jener Experten und damit an die nachhaltige Verschiebung der Erinnerungskultur „nach Auschwitz“, die an den Tod der Überlebenden gebunden ist. Mit Jan und Aleida Assmann lässt sie sich als Wechsel vom kommunikativen in ein rein kulturelles Gedächtnis der Shoah beschreiben. 38 36 Dieses und die folgenden Zitate nach Rosenthal 1994. 37 Zit. nach Rosenthal 1994. 38 Zum Folgenden vgl. J. Assmann 2002, 50-56 und A. Assmann 2006, 25-34. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gedächtnisbegriff Jan Assmanns, 42 Das kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die jüngste Vergangenheit beziehen, d.h. auf Ereignisse, für die es noch Zeugen gibt, die sie durchlebt haben und persönlich kommunizieren. Entsprechend vergeht das kommunikative Gedächtnis, wenn die letzten Überlebenden des erinnerten Geschehens sterben. Im Gegensatz dazu operiert das kulturelle Gedächtnis losgelöst von der lebendigen Erinnerung einzelner Zeitzeugen. Es bewahrt, z.B. durch Feste, Denkmäler oder in schriftlicher Fixierung, was einer Gemeinschaft für ihr Selbstverständnis und ihre Identität wichtig erscheint. „Was heute noch lebendige Erinnerung ist“, so Jan Assmann in seinem Standardwerk über D AS KULTURELLE G EDÄCHTNIS (1992), wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein. Dieser Übergang drückt sich schon jetzt in einem Schub schriftlicher Erinnerungsarbeit der Betroffenen sowie einer intensivierten Sammelarbeit der Archivare aus. 39 Auf diese Weise soll die Zeugenschaft der Überlebenden bewahrt werden, die fortan nicht mehr selbst, in ihrer konkreten körperlichen Anwesenheit, Zeugnis für das Ereignis ablegen können. Spielbergs Survivors of the Shoah Visual History Foundation kleidet die „intensivierte Sammelarbeit der Archivare“ in eine konventionelle Erzählstruktur, die aus zahlreichen Hollywoodfilmen bekannt ist. Seit ihrer Gründung 1994 rückt sie den bevorstehenden Tod der Überlebenden in den Mittelpunkt ihrer Selbstdarstellung. Bei der Preisrede für S CHINDLER ’ S L IST behandelt Spielberg dieses Sterben noch im Nebensatz („with the remainder of their lives“). In den Interviews zur Foundation betont er jedoch, dass ihre Archivarbeit „a race against time“ sei. 40 Der Sachverhalt, dass die überlebenden Zeugen der Shoah altern und sterben, wird so in das narrative Schema der last-minute-rescue eingebunden, bei der zu guter Letzt gerettet wird, wer oder was bereits verloren schien. Die Holocaust-Zeugenschaft soll sozusagen davor bewahrt werden, mit den überlebenden Zeugen zu sterben. Dieses Rennen hat die Stiftung auf ihrer Homepage begleitet und dramatisiert: Zwischen 1997 und 2001 dokumentierte ein Zähler auf der Webseite, wie viele Überlebende schon interviewt wurden: „To date, 23.215 interviews have been conducted“, hieß es z.B. am 16. April 1997. 41 Bis Ende 2001 stieg diese Zahl auf über 50.000 Interviews an. Seither betrachtet Spielbergs Stiftung das Rennen gegen die Zeit als gewonnen. Der die u.a. seine a-historische Bezugnahme auf den, 1945 in Buchenwald ermordeten, Soziologen Maurice Halbwachs behandelt, vgl. Marx 2003, 147-151. 39 J. Assmann 2002, 51. 40 Vgl. z.B. Weinraub 2004. 41 Die alten Webseiten der Stiftung sind teilweise zugänglich über die Wayback Machine, die sich die Archivierung des Internets zur Aufgabe gemacht hat. Vgl. web.archive. org/ web/ */ http: / / www.vhf.org (Letzter Zugriff: 25.1.2008). 43 Zähler wurde vom Netz genommen und durch die Mitteilung ersetzt, dass die erste Phase der Archivierung abgeschlossen sei: Man habe es geschafft, verkündete die Webseite 2004, „to rescue the testimonies before it was too late.“ 42 Der Rettungsanspruch der Stiftung schreibt sich auch in die Dokumentarfilme ein, die auf der Grundlage des gesammelten Materials produziert werden. Michael Mayhews V OICES FROM THE L IST (2004), das sich auf der DVD von S CHINDLER ’ S L IST als Bonusmaterial findet, beginnt und endet mit einer Botschaft von Steven Spielberg, die das in aller Klarheit herausstellt. 43 Der Regisseur dankt den Überlebenden, deren Berichte seine Organisation aufnehmen durfte: „We are so grateful to these men and women, gratified that they have entrusted their stories to future generations.“ Zugleich aber behauptet Spielberg, dass diesen Männern und Frauen selbst etwas gegeben wurde, als sie vor laufender Kamera Zeugnis ablegten: „That they survived“, sagt er, „is a miracle. Through the Shoah Foundation they’ve had a chance to survive a second time - in a sense, to survive forever.“ Das Geschenk, das sich die Überlebenden durch ihre Mitarbeit bei der Foundation machten, wäre demnach ein zweites, ein ewiges (Über-)Leben. Einerseits weist Spielbergs Einschub „in a sense“ darauf hin, dass es sich hierbei nur im metaphorischen Sinn um Leben handelt. Die Zeugen überleben nicht wirklich; sie hinterlassen eine audiovisuelle Erinnerungsspur: Ihre Stimme, ihr Bild und ihre Geschichte - nicht aber sie selbst - bleiben für die Zukunft erhalten. Andererseits verwischt Spielberg tendenziell den Unterschied zwischen diesen Seinsweisen, indem er die eine Art der „Rettung“ (durch den Film) neben die andere (durch ein „Wunder“) stellt; und beide mit dem gleichen Wort belegt: to survive. Der Regisseur verbürgt sich dafür, dass diese Bild/ Körper für die überlebenden Zeugen einstehen, weil sie - nach den Worten Spielbergs - an ihrer Stelle überleben. Es ist eine Autorisation, die mit seinen ersten Sätzen im Film beginnt: Der als talking head gefilmte Spielberg stellt sich zunächst, noch vor der Titelsequenz, vor und spricht über seine Erfahrungen bei den Dreharbeiten zu S CHIN- DLER ’ S L IST . Er beschreibt diese als quasi-spirituelle Reise ins Innerste seiner eigenen Seele. Diese Reise habe seinen Glauben vertieft und sein Leben verändert, „because in telling the story of Oskar Schindler, I came to understand how one person - not an army, but one person - can make a difference.“ Der Kontext des Satzes legt nahe, dass die Visual History Foundation aus dieser Einsicht entstanden sei. Spielbergs Erfahrungsbericht unterfüttert die Autorität, die er als Regisseur spätestens seit dem Oscargewinn erreicht hat, mit einer moralischen Per- 42 Vgl. web.archive.org/ web/ */ http: / / www.vhf.org (Letzter Zugriff: 25.1.2008). 43 Ich beziehe mich auf die DVD-Ausgabe von S CHINDLER ’ S L IST , die erstmals 2004 bei Universal erschienen ist. 44 spektive. Ihr zufolge verändert die Welt, wer - wie Spielberg - die Geschichte Oskar Schindlers erzählt oder sich, wie die Überlebenden, filmen lässt, um die Erfahrung des Holocaust mitzuteilen. In seiner Ansprache an das Publikum behauptet der Regisseur, dass beide Handlungen auf einer ähnlichen Ebene lägen: In a moment, you’ll hear some of their stories [die Zeugnisse der Überlebenden] and I believe you’ll find the experience as powerful, perhaps more so, than any film. These accounts show us how ordinary men and women can transcend circumstance and become extraordinary. In diesem Zitat etabliert Spielberg das Medium Film als Maßstab für die Wirkungskraft einer Geschichte. Ansonsten würde es wenig Sinn ergeben, die Erzählungen der Überlebenden „as powerful [as] any film“ zu nennen. Mit seiner zuvor beschworenen Autorität als Filmemacher, als gläubiger Jude und als Mensch, der die Welt verändern will, äußert Spielberg im gleichen Atemzug die Überzeugung, dass diese Erzählungen sogar kraftvoller als jeder Film - d.h. einschließlich S CHINDLER ’ S L IST - sein können. Mit anderen Worten wird die Zeugenschaft der Überlebenden auf Basis eines Films autorisiert, nämlich im Vergleich zur Wirkungskraft des neunfachen Oscargewinners. So versucht der Regisseur (bzw. sein gefilmtes Abbild) die Rezeptionshaltung der Zuschauer zu steuern, an die er sich wendet. Spielbergs Worte implizieren noch eine zweite Autorisation. Der Regisseur verbürgt sich nicht nur dafür, dass die Zeugnisse der Überlebenden mindestens so kraftvoll sind wie ein Film. Indem er diese Gegenüberstellung vornimmt, verschiebt er sie aus dem filmischen Register, das zum bloßen Vergleichsmoment wird. Dadurch wird die Tatsache heruntergespielt, dass V OICES FROM THE L IST selbst ein Film ist und die Stimmen der Überlebenden nur in diesem Medium hörbar macht. Das trifft sich mit der oben beschriebenen Verwirrung ontologischer Art, die auf der doppeldeutigen Verwendung des Wortes „survive“ beruht. Ihr entspricht, dass Spielberg das Rezeptionsverhältnis zwischen Zuschauer und Film nicht als Sehen oder Hören bezeichnet. Für ihn trifft das Publikum die Überlebenden, als ob diese körperlich anwesend seien: You’re about to meet some remarkable people […]. They are Holocaust survivors, who have shared their stories with us as Survivors of the Shoah Visual History Foundation. In der Begegnung, die Spielbergs einleitende Worte beschwören, wäre die Differenz zwischen dem Bild/ Körper und der leiblichen Anwesenheit der Überlebenden aufgehoben. Am illusorischen Verschwinden dieser Grenze arbeitet, wie das Zitat in voller Deutlichkeit zeigt, bereits der Name von Spielbergs Organisation. Hier steht weder die Archivierung noch ihr Medium im Vordergrund, anders als beispielsweise beim Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies. Spielbergs Satz ist formuliert, als ob die Foundation nicht nur video testimonies 45 archivieren, sondern die Überlebenden als handelnde Subjekte bewahren würde, „who have shared their stories with us as Survivors of the Shoah Visual History Foundation.“ 44 Der narrative Rahmen von Mayhews Dokumentarfilm, aus dem diese Worte stammen, besitzt eine spiegelbildliche Beziehung zu S CHINDLER ’ S L IST , für dessen DVD-Edition der Film als Bonusmaterial produziert wurde. Wenn Spielberg die gefilmten V OICES FROM THE L IST als „überlebende Zeugen“ der Shoah beglaubigt, beruht dies auf einer umgekehrten Autorisierung, welche der Schluss von S CHINDLER ’ S L IST in Szene setzt: Er zeigt „the Schindler Jews today“ - so eine Texteinblendung - gemeinsam mit den Schauspielern, die deren Rollen für den Hauptteil des Films übernommen haben. Hand in Hand laufen sie zu Oskar Schindlers Grab. Das Nebeneinander von Schauspielern und „echten“ Holocaust-Überlebenden führt eine Differenz zwischen Spiel und Realität, Darstellern und Dargestellten ein. Sie verweist auf den Abstand der Filmerzählung zur erzählten Wirklichkeit, insofern die visuelle Präsenz der „Schindler-Juden“ unterstreicht, dass ihr Leben hier nur gespielt wurde. Zugleich jedoch bürgen sie für die „Echtheit“ dieses Spiels, allein durch ihre Anwesenheit vor der Kamera. „Wer anders“, fragt Sven Kramer, „könnte dem Film Authentizität zusprechen als die überlebenden Schindler-Juden? “ In der letzten Szene lasse Spielberg sie S CHINDLER ’ S L IST signieren: „Von der inszenierten Vergangenheit geht [der Film] in eine Dokumentation über, und dokumentiert wird die Geste der Authentisierung.“ 45 Auf den ersten Blick betont das Ende von S CHINDLER ’ S L IST , wie groß die Autorität ist, die die überlebenden Holocaust-Zeugen Anfang der 1990er Jahre erreicht haben. Mit ihrer bildkörperlichen Anwesenheit autorisieren die Schindler-Juden den Film ergänzend zur Authentizitätsillusion, die seine realistische Erzählweise (z.B. mit Reminiszenzen an Dokumentarfilme) behauptet. 46 Zugleich aber wird ein Übergang von der „Deutungsautorität der Überlebenden“, wie Stefan Krankenhagen schreibt, zur „Authentizität“ der sekundären Zeugenschaft inszeniert: 44 Im Januar 2006 ist die Survivors of the Shoah Visual History Foundation eine Kooperation mit der University of Southern California eingegangen. Seitdem lautet ihr offizieller Name USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education. 45 Kramer 1999, 37. 46 Zu den filmischen Mitteln, mit denen S CHINDLER ’ S L IST seine Authentizitätsillusion aufbaut vgl. Köppen 1997, 145-170, Kramer 1999, 10-15 u. 32-42 sowie Krankenhagen 2001, 210-220. Genannt wird der Gebrauch von Schwarzweiß- Material, der das mediale Gedächtnis nachgeborener Zuschauer ansprechen soll (in deren Erinnerung der Zweite Weltkrieg farblos sei) sowie die emotionalisierende Spannungsdramaturgie. 46 Statt der Erinnerung der Überlebenden wird die Erinnerung der Nachgeborenen zum Kriterium einer authentischen Darstellung des Holocaust. Weil wir uns aber nicht an Auschwitz erinnern, sondern an das Wissen um Auschwitz und die Bilder von Auschwitz, thematisiert Spielbergs Film genau die gesellschaftlich tradierten Erinnerungsformen an die Vernichtung. Diese werden autoritativ überhöht durch die Darstellung der Erinnerung der Überlebenden, die den Film Spielbergs als eine wahre Darstellung des Holocaust beglaubigen. 47 Die testimoniale Autorität der Überlebenden wird nicht verwendet, um ihr eigenes Zeugnis zu autorisieren - sie bleiben in der Schlussszene stumm -, sondern als Bürgschaft für eine mediale Auseinandersetzung mit der Shoah, die auf das Bildarsenal der Nachgeborenen zurückgreift. So begründet der 1947 geborene Spielberg die Wahl von Schwarzweiß für den Hauptteil von S CHINDLER ’ S L IST damit, dass er sich die Shoah nicht farbig vorstellen könne: „I’ve been indoctrinated with documentaries and they’re all black-and-white. [...] I think blackand-white is almost the synonymous form for World War II and the Holocaust.“ 48 In Konstellation mit dem Projekt der Visual History Foundation und Mayhews Dokumentarfilm zeigt sich das Ende von S CHINDLER ’ S L IST als paradigmatisch für den Übergang testimonialer Autorität von den Überlebenden an die Nachgeborenen. Spielbergs Werk - ein Produkt der Nachkriegsimagination - wird in der Schlussszene von jenen beglaubigt, die bei den Ereignissen dabei waren. Die so erhaltene Autorität kann der Regisseur fortan nutzen, um die Erinnerung der Überlebenden seinerseits - auf Grundlage der Fiktion - zu autorisieren, wie es im narrativen Rahmen von Mayhews Dokumentarfilm geschieht: „you’ll find the experience as powerful, perhaps more so, than any film.“ Spielberg bekräftigt seine neugewonnene Autorität in Bezug auf die Holocaust-Zeugenschaft auch in Interviews, wenn er von der Hoffnung spricht, dass Menschen, die seinen Film gesehen haben, ihn als Einstiegspunkt nutzen könnten, um die Erinnerung an die Shoah weiterzugeben: „people will say, ‘I now feel a need to tell my children about the Holocaust and someday show them not only this movie, but other films and documentaries about it.’“ 49 Seit S CHINDLER ’ S L IST sei Spielberg „the most prominent public figure in America associated with Holocaust memory, his familiarity rivaling and perhaps even eclipsing that of [Holocaust survivor] Elie Wiesel“, schreibt Jeffrey Shandler. 50 Er sieht diese Entwicklung als Ausdruck des größeren Wandels im Gedenken an die Shoah, den ich an S CHINDLER ’ S L IST und der Shoah Visual History Foundation darge- 47 Krankenhagen 2001, 210. 48 Spielberg 2000, 156. 49 Zit. nach Shandler 1997, 160. 50 Shandler 1999, 253. 47 stellt habe: nämlich dass die Zeugen des Holocaust, im Zentrum des kulturellen Mainstreams - in Hollywood - angekommen, ihre Autorität an die „creators of Holocaust mediations“ abgeben. 51 Spielberg, der nach dem Krieg geboren wurde, inszeniert sich als Autoritäts- und Autorisierungsfigur der Erinnerung, die in legitimer Nachfolge zu den Überlebenden der Shoah steht. Obwohl S CHINDLER ’ S L IST und die Shoah Visual History Foundation sich als Zeichen für den Übergang von primären zu sekundären Formen der Zeugenschaft verstehen lassen, markieren sie in dieser Hinsicht keinen absoluten Wandel. Das zeigt sich schon daran, dass Spielbergs Projekt vornehmlich über eine Vermischung der Perspektiven autorisiert wird: Es beruft sich auf die Autorität der Überlebenden ebenso wie auf die Vorstellungskraft der Nichtzeugen. Gerade zu einer Zeit, in der das kommunikative Gedächtnis an die Shoah vergeht, wird deutlich, dass der Diskurs „nach Auschwitz“ von Anfang an durch die Gleichzeitigkeit solch unterschiedlicher Perspektiven (z.B. der Täter, Opfer, Zeugen oder Nichtzeugen) und durch die Koexistenz verschiedener Darstellungsmodi (wie fiktional, dokumentarisch, testimonial) geprägt war. Trotz ihrer Gleichzeitigkeit haben die Darstellungsformen und Blickweisen eine Geschichte, d.h. sie verändern sich und sind nicht zu jeder Zeit an jedem Ort gleichermaßen dominant. An paradigmatischen Texten und Ereignissen (z.B. dem Eichmann-Prozess in Jerusalem) historisiert meine Arbeit den testimonialen Diskurs „nach Auschwitz“ in seiner Bedeutung für die Autorisierung differenter Darstellungen der abwesenden Wirklichkeit. Es wäre irreführend, diese Geschichte der Zeugenschaft von Auschwitz und „nach Auschwitz“ innerhalb eines Modells klarer Übergänge und Brüche zu erzählen. Die so verstandene Historisierung liefe Gefahr, die multiperspektivische Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen der Erinnerung wertend gegeneinander auszuspielen, als ob es eine - wahlweise positiv oder negativ besetzte - Entwicklung weg von bzw. hin zur „wahren“ Erinnerung gäbe. Die für meine Arbeit grundlegende Denkfigur des „abwesenden Zeugen“ 52 soll auch auf die Abwesenheit einer solchen Erinnerung verweisen, die Wiedergabe oder authentische Rekonstruktion der abwesenden Wirklichkeit wäre. Die Unmöglichkeit, den Abstand zwischen Darstellung und Dargestelltem authentisch einzuholen, trifft, wie das Spektrum meiner Arbeit zeigt, nicht nur künstlerische Arbeiten (im weitesten Sinne), sondern auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoah. Es handelt sich jeweils um „Fort-Schreibungen“ einer abwesenden Wirklichkeit, insofern sie sich einerseits - durch die Darstellung - von ihr entfernen, andererseits aber - mit Hilfe der Darstellung - die Erinnerung an das 51 Vgl. Shandler 1999, 253. 52 Zur theoretischen Fundierung dieser Denkfigur siehe unten, S. 56-62. 48 Ereignis weiterschreiben. 53 In ihrer Ausrichtung auf testimoniale Autorisierungsstrategien untersucht meine Studie, wie Texte (auch primär fiktionale Texte) trotz ihrer Distanz zur abwesenden Wirklichkeit Zeugnis für diese Wirklichkeit ablegen können. Der Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven und Darstellungsmodi in der kulturellen Erinnerung „nach Auschwitz“ entspricht, dass sich die vorliegende Arbeit ihrem Gegenstand kreisend nähert. So wird die Entstehung des testimonialen Diskurses seit den fünfziger Jahren dreimal, je unterschiedlich akzentuiert, erzählt. Zum einen - wie gerade geschehen - mit einem Schwerpunkt auf dem Zeitraum zwischen 1978, der Erstausstrahlung von H OLOCAUST , und 1994, dem Jahr der Oscarverleihung an S CHINDLER ’ S L IST . Beim zweiten Mal gehe ich, am Beispiel von Alain Resnais’ Film N UIT ET B ROUILLARD (1955), in die Nachkriegszeit zurück, um im Kontrast dazu den Stellenwert zu beschreiben, den die überlebenden Zeugen seit dem Eichmann-Prozess 1961 innehaben. Zum dritten Mal historisiere ich den Zeugendiskurs, wenn ich im Kapitel über Anne Frank unterschiedliche Figurationen der abwesenden Zeugin von 1955 bis 1997 beschreibe. Hier liegt der Akzent auf der Möglichkeit konkurrierender Erinnerungskonstruktionen, die - je in Bezug auf die „authentische Zeugin“ - als einzig „wahre“ Erinnerung autorisiert werden. Dieses Buch gliedert sich in drei Teile. In Bezug auf Überlegungen von Primo Levi und Jacques Derrida skizziert die vorliegende Problemstellung das Verhältnis von Zeugenschaft, Trauma und Fiktion in der Welt „nach Auschwitz“. Sie liefert das theoretische Grundgerüst und erste Beispiele für die hier angestrebte Untersuchung, auf welche Weise verschiedene Darstellungen der Shoah (v.a. in Literatur, Film und Theater) versuchen, die abwesende Wirklichkeit zu bezeugen und sich selbst in Bezug auf diese Wirklichkeit zu autorisieren - sei es, indem sie Wirklichkeitsnähe oder einen Abstand zur Wirklichkeit behaupten. Der zweite Teil des Buches (Spiegel der Zeugenschaft) untersucht Beispiele für die erstgenannte Möglichkeit, d.h. er betrachtet (filmische, literarische und theatrale) Texte, deren testimoniale Autorisierung, auf je unterschiedliche Weise, Wirklichkeitsnähe behauptet. An der Schlussszene von Elie Wiesels Bericht L A N UIT (1958) wird zunächst ein Autorisierungsmodell vorgestellt, das für diesen Modus der Zeugenschaft bestimmend scheint. Im Zentrum steht das Phantasma des stummen Boten, der ein rein körperliches Zeugnis ablegen würde. Die Metapher 53 Vgl. Kreuder 2002, 12-14 für die Doppeldefinition des Begriffs Fort-Schreibung, der zugleich auf die Abständigkeit der künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Darstellung zum Ereignis und auf die Weiterschreibung der Erinnerung an das flüchtige Ereignis verweist. Kreuder bezieht sich auf den Zusammenhang von Aufführungsanalyse und Theaterhistoriographie. 49 des Spiegels, die auch in den untersuchten Texten verwendet wird, soll darauf hinweisen, dass es hier um eine Überschreitung der Darstellung zum Realen geht, die den imaginären Raum des Spiegels (im übertragenen Sinn der Leinwand, des Theaters oder der Literatur) als den Ort behauptet, an dem ein testimonialer Realitätsbezug erst möglich wird. Diese Autorisierung bezieht sich nicht auf ein Konzept der Spiegelung, das eine mimetische Ähnlichkeit zwischen Darstellung und abwesender Wirklichkeit behauptet, obwohl sie diese Ähnlichkeit keineswegs ausschließt. Vielmehr geht es um die Idee eines Spiegels, in dem sich - aufgrund einer indexikalischen Beziehung zur Wirklichkeit - das Reale ausdrückt. In Siegfried Kracauers Filmtheorie, die ich auf die historische Situation „nach Auschwitz“ beziehe, zeigt sich dieses Konzept der Spiegelung deutlich als eine Dialektik des Bildes und dessen Zeugenschaft zwischen (fiktionaler) „Verzerrung“ und Realitätsbezug, Repräsentation und „Verkörperung“. Im Rahmen dieser Dialektik etablieren die untersuchten „Spiegel der Zeugenschaft“ - L A N UIT , Anne Franks Tagebuch und Claude Lanzmanns Film S HOAH (1985) - eine körperliche Beziehung zum Ereignis, über die sie sowohl sich selbst als auch die abwesende Wirklichkeit zu beglaubigen suchen. Am Beispiel Anne Franks zeige ich die Problematik, die mit dieser Art der Autorisierung verbunden sein kann: dass sie, in der darstellenden „Verkörperung“ des abwesenden Zeugen, die Abwesenheit des Zeugen verdrängt. Im dritten Teil des Buches (Perspektiven der Zeugenschaft) werden Gegenmodelle zu diesem lange Zeit dominanten Modus der testimonialen Autorisierung „nach Auschwitz“ skizziert. Die drei vorgestellten Modelle lösen sich bis zu einem gewissen Grad von der Figur des überlebenden bzw. toten Opfers, das den ersten Modus testimonialer Autorisierung bestimmt. Sie sind deshalb in anderer Weise auf die Zukunft der Zeugenschaft ausgerichtet, d.h. auf die Frage, ob und in welcher Form die Erinnerung an die Shoah lebendig gehalten werden kann, nachdem die „lebendige Erinnerung“ daran verschwunden ist. An Peter Weiss, Art Spiegelman und Imre Kertész werden drei Autorisierungsmodelle untersucht, die je unterschiedlich auf ihrem Abstand zur Erfahrung der Shoah beharren. Kertész spielt dabei eine besondere Rolle, weil er - im Gegensatz zu Weiss und Spiegelman - selbst Überlebender ist. Er konstruiert jedoch ein Modell von Zeugenschaft, das die fiktionale Seite innerhalb der testimonialen Dialektik betont. Auf diese Weise reformuliert Kertész die Beziehung von Fiktion und Erfahrung in einer Weise, die Wiesels Modell des Zeugen - den „Spiegeln der Zeugenschaft“ - diametral entgegensteht. Polanski, Szpilman und die Redundanz des Zeugen Die Oscarverleihung an Adrien Brody, d.h. die Entscheidung, ihn für seine Rolle in Polanskis T HE P IANIST als besten Hauptdarsteller auszu- 50 zeichnen, war 2003 durchaus umstritten. Das hatte weniger mit seiner schauspielerischen Qualität zu tun als damit, dass Brodys Rollenfigur vielen Kritikern als der eigentliche Schwachpunkt des Films erschien. Zum Beispiel schrieb David Denby im N EW Y ORKER , dass die Filmversion des Musikers W adys aw Szpilman ein recht zweidimensionaler Charakter sei, a poorly defined compound of talent and fear, an artist without anything on his mind but art, and as he gets knocked from pillar to post, he interests us less and less. 54 Es stimmt, dass T HE P IANIST Szpilman als unpolitischen Musiker zeigt, der wenig Interessen neben der Kunst hat. Er übersteht das Warschauer Getto mehr durch Glück als durch heldenhafte Taten und verbringt weite Strecken der Geschichte im Versteck. Dort ist er zu äußerster Zurückhaltung gezwungen, damit niemand ihn entdeckt. Polanski setzt weder innere Monologe noch Traumsequenzen oder andere narrative Mittel ein, um die innere Verfassung des Musikers nach außen zu kehren. So gesehen lässt er ihn in einem Zustand der Bewusstlosigkeit. „That he’s a non-hero“, schreibt Denby über diesen Szpilman „is fine. But an unconscious man cannot be a great movie character.“ 55 Der Filmkritiker argumentiert nicht gegen die Wahrscheinlichkeit der gezeigten Art des Überlebens oder gegen den Realismus der Charakterzeichnung. Er bezweifelt lediglich ihre dramaturgische Tauglichkeit für den Film: „Its protagonist lacks depth, and the theme of survival through hiding is, by its very nature, redundant.“ 56 Wenn man T HE P IANIST mit Szpilmans Buchvorlage von 1946 vergleicht, fällt jedoch auf, dass Polanski und sein Drehbuchautor Ronald Harwood gerade die Elemente des Textes betonen, die Denby im Film dramaturgisch unzulänglich findet: Sie reduzieren den aktiven Anteil des Pianisten am Geschehen und verringern den Stellenwert, den seine Popularität als Musiker für sein Überleben besitzt. Diese Bearbeitung erfüllt einen narrativen Sinn, der Denby entgeht. Wie ich im Folgenden zeigen werde, gehorcht sie einer Dramaturgie der Zeugenschaft, die Szpilman zum dominanten „Fokalisator“ des Films macht und diese Eigenschaft der Figur besonders hervorhebt. Mit Mieke Bal verstehe ich den focalizor als narrative Instanz, die den Blick auf das erzählte Ereignis lenke - ohne dass sie mit dem narrator oder dem actor der Erzählung zusammenfallen müsse. 57 In T HE P IANIST sind die drei Instanzen weitgehend getrennt. Es ist meines Erachtens diese Trennung, welche die Hauptfigur für Denby redundant macht. Ihren dramaturgischen Sinn gewinnt 54 Denby 2003, 90. Zu einer Kritik an Brodys Rollenfigur vgl. auch Bradshaw 2003 u. Travers 2003. 55 Denby 2003, 90 56 Denby 2003, 90. 57 Vgl. Bal 2004, 19-31. 51 sie aber darin, dass eine subtile Grenze der Erfahrbarkeit und der Darstellbarkeit in Polanskis Holocaust-Darstellung eingeführt wird. Die Filmerzählung wird über die passive Position des überlebenden Zeugen Szpilman vermittelt: Sie lenkt den Blick der Zuschauer vom Überleben auf das tödliche Geschehen und bestimmt den Ausschnitt, jenseits dessen nichts mehr bebildert wird. Im Vergleich zu S CHINDLER ’ S L IST bedeutet dies, dass Polanskis Film vor einer Darstellung der Konzentrationslager Halt macht und dass er keine Erfolgsgeschichte des Überlebens erzählt, wie der Regisseur Stanley Kubrick seinem Kollegen Spielberg vorgeworfen hat: „That was about success, wasn’t it? The Holocaust is about six million people who get killed. Schindler’s List was about six hundred who don’t.“ 58 Die Bearbeitungsstrategien von Polanski und Harwood - den Handlungsanteil des Pianisten und die Rolle der Musik für sein Überleben zu verringern - lassen sich an Szpilmans Beziehung zu dem jüdischen Polizisten Itzak Heller (im Film gespielt von Roy Smiles) exemplarisch belegen. In seiner Figur vereinigen der Drehbuchautor und der Regisseur verschiedene Autoritätspersonen, die die Buchvorlage weitgehend anonym lässt. Als W adys aws Bruder Henryk (Ed Stoppard) wegen fehlender Arbeitspapiere verhaftet wird, kann der Musiker ihn in der Filmversion relativ einfach befreien. Er bittet seinen Bekannten Heller darum, Henryk gehen zu lassen. Nach einigem Zögern tut ihm der Polizist diesen Gefallen. Im Buch stellt sich Henryks Rettung ungleich aufwendiger dar: „Ich beschloss, ihn um jeden Preis freizubekommen“, schreibt Szpilman: Obwohl ich allein auf meine Popularität als Pianist zählen konnte, die Papiere hatte ich selber nicht in Ordnung. Durch eine Reihe von Kordons, gepackt und wieder losgelassen, drang ich bis zum Gebäude des „Arbeitsamtes“ vor. 59 Szpilman beschreibt die chaotischen Verhältnisse vor dem Gebäude und die Menschenmenge, durch die er sich kämpfen muss: „Mit Mühe schaffte ich es bis zum stellvertretenden Arbeitsamtdirektor vorzudringen.“ Dort erbettelt der Musiker die Zusage, dass „Henryk noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein würde.“ 60 Im Film verweilt Szpilman vor dem „Arbeitsamt“ bis er Heller - mehr oder weniger zufällig - sieht; das Buch beschreibt ihn hingegen in einer be- 58 Zit. nach Cocks 2004, 157. Kubrick hatte in den frühen Neunzigern selbst einen Film über die Shoah geplant: A RYAN P APERS , eine Verfilmung von Louis Begleys Roman W ARTIME L IES (1991). Als S CHINDLER ’ S L IST 1993 in die Kinos kam, gab Kubrick diesen Plan auf. 59 Szpilman 2004, 75-76. 60 Szpilman 2004, 76. 52 schwerlichen Aktion und bezieht den Erfolg des Unternehmens primär auf seine Popularität als Musiker. Ein zentrales Ereignis in Polanskis Film ebenso wie im Buch ist die Deportation von Szpilmans Familie. W adys aw muss hilflos zusehen, wie seine Eltern und seine Geschwister mit unzähligen anderen Juden in Güterwagen gepfercht und abtransportiert werden. „Das alles geht auf Schmelz! “, hört Szpilman einen Polizisten sagen. 61 Bei Polanski wird er vor diesem Ende bewahrt, weil Heller ihn, ohne erkennbaren Grund, aus der Menge zieht. Im Buch ist Szpilmans Rettung klar motiviert. Wieder hilft ihm seine Bekanntheit: Wir hatten etwa die Hälfte der Wagen hinter uns gebracht, als ich plötzlich jemand rufen hörte: „Guck mal! Guck doch mal! Szpilman! “ Eine Hand packte mich am Kragen, und ich wurde aus dem Polizeikordon hinausgeschleudert. 62 Indem Polanski und Harwood die anonymen Helfer des Pianisten in der Figur Hellers personalisieren, blenden sie die Musik als möglichen Grund für sein Überleben fast vollständig aus: Ihr Szpilman wird durch Zufall, vielleicht aus Freundschaft, vor der Deportation gerettet - keinesfalls aber durch eigene Leistung. So schmälern Polanski und Harwood den Eindruck, dass W adys aws Überleben in seinem Talent angelegt sei. Vor allem aber zeigen sie, dass überlebende Opfer der Shoah die Ausnahme von der Regel sind: „Loro sono la regola“, schreibt Primo Levi über die Toten, „noi [die Überlebenden] l’eccezione [Sie sind die Regel, wir die Ausnahme].“ 63 Allgemein lässt sich sagen, dass die Filmbearbeitung von Szpilmans Buchvorlage jenen Szenen mehr Gewicht gibt, die dem Pianisten eine passive Zeugenrolle zuweisen. Er bleibt abgeschieden von den Ereignissen, die er beobachtet: versteckt hinter Fenstern oder, bei der Deportation seiner Familie, zur Seite gedrängt durch die jüdische Polizei. 64 Diese Marginalisierung ist sowohl Möglichkeitsbedingung, insofern sie sein Überleben sichert, als auch Grenze einer Erzählung aus Szpilmans Perspektive. Die (Film-)Geschichte seiner Eltern und Geschwister endet, nachdem sie in einen Güterwagen gesperrt wurden, den die Deutschen von außen verschließen. T HE P IANIST bebildert nicht, was weiter mit ihnen geschieht. Der Film, und damit die Zuschauer, bleiben bei Szpilman. Trotzdem entsteht kein Zweifel daran, dass der Rest seiner 61 Vgl. Szpilman 2004, 104. In Polanskis - überwiegend englischsprachigem - Film wirken diese Worte (auf Englisch) noch zynischer, da „off they go to the melting pot“ die US-amerikanische Leitmetapher einer kulturellen Assimilation evoziert, die hier aufs äußerste negiert wird. 62 Szpilman 2004, 103. 63 Levi 2003, 64. 64 In den Ghettos setzten die Nationalsozialisten einen aus Juden bestehenden „Ordnungsdienst“, die sogenannte jüdische Polizei ein. 53 Familie ermordet wird. Ihre Vernichtung schreibt sich dem Film als Abwesenheit ein, z.B. in einer Aufnahme, die über den menschenleeren „Umschlagplatz“ verstreute Koffer zeigt; oder - gleich anschließend - in der Sequenz, in der Szpilman allein durch das geräumte Ghetto geht. Tränen laufen sein Gesicht herunter, er scheint verloren und orientierungslos. Das einsame (Über-)Leben des Musikers, das in dieser Sequenz bebildert wird, verweist auf die Ermordung seiner Familie und - im größeren Kontext - auf die Vernichtung der europäischen Juden: „I just saved your life“, sagt Heller zu Szpilman, als er ihn aus der Mitte der Menschen zerrt, die zum Abtransport bestimmt sind. Der Satz von der Rettung verweist ex negativo auf den Massenmord, weil nur ein Einzelner am Leben bleibt. Abgesehen von W adys aw lässt T HE P IANIST , der Biographie des Musikers entsprechend, die gesamte Familie Szpilman sterben. Die Einsamkeit des Überlebens, die seine Ausnahmestellung in Bezug auf die Shoah unterstreicht, wird auf diese Weise noch einmal betont - auch weil die Familie des Pianisten während der ersten fünfzig Minuten von Polanskis Film als Sympathieträger für die Zuschauer aufgebaut wurde. T HE P IANIST funktioniert in dieser Hinsicht anders als etwa S CHINDLER ’ S L IST . In jenem Film überleben „[die] Protagonisten, während Figuren minderen Identifikationsgrades geopfert werden“, schreibt Sven Kramer: Die Inszenierung einer solchen Opferlogik konstruiert ein Bild von den Lagern, in dem der Tod einem dramaturgischen Kalkül unterliegt. Er ereilt gerade nicht diejenigen, die dem Zuschauer lieb geworden sind. 65 Freilich lässt sich eine solche Kritik auch an T HE P IANIST üben, insofern die Hauptfigur des Films überlebt. Die Deportation der Familie Szpilman sorgt aber für eine Destabilisierung dieser narrativen Logik. Beispielsweise ist W adys aws Beziehung zu seinem Bruder Henryk ein Thema, das den ersten Teil des Films prägt. Dann wird der Bruder abtransportiert und nie mehr erwähnt. Seine Deportation wirkt umso schockierender, als er der Familie freiwillig zum „Umschlagplatz“ gefolgt ist. Die Selektion hatte ihn verschont. Innerhalb der narrativen Logik, die T HE P IANIST entfaltet, kann man Henryk als ein Double seines Bruders begreifen, das an dessen Stelle untergeht. Polanskis Film kennt viele Szenen, in denen das „Schicksal“ von anderen ein Gegenbild zur jeweiligen Rettung des Musikers zeichnet. Mit Ausnahme von Henryk handelt es sich um Nebenfiguren, die durch bestimmte Eigenschaften parallel zu Szpilman gesetzt werden. Auf diese Weise macht der Film deutlich, dass das, was ihnen angetan wird, auch den Pianisten treffen kann. Beispielsweise hört Szpilman in einem seiner Verstecke deutsche Befehle vor der Wohnungstür: „Kommen Sie raus! Wir wissen, dass Sie drin sind.“ Er will sich bereits 65 Kramer 1999, 13-14. 54 in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster stürzen, als die Stimmen wieder leiser werden. Szpilman blickt hinunter auf die Straße: Die Deutschen haben zwei Männer festgenommen, die ihm ähneln und die in einer Nebenwohnung versteckt waren. Wie diese Szenen (die Verhaftung der Nachbarn und Henryks Deportation) beispielhaft zeigen, verwendet T HE P IANIST eine Erzählstrategie der negativen Dopplung, die fast jeder Rettung Szpilmans die Gewissheit des Todes entgegenstellt. Sie verhindert, dass der Film nur die Erfolgsgeschichte eines Überlebens (im Sinne Stanley Kubricks) erzählt. Über die Betrachterposition Szpilmans, der in vielen Szenen des Films aus einem Fenster blickt, ist die Strategie der negativen Dopplung an die Darstellungsweise gebunden, die ich Dramaturgie der Zeugenschaft genannt habe. Die testimoniale Dimension seiner Dramaturgie betont T HE P IANIST nicht erst ab dem Zeitpunkt, ab dem Szpilman sich vor allem im Versteck und hinter Fenstern, befindet. Die Anwesenheit von Augenzeugen wird schon in den ersten Szenen des Films reflektiert, etwa beim Zwangsumzug der Juden ins Warschauer Ghetto. Szpilman hat während des Umzugs für einen Augenblick Zeit, sich mit Dorota (Emilia Fox) zu unterhalten - der Schwester eines Musikerkollegen, die am Straßenrand steht. „I didn’t want to come“, sagt die nicht-jüdische Frau, „I didn’t want to see all this, but I… I couldn’t stop myself.” Wie W adys aw sucht sie sich die Zeugenrolle nicht aus; sie fällt ihr als innerer Zwang zu. Dorota ist hier so marginalisiert und passiv wie der Musiker im weiteren Verlauf des Films. Zwischen ihrer Subjektposition und der Subjektposition Szpilmans gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied: Ihre Zuschauerrolle ist nicht gefährdet. T HE P IANIST unterstreicht die Differenz der beiden Zeugen dadurch, dass er die Dramaturgie der Zeugenschaft an dieser Stelle von der Strategie der negativen Dopplung entkoppelt. Während Szpilman stets Ereignisse beobachtet, die spiegelbildlich auf ihn ausgerichtet sind, ist die Kluft zwischen der Zeugin und dem Bezeugten schon allein deshalb deutlich, weil sie sich - anders als Szpilman - nicht verstecken muss. Dorota steht für jeden sichtbar am Straßenrand, während W adys aw seine Rolle als Zeuge nur erfüllen kann, wenn er selbst nicht wahrgenommen wird. Dorota beobachtet ein Geschehen, das man ihr nicht zugedacht hat; Szpilman hingegen wird zum Zeugen für Dinge, die auch ihn treffen könnten und die andere an seiner Stelle erleiden: z.B. die Deportation des Bruders oder die Verhaftung der Nachbarn. Die dramaturgische „Redundanz“, die Denby der Beobachterposition und dem Leben im Versteck vorwirft, ist Grundlage von Szpilmans Überleben. Es macht ihn zu einem hilflosen Betrachter an der Grenze zwischen Leben (hinter) und Tod (vor den Fenstern seiner Verstecke). Abbildung 1 zeigt die Schwellenposition Szpilmans mit großer Deutlichkeit, insofern auf ihr zugleich der Zeuge und - in der Spiegelung - die Welt zu sehen sind sowie das Fenster, das beide voneinander trennt. 55 A BB . 1: Die Trennung von Zeuge und Welt Die „Redundanz“ der Beobachterposition verlagert den Fokus auf die beobachteten Ereignisse. Über Szpilman lenkt der Film unseren Blick auf eine absolut tödliche Welt, die - wie die Doppelstruktur in Erinnerung ruft - auch dem Musiker zugedacht ist. Wenn er die Verhaftung seiner Nachbarn beobachtet, wird er zum Zeugen eines Untergangs, der genauso gut der eigene sein könnte. In solchen Szenen übernimmt T HE P IANIST , ebenso wie bei historischen Ereignissen (z.B. dem Bau der Ghettomauer), den marginalisierten Blick des Zeugen. Diese Sequenzen bestehen vor allem aus Einstellungen, deren subjektive Perspektive bereits durch den Kamerawinkel markiert wird: Jede „Fensterschau“ des Films ist stark obersichtig, da das Setdesign Szpilmans Betrachterposition erhöht. Keine Wohnung des Musikers liegt ebenerdig. Polanski schneidet ihn als Referenzpunkt der subjektiven Einstellungen vor und zwischen diese Aufnahmen. Auch wenn der Film, wie beim Mauerbau oder der Deportation Henryks, die Subjektive anschließend verlässt, respektiert er noch die Grenzen von Szpilmans Blickfeld: Die Darstellung der Ereignisse bleibt auf das beschränkt, was der überlebende Zeuge beobachten könnte. Dieses Zeugnis ist notwendigerweise unvollständig: Zwischen dem Pianisten und der Erfahrung des Untergangs stehen die Fenster der Verstecke, die versiegelten Türen des Güterzugs und die fest geschlossene Reihe des jüdischen Ordnungsdienstes, der ihn von seiner Familie trennt. Insofern ist der Überlebende, um mit dem italienischen Schriftsteller Primo Levi zu sprechen, kein „wahrer Zeuge“ der Shoah. 56 Die Untergegangenen und die Geretteten (Primo Levi) Levi, der 1944 nach Auschwitz deportiert wurde, hat wiederholt auf die paradoxe Situation der Holocaust-Zeugenschaft hingewiesen; am eindringlichsten in dem Buch, das zu seinem letzten wurde: I S OMMERSI E I S ALVATI (Die Untergegangenen und die Geretteten [1986]). Darin findet sich eine Passage, die zu den am häufigsten zitierten Sätzen über Zeugenschaft „nach Auschwitz“ zählt: „Lo ripeto“, schreibt Levi, non siamo noi, i superstiti, i testimoni veri. […] Noi sopravvissuti siamo una minoranza anomala oltre che esigua: siamo quelli che, per loro prevaricazione o abilità o fortuna, non hanno toccato il fondo. Chi lo ha fatto, chi ha visto la Gorgone, non è tornato per raccontare o è tornato muto; ma sono loro, i ‘mussulmani’, i sommersi, i testimoni integrali, coloro la cui deposizione avrebbe avuto significato generale. [Ich wiederhole: Nicht wir, die Überlebenden, sind die wahren Zeugen. ... Wir Überlebende sind eine anormale und geringe Minderheit: Wir sind jene, die durch Missbrauch, durch Fähigkeit oder Glück den Grund nicht berührt haben. Wer das getan hat, wer die Gorgo gesehen hat, ist nicht zurückgekehrt um zu berichten, oder er ist stumm zurückgekehrt; aber sie, die ‚Muselmänner’, die Untergegangenen sind die vollständigen Zeugen, deren Aussage eine allgemeine Bedeutung gehabt hätte]. 66 Für ihre Opfer hat die nationalsozialistische „Endlösung“ eine Welt geschaffen, die den Tod zur Regel erhebt. In ihr werden Gerettete (salvati) wie Levi oder W adys aw Szpilman zu der absoluten Ausnahme. Anders als die Untergegangenen (sommersi) haben sie den tiefsten Punkt des Abgrunds nie erreicht. Allerdings können jene, die den Grund - wie Szpilmans Bruder - berührt haben, ebenso wenig davon berichten: „Chi lo ha fatto, chi ha visto la Gorgone, non è tornato per raccontare, o è tornato muto.“ Wer die Shoah bis auf den Grund durchlitten hat wurde in diesem Prozess, wenn nicht körperlich vernichtet, so doch zum Schweigen gebracht. Deshalb sind die wahren bzw. vollständigen Zeugen - die testimoni veri oder integrali - paradoxerweise diejenigen, die niemals Zeugnis abgelegt haben. Mit dieser Einschätzung negiert Levi keineswegs die Möglichkeit der Holocaust-Zeugenschaft. Vielmehr leitet er aus ihr die Verpflichtung ab, auch das zu bezeugen, was unbezeugbar bleibt; unbezeugbar insofern, als es sich dabei um Erfahrungen handelt, auf die sich nur jene beziehen können, denen die Erfahrungen fehlen. 67 Wie Levi berichten sie an Stelle der Untergegangenen: „Parliamo noi in loro vece; per delega [Wir sprechen an ihrer 66 Levi 2003, 64. Interpretationen dieser Passage finden sich z.B. bei Felman/ Laub 1992, Hartman 1996 und Agamben 1998. 67 Den Begriff des Unbezeugbaren (intestimoniabile) entlehne ich Giorgio Agamben, der ihn in Q UEL CHE RESTA DI A USCHWITZ als notwendige Lücke im Zeugnis der Überlebenden definiert. Vgl. Agamben 1998, 31-34. 57 Stelle, per Vollmacht].“ 68 Jeder Darstellung der Shoah, selbst dem Zeugnis der überlebenden Opfer, eignet deshalb eine Lücke. Sie lässt sich nur mit Hilfe der Imagination zum Ausdruck bringen. Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész hat diesen Umstand in essayistischen Texten ebenso wie in Romanen betont. „Das Konzentrationslager“, notiert er z.B. in G ÁLYANAPLÓ (Galeerentagebuch [1992]), „ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht - und vielleicht sogar dann am wenigsten -, wenn wir es erleben.)“ 69 Wie ich an Levis Darstellung der Zeugenschaft zeigen möchte, kommt die Imagination selbst dann ins Spiel, wenn die testimoniale Lücke ausdrücklich als Lücke in Anspruch genommen wird. Levi richtet sein Zeugnis über die Doppelstruktur von sommersi und salvati auf das Unbezeugbare aus. Das erlaubt ihm, die fehlende Erfahrung der Geretteten in der Gestalt des Untergegangenen, des - im Lagerjargon - „Muselmanns“ zu verankern. Der Ausdruck „Muselmann“ bezeichnete, zumindest in Auschwitz, den „sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling“, so Jean Améry: „Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen.“ 70 In seinem Erstlingswerk S E QUESTO È UN U OMO beschreibt Levi den Muselmann als ausgehöhltes Wesen, in dessen Augen man nicht die Spur eines Gedankens lesen könne. Er spricht den Muselmännern alle Fähigkeit der Beobachtung und des Erinnerns ab: Si esita a chiamarli vivi: si esita a chiamar morte la loro morte, davanti a cui essi non temono perché sono troppo stanchi per comprenderla [Man zögert, sie lebend zu nennen: man zögert, ihren Tod als Tod zu bezeichnen, vor dem sie sich nicht fürchten, weil sie zu müde sind, ihn zu begreifen]. 71 In Levis Darstellung fehlt die Erfahrung des Untergangs auch jenen, die sie machen. Die vollständige Zeugenschaft der Shoah - die testimonianza integrale - ist also doppelt unmöglich. Sie ist es nicht nur, weil niemand über den eigenen Tod berichten kann, sondern auch, weil die Todeserfahrung den Untergegangenen fremd bleiben musste. Die traumatische Struktur des Holocaust-Erlebnisses hatte zur Folge, dass sich seine Realität dem Bewusstsein immer mehr entzog, je näher man 68 Levi 2003, 65. 69 Kertész 1999, 253. 70 Améry 1977, 28. Ausgehend von den Schriften Überlebender hat Mona Körte versucht, eine „Phänomenologie des Muselmanns“ zu entwickeln: „er hat seinen idiosynkratischen Gang, eine selektive Empfänglichkeit für Reize, die mit dem Essen zusammenhängen, ein eigenes reduziertes, jargonartiges Sprechen, auf das allmählich Verstummen und Vergessen, er hat seine eigenen Bewegungen, eine eigene Art sich zu freuen, sein eigenes, anderen unverständlich langsames Tempo [...]. Selbst sein Leichnam unterscheidet sich von dem anderer Häftlinge. Vor allem seine (aufgerissenen) Augen werden wohl in Ermangelung eines adäquaten Ausdrucks oft als ‚lebendig-tot’ [...] beschrieben“ (Körte 2006, 106). 71 Levi 1976, 113. 58 dieser Wirklichkeit kam: „In trauma“, schreibt Cathy Caruth, „the greatest confrontation with reality may also occur as an absolute numbing to it.“ 72 Insofern wäre das Erreichen des Abgrunds - für Levi die zentrale (Nicht-)Erfahrung der testimoni integrali - ein Treffen mit dem Realen im Sinne Jacques Lacans. Für den französischen Psychoanalytiker handelt es sich dabei wesentlich um eine rencontre manquée. Das liegt daran, dass das Reale dem in eine symbolische Ordnung eingebundenen Subjekt nur als Falte in dieser Ordnung begegnet. Es ist das, was sie nicht zu assimilieren vermag: der Überschuss, der von einem Ding bliebe, würde man seine Repräsentation, Beschreibung oder Interpretation abziehen. 73 Levis Darstellungen des Muselmanns lassen sich als Versuch lesen, diesem unbegreiflichen Realen eine Gestalt zu geben. In seinen Schriften verkörpern die Muselmänner eine Erfahrung, welche die Grenze des Menschlichen überschreitet. Bei Levi gehören sie zur anonymen Masse der non-uomini che marciano e faticano in silenzio, spenta in loro la scintilla divina, già troppo vuoti per soffrire veramente [Nicht-Menschen, die in Stille marschieren und schuften, erloschen in ihnen der göttliche Funke, schon zu ausgehöhlt, um wirklich zu leiden]. 74 Der Muselmann ist nur noch Hülle (involucro) und hat seinen Namen verloren wie der Häftling in S E QUESTO È UN U OMO , den jeder Null Achtzehn nennt, come se ognuno si fosse reso conto che solo un uomo è degno di avere un nome, e che Null Achtzehn non è più un uomo [als ob jedem bewusst wäre, dass nur ein Mensch würdig ist, einen Namen zu tragen; und dass Null Achtzehn kein Mensch mehr ist]. 75 Null Achtzehn, schreibt Levi an dieser Stelle weiter, würde den Eindruck erwecken, innerlich leer zu sein: „di essere vuoto interiormente“. 76 Wie alle Untergegangenen hat ihn die nationalsozialistische Vernichtungspolitik aus der menschlichen Ordnung gedrängt: an jenen Ort, an dem das Denken das Reale verpasst. „Le réel“, heißt es bei Lacan, „est [...] ce qui revient toujours à la même place - à cette place où le sujet en tant qu’il cogite, où la res cogitans ne le rencontre pas.“ 77 Das Bild des ausgehöhlten Muselmanns, das Levis Schriften durchzieht, drückt nicht das tatsächliche Empfinden des Muselmanns aus, insofern er gerade deshalb aus dem Menschlichen fällt, weil ihm die res cogitans geraubt wurde. Er kann sich - als Einbruch des Realen - nicht selbst 72 Caruth 1994, 6. 73 Vgl. Lacan 1990, 64-65. 74 Levi 1976, 113. 75 Levi 1976, 50. 76 Levi 1976, 50. 77 Lacan 1990, 59. 59 bezeugen. Die von Levi beschriebene Leere verweist deshalb auch auf die Imagination des Überlebenden, d.h. auf die Vorstellung bzw. Nicht-Vorstellung, die andere von der Situation des Muselmanns haben. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass sich die traumatische Realität, die der überlebende Zeuge an den Muselmann bindet, nicht in der Leere des „Ausgehöhlten“ bewahren lässt. Die Grenze zwischen den Untergegangenen und den Geretteten bleibt nicht so klar gezogen, wie es ihre Gegenüberstellung bei Levi bisweilen suggeriert: Auch die Überlebenden waren dem Trauma der Entmenschlichung ausgesetzt, auch sie erlebten Dinge, die - während sie stattfanden - nicht an ihr Bewusstsein dringen konnten. In Hinblick auf diese Traumatisierung haben Shoshana Felman und Dori Laub die Shoah als ein „Ereignis ohne Zeugen“ (event without witness) beschrieben. 78 Nach Freud überschwemmt das traumatische Ereignis den seelischen Apparat mit einer solchen Reizmenge, dass dessen Wahrnehmungs- und Aufarbeitungsmechanismen außer Kraft gesetzt sind. 79 Über die Doppelstruktur von sommersi und salvati bindet Levi die (Nicht-)Erfahrung, die beide Seiten dieser Gleichung machen, an die Untergegangenen. Ausgehend von der historischen Realität des Muselmanns figurieren sie in Gestalt der testimoni integrali das unbezeugbare Reale. Der Untergegangene wird keineswegs dadurch zum vollständigen Zeugen, dass er ein integrales Wissen der Shoah besäße; und er wird es nicht nur, weil der Tod das Wesen des Lagers darstellt. Vielmehr erlaubt gerade seine Abwesenheit, ihn als testimone integrale der Shoah zu beschreiben. Denn diese Abwesenheit spiegelt die notwendigen Lücken der Holocaust-Zeugenschaft, ihr Reales im Sinne Lacans. Das testimoniale Paradox, das Levi aufstellt, lässt sich wie folgt reformulieren: Der wahre Zeuge der Shoah ist der abwesende Zeuge - ein Singular, der insofern gerechtfertigt ist, als er auf eine Realität verweist, in dem jede Individualität vernichtet wurde: „Tutti i mussulmani che vanno in gas hanno la stessa storia, o, per meglio dire, non hanno storia [Alle Muselmänner, die ins Gas gehen, haben die gleiche Geschichte, oder, besser gesagt, haben keine Geschichte].“ 80 Wer Zeugnis für die Shoah ablegen will, muss sich zu dieser Abwesenheit verhalten, weil sie - als unbezeugbarer Ort der wahren Zeugenschaft - zum Zentrum 78 Vgl. Felman/ Laub 1992, 75 u. 211. 79 Vgl. Freud 2000c, 239 u. Freud 2000d, 516. 80 Levi 1976, 113. Auf diese Weise begründet, trifft sich der Singular „der abwesende Zeuge“ mit Lacans Definition des Realen, das immer an den gleichen Ort zurückkehrt. Vgl. Lacan 1990, 59. Insofern verweist der Singular noch einmal darauf, dass die Abwesenheit nie von jenen aus gedacht werden kann, die tatsächlich abwesend sind. Der Singular soll aber keinesfalls suggerieren, dass die Lagererfahrung für jeden, unabhängig von Faktoren wie Geschlecht oder Alter, gleich gewesen sei. 60 der testimonialen Autorität wird. Entsprechend schreibt Agamben in seiner Interpretation von Levis Paradox, dass „la testimonianza vale essenzialmente per ciò che in essa manca; contiene, al suo centro, un intestimoniabile, che destituisce l’autorità dei superstiti [Die Zeugenschaft gilt wesentlich für das, was in ihr fehlt; in ihrem Zentrum enthält sie ein Unbezeugbares, das den Überlebenden die Autorität nimmt].“ 81 Aus diesem Autoritätsverlust entsteht eine Notwendigkeit zur Autorisierung des eigenen Zeugnisses. Levi nimmt diese Beglaubigung auf dreifache Weise vor. Zunächst betont er, dass die Überlebenden im Auftrag der Toten (per delega) sprächen. Laut Agamben ist eine solche Autorisierung unmöglich, weil die Muselmänner - nach Levis eigener Beschreibung - schon vor ihrem Tod „abwesend“ waren: Parlare di una delega […] non ha qui alcun senso: i sommersi non hanno nulla da dire né istruzioni o memorie da trasmettere. Non hanno ‘storia’ né ‘volto’ e tanto meno ‘pensiero’ [Es macht keinen Sinn hier von einer Vollmacht zu sprechen: Die Untergegangenen haben nichts zu sagen und weder Anweisungen noch Erinnerungen weiterzugeben. Sie haben weder ‚Geschichte’ noch ‚Antlitz’ oder gar ‚Gedanken’]. 82 Dieser Problematisierung der Vollmacht bzw. des Auftrags ist nur insofern zuzustimmen, als Levi (aus den genannten Gründen) nicht ihr „wahres Zeugnis“ wiedergeben kann, sondern „per conto di terzi [im Namen eines Dritten]“ spricht, über Dinge „non sperimentate in proprio [die er nicht selbst erlebt hat].“ 83 Wie ich zu zeigen versucht habe, bleibt noch die bewusste Inanspruchnahme der testimonialen Lücke an die Vorstellungskraft des überlebenden Zeugen gebunden: Auch die „Leere“ des Muselmanns ist eine Zuschreibung von außen, keine Bezeugung durch sich selbst. Trotzdem verkennt (oder ignoriert) Agamben die Beziehung, die sommersi und salvati bei Levi eingehen. Die Autorisierung „per delega“ muss ihre Berechtigung nämlich nicht aus dem Unbezeugbaren gewinnen, auf das sie ausgerichtet ist. Dass Agamben das anders sieht, hängt damit zusammen, dass er Levis Konzept der Zeugenschaft in ein größeres sprachphilosophisches Projekt einreiht: Bei ihm wird das Zeugnis auf die Erscheinung des Unbezeugbaren in der Sprache reduziert, auf die Beziehungen, die zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, dem vergesellschafteten Subjekt und dem entsubjektivierten Menschen - dem „nackten Leben“ - herrschen. 84 81 Agamben 1998, 31. 82 Agamben 1998, 32. 83 Levi 2003, 65. 84 Vgl. Agamben 1998, 106-107, 117 u. 127-128. Agamben wird häufig dafür kritisiert, dass er den Muselmann zum indifferenten Beispiel für ein sprachphilosophisches Problem mache, das - obwohl es im Rahmen einer Ethik „nach Auschwitz“ entwickelt wird - die Spezifizität „von Auschwitz“ letztlich leugne. Vgl. z.B. Hartman 2004, 104-108 sowie LaCapra 2004, 159-160 u. 187-192. 61 Bei Levi aber macht es durchaus Sinn, wenn sich der überlebende Zeuge „per delega“ autorisiert. Seine Vollmacht entsteht nicht aus dem Unbezeugbaren, sondern in der Ausrichtung auf das, was unbezeugbar ist. Diese Autorisierung wird - das ist der zweite Faktor in Levis Beglaubigung - durch die Nähe zum Geschehen gestützt. Zwar spricht der Überlebende über Dinge, die er nicht selbst erlebt hat, aber es sind „cose viste da vicino [aus der Nähe gesehene Dinge].“ 85 Das dritte Element, über das Levi die Zeugenschaft der überlebenden Opfer beglaubigt, ist ihre Einzelstellung. Mit anderen Worten ist es das Fehlen der „wahren Zeugenschaft“, das dem Zeugnis der Überlebenden Gewicht verleiht - vorausgesetzt, sie sprechen auch für die, die niemals für sich sprechen konnten. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Dimension der Autorisierung findet sich in Levis Bericht L A T REGUA (Die Atempause, 1963), der an die Ereignisse von S E QUESTO È UN U OMO anschließt. Dort wird von einem kleinen Jungen erzählt, den die Häftlinge Hurbinek nennen und der bald nach der Befreiung von Auschwitz stirbt. Ungefähr drei Jahre alt, hat er niemals zu sprechen gelernt und äußert - kurz vor seinem Tod - immer nur ein Wort, das niemand im Lager versteht. Es habe wie „mass-klo“ oder „matisklo“ geklungen, schreibt Levi: Nei giorni seguenti, tutti lo ascoltavamo in silenzio, ansiosi di capire, e c’erano fra noi parlatori di tutte le lingue d’Europa: ma la parola di Hurbinek rimase segreta. Non, non era certo un messaggio, non una rivelazione […]. Hurbinek morí ai primi giorni del marzo 1945, libero ma non redento. Nulla resta di lui: egli testimonia attraverso queste mie parole. [In den folgenden Tagen hörten wir alle schweigend zu, bemüht zu verstehen, und unter uns gab es Sprecher aller Sprachen Europas: aber das Wort von Hurbinek blieb geheim. Nein, es war sicher keine Botschaft, keine Offenbarung ... Hurbinek starb in den ersten Tagen des März 1945, frei aber nicht erlöst. Nichts bleibt von ihm: Er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte]. 86 Nur der Überlebende kann Zeugnis für die Untergegangenen ablegen; erst diese Einzelstellung erlaubt ihm, davon zu sprechen, dass diese sich durch ihn bezeugten. Dass Hurbinek keine Botschaft und keine Geschichte hat, die in den Worten des Überlebenden mitteilbar wäre, bedeutet nicht, dass dieser ohne Vollmacht spräche. Bei Levi autorisiert sich der testimoniale Auftrag gerade aus dem Versuch, die Sprachlosigkeit des Anderen zu verstehen, d.h. im „Lauschen“ der salvati auf die sommersi. Die Doppelstruktur von sommersi und salvati kennzeichnet auch jene Dramaturgie der Zeugenschaft, mit deren Hilfe T HE P IANIST seine Erzählung organisiert. Polanskis Film gibt dem Überlebenden eine privi- 85 Levi 2003, 65. 86 Levi 1978, 23-24. 62 legierte Beobachterposition, um den Blick auf die Untergegangenen zu öffnen. Er inszeniert sie wie umgekehrte Spiegelbilder des Geretteten; das heißt er betont auf der einen Seite ihre Verwandtschaft (als Brüder, als Flüchtlinge im Versteck, etc.). Zugleich aber setzt er ihr „Schicksal“ dem Überleben Szpilmans entgegen. Der räumlichen und ontologischen Nähe, die ihn zum Zeugen macht, bleibt diese Differenz als unbezeugbares Reales eingeschrieben. Der Film verdeutlicht sie, indem er die Grenzen von Szpilmans Erfahrung als Beschränkung seines Blickfelds ausspielt. Dabei verweist er auf die eigene mediale Verfasstheit. Die Distanz zwischen dem überlebenden Zeugen und den ihn spiegelnden testimoni integrali findet hier eine Entsprechung im Abstand der filmischen Darstellung zur undarstellbaren Realität. 87 Sehr deutlich ist diese Parallele in einer frühen Szene des Films: Die Szpilmans essen gemeinsam zu Abend, als ein Wagen voller SS-Männer auf der Straße hält. Sie löschen das Licht, ebenso wie die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses. Jenes wird von den Deutschen geräumt. Familie Szpilman beobachtet die Vorgänge aus den Fenstern ihrer Wohnung, die sich im vierten Stock befindet. Der Film übernimmt den erhöhten Blickwinkel: Er zeigt das Auto der Deutschen aus der Vogelperspektive. Während diese nach oben stürmen, verflacht auch der Neigungswinkel der Kamera. Es wird suggeriert, dass ihnen die Szpilmans mit Blicken folgen. In einer Wohnung, die - wie die mittlerweile waagrechte und zentral kadrierte Bildeinstellung anzeigt - parallel zum Appartement der Szpilmans liegt, geht das Licht an. Dort sitzt eine Familie, die ihnen ähnelt, am Abendtisch. Zusätzlich befinden sich vier deutsche Soldaten im Raum. Der Offizier befiehlt der Familie, aufzustehen. Ein alter Mann kann dem Kommando nicht nachkommen, da er im Rollstuhl sitzt. Die Deutschen werfen ihn aus dem Fenster. Der Film zeigt dieses Verbrechen ausschließlich aus Perspektive der Szpilmans. Er schneidet sie, wie bei den „Fensterschauen“ W adys aws, als Referenzpunkt der subjektiven Einstellung dazwischen. So reflektiert er den testimonialen Rahmen der Szene, das heißt die Anwesenheit von Zeugen. Die eigentliche Aktion spielt sich auf der anderen Seite ab, hinter dem gegenüberliegenden Fenster. Sie ist eine Umkehrung des Szpilmanschen Abendessens. Der Spiegelcharakter von Untergegangenen und Geretteten ist hier besonders augenfällig, weil der Fensterrahmen die Leinwand konturiert und nachzeichnet. Er fasst das Geschehen wie im Rahmen eines Spiegels oder Gemäldes (Abb. 2). 87 Es ließe sich freilich argumentieren, dass der Film die hier beschriebene Distanzierung bis zu einem gewissen Grad wieder einholt, insofern sie in einem geschlossenen Konzept filmischer Illusion ausgespielt wird, das letztlich die Darstellbarkeit jeder Realität behauptet. 63 Die Verwandtschaft von Fenster und Bild ist über die Metapher des finestra aperta tief in der westlichen Kunstgeschichte verwurzelt. 88 In vielen Filmen, am bekanntesten vielleicht in Alfred Hitchcocks R EAR A BB . 2: Das Fenster als „Leinwand“ W INDOW (1954), verweisen Fenster auf das Dispositiv des Kinos. Auch hat die Filmtheorie die bewegten Bilder auf der Leinwand mit abgelösten und zeitversetzten Spiegelbildern der Schauspieler verglichen. Auf diese Weise beschreibt André Bazin den ontologischen Status - die Pseudo-Präsenz - der projizierten Gestalten: Il est faux de dire que l’écran soit absolument impuissant à nous mettre en présence de l’acteur. Il le fait à la manière d’un miroir [...] au reflet différé, dont le tain retiendrait l’image. 89 Seit sich die Medienwissenschaft Lacans Überlegungen zum Spiegelstadium (stade du miroir) angeeignet hat, erscheint die Leinwand/ der Bildschirm zudem als Spiegel des Zuschauers. 90 88 In seiner Schrift D E P ICTURA (1435) beschreibt Leon Battista Alberti die Leinwand als „una finestra aperta per donde io miri quello che quivi sarà dipinta [ein geöffnetes Fenster, durch das ich erblicke was hier gemalt werden soll]“ (zit. nach Damisch 1987, 247). 89 Bazin 2002, 152. Zu den Spiegelmetaphern der „realistischen“ Filmtheorie siehe unten, S. 185-188 u. 203-208. 90 Im Spiegelstadium identifiziert sich das Kind mit seinem imaginären „Ich“ als einem Anderen. Diese Fehlwahrnehmung des eigenen Spiegelbilds bleibt grundlegend für die narzisstische Identifikation mit fremden Körperbildern, z.B. den Gestalten auf der Leinwand. Vgl. Lacan 1966, 90-95. Zur medientheoretischen Aneignung des stade du miroir vgl. v.a. Laura Mulveys Aufsatz V ISUAL P LEASURE AND N ARRATIVE C INEMA von 1972 (Mulvey 1998). 64 „Three metaphors“, schreibt Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack zusammenfassend, „have dominated film theory: the picture frame, the window, and the mirror.“ 91 Vor diesem Hintergrund übersetzt die Rahmung der Szene, welche Szpilman und seine Familie nur beobachten, die Spiegelbeziehung zwischen Untergegangenen und Geretteten - dass den einen geschieht, was auch den anderen zugedacht ist - in ein mediales Dispositiv. Der Eindruck des Medialen wird dadurch verstärkt, dass ihre Zeugenposition hinter dem eigenen und vor dem „Bildschirm“ des gegenüberliegenden Fensters die Rolle der Zuschauer im Kinosaal nachzeichnet. Über weite Strecken des Films lenkt Szpilman deren Blicke aus einer solchen Zeugenposition. Deshalb bietet sich der Musiker in besonderem Maße zur Identifikation an: Der Zuschauer wird, gleichzeitig mit ihm, zum Zeugen der medial vermittelten Ereignisse. Diese Gleichzeitigkeit ist nur deshalb möglich, weil der Film auf ein wichtiges Element der Zeugenschaft verzichtet: das Moment der Zeugenaussage. Die „Bewusstlosigkeit“, die der Kritiker David Denby dem Pianisten vorwirft, liegt auch daran, dass Polanski seiner Hauptfigur kein Voiceover einräumt und ihr auch keine Szene gibt, in der sie - z.B. als Erinnerung oder vor Gericht - Zeugnis ablegen könnte. Das Filmgeschehen erhält seinen testimonialen Rahmen ausschließlich unter dem Aspekt des Betrachtens, d.h. indem Szpilman zum Augenzeugen wird. Im Sinne Mieke Bals fokalisiert Szpilman das Geschehen. Er ist weder der actor, der handelt oder mit dem gehandelt wird - diese Stelle nehmen in Polanskis Film die Untergegangenen ein -, noch ist er der narrator, denn er kann nicht erzählen, was er sieht. 92 T HE P IANIST unterstreicht, dass diese testimoniale Dimension innerhalb der Erzählung fehlt. Der Film räumt dem Motiv des Schweigens einen prominenten Platz ein. Das fängt damit an, dass Szpilman ein Klavierspieler ist, der zur Stille verdammt ist. Sein Überleben im Versteck hängt geradezu davon ab, dass er keine Geräusche oder gar Musik macht. „No one knows you’re here, so keep as quiet as possible“, ermahnt ihn ein polnischer Fluchthelfer. Polanskis Film endet, auch das gehört zu seiner Dramaturgie der Zeugenschaft, mit der expliziten Abwesenheit eines Zeugnisses. Die vorletzte Szene zeigt Szpilman und einen befreundeten Musiker auf einer grünen Wiese vor den Toren Warschaus. „It was here, I’m certain of it“, sagt der Violinist. „It’s not here now“, antwortet der Klavierspieler. Sie reden über ein Übergangslager für deutsche Kriegsgefangene, aber im weiteren Sinn lassen sich ihre Worte auch auf die verschwindenden Spuren der Shoah beziehen. Der Violinist hat Wilm Hosenfeld (Thomas Kretschmann) bei den Gefangenen gesehen - ein Wehr- 91 Sobchack 1992, 14. 92 Zur Unterscheidung von focalizor, actor und narrator vgl. Bal 2004, v.a. 19-21 u. 28. 65 machtsoffizier, der dem flüchtenden Szpilman geholfen hat. W adys aw kommt zu spät, um diesen Dienst zu erwidern. Auf der leeren Wiese ist es ihm unmöglich, eine effektive, entlastende Zeugenaussage zu machen. Hosenfeld stirbt, wie die Schlusstitel des Films informieren, 1952 in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager. 67 Fiktionen der Zeugenschaft Literatur und Zeugenschaft (II) T HE P IANIST setzt die Differenz zwischen den Untergegangenen und den Geretteten, d.h. zwischen den „wahren“ aber abwesenden Zeugen der Shoah und den überlebenden Opfern, parallel zum Abstand des Films von der Wirklichkeit, auf die er sich bezieht. Indem Polanskis Film jede - dem Ereignis immer nachträgliche - Zeugenaussage innerhalb der Erzählung ausblendet, bindet er die mediale Differenz (zwischen der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation) an die Wahrnehmung des Geschehens zurück. Er schreibt sie - freilich im Rahmen eines konventionellen Illusionsrealismus - dem Blick des Überlebenden ein, wenn er die Grenzen von Szpilmans Erfahrung - den Bruch zwischen sommersi und salvati - externalisiert: Ein Beispiel für diese Externalisierung bzw. Materialisierung sind die Fenster, die den überlebenden Zeugen von den Szenen des Untergangs trennen wie den Kinozuschauer vom Geschehen auf der Leinwand. Polanskis Film verdeutlicht jedoch, dass ein Unterschied zwischen der primären Zeugenposition Szpilmans und der sekundären - medial vermittelten - Zeugenposition der Kinozuschauer besteht: Die „Leinwände“ im Film lassen sich durchbrechen. Wenn wir den Musiker zum ersten Mal sehen, sitzt er - durch eine Glaswand abgeschirmt vom Regieraum und der Welt - in einem Aufnahmesaal des Polnischen Rundfunks. Wenige Filmsekunden später erreicht der Krieg Warschau: Die Fenster des Studios zerbersten vom Druck der Explosionen. Polanskis Erzählung betont die Gefährlichkeit von Szpilmans Schwellenposition nicht nur, um Spannung aufzubauen. Wo unsere Rolle als Zuschauer gefestigt ist, kann der Musiker - so suggeriert der Film - jederzeit zum Teil des tödlichen Geschehens werden. Gerade das verleiht ihm seine Autorität als Zeuge. Diese Autorität basiert darauf, dass der mediale Abstand zwischen Wirklichkeit und Repräsentation in die „tatsächliche“ Wahrnehmungssituation des Holocaust-Zeugen zurückgeschrieben wird. Eine solche Bewegung kann testimoniale Effektivität nur dann erreichen, wenn der grundsätzliche Abstand zwischen Spielfilm und abwesender Wirklichkeit die Möglichkeit zur Zeugenschaft nicht suspendiert. Es geht hier um die Frage, ob T HE P IANIST lediglich darstellt, wie ein Opfer der Shoah zum überlebenden Zeugen wird, oder ob diese Zeugenschaft den ästhetischen Rahmen überschreitet: Wird Polanskis Film - obwohl es sich um einen Spielfilm handelt, der sechzig Jahre nach den Ereignissen gedreht wurde - selbst zum Holocaust- Zeugnis? Es ist eine Grundthese des vorliegenden Buches, dass auch Fiktionen testimoniale Effekte erzeugen können. Diese These möchte ich im Folgenden weiter ausführen. 68 In Bezug auf Theaterinszenierungen, die sich mit der Shoah auseinandersetzen, fragt Claude Schumacher, wie eine Performance von Zeugenschaft für fiktionale Texte möglich sei: „The staging of a theatrical text“, schreibt er, requires the physical presence of the actor, that ‘other’, that ‘impostor’ who was not in Auschwitz. How can that actor, who lives in the same world as us, who performs in the same space which we, the audience inhabit, how can that actor effectively convince us that he is a camp inmate, a Nazi officer, or even a survivor from those days. 1 Ungeachtet der Unterschiede zwischen theatralen und filmischen Darstellungsformen wird die Differenz zwischen Schauspieler und Zeuge, die Schumacher anspricht, auch in T HE P IANIST deutlich, allein wegen des Alters von Adrien Brody (geb. 1973), der 2002 einen ungefähr 30jährigen Mann zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt. Deshalb ist die Frage Schumachers in Bezug auf Polanskis Film ebenfalls gültig: Auf welche Weise ist es möglich, dass seine Dramaturgie der Zeugenschaft, die ich eben dargestellt habe, trotz wesentlicher Differenzen wie dem Unterschied zwischen Schauspieler und Zeuge, testimoniale Wirksamkeit entwickelt? Um diese - grundsätzliche - Frage zu beantworten, skizziere ich zunächst eine Theorie der Zeugenschaft, die ihre performative Dimension in den Vordergrund rückt, und beschreibe die Stellung von Zeugenschaft im Diskurs „nach Auschwitz“. In D ER LANGE S CHATTEN DER V ERGANGENHEIT (2006), einer Studie zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik seit der Jahrtausendwende, unterscheidet die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann vier testimoniale Grundtypen: den Zeugen vor Gericht, den historischen Zeugen, den religiösen Zeugen und den moralischen Zeugen. Diesen letzten Typus bezieht sie ausdrücklich auf die historische Situation „nach Auschwitz“, in der er entstanden sei. 2 Der moralische Zeuge werde zum Zeugen durch sein Überleben des Schreckens. Insofern bilde er eine „Personalunion von Opfer und Zeuge“, deren Autorität „allein in der unmittelbaren Verbindung zum Holocaust, in der unveräußerlichen körperlichen Erfahrung von Gewalt“ liege. 3 Obwohl aber seine Autorität als Zeuge mitunter aus dieser Erfahrung stamme, könne er 1 Schumacher 1998, 4. Schumachers Antwort besteht darin, dass Theater gerade deshalb zu einem Zeugnis für das Abwesende werden könne, weil es keine Realitätsillusion schaffe. Die Anwesenheit des Schauspielers unterstreiche die Abwesenheit des „wahren Zeugen“ und überantworte es damit der Vorstellungskraft des Zuschauers, eine testimoniale Verbindung zur abwesenden Wirklichkeit zu schaffen. Vgl. Schumacher 1998, 4-5. 2 Vgl. A. Assmann 2006, 88. 3 A. Assmann 2006, 90. 69 die Rolle dessen, der eine Botschaft vermittelt, erst nachträglich einnehmen: „Im Augenblick der Verfolgung, Erniedrigung und Ermordung haben traumatisierte Opfer keine Stimme, keinen Ort, keine Geschichte.“ 4 Die Nachträglichkeit, die Assmann hier beschreibt, bezieht sich nicht nur auf die traumatische Struktur des Ereignisses, die seine Erfahrung im Augenblick der Erfahrung verhindert. Es geht ihr mehr um das Fehlen einer Gemeinschaft, die den Zeugen zuhört und ihren Opfer-Status anerkennt. „Als hilfloser Insasse eines Konzentrationslagers“, schreibt der israelische Philosoph Avishai Margalit, dem Assmann das Konzept des moralischen Zeugen entlehnt, gelangt man sehr leicht zu der Überzeugung, das tausendjährige Reich [...] [sei] nun einmal der Lauf der Dinge. Das Machtgefälle zwischen Täter und Opfer bestätigt in jedem Augenblick die scheinbar unüberwindliche Macht des Regimes. 5 In dieser Situation sei es den Opfern fast unmöglich, an die künftige Existenz einer „moralischen Gemeinschaft“ zu glauben, die ihr Zeugnis akzeptieren würde. Der „Heroismus“ des Opfers, das zum moralischen Zeugen wird, liegt laut Margalit darin, seine Stimme zurückzugewinnen und Zeugnis für die künftige Gemeinschaft abzulegen, sie also mitunter zu konstituieren. 6 Wenn die Historikerin Annette Wieviorka schreibt, „nach Auschwitz“ und dem Eichmann-Prozess habe eine „ère du témoin“ begonnen; 7 wenn Elie Wiesel - der vielleicht bekannteste Überlebende der Shoah - darauf hinweist, dass Literatur „nach Auschwitz“ maßgeblich von den Zeugen jenes Ereignisses bestimmt sei, 8 verweist das auf den Stellenwert, den moralische Zeugen in der Nachwirkung des Holocaust angenommen haben. Margalit schließt explizit aus, dass es stellvertretende moralische Zeugen geben könne. 9 Die Autorität der moralischen Zeugen stamme nämlich aus dem tatsächlichen Durchleben des Ereignisses. Entsprechend formuliert auch Assmann: „Als Verkörperungen der traumatischen Erfahrung sind sie [die moralischen Zeugen] als Opfer zugleich lebende Beweise des Verbrechens, von dem sie Kunde geben.“ 10 Dem ist einerseits zuzustimmen, insofern die Autorität (nicht nur) des moralischen Zeugen „nach Auschwitz“ wesentlich damit zusammenhängt, 4 A. Assmann 2006, 89. 5 Margalit 2000, 66. 6 Vgl. Margalit 2000, 63-68. 7 Vgl. Wieviorka 1998. 8 Vgl. Wiesel 1990, 9: „[There] are witnesses and there is their testimony. If the Greeks invented tragedy, the Romans the epistle, and the Renaissance the sonnet, our generation invented a new literature, that of testimony.“ 9 Margalit 2000, 77-80. 10 A. Assmann 2006, 91. 70 dass es Millionen Menschen gibt, die als Opfer zu Zeugen dieses Ereignisses wurden. Andererseits weist das von Levi beschriebene Paradox der Zeugenschaft darauf hin, dass es ohne Stellvertretung keine Annäherung an das „wahre“ doch abwesende Zeugnis der Shoah gibt: „Parliamo noi in loro vece.“ 11 Berücksichtigt man die Figur des abwesenden Zeugen, sind die eben vorgestellten Überlegungen zur Zeugenschaft „nach Auschwitz“ noch einmal zu differenzieren. Als Ausgangspunkt für eine solche Neubetrachtung kann jene Dimension der Zeugenschaft dienen, die Assmann und Margalit für den „moralischen Zeugen“ ausschließen - nämlich das performative Moment, das die Autorität der Zeugen mitkonstituiert. Diese performative Dimension lässt sich bei Assmann als gemeinsames Element der ersten drei Grundtypen des Zeugen - dem juristischen, historischen und religiösen Zeugen - ausmachen. Vor Gericht gibt es in dieser Hinsicht die Möglichkeit der „unter Eid gestellte[n] Wahrheitsverpflichtung“. 12 Beim historischen Zeugen, wie Assmann ihn begreift, zeigt sich die testimoniale Performativität darin, dass die Zuverlässigkeit der Aussage durch Autorisierungsstrategien beglaubigt wird: „[Die] stereotype Formel für die Wahrhaftigkeit des Berichts lautet: ich habe nichts hinzugefügt, nichts weggenommen und nichts umgestellt.“ 13 Der religiöse Zeuge, für Assmann verkörpert im Märtyrer, sei ein „aktiv Handelnder“: Er triumphiere symbolisch gegenüber der Gewalt, die ihn als Andersgläubigen verfolgt, „indem er das ‚Sterben an’ umkodiert in ein ‚Sterben für’.“ Das Zeugnis, das in seinem Tod „zum Ausdruck gebracht wird, ist das Bekenntnis zu einem mächtigeren, überlegenen Gott.“ 14 Im Mittelpunkt von Jacques Derridas Überlegungen zur Zeugenschaft steht eine solche (christlich geprägte) Gestalt des religiösen Zeugen. Ausgehend von seiner Beschäftigung mit dem Kirchenvater Augustinus (v.a. in C IRCONFESSION , 1991), hat sich der jüdische Philosoph in mehreren Texten seit den neunziger Jahren mit der performativen Dimension von Zeugenschaft - und ihrer Beziehung zum Fiktionalen - auseinandergesetzt. 15 Besonders wichtig wird für ihn eine Überlegung, die Augustinus im zehnten Buch seiner autobiographischen Bekenntnisse anstellt. Dort bestimmt dieser die confessio als ein „Tun der Wahrheit“ vor und für Gott: 11 Levi 2003, 65. Meine Hervorhebung. 12 A. Assmann 2006, 85. 13 A. Assmann 2006, 86. 14 A. Assmann 2006, 87. 15 Der Text von Derrida, der am ausführlichsten über Zeugenschaft handelt, ist das dem Schriftsteller Maurice Blanchot gewidmete D EMEURE (1998). Verstreute Notizen zum gleichen Problemfeld finden sich jedoch in vielen weiteren Arbeiten des Philosophen, z.B. in S AUF LE NOM (1993) oder M EMOIRES D ’ AVEUGLE (1990). 71 ecce enim veritatem dilexisti, quoniam qui facit eam venit ad lucem. Volo eam facere in corde meo coram te in confessione [...] [Denn siehe, die Wahrheit hast Du geliebt, wer sie aber tut, kommt ans Licht. Ich will sie tun in meinem Herzen vor dir im Bekenntnis...] 16 Derrida interessiert an dieser Stelle, dass Gott bereits alle Geheimnisse kennt, die Augustinus ihm gestehen könnte, da er als allwissend gedacht wird: „quid occultum esset in me, etiamsi nolem confitere tibi [Was wäre unbekannt in mir, selbst wenn ich es Dir nicht gestehen wollte]? “ 17 Das Wesen der confessio bestünde demnach nicht in ihrem Informationsgehalt, sondern in dem performativen Akt, der - als „Tun der Wahrheit“ (veritatem facere) - die Liebe Gottes erregen soll. Diesbezüglich macht Derrida, in seiner Auslegung der zitierten Stelle, keinen Unterschied zwischen Geständnis, Bekenntnis und Zeugenaussage: „Quand celui-ci [Augustin] (se) demande“, schreibt er, quand il demande en vérité à Dieu et déjà à ses lecteurs pourquoi il se confesse à Dieu alors que Celui-ci sait tout, la réponse fait apparaître que l’essentiel de l’aveu ou du témoignage ne consiste pas en une expérience de connaissance. Son acte ne se réduit pas à informer […]. La confession ne consiste pas à faire savoir - et par là elle enseigne que l’enseignement comme transmission du savoir positif n’est pas essentiel. 18 Entsprechend sind Zeugnis, Geständnis und Bekenntnis mehr als die referentielle Bezugnahme auf ein vergangenes Ereignis; sie sind vor allem gegenwärtige Handlungen. Um das zu verdeutlichen, kommt auch Derrida auf das Martyrium als Extremfall der religiösen Zeugenschaft zu sprechen: Le martyr, quand il témoigne, il ne raconte pas d’histoire, il s’offre. Il témoigne de sa foi en s’offrant ou en offrant sa vie ou son corps, et cet acte de témoignage n’est pas seulement un engagement, mais sa passion ne renvoie à rien d’autre qu’à son moment présent. 19 Das Ereignis, auf das sich ein Zeugnis bezieht - beim Martyrium geht es um das Ereignis des Glaubens -, wird nicht einfach erzählt. Gemäß der Formel veritatem facere, „machen“ es die Zeugen im Hier und Jetzt „wahr“: Sie übernehmen Verantwortung für die Realität des Bezeugten, der Märtyrer gar unter Einsatz seines Lebens. Dabei handelt es sich um eine Beglaubigung des Ereignisses, nicht aber um einen Beweis. Selbst vor Gericht operiert das Zeugnis, sagt 16 Augustinus 1992, 10.1.1. 17 Augustinus 1992, 10.2.2 18 Derrida 1993, 22-23. Meine Hervorhebung. Vgl. dazu auch Derrida 1991b, 213: „La pureté eidétique de l’aveu apparaît mieux quand l’autre est déjà en situation de savoir ce que j’avoue; c’est pourquoi Augustin se demande si souvent pourquoi il confesse à Dieu qui sait tout.“ Zur „postmodernen“ Auslegung von Augustinus durch Derrida vgl. Caputo/ Scanlon (Hg.) 2005. 19 Derrida 1998, 44. 72 Derrida, in einem „régime de la croyance […] sans preuve“. 20 Es wird immer von der Möglichkeit der Fiktion heimgesucht, weil sich die singuläre Zeugenaussage niemals ohne Bruch universalisieren lässt. Darin besteht jedoch ihre Wahrheitsbedingung: C’est vrai dans la mesure où n’importe qui à ma place, à cet instant, aurait vu ou entendu ou touché la même chose, et pourrait répéter exemplairement, universellement, la vérité de mon témoignage. 21 Aus zwei Gründen ist es unmöglich, diesen Platz einzunehmen: Erstens ist die Singularität des Zeugen radikal. Jeder kann, schreibt Derrida in Bezug auf den Märtyrer, nur seinen eigenen Tod sterben. 22 Zweitens lässt sich der Augenblick, in dem der Zeuge das zu Bezeugende wahrgenommen hat, lediglich mit Hilfe einer Technik (z.B. der Sprache) wiederholen. Weil zwischen Wahrnehmung und Aussage ein zeitlicher Abstand waltet, ist das Zeugnis auf diese Re-Präsentierbarkeit des Augenblicks angewiesen. Sie trennt ihn von sich selbst und gibt dem Singulären, von Anfang an, eine virtuelle Dimension. 23 Dieser Vorgang lässt sich mit Derridas Konzept der Iterabilität erklären, demzufolge Wiederholung und Alterität verknüpft sind: „‘Iterability’ does not signify [...] repeatability of the same, but rather alterability of this same idealized in the singularity of the event [...].“ 24 Dass sich das Bezeugte in jeder Zeugenaussage anders darstellen kann, wäre also nicht nur der individuellen Wahrnehmungsperspektive und dem Erinnerungsvermögen des Zeugen geschuldet. Die Iterabilität von Zeugnis und Bezeugtem verweist auch auf die Loslösung aus jedem stabilen Kontext, die mit ihr verbunden ist. Das „gleiche“ Ereignis, bezeugt vom „gleichen“ Zeugen in den „gleichen“ Worten, wird weder von jedem Hörer noch zu jeder Zeit oder in jeder Kultur „gleich“ verstanden. Außerdem bedeutet die Trennung zwischen dem singulärem Ereignis und seiner Darstellung, die es überhaupt iterabel (und damit universell wahrnehmbar) macht, dass die Beziehung zwischen Ereignis und Darstellung ins Schwanken gerät: Once it is iterable, to be sure, a mark marked with a supposedly ‘positive’ value (‘serious,’ ‘literal,’ etc.) can be mimed, cited, transformed into an ‘exercise’ or into ‘literature,’ even into a ‘lie’ - that is, it can be made to carry its other, its ‘negative’ double. 25 20 Derrida 1998, 60. 21 Derrida 1998, 48. 22 Vgl. Derrida 1998, 28. 23 Vgl. Derrida 1998, 36-37. u. 48-49. 24 Derrida 1988, 119. Diese Erklärung stammt aus L IMITED I NC . (1977), einem auf Englisch veröffentlichten Essay, der dem Sprachphilosophen John Searle antwortet. Dieser hatte, in Bezug auf den früheren Text S IGNATURE É VÉNEMENT C ONTEXTE (1972), Kritik an Derridas Konzept der itérabilité geübt. 25 Derrida 1988, 70. 73 Eine solche Destabilisierung, die Konzepte wie Wahrheit oder Zeugenschaft betrifft, lässt sich mit Derrida unter dem Vorzeichen einer „spektralen Logik“ beschreiben, d.h. als strukturelle Heimsuchung dieser Konzepte durch das Andere, das sie auszuschließen versuchen (die Lüge, die Literatur, etc.): „Dans notre tradition juridique européenne“, so Derrida, „un témoignage devrait rester étranger à la littérature et surtout, dans la littérature, à ce qui se donne comme fiction, simulation ou simulacre […].“ 26 Wegen der irreduziblen Ungleichzeitigkeit zwischen Zeugnis und Bezeugtem sowie aufgrund der Singularität des Zeugen (dass niemand seinen Platz einnehmen kann) gebe es aber kein Zeugnis qui n’implique structurellement en lui-même la possibilité de la fiction, du simulacre, de la dissimulation, du mensonge et du parjure - c’est-à-dire aussi de la littérature, de l’innocente ou perverse littérature qui joue innocemment à pervertir toutes ces distinctions. [...] Pour rester témoignage, il doit donc se laisser hanter. 27 Gegen die Heimsuchung durch das Fiktionale, aber ohne sie end-gültig ausschließen zu können, setzt der Zeuge den performativen Akt des veritatem facere. Er wird zum Bürgen für eine Wahrheit, die er nicht beweisen kann: dass jeder an seiner Stelle die Aussage bestätigen würde. Insofern wurzelt die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses in der Glaubwürdigkeit des Trägers. Auch diese versteht sich keineswegs von selbst, sondern ist - zumindest teilweise - das Ergebnis von Autorisierungsstrategien. Das bekannteste Beispiel für eine solche Autorisierungsstrategie dürfte der Eid des Zeugen vor Gericht sein, wenn er schwört, die „Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.“ Doch der Zeuge autorisiert nicht nur sich selbst. Indem er sich Autorität zuspricht, kann er auch die abwesende Wirklichkeit beglaubigen, von der er berichtet. In diesem Sinn wird er, wie Agamben schreibt, zum auctor des Bezeugten: Er autorisiert die Sache, die vor ihm da war und deren Wahrheit bestätigt werden muss. 28 An Derridas Beispiel des Märtyrers zeigt sich, dass die Körperlichkeit des Zeugen eine hohe Bedeutung für diesen Vorgang der Autorisierung hat. Die Bereitschaft, für ein Zeugnis zu sterben, verleiht dem Bezeugten größte Glaubwürdigkeit. In Sybille 26 Derrida 1998, 30. 27 Derrida 1998, 30-31. Meine Hervorhebung. Zur „spektralen Logik“ bei Derrida, die sich in Begriffen wie „hanter“ (heimsuchen) ausdrückt, vgl. Bachmann 2008. 28 Vgl. Agamben 1998, 130-133. Er setzt den lateinischen Begriff auctor neben die Worte testis und superstes, die ebenfalls Dimensionen der Zeugenschaft beschreiben: Der te(r)stis sei der Dritte (der Zeuge) beim Streit zwischen zwei Subjekten; der superstes jener Zeuge, der eine Erfahrung durchlebt hat und deshalb von ihr berichten kann. Vgl. dazu auch Benveniste 1969, der diesen Begriffen noch den Terminus arbiter hinzufügt: der - im Gegensatz zum testis - heimliche Zeuge, der im späteren Sprachgebrauch zum Richter aufsteigt (Benveniste 1969, 119-122). 74 Krämers Buch M EDIUM , B OTE , Ü BERTRAGUNG (2008), das den Topos des Boten - in unterschiedlichen Ausformungen wie z.B. als Engel oder als Zeuge - zu einem Modell der medialen Übertragung macht, schreibt die Philosophin auch über Legenden des sterbenden Boten. 29 Als Paradigma nennt sie den Läufer von Marathon, der zusammenbricht und stirbt, nachdem er die Botschaft vom Sieg der Athener überbracht hat. „Der Bote verbraucht sich in seinem Tun“, stellt Krämer fest, und begreift dies - im Kontext ihrer Arbeit - als „radikale Version der Idee der Eliminierbarkeit des Mediums“, das sich im Moment der Übertragung unsichtbar mache. 30 Krämers Konzeptualisierung des Botenmodells lässt sich insofern auf meine Betrachtung von Zeugenschaft übertragen, als die (nicht nur) körperliche Autorisierung des Zeugen einem höheren Zweck, nämlich der Autorisierung des Bezeugten dient. Allerdings wird Krämer durch die Engführung von Bote und Medium dazu verleitet, die Körperlichkeit des sterbenden Boten abzuwerten. Sie gerät ihr zum Beispiel für „eine Materialität, die sich im Gebrauch ‚immaterialisiert’.“ 31 Wird dieser Vorgang jedoch unter dem Blickwinkel der testimonialen Autorisierung betrachtet, kommt es zu einer Akzentverschiebung: die sich „verbrauchende“ Körperlichkeit des Boten löst sich in der Mitteilung nicht einfach auf, sondern ist elementarer Bestandteil der Glaubwürdigkeit seiner Botschaft. Auch sie „macht“ Wahrheit. Freilich ist es keineswegs das Gleiche, die Wahrheit zu „machen“ und sie zu „sagen“: z.B. kann der juristische Zeuge die - auf Grundlage seines Schwurs etablierte - Autorität durchaus für Falschaussagen, für den Meineid benutzen. In dem oben zitierten Abschnitt aus D EMEURE (1998), einer Studie über das Verhältnis von Fiktion und Zeugenschaft, rückt Derrida Lüge und Meineid (mensonge et parjure) in die Nähe literarischer Formen. Er tut dies nicht, um sie auf- oder die Literatur abzuwerten. Vielmehr begreift er die Heimsuchung der Zeugenschaft durch ihr Anderes, die vor Gericht als Bedrohung erscheinen muss, im literarischen Bereich als Chance. Die unklare Grenze zwischen Fiktion und Zeugnis sei une chance et une menace, la ressource à la fois du témoignage et de la fiction littéraire, du droit et du non-droit, de la vérité et de la non-vérité, de la véracité et du mensonge, de la fidélité et du parjure. 32 Was vor Gericht einerseits „schlechte“ Formen der Fiktion, die Lüge und den Meineid ermöglicht, scheint andererseits zu erlauben, dass auch literarische Fiktionen testimoniale Effekte haben: Derrida nutzt den zweiten Teil seiner Studie, um eine Erzählung des französischen Schriftstellers Maurice Blanchot als „fiction de témoignage“ zu unter- 29 Vgl. Krämer 2008, 36-39. 30 Krämer 2008, 38. 31 Krämer 2008, 33. 32 Derrida 1998, 31. 75 suchen, die ohne die Form einer Zeugenaussage oder Autobiographie zu kopieren, testimoniale Wirksamkeit entwickle: „La littérature affecte, par un surcroît de fiction [...] de passer pour un témoignage réel et responsable sur la réalité historique [...].“ 33 Hier zeichnet sich die Möglichkeit eines literarisch-imaginären Zeugnisses ab: Aufgrund der strukturellen Verbindung von Fiktion und Zeugenschaft, die Derrida als unausweichlich beschreibt, können Texte eine Realität bezeugen, von der sie - als Texte - schon immer getrennt sind, selbst wenn ihr Autor diese Realität nicht am eigenen Leib erlebt hat. „[It] is ultimately untenable“, schreiben die Literaturwissenschaftler Anne Cubilié und Carl Good auf Grundlage von Derridas Überlegungen, to privilege testimonial accounts of ‘real,’ lived experience over testimonies articulated out of what is assumed to be fiction […]; it must be insisted that testimonial fiction might be just as […] effective in the world as ‘real’ testimonies. 34 Diese Möglichkeit einer imaginären oder stellvertretenden Zeugenschaft, die ich nicht auf den literarischen Bereich im engen Sinne beschränken möchte, besitzt, wie Levis Überlegungen zum testimonialen Paradox zeigen, eine besondere Relevanz für die Erinnerung an den Holocaust. Wenn Levi den vernichteten testimoni integrali einen zentralen Platz in seinem Zeugnis einräumt, erweitert er es über die Grenzen der eigenen Erfahrung hinaus: Der Überlebende berichtet, wie ich bereits zitiert habe, „‘per conto di terzi’, il racconto di cose [...] non sperimentate in proprio [im Namen eines Dritten, er erzählt Dinge, die nicht selbst erlebt wurden].“ 35 Die traumatische Struktur der Holocaust-Erfahrung erlaubt, den abwesenden Zeugen auch als Figuration jener Lücken des Realen zu begreifen, die das Erleben der Geretteten ebenso wie das der Untergegangenen kennzeichnen. Erfahrungen, die sie am eigenen Leib gemacht haben, stehen ihnen paradoxerweise nicht - oder nicht ganz - zur Verfügung. Sie bleiben als Fremdkörper im Psychischen. Es handelt sich in diesem Sinne um „unclaimed experience” 36 , die erst nachträglich, wenn überhaupt, abgearbeitet wird. „The victim’s narrative […] does indeed begin“, schreiben Shoshana Felman und Dori Laub in T ESTIMONY (1992), ihrem Standardwerk über Zeugenschaft „nach Auschwitz“, 33 Derrida 1998, 92-93. Derrida untersucht Blanchots Erzählung L’I NSTANT DE MA M ORT (1994). 34 Cubilié/ Good 2003, 7-8. 35 Levi 2003, 65. 36 Zum Konzept der „unclaimed experience“, die nur nachträglich, nicht zum Zeitpunkt des (verpassten) Erlebens, beansprucht werden kann, vgl. Caruth 1996. 76 with someone who testifies to an absence, to an event that has not yet come into existence, in spite of the overwhelming and compelling nature of the reality of its occurrence. 37 In dem Maß, wie der Überlebende traumatisiert wurde, ist er als Zeuge abwesend. Erst im Nachhinein, während er das ursprünglich „verpasste“ Ereignis erzählt, gewinnt er diese Rolle zurück. Der Überlebende des traumatischen Ereignisses ist sich selbst ein Anderer: Sein Zeugnis beginnt gewissermaßen per conto di terzi. Diese Entfremdung verstärkt die fiktionalen Züge seiner Aussage. Sie präsentiert immer nur eine Vorstellung, niemals aber die Realität des Konzentrationslagers. Für Felman und Laub ändert dieser Abstand der Darstellung zum Dargestellten nichts am Wahrheitsgehalt des Zeugnisses, weil er der Traumatisierung der Zeugen geschuldet ist. Sie verstehen „testimony [...] not as a mode of statement of, but rather as a mode of access to that truth“, die die Zeugen selbst nicht besitzen müssen. 38 Das wird u.a. am Beispiel einer Auschwitz-Überlebenden erklärt, die über den Aufstand in jenem Vernichtungslager berichtet. „She was relating her memories as an eyewitness of the Auschwitz uprising: a sudden intensity, passion and color were infused into the narrative. She was fully there.“ 39 Während sie erzählt, scheint die Frau - wenn man dieser Darstellung Glauben schenkt - in die abwesende Wirklichkeit einzutauchen. Das bedeutet nicht, dass sie sich dem Hier und Jetzt entzöge; vielmehr bringt sie das Dort (she was fully there) körperlich in die Gegenwart zurück: „There was a silence in the room“, schreibt Laub als einer der Interviewer, against which the woman’s words reverberated loudly, as though carrying along an echo of the jubilant sounds exploding from behind barbed wires, a stampede of people breaking loose, screams, shots, battle cries, explosions. 40 In ihrer Beschreibung des Aufstands unterläuft der Frau aber, wenn man so will, ein Fehler: Sie berichtet von vier Schornsteinen, die sie in Flammen gesehen habe, obwohl nur ein Schornstein in die Luft gesprengt wurde. Aus diesem Grund lehnt eine Gruppe Historiker, denen das Interview auf Video gezeigt wird, die Erinnerung der Frau als unglaubwürdig ab: „Since the memory of the testifying woman turned out to be, in this way, fallible, one could not accept - nor give credence to - her whole account of the events.“ 41 Laub widerspricht dieser Ansicht. Das Wissen ereigne sich erst in der Zeugenaussage; dadurch könne die Frau - unabhängig davon, wie viele Schornsteine in Auschwitz explodierten - die Historizität des Ereignisses in einer neuen Dimension 37 Felman/ Laub 1992, 57. 38 Felman/ Laub 1992, 15-16. 39 Felman/ Laub 1992, 59. Meine Hervorhebung. 40 Felman/ Laub 1992, 59. 41 Felman/ Laub 1992, 60. Meine Hervorhebung. 77 übermitteln. Wie Laubs Rede von „screams, shots, battle cries, explosions“ zeigt, besitzt das Zeugnis der Frau eine testimoniale Effektivität, die auf der körperlich-performativen Ebene liegt. 42 Diese Auffassung von Zeugenschaft entspricht insofern dem Konzept Derridas, als es in beiden Fällen um kein mimetisch-repräsentatives Verhältnis zwischen Erzählung und Ereignis geht. Außerdem übertragen auch Felman und Laub ihre Gedanken zur Zeugenschaft auf den literarischen oder „künstlerischen“ Bereich. „The present volume“, schreiben sie im Vorwort von T ESTIMONY , will endeavour to suggest […] the first stage of a theory of a yet uncharted, nonrepresentational but performative relationship between art and culture, on the one hand, and the conscious or unconscious witnessing of historical events, on the other. This is then a book about how art inscribes (artistically bears witness to) what we do not yet know of our lived historical relation to events of our times. 43 Viele Untersuchungen zu Literatur und Zeugenschaft sind dem hier vorgeschlagenen Programm gefolgt. Oft beschäftigen sie sich mit den „Falten“ oder „Rissen“ von Diskursen. Lea Fridman zum Beispiel untersucht so unterschiedliche Werke wie Wiesels L A N UIT (1958) oder Joseph Conrads H EART OF D ARKNESS (1899) unter der Prämisse, dass the witnessing to historical horror does not occur in the telling, but in the inflections of the telling, in the formal consequences - the lapses, silences, omissions - that voice the horror that exceeds such telling. 44 Die traumatische Erfahrung, so Fridman, erzeuge ein Loch im Gewebe der Sprache. Dieses Loch sei keinesfalls symbolisch zu verstehen. Es gehört nicht zur Ordnung der Repräsentation. Ihrer Ansicht nach sorgen die Beugungen (inflections) des traumatischen Narrativs dafür, dass es eine existentielle Beziehung zu seinem Gegenstand unterhalte. 45 Insofern behaupte Zeugenschaft als literarische Praxis keine Ähnlichkeit zur dargestellten Realität: „It does not claim a representational truth“, schreibt Fridman, „it claims a truth of having seen or been present in a historical and existential, rather than in a simulated, linguistic reality.“ 46 Aus den Studien zum Verhältnis von Trauma, Literatur und Zeugenschaft entnimmt meine Arbeit die Idee, dass primär fiktionale Texte eine testimoniale Beziehung zur abwesenden Wirklichkeit unterhalten können, die jenseits eines mimetisch-repräsentativen Verhältnisses liegt. Statt nach den Rissen im Diskurs zu suchen, durch die sich das 42 Vgl. Felman/ Laub 1992, 59-61. 43 Felman/ Laub 1992, xx. Meine Hervorhebung. 44 Fridman 2000, 98-99. Vgl. auch Horowitz 1997. 45 Vgl. Fridman 2000, 132-133. 46 Fridman 2000, 134. 78 Reale - in seiner Abwesenheit - „authentisch“ schriebe, konzentriert sie sich aber auf die Autorisierungsstrategien, anhand derer ein Text die testimoniale Beziehung zur abwesenden Wirklichkeit aufbaut. Solche Autorisierungsstrategien funktionieren wie der Schwur des Zeugen vor Gericht. Sie behaupten eine Verantwortlichkeit des Textes gegenüber der Realität, auf die er sich bezieht: „To testify“, heißt es bei Felman und Laub, „is not merely to narrate but to commit oneself, and to commit the narrative to others: to take responsibility [...] for the truth of an occurrence.“ 47 Die Konzentration auf Autorisierungsstrategien hat unmittelbare Konsequenzen für die Betrachtung der Frage, wie Darstellungen der Shoah zu Zeugnissen einer abwesenden Wirklichkeit werden können. Sie führt eine Trennung zwischen Zeuge und testimonialer Autorisierung ein. Darin folge ich James Young, der in W RITING AND R EWRITING THE H OLOCAUST untersucht, wie Romanautoren und Dramatiker ihre „testimonial authority as part of their fictional discourse“ konstruieren, indem sie „testimony [...] as a narrative strategy“ verwenden. 48 Für die vorliegende Arbeit bedeutet diese Trennung, dass (literarische, filmische, theatrale, etc.) Texte im Vordergrund stehen, die sich über primär testimoniale Autorisierungsstrategien beglaubigen oder entsprechende Autorisierungsmodelle vorstellen. Weder müssen alle Darstellungen, die von überlebenden Zeugen der Shoah stammen, auf diese Weise autorisiert werden, noch ist diese Art der Autorisierung den tatsächlichen Zeugen vorbehalten. Damit unterscheidet sich meine Arbeit einerseits von Ansätzen, die „literarische Zeugnisse“ aufgrund biographischer Faktoren mit der „Literatur der Überlebenden“ gleichstellen. 49 Durch den Blick auf testimoniale Autorisierungsstrategien setzt sie sich andererseits von Konzepten ab, die Begriffe wie Zeugenschaft und Zeuge bloß metaphorisch verwenden. Zum Beispiel bezeichnet Lillian Kremers W ITNESS T HROUGH THE I MAGINATION (1989) all jene Schriftsteller als „Zeugen durch die Vorstellungskraft“, die - weil sie amerikanische Juden sind - den Holocaust zwar nicht erlebt haben, aber über ihn schreiben. 50 Die Trennlinie zwischen den „biographischen“ Zeugen (den überlebenden wie toten Opfern, den Zuschauern und den Tätern) und der 47 Felman/ Laub 1992, 204. 48 Young 1988, 51. Vgl. auch 53-63. Für einen ähnlichen Ansatz siehe Foley 1982. 49 Vgl. z.B. Eichenberg 2004 u. Jaiser 2006. Eine Variante dieser Herangehensweise besteht darin, Zeugenschaft als einen Modus der „Überlebendenliteratur“ zu sehen, dem andere - primär fiktionale - Schreibweisen entgegengesetzt sind. Hier wird zwar ein Unterschied zwischen Texten von Überlebenden und testimonialer Autorisierung gemacht, doch Zeugenschaft bleibt auf die Opfer der Shoah beschränkt. Vgl. z.B. Düwell 2004 u. Ibsch 2004. 50 Vgl. Kremer 1989. Für einen ähnlichen Ansatz siehe Rosenberg 1989. 79 Möglichkeit zur testimonialen Autorisierung zu beachten, heißt weder die Realität des Ereignisses zu leugnen, noch die Tatsache zu vergessen, dass es Zeugen für dieses „Ereignis ohne Zeugen“ gegeben hat - beruht die Abwesenheit der Zeugen doch wesentlich darauf, dass Menschen vernichtet oder traumatisiert wurden. Jene Trennlinie zu beachten, heißt, verschiedene Formen der Zeugenschaft - ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen - in den Blick zu nehmen: die Zeugnisse Überlebender ebenso wie die der zweiten und der dritten Generation; den Versuch, genaue Aussagen zu treffen ebenso wie das Konzept, Zeugnis durch eine Fiktionalisierung des Erlebten abzulegen; die Möglichkeiten und Grenzen der imaginären oder stellvertretenden Zeugenschaft ebenso wie das Problem des Meineids. Wenn die testimoniale Autorisierung von Texten keine unlösliche Verbindung mit denen eingeht, die das Ereignis tatsächlich erlebt haben, gibt es den Meineid nicht nur vor Gericht. Was Derrida als Chance für die Literatur begreift (und trotz aller medialen Unterschiede gleichermaßen für Theaterinszenierungen, Filme, Hörspiele, etc. gilt), kann auch außerhalb des Gerichts eine Bedrohung darstellen. Bekannt geworden ist der Fall des Schweizers Bruno Dössekker, der unter dem Pseudonym Binjamin Wilkomirski eine fiktive - aber als Autobiographie vermarktete - Erinnerung an Auschwitz und Majdanek geschrieben hat. Erst 1998, drei Jahre nach der Veröffentlichung des vielgelobten Buches, stellte sich heraus, dass die B RUCHSTÜCKE . A US EINER K IND- HEIT 1939-1948 eine Fälschung waren. Dössekker hatte seine Kindheit komplett in der Schweiz verbracht und niemals ein Konzentrationslager von innen gesehen. Hier liegt ein Missbrauch testimonialer Fiktion vor, weil der Schweizer den autobiographischen Pakt verletzt, den er über das - mit B.W. signierte 51 - Nachwort des Buches, aufgrund seiner öffentlichen Selbstinszenierung als Holocaust-Überlebender und durch die Genrebezeichnung der Publikation mit den Lesern geschlossen hat. Diese Untersuchung klammert Extremfälle wie Wilkomirski als Fälschungen aus, doch sie verliert die ethische Problematik, die mit testimonialen Autorisierungsstrategien verbunden ist, nicht aus den Augen. Auch jenseits des Meineids erscheint die Zeugenschaft in Darstellungen der Shoah zugleich als Chance und als Bedrohung - je nachdem, welche „Politik“ mit dieser Zeugenschaft verbunden ist: eine Politik des Vergessens oder eine Politik der Erinnerung. Politik der Zeugenschaft Der französische Regisseur Louis Malle hat in Interviews immer wieder darauf hingewiesen, dass sein Film A U R EVOIR LES E NFANTS (1987) 51 Vgl. Wilkomirski 1996, 142-143. 80 auf einer Kindheitserinnerung beruhe. 52 Freilich handelt es sich trotzdem um einen Spielfilm. Ebenso wie bei T HE P IANIST sind die Akteure schon aufgrund ihres Alters von den historischen Ereignissen getrennt, auf die sich A U R EVOIR LES E NFANTS bezieht. Zudem folgen Kameraarbeit und Montage den Regeln des klassischen Erzählkinos, nach denen sie „unsichtbar“ bleiben sollen. Paradoxerweise scheint gerade diese „Unsichtbarkeit“ den Klassizismus - und damit den fiktionalen Charakter - des Films in den Vordergrund zu rücken, da seine Ästhetik den Rezensenten in den achtziger Jahren unzeitgemäß erscheint. 53 Der Film spielt im Jahr 1944 und erzählt vom Leben in einer Klosterschule im deutsch besetzten Frankreich. Polanski, der als Kind das Ghetto überlebt hat, inszeniert die Biographie eines anderen statt seiner eigenen. Um Zeugnis zu werden, bedarf T HE P IANIST keiner direkten Beglaubigung durch das Leben des Regisseurs. Demgegenüber wird Louis Malle zum biographischen Bezugspunkt der Geschichte seiner Hauptfigur, wenngleich er sie Julien Quentin nennt. Dieser testimoniale Effekt verdankt sich weniger den Interviewaussagen Malles als einer autorisierenden Instanz, die sich in der letzten Szene von A U R EVOIR LES E NFANTS konstituiert. Diese Szene spielt auf dem Hof der Klosterschule, die Hauptschauplatz des Films ist. Der 11-jährige Julien (Gaspard Manesse) und seine Klassenkameraden beobachten, wie die Gestapo den Schulleiter und drei jüdische Kinder, denen er Zuflucht gewährt hat, verhaftet. Die Kamera unterscheidet Julien durch eine halbnahe Aufnahme von den anderen Schülern. Er winkt einem der jüdischen Jungen, der anschließend im Gegenschuss gezeigt wird. Es ist Jean Bonnet (Raphaël Fejtö), mit dem sich Quentin zaghaft angefreundet hat. Bonnet wird als letzter aus dem Schulhof geführt. Er bleibt kurz in der Tür stehen, dann greift ein deutscher Soldat ihn am Arm und zerrt den Jungen außer Sichtweite. Die Kamera verharrt jedoch unbewegt auf dem leeren Türrahmen. So entsteht ein fast abstraktes - auf jeden Fall unpersönliches - Bild, dem die plötzliche Abwesenheit der jüdischen Mitschüler eingeschrieben scheint. In diesem Moment beginnt, zum ersten und einzigen Mal im Film, eine Stimme aus dem Off zu erzählen: „Bonnet, Négus et Dupré sont morts à Auschwitz, le Père Jean au camp de Mauthausen. Le collège a rouvert ses portes en octobre 1944.“ Die beiden Sätze zählen Dinge auf, die nur schwer zu vergleichen sind. Während der letztere über eine - nicht einmal unangenehme - Unterbrechung der täglichen Routine spricht, bezieht sich der andere auf die brutale Vernichtung menschlichen Lebens. Gemäß seiner narrativen Logik, die Julien ins Zentrum stellt, müsste der Film - würde er weitergehen - den zweiten Satz erzählen: die Geschichte des (nichtjüdischen) Überlebenden. 52 Vgl. z.B. Audé/ Jeancolas 1987, 32 und Decock 1990, 674-675. 53 Vgl. z.B. Toubiana 1987, 18-20. 81 Der erste Satz bezieht sich auf die mörderische Wirklichkeit der Konzentrationslager, die auf Distanz zum narrativen Universum des Films bleibt. Die Erzählerinstanz wirkt extradiegetisch, weil ihr Wissen von der Erzählung getrennt scheint. Keine Figur innerhalb der Handlung kann dieses zukünftige Wissen am Ende von A U R EVOIR LES E N- FANTS besitzen. Wenn man nach den ersten beiden Sätzen des Erzählers urteilt, ist er eine allwissende und anonyme Instanz. Er trifft in diesen Sätzen eine Aussage, die an kein „Ich“ gebunden ist. Dass seine Stimme ihn als älteren Mann ausweist, ändert vorerst wenig an dieser Neutralität: Erzählerstimmen sind oft männlich und relativ alt. So etabliert die Endszene von Malles Film zwei Ebenen, die räumlich voneinander getrennt sind. Als Voiceover ist die narrative Instanz dem Soundtrack zugeordnet, während die Erzählung auf der Bildebene verbleibt. Sie sind nur dadurch verbunden, dass der Erzähler über eine Zukunft der Erzählung spricht, die - aufgrund ihrer narrativen Logik - teilweise (soweit sie das Konzentrationslager betrifft) neben ihr verlaufen würde. Es gibt jedoch einen dritten Satz, den ich bislang unterschlagen habe: „Plus de quarante ans ont passé, mais jusqu’à ma mort, je me rappellerai chaque seconde de ce matin de janvier.“ Nun steht wieder Julien im Zentrum des Bildausschnitts. Die Kamera zoomt langsam auf sein Gesicht. Während sich die Augen des Jungen mit Tränen füllen, wird die Erzählung persönlicher. Jetzt markiert sie ihr grammatisches Subjekt: „Je me rappellerai...“ Die Kamerabewegung, der Inhalt des dritten Satzes und die Tränen Juliens legen nahe, das „Ich“ auf den erwachsenen Quentin zu beziehen - und ihm die Erzählerstimme zuzuordnen. Auf diese Weise wird das scheinbar isolierte Wissen der ersten beiden Sätze doch in der Erzählung verankert: „Plus de quarante ans“ später weiß Julien, dass und wo seine jüdischen Klassenkameraden umgebracht wurden. Es ist, als ob der Erwachsene Nachforschungen über deren Schicksal angestellt hätte. Insofern ist das Wissen, das A U R EVOIR LES E NFANTS im Voiceover formuliert, nicht mehr räumlich von der Erzählung getrennt. Die Verbindung von Erzähler und Julien, wie sie mit dem dritten Satz entsteht, knüpft diese Erfahrung an den zeitlichen Abstand zwischen dem jungen und dem erwachsenen Julien. Er erinnert sich - in der Zukunft „seiner“ Erzählung - an das, was er als Kind gesehen hat. Allerdings führt der Film die räumliche Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem zugleich wieder ein, indem er die vom dritten Satz behauptete zeitliche Differenz negiert. Vierzig Jahre später weiß Julien, was passiert ist. Er artikuliert dieses Wissen aber vierzig Jahre zuvor, in einer unbestimmten Gleichzeitigkeit, auf der Tonspur. Dadurch prallen eine erwachsene Stimme und ein jugendlicher Körper aufeinander, die nicht zusammenpassen. Ihre Differenz verweist nicht nur auf den zeitlichen Abstand, der die Figur spaltet. Weil ihm die Gleichzeitigkeit von Bild- und Sprachkörper entgegensteht, behauptet deren Reibung auch 82 die Eigenständigkeit der narrativen Instanz. Diese gründet in den ersten Erzählersätzen, die an kein „Ich“ zurückgebunden waren, allwissend wirkten und mit dem unpersönlichen Bild der leeren Hoftür begannen. Julien und der Erzähler verschmelzen nicht endgültig miteinander. Es bleibt ein Mehrwert, der sie - in der gleichen Bewegung, die beide annähert - wieder voneinander löst. Aus der Differenz heraus verweisen sie auf den Regisseur Louis Malle. Für diesen Bezug gibt es mehrere Gründe: Die Off-Stimme behauptet mehr als vierzig Jahre später - Mitte der Achtziger, zur Produktionszeit von A U R EVOIR LES E NFANTS -, sich an „chaque seconde de ce matin de janvier“ zu erinnern. Sie redet jedoch nicht über diese Erinnerungen: Wir sehen sie als Film. Der Erzähler wird zum Regisseur seines Erinnerungstheaters und Kopfkinos. In dieser Funktion verweist er auf Louis Malle, den der Filmvorspann als Regisseur und Drehbuchautor angibt. Ferner hört man an der Körperlichkeit der Erzählerstimme, dass ihr Sprecher - im Gegensatz zum jugendlichen Julien-Darsteller Gaspard Manesse - jeden Augenblick des Januarmorgens durchlebt haben könnte. Tatsächlich spricht Malle, der 1932 geboren wurde, das Voiceover selbst. Wer mit seinem Werk vertraut ist, mag die Stimme erkennen, denn der französische Regisseur hat mehrere Dokumentarfilme gedreht, in denen er seine Stimme für persönliche, ich-bezogene Kommentare einsetzt. 54 Doch der Verweismechanismus zwischen Julien, Erzähler und Malle funktioniert unabhängig von dessen Teilnahme am Film. In der deutschen Synchronfassung gehört die Off-Stimme einem Schauspieler, der etwas älter als Louis Malle klingt. Er verstärkt den oben beschriebenen Perspektivenwechsel vom zweiten zum dritten Satz, von einer relativ unpersönlichen Erzählerinstanz zum erinnernden Ich, indem er diesen mit einem Seufzen beginnt: „Mehr als vierzig Jahre sind seither vergangen, aber solange ich lebe, werde ich mich an jeden Augenblick dieses Januarmorgens erinnern.“ Dieser Erinnerungszwang jusqu’à ma mort zeugt von einer anhaltenden Traumatisierung des realen Beobachters, selbst wenn sie - wie in der deutschen Version besonders deutlich - gespielt wird. Die Bindung Juliens über den Erzähler an Louis Malle verlagert seine, zunächst innerfilmische Zeugenschaft über die Grenzen des Fiktionalen hinaus. Aus ihrem komplexen Zusammenspiel entsteht eine autorisierende Instanz, die den Text an einer abwesenden Realität beglaubigt. Wie der Zeuge vor Gericht behauptet diese Art der Autorisierung eine verantwortungsvolle Beziehung zwischen Erzählung und Ereignis. Sie verbürgt sich nicht nur für die Darstellung, sondern auch für die Wirk- 54 Vgl. z.B. AND THE PURSUIT OF HAPPINESS (1986), der unmittelbar vor A U R EVOIR LES E NFANTS entstand. Dort identifiziert sich die Off-Stimme noch während des Vorspanns: „Je m’appelle Louis Malle, pendant trois mois j’ai fait le tour des Etats-Unis [...].“ 83 lichkeit, auf die sie sich bezieht. Das Performative der Zeugenschaft erlaubt, dass ein stellvertretender Zeuge den Platz des „authentischen Zeugen“ einnimmt. Die Glaubhaftigkeit „seiner“ Erzählung hängt weniger davon ab, dass sie der „Wahrheit“ entspricht. Ausschlaggebend ist die Glaubwürdigkeit der imaginären Zeugeninstanz. Malles Film konstruiert die Autorität dieser Instanz mit den eben beschriebenen Strategien. Sie verleihen ihr eine körperliche Dimension, die über den Film hinausweist: eine Sterblichkeit („jusqu’à ma mort“) und damit Leben. Dieses Leben wird in jedem Rezeptionsakt - auch heute, lange nach dem Tod von Louis Malle im Jahr 1995 - aktualisiert. Als autorisierende Instanz steht das hybride Gebilde Julien/ Erzähler/ Malle der Abwesenheit des Zeugen ebenso wie dem strukturellen Tod des Autors entgegen, dessen Körper sich - wie Roland Barthes argumentiert - im Neutrum der Schrift verliert. 55 Die Autorisierungsstrategien von A U R EVOIR LES E NFANTS sorgen für eine Rückbindung des Textes an eine autorisierende Figur, die - im Schwanken zwischen Julien, dem Erzähler und Malle - die Realität hinter dem Erzählten körperlich-performativ beglaubigt. In H EIDEGGER ET „ LES JUIFS “ (1988) hat Lyotard die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden als „a-politische Politik“ beschrieben, weil sie nicht in der Öffentlichkeit ausgehandelt wurde und für diese ohne „Schau-Platz“ blieb. 56 Von Anfang an habe die Shoah einer „Politik des Vergessens“ entsprochen, insofern es dem Nationalsozialismus um eine „Endlösung“ ging, die nicht nur die Juden vernichten wollte, sondern auch die Spuren dieser Vernichtung. Für Lyotard dauert die „Politik des Vergessens“ auf anderer Ebene noch „nach Auschwitz“ an, auch in Darstellungen der Shoah: Il [das Verbrechen] ne peut être représenté sans être manqué, oublié de nouveau, puisqu’il défie les images et les mots. Représenter ‘Auschwitz’ en images, en mots, c’est une façon de faire oublier cela. 57 Zugleich hält Lyotard fest, dass es trotz dieser Undarstellbarkeit die Notwendigkeit zur Darstellung gebe: „Il faut assurément, il faut inscrire, en mots, en images. Pas question d’échapper à la nécessité de représenter.“ 58 Die Dialektik, die hier anklingt, verweist auf Adorno, für den sich die Problematik der Holocaust-Darstellung primär aus der Gefahr ergibt, dass sie die Opfer ein zweites Mal betrügen könnte: Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte. Die sogenannte künstlerische Gestaltung des nack- 55 Vgl. Barthes 2002b. 56 Vgl. Lyotard 1988, 51. 57 Lyotard 1988, 50. 58 Lyotard 1988, 52. 84 ten körperlichen Schmerzes der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei’s noch so entfernt, das Potential, Genuß herauszupressen. 59 Die zweite Gefahr neben der Möglichkeit ästhetischen Genusses sieht Adorno im Versuch, das Leid der Opfer durch die Darstellung mit Bedeutung zu versehen, „als hätte es irgend Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht [...]“. 60 Betrachtet man den Kontext des Satzes, scheint dieses Unrecht auch daher zu stammen, dass sich die Opfer - dass sich das Leid der abwesenden Zeugen - nicht mit „eigener Stimme“ bezeugen kann; und doch: Das Übermaß an realem Leiden [...] erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die es verbietet; kaum wo anders findet das Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht zugleich verriete. 61 Mit Hilfe testimonialer Autorisierungsstrategien können Darstellungen der Shoah versuchen, Verantwortung für die Wahrheit des Leidens zu übernehmen, Zeugnis für die abwesenden Zeugen abzulegen und ihnen eine Stimme zu geben, die - wenngleich es nicht mehr „ihre eigene Stimme“ ist - sie dennoch nicht verrät. In A U R EVOIR LES E NFANTS wird die Ermordung des Paters, Bonnets und der anderen jüdischen Kinder als Wahrheit beglaubigt, ohne dass ihr ein (narrativer) Sinn zugewiesen würde: Das grausame Ende ihrer Geschichte wird bezeugt - aber weder erzählt noch bebildert. 62 Die Autorisierungsstrategien verweisen auf einen Zeugen jenseits der Leinwand (Malle), der den innerfilmischen Zeugen (Julien) in die gegenwärtige Welt des Rezipienten verlängert. So wird eine Sterblichkeit und liveness des Zeugen behauptet, welche die Erinnerung „lebendig“ hält. Sie widersetzt sich einer „Politik des Vergessens“, insofern das Erinnerte an die Gegenwart, nicht die Vergangenheit verwiesen wird („jusqu’à ma mort, je me rappellerai“) und es die Grenzen der Darstellung - am medial etablierten Körper des Zeugen - überschreitet. Diese Politik der Zeugenschaft, die versucht, eine Erinnerung für Gegenwart und Zukunft offen zu halten, ist der testimonialen Autorisierung nicht inhärent, wie ich mit einem kurzen Blick auf Oliver Hirschbiegels Film D ER U NTERGANG (2004) zeigen will. Er verwendet eine Zeugenfigur in umgekehrter Weise zu Malle. Der Film über Hitlers letzte Tage im Führerbunker beruht auf dem gleichnamigen Sachbuch-Besteller von Joachim Fest 63 ebenso wie auf 59 Adorno 2003a, 423. 60 Adorno 2003a, 423. 61 Adorno 2003a, 423. Meine Hervorhebung. 62 Die Geschichte der Untergegangenen wird nicht erzählt, da nur die Daten und Orte ihrer Ermordung genannt werden. 63 Vgl. Fests D ER U NTERGANG : H ITLER UND DAS E NDE DES D RITTEN R EICHES (2002). 85 den Erinnerungen der Hitler-Sekretärin Traudl Junge (aus dem Dokumentarfilm I M T OTEN W INKEL [2002] von André Heller und Othmar Schmiderer): „Die Kompetenz des Geschichtsprofessors, gepaart mit der Authentizität der Zeitzeugin, das kann ja nur zu einem großen Wahrheitsanspruch führen“, bemerkt der Regisseur Wim Wenders in einem polemischen Artikel zum U NTERGANG . 64 Als drittes Element des „Wahrheitsanspruchs“ tritt der Schauspielstil hinzu. In seiner Rezension des Films schreibt Jens Jessen: Mehr Hitler im Kino war nie. Weder Alec Guiness noch Anthony Hopkins, die sich schon einmal an der Imitation versucht haben, sind dermaßen in der Rolle verschwunden wie Bruno Ganz. Man erkennt den Schauspieler nicht wieder, in nichts. 65 Das hier behauptete Verschwinden würde - nähme man es wörtlich - bedeuten, dass Spiel und Sein letztlich zusammenfallen: „Bruno Ganz ist Adolf Hitler“, verkündete der Trailer zum U NTERGANG . Unterstützt vom medienspezifischen Realitätseindruck des kinematographischen Bildes arbeitet Hirschbiegels Film an der Illusion, das Ende Hitlers und des dritten Reichs zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Zusätzlich setzt er, wie bereits erwähnt, testimoniale Autorisierungsstrategien ein. Er verwendet Traudl Junges Erinnerungen nämlich nicht bloß als Quelle. In Form von Interviewausschnitten (aus I M T OTEN W INKEL ) umrahmen sie die eigentliche Geschichte. Die dokumentarischen Bilder unterscheiden sich schon aufgrund ihrer Ausleuchtung und wegen des verwendeten Videomaterials, aber auch durch die „ungeübte“ Sprechweise Junges vom Rest des U NTERGANGS . Zudem ist Junge hier eine alte Frau, während sie im eigentlichen Film von einer jungen Schauspielerin (Alexandra Maria Lara) gespielt wird. In den Dokumentaraufnahmen gegen Ende des U NTERGANGS erklärt die Zeugin Junge, mit direktem Bezug auf die Shoah, dass es „keine Entschuldigung ist, dass man jung ist“. Diese Schuldeinsicht fehlt der Rollenfigur Junge. Sie ist naiver angelegt als ihr gereiftes „Vorbild“ und auf die Position einer staunenden Beobachterin reduziert: „Die Schauspielerin Alexandra Maria Lara“, schreibt Jessen, in ihrer Jugend und in der Ahnungslosigkeit der Rolle [...] spiegelt den Blick der nachgeborenen Deutschen, die selbst nicht schuldig geworden, aber in den nationalen Schuldzusammenhang vage eingebunden sind, ohne zu wissen, warum. 66 Der Film bewahrt diesen entfremdeten Blick auf den Nationalsozialismus als das Andere in all seinen Spielszenen. Er präsentiert ihn - die Vernichtung und Verfolgung der europäischen Juden kommt im Film 64 Wenders 2004, 49. 65 Jessen 2004, 33. 66 Jessen 2004, 33. 86 fast gar nicht vor 67 - als etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist und in die Vergangenheit gehört. Indem die Zeugin Junge ihre Verantwortlichkeit nachträglich anerkennt und akzeptiert, nimmt sie paradoxerweise die Schuld von der Rollenfigur Junge, die deshalb ein unschuldiges Mädchen sein kann, das - in einer der letzten Szenen des Films - fröhlich von Berlin, der Stadt des Untergangs, wegradelt. Die Differenzierung zwischen Schuldeinsicht (der Zeugin) und Unschuldsanspruch (der Rolle) unterscheidet klar zwischen der Vergangenheit, an die sich Traudl Junge erinnert, und der Gegenwart, für die Alexandra Maria Lara als „nachgeboren[e] Deutsche“ steht. Ein „nationale[r] Schuldzusammenhang“, der vage bleibt, kann beruhigen, weil er die Schuld zwar einerseits anerkennt, doch andererseits - über die Figur der Zeugin - an einen festen Ort verbannt, mit dem die Nachgeborenen angeblich nichts zu tun haben. Die testimoniale Autorisierung ist hier fest in den ideologischen und soziokulturellen Kontext der „Berliner Republik“ eingebunden, aus dem sie entstammt. Sie verfolgt eine Politik der Zeugenschaft, die das Gegenteil der testimonialen Politik von A U R EVOIR LES E NFANTS bildet. Geht es dort darum, eine Erinnerung lebendig zu halten, soll sie hier letztendlich vergessen werden. 67 Erst in den Schlusstiteln und im darauf folgenden Interviewausschnitt mit Junge wird die Shoah explizit erwähnt. Vgl. Wenders 2004, 50: „Und was in den Schlusstiteln geschieht, spottet dann jeder Beschreibung. Sie beginnen mit dem Datum der Kapitulation, klären uns dann auf über die sechs Millionen Juden, von denen der Film nicht gehandelt hat, nicht handeln wollte oder konnte, und führen dann, unterlegt mit der selben Musik, die alles einebnet, auch über zu den Privatschicksalen.“ Auf diese Weise fänden sich, schreibt Wenders weiter, „Verführer und Opfer zum Schluss noch einmal in der beliebigen Haltlosigkeit vereint, die diesen Film so unglaublich ärgerlich macht“ (Wenders 2004, 50). II. Spiegel der Zeugenschaft 89 Nacht der Erinnerung: Grundzüge eines Autorisierungsmodells (Elie Wiesel) Aus Nacht und Nebel In einer Aufsatzsammlung von François Truffaut, L ES F ILMS DE MA V IE (1975), findet sich ein Artikel aus den fünfziger Jahren, in dem der französische Regisseur - zu jener Zeit noch als Kritiker tätig - den paradoxen Versuch unternimmt, einen Moment der Sprachlosigkeit in Sprache zu fassen. Er schreibt dort über einen Film, der ihn an die Grenzen seines kritischen Vokabulars bringt: Il est quasiment impossible de parler de ce film avec les mots de la critique cinématographique. Il ne s’agit ici ni d’un documentaire, ni d’un réquisitoire, ni d’un poème mais d’une méditation sur le phénomène le plus important du vingtième siècle. 1 Die Sprachlosigkeit des Kritikers ist damit verbunden, dass die Meditation über das wichtigste Ereignis im zwanzigsten Jahrhundert - gemeint ist die Shoah - den Kinogänger, wie Truffaut im Weiteren argumentiert, auf das bloße Menschsein zurückwirft. Der besprochene Film könne dies gerade deshalb bewerkstelligen, weil seine Bilder das Menschsein radikal in Frage stellen würden. Sie suspendieren die Rolle Truffauts als Kritiker und die des Zuschauers als Zuschauer. Vor diesem Film vergesse der Betrachter alles, was er jemals zuvor auf einer Leinwand gesehen habe: „[Il] efface pour quelques heures de notre mémoire tous les films: il faut voir celui-ci, absolument.“ 2 In seiner Einzelstellung überschreitet das von Truffaut besprochene Werk die Grenzen des Mediums: Entweder ist es, wie der Regisseur an anderer Stelle klarmacht, kein Film mehr - oder aber es ist der einzige, der jemals gedreht wurde: „Si ce film est un film, il est Le film et les autres ne sont plus que de la pellicule impressionnée.“ 3 Bei dem Film, der laut Truffaut kein Film im herkömmlichen Sinn mehr ist, handelt es sich um Alain Resnais’ Holocaust-Dokumentation N UIT ET B ROUILLARD (1955). Nach den Wochenschauen, die 1945 vor allem die Befreiung von Buchenwald und Bergen-Belsen zeigten, ist es die erste Kinoproduktion, durch die eine relativ breite Öffentlichkeit mit Bildern aus den Konzentrationslagern konfrontiert wurde. 4 1956 1 Truffaut 1975, 321. 2 Truffaut 1975, 322. 3 Truffaut 1956, 30. 4 Der Einfluss dieser Wochenschauen auf das breite Publikum ist umstritten und unterscheidet sich von Land zu Land. Für Großbritannien hält Joanne Reilly fest, 90 lief Resnais’ Werk auf den Filmfestivals von Cannes und Berlin. An der Croisette bewirkte die westdeutsche Botschaft jedoch, dass N UIT ET B ROUILLARD nur außerhalb des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde: Der Film vergifte die Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Da internationale Festspiele „der Zusammenarbeit zwischen Völkern dienen“, seien sie nicht der richtige Ort, um diesen Film aufzuführen, weil er „den durch die nationalsozialistischen Verbrechen erzeugten Hass gegen das deutsche Volk in seiner Gesamtheit wieder [...] beleben“ könne. 5 Auf den Einspruch der deutschen Botschaft folgte eine öffentliche Diskussion im Feuilleton und im Bundestag, die dem Film zusätzliche Aufmerksamkeit bescherte. Dass N UIT ET B ROUILLARD bei der Berlinale mit Sondervorführungen bedacht wurde, war auch eine Reaktion auf diese Debatte. 6 N UIT ET B ROUILLARD gehorcht einem einfachen, aber effektiven Montageprinzip: Der Film kombiniert vorwiegend historische Schwarzweiß- Aufnahmen mit einigen Farbsequenzen, die Resnais’ Kameramänner (Ghislain Cloquet und Sacha Vierny) 1955 in Auschwitz gedreht haben. Ihre Bilder zeigen verlassene Gebäude und eine blühende Wiese; Gras wuchert über den Bahnschienen, die ins Lager führen. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reflektiert Resnais’ Parallelmontage die Dialektik von Erinnern und Vergessen. 7 Dabei wird sie durchgängig von einem Text des Schriftstellers Jean Cayrol unterstützt, den der Schauspieler Michel Bouquet mit ruhiger Stimme aus dem Off vorträgt. „Au moment où je vous parle“, sagt er über der letzten Farbsequenz des Films, „l’eau froide des marais et des ruines remplit les creux des charniers, une eau froide et opaque comme notre mauvaise mémoire.“ Es ist eine friedliche Landschaft, durch die die Kamera zu diesen Worten gleitet. Wie der Off-Kommentar betont, können die Ruinen des Krematoriums in dieser Landschaft zum Zeichen fürs Vergessen werden, statt „Mahnmal“ der Erinnerung zu sein: „Il y a nous dass die grausamsten Szenen ausgespart wurden und manche Zuschauer fanden „that the films were not as bad as they had imagined“ (Reilly 1998, 61). Über die amerikanischen Wochenschauen schreibt Jeffrey Shandler, dass die Bilder aus den Konzentrationslagern in eine narrative Struktur der Erlösung eingebaut wurden. Vgl. Shandler 1999, 15. Für Deutschland ist die Produktions- und Rezeptionsgeschichte des Dokumentarfilms D IE T ODESMÜHLEN (1945) aufschlussreich, der im Rahmen des alliierten Reeducation-Programms gezeigt wurde. Nach einer Vorführung in Berlin antworteten siebzig Prozent der Kinobesucher, dass die deutsche Bevölkerung keine Verantwortung für die NS-Verbrechen trage. Vgl. Chamberlain 1981, 435. 5 So die Erklärung des Einspruchs durch Staatssekretär Hans Ritter von Lex, zit. bei Thiele 2001, 183. 6 Vgl. Lindeperg 2007, 173. Zu den Ereignissen von Cannes und zur deutschen Rezeption des Films siehe ebd., 157-180. 7 Zum Montageprinzip von N UIT ET B ROUILLARD vgl. Colombat 1993. 91 qui regardons sincèrement ces ruines comme si le vieux monstre concentrationnaire était mort sous les décombres…“ Im Erzählerkommentar und mit den Mitteln der Parallelmontage versucht Resnais’ Film diesem abschließenden Blick, für den das Vergangene vergangen ist, eine andere Sichtweise entgegenzusetzen. Eine der bekanntesten Sequenzen von N UIT ET B ROUILLARD zeigt, wie ein Güterzug mit Deportierten durch die Nacht rollt. Dem Schwarzweiß- Material folgen Farbaufnahmen von 1955, in denen die Kamera an den stillgelegten Schienen entlangfährt, welche nach Auschwitz führen. Bei diesem Schnitt handelt es sich um einen match cut, insofern er die Bewegung des Zuges in die Bewegung der Kamera verlängert. Auf diese Weise rollt die Erinnerung in eine Landschaft des Vergessens. Der Zug steht für den millionenfachen Tod, mit dem er diese Landschaft heimsucht: „Neuf millions de morts hantent ce paysage.“ In einer anderen Sequenz, welche die Vergangenheit an die Gegenwart bindet, gleitet die Filmkamera durch verlassene Baracken, an ihnen vorbei und über den leeren Appellplatz. Diesen Farbaufnahmen sind Archivbilder zugeordnet, die jene Stätten mit dem Antlitz der Opfer bevölkern: Menschen in den Baracken, auf dem Appellplatz, bei der Zwangsarbeit. Unter diesen Bildern befindet sich auch ein Photo von der Befreiung Buchenwalds, das der amerikanische Gefreite Harry Miller im April 1945 aufgenommen hat: Fast ein Dutzend Häftlinge liegen zusammengepfercht in ihren Schlafkojen und schauen Richtung Kamera. Einer von ihnen ist ein etwa 17-jähriger Junge mit abgemagertem Gesicht. Der Lagerinsasse, der - wie alle Opfer bei Resnais - anonym bleibt, sollte zu einem der bekanntesten Überlebenden der Shoah werden. Sein Name ist Elie Wiesel. Es muss sich um Zufall handeln, wenn N UIT ET B ROUILLARD eine Photographie auswählt, auf der ausgerechnet Wiesel zu sehen ist. Als Resnais den Film montierte, war dieser noch unbekannt: ein einfacher Journalist, dessen Artikel keinen Bezug zu seiner persönlichen Vergangenheit aufwiesen. 8 Wiesels bildliche Anwesenheit in Resnais’ Film hat deshalb - so ließe sich vermuten - kaum Bedeutung für eine Analyse des Werks. Trotzdem erwähnen ihn die Literaturwissenschaftler Michael Bernard-Donals und Richard Glejzer in ihrer Studie B ETWEEN W ITNESS AND T ESTIMONY (2001), wenn sie die oben beschriebene Szene aus N UIT ET B ROUILLARD interpretieren. Der Film zeige footage of haunting faces peering out from the wooden racks, including the now famous picture of Elie Wiesel staring at the camera from among the other men there with him in Buchenwald. 9 8 Vgl. Wiesels Selbstbeschreibung in der Aufsatzsammlung U N J UIF , A UJOURD ’ HUI (Wiesel 1977, 26). 9 Bernard-Donals/ Glejzer 2001, 109. 92 Das klingt, als ob Wiesel zentraler Bezugspunkt der Aufnahme wäre. Ein Blick auf die Photographie (Abb. 3) zeigt jedoch, dass dies nicht der Fall ist. A BB . 3: Wiesel in Buchenwald (unten, 3. von links) 10 Im Zentrum des Bilds stehen zwei bärtige Männer, neben denen Wiesels schmächtiges Gesicht in den Hintergrund rückt. Diese Konstellation verändern Bernard-Donals und Glejzer mit ihrer Bildbeschreibung. Sie lesen ein Photo von mehreren Unbekannten als das Bild eines bestimmten Überlebenden „among [...] other men“. Diese Fokussierung wird im Laufe ihrer Analyse immer wieder gestützt. Wenn sie über die Namenlosigkeit in N UIT ET B ROUILLARD schreiben, betonen die beiden Autoren ausdrücklich, dass der Film nicht einmal dieses eine Opfer nenne: „even Wiesel is not named in the image from Buchenwald.“ 11 Mit solchen Sätzen übergehen Bernard-Donals und Glejzer die historische Differenz, die zwischen ihrer Interpretation und dem besprochenen Film waltet. Die Photographie aus Buchenwald konnte weder zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme am 16. April 1945 noch elf Jahre später, als N UIT ET B ROUILLARD auf den Filmfestivals in Cannes und Berlin lief, 10 Es handelt sich um einen horizontal gespiegelten Ausschnitt aus der Originalaufnahme Harry Millers. So kommt das Bild in N UIT ET B ROUILLARD vor. 11 Bernard-Donals/ Glejzer 2001, 110. 93 als „picture of Elie Wiesel“ verstanden werden. Das erste Buch des Überlebenden, der Schriftsteller wurde, erschien 1956 in kleinster Auflage: U N DI V ELT HOT G ESHVIGN war ein jiddisch geschriebener Text über seine Zeit im Konzentrationslager. Erst die französische Neubearbeitung dieses Erstlings unter dem Titel L A N UIT (1958) wurde in nennenswerter Weise rezipiert. Heute gehört das Buch zu den meistgelesenen Werken der Holocaust-Literatur und Wiesel ist, nicht nur in Nordamerika, einer der bekanntesten Überlebenden der Shoah. Als US-Präsident Jimmy Carter 1978 die Presidential Commission on the Holocaust gründete, wurde Wiesel ihr erster Vorsitzender. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist er eine zentrale Figur im Erinnerungsdiskurs der Vereinigten Staaten. 12 Mitte der achtziger Jahre erreichte er den Höhepunkt seiner Bekanntheit, unter anderem da ihm der Friedensnobelpreis verliehen wurde. 13 Wie das Auswahlkomitee betonte, stand diese Auszeichnung in direktem Verhältnis zu Wiesels Werk und zu dem, was ihm im Lager angetan wurde. Sein Schreiben, so hieß es in der Laudatio, habe ihn zu einem Zeugen für Wahrheit und Gerechtigkeit (a witness for truth and justice) werden lassen: From the abyss of the death camps he has come as a messenger to mankind - not with a message of hate and revenge, but with one of brotherhood and atonement. […] Elie Wiesel is not only the man who survived - he is also the spirit which has conquered. In him we see a man who has climbed from utter humiliation to become one of our most important spiritual leaders and guides. 14 Die Laudatio für den Schriftsteller entwirft eine Entwicklungslinie, nach der er sich aus dem „Abgrund der Lager“ zu einem Botschafter für den Frieden emporgearbeitet hat. Dementsprechend weist sie ihm zwei Subjektpositionen zu: die des erniedrigten Opfers und die eines „moralischen Zeugen“ im Sinne Avishai Margalits. 15 An der Tatsache, dass die Laudatio beide Positionen gemeinsam nennt (abyss und messenger bzw. humiliation und spiritual leader) lässt sich bereits ablesen, dass die Autorität der einen an die Existenz der anderen gekoppelt ist. Zugleich wird dem Überlebenden eine aktive Rolle beim Wechsel der Subjektposition, vom erniedrigten Opfer zum moralischen Zeugen, zu- 12 Zu dieser Rolle vgl. Weissman 2004, 28-88 und Shandler 1999, 203-210. 13 Wiesel erhielt den Friedensnobelpreis 1986. Seine Bekanntheit in den USA hatte bereits ein Jahr zuvor einen Höhepunkt erreicht, als er den damaligen Präsidenten Ronald Reagan auf einer Feier des Weißen Hauses ermahnte, während seiner geplanten Deutschlandreise nicht den Friedhof von Bitburg zu besuchen, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind: „That place, Mr. President, is not your place. Your place is with the victims of the SS“ (Wiesel 1986, 243). Ausschnitte aus dieser Rede wurden bei der Berichterstattung über den Nobelpreis häufig wiederholt. Vgl. Shandler 1999, 204-208. 14 Aarvik 1997, 164. 15 Zum Konzept des moralischen Zeugen siehe oben, S. 68-70. 94 geschrieben: Es ist Wiesel selbst, der sich gegen die Rache entscheidet und den Abgrund aus eigener Kraft, als „triumphierender Geist“ (als spirit which has conquered), verlässt. So wird er zu dem einflussreichen moralischen Zeugen, den der Friedensnobelpreis beschreibt. Folgt man der Argumentation der Laudatio, zeigt ihn das Bild aus N UIT ET B ROUILLARD am anderen Ende der Skala: Die Aufnahme reiht Wiesel in eine Gruppe anonymer Häftlinge ein, zu denen er unterschiedslos gehört. In Buchenwald, in der Situation, die das Photo darstellt, ist der Überlebende (nach der Logik des Nationalsozialismus) niemand, ein Opfer von vielen - in utter humiliation, erniedrigt bis zur Namenlosigkeit. Diese Namenlosigkeit wird in künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten zur Shoah immer wieder thematisch. 16 Sie ist ein Teil der Entmenschlichung, der die Opfer des Nationalsozialismus ausgesetzt waren. Resnais’ Film versucht nicht, ihnen ihre Namen zurückzugeben. Das ist ein Ziel, das sich viele andere Erinnerungsprojekte setzen, z.B. der 2005 eingeweihte Mur des Noms in Paris. Auf einer Mauer, die zum Mémorial de la Shoah gehört, finden sich die Namen unzähliger Juden, die zwischen 1942 und 1944 aus Frankreich deportiert wurden. In N UIT ET B ROUILLARD hingegen werden individuelle Opfer nur zweimal, zu Beginn des Films, beim Namen genannt: „Bürger, ouvrier allemand, Stern, étudiant juif d’Amsterdam, Schmulski, marchand de Cracovie“ und „Annette, lycéenne de Bordeaux“ stehen exemplarisch für all jene, die noch keine Ahnung haben „qu’ils ont déjà, à mille kilomètres de chez eux, une place assignée.“ Anders als der Romanist André Colombat denke ich nicht, dass Resnais und Cayrol hier die „enforced anonymity of the victims“ zurücknehmen. Es scheint mir eine Übertreibung, wenn er schreibt, dass N UIT ET B ROUILLARD „precise names of deportees and cities from all over Europe“ zitiere. 17 Wie beispielhaft und austauschbar diese Namen sind, verdeutlicht Paul Celans Übersetzung für die deutsche Synchronfassung des Films. Seine Version des Textes verzichtet komplett auf die Eigennamen: „Der Arbeiter aus Berlin, der jüdische Student aus Amsterdam, der Kaufmann aus Krakau, die Lycealschülerin aus Bordeaux.“ 18 Sobald die Filmerzählung die Konzentrationslager erreicht, kennt sie nur mehr die anonyme Masse der Opfer. Zum zweiten und letzten Mal innerhalb des Films werden sie benannt, doch dieser Akt verweist nur noch auf die Dissoziation zwischen Menschen, die individuelle Namen tragen, und ihrer Entindividualisierung in den Augen der SS, die sie bloß als Material betrach- 16 Vgl. Levis Notizen über den Häftling Null Achtzehn (siehe oben, S. 58) oder die Konzeptualisierung des „Namenlosen“ (sans nom) in der Philosophie von Emmanuel Lévinas (1976, 141-146). 17 Vgl. Colombat 1993, 141. 18 Celan 1983, 79. 95 tet. Über die Opfer, die im Steinbruch beim Lager Mauthausen umgekommen sind, heißt es hier: De mois en mois elles se terrent, s’enfoncent, se cachent, tuent. Elles portent des noms de femmes: Dora, Laura. Mais ces étranges ouvriers de trente kilos sont peu sûrs. Et le S.S. les guette, les surveille, les fait rassembler, les inspecte et les fouille avant le retour au camp. Wiesel hat sich aus der Namenlosigkeit der Opfer heraus- und in Resnais’ Film wie in das Bewusstsein der Öffentlichkeit hineingeschrieben, from utter humiliation to become one of our most important spiritual leaders and guides. Wenn Bernard-Donals und Glejzer ihn von den anderen Opfern unterscheiden, liegt das keineswegs an dem Photo bzw. an dem Film, den sie untersuchen. Die von ihnen beschworene Differenz ist einem Wechsel der Subjektposition geschuldet, d.h. der heutigen Bekanntheit des Überlebenden. Seine Präsenz in N UIT ET B ROUILLARD ist insofern nachträglich, obwohl ihn der Film schon immer abgebildet hat. 19 Abgesehen davon, dass Wiesel zum Zeitpunkt der Uraufführung noch unbekannt war, gibt es zwei weitere Gründe, warum die nachträgliche Sichtbarkeit und der Wechsel der Subjektposition - vom erniedrigten Opfer zum moralischen Zeugen - hier besonders augenfällig werden. Erstens bezieht sich der in Bernard-Donals und Glejzers Analyse implizite Wunsch, Wiesel zu sehen und zu benennen, auf einen Film, der die Opfer namenlos lässt. Zweitens spielt individuelle Zeugenschaft, wie die Autoren selbst schreiben, keine Rolle innerhalb von N UIT ET B ROUILLARD : „one of the remarkable facets of the film is that it does not rely on the position of the eyewitness at all.“ 20 Resnais hat in zahlreichen Interviews betont, dass er die Regie nur unter der Bedingung angenommen habe, dass ein Überlebender den Erzählerkommentar verfasst. Doch diese „moralische Bürgschaft“ (Resnais) bleibt dem Film äußerlich. 21 Jean Cayrols Text beruft sich niemals auf die Zeugenschaft seines Autors, der 1942 als Mitglied der Résistance verhaftet und nach Mauthausen gebracht wurde. Zum einen spricht der Schriftsteller den Kommentar nicht selbst - ein Schauspieler liest ihn vor. Zum anderen verzichtet der Text fast völlig auf die erste Person Singular. Es ist bezeichnend, dass sie vor allem als Zitat erscheint: zum Beispiel in einer Passage, in der der Erzähler die stereotypen Aussagen anonymer Täter wiederholt. Es handelt sich hier um Sätze, die jede Verantwortlichkeit des „Ichs“ bestreiten: „‘Je ne suis pas respon- 19 Zur nachträglichen/ supplementären Sichtbarkeit Wiesels in N UIT ET B ROUILLARD siehe unten, S. 117-119. 20 Bernard-Donals/ Glejzer 2001, 106. 21 Vgl. Insdorf 2003, 213. Thiele (2001, 181) zitiert ein Interview von 1964, in dem Resnais den Begriff „moralische Bürgschaft“ auf den deutsch-jüdischen Komponisten Hanns Eisler ausdehnt, von dem die Filmmusik stammt. 96 sable’, dit le kapo. ‘Je ne suis pas responsable’, dit l’officier. ‘Je ne suis pas responsable…’“ Auf den Erzähler bezogen, wird die erste Person Singular nur einmal benutzt, nämlich an der bereits zitierten Stelle gegen Ende des Films: „Au moment où je vous parle...“ Das „Ich“ bezieht sich auch hier nicht auf die Subjektposition des Holocaust-Zeugen, sondern - wie oben angedeutet - auf einen kollektiven Blick der Gegenwart zwischen Erinnern und Vergessen. An der bereits zitierten Stelle ist das „Ich“ im „il y a nous qui regardons“ aufgehoben - also dem kollektiven Blick, der die friedliche Landschaft nach Erinnerungsspuren durchsucht, zugleich jedoch in Gefahr steht, das Geschehene in der Vergangenheit zu begraben „comme si le vieux monstre concentrationnaire était mort sous les décombres...“ 22 „Le pronom“, schreibt Sylvie Lindeperg über die erste Person Singular in N UIT ET B ROUILLARD , „ne désigne pas ici le déporté, le témoin oculaire de la tragédie concentrationnaire, mais l’instance d’énonciation du film inscrite dans le temps présent.“ 23 Für den Rest des Textes betont sie die häufige Verwendung unpersönlicher Konstruktionen, z.B. den Einsatz des unbestimmten Pronomens „on“. Bei Cayrol und Resnais bezieht es sich auf die Opfer („on s’occupe des camarades“), die Täter („on commande des boîtes de gaz Zyklon“) und auf die narrative Instanz, die ich als Blick der Gegenwart bezeichnet habe („on parcourt [la voie] lentement à la recherche de quoi? “). 24 Ihre Untersuchung bringt Lindeperg zu dem Schluss, dass N UIT ET B ROUILLARD eine „témoignage sans ‘je’ et presque sans témoin“ sei. 25 Auf ähnliche Weise äußert sich der Bildwissenschaftler Georges Didi-Huberman, wenn er feststellt, dass die Tonspur des Films ganz den Überlebenden gehöre - neben Cayrol meint er damit den Komponisten der Filmmusik Hanns Eisler, der 1933 aus Deutschland emigriert ist. Die Tonspur liefere aber keine „témoignages au sens strict“. Stattdessen handle es sich um 22 Siehe oben, S. 90-91. 23 Lindeperg 2007, 123. Die Historikerin behauptet, dass die erste Person Singular nur am Ende von N UIT ET B ROUILLARD verwendet würde, d.h. sie vernachlässigt die zitierten „Ichs“ der anonymen Täter. 24 Vgl. - auch für die genannten Beispiele - Lindeperg 2007, 121-126. In ihrer Untersuchung der deutschen Sprachfassung weist Thiele (2001, 175-176) ebenfalls auf die unpersönliche Satzkonstruktion hin, vermutet aber, dass sie ein Effekt der Übersetzung sein könnte. Tatsächlich wird das „on“ in der französischen Alltagssprache häufiger gebraucht als das „man“ im Deutschen. Trotzdem ist die Verwendung des unbestimmten Pronomens auch in der Originalfassung des Films auffällig, gerade aufgrund der glissements zwischen Opfern, Tätern und narrativer Instanz, die Lindeperg herausarbeitet. 25 Lindeperg 2007, 123. 97 des écritures volontairement distanciées. Le commentaire de Jean Cayrol ne raconte pas son expérience personnelle des camps, et la musique de Hanns Eisler met en échec toute paraphrase pathétique des images. 26 Didi-Huberman gibt eine ungenaue Beschreibung des Soundtracks. Er vernachlässigt, dass nicht Cayrol den Kommentar spricht, sondern der Schauspieler Michel Bouquet, der als junger Mann während der Besetzung Frankreichs seine ersten Auftritte hatte. 27 Der Behauptung, dass der filmische „espace sonore“ ganz den Überlebenden gehöre, kann also nicht zugestimmt werden. Freilich leidet das Argument, das Didi- Huberman vorbringt, darunter keineswegs. Im Gegenteil wird die Differenz zwischen écriture und témoignage durch den Wechsel der Stimme noch verstärkt. Das ist umso mehr der Fall, als Bouquet den Text distanziert und emotionslos vorträgt. „Resnais a fait un travail de sape sur l’émotion considérable“, erinnert sich der Schauspieler. „Il me faisait reprendre [...] pour chaque fois arriver à la neutralité absolue malgré l’émotion que je ressentais.“ 28 Diese Vorgehensweise unterscheidet sich deutlich vom Einsatz der Erzählerstimme in Louis Malles A U R EVOIR LES ENFANTS . Wie meine Analyse gezeigt hat, autorisiert sich jener Film gerade im Wechsel zum emotional bewegten „Ich“, das ihn als Zeugnis und Erinnerung des Regisseurs etabliert. Auf eine solche testimoniale Beglaubigung verzichtet Resnais innerhalb von N UIT ET B ROUILLARD , wenngleich sie ihm hinter den Kulissen (mit Eisler und Cayrol) als „moralische Bürgschaft“ dient: Der Erzählerkommentar bleibt unpersönlich und wird von dem Schauspieler vergleichsweise emotionslos gesprochen, die Opfer tragen keine Namen und Überlebende wie Wiesel werden zu ihren Erfahrungen nicht befragt. Trotzdem legt Resnais’ Film Zeugnis ab, indem er versucht, die Erinnerung an die Shoah in eine vergessliche Gegenwart zu tragen: Er erfüllt eine testimoniale Funktion, obwohl er sich nicht über persönliche Zeugenschaft autorisiert. Die Differenzierung, die Didi-Huberman und Lindeperg mit Formeln wie témoignage presque sans témoin und der Unterscheidung von écriture und témoignage versuchen, trägt diesem Umstand Rechnung. Meiner Arbeit geht es, wie in der Einleitung erläutert, um die testimoniale Autorisierung von Texten - nicht um ihre testimoniale Funktion, soweit diese von entsprechenden Strategien der Beglaubigung getrennt bleibt. Wenn Bernard-Donals und Glejzer N UIT ET B ROUILLARD analy- 26 Didi-Huberman 2003, 164. 27 Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Bouquet vierzehn Jahre alt. An die Occupation erinnert er sich als eine Zeit, die „heureuse malgré tout“ war (zit. nach Lindeperg 2007, 129). Insofern unterscheidet sich seine Erfahrung der Kriegszeit radikal von der Cayrols und Eislers. Während der Schriftsteller im Konzentrationslager war, musste der Komponist ins Exil gehen. 28 Zit. nach Lindeperg 2007, 129. 98 sieren, heben sie den Verzicht auf die testimoniale Autorisierung hervor: Ihrer Meinung nach stellt es „one of the remarkable facets of the film“ dar, dass er sich nicht auf die Position des Augenzeugen beruft. 29 Trotzdem liest ihre Interpretation einen Zeugen in den Film hinein, gerade indem sie die Abwesenheit der Zeugenschaft betont: „Even Wiesel is not named in the image from Buchenwald.“ Der Überlebende wird zum einzigen Opfer aus Resnais’ Film, das wieder einen Namen trägt. Eine Photographie anonymer Häftlinge verwandelt sich in „the now famous picture of Elie Wiesel“, um den andere Männer, other men, gruppiert sind. Dieser Verwandlung, die Zeugenschaft in einem Film ohne Zeugen findet, werde ich nun weiter nachgehen. Sie liegt - so meine These - nicht bloß an der Bekanntheit eines einzelnen Schriftstellers und daran, dass er - wie die Laudatio zum Friedensnobelpreis zurecht betont - an seiner Zeugenschaft gearbeitet hat. Vielmehr verweist sie auf größere kulturelle Veränderungen, primär in westlich geprägten Gesellschaften, seit den 1950er Jahren. Wiesels Weg aus der Namenlosigkeit zum „Zeugen für Wahrheit und Gerechtigkeit“ korrespondiert mit der zunehmend zentralen Stellung der Holocaust-Zeugenschaft. Die testimoniale „Verwandlung“ von N UIT ET B ROUILLARD unterstreicht also, wie wichtig die Rolle des überlebenden Zeugen „nach Auschwitz“ geworden ist und dass er diese Stellung, selbst „nach Auschwitz“, nicht immer besessen hat; dass sich also der Diskurs „nach Auschwitz“ im Lauf der Zeit ändert. Bernard-Donals’ und Glejzers Suche nach dem Zeugen scheint mir aus zwei weiteren Gründen bemerkenswert. Erstens, weil sie nicht nur Änderungen in narrativen Darstellungen der Shoah geschuldet ist (die sich seit den sechziger Jahren zunehmend testimonial autorisieren), sondern zugleich zeigt, dass sich Texte mit den Rezeptionsbedingungen ändern: Obwohl Resnais’ Film keine testimoniale Autorisierung vornimmt, ist es heute möglich, die Autorität eines Zeugen in N UIT ET B ROUILLARD zu finden. Zweitens interessiert mich das Vokabular, mit dem Bernard-Donals und Glejzer ihre Bildbeschreibung vornehmen. Sie sprechen von den „haunting faces“ der Opfer, unter denen sie Wiesel eine zentrale Position einräumen. So wird sein stummer Blick - „staring at the camera“ - zum pars pro toto für die „Heimsuchung“ (haunting) durch die Shoah. Wiesels „stummer Blick“, d.h. ein körperliches Phänomen, zeugt für die lebenden wie die toten Opfer. Während es Zufall ist, dass Wiesel in N UIT ET B ROUILLARD abgebildet wird, ist es kein Zufall, dass Bernard-Donals und Glejzer ihm die Rolle des paradigmatischen Zeugen zuschreiben. Die Forschungsliteratur ist sich weitgehend einig, dass sein Aufstieg mit dem des Überle- 29 Vgl. Bernard-Donals/ Glejzer 2001, 106-110 zu diesem und den folgenden Zitaten, die oben im einzelnen belegt wurden. 99 benden als Zeugen verknüpft sei: „If a single figure is situated at the pinnacle of Holocaust survivors’ public ascendance“, schreibt Jeffrey Shandler, „it is Elie Wiesel“. 30 Die Metapher der Verkörperung taucht in diesem Zusammenhang häufig auf. So heißt es bei Annette Wieviorka über den Schriftsteller, „[qu’il] incarne aux Etats-Unis la figure du survivant.“ 31 Hier positioniert die Rede von der Verkörperung Wiesel, innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontexts (dem der Vereinigten Staaten), als Paradigma des Holocaust-Überlebenden. Ein leicht anderer Wortgebrauch findet sich bei dem New Yorker Kritiker Alfred Kazin, der Wiesel mit maliziösem Unterton attestiert, er sei „a professional survivor“ geworden: „For the many Jews who like me had experienced nothing of the horror, Elie Wiesel became the very embodiment of the Holocaust.“ 32 Hier ist Wiesel nicht „nur“ paradigmatischer Überlebender; in den Augen Kazins wird er - wieder für eine spezifische Gruppe (die amerikanischen Juden) - zum Metonym für den Holocaust. Bevor ich zur Frage der Verkörperung (incarnation, embodiment) zurückkehre, möchte ich zunächst die marginale Position der Holocaust- Überlebenden und ihrer Zeugenschaft in den 1950er Jahren skizzieren. Dabei konzentriere ich mich auf Westdeutschland, die USA und - vor allem - auf Israel. Das hat den Grund, dass von dem 1948 gegründeten Staat eine Wende in Bezug auf den Stellenwert der Holocaust-Zeugenschaft ausging, die Wirksamkeit auf internationaler Ebene, gerade auch in den beiden erstgenannten Ländern, entfaltet hat. Es handelt sich um eine Wende, als deren Kristallisationspunkt der Eichmann- Prozess 1961 in Jerusalem gilt. In meiner Lesart jenes Gerichtsverfahrens bzw. seiner Darstellung durch Gideon Hausner und Hannah Arendt zeige ich, wie sich dort eine Form von Zeugenschaft manifestiert, die in ihrer juristischen Funktion nicht aufgeht. Sie ist es, die den Diskurs „nach Auschwitz“ in der Folgezeit prägt, so dass man - mit Annette Wieviorka - von einer regelrechten „Entstehung“ des Zeugen (émergence du témoin) sprechen kann. 33 Ich werde vier Aspekte des testimonialen Funktionswandels hervorheben. Erstens betrifft er das Verhältnis von Zeugenschaft und Literatur; zweitens versucht er, der „Unerzählbarkeit“ der Shoah mit einer Politik der „kleinen Erzählungen“ zu begegnen; drittens betont er die affektive Dimension der Zeugenschaft (d.h. ihre Wirkung auf die Zuhörer); viertens privilegiert er 30 Shandler 1999, 203. Vgl. z.B. auch Rosenfeld 1996, 137. 31 Wieviorka 1998, 139. Meine Hervorhebung. 32 Kazin 1989, 121. Kazin wirft dem Überlebenden vor, dass er vor dieser Rolle - der „Verkörperung“ des Holocaust - nicht zurückgeschreckt sei: „He did not seem to shirk the role [...]“ (Kazin 1989, 121). Zur wechselhaften - zwischen Faszination und gegenseitiger Enttäuschung schwankenden - Beziehung zwischen Kazin und Wiesel vgl. Weissman 2004, 28-88. 33 Vgl. Wieviorka 1998, 118. 100 den körperlich-performativen Aspekt der Zeugenaussage. Davon ausgehend komme ich auf Elie Wiesel und die Problematik der Verkörperung zurück. Mit dem Phantasma des „stummen Boten“ wird ein Autorisierungsmodell skizziert, dessen Aufbau der letzte Teil meines Kapitels an einer Lektüre von Wiesels L A N UIT herausarbeitet. Eichmann oder Die Entstehung des Zeugen Berücksichtigt man die historische Situation der fünfziger Jahre, so ist es - anders als Bernard-Donals und Glejzer meinen - nicht ungewöhnlich, dass Resnais’ Film sich nicht auf die Position des Augenzeugen beruft. Der Holocaust-Diskurs in Europa, den Vereinigten Staaten und Israel war zu jener Zeit weniger testimonial geprägt als es mittlerweile der Fall ist. Die überlebenden Opfer der Shoah stießen auf große Probleme, einen Platz im öffentlichen Bewusstsein zu finden. Dafür gibt es vor allem zwei, einander nicht ausschließende, Erklärungsmuster. Das erste fokussiert die psychologische Situation der Überlebenden. Es gründet in der Annahme, dass die meisten von ihnen - aufgrund ihrer nachhaltigen Traumatisierung - zunächst kein Zeugnis ablegen konnten. 34 Das andere Erklärungsmuster, das in der wissenschaftlichen Diskussion seit den neunziger Jahren vorherrscht, konzentriert sich auf die kulturellen und gesellschaftspolitischen Hintergründe des Schweigens, das dann auch als Mangel an Zuhörerschaft verstanden werden kann. 35 Der Historiker Peter Novick hat dies in exemplarischer Weise für den nordamerikanischen Holocaust-Diskurs herausgearbeitet. Er argumentiert, dass die unmittelbare Nachkriegszeit von einem Wunsch zur kulturellen Assimilation geprägt war. Der Aufstieg der Holocaust- 34 Ablehnend dazu vgl. Novick 1999, 2-4. 35 Zwischen den beiden Erklärungsmustern stehen Konzepte wie Yael Danielis „conspiracy of silence“, die das Schweigen über die Shoah auf Seiten der Überlebenden mit einer Unfähigkeit auf Seiten der Zuhörer erklären, „to listen, explore, understand, and help“ (Danieli 1994, 369). Die Angst vor fehlender Zuhörerschaft wird auch bei Primo Levi thematisiert, der schreibt, dass alle Häftlinge im Lager den - mehr oder weniger gleichen - Traum gehabt hätten: dass sie nach Hause zurückkehren, vom KZ erzählen und niemand ihnen zuhört. „E un godimento intenso, fisico, inesprimibile“, beschreibt Levi seine Variante des Albtraums, „essere nella mia casa, fra persone amiche, e avere tante cose da raccontare: ma non posso non accorgermi che i miei ascoltatori non mi seguono. Anzi, essi sono del tutto indifferenti: parlano confusamente d’altro fra di loro, come se io non ci fossi [Ein intensives, körperliches, unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause, mitten unter Freunden zu sein und so viele Dinge zu berichten zu haben: aber ich kann nicht übersehen, dass meine Zuhörer mir nicht folgen. Tatsächlich sind sie komplett uninteressiert: sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden].“ (Levi 1976, 74). Freilich ließe sich diese Darstellung auch dem ersten Erklärungsmuster zuschlagen, da sie - innerhalb der beschriebenen Lagersituation - eine Projektion des Opfers bleibt. 101 Erinnerung in die zentrale Rolle, die sie für die US-amerikanische Gesellschaft heute spielt, hänge mit einem „Niedergang“ des integrativen Ethos zusammen. Dieser habe betont, „what Americans have in common and what unites us.“ 36 Er werde abgelöst durch die partikularistische Grundhaltung (particularist ethos), gemäß derer sich eine Gruppe danach definiert, was sie von ihren Mitbürgern unterscheidet. Für amerikanische Juden nennt Novick das gemeinsame Wissen „that but for their parents’ or (more often) grandparents’ or great-grandparents’ immigration, they would have shared the fate of European Jewry.“ 37 Die Verschiebung vom integrativen zum partikularistischen Ethos ist nicht auf die Gruppe der amerikanischen Juden beschränkt. Sie bildet, in den Worten Matthew Frye Jacobsons, „[a] general movement in late-twentieth-century American thought [...] from a paradigm of human unity to one of ethnic particularity.“ 38 Im Amerika der fünfziger Jahre dominiert noch ein national-integratives Geschichtsbild, das der Erinnerung an die Shoah und dem Leid der Opfer kaum Platz einräumt. Der Zweite Weltkrieg wird vornehmlich durch die Figur des Befreiers und heldenhaften GIs verkörpert. „Whereas nowadays the status of victim has come to be prized“, schreibt Novick, in the forties and fifties it evoked at best the sort of pity mixed with contempt. It was a label actively shunned. The self-reliant cowboy and the victorious war hero were the approved (masculine) ideals. Few wanted to think of themselves as victims and even fewer to be thought about that way by others. 39 Zur Marginalisierung der Shoah trägt auch der Kalte Krieg bei, unter anderem weil das bipolare Weltbild eine rasche Normalisierung der Beziehungen zu Westdeutschland bedingt. Schon 1947 stellt das American Jewish Committee fest, dass Washington den vormaligen Kriegsgegner zum „bulwark against Bolshevism“ aufbauen wolle. 40 Eine solche Politik lässt wenig Raum für die öffentliche Auseinandersetzung mit der Shoah, wie etwa Selma Leydesdorff und Richard Crownshaw schreiben: „To speak out against Germany was to speak out against American interests. In a climate of conformity, to voice Holocaust memory made one conspicuous.“ 41 Das bedeutet keineswegs, dass diese Erinnerung nicht auch öffentlich existiert hätte, doch sie blieb aus dem nationalen Rahmen ausgegrenzt: „[Holocaust memory] was confined to Jewish communities [...] and to Jewish rituals, and voiced in 36 Novick 1999, 6. Novicks Wortwahl scheint problematisch, insofern Niedergang (decline), vielleicht ungewollt, eine Wertung impliziert und die partikularistisch definierte Gesellschaft als Verfallstufe der „wahren“ Gemeinschaft positioniert. 37 Novick 1999, 7. 38 Jacobson 2006, 32. 39 Novick 1999, 121. 40 Vgl. Novick 1999, 91. 41 Crownshaw/ Leydesdorff 2005, x. 102 languages other than English.“ 42 Immerhin aber gab es in den USA Gemeinschaften, in denen den tatsächlichen Opfern der Shoah gedacht werden konnte - auch wenn dies kein Element der nationalen Erinnerungskultur darstellte. In Westdeutschland hingegen blieb die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wenn sie denn stattfand, auf die Rhetorik des Neuanfangs, d.h. auf die Abgrenzung vom Nationalsozialismus beschränkt. Dazu gehörte, wie Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrer vielzitierten Studie über die U NFÄHIGKEIT ZU T RAU- ERN (1967) zeigen, eine radikale Verschiebung von der Identifikation mit Hitler zur Identifikation mit den Alliierten - bis hin zu dem Punkt, wo man sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus sieht. 43 Diese Situation spiegelt sich in dem Zitat zu N UIT ET B ROUILLARD , das die ablehnende Haltung der deutschen Botschaft gegenüber einer Aufführung des Films in Cannes begründet. Staatssekretär Hans Ritter von Lex trifft darin eine strenge Unterscheidung zwischen dem „deutschen Volk“ und den „nationalsozialistischen Verbrechen“; den Zusammenhang zwischen beiden Entitäten sieht er primär darin, dass jene Verbrechen einen Hass gegen die Deutschen erzeugt hätten, die dann - denkt man den Satz bis an das unausgesprochene Ende - selbst Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen wären. Auch die Opposition im Bundestag, die das Vorgehen der Botschaft aufs Schärfste ablehnt, formuliert ihr Plädoyer für den Film in Bezugnahme auf eine Unterscheidung zwischen NS-Regime und Deutschland. Zum Beispiel fragt die Abgeordnete Annemarie Renger (SPD), ob nicht auch die Bundesregierung meine, dass „sie sich durch die Vorführung gerade solcher Filme von den Verbrechen des Nationalsozialismus absetzt? “ 44 Die Rhetorik des Wirtschaftswunders und Neuaufbaus beanspruchte einen klaren Schlussstrich zu dem was war: zwar wurde die NS-Zeit verurteilt, doch die Auseinandersetzung mit ihr als Bestandteil der eigenen Vergangenheit gescheut. Mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer lässt sich dieses Geschichtsmodell als die „Alltagstheorie“ beschreiben, dass ‚die Nazis’ und ‚die Deutschen’ zwei verschiedene Personengruppen gewesen seien, dass ‚die Deutschen’ als Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe zu betrachten sind, die selbst Opfer des Nationalsozialismus war. 45 Anders als in Europa und Nordamerika wird das Gedenken an die Shoah früh zu einem zentralen Bestandteil der Erinnerungskultur Israels. Das mag kaum überraschen; im Kontext meiner Arbeit ist jedoch 42 Crownshaw/ Leydesdorff 2005, x. 43 Vgl. Mitscherlich 1969. Zur versäumten Trauerarbeit im Deutschland der Nachkriegszeit siehe auch Santner 1990, 3-7. 44 Zitiert nach Thiele 2001, 185. 45 Welzer 2001, 72. 103 interessant, dass auch dieser Anerkennung eine spezifische Verdrängung des Holocaust eingeschrieben bleibt, wie zahlreiche Studien belegen. 46 Mitunter bildet sie sich in einer ambivalenten Haltung gegenüber den Opfern ab, deren Geschichte den 1948 gegründeten Staat legitimierte, aber quer zur gewünschten Nationalidentität stand. Einerseits bestätigt die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden auf drastische Weise die zionistische Lesart der Diaspora als einer unwürdigen Seinsweise, die keine Alternative zu einem jüdischen Staat bietet. 47 „Getting the Jews out of the Diaspora and getting the Diaspora out of the Jews“, soll David Ben-Gurion, der erste israelische Premierminister, als Aufgabe des Zionismus formuliert haben. 48 Nach dieser Sichtweise muss die Diaspora - andererseits - vergessen werden, wo ihre angebliche Schwäche und Wehrlosigkeit nicht zur Legitimation des Staates dient. Zu stark scheint die Gefahr, dass das von ihr gezeichnete Bild auf die neue jüdische Gesellschaft abfärbt. Yosefa Loshitzky beschreibt diese Angst an der Art, wie Holocaust- Überlebende in den Jahren nach der Staatsgründung wahrgenommen wurden. Für die israelischen - dort geborene oder vor dem Zweiten Weltkrieg ausgewanderte - Juden stellen die überlebenden Opfer, so Loshitzky, den Inbegriff des „alten“ Juden dar: They symbolized, in particular, Jewish weakness, and there were real fears that the new, heroic Jews would be ‘infected’ with this by the survivors. Although the state laid claim to the memory of the Holocaust, then, this did not refer to the real survivors and their suffering: Israel remembered the Holocaust but forgot the survivors. 49 Ähnliches beschreibt Nurith Gertz am Beispiel des frühen israelischen Kinos, das die Überlebenden nur als das Andere der israelischen Identität kenne; es entspreche dem „zionistischen Narrativ“ dieser Filme, dass der Überlebende verfolgt und heimatlos sei, angewiesen auf die Gnade von Nicht-Juden und heimgesucht von den Schrecken der Shoah: „He threatens to dredge up the repressed Jewish past, to turn the equation inside out, to turn the Israeli back into a Diaspora Jew.“ 50 46 Neben den im Text genannten Arbeiten vgl. z.B. Don-Yehiya 1993, Segev 1993 u. Yablonka 1998. 47 Vgl. Loshitzky 2004, 183. Ich beziehe mich hier auf die Variante des Zionismus, die in der israelischen Politik der Anfangsjahre dominiert - wohl wissend, dass es alternative Modelle gibt, z.B. den Achad-Haamismus, der die Diaspora nicht zugunsten des Nationalstaats auflösen will. Zur Geschichte des Zionismus vgl. Laqueur 2003. 48 Zit. nach Young 1993, 211. 49 Loshitzky 2004, 183-184. Meine Hervorhebung. 50 Gertz 1999, 175. 104 Die Angst vor einer - wie Lohitzky sagt - „Ansteckung“ (infection) 51 des Staats und der „neuen Juden“ durch die angebliche Schwäche der Diaspora führt zu einem Riss in der israelischen Holocausterinnerung, der sich an der Institutionalisierung des Yom Hashoah Vehagvurah studieren lässt . Zum Beispiel hat James Young eine „performative“ Geschichte dieses Gedenktags „für Shoah und Heldentum“ vorgelegt. 52 Sie fragt, welche Formen der Erinnerung Yom Hashoah in seinen unterschiedlichen Entwicklungsstufen generiert, und auf welche Weise das jeweils geschieht. 53 Laut Young verläuft der Riss im israelischen Holocaustdiskurs der fünfziger Jahre zwischen Opfertum und Heroismus, zwischen einem Vergessen der Vergangenheit, um sich auf die Aufgaben der Staatsgründung zu konzentrieren, und der Erinnerung daran, was den jüdischen Staat notwendig macht. 54 Der Versuch, die Dichotomie zu lösen, führe zum „ubiquitous twinning of martyrs and heroes in Israel’s memorial iconography.“ 55 Diese Kopplung zeigt sich am Namen des Gedenktags - „für Shoah und Heldentum“ - ebenso wie am gewählten Datum. Es liegt in zeitlicher Nähe zum Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands: „a date [...] that coincides with most of the slaughter of European Jewry and with the ghetto uprisings that took place in the month of Nissan“, wie Knessetmitglied Mordechai Nurock 1951 zur Einführung des Yom Hashoah erklärt. 56 Die Verbindung zum Ghettoaufstand legt den Fokus des Gedenktags zunächst auf jene Aspekte der Shoah, die im traditionellen Sinn als heroisch wahrnehmbar sind: zum Beispiel den bewaffneten Widerstand. Demgegenüber erfährt die Erinnerung „gewöhnlicher“ Überlebender eine Marginalisierung. 57 Der Historikerin Yael Zerubavel zufolge, die die 51 Die Metapher der Infektion, die auch Loshitzky in Anführungszeichen verwendet, ist hoch problematisch, da sie einer „Semantik des Volkskörpers“ und einer „totalitären Politik der Reinheit“ verpflichtet bleibt (Sarasin 2004, 160), die letztlich auf die Vernichtung derer zielt, die als „infektiös“ wahrgenommen werden. Zur Metaphorik der Infektion vgl. Sarasin 2004, 160-171 und passim. 52 Vgl. Young 1993, 263-281. 53 Vgl. Young 1993, 249. 54 Vgl. Young 1993, 211. 55 Young 1993, 212. Vgl. zum folgenden auch Zerubavel 1995, 74-76. 56 Zit. nach Young 1993, 252. Nach dem jüdischen Kalender findet der Yom Hashoah Vehagvurah jedes Jahr zum 27. Nisan statt. Da der jüdische Kalender nach dem Mond berechnet wird, schwankt das entsprechende Datum nach dem gregorianischen Kalender - meistens beginnt der Nisan Mitte März. 57 Lawrence Langer, der eine Vielzahl von Interviews mit Überlebenden analysiert hat, kommt zu dem Schluss, dass Heroismus unvereinbar sei mit den Erinnerungsformen, die in diesen Gesprächen zum Ausdruck kommen: „Heroic memory is virtually unavailable to such witnesses, because for them remembering is invariably associated with a jumbled terminology and morality that confuse staying alive with the intrepid will to survive“ (Langer 1991, 176). Deshalb verwahrt Langer sich gegen die „Grammatik“ von Heroismus und Martyrium, die vorgebe, dass „the Nazi assault on the body and spirit of its victims did no fun- 105 Bildung der israelischen Nationaltradition untersucht, drückt sich diese Perspektivierung u.a. in den Schulbüchern der Zeit aus: Im Gegensatz zu anderen jüdischen Opfern werden Partisanen und Ghettokämpfer darin als Hebräer oder Zionisten bezeichnet, um eine symbolische Brücke zum modernen Israel zu schlagen: Israeli society thus embraced the ghetto uprisings and the partisan’s fight as part of the Holocaust past with which it identified and which it eagerly glorified. […] Conversely the rest of the Holocaust experience was relegated to Exile and associated with the ‘Other,’ the submissive exilic Jew. 58 Mehr noch als die genannten Beispiele aus Deutschland und Nordamerika zeigt die israelische Erinnerungspolitik im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung, wie wenig Platz für die Zeugenschaft der Überlebenden blieb. Dieser Umstand wird an Israel gerade deshalb besonders deutlich, weil das Gedenken an die Shoah für den noch jungen Staat eine größere Rolle spielte als für Europa oder die Vereinigten Staaten. Israel ist es auch, von wo die erste - international bedeutsame - Wende in Bezug auf den Status der Überlebenden und ihrer Zeugenschaft ausgeht; als ihr Symbol gilt ein Gerichtsverfahren, das 1961 in Jerusalem stattfindet. 59 Es handelt sich um den Prozess gegen Adolf Eichmann, angeklagt im Namen von „six million prosecutors“, deren Blut zum Himmel schreie, doch deren Stimme nicht gehört werden kann, so Generalstaatsanwalt Gideon Hausner in der Eröffnungsrede: „Therefore it falls to me to be their spokesman and to unfold in their name the awesome indictment.“ 60 In dieser Rolle sollen ihn rund hundert Überlebende der Shoah unterstützen, die Hausner als Zeugen geladen hat. Dieser Schritt, behauptet er in seinen Prozesserinnerungen, sei für eine Verurteilung nicht nötig gewesen: „In order to merely secure a conviction“, schreibt er 1966, „it was obviously enough to let the archives speak; a fraction of them would have sufficed to get Eichmann sen- damental damage to our cherished belief that, even in the most adverse circumstances, character is instinctively allied to the good“ (Langer 1991, 162). 58 Zerubavel 1995, 76. 59 Die Auffassung, dass der Prozess gegen Eichmann eine Zäsur im israelischen und internationalen Umgang mit der Shoah darstelle, hat in der neueren Forschungsliteratur oft Kritik erfahren. Vgl. z.B. Yablonka 2004, 6 u. 155-159 oder Cesarani 2005, 1-7. Zur Debatte steht allerdings nicht die Frage, ob das Verfahren tatsächlich als Wendepunkt zu bezeichnen sei: Darüber scheint weitgehend Einigkeit zu herrschen. Die Kritik entzündet sich vielmehr an der Illusion der klaren Grenzziehung, die eine solche Datierung mitunter fördert - als ob z.B. die Shoah vor dem Prozess überhaupt keinen Weg ins öffentliche Bewusstsein gefunden hätte. 60 Zitiert nach Hausners Erinnerungen an den Prozess, die 1966 zugleich auf Englisch, Hebräisch und Französisch erschienen sind. Vgl. Hausner 1967, 323-324. Alle weiteren Verweise auf Hausners Buch erscheinen in Klammern im Text. 106 tenced ten times over“ (291). Wenn dem wirklich so ist, warum lässt Hausner dann Menschen statt Archive sprechen? Der Generalstaatsanwalt erklärt seine Entscheidung nicht juristisch, sondern mit einer gesellschaftspolitischen Notwendigkeit. Die Jugend Israels habe den Kontakt zur unmittelbaren Vergangenheit des jüdischen Volkes - seiner Verfolgung und Vernichtung in der Diaspora - verloren. Folglich soll das Gerichtsverfahren mehr bewirken als das Urteil gegen einen Kriegsverbrecher; es soll Geschichte zu moralischen Zwecken veranschaulichen: „It was imperative for the stability of our youth that they should learn the full truth of what had happened“ (291). Hausner befindet sich diesbezüglich im Einklang mit dem Premierminister Ben-Gurion, der den Eichmann-Prozess als Chance sieht, die Notwendigkeit Israels noch einmal zu unterstreichen und den Staat als einzig legitime Vertretung aller - auch der ermordeten - Juden zu autorisieren: [T]he six million Jews had no sovereign redeemer of their own, until the state of Israel was established. The Jewish state is the heir of the murdered Six Million, the only heir. 61 Neben juristischen Zielen geht es Hausner und Ben-Gurion um eine national bestimmte Historiographie im Dienst der israelischen Gegenwart, um eine Formung des kulturellen Gedächtnisses zugunsten der zionistischen Politik. 62 In seiner lesenswerten Studie zur Justizgeschichte (M EMORY OF J UDGMENT , 2001) argumentiert Lawrence Douglas, dass solche Versuche, die Strafverfolgung pädagogisch zu instrumentalisieren, kennzeichnend für Prozesse seien, die über „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ handeln. Für den pädagogischen Erfolg seines Verfahrens fürchtet Generalstaatsanwalt Hausner vor allem ein Hindernis, nämlich die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Das Ausmaß der jüdischen Katastrophe hindere uns daran, die schiere Zahl der Opfer in wirkliche - ermordete - Menschen rückzuübersetzen: „they turn into incomprehensible statistics“ (292). An dieser Problematik seien die Nürnberger Prozesse, so Hausner, gescheitert. Dort hatte es die Anklage als ihre Aufgabe formuliert, „[to] establish incredible events by credible evidence.“ 63 Um das zu erreichen, griff sie primär auf schriftliche Dokumente und einen Film über die Befreiung der Lager (N AZI C ONCENTRATION C AMPS ) zurück; persönlich anwesende Zeugen spielten für die Beweisführung keine große Rolle. 64 Aufgrund dieser Konzentration auf Archivmaterial hätten es 61 Zit. nach Yablonka 2004, 50 (Brief an Joseph Proskauer vom 8. Juli 1960). 62 Vgl. Douglas 2001, 3. 63 Zit. nach Douglas 2001, 18. 64 Zu N AZI C ONCENTRATION C AMPS vgl. Douglas 2001, 23-64. Anders als N UIT ET B ROUILLARD autorisiert sich dieser frühe Dokumentarfilm durchaus über testimoniale Figuren. „Im Film selbst“, schreibt Judith Keilbach, werden „Augen- 107 die Nürnberger Prozesse, zwar juristisch erfolgreich, nicht geschafft, „to reach the hearts of men“ (291). Hausner zufolge sind bloße Dokumente nicht geeignet, die Shoah glaubhaft zu vermitteln, da sie in ihnen eine geisterhafte Erscheinung, eine „fantastic, unbelievable apparition“ (292) bleibe. Durch die Anwesenheit von Zeugen will der Staatsanwalt diesem Gespenst eine „reale Dimension“ verleihen. Ihre Aussagen sollen das abstrakte Gesamtgeschehen in eine Vielzahl kleinere, greifbare Erzählungen aufbrechen: The story of a particular set of events, told by a single witness, is still tangible enough to be visualized. Put together, the various narratives of different people about diverse experiences would be concrete enough to be apprehended. In this way I hoped to superimpose on a phantom a dimension of reality. (292) Hausner skizziert hier eine Politik der „kleinen Erzählungen“, wie sie Jean-François Lyotard fast zwei Jahrzehnte später als Kennzeichen der postmodernen Skepsis gegenüber einer totalisierenden Gesamterzählung (den grands récits) formuliert. 65 Im Unterschied zur postmodernen Praxis, die Lyotard vorschwebt, sollen die „kleinen Erzählungen“ der Zeugen jedoch eine „große Erzählung“ der Shoah ergeben. Trotzdem bleibt der detotalisierende Effekt der petits récits erhalten - nicht allein deshalb, weil Hausner rund hundert Zeugen geladen hat, deren Aussagen oft fragmentarisch und unfokussiert scheinen (in dem Sinn, dass sie mehr erzählen als juristisch nötig). Es geht dem Staatsanwalt auch gar nicht darum, neues Beweismaterial zu erhalten („to merely secure a conviction, it was obviously enough to let the archives speak“, 291), sondern um den vermeintlichen Realitätseffekt der individuellen Zeugenschaft („to superimpose [...] a dimension of reality“, 292). In einem Interview von 2001 operiert Geoffrey Hartman - ohne auf Hausner oder den Eichmann-Prozess Bezug zu nehmen - mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von Archiv und Zeugenschaft. Dort findet sich auch die Idee, testimoniale Erzählungen (the testimony-mode) mit Lyotards Modell der petits récits zu vergleichen. „There is no sign“, sagt Hartman, „that any of the historical data you have previously collected will be radically changed by the testimonies.“ 66 Obwohl er fast vierzig Jahre nach Hausner spricht, und sich auf Zeugnisse bezieht, die zeugenschaft und Beglaubigung motivisch aufgegriffen.“ Zahlreiche Einstellungen zeigen Menschen, die das Lager besichtigen und „schließlich legen sogar mehrere Zeugen (ein US-amerikanischer Kriegsgefangener, eine Häftlingsärztin, ein britischer Offizier) in einer direkten Adressierung der Kamera resp. dem Zuschauer Zeugnis ab“ (Keilbach 2003, 156). Trotzdem ist die Gegenüberstellung von Nürnberg als „dokumentarischem“ und Eichmann als „testimonialem“ Prozess, wie sie neben Hausner z.B. Douglas (2001, 258) oder Felman (2002, 132-133) vornehmen, gerechtfertigt. 65 Vgl. Lyotard 2005, 7-8 u. 98-108. 66 Ballengee 2001, 221-222 (Gespräch mit Geoffrey Hartman). 108 im Yale Fortunoff Archive gesammelt werden, geht es ihm - wie dem Staatsanwalt - nicht um die Sammlung, sondern um eine glaubhafte Übertragung von Wissen: What the testimonies achieve is more a realization, the fuller realization of what happened. The petit récit elicits empathy. And so we don’t have a reality issue in the ordinary [historical] sense. 67 Hinsichtlich ihrer Privilegierung der „kleinen Erzählung“, bezüglich der Gegenüberstellung von (Archiv-)Wissen und Zeugenschaft sowie in der Hoffnung auf die testimoniale Beglaubigung einer unglaublichen Wirklichkeit lassen sich Hartmans und Hausners Projekt vergleichen. Der zeitliche und technologische Abstand, der beide trennt (bei Hartman geht es letztlich um video testimonies) unterstreicht nur, wie anhaltend der testimoniale Wandel ist, der sich im Eichmann-Prozess formuliert. Hausners Herangehensweise scheint jedoch nicht nur bemerkenswert, weil er das unglaubliche Ausmaß des Verbrechens durch eine testimoniale Politik der „kleinen Erzählung“ beglaubigen will. Hervorzuheben ist auch, dass der intendierte gesellschaftspolitische Aspekt des Eichmann-Prozesses - die Stabilität Israels - mit Hilfe der Menschen zustande gebracht wird, die im zionistischen Narrativ der 1950er Jahre weitgehend marginalisiert waren: mit den überlebenden Opfern der Shoah. Douglas beschreibt, wie Hausner in Jerusalem versucht, ihre Aussagen zur Unterstützung der israelischen - von den Stichworten Heroismus und Erlösung geprägten - „Staatserzählung“ einzusetzen, und nennt dieses Projekt „turning survivor testimonies into narratives of heroic memory.“ 68 Doch ebenso wenig wie die Zeugnisse in ihrer juristischen Funktion aufgehen, lassen sie sich dem zionistischen Narrativ restlos einverleiben. Diesen doppelten Bruch macht Douglas beispielhaft am Zeugnis der Ada Lichtman (28. April 1961) fest. 69 Zum einen sagt die Zeugin, die kaum Hebräisch spricht, auf Jiddisch aus, d.h. nicht in der offiziellen Sprache Israels und des Zionismus, 70 die zum ersten Mal aus dem Gerichtssaal verschwindet: Hausner und die Richter verzichten auf eine Simultanübersetzung. Zum anderen kann Ada Lichtman nichts zur Frage der Schuld Eichmanns beitragen, aber 67 Ballengee 2001, 222. 68 Vgl. Douglas 2001, 153-173; hier: 153. Den Begriff heroic memory übernimmt Douglas - inklusive der kritischen Obertöne - von Langer 1991. Vgl. Douglas 2001, 128. 69 Zum Folgenden vgl. Douglas 2001, 102-106 und Wieviorka 1998, 102-107. 70 Eine Kindheitserinnerung des Architekten Daniel Libeskind verdeutlicht den geringen Stellenwert des Jiddischen im Israel der fünfziger Jahre: „I remember how shocked I was, as a child in Israel in the late 1950s (after we emigrated from Poland), that when we spoke Yiddish on the streets of Tel Aviv somebody would say, ‘Shhh! We are Israelis, this is a new place, this is not Poland. You are in another place now’“ (Libeskind 2003, 47). 109 sie erzählt von ihrem Überleben ebenso wie von den Toten und davon, wie diese umgebracht wurden. Indem das Verfahren von Jerusalem ihr wie vielen anderen ein Forum gibt, um diese Verbrechen vorzutragen, it helped remove an episode of unprecedented horror from the silences of shame, unexamined horror, and purposeful avoidance and transform it into an episode of world historical significance and collective meaning. 71 Viele Berichte über den Eichmann-Prozess notieren, dass sich durch diese Konzentration auf die Gräuel der Shoah - Hannah Arendt spricht über den Prozess als „bloody show“ 72 - eine Fokusverschiebung vom angeklagten Täter zu den Zeugen bzw. den Opfern der Verbrechen ergibt: „Le procès de Jérusalem“, schreibt Wieviorka zusammenfassend, „était en théorie celui du bourreau. Or très vite, Adolf Eichmann disparaît. [...] L’homme derrière la cage de verre s’efface devant les victimes.“ 73 Diesem „Verschwinden“ des Täters setzt die Historikerin die kulturgeschichtliche „Entstehung“ (émergence) bzw. „Ankunft“ (avènement) des Zeugen gegenüber. Der Eichmann-Prozess habe ein gesellschaftliches Verlangen nach Zeugenschaft angestachelt, deren Träger die Überlebenden sind. Laut Wieviorka gewinnen sie „seit Eichmann“ eine neue Identität, nämlich die des „porteur d’histoire“ und „homme-mémoire attestant que le passé fut et qu’il est toujours présent.“ 74 Diese Ankunft des Zeugen verändere auch die Geschichtsschreibung der Shoah. Mit dem Eichmann-Prozess, und seiner Betonung der individuellen Zeugenschaft, würde der Genozid zu einer „succession d’expériences individuelles auxquelles le public est supposé s’identifier.“ 75 Es dürfte klar sein, dass hier kein statisches Konzept von Zeugenschaft, das die Rede von der „Entstehung“ bzw. „Ankunft“ des Zeugen unsinnig machen würde, zugrunde liegt. Vielmehr weisen diese Begriffe in ihrer Verwendung bei Wieviorka darauf hin, dass mit dem Eichmann-Prozess ein testimoniales Konzept an kulturgeschichtlicher Bedeutung gewinnt, das sich nicht auf den juristischen Rahmen einschränken lässt. Es geht diesem Konzept weniger um die Etablierung von Fakten als um die Affizierung der Zuhörer, d.h. um die Übertragung einer historischen Erfahrung. Die Entstehung des Zeugen benennt folglich zwei Entwicklungen: Erstens meint sie die allmähliche Verankerung des Testimonialen im dominanten Holocaust-Diskurs seit den 1960er Jahren. Zweitens erscheint Zeugenschaft, vor der inhaltlichen Dimension, primär als ein Erzählmodus, mit dem sich Geschichte immer neu - und glaubhaft - vermitteln lässt. Sie bricht das unfassbare 71 Douglas 2001, 6. 72 Arendt 1994, 9. 73 Wieviorka 1998, 112. 74 Wieviorka 1998, 118. 75 Wieviorka 1998, 118. 110 Gesamtgeschehen auf in eine Reihe von greifbaren Ereignissen (tangible, schreibt Hausner), denen die anwesenden Zeugen leibliche Präsenz verleihen. Wie ich im Folgenden, an einer Szene aus dem Prozess und in einer Analyse von Wiesels L A N UIT zeigen möchte, ist das Idealmodell und Phantasma dieser Zeugenschaft keine Aussage in Worten, sondern die stumme - rein körperliche - Botschaft. In seinen Erinnerungen stellt Hausner den Prozessverlauf - um in seiner Metaphorik zu bleiben - als eine Art „Geisterbeschwörung“ dar, deren Medium die Zeugenschaft der überlebenden Opfer ist. Mit ihrer Hilfe inszeniert er eine greifbare Wirklichkeit, die das Gespenst der Shoah, jene „fantastic, unbelievable apparition“ (292), im Gerichtssaal und für die ganze Welt glaubhaft machen soll. Hausner schreibt von Momenten, in denen „the nameless and faceless dead“ (328) zum Leben erwachten, als ob sie - durch die anwesenden Zeugen - selbst Zeugnis ablegten: „After their agonies had been recorded, they returned, as it were, to their mass graves, and once more became only part of the incredible statistics of the Holocaust“ (328). Diese Heimsuchung, die sich als Dopplung der Zeugenschaft beschreiben lässt, in welcher der Überlebende zugleich mit der Stimme eines anderen spricht, beruht darauf, dass das Erlebte nicht bloß berichtet wird. Während ihrer Aussagen tauchen die Zeugen - so sieht es Hausner - noch einmal in die Vergangenheit ein und nehmen die Zuhörer im Gerichtssaal mit auf diese Reise: It seemed that the courtroom itself was now engulfed in the poisonous vapors of the crematoria. At times I could almost smell the lethal gases and the stench of burnt flesh. (346) Das Szenario, das der israelische Generalstaatsanwalt für den Prozess entwirft, befreit die Zeugenschaft aus ihrer rein juristischen Funktion. Sie wird zu einem Medium, über das sich die Zuhörer mit den Opfern identifizieren und, in der Darstellung Hausners, selbst zu Zeugen der Shoah werden: „As the witnesses tonelessly gave their testimony, we relived the nightmare with them“ (346, vgl. auch 332). Die Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman scheint diese Lesart des Prozesses zu stützen, wenn sie schreibt, dass das Gerichtsverfahren in Jerusalem nicht bloß „as a tool of proof of unimaginable facts“ genutzt worden sei, „but, above all, as a compelling medium of transmission“ - und zwar der Übertragung von Geschichte als Erfahrung. 76 Hier liegt der Grund, warum Hausner rund hundert Zeugen lädt, selbst wenn deren Aussagen den Angeklagten unerwähnt lassen. Zudem entspricht seine Verhörweise nicht der juristischen Norm, die laut 76 Felman 2002, 132. Ich komme auf das Problem testimonialer Konzepte, die primäre und sekundäre Formen von Zeugenschaft so weit verwischen, dass Nichtzeugen wie Hausner glauben, Geschichte als Zeugen zu erfahren - „the lethal gases and the stench of burnt flesh“ (346) - im Kapitel über Peter Weiss zurück. 111 Douglas versucht, „to formalize the conditions of telling by presenting witness narratives in the form of highly tutored and tightly structured interrogatory exchanges.“ 77 Hausner hingegen räumt den Erzählungen der Zeugen mehr Platz ein als juristisch erforderlich. Für einen engen Begriff von Zeugenschaft, deren Ziel es ist, prozessrelevante Fakten zu etablieren, müssen weite Teile dieser Aussagen als irrelevant gelten. So nehmen es zumindest die Richter wahr, die den Staatsanwalt mehr als einmal ermahnen „to eliminate everything that is not relevant to the trial.“ 78 Doch obwohl sie versuchen, den Prozess auf das juristisch Wesentliche zu beschränken, machen sie selten von dem Recht Gebrauch, die Rede der Zeugen einzuschränken. Interessant ist die Begründung, welche die Richter dafür geben. Hausner soll die Zeugen besser auswählen, da sie selbst keine Möglichkeit sehen „of interrupting evidence such as this, while it is being rendered, out of respect for the witness and out of respect for the matter he is relating.“ 79 Ähnlich erklärt sich auch Robert Servatius, der Anwalt von Eichmann, in seinem Schlussplädoyer: „Their suffering was too sacred for me to attack them.“ 80 Der geänderte Stellenwert des Zeugnisses - auch in diesem juristischen Rahmen - hängt demzufolge unmittelbar mit dem berichteten Ereignis zusammen. Seine Darstellung gibt den Zeugen, und damit den Überlebenden schlechthin, eine Autorität, die der Eichmann-Prozess, bei dem ihre Rede „befreit“ 81 und kaum unterbrochen wird, medienwirksam formuliert. Fernsehstationen übertragen die Bilder der Zeugen - bald mehr als das Bild Eichmanns - in viele Länder; und für eine große Zahl Israelis „such names as KZ-nik Yehiel Dinur [...], Rivka Yoselewska, and Moshe Beisky came to represent the Holocaust itself“. 82 Von den drei genannten Zeugen ist es vor allem Yehiel Dinur alias Katzetnik, wie er sich als Schriftsteller nennt, dessen Auftritt beim Prozess ins kollektive Gedächtnis Israels eingeht. Noch bevor der Zeuge mit seiner Aussage (im strengen Sinn) beginnen kann, fällt er in Ohnmacht: Ritually broadcast on Israeli television on Yom Hashoah, the solemn holiday commemorating the victims of the Holocaust, Dinur’s courtroom collapse emerged as one of the most recognizable moments of the Eichmann trial and came to symbolize the unutterable horrors of the Holocaust. 83 Es ist diese Verbindung zwischen dem Unaussprechlichen (den unutterable horrors) und dem Symbolwert von Dinurs Zusammenbruch, der 77 Douglas 2001, 135. 78 Zit. nach Douglas 2001, 137. 79 Zit. nach Douglas 2001, 137. 80 Zit. nach Hausner 1967, 404. 81 Vgl. Wieviorka 1998, 117: „Le procès Eichmann a libéré la parole des témoins.“ 82 Yablonka 2004, 88. 83 Douglas 2001, 147-148. 112 sein unterbrochenes Zeugnis als stumme Botschaft wahrnehmbar macht, die - so Lawrence Douglas - mehr über die Shoah sage als es „even the most articulate testimony“ jemals könne. 84 Eine solche Auffassung verpflichtet das Ideal der Holocaust-Zeugenschaft auf die Abwesenheit von Sprache bei einer gleichzeitigen Präsenz des bezeugenden Körpers. Stumme Boten: Theatralität und das Phantasma der körperlichen Zeugenschaft „It was during the Eichmann trial“, schreibt Geoffrey Hartman in T HE L ONGEST S HADOW (1996), einer autobiographisch gefärbten Studie über die „Nachwehen“ der Shoah, „that I first understood the power of personal witnessing.“ 85 Viele Zeugnisse, die in Jerusalem vorgebracht wurden, schienen ihm eine mythische Dimension zu besitzen und eine „poetry of realism“; zugleich seien sie die authentischste Repräsentationsmöglichkeit, die unser audiovisuelles Zeitalter kenne. 86 Hartmans Gedanken zum Eichmann-Prozess formulieren ein testimoniales Konzept, das ich in Anlehnung an Shoshana Felman als „literarisch“ bezeichnen möchte, und das sich von einem rein juristischen Begriff der Zeugenschaft absetzen lässt. 87 Die mythische oder poetische Dimension der Aussagen, die - so Hartman - eine „natural reaction to unbearable and meaningless suffering“ darstellt, tut ihrer Glaubwürdigkeit keinen Abbruch. Im Gegenteil setzt der Literaturwissenschaftler sie geradezu als Maßstab für eine „authentische“ Darstellung: „they were as authentic a representation as was possible in an audiovisual era - where exploitation is inevitable.“ 88 Hannah Arendt sieht das anders. Ihr Prozessbericht E ICHMANN IN J ERUSALEM (1964) - bekannt für seine These zur „Banalität des Bösen“ - versucht eine Art nachträgliche Korrektur des Verfahrens, die sich in weiten Teilen gegen die Zeugenschaft der Überlebenden richtet. Den ersten Einwand Arendts habe ich bereits erwähnt. Er betrifft das „Verschwinden“ Eichmanns hinter der Masse an Aussagen: As witness followed witness and horror was piled upon horror [...], the paler and more ghostlike became the figure in the glass booth [Eichmann], and no finger-wagging: ‘And there sits the monster responsible for all this,’ could shout him back to life. 89 84 Vgl. Douglas 2001, 147. 85 Hartman 1996, 22. 86 Vgl. Hartman 1996, 23. 87 Vgl. Felman 2002, 137-140 u. 164. 88 Für beide Zitate vgl. Hartman 1996, 23. 89 Arendt 1994, 8. Alle weiteren Zitate aus Arendts Buch belege ich im Text. 113 Dass Hausner und Arendt gleichermaßen Metaphern der Spektralität nutzen (phantom, ghostlike), erlaubt es, die Gegenläufigkeit ihrer Projekte in der Sprache des „Geisterhaften“ zu beschreiben. Während der Staatsanwalt die Zeugenaussagen nutzt, um das Gespenst der Shoah in greifbare Geschichte zu verwandeln, verliert der Angeklagte seine Konturen: Er wird so unbegreiflich und leblos wie das Archivmaterial, gegen das Hausner die Anwesenheit der Überlebenden setzt. Damit verschiebt sich der Fokus des Prozesses, wie Arendt meint, in unzulässiger Weise. Wieder lohnt es sich aufgrund der Metaphorik, die Stelle zu zitieren: In the center of a trial can only be the one who did - in this respect, he is like the hero in the play - and if he suffers, he must suffer for what he has done, not for what he has caused others to suffer. No one knew this better than the presiding judge, before whose eyes the trial began to degenerate into a bloody show. (9) Es scheint höchst unangebracht, Eichmann - wie es hier geschieht - mit dem Helden eines Dramas zu vergleichen; und Arendt dürfte die positive Konnotation, die in diesem Vergleich mitschwingt, nicht gewollt haben. Sympathie für den Angeklagten ist ihr jedenfalls nicht vorzuwerfen. 90 Vielmehr drängt die Sprache, die die Philosophin für ihren Bericht wählt, sie zur begrifflichen Unschärfe. Das freilich weist auf die Problematik der antitheatralen Metaphorik hin, die E ICHMANN IN J ERU- SALEM durchzieht. Gleich zu Beginn lobt Arendt, dass nichts „Theatralisches“ im Benehmen der drei Richter sei: „Their walk is unstudied [...]; their impatience with the prosecutor’s attempt to drag out these hearings [die Zeugenaussagen] forever is spontaneous and refreshing“ (4). Als Gegenfiguren dieser „honest men“ (4) erscheinen Hausner, Ben-Gurion und das zionistische Geschichtsmodell, das beide zum pädagogischen Ziel des Prozesses erheben. Keiner der Richter „yields to the greatest temptation to playact in this setting - that of pretending that they, all three born [...] in Germany, must wait for the Hebrew translation“ (4). Arendt wertet das als Zeichen einer bemerkenswerten Unabhängigkeit von der israelischen Meinung, von Hausners und Ben-Gurions Politik. Den Staatsanwalt beschreibt sie einerseits als Puppe des Premierministers, durch den der „invisible stage manager“ (5) während der Verhandlung spreche; andererseits greift sie „the prosecutor’s love of showmanship“ (4) an, aufgrund derer das Verfahren in ständiger Ge- 90 Gemäß der These von der Banalität des Bösen versucht Arendt nicht, Eichmann zu entschulden, sondern ihn als Paradigma des nationalsozialistischen Täters zu sehen. Vgl. z.B. Arendt 1994, 52: „[The] German society of eighty million people had been shielded against reality and factuality by exactly the same means, the same self-deception, lies, and stupidity that had now become ingrained in Eichmann’s mentality.“ 114 fahr schwebe, in einen „Schauprozess“ umzukippen. Dass dies nicht endgültig geschieht, begründet Arendt nicht bloß mit der Souveränität der Richter, sondern auch mit the simple fact that the proceedings happen on a stage before an audience, with the usher’s marvelous shout at the beginning of each session producing the effect of the rising curtain. (4) Es sind demnach zwei Konzepte von Theater, mit denen E ICHMANN IN J ERUSALEM operiert. Eines scheint der Autorin legitim, weil es bestimmten Regeln und Gesetzen, nämlich denen des - im übertragenen Sinn - Gerichtsdramas folgt: Der Angeklagte steht im Mittelpunkt, das Verfahren beginnt und endet zu einer bestimmten Zeit (es besitzt den juristischen Rahmen des Gerichtssaals), die Zuschauer fungieren als kritische Instanz. Die andere, die - für Arendt - „schlechte“ Theatralität ist mit dem Wortfeld „showmanship“ (4), „show trial“ (5) und „bloody show“ (9) fest umrissen. Sie bezeichnet die Abweichung von der juristischen Norm (wie von den Regeln des Dramas), die den Angeklagten zum Gespenst werden lässt und für die Urteilsfindung irrelevante Aussagen unnötig in die Länge zieht. 91 Ich habe Arendts Metaphorik so ausführlich dargestellt, weil sie ihren zweiten Einwand gegen Hausners Dramaturgie der Zeugenschaft mit dem Vorwurf der „schlechten“ Theatralität bzw. Theatralik begründet. Obwohl sich die Philosophin von der Notwendigkeit mancher Aussage, fast gegen ihren Willen - „foolishly“ (229) - überzeugt sieht, schreibt sie den meisten Aussagen einen theatralischen (d.h. im negativen Sinn theatralen) Charakter zu, der ihre Glaubwürdigkeit aushöhle. Anders als Hartman verficht Arendt einen juristisch engen Begriff von Zeugenschaft, der mythischen Dimensionen oder der „poetry of realism“ keinen Platz lässt. Den Tiefpunkt des Prozesses sieht die Philosophin am 7. Juni 1961 gekommen - eben jenem Tag, an dem Katzetnik Yehiel Dinur den Zeugenstand betritt. Der Schriftsteller beginnt mit einer allgemeinen Beschreibung, die dem literarischen Aussagemodus (der poetry of realism im Sinne Hartmans) mehr verpflichtet ist als einer Zeugenaussage, wie man sie vor Gericht erwartet. „This is a chronicle from the planet of Auschwitz“, lauten seine Worte in englischer Übersetzung, I was there for about two years. Time there was different from what it is here on earth. Every split second ran on a different cycle of time. And the 91 Ausgehend von der doppelten Verwendung der Theatermetaphorik bei Arendt, im Sinne des „guten“ Dramas und der „schlechten“ Theatralität, ließe sich eine Art Theatergeschichte des Eichmann-Prozesses schreiben: u.a. auch in der Hinsicht, dass Arendts Konzept der Banalität des Bösen die Dramengeschichte der Shoah entscheidend mitgeprägt hat. Vgl. dazu Plunka 2009, 20-49. 115 inhabitants of that planet had no names. They had neither parents nor children. […] They did not live, nor did they die, in accordance with the laws of this world. 92 Arendt sieht sich außerstande, diese Aussage als Zeugnis zu akzeptieren. In ihrem Prozessbericht setzt sie noch den entsprechenden Begriff in Anführungszeichen, wenn sie schreibt, dass selbst Hausner in jenem Moment gefühlt habe „that something had to be done about this ‘testimony,’ and, very timidly, very politely, interrupted“ (224; meine Hervorhebung). Wenn ihr der Showman plötzlich zum schüchternen, höflichen Anwalt gerinnt, dann nur, um die angebliche Theatralik Dinurs zu unterstreichen. Seinen Zusammenbruch beschreibt sie als das Schauspiel eines beleidigten Künstlers: „In response [auf Hausners Unterbrechung], the disappointed witness, probably deeply wounded, fainted and answered no more questions“ (224). Was Arendt an dieser Stelle unterschlägt, ist dass der Zeuge nach seinem Ohnmachtsanfall ins Krankenhaus gebracht werden musste, wo er für zwei Wochen blieb. 93 Der literarische Modus der Zeugenschaft, mit dem Dinur seine kurze Aussage beginnt, scheint für Arendt dermaßen inakzeptabel, dass sie noch einen körperlichen Schwächeanfall dem Verdacht der Selbstinszenierung aussetzt. Den Moment der Ohnmacht beschreibt sie als Ausnahme, die die Regel bestätigt, wonach Zeugen keine Hilfe für eine juristische - lies: authentische - Auseinandersetzung mit der Shoah seien. Den meisten von ihnen fehle, so Arendt, die seltene Fähigkeit, zwischen Dingen zu unterscheiden „that happened to the storyteller more than sixteen, and sometimes twenty, years ago, and what he had read and heard and imagined in the meantime“ (224; meine Hervorhebung). Die Literarizität und Theatralität, die die unterbrochene Aussage Dinurs für die Philosophin versinnbildlicht, sucht folglich jedes Zeugnis des Prozesses heim und droht, es in Anführungszeichen zu setzen. „K-Zetnik’s breakdown“, umschreibt Felman die Argumentation von E ICHMANN IN J ERUSALEM , „is an accidental yet consistent illustration of this logic that transforms testimony into a theatrical event that parasitizes the trial.“ 94 Arendt will eine klare Trennung zwischen juristischer Beweisführung, zu der prozessrelevante Aussagen ebenso wie Dokumente gehören, und der literarisch heimgesuchten Zeugenschaft - dem „testimony“ in Anführungszeichen. Das testimoniale Konzept, das sich aus ihrem Buch herauslesen lässt, versucht einzelne Aussagen auf ihren allgemeinen Informations- und Wahrheitsgehalt zu verengen. Nach dieser Abstraktion, wenn sie denn möglich wäre, würde ein juristisch relevantes Zeugnis von dokumentarischem Beweisma- 92 Zit. nach Felman 2002, 136. 93 Vgl. Felman 2002, 137 sowie Yablonka 2004, 110 und Douglas 2001, 147. 94 Felman 2002, 141. 116 terial kaum unterschieden sein. 95 Hausner hingegen braucht das Zeugnis, um bekannte - wahre, jedoch unglaubliche - Ereignisse aus dem Reich des Geisterhaften zu befreien und ihnen in der leiblichen Anwesenheit des Zeugen greifbare Präsenz zu verleihen. Aus diesem Blickwinkel, aber nicht um einen richtigen Schuldspruch zu finden. ist die testimoniale Verkörperung mindestens so wichtig wie der Inhalt des Gesagten. Arendt stellt die Aussage Dinurs dar, als ob der literarische Aspekt seiner Sprache die körperliche Dimension der Zeugenschaft destabilisiere, wenn sie seinen Ohnmachtsanfall als theatralisch beschreibt. Der hohe Symbolwert der Szene - ihre häufige Wiederholung im Fernsehen wie in den Prozessberichten - legt das Gegenteil nahe. Mit dem Eichmann-Prozess, d.h. in dem Moment, da der Überlebende als Zeuge im offiziellen Erinnerungsdiskurs „ankommt“ bzw. „entsteht“, beginnt ein funktionaler Wandel der Holocaust-Zeugenschaft. Ihre Aufgabe ist immer weniger, so Wieviorka, „to bear witness to inadequately known events, but rather to keep them before our eyes. Testimony is to be a means of transmission to future generations.“ 96 Im Gegensatz zu der Auffassung Arendts scheint die testimoniale Verkörperung der künstlerischen Sprache Stabilität zu verleihen. Für das „literarische Konzept“ der Zeugenschaft, das Dinur symbolisiert, liegt die höchste Autorität in der Sprachlosigkeit des Körpers begründet: „On this legal site“, so Felman, the witness testifies through his unconscious body. Suddenly, the testimony is invaded by the body. The speaking body has become a dying body. The dying body testifies dramatically and wordlessly beyond the cognitive and the discursive limits of the witness’s speech. 97 In dieser Darstellung unterbricht und autorisiert das stumme - rein körperliche - Zeugnis der Toten, wie es in der Ohnmacht Dinurs zum Vorschein kommt, die Sprache des Schriftstellers/ Zeugen. Das ähnelt Autorisierungsmodellen, die auf die oft formulierte Problematik des Schreibens „nach Auschwitz“ reagieren, auf die Angst, dass keine Repräsentation den Ereignissen gerecht werden könne. Zum Beispiel hat Elie Wiesel darüber gesprochen, dass er seinen ersten Text über die Shoah nur zögernd begonnen habe, weil er keine falschen Worte wählen wollte. In einem Interview von 1978 sagt er: „I was afraid that words might betray it. I waited. I’m still not sure that it was the wrong move, or the right move, that is, whether to choose language or silence.“ 98 Der Schriftsteller entwirft das Ideal einer stummen Zeugenschaft, 95 Dem steht die - von Derrida beschriebene - strukturelle Heimsuchung der Zeugenschaft durch ihr Anderes entgegen. Siehe oben, S. 70-75. 96 Wieviorka 1994, 24. Vgl. auch Hartman 1996, 40. 97 Felman 2002, 163. 98 Wiesel 2002, 70. 117 die dieser Gefahr entgehen würde. Wie Dinurs Kollaps wäre sie ein Moment sprachloser Körperlichkeit und würde ihre Botschaft dennoch transportieren. Wiesels Paradigma für den stummen Zeugen ist Rabbi Israel ben Elieser - der Baal-Schem-Tow, Begründer des osteuropäischen Chassidismus. Einer Legende nach habe dieser seine Lehre vom Judentum verbreiten können, ohne noch sprechen zu müssen: It used to be said that when the Baal Shem Tov came into a town his impact was so strong, he didn’t have to speak. […] I think a real messenger, myself or anyone, by the very fact that he is there as a person, as a symbol, could have the same impact. 99 Wiesels Formulierung weist darauf hin, dass jener stumme Bote - der real messenger, der nicht mehr sprechen muss, um gehört zu werden - keineswegs voraussetzungslos entsteht. Erst muss er zum Symbol für die Botschaft werden, wie es Yablonka für einige Zeugen in Jerusalem, etwa Yehiel Dinur, behauptet: „[they] came to represent the Holocaust itself.“ 100 Die öffentliche Wahrnehmung von Wiesel als „Inkarnation“ des Überlebenden und als „Verkörperung“ der Shoah, für die ich eingangs Beispiele genannt habe, zeigt, dass auch er sich die Rolle des Symbolträgers - myself or anyone - nicht ohne Grund zutraut. Damit möchte ich auf die Photographie aus N UIT ET B ROUILLARD zurückkommen, deren Beschreibung am Anfang des Kapitels stand, und auf der unter anderem Wiesel zu sehen ist. Wie ich geschrieben habe, wird der Holocaust-Überlebende in Resnais’ Film weder erwähnt noch nimmt er eine testimoniale Funktion ein. Obwohl sein Gesicht nur wenige Sekunden erscheint, verleihen ihm die Literaturwissenschaftler Michael Bernard-Donals und Richard Glejzer - wenn sie ihr Unverständnis darüber äußern, dass Wiesel in dem Film zwar gezeigt, aber nicht genannt wird - eine dauerhafte Sichtbarkeit. Ihre Bildbeschreibung macht den stummen Blick des Überlebenden zum paradigmatischen pars pro toto für die haunting faces aller Opfer. Sie fügen seinen Namen einem Porträt anonymer Massenvernichtung hinzu, das ihn als namenlosen Häftling zeigt. In dieser Lesart besitzt der Schriftsteller den Symbolwert, den er sich im Zitat über Baal-Schem-Tow wünscht: Seine sprachlose Körperlichkeit, die Resnais’ Film nur flüchtig festhält, sagt für Bernard-Donals und Glejzer etwas über die unaussprechlichen Schrecken der Lager aus, ohne dass Wiesel Worte benutzen würde. Und doch ist dieses „stumme Zeugnis“ keine bloße Körperlichkeit; es vermittelt sich nicht „von selbst“. Vielmehr kann es erst ab einem bestimmten historischen Zeit- 99 Wiesel 2002, 70. Meine Hervorhebung. 100 Yablonka 2004, 88. 118 punkt und in einem Kulturkreis wahrgenommen werden, der den Holocaust-Überlebenden testimoniale Autorität beimisst. Zudem setzt das stumme Zeugnis voraus, dass der Schriftsteller bereits gesprochen hat - oder, wie bei Dinurs Zusammenbruch, in einen spezifischen testimonialen Rahmen eingebunden ist. Hätte sich Wiesel mit seinen Werken keinen zentralen Platz in der westlichen Erinnerungskultur erarbeitet, würde Resnais’ Film ihn auch heute nicht abbilden, obwohl sein Bild darin vorkommt. Wiesels Sichtbarkeit ist gewissermaßen supplementär, wie ich unter Bezugnahme auf Roland Barthes’ Konzept des punctum argumentieren möchte. In seinem letzten Buch L A C HAMBRE C LAIRE (1980) untersucht der französische Philosoph eine Empfindung, die ihn beim Anblick mancher Photographie packt, aber die sich theoretisch kaum fassen lässt. Zu Beginn des Textes schildert Barthes, wie er eine Aufnahme von Jerôme Bonaparte sieht, dem jüngsten Bruder Napoleons: „Je me dis alors, avec un étonnement que depuis je n’ai jamais pu réduire: ‘Je vois les yeux qui ont vu l’Empereur.’“ 101 Wenn Barthes von diesem Erstaunen spricht, scheint niemand es zu verstehen oder gar empfinden zu können. Es ist eine singuläre - kaum mitteilbare - Beziehung, die das Photo zu seinem Betrachter aufbaut. Bekanntermaßen belegt Barthes dieses Moment mit dem Begriff punctum. Es handelt sich um ein Detail, das für den einzelnen Rezipienten zufällig aus dem Bild hervortritt und seine Lektüre in neue Bahnen lenkt: „c’est cette hasard qui dans la photographie me point (mais aussi me meurtrit, me poigne).“ 102 Barthes betont, dass sich dieses Element nicht auf den „Text“ der Photographie reduzieren lässt; es ist keineswegs von jedem und zu allen Zeiten entzifferbar. Vielmehr handelt es sich um ein Supplement des Bildes, wie für Wiesel beschrieben: „c’est ce que j’ajoute à la photo et qui cependant y est déjà.“ 103 Das punctum ist etwas, das sich im singulären Rezeptionsakt ereignet. Wie (vermutlich) Bernard-Donals und Glejzer sehe auch ich nur noch Wiesel, wenn ich die Photographie aus N UIT ET B ROUILLARD betrachte. Sein Blick berührt mich: Er ist zu einem verfolgenden punctum geworden. Obwohl der Blick nie an mich gerichtet war, erreicht er - in dem Moment, da ich das Standbild betrachte - nur noch mich. Er wird zur sprachlosen „Verkörperung“ einer Botschaft, die bei mir ankommt. Diese Singularität kann eine Stärke des testimonialen Effektes sein, doch die stumme Körperlichkeit bleibt ein Phantasma der Zeugenschaft. Erstens ist sie, wie Arendts boshafte Bemerkung über Dinurs Kollaps zeigt, stets dem Verdacht der Theatralik ausgesetzt - und damit potentiell wirkungslos. Zweitens bleibt sie an eine Dialektik von 101 Barthes 2002d, 791. 102 Barthes 2002d, 809. 103 Barthes 2002d, 833. 119 Sprechen und Schweigen gebunden: Ohne Bernard-Donals und Glejzer hätte ich Wiesel in N UIT ET B ROUILLARD nicht gesehen. Sie aber konnten ihn nur deshalb wahrnehmen, weil er Bücher über die Shoah geschrieben hat. Das „stumme Zeugnis“ mag der Gefahr entgehen, dass Worte das Ereignis verraten; doch es muss auf Worten beruhen. Das weiß auch Wiesel. In dem bereits zitierten Interview betont er die Notwendigkeit, gegen die Unmöglichkeit des Schreibens zu schreiben: [By] remaining silent we lose communication. That’s why I did not keep silent. If I had thought that by my silence, or rather by our silence, we would have achieved something, I think I would have kept silent. I didn’t want to write those books. I wrote them against myself. […] I didn’t want to write a book on the Holocaust. To write such a book, to be responsible for such experiences, for such words - I didn’t want that. 104 Die Dialektik, die Wiesels Aussagen über sein eigenes Werk und die Symbolkraft des „real messengers“ Baal-Schem-Tow entwickeln, kreist um die Suche nach einer Position, die es erlaubt, gegen sich selbst zu schreiben. Es ist der Versuch, die Repräsentation - d.h. die tendenziell „verräterischen“ Worte eines Textes - an der körperlichen Dimension der Zeugenschaft zu beglaubigen. Das Geschriebene wird in einer Weise autorisiert, als ob das Ereignis selbst durch den „stummen Boten“ hindurch sprechen würde. An Wiesels L A N UIT , seinem französischen Erstlingswerk von 1958, möchte ich im Folgenden ein Autorisierungsmodell herausarbeiten, das den Schriftsteller - in diesem Sinne - zu einem Zeugen wider Willen macht. Tod im Spiegel - L A N UIT als Autorisierungsmodell Wiesels L A N UIT endet mit einer Art Auferstehung des Ich-Erzählers. Nach der Befreiung Buchenwalds befindet sich der junge Eliezer zwei Wochen lang auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Daran ist eine Vergiftung schuld, über die im Text weiter nichts gesagt wird. Das entspricht dem Stil des Buches, das oft den Anschein einer verkürzten Erzählung erweckt, die sich auf Fakten konzentriert. Am Ende von L A N UIT verdichtet der Lakonismus noch einmal einen zentralen Aspekt der Lagererfahrung, nämlich die beständige Gefahr des Untergangs: „Je fus transféré à l’hôpital et passai deux semaines entre la vie et la mort“, lautet der lapidare Satz des Ich-Erzählers. 105 Es ist, als ob er an der Schwelle zwischen Lager und Befreiung noch nicht wüsste, wo er hingehört: zu den Lebenden oder den Toten. Eines Tages schleppt sich Eliezer vor den Spiegel, der im Hospital hängt - wie auf der Suche nach einer Antwort oder seinem verlorenen Selbst: 104 Wiesel 2002, 70-71. 105 Wiesel 2005, 174. Alle weiteren Zitate aus L A N UIT werden im Text belegt. 120 Un jour je pus me lever, après avoir rassemblé toutes mes forces. Je voulais me voir dans le miroir qui était suspendu au mur d’en face. Je ne m’étais plus vu depuis le ghetto. Du fond du miroir, un cadavre me contemplait. Son regard dans mes yeux ne me quitte plus. (174f.) Im Spiegel tut sich ein virtueller Raum auf, der die Position des Betrachters verdoppelt und destabilisiert. Er sieht sich dort, wo er als lebendiger Leib abwesend ist. Von diesem Ort ohne Ort, der den Platz vor dem Glas reflektiert, blickt er auf sein Ich zurück. Indem sie ihm eine visuelle Selbstwahrnehmung ermöglicht, verankert die Spiegelung den Gespiegelten in der Wirklichkeit. Sie verbindet ihn mit seiner Umgebung und zeigt ihm, wie er tatsächlich beschaffen ist. Das destabilisierende Moment dieses Vorgangs liegt darin, dass er den Betrachter zugleich „unwirklich“ macht; der Schauende nimmt sich über einen virtuellen Punkt - im Imaginären - wahr. So erfährt er sich, wie Michel Foucault argumentiert, in einem Prozess der Präsentmachung, der paradoxerweise auf einer Verunsicherung von Präsenz beruht. „C’est à partir du miroir“, schreibt Foucault, que je me découvre absent à la place où je suis puisque je me vois là-bas [d.h. im Spiegel]. À partir de ce regard qui en quelque sorte se porte sur moi, du fond de cet espace virtuel qui est de l'autre côté de la glace, je reviens vers moi et je recommence à porter mes yeux vers moi-même et à me reconstituer là où je suis. 106 In dieser Beschreibung der Spiegelsituation erlebt sich der Betrachter zunächst in einem „referentiellen Dilemma“, wie es z. B. der Theaterwissenschaftler Michael Quinn als Kennzeichen jeder Repräsentation festhält: „Reference is a difficult issue for art in general, since any representation entails a certain gap between the sign and the thing, event, or other sign that it tries to make present.“ 107 Im Falle des Spiegelbilds wird die Lücke letztlich dadurch geschlossen, dass sich der Betrachter als Referent des Bildes weiß - eines Bildes, das in dem Moment geschaffen wird, wo er vor den Spiegel tritt, und das verschwindet, wenn er diesen Ort wieder verlässt. Sein Wissen beruht darauf, dass Spiegelung als stabile Beziehung zwischen Betrachter, Bild und Referent gedacht wird. Das „referentielle Dilemma“, in dem Foucaults „Ich“ sich vor dem Spiegel befindet, ist eine paradoxe Mischung aus diesem Wissen und der Spaltung, die jeder Repräsentation - nach Quinn - eignet. Weil er im virtuellen Raum des Spiegels (als Bild) anwesend ist, fürchtet sich der Betrachter „in Wirklichkeit“ (als Referent) abwesend. Das ließe sich, gerade in Hinblick auf L A N UIT , wo ein Leichnam „[au] fond du miroir“ erscheint, mit dem Glauben verbinden, dass Spiegel einen 106 Foucault 1994a, 757. 107 Quinn 1991, 72. 121 Eingang ins Totenreich bilden. 108 Doch die Dinge liegen bei Foucault anders als bei Wiesel. Die stabile Beziehung von Bild und Betrachter verhindert den Ich-Verlust; sie ermöglicht eine „Rückkehr zu sich selbst“ (je reviens vers moi), die Foucault vom virtuellen Raum hinter dem Glas ausgehend beschreibt. Als Moment der Subjektkonstitution scheint sie den Lebenden vorbehalten: „Ein Toter“, schreibt der Literaturwissenschaftler Christiaan Hart Nibbrig, „hat kein Spiegelbild. Solange wir wissen von uns durch Spiegelung, sind wir bewusst am Leben.“ 109 Auch in L A N UIT eröffnet die Spiegelszene ein Spannungsfeld zwischen An- und Abwesenheit, Selbstentfremdung und Identifikation; doch zum einen kommt der Tod als aktiv Schauender ins Spiel und zum anderen - damit verbunden - wird die Relation von Bild und Betrachter umgedreht. Zwischen dem Wunsch des Ich-Erzählers, sich im Spiegel zu sehen („Je voulais me voir dans le miroir...“ [174]) und der eigentlichen Spiegelsituation herrscht ein radikaler Bruch. Er wird vom Zeilenwechsel hinter „depuis le ghetto“, vor allem aber durch die Umkehrung der Subjekt-Objekt-Relation angezeigt: „Du fond du miroir, un cadavre me contemplait...“ (175). Der Ausgangspunkt ist damit ein anderer als bei Foucault oder auch in Lacans berühmter Analyse des stade du miroir. 110 Bei beiden steht das „Ich“ im Mittelpunkt, das sich im Spiegel seiner selbst versichert, trotz oder - wie bei Lacan - gerade wegen der Selbstentfremdung, die mit der Spiegelerfahrung einhergeht. Für den Psychoanalytiker ist der stade du miroir dadurch geprägt, dass das Kind die Gestalt im Spiegel als „Ideal-Ich“ verkennt, in dem es und seine Fähigkeiten zu einer Einheit gereift sind. Deshalb sei das Spiegelstadium als Identifikation zu begreifen „au sens plein que l’analyse donne à ce terme: à savoir la transformation produite chez le sujet quand il assume une image“. 111 Die von Wiesel beschriebene Situation verweigert sich einem solchen Identifikationsmodell, das vom Betrachter vor dem Spiegel ausginge. Das „Ich“ (je) auf der Suche nach dem Selbst (me) wird im Moment der Spiegelung suspendiert: Nicht das „Ich“ sieht sich, vermittelt über den Spiegel, selbst; ein Leichnam (cadavre) betrachtet das „me“. Auch hier gibt es, wie in dem Foucault-Zitat („ce regard [...] se porte sur moi“), eine „Rückkehr“ des Blicks, doch sie (re-)konstituiert das verlorene „Ich“ keineswegs als einheitliches Subjekt. 108 In seinem Film O RPHÉE (1950) inszeniert Jean Cocteau einen Übergang ins Totenreich durch den Spiegel. Zudem kennt sowohl die christliche als auch die jüdische Tradition die Praxis, dass man alle Spiegel eines Hauses verhängt, wenn jemand gestorben ist. 109 Hart Nibbrig 1987, 36. 110 Vgl. Lacan 1966. 111 Lacan 1966, 90. 122 Eliezer, Erzähler und Hauptfigur von L A N UIT , findet vor bzw. im Spiegel nicht das Selbst, das ihm seit dem Ghetto fehlt. Stattdessen wird die Spaltung, die zwischen Tod und Ich besteht, ins Subjekt zurückgeführt. Wiesels Text endet mit den (bereits zitierten) Zeilen: „Du fond du miroir, un cadavre me contemplait. Son regard dans mes yeux ne me quitte plus“ (175). Einerseits wird die Trennung zwischen dem Anderen und dem Selbst hier bis zum Schluss aufrechterhalten: „cadavre“/ „me“, „son regard“/ „mes yeux“. Andererseits verhindert die spekulare Struktur der Szene, dass die behauptete Differenz nur zwischen diesen Instanzen verläuft. Die Ambivalenz der Spiegelsituation verunsichert die Oppositionen, auf denen sie aufbaut. Dabei handelt es sich um Begriffspaare wie Leben und Tod, Bild und Betrachter, Imagination und Wirklichkeit. Die Schlusspassage von Wiesels Text hält sie in einer kontinuierlichen Spannung, die es zum Beispiel unmöglich macht, den Tod im Spiegel zu verankern und das Leben - als sein Anderes - außerhalb. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich im Folgenden zeigen möchte: Vermittelt über den Spiegel nimmt Eliezer den Tod als Bruchstelle in sich auf, bleibt er zwischen den Lebenden und den Toten („entre la vie et la mort“ [174]) gefangen, selbst nachdem er sich aus dem Krankenbett geschleppt hat. Realistisch gedacht, verweist der Spiegel immer auch auf den realen Ort, der sich vor ihm befindet. Nur in Bezug auf dieses Modell kann der Blick des Leichnams als Unterbrechung des Erzählerblicks gelten. Müsste der Spiegel nicht das Abbild Eliezers zeigen, wäre die Grenze zwischen dem „Ich“ und dem Tod klar gezogen. Doch das ist nicht der Fall. Erstens spiegelt der Blick des Leichnams den Blick des Erzählers noch in dem Moment, da er ihn unterbricht: Der „cadavre“ übernimmt die Handlung, die das „je“ vollziehen will (in bzw. aus dem Spiegel schauen). Zweitens ist die Wendung „son regard dans mes yeux“ doppeldeutig: Sie lässt sich interpretieren als Blick, der in die Augen des Erzählers fällt ebenso wie als Blick, der durch die Augen des Erzählers geschieht (d.h. in seinen Augen sitzt). Unabhängig davon wie man den Satz liest, gilt jedoch, dass der Leichnam und Eliezer fortan verbunden sind: „son regard dans mes yeux ne me quitte plus“ (175; meine Hervorhebung). Der Blick des Leichnams wird dem Ich-Erzähler eingeschrieben (mes yeux), während er zugleich der Blick des Anderen (son regard) bleibt. Die unmögliche Erfahrung des Todes, für die dieser Blick - wie ich noch näher ausführen werde - steht, bildet einen Fremdkörper im für immer gespaltenen „Ich“ des Erzählers. Sichtbar wird dieser Fremdkörper aber nur als fremder Körper. Was Eliezers Augen bzw. seine Erinnerung nie verlässt, nimmt bloß im virtuellen Raum des Spiegels Gestalt an - als imaginärer Körper, der durch die spekulare Situation auf den Erzähler rückprojiziert wird. 123 Denn Eliezer, der Überlebende, der den Tod in sich trägt, ist der einzige, der den realen Platz vor dem Spiegel besetzen kann. Er ist aber nicht der einzige, auf den sich die Gestalt im Spiegel bezieht. Der andere, vielleicht der primäre Bezugspunkt des Leichnams, ist die Menge all jener, die im Lager umgekommen sind und deren Vernichtung L A N UIT beschreibt; darunter auch Eliezers Vater. Der Erzähler stellt dessen Untergang als Entfremdungsprozess dar, als allmähliche Verwandlung in einen schlichtweg Anderen: „De jour en jour“, heißt es an einer Stelle, „il s’affaiblissait, le regard voilé, le visage couleur de feuilles mortes“ (164). Mit diesem verschleierten Blick zieht der Vater bald schattenhaft seine Kreise, scheinbar ohne den eigenen Sohn zu erkennen: Il passa près de moi comme une ombre, me dépassa sans s’arrêter, sans me regarder. Je l’appelai, il ne se retourna pas. Je courus après lui: - Père, où cours-tu? Il me regarda un instant et son regard était lointain, illuminé, le visage d’un autre. Un instant seulement, et il poursuivit sa course. (164) Als Bild des Anderen erinnert der Leichnam im Spiegel an alle „Schattenmenschen“, von deren Vernichtung L A N UIT berichtet. Er ist dem Erzähler so fremd wie der Vater kurz vor dessen Tod. Sein Blick nimmt den „regard voilé“ des ermordeten Vaters auf. Schweigend betrachtet er den Erzähler und gemahnt ihn an den Untergang, der Kehrseite seines Überlebens ist. Der Leichnam verpflichtet Eliezer, das Gesehene für immer zu behalten: „Son regard dans mes yeux ne me quitte plus“ (175). Wie bei Primo Levi geht diese testimoniale Verpflichtung von einer Instanz aus, die sich nicht mehr selbst artikulieren kann. In der gerade zitierten Szene verpassen sich Vater und Sohn in ihrer Begegnung. Eliezer erhält weder eine Antwort auf seine Frage („Père, où cours-tu“) noch eine Bestätigung, dass der Fremde, der sein Vater war, ihn erkennt: „son regard était lointain, illuminé, le visage d’un autre“ (164). Auch der Leichnam im Spiegel ist ein Fremder, der keine Fragen beantwortet. Das verpasste Treffen mit dem Vater („un instant seulement“) wird hier nachträglich fixiert („son regard ne me quitte plus“). Wenn der „cadavre“ für den Vater und für alle Untergegangenen steht, tut er dies in einer Form, die ihre reale Abwesenheit gleich mehrfach betont. Erstens ist er ein Toter, zweitens erscheint er im „fond du miroir“: einem unwirklichen Raum, an dem er nur imaginär anwesend ist. Auf dem „realen Platz“ vor dem Spiegel steht lediglich der Überlebende, als zweiter Referent des Toten-Bildes. Sein erster Referent, eben die Untergegangenen, sind „in Wirklichkeit“ verloren. Die Vernichtung, die L A N UIT beschreibt, hinterlässt keine Spuren außerhalb der Erinnerung des Zeugen. Sie geht, wie der Text unmissverständlich klar macht, „in Rauch“ auf (en volutes). Schon bei seiner Ankunft im Lager 124 legt Eliezer den Schwur ab, diesem brutalen Vergessen etwas entgegenzusetzen, indem er den Anblick der Ermordung und Verbrennung von Menschen erinnert: Jamais je n’oublierai cette nuit, la première nuit de camp qui a fait de ma vie une nuit longue et sept fois verrouillée. Jamais je n’oublierai cette fumée. Jamais je n’oublierai les petits visages des enfants dont j’avais vu les corps se transformer en volutes sous un azur muet. (58) In dieser Hinsicht ist das Bild, das sich im Spiegel zeigt, erstens ein Erinnerungsbild des Erzählers. Erst auf der Projektionsfläche des Spiegels gewinnen die Toten wieder eine Gegenwart und eine Gestalt. Deshalb handelt es sich, zweitens, um ein fiktionalisiertes Bild: Indem es im imaginären Spiegelraum platziert wird, weist L A N UIT ihm eine andere Stufe der ästhetischen Realität zu als dem Erzähler, der auf dem „wirklichen Platz“ vor dem Spiegel steht. Die andere Wirklichkeit, die das Bild als pars pro toto für die Vernichtung reflektiert, ist spurlos vergangen. Nur der Überlebende, nicht die Toten, können sich vor dem Spiegel einfinden. Die Schlusspassage von L A N UIT entfaltet demnach drei Stufen der Anbzw. Abwesenheit. Innerhalb des ästhetischen Rahmens ist der Erzähler präsent (auf dem „wirklichen Platz“ vor dem Spiegel), auch wenn er sich selbst nicht präsent wird (als Spiegelbild). Die Toten sind „in Wirklichkeit“ abwesend, doch sie erscheinen in einem Raum (au fond du miroir), dem - obwohl unwirklich - zugestanden wird, dass er auf eine Realität jenseits des Imaginären verweist. Wie die Photographie bei Barthes, von der der Philosoph schreibt, dass der Referent an ihr haften bleibe, 112 unterhält das Spiegelbild eine Art Evidenzbeziehung zu seinem Referenten. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass der Spiegel - realistisch gedacht - nur das reflektiert, was sich vor ihm befindet, während die Photographie bezeugt, was es einmal gegeben hat: „le Référent de la Photographie“, schreibt Barthes, „n’est pas le même que celui des autres systèmes de la représentation [...]. Au contraire de ces imitations, dans la Photographie, je ne puis jamais nier que la chose a été là.“ 113 Die Spiegelsituation von L A N UIT mischt diese photographische Evidenzbeziehung mit der eines „gewöhnlichen“ Spiegels. Das gibt der Gestalt, die dort als imaginäre Präsenz erscheint, eine besondere Qualität, insofern sie zugleich auf die abwesenden Toten und den anwesenden Erzähler verweist. Privilegiert man den zweiten Bezugspunkt des Spiegels (Eliezer), wird die Bedeutung der Vorstellungs- und Erinnerungskraft für die (Re-)Konstruktion des Abwesenden betont. Eliezer situiert sich zwischen dem Bild und der tödlichen Wirklichkeit, auf die es verweist. Da- 112 Vgl. Barthes 2002d, 793. 113 Barthes 2002d, 851. 125 bei wäre zum einen an den Schwur zu erinnern, den er bei seiner Ankunft im Lager ablegt („jamais je n’oublierai...“), zum anderen an die Funktion, die er innerhalb von L A N UIT einnimmt. Er ist der Erzähler des Textes, der mit gelegentlichen Einwürfen auf die Nachträglichkeit des Erzählvorgangs verweist. Als sein Vater - lange vor der Deportation - erklärt, dass man am „gelben Stern“ nicht sterbe, heißt es in Klammern „(Pauvre père! De quoi es-tu donc mort? )“ (23). L A N UIT lässt sich als Ergebnis der testimonialen Verpflichtung lesen, die Eliezer mit dem Schwur und vor dem Spiegel eingeht. Diese Deutung wird paratextuell dadurch gestützt, dass L A N UIT mit der Genrebezeichnung „témoignage“ (Zeugnis) versehen ist - ein Begriff, der auch im Vorwort des katholischen Schriftstellers François Mauriac mehrfach verwendet wird. 114 Zudem hat Wiesel, auf dessen Erlebnissen der Text beruht, die reale Spiegelsituation, die darin verarbeitet wird, oft als einen der Auslöser für sein Schreiben behauptet. 115 In L A N UIT steht Eliezer zwischen der abwesenden Realität (der tote Vater, die ermordeten Kinder), die er als Zeuge gesehen hat, und ihrer Repräsentation im Spiegel: Das Toten-Bild verweist, pars pro toto, auf den Gesamttext von L A N UIT , da er fast ausschließlich von der Vernichtung handelt. Die Position des Erzählers zwischen diesem Bild, das für seine Erzählung ebenso wie für die abwesende Realität steht, und dem, was er gesehen hat, macht Wiesels Spiegelszene zu einer Allegorie des Schreibens. Das gilt auch deshalb, weil der Spiegel - wie das Buch - eine andere Realitätsstufe besitzt als die beschriebenen Ereignisse. Im Text und im Spiegel sind sie in Sprache bzw. in ein Bild verwandelt. Allerdings macht die Schlussszene von L A N UIT klar, dass diese imaginären Räume die einzigen Orte sind, an denen die abwesende (spurlos gemachte) Realität sich noch einmal formulieren kann. Der Erzähler trägt sie als traumatische Erinnerung mit sich, doch sie ist „in seinen Augen“ verborgen. Der Spiegel schreibt die vergangene Wirklichkeit offen in die lebendige Gegenwart zurück: Als Bild/ Text wird der Tod noch einmal sichtbar gemacht. Die Untergegangen kommen auf einer imaginären Ebene als Tote zurück. Das trifft sich mit Wiesels künstlerischem Selbstverständnis, wie er es in einem Gespräch von 1973 formu- 114 Vgl. z.B. Mauriac 2005, 7. Das Vorwort ist in den französischen und englischen Ausgaben des Textes enthalten. 115 Vgl. z.B. Wiesel 2002, 62: „One day as I was looking in a mirror, I didn’t recognize myself. [...] I then decided that since everything changes - even the face in the mirror changes - someone must speak about that change. [...] That’s when I knew I was going to write.“ Es ist für die paratextuelle Autorisierung unwichtig, ob Wiesel die Spiegel-Szene nachträglich als Gründungsmoment des Schreibens konstruiert, oder ob er sie „tatsächlich“ so empfunden hat. Das hat damit zu tun, dass sich Autorisierungsstrategien, in denen die Figur des Autors eine Rolle spielt, nicht auf den einzelnen Text (z.B. L A N UIT ) beschränken, sondern zwischen verschiedenen Texten und Textsorten (inkl. Interviews) flotieren. 126 liert: „I believe the purpose of literature is to correct injustice. People were killed... I try in my books to bring them back to life or at least to bring their death back to life.“ 116 Versteht man den letzten Paragraphen von L A N UIT , wie es hier geschieht, als Allegorie des Schreibens, bietet er ein Modell für die Autorisierung ästhetischer Texte „nach Auschwitz“. Abgesehen von seiner kulturhistorischen Verankerung, die ich zu Beginn des Kapitels gezeichnet habe, scheint mir die Effektivität des Modells auf vier Gründen zu beruhen: Erstens stützt es sich auf ein Konzept der traumatischen Wiederkehr, zweitens fixiert es den Text im Körper des Zeugen, drittens platziert es diesen auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, viertens verpflichtet es ihn auf ein „Schreiben der Stille“. Aus diesen Elementen entsteht Eliezer - und mit ihm Wiesel, der in L A N UIT über die eigenen Erlebnisse schreibt - als Modell einer Autorfigur im Sinne des „stummen Boten“: Sie soll den Text autorisieren und die Wirklichkeit bezeugen, indem sich diese durch sie hindurch erzählt. Insofern wäre es nicht der Autor, der schreibt, sondern das Ereignis, das sich durch ihn vermittelt. Besonders deutlich wird diese Passivität des Erzähler/ Zeugen am ersten Punkt, den ich für die Wirksamkeit des hier skizzierten Autorisierungsmodells genannt habe: dass es sich auf ein Konzept der traumatischen Wiederkehr beruft. Das Bild im Spiegel wird quasi „gegen“ den Erzähler beglaubigt. Wo er hofft, sich selbst zu sehen, erscheint ein Leichnam, der den Blick Eliezers unterbricht, übernimmt und besetzt. Der Tote schaut durch den, in dieser Hinsicht fremdbestimmten, Überlebenden und „spiegelt“ aus ihm heraus. Daher handelt es sich um keine aktive Bild/ Text-Produktion des „Ichs“. Innerhalb der Spiegelszene, die das „Ich“ erzählt, erzählt es nichts. Trotzdem gewinnt sein reales Trauma (der Fremdkörper in seinem Körper) eine imaginäre Gestalt, als Leichnam au fond du miroir. Die traumatische Realität, auf die sich das Bild bezieht, wird - obwohl eine Identifikation mit ihm unmöglich ist - in Eliezer verankert. Ausgehend vom Spiegel nimmt er die Spaltung von „cadavre“ und „me“ in sich auf: „Son regard dans mes yeux ne me quitte plus“ (175). Durch den Bruch scheint sich das Ereignis selbst zu schreiben. Diesen Vorgang möchte ich mit einem Seitenblick auf Charlotte Delbos L A M EMOIRE ET L ES J OURS (1985) näher erläutern. In dem autobiographischen Text unterscheidet die Schriftstellerin, die Auschwitz und Ravensbrück überlebt hat, zwei Formen Holocaust-Erinnerung. Eine nennt sie mémoire ordinaire: ein Alltagsgedächtnis, das Delbos Handeln, Denken und Schreiben lenkt. In ihm ist sie von ihrer traumatischen Vergangenheit getrennt: 116 Wiesel 2002, 46. Meine Hervorhebung. 127 j’ai le sentiment que celle qui était au camp, ce n’est pas moi, ce n’est pas la personne qui est là, en face de vous. Non, c’est trop incroyable. Et tout ce qui est arrivé à cette autre, celle d’Auschwitz, ne me touche pas, moi, maintenant, ne me concerne pas […] Comme si c’était pas moi du tout. 117 Delbos eigentliche Erinnerung an Auschwitz lebt - wie in der Spiegelsituation von L A N UIT - als Fremdkörper in ihr weiter. Dabei handelt es sich um etwas, das sie mémoire profonde nennt. Dieses traumatische Gedächtnis sitzt tief unter der Haut, erklärt Delbo. Die Empfindungen von damals seien ihm physisch eingeprägt; und dort zugleich verschlossen. Manchmal aber - in ihren Träumen - breche die peau de la mémoire auf und lasse den Schrecken wiederkehren: Sur le rêve, la volonté n’a aucun pouvoir. Et dans ces rêves-là, je me revois, moi, oui, moi, telle que je sais que j’étais : tenant à peine debout, la gorge dure, le cœur dont le battement déborde la poitrine, transpercée de froid, sale, décharnée, et la souffrance est si insupportable, si exactement la souffrance endurée là-bas, que je la ressens physiquement, je la ressens dans tout mon corps qui devient un bloc de souffrance, et je sens la mort s’agripper à moi, je me sens mourir. 118 Nur das Aufwachen und die langsame Rückkehr zur mémoire ordinaire können Delbo bzw. die Ich-Erzählerin vor ihrem nachträglichen Tod bewahren. Sie unterläuft einen Prozess der Selbstentfremdung. 119 Diese Spaltung in zwei Körper erinnert an Eliezers Situation vor dem Spiegel. Wie er akzeptiert die erwachende Frau das „Auschwitz- Selbst“ nur als ein Anderes. Während es bei ihm unter dem Zeichen des ermordeten Vaters steht (auf den der Leichnam im Spiegel verweist), geht es bei ihr um ein „Ich“, an dessen Existenz sie kaum mehr zu glauben vermag. Die nächtliche Wiederkehr der mémoire profonde verschmilzt beide Körper. Das zitierte Traumprotokoll stellt diese Vereinigung als Übergang von einer Ordnung des Sehens (revoir) zu einer Ordnung des Fühlens (ressentir) dar. Zunächst sieht die Überlebende „moi, oui, moi“; doch gerade weil sie diesen Körper, der sie selbst ist, detailreich und in einer körperbetonten Sprache beschreibt, bleibt er von ihr getrennt. Erst der Schmerz, den sie körperlich fühlt („je la ressens physiquement“), lässt sich nicht mehr in Worte fassen. Er kann lediglich benannt werden und hinterlässt so eine Lücke in der Erzählung. „Physical pain does not simply resist language“, schreibt Elaine Scarry über T HE B ODY IN P AIN (1985), „but actively destroys it, bringing about an immediate reversion […] to the sounds and cries a human 117 Delbo 1985, 13. 118 Delbo 1985, 13. 119 Zur Differenzierung von mémoire profonde und mémoire ordinaire vgl. auch Langer 1991, der Delbos Unterscheidung für seine Analyse von mündlichen Holocaust- Zeugnissen konzeptualisiert. 128 being makes before language is learned.“ 120 Am tiefsten Punkt der mémoire profonde verschmelzen der Körper der Überlebenden und der inkorporierte Fremdkörper - das „tote“ Auschwitz-Selbst - zu einer unmöglichen Einheit. Um den Preis des Überlebens führt dieser Moment zum Erwachen und damit zur erneuten Ausdifferenzierung in ein vergangenes und ein gegenwärtiges Ich. Erst aus dieser Position heraus kann die Überlebende schreiben: „Parce que, lorsque je vous parle d’Auschwitz ce n’est pas de la mémoire profonde que viennent mes paroles.“ 121 Sobald sie vom Schmerz spricht, ist dieser bereits abwesend. Weil das verdrängte Selbst nur in den Träumen zum „Ich“ wird, ist seine nachträgliche Beschreibung notwendig fiktionalisiert. Die mémoire ordinaire umfasst alle bewussten, mit dem Denken verbundenen Erinnerungsprozesse: auch den Schreibvorgang. Aber L A M EMOIRE ET LES JOURS weist auf eine Situation der Bewusstlosigkeit hin, in der sich die abwesende Realität als körperlicher Schmerz wiederholt. Während die Überlebende schläft, schreibt sie sich gegen ihren Willen - als mémoire profonde - in den Traum ein. Delbos Erzählung aber geht, selbst wenn sie über diese „tiefliegende Erinnerung“ spricht, vom Alltagsgedächtnis der mémoire ordinaire aus. Das liegt daran, dass die mémoire profonde eine traumatische Struktur besitzt. Sie betrifft also Ereignisse, die zum Zeitpunkt ihres Geschehens weder begriffen noch assimiliert wurden. Deshalb kehren sie - glaubt man Freuds Ansichten zum Wiederholungszwang - zurück, beispielweise in Form von Träumen: „Aber was so unverstanden geblieben ist, das kommt wieder; es ruht nicht, wie ein unerlöster Geist, bis es zur Lösung und Erlösung gekommen ist.“ 122 Die Vergangenheit erlebt ihre Auferstehung in der Gegenwart; als revenant sucht sie das Hier und Jetzt heim. Gegen diesen gespenstischen Wiedergänger will die klassische Psychoanalyse vorgehen: sie postuliert eine Notwendigkeit, das Unverarbeitete zu verarbeiten. Ihr Ziel ist es, die „verdrängte Erinnerung“ - was Delbo mémoire profonde nennt - in „gewöhnliche Erinnerung“ zu übersetzen. Mit Freud lässt sich formulieren, dass die mémoire profonde „etwas ‚erinnert’ [...], was nie ‚vergessen’ werden konnte, weil es zu keiner Zeit gemerkt wurde, niemals bewusst war.“ 123 Dieser Modus des Erinnerns sei etwas anderes als Erinnerung, nämlich ein „entstelltes“ (d.h. verlagertes) Ausagieren des Geschehenen: 120 Scarry 1985, 4. Sie zitiert aus Virginia Woolfs Essay O N B EING I LL [1926]: „English, which can express the thoughts of Hamlet and the tragedy of Lear, has no words for the shiver or the headache […]. Let a sufferer try to describe a pain in his head to a doctor and language at once runs dry.“ 121 Delbo 1985, 14. 122 Freud 2000a, 11. 123 Freud 2000b, 208-209. 129 So dürfen wir sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat […]. 124 Die mémoire profonde stellt keine bewusste - gewollte oder zufällige - Erinnerung dar. Ihre Rückkehr geschieht auf einer anderen Ebene. Delbos Träume, wie sie diese in L A M EMOIRE ET LES JOURS beschreibt, schwemmen etwas an die Oberfläche, dessen schmerzhafte Unmittelbarkeit die Überlebende kaum ertragen kann: „tout mon corps […] devient un bloc de souffrance, et je sens la mort s’agripper à moi, je me sens mourir.“ 125 Die gewöhnliche Erinnerung, schreibt Delbo, bilde eine Haut (die peau de la mémoire), unter der das traumatische Reale begraben liegt. Wenn sie während ihrer Alpträume aufbricht, wird das Trauma physisch erinnert bzw. ausagiert. Diese verkörperte „Erinnerung“ (mémoire des sens) muss paradoxerweise, um den Preis des Überlebens, ein Fremdkörper für die Überlebende bleiben. Entweder ist sie, als Aktualisierung des Geschehenen, tödlich (je me sens mourir); oder sie wird, bei ihrer Transformation in ein narratives Gedächtnis, fiktionalisiert: „parce que, lorsque je vous parle d’Auschwitz ce n’est pas de la mémoire profonde que viennent mes paroles. Les paroles viennent […] de la mémoire intellectuelle, la mémoire de la pensée.” 126 Das entspricht aktuellen Theorien des Traumatischen, wie sie Einzug in die Kulturwissenschaft gehalten haben. 127 Anders als Freud behaupten diese nicht, den „unerlösten Geist“ des Vergangenen ohne Verlust in gewöhnliche Erinnerung umwandeln zu können. So schreibt die Literaturwissenschaftlerin Cathy Caruth: the transformation of the trauma into a narrative memory that allows the story to be verbalized and communicated, to be integrated into one’s own, and others’, knowledge of the past, may lose both the precision and the force that characterizes the traumatic recall. 128 Für Caruth wäre Delbos Erzählung gerade in ihren „Entstellungen“ referentiell, also in dem Maß, in dem sie Geschichte nicht erzählt. Das Reale würde vor allem durch die Lücken bezeugt, die entstehen, weil die mémoire profonde niemals in der mémoire ordinaire (im narrativen Gedächtnis) aufgeht: „Alors, vous vivez avec Auschwitz? -Non, je vis à coté.“ 129 124 Freud 2000b, 209-210. 125 Delbo 1985, 13. 126 Delbo 1985, 14. 127 Für einen Überblick zu Trauma Studies als einem Feld der Kulturwissenschaft vgl. etwa Weigel/ Bronfen/ Erdle (Hg.) 1999. 128 Caruth 1994, 153. 129 Delbo 1985, 13. 130 Damit komme ich zur Spiegelsituation von L A N UIT zurück: Wie in L A M EMOIRE ET LES J OURS drängt dort ein Trauma aus der „tiefliegenden Erinnerung“ des Körpers hervor. In beiden Fällen bildet es sich auf einer anderen Stufe der (ästhetischen) Wirklichkeit, im Spiegel bzw. im Traum ab. Beides sind imaginäre Räume, die auf je spezifische Weise im Realen verwurzelt sind. Der von Delbo beschriebene Alptraum überschreitet die Grenzen des Imaginären, wenn er von der Ordnung des Sehens (je me revois) zur körperlichen Erinnerung des „Wiederfühlens“ wechselt. In L A N UIT bindet die spekulare Struktur das im Spiegel figurierte Trauma an den stummen Erzähler-Zeugen zurück, der vor ihm steht. Da er nicht der einzige Bezugspunkt des Spiegels ist und die Szene mit einer Umkehrung des Erzählerblicks operiert (der Leichnam schaut aus dem „fond du miroir“), kann die Spiegelszene als der Moment verstanden werden, in dem das Trauma zum ersten Mal wiederkehrt. Sie konstituiert den Zeugen als gespaltenes Subjekt. Fortan trägt er das Trauma, das sich ihm gegen seinen Willen einschreibt, mit sich: „son regard dans mes yeux ne me quitte plus“ (175). Er beglaubigt das (Spiegel-)Bild an seinem Körper und „spiegelt“ es in den Bild/ Text, der sein Zeugnis ist, zurück. Unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Trauma Studies spielt dabei keine Rolle, wie nahe das Bild des Leichnams an der abwesenden Wirklichkeit ist, auf die er verweist. Die Darstellung würde über den Körper des Zeugen autorisiert, der gerade dort „spürbar“ ist, wo die Darstellung aussetzt. Über die Metapher des Spiegels, der einerseits - wie Photographie oder Film - auch das reflektiert, was sich nicht vor ihm befindet, andererseits aber auf den Körper des Zeugen verweist, kombiniert das Autorisierungsmodell von L A N UIT zwei Wege der Beglaubigung. Indem das Konzept der traumatischen Wiederkehr mit der Evidenzbeziehung des Spiegels verbunden wird, beansprucht dieses Modell eine realistische Darstellung (als Bild/ Text), die die Grenzen der Darstellung zugleich - über den Körper des Erzähler-Zeugen - hinter sich lässt. Der Leichnam „spiegelt“ eine Realität, die Eliezers Augen nur andeuten. Erst nachdem sie im Imaginären Gestalt gewonnen hat, weist sie - nun sichtbar geworden - auf seine reale Leiblichkeit zurück. Diese körperliche Verankerung behauptet eine Beziehung zwischen Bild/ Text und abwesender Wirklichkeit, die über oder durch den Körper des Erzählers läuft. Er war bei den Ereignissen dabei; jetzt befindet er sich - als „passiver Produzent“ ihrer traumatischen Wiederkehr - vor der Reflektionsfläche des Textes. Wenn der Tod im Spiegel auf die mörderische Realität der KZs verweist, tut er dies durch den Überlebenden, der ihm als einziger körperlich gegenübersteht. Diese Spiegelung macht deutlich, dass Eliezer die unmögliche Todeserfahrung in sich trägt. Sie ist eine Spur der Ereignisse und verbindet den überlebenden Zeugen mit jenen, die untergegangen sind. Das verleiht seiner Zeugenschaft zusätzliche Autorität. Mit Jorge Semprun kann man formulieren, 131 dass die Toten und die Lebenden von „Auschwitz“ eine Erinnerung teilen, „la mémoire collective de notre mort“. 130 Dieser Satz stammt aus dem Roman L’ ECRITURE OU LA V IE , den der Buchenwald-Überlebende 1994 veröffentlicht hat. In ihm beschreibt sich der Ich-Erzähler als „revenant“, der im Lager den Tod durchquert hat (traversé la mort). 131 Es ist ein Erlebnis, das seitdem als einzig „wahre Erfahrung“ bestehen bleibt: „Cette traversée devenait alors la seule réalité pensable, la seule expérience vraie. Toute le reste n’avait été qu’un rêve, depuis.“ 132 An Stellen wie dieser beschreibt L’ ECRITURE OU LA V IE eine Erfahrung, die in den Texten vieler Überlebender ausgedrückt wird - so auch bei Charlotte Delbo, wenn sie über die nächtliche Wiederkunft des Todes schreibt. Der Begriff Überleben scheint für diesen Zustand nicht auszureichen, so dass Lawrence Langer in Bezug auf die Shoah vorgeschlagen hat, das Wort „survival“ durch den Neologismus „surmortal“ zu ersetzen: Words like survival and liberation, with their root meanings of life and freedom, entice us into a kind of verbal enchantment that too easily dispels the miasma of the death camp ordeal and its residual malodors. 133 Für das Autorisierungsmodell, das L A N UIT vorschlägt, gilt ebenfalls, dass der Erzähler zwischen Leben und Tod platziert wird. Nicht nur findet die Spiegelszene in einem Moment statt, da sich Eliezer - aufgrund einer Krankheit - „entre la vie et la mort“ (174) befindet; die spekulare Struktur von cadavre und me schreibt ihm den Tod als körperliche Erfahrung ein. Wie ich zu zeigen versucht habe, konstituiert sie den Zeugen als gespaltenes Subjekt. So verändert sich die Qualität seines Überlebens im eben beschrieben Sinn. Es wird zu einem Über-Leben, das keines mehr ist, weil es jenseits des Lebens steht. Auf diese Weise hat Maurice Blanchot, aus der Position des Nichtzeugen, das Leben der Zeugen „nach Auschwitz“ beschrieben: „leur sur-vie n’est plus la vie, est la rupture d’avec l’affirmation vivante, l’attestation que ce bien qu’est la vie [...] a subi l’atteinte décisive qui ne laisse plus rien intact.“ 134 Am Anfang von L A N UIT steht die Rückkehr von Moché-le-Bedeau, der - weil er kein Ungar ist - früher als die anderen Juden aus Eliezers ungarischem Heimatdorf deportiert wurde. An der polnischen Grenze übernahm die Gestapo den Zug, in dem er sich befand, ließ alle Juden 130 Semprun 2003, 160. Meine Hervorhebung. 131 Für diese Formulierungen, die in L’É CRITURE OU LA V IE mehrfach auftauchen, vgl. z.B. Semprun 2003, 25, 29 u. 160. 132 Semprun 2003, 29. 133 Langer 1991, 171. 134 Blanchot 1983, 89. 132 aussteigen und befahl ihnen, ein Massengrab zu schaufeln. Moché beschreibt die Szene nach seiner Rückkehr folgendermaßen: Sans passion, sans hâte, [les hommes de la Gestapo] abattirent leurs prisonniers. Chacun devait s’approcher du trou et présenter sa nuque. Des bébés étaient jetés en l’air et les mitraillettes les prenaient pour cibles. (16) Moché-le-Bedeau wird angeschossen und von den Deutschen, die ihn für tot halten, im Massengrab zurückgelassen. So überlebt er seinen Tod und kann als Zeuge seines Todes nach Ungarn zurückkehren: „J’ai voulu revenir à Sighet pour vous raconter ma mort“ (17). Die Juden von Sighet aber glauben Moché nicht; sie halten ihn für verrückt. Obwohl die testimoniale Autorität eines Zeugen zwischen Leben und Tod hier angezweifelt wird, unterstreicht das im größeren Kontext von Wiesels Text, wie ernst sein Zeugnis genommen werden sollte. Die unglaubliche Wahrheit, die er berichtet, erweist sich - wie der Leser „nach Auschwitz“ bereits an dieser Stelle weiß - als wahr. Für das Autorisierungsmodell von L A N UIT betont Moché, der einzig andere Erzähler, der neben Eliezer in Erscheinung tritt, noch einmal die Schwellenposition beider Zeugen. In einem Interview mit Harry Cargas sagt Wiesel 1976, dass L A N UIT eine autobiographische Erzählung sei, „a kind of testimony of one witness speaking of his own life, his own death.“ 135 Die letzte Autorisierungsstrategie, die ich in Bezug auf Wiesels Text genannt habe, scheint dem Versuch zu widersprechen, die Schlussszene als Allegorie des Schreibens zu verstehen. Es geht darum, dass L A N UIT und viele poetologische Äußerungen Wiesels das Schweigen zum Ideal der Zeugenschaft erheben: Im Gegensatz zur Stille können Worte das Ereignis gerade dadurch verraten, dass sie es darstellen, so Wiesel. 136 Er nennt bestimmte Praktiken, mit denen er versuche, die Stille und das Schweigen in seine Schriften einzuführen. Da ist zum einen der lakonische Stil, auf den ich bereits aufmerksam gemacht habe. Wiesel verweist auf sein Interesse an der jüdischen Mystik. In ihr sei das, was zwischen den Worten liege wichtiger als die Worte selbst: „This silence that separates the words is what excites and fascinates me.“ 137 Zu diesem „Schreiben der Stille“ gehöre auch, dass die jiddische Version seines Erstlingswerks, U N DI V ELT HOT G ESHVIGN , wesentlich länger ist als die französische Ausgabe. „There is a difference“, behauptet Wiesel, 135 Wiesel 2002, 59. 136 Vgl. Wiesel 2002, 70. 137 Wiesel 2002, 291. 133 between a book of two hundred pages from the very beginning, and a book of two hundred pages which is the result of an original eight hundred pages. The six hundred pages are there. Only you don’t see them. 138 Im Autorisierungsmodell von L A N UIT lässt sich das „Schreiben der Stille" wiederfinden, wenn man bedenkt, dass die Spiegelszene, obwohl sie erzählt wird, in der Sprachlosigkeit eines stummen Blicks stattfindet. Eliezer und der Leichnam schweigen: Die Spiegelung ist auf Worte nicht angewiesen. Sie legt trotzdem Zeugnis von der Vernichtung ab, da das Spiegelbild das Gesicht eines Toten zeigt. Die Botschaft schreibt sich, durch den stummen Zeugen hindurch, auf eine Bildfläche, die - wenn es sich bei der Schlussszene um eine Allegorie des Schreibens handelt - auch für L A N UIT steht. Innerhalb der Szene handelt es sich um eine Bild/ Text-Produktion, die aus dem Schweigen kommt. Die traumatische Gestalt kehrt gegen den Willen des Überlebenden wieder; sie bleibt an seinen sprachlosen Körper gebunden - und nicht an die Worte, die ihm fehlen. Das Autorisierungsmodell, das L A N UIT vorschlägt - und auf das ich meine Interpretationen von Anne Franks Tagebuch und Claude Lanzmanns Film S HOAH (1985) beziehen werde -, stellt die Verkörperung von Erfahrung über den Bericht. Aus diesem Blickwinkel wäre die ideale Zeugenschaft jene, die ihre Botschaft unmittelbar - d.h. ohne zu erzählen - vermitteln könnte. Ihr wird, in der historischen Situation, die ich zu Beginn des Kapitels umrissen habe, höchste testimoniale Effektivität zugesprochen. Sie steht in Einklang mit dem Phantasma eines „stummen Boten“, das ich an Yehiel Dinurs Kollaps während des Eichmann-Prozesses und für Wiesels „supplementären“ Blick in N UIT ET BROUILLARD beschrieben habe. Der „stumme Bote“ würde zum körperlichen Ausdruck seiner Botschaft. Das Autorisierungsmodell von L A N UIT ist um eine solche Zeugenfigur zentriert, die den schweigenden Erzähler mit dem schreibenden Autor verschmilzt. Besonders deutlich wird die so hergestellte Einheit in dem einflussreichen Vorwort, das der Literaturnobelpreisträger François Mauriac zur Erstausgabe von Wiesels Text beigesteuert hat. In dem Vorwort schildert Mauriac sein erstes Treffen mit Wiesel, als dieser ihn 1954 - damals noch Journalist - für eine israelische Zeitung interviewen wollte. Mauriac schreibt, dass er seinen Gesprächspartner sofort sympathisch gefunden habe, weshalb das Interview schnell ins Persönliche gegangen sei: „Je confiai à mon jeune visiteur qu’aucune vision de ces sombres années“ - gemeint sind die Kriegsjahre - „ne m’a marqué autant que ces wagons remplis d’enfants juifs, à la gare 138 Wiesel 2002, 72. Einen kritischen Vergleich der Fassungen liefert Seidman 1996. 134 d’Austerlitz...“ 139 Der Schriftsteller führt aus, wie ihm das Bild dieser Kinder zum Symbol für die Schrecken des NS-Regimes wurde. Und das, obwohl er in zweifacher Hinsicht kein Zeuge ihrer Deportation war. Erstens hat er sie niemals gesehen. Es ist Mauriacs Frau, die ihm den Anblick berichtet. Zweitens kann er die brutale Realität hinter dem Bild nicht begreifen. Mauriac beschreibt die Kinder als Lämmer, die von ihrer Mutter getrennt wurden; diese christlich geprägte Metapher scheint dem katholischen Schriftsteller die größtmögliche Grausamkeit auszudrücken: Nous ignorions tout alors des méthodes d’extermination nazies. Et qui aurait pu les imaginer! Mais ces agneaux arrachés à leur mère, cela dépassait déjà ce que nous eussions cru possible [...] - et j’étais pourtant à mille lieux de penser qu’ils allaient ravitailler la chambre à gaz et le crématoire. 140 Mauriacs Text reflektiert die Situation eines Nichtzeugen. 141 Er erzählt von dessen Unvermögen, sich das Unvorstellbare vorzustellen (qui aurait pu les imaginer), erlaubt aber nicht, sich auf die bequeme Position des Nicht-Wissens zurückzuziehen. Dafür sorgt das Vorwort mit einem doppelten „pourtant“. Erstens: Obwohl die Realität der Gaskammern für ihn kaum denkbar ist, sieht Mauriac ihr Grauen in einem Bild präfiguriert. Und zweitens: Obwohl er bei der Deportation am Gare d’Austerlitz nicht dabei war, brennt sich der Anblick der Kinder, den nur seine Frau ihm berichtet, in Mauriacs Gedächtnis ein: „Que de fois j’ai pensé à ces enfants ! “ 142 Daraufhin gesteht ihm Wiesel, dass er zu jenen Kindern gehöre: „Je suis l’un deux.“ Der kurze Satz verändert Mauriacs Sichtweise auf den jungen Besucher. Plötzlich sieht er keinen Journalisten mehr vor sich, sondern einen Zeugen: „Il était l’un d’eux! “ 143 Nach diesem bestätigenden Ausruf springt das Vorwort zu Ereignissen, die L A N UIT schildert. François Mauriac zitiert - teilweise wörtlich - einige Stellen aus Wiesels Buch, um abschließend festzustellen: Je compris alors ce que j’avais aimé dès l’abord dans le jeune israélien: ce regard d’un Lazare ressuscité, et pourtant toujours prisonnier des sombres bords où il erra, trébuchant sur des cadavres déshonorés. 144 139 Mauriac 2005, 5. 140 Mauriac 2005, 6. 141 Zum Konzept des Nichtzeugen siehe unten, S. 225-233. 142 Mauriac 2005, 6. 143 Vgl. Mauriac 2005, 6. 144 Mauriac 2005, 7-8. Meine Hervorhebung. Mauriac bringt Wiesel hier mit der aus der christlichen Tradition stammenden Figur des auferstanden Lazarus in Verbindung. Das ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen verweist dieser Vorgang, ganz allgemein, auf die christliche Überformung der Holocaust- Erinnerung, die immer wieder statt (vgl. etwa Lawson 2007); zum anderen tut sich hier eine unterirdische Verbindung zu N UIT ET B ROUILLARD auf: Von Jean 135 Mauriacs Vorwort lässt offen, wann dieses alors stattfindet. Ist es an jenem Tag, an dem Wiesel ihn interviewen möchte oder nach seiner Lektüre von L A N UIT - dem Text, aus dem er zitiert, der damals aber noch nicht geschrieben war? Die Vermischung der Zeitebenen bindet den Text an die Körperlichkeit des Autors zurück. Sein Blick wird in einer Weise beschrieben, die dem letzten Paragraphen von L A N UIT entspricht. Aus ihm heraus kann Mauriac erkennen, was ihm an seinem Besucher sofort (dès l’abord) sympathisch war. Obwohl sich der Blick - in gewisser Weise - erst durch die Lektüre konstituiert (und lesbar wird), ist er zugleich das, was die Textproduktion angeregt: Als unbestimmbare Sympathie lenkt der Blick das Interview in Richtung eines gegenseitigen Geständnisses. „Je crois que vous avez tort“, soll Mauriac zu Wiesel gesagt haben, „Vous avez tort de ne pas en parler...“ 145 So erinnert sich der Überlebende an jenes Interview, nach dem er zum Schriftsteller wurde: „Écoutez donc le vieillard que je suis : il faut parler - il faut parler aussi.“ 146 Die Dialektik von Sprechen und Schweigen bestimmt auch diesen Text - U NE I NTERVIEW PAS COMME LES A UTRES (1977) - und seine Darstellung, wie Wiesels erstes Buch entstanden sei. Der Aufforderung folgend, dass man auch sprechen müsse, habe er dem katholischen Schriftsteller nach einem Jahr, so Wiesel, das Manuskript von L A N UIT geschickt, „écrit sous la signe du silence et de la fidélité.“ 147 Cayrol, dem katholischen Autor des Erzählertextes, stammt das auf die Literatur „nach Auschwitz“ bezogene Manifest P OUR UN R OMANESQUE LAZARÉEN (1949). 145 Wiesel 1977, 31. 146 Wiesel 1977, 31. 147 Wiesel 1977, 31. Meine Hervorhebung. 137 „Writing Ghosts“ - Anne Frank als Erinnerungsfigur Die Stimme der Toten Der Krieg ist vorbei. Otto Frank kehrt aus dem Konzentrationslager zurück nach Amsterdam, zurück in das Gebäude an der Prinsengracht 263, dessen Hinterhaus ihm und seiner Familie lange Zeit als Versteck gedient hat. Dort trifft er auf Miep und Kraler: zwei Freunde, die ihm ein Bündel Papiere überreichen. Darunter findet sich das Tagebuch seiner jüngsten Tochter Anne, von der er bereits weiß, dass sie in Bergen-Belsen umgekommen ist. Er weiß, dass er den Krieg als Einziger aus dem Hinterhaus überlebt hat. Zunächst will Otto Frank, dass die Papiere verbrannt werden: Sie bergen zu viele Erinnerungen. Doch dann beginnt er - auf Mieps Einspruch hin - das Tagebuch seiner toten Tochter zu lesen. Was folgt, ist eine Auferstehung im Leseakt: Nach kurzer Zeit klingt Annes Stimme im Kopf des Vaters, und die Ereignisse, die sie beschreibt, nehmen wieder Gestalt an. Anne selbst nimmt wieder Gestalt an, wie sie das Hinterhaus zum ersten Mal betritt. Die Autorin scheint in ihrem Tagebuch bewahrt, so dass der Leser - zumindest dieser Leser an diesem Ort - ihr durch die Lektüre neues Leben verleihen kann. Diese Szene, in der das Lesen des Tagebuchs mit der Auferstehung seiner Autorin verknüpft wird, findet sich zu Beginn von George Stevens’ Film T HE D IARY OF A NNE F RANK (1959), der auf dem gleichnamigen Broadwaystück von Frances Goodrich und Albert Hackett beruht. Als kinematographisches Mittel der Auferstehung fungiert eine Überblendung in Bild und Ton. Joseph Schildkraut, der Otto Frank spielt, liest wenige Zeilen aus dem Tagebuch. Dann verliert sich seine Stimme im Voiceover eines jungen Mädchens. Die 19-jährige Schauspielerin Millie Perkins spricht den Anne Frank-Text weiter: „We were going into hiding“, sagt sie, während der Film von der aktuellen Lesesituation in die Gegenwart des Geschriebenen blendet. Zunächst nur als ein Schatten hinter der Eingangstür, betritt Perkins als Anne Frank das Hinterhaus. Im Folgenden untersuche ich Anne Frank nicht als das wirkliche Mädchen, das zwischen 1942 und 1944 sein posthum veröffentlichtes Tagebuch schrieb und aufgrund seiner jüdischen Herkunft in Bergen-Belsen 138 ermordet wurde. 1 Untersucht wird Anne Frank als Erinnerungsfigur, d.h. ihre Geschichte rückt weniger auf der historischen Ebene ins Blickfeld als in ihrer Bedeutung für die kulturelle Erinnerung an die Shoah. 2 Das leugnet weder die Faktizität der Ereignisse 3 noch blendet es den Zusammenhang aus, der zwischen ihnen und den Figuren des kulturellen Gedächtnisses besteht. Meine Analyse soll aber zeigen, dass die Beziehung zwischen diesen Instanzen - zwischen abwesender Wirklichkeit und Erinnerungskonstruktion - keineswegs einseitig verläuft. „National, cultural, ideological, religious, and political interests“, stellt Alvin Rosenfeld fest, have shaped and continue to shape the ways in which [...] the crimes against the Jews have been presented to diverse publics. Far from there being anything like a shared memory of the Holocaust, therefore, we find a multiplicity of historical memories and often a clash among them. 4 Gerade an Anne Frank, die auch Rosenfeld als privilegiertes Beispiel für den Wandel und die Gleichzeitigkeit verschiedener Erinnerungsmodelle behandelt, 5 lässt sich darstellen, wie die unterschiedliche Gestaltung einer Erinnerungsfigur je spezifische Implikationen für das Verständnis der abwesenden Wirklichkeit - für die Geschichtsschreibung der Shoah - besitzt. Hier kommt eine ethische Perspektive ins Spiel, die sich auf die (auch teilweise unbewussten) „Interessen“ der Erinnerungskonstruktion richtet. Die Vergangenheit kann, wie der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder in anderem Zusammenhang feststellt, „in Gestalt von rivalisierenden Ansprüchen und Verpflichtungen [...] auf die Gegenwart“ wirken: Dem „abstrakten Begriff 1 Allein im März 1945 starben in Bergen-Belsen rund 18.000 Häftlinge - die meisten von ihnen an einer Typhus-Epidemie, darunter Anne Frank und deren Schwester Margot. Hier von Ermordung zu sprechen ist doppelt gerechtfertigt, insofern dieser Tod erstens die intendierte Folge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik war und zweitens - bezogen auf die konkrete Situation in Belsen - Ergebnis einer systematischen Überbelegung. Vgl. Reilly 1998, 16-18. 2 Zum Begriff „Erinnerungsfigur“ vgl. J. Assmann 2002, 37-42 u. 201-202. Obwohl er die Existenz „viele[r] Kollektivgedächtnisse“ (Assmann 2002, 43) betont, vernachlässigen Assmanns Analysen - er untersucht z.B. den Exodus als Erinnerungsfigur (Assmann 2002, 200-212) - jedoch die mögliche Gleichzeitigkeit konkurrierender Erinnerungsfiguren für ein Ereignis, die meine Analyse von Anne Frank in den Vordergrund rückt. 3 Gerade das Tagebuch von Anne Frank ist immer wieder zur Zielscheibe gezielter Denunziationen aus dem Lager der Holocaust-Leugner geworden. Die Behauptung, dass es sich bei dem Buch um eine Fälschung handle, hält sich hartnäckig seit den fünfziger Jahren. Eine dokumententechnische und graphologische Untersuchung des niederländischen Instituut voor Oorlogsdocumentatie hat 1986 einwandfrei ergeben, dass das Tagebuch aus der Feder von Anne Frank stammt. Zu den Angriffen auf die Echtheit des Tagebuchs vgl. Barnouw 2004; zu den Untersuchungsergebnissen siehe Hardy 2004. 4 Rosenfeld 1995, 5. 5 Vgl. Rosenfeld 1995, 10-12 u. Rosenfeld 1996. 139 der Geschichte stehen viele unterschiedliche Gedächtnisse gegenüber, welche jeweils ihr Recht auf gesellschaftliche Anerkennung einfordern.“ 6 Die folgende Analyse operiert auf zwei Ebenen: Sie verbindet die Frage nach den „unterschiedliche[n] Gedächtnissen“, deren Ansprüche in der Erinnerungsfigur Anne Frank zum Ausdruck kommen, mit der Untersuchung, wie diese Erinnerungsfigur in ihrer jeweiligen Gestaltung autorisiert wird. Dabei zeigt sich, dass die für Anne Frank dominante Art der Autorisierung, als Auferstehung der toten Autorin im Leseakt, die ethische Problematik bestimmter Erinnerungskonstruktionen bekräftigt. Auf der Bühne des Cort Theaters, wo Regisseur Garson Kanin die Broadwayfassung am 5. Oktober 1955 zur Uraufführung bringt, wird die scheinbare Re-Inkarnation der Autorin durch einen Lichtwechsel und den Fall des Vorhangs eingeleitet. Wie Perkins im Film spricht die Schauspielerin Susan Strasberg ihre erste Replik aus dem Off, zunächst gemeinsam mit dem lesenden Vater (jeweils Schildkraut), und dann allein. Wenn sich der Vorhang erneut öffnet, wird die Ankunft der Franks in deren Versteck gezeigt. 7 Bei Stevens wie bei Kanin lässt sich diese Rückblende als Auferstehung im Leseakt begreifen, denn sie folgt einer Logik der Verkörperung, die im Prozess des Lesens ihren Ausgang nimmt. Zu Beginn wird Anne durch ein Buch - ihr Tagebuch - repräsentiert, dem traditionellen Medium der Abwesenheit und der Schein-Präsenz des Autors. 8 Die Worte haben sich von ihr gelöst: (Der gespielte) Otto Frank leiht den Sätzen des Tagebuchs seine Stimme. Es ist diese Abwesenheit der Autorin in Bezug auf ihr Werk, die Stevens’ und Kanins Inszenierungen als erstes zurücknehmen. Sie lassen das Tagebuch von jener Stimme lesen, die - innerhalb des ästhetischen Rahmens - die „wahre Stimme“ der Autorin ist: Joseph Schildkraut wird auf der Tonspur ergänzt und abgelöst durch Susan Strasberg bzw. Millie Perkins. Der deutliche Bezug zum Medium Buch bleibt zunächst erhalten, insofern die Stimme als Voiceover fungiert und einen Tagebucheintrag vorliest. Dann aber wird das Geschehen dialogisch-szenisch aufgelöst und der Körper der jeweiligen Schauspielerin tritt, als Körper Anne Franks, zur Stimme hinzu. Dass es sich hier um keine „einfache“ Rückblende handelt, sondern eine Art Auferstehung inszeniert wird, zeigt sich besonders am Ende von Film und Broadwayfassung. Wieder ist es eine Überblendung bzw. ein Lichtwechsel, der zur Ausgangssituation zurückführt. Otto 6 Kreuder 2002, 9. Kreuder bezieht sich hier auf die Debatten um das Berliner Holocaust-Mahnmal und die Auseinandersetzungen um die sogenannte Entschädigung der KZ-Zwangsarbeiter im Deutschland der 1990er Jahre. 7 Vgl. Goodrich/ Hackett 1964, 3-4 (Akt I, Szene 1). 8 Einen historischen Überblick zur Grenze Autor/ Buch liefert A. Assmann 1993. 140 Frank schließt das Tagebuch und erzählt den Freunden, wie er von Annes Tod erfahren hat: Each time our train would stop […] we’d all get out and go from group to group... […] That’s how I found out about my wife’s death … of Margot, the van Daans … Dussel. But Anne … I still hoped … Yesterday I went to Rotterdam. I’d heard of a woman there … She’d been in Belsen with Anne … I know now. 9 Trotz dieses Tods, der nicht explizit benannt wird (sondern aus dem Wissen und der Trauer des Vaters zu schließen ist), bleibt die Stimme der Zeugin - ihre „wahre Stimme“ im Rahmen von Film und Theaterstück - erhalten. Es ist nicht Schildkraut, sondern Millie Perkins (bei Stevens) bzw. Susan Strasberg (bei Kanin), die das letzte Voiceover des D IARY OF A NNE F RANK spricht - und zwar nachdem die Rückblende vorbei ist, und obwohl (der gespielte) Otto Frank den Tod seiner Tochter betrauert. Noch einmal blättert er durch die Seiten des Tagebuchs, bis sein Blick an einer Stelle hängen bleibt, die nicht er, sondern die tote Tochter (d.h. Perkins bzw. Strasberg) aus dem Off vorliest: „In spite of everything“, sagt sie, „I still believe that people are really good at heart.“ 10 Film- und Broadwayfassung haben diese humanistische Botschaft so bekannt gemacht, dass der O XFORD COMPANION TO A MERICAN T HEA- TER (1992) ebenso wie sein Gegenstück, der C AMBRIDGE G UIDE TO A ME- RICAN T HEATER (1993), behaupten, bei jenem Satz handle es sich um die Schlusszeile des tatsächlichen Tagebuchs. 11 Dem ist nicht so: In der literarischen Vorlage, die 1947 - zwei Jahre nach dem Tod ihrer jugendlichen Autorin - unter dem Titel H ET A CHTERHUIS (Das Hinterhaus) veröffentlicht wurde, nimmt der optimistische Satz eine weit weniger prominente Stellung ein. Erstens beendet er die Aufzeichnungen Anne Franks nicht, und zweitens gehört er, wie in der kritischen Auseinandersetzung mit Film- und Broadwayfassung oft bemerkt wird, 12 einem wenig optimistischen Kontext an. „Heet is een groot wonder“, schreibt Anne am 15. Juli 1944, dat ik niet al mijn verwachtingen heb opgegeven, want ze lijken absurd en onuitvoerbaar. Toch houd ik ze vast, ondank alles, omdat ik nog steeds aan de innerlijke goedheid van den mens geloof. […] Ik zie hoe de wereld langzaam steeds meer in een woestijn herschapen wordt, ik hoor steeds harder de aanrollende donder, die ook ons zal doden, ik voel het leed van millioenen mensen mee en toch, als ik naar de hemel kijk, denk ik, dat alles zich 9 Goodrich/ Hackett 1964, 87 (Akt II, Szene 5). Der Filmdialog folgt der Bühnenfassung. 10 Goodrich/ Hackett 1964, 87 (Akt II, Szene 5). 11 Vgl. Graver 1995, 95. 12 Vgl. z.B. Langer 1996, 161, Ozick 1997, 81 u. Cole 2000, 35. 141 weer ten goede zal wenden, dat ook deze hardheid zal ophouden, dat er weer rust en vrede in de wereldorde zal komen. [Es ist ein großes Wunder, dass ich nicht schon all meine Hoffnungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte sie fest, trotz allem, weil ich noch stets an die innere Güte der Menschen glaube... Ich sehe, wie die Welt langsam mehr und mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre immer stärker den anrollenden Donner, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, dass sich alles zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird, dass einmal wieder Friede und Ruhe in die Weltordnung kommen]. 13 Die optimistische Wendung entwickelt sich im Tagebucheintrag aus einer Vision des bevorstehenden Todes und aus der „absurd“ genannten Hoffnung heraus, dass dennoch alles gut werde. Ohne diesen Kontext unterstützt der Satz eine doppelte Verdrängung des Todes: zum einen, weil der Tod ungenannt bleibt - genauso wie „het leed van millioenen mensen“; zum anderen, weil der Satz nach den Ereignissen gesprochen wird. Was die Autorin Anne Frank vor ihrer Entdeckung, Deportation und Ermordung ins Tagebuch schreibt, wiederholt die Stimme der Filmbzw. Broadway-Anne nachdem der Vater von deren Tod erfahren hat: „I know now.“ Aufgrund dieser Nachträglichkeit wirkt es, als ob der Satz vom Guten im Menschen für die ermordete Anne unverändert Gültigkeit habe. In Kanins Theaterinszenierung wie in Stevens’ Film spricht ihn die gleiche Schauspielerin, die das Holocaust-Opfer auch während des Flashbacks darstellt. So wird ein Rezeptionsmodell inszeniert, bei dem die abwesende Zeugin ihre authentische Stimme zurückerhält. Ein so verstandener Leseakt lässt die Autorin selbst sprechen, und nicht den Leser, der ihren Text als einziger vortragen könnte. Sie spricht - ungeachtet der Tatsache, dass sie in Wirklichkeit „zum Schweigen gebracht wurde“ - und beglaubigt den Satz, den Film- und Broadwayfassung als Credo des Tagebuchs etabliert haben, sozusagen aus dem Jenseits. Paradoxerweise klammert diese „Stimme der Toten“, wie sie bei Kanin und Stevens erklingt, den Tod der Sprecherin aus: Anne Franks Credo, und in gewisser Weise sie selbst, scheinen das Morden im Konzentrationslager überlebt zu haben. Der historische Abstand zwischen Schreib- und Lesesituation, das Wissen um die Shoah, wird von dem hier inszenierten Rezeptionsmodell weitgehend ignoriert. In ihm verzeiht Anne noch ihren Mördern, wenn sie „in spite of everything“ - d.h. trotz allem, was ihr nach Verfassen des Tagebuchs zugestoßen ist - an das Gute im Menschen glaubt. Anne Franks Text endet bevor das 15-jährige Mädchen mit der tödlichen Realität von Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen kon- 13 Frank 2004, 736. Soweit nicht anders vermerkt, zitiere ich nach der posthum veröffentlichten Version des Tagebuchs, der sogenannten c-Fassung. Zu den verschiedenen Varianten von Franks Text siehe unten, S. 178-180. 142 frontiert wird. Er registriert die Shoah nur in Ahnungen (wie die oben zitierte Furcht vor „de aanrollende donder, die ook ons zal doden“) und soweit sie das Leben im Versteck berührt. Dem Wissensstand der Autorin entsprechend, bleiben Anspielungen z.B. auf Konzentrationslager weit hinter unserer Vorstellung von dieser Wirklichkeit zurück. Als die junge Autorin, noch vor ihrem Leben im Versteck, glaubt, der Vater habe einen „Aufruf“ von der SS bekommen, notiert sie im Tagebuch: Ik schrok ontzettend, een oproep, iedereen weet wat dat betekent; concentratiekampen en eenzame cellen zag ik al in mijn geest opdoemen en daarnaartoe zouden wij vader moeten laten vertrekken [Ich erschrak furchtbar, ein Aufruf, jeder weiß, was das bedeutet; schon sah ich Konzentrationslager und einsame Zellen im Geist vor mir auftauchen, und dahin sollten wir Vater ziehen lassen]. 14 Die Vorstellung, die das Broadwaystück vom Konzentrationslager liefert, bleibt noch hinter der Vorstellungskraft des 15-jährigen Mädchens zurück. Goodrich und Hackett lassen Otto Frank vom Glück der Konzentrationslager reden, die in einer Replik gegen Ende des Stücks weniger grausam scheinen als das Leben im Hinterhaus: „It seems strange to say this, that anyone could be happy in a concentration camp“, erklärt Otto Frank seinen Freunden Miep und Kraler, but Anne was happy in the camp in Holland where they first took us. After two years of being shut up in these rooms, she could be out . . . out in the sunshine and the fresh air that she loved. 15 Anfang der 1960er Jahre hat der Psychologe Bruno Bettelheim den weltweiten Erfolg des Tagebuchs (als Film, Theaterstück und literarischen Text) auf die zentrale Rolle zurückgeführt, die es dem Privaten zuweist. In seinem Essay T HE I GNORED L ESSON OF A NNE F RANK schreibt er, dass man die Gaskammern vergessen wolle „[by glorifying] the ability to retreat into an extremely private, gentle, sensitive world.“ 16 Die Otto Frank-Replik aus der Broadwayfassung verlängert die bürgerliche Welt noch ins Konzentrationslager, wenn es heißt, dass Anne dort die Luft und Sonne bekam, die ihr im Hinterhaus gefehlt habe. Aus dieser Warte betrachtet, besteht das Problem von H ET A CHTERHUIS (d.h. von Annes veröffentlichtem Text) nicht darin, dass es mehr um die pubertäre Entwicklung, die erste Liebe und die familiären Probleme eines jungen Mädchens geht als um die Schrecken des Holocaust. Die Möglichkeit der Verdrängung, die Bettelheim beschreibt, entsteht vielmehr aus einer Missachtung der historischen Situation: Interpreten wie Good- 14 Frank 2004, 253 (Eintrag vom 8. Juli 1942). 15 Goodrich/ Hackett 1964, 86-87 (Akt II, Szene 5). In der Filmversion fehlt diese Replik. 16 Bettelheim 1960, 45. 143 rich und Hackett vermischen die Flucht ins Hinterhaus, die durch die Angst vor Verfolgung und Tod motiviert ist, mit dem freiwilligen Rückzug in eine häusliche Idylle. Das Tagebuch, schreibt Bettelheim, werde als Beleg dafür genommen, dass es noch im brutalsten totalitären System „intimate family living“ gebe und „that life could be carried on as usual“. 17 Auch die Schriftstellerin Cynthia Ozick unterstreicht - mehr als dreißig Jahre nach Bettelheim - diese Problematik des Tagebuchs: „A protected domestic space, however threatened and endangered“, schreibt sie in ihrer Kritik an der optimistischen Lesart von H ET A CH- TERHUIS , can, from time to time, mimic ordinary life. The young who are encouraged to embrace the diary cannot always be expected to feel the difference between the mimicry and the threat. 18 Es ist folglich eine Kombination mehrerer Faktoren, aufgrund derer die optimistische Lesart des Tagebuchs - wie sie Broadway- und Hollywood-Fassung verkörpern - zu einer Marginalisierung der Shoah beitragen kann. Diese Gründe möchte ich zusammenfassen, bevor ich jene Lesart in den historischen Kontext der fünfziger Jahre einordne: Erstens lässt sich die Situation Annes (ihre pubertären Probleme, das häusliche Leben) auf ähnliche Erfahrungen im Leben der Rezipienten zurückbeziehen. Die Ähnlichkeit ist jedoch irreführend, wenn sie den geschichtlichen Hintergrund des Tagebuchs verdrängt. Diese Gefahr scheint in der Theaterfassung besonders virulent, insofern Goodrich und Hackett das junge Mädchen des Tagebuchs „amerikanisieren“ und so dem Erfahrungshorizont des Broadway-Publikums näher bringen. Darauf verweist bereits einer der wenigen kritischen Kommentare, den es 1955 zur Uraufführung gab und der von der jüdischen Monatszeitschrift C OMMENTARY veröffentlicht wurde. Die Autorin des Artikels, Algene Ballif, beklagt, dass Anne Frank dem Publikum als „amerikanischer Teenager“ präsentiert werde, einem jener „absurd young animals we know from stage and screen.“ 19 Sie macht Annes Amerikanisierung daran fest, dass sich die Broadwayfassung auf ihre Beziehung zu Peter konzentriere - dem Sohn der van Daans, mit denen Familie Frank das Hinterhaus teilt. Die Darstellung dieser Beziehung sei „the most seriously dishonest section of the play [...] and the one which I think is the 17 Vgl. Bettelheim 1960, 45-46 Paradoxerweise verwechselt der Psychologe selbst die Situation des „freien Menschen“ mit der des im Holocaust Verfolgten, insofern er Otto Frank vorwirft, dass dieser keine Waffen für seine Familie besorgt habe. Nur im Kampf gegen die Unterdrücker könne sich die Menschlichkeit, so Bettelheim, behaupten: „Exercising the last freedom that not even the concentration camp could take away - to decide how one wishes to think and feel about the conditions of one’s life [...]. If we do that, then if we cannot live, at least we die as men“ (Bettelheim 1960, 50). 18 Ozick 1997, 80. 19 Ballif 1955, 467. 144 crux of its failure.“ 20 Zugleich gesteht die Rezensentin jedoch ein, dass das, was sie als Scheitern begreift - die Dramatisierung der Liebesbeziehung -, für den Erfolg beim Publikum sorge: „The audience, I must report, was greatly amused by it.“ 21 Dieses Amüsement lässt sich, so denke ich, als Indikator dafür lesen, dass die (auch aus Film und Fernsehen) vertraute Situation des „amerikanischen Teenagers“ den historischen Hintergrund, der Annes Heranwachsen im Hinterhaus vom Heranwachsen in den USA unterscheidet, zumindest tendenziell ausklammert. Der zweite Grund, aufgrund dessen die optimistische Lesart des Tagebuchs für eine Marginalisierung der Shoah sorgen kann, betrifft das Ende von Annes Text. Obwohl eine Notiz von ihrem Tod berichtet, hört das Tagebuch in medias res auf, d.h. vor der Deportation und Ermordung der Autorin. Das ermöglicht es Goodrich und Hackett - ohne dem gedruckten Text zu widersprechen - jene Replik einzufügen, in der Otto Frank davon berichtet, dass seine Tochter im Konzentrationslager glücklich gewesen sei. So mindern die Theaterautoren (wie viele andere Leser vor und nach ihnen) das Grauen, das die 15-jährige am Ende des Tagebuchs erwartet. „There is little horror in the stage version of The Diary [...]“, kommentiert Lawrence Langer diesen Umstand, there is very little in the original diary itself. Perhaps this is one source of their appeal: they permit the imagination to cope with the idea of the Holocaust without forcing a confrontation with its grim details. 22 Der dritte und vielleicht wichtigste Grund für die Verdrängung des Schreckens ist die humanistische Botschaft, die Film und Theaterstück ins Zentrum des Tagebuchs stellen. „There is good reason“, schreibt Bettelheim, why the enormously successful play ends with Anne stating her belief in the good in all men. What is evaded is the importance of accepting the gas chambers as real so that never again will they be allowed to exist. If all men are basically good […] then indeed we can all go on with life as usual and forget about Auschwitz. 23 Bettelheims Argumentation zufolge steht der Satz vom Guten im Menschen für einen Modus der kulturellen Erinnerung, der die historische Realität verdeckt. 24 Annes Geschichte sei deshalb so erfolgreich, weil sie implizit verleugne, „that Auschwitz ever existed. If all men are good, there never was an Auschwitz.“ 25 Gerade durch den Satz vom 20 Ballif 1955, 465. 21 Ballif 1955, 466. 22 Langer 1996, 158-159. 23 Bettelheim 1960, 46. 24 Vgl. dazu Spargo 2001, 100-101. 25 Bettelheim 1960, 46. 145 Guten im Menschen erlaube das Tagebuch eine Beschäftigung mit der Shoah, die sie zugleich ignoriere. In seinem Artikel von 1960 unterscheidet der Psychologe kaum zwischen der Bühnenfassung und dem gedruckten Tagebuch. Der Umstand, dass die Broadwayaufführung mit dem humanistischen Credo „in spite of everything“ endet, erscheint so als die logische Fortführung einer Verdrängung des Realen, die schon in Annes Text beginnt. Mit anderen Worten gesteht Bettelheim dem Tagebuch keine Lesart außer der optimistischen zu, die Goodrich/ Hackett anstellen. Das heißt, dass es dem Zirkel der Verdrängung - dem impliziten Wunsch der Leser, Auschwitz zu vergessen - niemals entkommt. Knapp zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung seines Artikels sieht der Psychologe diesen Punkt anders. Für die Aufsatzsammlung S URVIVING AND O THER E SSAYS (1979) überarbeitet Bettelheim den 1960 erschienenen Text. Die Änderungen sind zwar gering und unterstützen die ursprüngliche Argumentationslinie; doch um die Problematik des humanistischen Credos stärker hervorzuheben, behauptet der Psychologe nun eine Differenz zwischen dem Satz der Bühnen-Anne und dem Gehalt des Tagebuchs: „This improbable sentiment“, schreibt er über die Botschaft am Ende der Broadwayfassung, is supposedly from a girl who had been starved to death, had watched her sister meet the same fate before she did, knew that her mother had been murdered, and had watched untold thousands of adults and children being killed. This statement is not justified by anything Anne actually told her diary. 26 Die Behauptung, dass der Satz vom Guten im Menschen durch nichts im Tagebuch gerechtfertigt sei, ist eine Übertreibung zugunsten des Arguments, insofern sie suggeriert, dass sich die humanistische Botschaft in Annes Text gar nicht finden ließe. Bettelheim verbindet den pessimistischen Kontext, in den sie dort eingebettet ist (die Vision des aanrollende donder) mit dem, was der Autorin nach Schreiben ihres Tagebuchs angetan wurde. Das unterstützt die berechtigte Kritik an der optimistischen Lesart, die auf einer Verwischung dieser historischen Differenz beruht: In ihr bestätigt die ermordete Anne, dass sie „trotz allem“ (trotz der Konzentrationslager) an das Gute im Menschen glaube. Demgegenüber führt Bettelheim in der Neubearbeitung seines Essays die Möglichkeit einer kritischen Lesart ein, die das Tagebuch der „verdrängenden“ Perspektive entzöge. Er geht dabei den umgekehrten Weg wie Goodrich/ Hackett: Diese projizieren die optimistischen Seiten von H ET A CHTERHUIS auf die Situation im Konzentrationslager. Bettelheim hingegen projiziert die tödliche Realität des Lagers zurück auf das Tagebuch, als ob Anne den Satz vom Guten im Menschen niemals 26 Bettelheim 1979, 250. Meine Hervorhebung. 146 geschrieben habe: „This statement is not justified by anything Anne actually told her diary.“ Auf diese Weise begründet, autorisiert sich die kritische Lesart als „authentische“ Interpretation von H ET A CHTERHUIS . Sie bindet die (bereits 1960 kritisierte) Differenz zwischen optimistischer Lesart und tödlicher Realität an einen Unterschied zwischen der „wahren Zeugin“ des Tagebuchs - this statement is not justified ... - und ihrer „falschen Repräsentation“ in Theater und Film. Damit behauptet der Psychologe, dass seine Kritik auf der objektiven Wahrheit über Anne Frank beruhe, dass seine Figuration der abwesenden Zeugin deren authentische Gestalt sei. „Bettelheim implies“, schreibt der Kulturhistoriker Sander L. Gilman, that he knows that the opposite [das Gegenteil der optimistischen Lesart] must have been true - that Anne Frank must have lost her individuality in the camps, that she, too, must have been dehumanized. Of course this is as much a subjective reading as that of the Hacketts. 27 Indem Gilman von der kritischen wie von der optimistischen Figuration Anne Franks als „subjective reading[s]“ spricht, betont er den Anteil, den der jeweilige Interpret an der (Re-)Konstruktion der abwesenden Zeugin hat. Der subjektive Anteil des Lesers wird jedoch in beiden Fällen - sowohl bei Goodrich/ Hackett als auch bei Bettelheim - durch die Art und Weise verdrängt, in der sie sich autorisieren: Beide suggerieren, dass die tote Autorin in ihrer jeweiligen Lesart selbst zu Wort käme. Bei Bettelheim geschieht diese Wortergreifung als Unterbrechung der seiner Ansicht nach „falschen“ Stimme, die in Film- und Theaterfassung erklingt. Wenn die humanistische Botschaft durch nichts gerechtfertigt ist, das „Anne actually told her diary“, wird die Existenz einer anderen Stimme - der „wahren Stimme“ des Tagebuchs - impliziert. In Algene Ballifs Artikel für C OMMENTARY zeichnet sich dieses Zwei-Stimmen-Modell deutlicher ab: Die Rezensentin der Broadwayinszenierung kritisiert die Schauspielerin Susan Strasberg vor allem für ihre stimmliche Leistung; sie sei „without the nuance, the quick intelligence, even without the volatility by which we would recognize its prototype“, d.h. die Stimme Anne Franks - „it is the voice of a girl who has never really listened to the inner voice of Anne Frank, which is the true voice of the diary“. 28 Bemerkenswert ist, dass Ballif - was die Autorisierung ihrer Kritik betrifft - im Rahmen des Rezeptionsmodells bleibt, das die Theaterfassung (und später die Filmversion) des Tagebuchs vorgeben. Beide inszenieren eine Auferstehung der Autorin im Leseakt, die ihre „wahre Stimme“ im Tagebuch findet. Auf diese Weise behaupten sie eine bruchlose Kontinuität zwischen der abwesenden 27 Gilman 1990, 351. 28 Ballif 1955, 465. 147 Zeugin, dem Geschriebenen und der eigenen - optimistischen - Lesart. Auch Ballif (und implizit Bettelheim) berufen sich für die Autorisierung ihrer abweichenden Interpretationen auf eine solche Kontinuität, wenn sie die „falsche Stimme“ der Schauspielerin gegenüber der „wahren Stimme“ im Tagebuch absetzen. Die Illusion einer bruchlosen Kontinuität zwischen Autor und Schrift, die es ermöglichen würde, das ursprünglich Gemeinte in der Lektüre wiederherzustellen, wurde von der Literatur- und Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts wiederholt angegriffen. 29 Derrida argumentiert in S IGNATURE É VENEMENT C ONTEXTE , dass Schreiben die Produktion einer Spur sei, qui constituera une sorte de machine à son tour productrice, que ma disparition future n’empêchera pas principiellement de fonctionner et de donner, de se donner à lire et à réécrire. 30 Zwischen dem Schreiben und dem Autor, der hinter jenem zu stehen scheint, muss es, damit das Geschriebene lesbar (und damit Geschriebenes) bleibt, 31 einen wesentlichen Bruch geben: Der Text wird in den Worten Derridas zur „Maschine“, die immer neue Lesarten und Fortschreibungen produziert. Diese Produktion hält auch nach dem Verschwinden des Autors an - ein Verschwinden, das sowohl den realen (ma disparition future) als auch den strukturellen Tod des Autors meint, der von der Möglichkeit eines endlosen Funktionierens der „Text-Maschine“ bedingt wird. In seinem berühmten Aufsatz über L A M ORT DE L’A UTEUR (1968) hat Barthes diesen strukturellen „Tod“ als Verlust der Stimme, als „destruction de toute voix“ beschrieben: L’écriture, c’est ce neutre, ce composite, cet oblique où fuit notre sujet, le noir-et-blanc où vient se perdre toute identité, à commencer par celle-là même du corps qui écrit. 32 Für die Rezeption von Anne Franks Tagebuch gilt dieser Stimmverlust doppelt, da sich die (metaphorisch gemeinte) mort de l’auteur mit dem realen Tod der Autorin verbindet. Wie sie den Satz vom Guten im Menschen gemeint hat, und ob sie ihm auch nach den Konzentrationslagern Gültigkeit zugesprochen hätte, ist nicht nur aufgrund der strukturell bedingten Abwesenheit ihres „vouloir-dire“ und ihrer „intention- 29 Am bekanntesten sind vielleicht Foucaults Untersuchungen zum Autor als diskursive Praxis zur Einschränkung von Bedeutung (Foucault 1971) und historisch entstandener „Funktion“ (Foucault 1994b) sowie Barthes’ Aufsatz über den „Tod des Autors“ (Barthes 2002b). 30 Derrida 1972, 376. 31 Vgl. Derrida 1972, 375: „Une écriture qui ne serait pas structurellement lisible - itérable - par-delà la mort [des Empfängers wie des Produzenten] […] ne serait pas une écriture.“ 32 Barthes 2002b, 40. 148 de-signification“ 33 unmöglich zu entscheiden. Diese Unmöglichkeit stammt auch daher, dass die kritische wie die optimistische Lesart von H ET A CHTERHUIS beide auf die Situation im Konzentrationslager ausgerichtet sind. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Annes Satz und der Meinung, die sie dazu in Bergen-Belsen hatte, muss aber Spekulation bleiben, da sie sich - als wahre Zeugin im Moment des Untergangs - nicht mehr selbst bezeugen konnte. Weil niemand den singulären Platz des (anderen) Zeugen einnehmen kann, sind noch die Berichte, die wir über Annes Tod im Lager besitzen, von der subjektiven Wahrheit der abwesenden Zeugin getrennt. Auch in ihnen - teilweise geprägt von der nachträglichen Lektüre des Tagebuchs - zeigt sich die Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Lesarten. So berichtet eine Frau, die mit Anne in Bergen-Belsen war, diese sei „ruhig [gestorben] und in dem Gefühl, dass ihr nichts Böses geschehe“. 34 Die Frau stellt Annes Ende im Sinne eines „schönen Todes“ dar, über dessen Unmöglichkeit in Bezug auf die Shoah sowohl Adorno als auch Lyotard sprechen. Gegen den Satz, dass „der Tod [...] immer dasselbe“ sei, heißt es in Adornos N EGATIVER D IALEKTIK : „Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres zu fürchten als den Tod.“ 35 Davon ausgehend hat Lyotard Auschwitz als „l’interdit de la belle mort“ beschrieben. 36 Der Darstellung von Annes Untergang als „schönen Tod“ stehen Aussagen wie die folgende (von Rachel van Amerongen-Frankfoorder) gegenüber: Die Mädchen Frank waren schon stark abgemagert und sahen schrecklich aus. Sie zankten sich oft wegen ihrer Krankheit, denn daß sie Typhus hatten, war deutlich […] Sie bekamen diese ausgehöhlten Gesichter, Haut über den Knochen. Sie froren schrecklich, weil sie die ungünstigsten Plätze in der Baracke hatten, unten an der Tür, die ständig auf und zu ging. Man hörte sie dauernd schreien: ‚Tür zu, Tür zu’, und diese Rufe wurden jeden Tag etwas schwächer. Man sah sie wirklich sterben, beide, zusammen mit den anderen. 37 Für eine Historisierung der unterschiedlichen Lesarten und Figurationen Anne Franks, wie ich sie im Folgenden - am Beispiel ihrer „Theatergeschichte“ - vornehme, ist bedeutsam, dass auch diese Zeugenaussagen an einen zeitgeschichtlichen Hintergrund gebunden sind. Das betrifft vor allem die Frage, welche dieser Aussagen wo und wann verbreitet werden, und ob wir als Leser geneigt sind, ihnen Glauben zu 33 Vgl. zu diesen Begriffen Derrida 1972, 376. 34 Der Bericht von „Frau B.“ findet sich in Schnabel 2005, 152. 35 Adorno 2003c, 364. 36 Lyotard 1983, 149. 37 Lindwer 2004, 134. 149 schenken. So stammt die erste Beschreibung aus einem in den fünfziger Jahren populären Buch des deutschen Schriftstellers Ernst Schnabel (A NNE F RANK : S PUR EINES K INDES [1958]). Diese Beschreibung erinnert an andere Versionen, die zu jener Zeit über Annes Ende verbreitet wurden. Die Autorin Storm Jameson zum Beispiel schreibt 1952, im Vorwort der britischen Tagebuch-Ausgabe, dass Anne mit einem „profound smile [...] of happiness and faith“ in den Tod gegangen sei. 38 Der andere Bericht hingegen, der das grausame Sterben der Frank-Schwestern an Typhus schildert, stammt aus einem Dokumentarfilm von 1988 (Willy Lindwers D E L AATSTE ZEVEN MAANDEN VAN A NNE F RANK [Die letzten sieben Monate von Anne Frank]). 39 Der Film und dessen Begleitbuch werden in vielen wissenschaftlichen Arbeiten seit den neunziger Jahren zustimmend zitiert, so etwa von Lawrence Langer: „Thanks to the research of Willy Lindwer, the culture of disregard prompting [these] mirages [über den schönen Tod Anne Franks] [...] can be discredited.“ 40 An die Historisierung der Lesarten anschließend werde ich in einem zweiten Schritt Philip Roths Roman T HE G HOST W RITER (1979) als Gegenmodell zu den dominanten Figurationen der abwesenden Zeugin untersuchen, insofern er eine Anne Frank-Vision entwirft, die bewusst „geisterhaft“ bleibt: Die narrative Konstruktion des Romans erlaubt es nicht, ihr eine stabile - autorisierte - Position als „reine Fiktion“ oder gar als „Wahrheit“ über die Geschichte des Mädchens zuzuweisen. Im Gegensatz dazu beglaubigen sich die dominanten Figurationen Anne Franks - seien sie kritisch oder optimistisch - als je singuläre Wahrheit. Sie inszenieren die Rücknahme jenes „Stimmverlusts“, der sich im realen Tod der Zeugin wie in den Übergängen vom Autor zum Text und vom Text zum Leser ereignet. Vor allem das Rezeptionsmodell, das die Film- und Theaterfassung von H ET A CHTERHUIS vorstellen, ist darin deutlich: Es lässt die Anne Frank-Darstellerinnen den Satz vom Guten im Menschen sprechen und behauptet so, dass im Leseakt die „wahre Stimme“ der Autorin erklinge. Mit seiner Verdrängung des Schriftlichen zugunsten eines „lebendigen Worts“ schreibt sich dieses Rezeptionsmodell in die dominante westliche Denktradition ein, die Derrida als Logobzw. Phonozentrismus kritisiert. Spätestens seit Platon habe sie den Ursprung der Wahrheit im Logos gesehen - im gesprochenen, sinnerfüllten Wort, von dem die Schrift als artifizielles Hilfsmittel abgesetzt werde. 41 Wenn Platon das Geschriebene als Medium der Lüge verurteilt, tut er dies, weil das 38 Zit. nach Rosenfeld 1996, 277. 39 Die Interviews aus dem Film sind abgedruckt in Lindwer 2004. 40 Langer 2006, 25. 41 Derrida 1974, 11-12 u. 30. 150 Geschriebene nur eine Schein-Präsenz des Autors konstituiere, die von dessen „lebendigem und beseeltem“ Wort auf immer getrennt bleibe: Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen [...] und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn sie selbst ist weder sich zu schützen noch zu helfen imstande. 42 Gegenüber der wehrlosen Schrift behauptet die phonozentrische Tradition, wie sie bei Derrida dargestellt wird, eine absolute Nähe zwischen der Stimme, dem Sinn und dem Sein: „[une] proximité absolue de la voix et de l’être, de la voix et de l’idéalité du sens.“ 43 Mit seinem Begehren nach Anne Franks lebendigem Wort folgt das für Film- und Theaterfassung skizzierte Rezeptionsmodell dieser Denktradition. Es folgt ihr, insofern es die (für Platon verlorene) Wahrheitsbeziehung zwischen Autor und Text über die inszenierte Verdrängung der Schrift wiederherstellt. Aus der Lektüre entsteht eine Autorfigur (im doppelten Sinn als Urheber des Textes und autorisierende Instanz), die als authentische Reinkarnation der abwesenden Zeugin begriffen wird. Die illusorische Selbstpräsenz des gesprochenen Wortes verengt das Spiel der Signifikanten, das „Schweifen“ der Rede, auf einen singulären Sinn, für den Anne Frank als „Vater“ des Textes bürgt. Der Anteil des anderen Vaters an jener „Wiedererweckung“ des Sinns - der Anteil des Lesers Otto Frank - wird dabei verringert. In Stevens’ Film und in Kanins Theaterinszenierung spielt er lediglich eine unterstützende Rolle für die Autorisierung des Tagebuchs: als Annes leiblicher Vater und einzig überlebendes Opfer, das die beschriebenen Ereignisse bezeugen kann. Dass er - wie jeder Leser - die eigene Vorstellungskraft und „Stimme“ in die Lektüre einfließen lässt, wird zugunsten einer autorenseitigen Absicherung durch das „lebendige Wort“ Annes unterdrückt. Für die Rezeptionsgeschichte von H ET A CHTERHUIS ist es äußerst bedeutsam, dass Film- und Theaterfassung die Unterdrückung der Leserrolle am (privilegierten) Beispiel Otto Franks vollziehen. Inszeniert wird er als Idealbild eines Rezipienten, der die eigene Stimme zugunsten der Autorenstimme verliert. Doch auf diese Weise wird verschleiert, dass der reale Otto Frank - jenseits von Film- und Theaterfassung - einer der Väter jener optimistischen Lesart ist, die Goodrich/ Hackett als wahre Figuration der abwesenden Zeugin vorstellen. Denn Otto Frank gibt ihre Bearbeitung zur Aufführung frei, während er eine andere Dramatisierung - Meyer Levins T HE D IARY OF A NNE F RANK (entstanden seit 1952) - verbieten lässt. Die Rezeptionsgeschichte des Ta- 42 Platon 2001, 275d-e (Übersetzung: Friedrich Schleiermacher, 1826). Vgl. Derrida 1974, 58-59. 43 Derrida 1974, 23. 151 gebuchs sei untrennbar mit der Geschichte der Bühnenfassung verbunden, schreibt Gilman. 44 Vielleicht sähe diese Rezeptionsgeschichte anders aus, wenn Levins Entwurf 1955 aufgeführt worden wäre. Dreimal Anne: Das „Tagebuch“ am Broadway, 1955-1997 Levins Ehefrau, die französische Schriftstellerin Tereska Torrès, beginnt ihre Erinnerungen an den Autor - L ES M AISONS H ANTÉES DE M EYER L EVIN (1991) - mit der Beschreibung eines Alptraums. „Je rêve d’elle souvent“, heißt es über eine zunächst ungenannte Person: „La nuit dernière, elle était une grosse et laide fille nue couchée entre Meyer et moi. C’était Meyer qui l’avait introduite dans notre lit. Elle me faisait horreur.“ 45 Diese Schreckfigur, so wird bald klar, ist ein Zerrbild von Anne Frank, das nicht vergehen will. Zwar löst es sich an dieser Stelle - zu Beginn des Texts - in „einfache Verzweiflung“ auf („Elle fut remplacée par un simple désespoir“ 46 ), doch kehrt der Geist des toten Mädchens in Torrès’ Erinnerungen immer wieder zurück. 47 Schuld daran ist die „obsession de Meyer“, der zunächst in Absprache mit Otto Frank eine Theaterfassung des Tagebuchs erstellt hat, aber nicht aufführen darf. Ist seine Obsession eine „[folie] à deux“, fragt sich Torrès: „Finirai-je comme lui: parler sans cesse d’Anne Frank? “ 48 Fast 30 Jahre lang kämpft der Schriftsteller für seine, wie er meint, „wahre Bearbeitung“ des Tagebuchs. So behauptet er 1954, in einem offenen Brief an den Broadway-Produzenten Kermit Bloomgarden: „I tried to dramatize the Diary as Anne would have, in her own words.“ 49 Demnach beginnt auch Levins Heimsuchung mit der Stimme der abwesenden Zeugin, die er in H ET A CHTERHUIS zu vernehmen glaubt. Am 15. Juni 1952, einen Tag vor der amerikanischen Erstveröffentlichung des D IARY , schreibt er über jene Stimme in einer Rezension, welche die einflussreiche New York Times Book Review auf der ersten Seite druckt: Because the diary was not written in retrospect, it contains the trembling life of every moment - Anne Frank’s voice becomes the voice of six million vanished Jewish souls. 50 Schon am Nachmittag des nächsten Tages, am Tag seines Erscheinens, ist das D IARY komplett ausverkauft. Der Verlag (Doubleday) führt die- 44 Gilman 1990, 345. 45 Torrès 2005, 21. 46 Torrès 2005, 21. 47 Vgl. z.B. Torrès 2005, 30, 39, 50 u. 154. 48 Torrès 2005, 21. 49 Zit. nach Graver 1995, 81. Meine Hervorhebung. 50 Levin 1952, 1. 152 sen Erfolg unmittelbar auf die Rezension Levins zurück, berichtet der Literaturwissenschaftler Lawrence Graver. „If there were a prize for the best review of the year“, zitiert er aus einem internen Memo vom 17. Juni 1952, „[Meyer Levin] would almost certainly win it.“ 51 Levins Lob, mit dem nicht nur die amerikanische Erfolgsgeschichte von Anne Frank beginnt, 52 erklärt die vermeintliche Existenz ihrer Stimme im Tagebuch aus der Textgattung: Die scheinbare Gleichzeitigkeit von Ereignis und Niederschrift sorge für das zitternde Leben des Textes, aus dem sich - wie der Übergang von „trembling life“ zu „voice“ suggeriert - schließlich die Stimme der Zeugin herausschält. In einem zweiten Schritt macht Levin diese Stimme zur paradigmatischen Stimme aller jüdischen Opfer: „the voice of six million vanished Jewish souls.“ Dass er die Stimme Anne Franks in dieser Weise auflädt, macht bereits deutlich, was in Levins Streit um die „wahre“ Auslegung des Tagebuchs auf dem Spiel stehen wird. H ET A CHTERHUIS ist nicht irgendein Text, der als Zeugnis der Shoah gelesen wird. Er ist, nach den Verkaufszahlen und seiner Stellung in der populären Kultur zu urteilen, der Holocausttext schlechthin, obwohl oder gerade weil der Holocaust in ihm kaum vorkommt. Das Tagebuch wurde in rund sechzig Sprachen übersetzt und ist mehr als 25 Millionen Mal verkauft worden. Jährlich besucht rund eine Million Menschen das Haus an der Prinsengracht und zwängt sich durch die engen Räume, in denen Familie Frank versteckt war. 53 Viele Theaterstücke und Romane - z.B. Roths T HE G HOST W RITER oder A NNE F RANK A ND M E (1995) von Cherie Bennett und Jeff Gottesfeld - beschreiben imaginäre Begegnungen mit dem berühmten Holocaust-Opfer. In dem Theaterstück A NNE F RANK AND M E , das von seinen Autoren auch als Jugendbuch bearbeitet wurde (2001), glaubt die amerikanische Teenagerin Nicole Burns, dass Anne Franks Tagebuch eine Fälschung sei. Während des Besuchs einer Holocaust-Ausstellung (mit ihrer Schulklasse) wird sie aus den Neunzigern ins Paris der vierziger Jahre katapultiert, wo sie als Jüdin im Versteck leben muss. Später wird sie deportiert und trifft eine optimistische Anne Frank im Zug nach Auschwitz. 54 Neben der Stevens-Verfilmung 51 Graver 1995, 26-27. 52 Am Beispiel der Niederlande zeigt Cole (2000, 25-26), dass das Tagebuch in Europa zwar erfolgreich war (in den Niederlanden gab es neun Auflagen zwischen 1947 und 1955); seine Popularität aber mit den europäischen Premieren des Broadwaystücks sprunghaft anstieg: Zwischen der niederländischen Erstaufführung am 27. November 1956 und 1958 folgten 17 Neuauflagen: „For Anne Frank to become famous in the Netherlands, she had to be taken to America in 1952, and then taken back to the Netherlands in 1956.“ 53 Zu diesen Zahlen vgl. Hamilos 2008. 54 Vgl. Bernstein 2003, 150-155 für eine Kritik dieser und anderer „fictions of identification“. 153 existieren - von Dokumentationen ganz abgesehen - rund ein Dutzend Film- und Fernsehbearbeitungen des Tagebuchs. Zu den skurrilen Auswüchsen dieser Erinnerungskultur gehört, dass es auch einen Asteroiden gibt, der in Gedenken an das tote Mädchen 5535 Annefrank heißt. 55 „Anne Frank was to return from her place among the anonymous dead at Bergen-Belsen and assume a posthumous existence within popular culture“, schreibt Rosenfeld in Hinblick auf dieses „zweite Leben“ der Toten. 56 Aus der Vielzahl unterschiedlicher Figurationen, in denen Anne Frank die Populärkultur „nach Auschwitz“ bevölkert, möchte ich drei herausgreifen. Obwohl sie aus der „Bühnengeschichte“ des Tagebuchs stammen, bleiben sie nicht auf diese beschränkt. Sie verbinden sich mit den verschiedenen Einschätzungen und Lesarten, die Anne Franks Text, seine Stellung zum Holocaust und der Holocaust selbst seit den fünfziger Jahren erfahren haben. Die erste Anne ist das Modell von Goodrich/ Hackett, das Kanins Broadwayinszenierung und Stevens Film zur Anschauung bringen. Die zweite Anne ist Levins Variante, für deren Aufführung er Zeit seines Lebens - mit nur geringen Erfolgen (eine Inszenierung in Israel, 1966) - kämpft. Die dritte Anne, auf die ich nur einen kurzen Ausblick gebe, wird 1997 von der Schauspielerin Natalie Portman dargestellt, in einer Neubearbeitung der Bühnenfassung durch die Dramatikerin Wendy Kesselman. Um diese drei Annes soll es im Folgenden gehen, beginnend mit der ersten Broadwayaufführung. In einem Rückblick auf seine Inszenierung schreibt Kanin 1979, dass uns Anne Frank daran erinnern würde that the length of a life does not necessarily reflect its quality [...] Anne lives on. She remains for us ever a shining star, a radiant presence who, during her time of terror and humiliation and imprisonment, was able to find it within herself to write in her immortal diary, ‘in spite of everything I still believe that people are good at heart.’ 57 Dieses Zitat verdeutlicht noch einmal die Problematik einer optimistischen Lesart, die den Satz vom Guten im Menschen als Botschaft begreift, die nicht nur jeden Schrecken, sondern auch die eigene Ermordung überdauert. Eine solche Lesart lässt das tote Mädchen, zumindest auf der metaphorischen Ebene, überleben: „Anne lives on“, heißt es bei Kanin. Dass dieses Weiterleben nicht wörtlich zu verstehen ist, wird in Kanins Text daran deutlich, dass in allernächster Nähe die Metapher vom „unsterblichen Tagebuch“ (immortal diary) steht. Bettelheims Kritik an der optimistischen Lesart zeigt jedoch, dass diese dazu neigt, das 55 Der Asteroid wurde 1942 von dem deutschen Astronomen Karl W. Reinmuth (1892-1979) entdeckt, aber erst 1995 benannt. 56 Rosenfeld 1996, 246. 57 Zit. nach Rosenfeld 1996, 253 154 Überleben Annes aus seinem metaphorischen Sinnzusammenhang zu lösen. Zusammengefasst lautet das Argument des Psychologen: Wenn die Güte des Menschen - verkörpert durch Anne und ihre humanistische Botschaft - über den Tod im Lager triumphiert, d.h. „metaphorisch“ überlebt, wird impliziert, dass es den Holocaust (und Annes Tod) auch „in Wirklichkeit“ nie gegeben habe: „There never really was an Auschwitz“. 58 Der Wandel von einem metaphorischen Triumph über den Tod hin zur Illusion des tatsächlichen Weiterlebens manifestiert sich in Kanins Inszenierung des Broadwaystücks bzw. in den Rezensionen zur Aufführung. „Anne is not going to her death; she is going to leave a dent on life, and let death take what’s left“, schreibt zum Beispiel der Theaterkritiker Walter Kerr in seiner Besprechung für die New York Herald Tribune (23. Oktober 1955). 59 In einer Rezension vom 8. Oktober hatte sein Kollege bei der New York Post die Inszenierung bereits als Auferstehung der Toten gefeiert: „[The play] brought about the reincarnation of Anne Frank - as though she’d never been dead.“ 60 Die Rede vom Überleben ist auch in diesen Kritiken metaphorisch, doch sie behaupten das Theater als einen Bereich, der die Metapher in „Wirklichkeit“ überführt. A BB . 4: Boris Aronsons Bühnenbild für Kanins Inszenierung 58 Bettelheim 1979, 251. Meine Hervorhebung. 59 Zit. nach Rosenfeld 1996, 252. 60 Zit. nach Rosenfeld 1996, 252. Die Rezension stammt von Richard Watts, dem langjährigen Theaterkritiker der Post. 155 Kanin inszeniert das Tagebuch in einem realistischen, detailreich gearbeiteten Bühnenbild (Abb. 4), dessen perspektivische Verzerrung - ein Weitwinkeleffekt - dem angestrebten Realitätseffekt noch zuträglich ist: Die Verzerrung betont die Enge des Verstecks und garantiert den Zuschauern optimale Sichtbarkeit, als ob sie direkt ins Leben der Franks blicken würden. In diesem realistischen Rahmen wird das bereits skizzierte Rezeptionsmodell inszeniert. Der zeitliche Unterschied zwischen Lesesituation und Handlung drückt sich - was das Bühnenbild betrifft - lediglich in umgeworfenen Stühlen und zerrissenen Vorhängen aus. 61 Schildkraut spielt, dass er Otto Frank sei, der 1945 das Tagebuch liest. Motiviert durch diesen Leseakt tritt Strasberg, als ob sie Anne Frank sei, zuerst stimmlich und dann körperlich in Erscheinung - und damit zurück ins (gespielte) Leben. Die zitierten Rezensionen klammern das „als ob“, das diesem Realitätseffekt zugrunde liegt, aus, wenn sie das Überleben bzw. die Auferstehung Annes behaupten. Im Gebrauch dieser Metapher unterdrücken diese Beschreibungen den Unterschied, der zwischen der Schauspielerin und dem Opfer, zwischen deren Stimme und der Stimme Anne Franks herrscht. Gerade der New York Post-Artikel scheint Bettelheims Skepsis gegenüber der optimistischen Lesart zu bestätigen: Von der Inszenierung wird das „als ob“ auf den realen Tod des Mädchens verschoben. In der Beschreibung wirkt nicht das Schauspiel, „als ob“ Anne zum Leben erweckt würde - das Schauspiel bringt die Auferstehung des Mädchens mit sich, aufgrund derer dessen Tod so wirkt, „als ob“ (as though) er nie eingetreten sei. Eine solche Beschreibung unterdrückt die historische Wirklichkeit zugunsten der szenischen Realität. Der ästhetische Rahmen, der die beiden voneinander trennt, droht zu verschwinden. Ich werde später zeigen, dass ein solcher Grenzverlust bereits im literarischen Text H ET A CHTERHUIS angelegt ist. Wenn die erbauliche Figuration von Anne Frank, wie Bettelheim argumentiert, einem Wunsch nach Verdrängung entgegenkommt, wird dieser nicht nur durch den Inhalt des Tagebuchs unterstützt. Es ist die Art der Autorisierung selbst, die ein solches Vergessen bekräftigt: dass die Anwesenheit eines imaginären Zeugen die Abwesenheit der „wahren Zeugen“ verdrängt. Auch wenn der Grenzverlust zwischen abwesender Wirklichkeit und anwesender Darstellung schon in den Autorisierungsstrategien des Tagebuchs angelegt ist, gibt ihm der Wechsel auf die Bühne eine neue Qualität. Dieser Unterschied lässt sich an dem Rezeptionsmodell verdeutlichen, das die Stimme des Lesers mit der Stimme der Autorin ersetzt. Im Tagebuch schreibt Anne, dass sie durch ihre Schriften noch nach dem Tod weiterleben wolle: „Ik wil nog voortleven ook na mijn 61 Vgl. Goodrich/ Hackett 1964, 1-2 (Akt I, Szene 1) u. 86 (Akt II, Szene 5). 156 dood.“ 62 Eine a-historische Lesart dieses Satzes, die darüber hinweggeht, dass der hier gemeinte Tod nicht der Tod ist, den die Autorin in Bergen-Belsen erleidet und dass sie noch andere Bücher schreiben wollte, mag in Annes Satz eine Begründung für die Metapher finden, gemäß der sie, bzw. ihre Stimme, im Tagebuch überlebt. Für Levin bewahrt H ET A CHTERHUIS - wie bereits zitiert - „the trembling life of every moment“ 63 und Schnabel behauptet am Ende von S PUR EINES K INDES , dass die Stimme der Toten in deren Text erhalten bleibe, eine von Millionen, die verstummt sind, vielleicht die schwächste von allen. Sie sagt, wie diese Millionen gelebt, gesprochen, gegessen haben, und sie überdauerte das Geschrei der Mörder und überflügelte die Stimmen der Zeit. 64 Levin und Schnabel formulieren ihre Aussagen beide im Rahmen des Rezeptionsmodells, das auch Kanin auf der Bühne des Cort Theater inszeniert. Der qualitative Unterschied liegt - wie angedeutet - darin begründet, dass die Stimme der Zeugin bei jenen metaphorisch, d.h. „stumm“ bleibt, während sie in der Theateraufführung echte Lautlichkeit erhält. Der Wechsel vom gedruckten Text in eine theatrale Form, die auf die Illusion von Realität hinarbeitet, habe dem Publikum ein „lebendiges Opfer“ (living victim) gegeben, so Gilman: „It provided the resurrection of one of the dead witnesses of the Holocaust, one who spoke and thus broke the silence attributed to the victim.“ 65 Konsequenterweise versieht er seinen Text über die Rezeption des Tagebuchs mit dem Titel The Dead Child Speaks. 66 Die Stimme ist ein Phänomen, das immer auch in der Zeit existiert: Einen „angehaltenen“ oder „pausierten“ Klang kann es nicht geben, weil er nur im Moment des Erklingens wahrnehmbar ist. In vielen Theorien werden Stimme und Klang deshalb als Paradigmen des Ephemeren, Ereignishaften und Performativen betrachtet. So fragt Erika-Fischer Lichte, was flüchtiger sein [könnte] als ein (v)erklingender Laut? Aus der Stille des Raumes auftauchend, breitet er sich in ihm aus, füllt ihn, um im nächsten Augenblick zu verhallen, zu verwehen, zu verschwinden. 67 62 Frank 2004, 631. Die Notiz stammt vom 25. März 1944, ist im publizierten Tagebuch aber dem Eintrag vom 4. April 1944 beigefügt. Siehe unten, S. 182-183. 63 Levin 1952, 1. 64 Schnabel 2005, 158. Für das - im Original kursiv gesetzte - Zitat im Zitat vgl. Frank 2004, 622 (Eintrag vom 29. März 1944). 65 Gilman 1990, 346. 66 Vgl. Gilman 1990, 345-360. 67 Fischer-Lichte 2004, 209. Vgl. auch Doris Kolesch und Sybille Krämer (2006), die die Stimme als „performatives Phänomen par excellence“ begreifen. Als Gründe dafür nennen sie die Ereignishaftigkeit, den Aufführungscharakter (dass eine Stimme immer für andere erklinge), den Verkörperungscharakter (die Stimme als Spur des Körpers), das Subversions- und Transgressionspotenzial (die Stimme als Schwellenphänomen zwischen Sinn und Sinnlichkeit) sowie die Intersub- 157 Gerade in ihrer Vergänglichkeit kann die real erklingende Stimme der Schauspielerin die „metaphorische“ Stimme der abwesenden Zeugin mit neuem Leben erfüllen - falls sich die Zuschauer, wie vielleicht die Rezensenten der Post und der New York Herald Tribune, auf die Illusion einlassen, dass die Schauspielerin zur Zeugin wird. In seiner Studie P ERFORMING H ISTORY (1998) weist der Theaterwissenschaftler Freddie Rokem auf das Paradox hin, dass sich Geschichte nur in ihrer Darstellung, d.h. getrennt vom historischen Ereignis, als „Geschichte“ wahrnehmen lässt, „when we create some form of discourse [...] on the basis of which an organized repetition of the past is constructed“. 68 Aufgrund seiner performativen Dimension eigne dem Theater die Fähigkeit, die Zuschauer - trotz ihres Wissens um den Abstand zur dargestellten Wirklichkeit - daran glauben zu lassen, „that something from the ‘real’ historical past has been presented on the stage.“ 69 Als Bindeglied zwischen dem Hier und Jetzt der theatralen Performance auf der einen Seite und dem historischen Ereignis auf der anderen, fungiert der Schauspieler: „The actor serves as a connecting link between them“, schreibt Rokem an anderer Stelle, „bringing the actions and events of history to the spectator through the performance (in the double sense) because the actor at the same time ‘acts’ and ‘re-enacts.’“ 70 In Bezug auf Darstellungen der Shoah bedeute dies, dass das Theater die Zuschauer davon überzeugen könne, „to believe that it is possible for the actor to become a witness for the now dead witnesses.“ 71 Rokem macht unmissverständlich klar, dass der „actor-witness“ keinen Bezug zur Vergangenheit herstelle, der formulieren würde, „wie es eigentlich gewesen“ sei. 72 Performances von Geschichte - und also die Zeugenschaft der Schauspieler - bleiben in ihrem Vergangenheitsbezug an die Interessen der Gegenwart gebunden: Performances about historical events very directly reveal their ideological preferences and position within the specific social and the cultural context in which they have been created and performed. 73 jektvität der Stimme: Als „Appell an den Anderen“ könne sie „vergemeinschaften oder entzweien“ (Kolesch/ Krämer 2006, 11). 68 Rokem 2000, xi. 69 Rokem 2000, 24. Vgl. dazu auch die Feststellung Michael Quinns, dass sich das „referentielle Dilemma“ - die Trennung von Darstellung und Dargestelltem - je nach der Materialität der verwendeten „Zeichen“ unterscheide: „In acting [...], the material quality of its means creates a continuous paradox in which things in themselves (especially actors) are confused with the ‘real’ things and events they represent“ (Quinn 1991, 72). 70 Rokem 1998, 319. 71 Rokem 2000, xii. 72 Vgl. Rokem 2000, 24-25 u. 209-215. 73 Rokem 2000, 24. 158 Im letzten Kapitel habe ich für die USA, Israel und Westdeutschland dargestellt, dass diese Länder in den fünfziger Jahren - aus unterschiedlichen Gründen - eine Verdrängung der Shoah aus dem öffentlichen Diskurs praktizieren bzw. ihr eine feste Rolle zuweisen, welche jene zugleich marginalisiert. Der Umstand, dass die Popularität von Anne Franks Tagebuch in jenem Jahrzehnt einsetzt, schafft es bisweilen, diese Verdrängung zu verschleiern. Die Literaturwissenschaftlerin Hilene Flanzbaum berichtet von der Empörung, mit der sie häufig konfrontiert werde, wenn sie das anfängliche Schweigen über den Holocaust beschreibt: „How can you say no one talked about the Holocaust in the 1950s? [...] We all saw Anne Frank. What about Anne Frank? “ 74 Trifft Bettelheims Kritik an der optimistischen Lesart zu, lässt sich diese Frage leicht beantworten. Das von Kanin inszenierte D IARY präsentiert dann einen Fall, in dem die Schauspielerin, wenn sie (nach Rokem) zur Zeugin für die tote Zeugin wird, eine Art Anti-Zeugnis ablegt. Denn das, was sie mit ihrer lebendigen Stimme bezeugt, wäre die anhaltende Gültigkeit jenes Satzes vom Guten im Menschen und damit eines Blicks auf den Holocaust, der die Realität der Vernichtung ausklammert. Diese „verdrängende“ Zeugenschaft steht für die Marginalisierung der Shoah in den Fünfzigern, insofern sie ein Rezeptionsmodell für die optimistische Lesart des Tagebuchs bietet und - aufgrund ihrer Verbreitung als erfolgreiches Broadwaystück 75 bzw. als Film - den soziokulturellen Kontext sowie die dominante Ideologie offenbart, innerhalb derer sie sich ereignet. Der Autor Meyer Levin verfolgt, ebenfalls seit den fünfziger Jahren, eine andere Ideologie. Gilmans Untersuchung zur Rezeptionsgeschichte von Anne Frank (The Dead Child Speaks) dreht sich primär um den „Kampf“, den der Schriftsteller gegen die Goodrich/ Hackett-Bearbeitung des Tagebuchs führt. Der Kulturwissenschaftler, der die „sprechende Anne“ im Rahmen seiner Studie über J EWISH S ELF -H ATRED (1986) behandelt, findet in Levins Streit um die „wahre“ Geschichte des Mädchens „one of the most striking images of the ‘self-hating’ Jew to be found in post-Holocaust writing.“ 76 Es ist schwer möglich, Levins Rolle für die (amerikanische) Geschichte des Tagebuchs zu überschätzen. Nicht nur scheint seine Rezension für die New York Times Book Review den kommerziellen Erfolg des D IARY mit angestoßen zu haben. Levin ist es auch, von dem die Idee zu einer Theaterfassung des Textes stammt. Nachdem er im Sommer 1950 die französische Ausgabe von H ET A CHTERHUIS gelesen 74 Flanzbaum 1999, 1. 75 In der Theatersaison 1955/ 56 gewann T HE D IARY OF A NNE F RANK den Tony Award, den Critics’ Circle Award und den Pulitzer-Preis. Kanins Inszenierung des Goodrich/ Hackett-Stücks wurde von Oktober 1955 bis Juni 1957 über 700 Mal am Broadway gespielt. Vgl. Atkinson 1964, v. 76 Gilman 1990, 346. 159 hat, kontaktiert der Schriftsteller Otto Frank mit dem Vorschlag, eine Bühnen- oder Filmbearbeitung des Tagebuchs zu erstellen. Der Vater von Anne soll erstaunt auf dieses Angebot reagiert haben: „Frank confessed that he did not perceive any theatrical or cinematic possibilities in his daughter’s diary“, schreibt Graver auf Grundlage des Briefwechsels zwischen Frank und Levin: For him [Otto Frank], the appeal of the book lay in the uncommonly intimate, honest manner in which the young girl expressed her thoughts and feelings, and he worried that a filmmaker would feel compelled to emphasize the excitement and thrills of a story in hiding in order to entertain an audience. 77 Trotzdem erlaubt er dem amerikanisch-jüdischen Schriftsteller, nach Produzenten für eine mögliche Film- oder Theaterfassung zu suchen. Zugleich beginnt Levin eine Bearbeitung des Tagebuchs, von der er hofft, dass der künftige Produzent sie als Grundlage für eine Broadwayinszenierung akzeptieren werde. Seine Hoffnung sollte nicht erfüllt werden: Weder Cheryl Crawford, die das Broadway-„Tagebuch“ zuerst produzieren sollte, noch Kermit Bloomgarden, der es dann tatsächlich (in der Goodrich/ Hackett-Version) zur Aufführung brachte, hielten Levins Vorlage für geeignet. 78 Die Gründe für diese Ablehnung sind unterschiedlich rekonstruiert worden. 79 Der Autor nahm sie jedenfalls als Teil einer Verschwörung gegen sein Stück und gegen die jüdische Identität Anne Franks wahr. Wie Gilman darlegt, folgt Levin in dieser Auffassung einem Modell des „jüdischen Selbsthasses“, das zwischen „guten“ und „schlechten“ Juden differenziert. Anne wäre dann die „gute“ (identitätsbewusste) Jüdin, deren „wahre Geschichte“ Levin auf die Bühne bringen will. Im Gegensatz dazu erscheint ihm der Vater des Mädchens, nach anfänglicher Freundschaft, immer mehr als Beispiel des „schlechten“ (assimilierten) Juden, der die „wahre Geschichte“ der Tochter - und damit das spezifisch Jüdische der Shoah - zu unterdrücken versuche. 80 Über die Frage, wie wichtig die jüdische Identität der Verfolgten für eine Theaterfassung des Tagebuchs sei, waren Frank und Levin von Anfang an uneins. Für den Schriftsteller ist Annes Stimme, wie er in seiner Rezen- 77 Graver 1995, 18-19. 78 Vgl. Graver 1995, 42-43 u. Melnick 1997, 51-67. 79 Für die Gründe der Ablehnung vgl. Graver 1995 u. Melnick 1997. Letzterer unterstützt Levins Ansicht , dass es eine „stalinistische“ Verschwörung „selbsthassender“ Juden (allen voran die Dramatikerin Lillian Hellman) gegeben habe, um die Aufführung seines Stücks zu verhindern (vgl. z.B. Melnick 1997, xiii u. 29- 50). Für Graver gibt es keine solche Verschwörung. Vielmehr sei es eine Mischung legaler, kommerzieller und privater Gründe (Differenzen zwischen Frank und Levin, Levins Glaube an eine „Verschwörung“), die eine Aufführung des Stücks verhinderten. 80 Vgl. Gilman 1990, 347-350. 160 sion schreibt, „the voice of six million vanished Jewish souls“ 81 . Für Frank ist sie Träger einer universellen Botschaft. „As to the Jewish issue“, schreibt er im Sommer 1952 an Levin, you are right that I do not feel the same way you do. I always said that Anne’s book is not a warbook. War is the background. It is not a Jewish book either, though Jewish sphere, sentiment and surrounding is the background. I never wanted a Jew writing an introduction for it. It is […] read and understood more by Gentiles than in Jewish circles. So do not make a Jewish play out of it! 82 Frank hält in dem Brief jedoch ausdrücklich fest, dass das Stück die jüdische Atmosphäre im Hintergrund darstellen müsse, selbst wenn es kein „Jewish play“ sei, „even so that it works against anti-Semitism.“ 83 In der Version von Goodrich und Hackett, die - sehr zum Ärgernis von Levin - keine Juden sind, 84 bleibt dieser Hintergrund ziemlich unterdrückt. Es gibt aber durchaus Referenzen auf die jüdische Identität der Verfolgten. Zum Beispiel betont Anne zu Beginn des Stücks, dass es die deutschen Gesetze gegen Juden seien, die sie ins Versteck zwängen: „Then things got very bad for the Jews. [...] You could not do this and you could not do that. They forced Father out of his business. We had to wear yellow stars.“ 85 Zugleich aber behauptet sie, dem optimistischen Grundton des Stücks entsprechend: „Somehow we children still managed to have fun“ 86 - eine Aussage, die sich im Tagebuch nicht findet. Stattdessen wird dort von Annes Freundin Jopie berichtet, die sich „niets meer te doen [nichts mehr zu tun]“ traut, „want ik ben bang dat het niet mag [weil ich Angst habe, dass es verboten ist].“ 87 Hier soll kein weiterer Vergleich zwischen Tagebuch und Bühnenfassung gezogen werden. Ich möchte auch die Frage ausklammern, inwieweit An- 81 Levin 1952, 1. Meine Hervorhebung. 82 Zit. nach Graver 1995, 54. 83 Zit. nach Graver 1995, 54. In einem späteren Brief an Levin notiert Frank: „I am sure that it is necessary to have sensitiveness for the Jewish sphere, but in the whole play it must not prevail“ (Brief vom 8. Januar 1953; zit. nach Melnick 1997, xiii). 84 Als Produzentin Cheryl Crawford Ende 1952 vorschlägt, das Tagebuch von der nichtjüdischen Schriftstellerin Carson McCullers bearbeiten zu lassen, schreibt Levin an Frank: „I am disgusted and enraged at the thought that a non-Jew has been selected to write the play. I should think Miss Crawford would have had more tact. You may say it does not matter and all the rest of it, but after the way my work was treated to bring in a Gentile writer over the dozens of excellent Jewish writers that are here [...] is scandalous beyond measure“ (Brief vom 25. Dezember 1952; zit. nach Graver 1995, 52). Frank hingegen war der Meinung, „that the play would be much more readily accepted on its own merits if it were written by a non-Jew“ (Brief vom 9. Januar 1953; zit. nach Melnick 1997, xiii). 85 Goodrich/ Hackett 1964, 3 (Akt I, Szene 1). 86 Goodrich/ Hackett 1964, 3 (Akt I, Szene 1). 87 Frank 2004, 229 (Eintrag vom 20. Januar 1942). 161 nes Text eine universalistische oder eine partikularistische Deutung begünstigt. 88 Vielmehr geht es darum, dass in den 1950ern zwei Figurationen der abwesenden Zeugin entworfen werden, welche die weitere Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs bestimmen und für eine je spezifische Erinnerung „nach Auschwitz“ stehen: die „universalistische“ und die „jüdische“ Anne Frank. Diese Versionen sind nicht gleichbedeutend mit dem, was ich die optimistische und die kritische Lesart von H ET A CHTERHUIS genannt habe. Wie im Folgenden gezeigt wird, überschneiden sich aber die universalistische mit der optimistischen und die kritische mit der jüdischen Interpretation des Tagebuchs. Im Widerstreit dieser Figurationen manifestiert sich die Frage nach testimonialer Autorität: Wie muss ein Zeuge beschaffen sein, damit er Zeugnis an Stelle der abwesenden Zeugen ablegen kann - ohne die Geschichte der Shoah zu verfälschen? Für Levin wäre der „wahre“ Holocaust-Zeuge ein identitätsbewusster Jude. Das Bedürfnis des Schriftstellers, Anne Frank „in a Jewish - that is, anti-assimilationist - model“ zu verwandeln, wird von Gilman dadurch erklärt, [that Levin] sees in the assimilation of the German Jews [...] a fault that can only be rectified by a return to his own sense of what is appropriate for the witness to the torment of the Jews. Frank must be made to speak as a Jew, and Jews, having been treated as different, must see themselves as positively different. 89 Dem steht die Auffassung des produzierten Broadwaystücks entgegen, welches Anne nicht als paradigmatische Zeugin für das jüdische Leid („the voice of six million vanished Jewish souls“), sondern als Zeugin für einen a-historisch gedachten Glauben an das Gute im Menschen figuriert, der auch angesichts der Verfolgung vom Menschen durch den Menschen gültig sei. Dabei geht die Spezifizität der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, das schiere Ausmaß des Verbrechens, verloren: In einem Dialog mit Peter, kurz vor Ende des Stücks, vergleicht Anne ihr Leid mit dem anderer Menschen: „There’ve always been people that’ve had to [suffer] ... sometimes one race ... sometimes another ...” 90 Als Katalysator dieser Universalisierung erscheint der Regisseur des Broadway-Stücks. 91 Im Oktober 1954 erklärt Kanin sein Einverständnis, das D IARY zu inszenieren. An dem Stücktext, den Goodrich und Hackett ihm zuschicken - es ist der sechste von insgesamt acht Entwürfen - findet er nur wenig auszusetzen. Kanin kritisiert jedoch den Dialog zwischen Anne und Peter, aus dessen letzter Fassung ich 88 Vgl. zu diesen Fragen Alter 1995, der im Text Belege für eine universalistische ebenso wie für eine partikularistische „Anne“ findet. 89 Gilman 1990, 348. Meine Hervorhebung. 90 Goodrich/ Hackett 1964, 84 (Akt II, Szene 4). 91 Zum Folgenden vgl. Melnick 1997, 114-129 u. Graver 1995, 88-94. 162 eben zitiert habe. Im sechsten Entwurf spricht das Mädchen über ihren Glauben, woraufhin Peter sie unterbricht: That’s fine! That’s wonderful! But when I begin to think, I get mad. Look at us, hiding out for two years! ... Caught here, like rabbits in a trap, waiting for them to come and get us! And all for what? Because we’re Jews! Because we’re Jews! 92 „We’re not the only Jews that’ve had to suffer“, antwortet ihm Anne, „Right down through the ages there have been Jews and they’ve had to suffer.“ 93 A BB . 5: Szenenbild aus Kanins Inszenierung Kanin hält diesen Dialog für peinlich: er sei „an embarrassing piece of special pleading.“ 94 Seit Beginn der Menschheit, schreibt er an die beiden Autoren, hätten Menschen leiden müssen, „because of being English, French, German, Italian, Ethiopian, Mohammedan, Negro, and so on.“ 95 Dass es im Falle Anne Franks Juden seien, die zu „Symbolen der Verfolgung und Unterdrückung“ (symbols of persecution and oppression) würden, sei Zufall (incidental). Deshalb solle „ihre“ Anne darauf hinweisen, „that through the ages, people in minorities have been oppressed. In other words, at this moment, the play has an opportunity to 92 Zit. nach Graver 1995, 89. 93 Zit. nach Graver 1995, 89. 94 Zit. nach Melnick 1997, 115-116 (Brief vom 8. November 1954). 95 Zit. nach Melnick 1997, 116. 163 spread its theme into the infinite.“ 96 Von Otto Frank autorisiert, wurde diese universalisierende Bewegung - „to spread [...] into the infinite“ - zum bestimmenden Kennzeichen des aufgeführten Tagebuchs. Aus dem Dialog zwischen Anne und Peter wird in der finalen Fassung: PETER. That’s fine! But when I begin to think, I get mad! Look at us, hiding out for two years. Not able to move! Caught here like ... waiting for them to come and get us ... and all for what? ANNE. We’re not the only people that’ve had to suffer. There’ve always been people that’ve had to ... sometimes one race ... sometimes another ... and yet ... PETER. That doesn’t make me feel any better. 97 Die Streichung von Peters verzweifeltem Ruf - „Because we’re Jews! Because we’re Jews! “ - habe dem Goodrich/ Hackett-Stück den letzten Bezug auf die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden genommen, schreibt Melnick, „leaving Peter and the audience without a true understanding of why nearly all within the Annex, and six million other Jews throughout Europe, were murdered.“ 98 A BB . 6: Szenenbild aus Peter Fryes Inszenierung des Levin-Stücks Die universalisierte Anne Frank konnte in den Fünfzigern große Erfolge feiern - nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und 96 Zit. nach Melnick 1997, 116. 97 Goodrich/ Hackett 1964, 84 (Akt II, Szene 4). 98 Melnick 1997, 129. 164 ganz Europa 99 - während Levin kaum Unterstützung für seine „jüdische“ Version fand. Es ist bezeichnend, dass die einzige Inszenierung des Levin-Textes, die zu Lebzeiten des Autors aufgeführt wurde, in Israel zustande kam. 1966 inszenierte der Regisseur Peter Frye das Stück am Israel Soldiers Theater. Gerade im Vergleich mit dem Photo aus der Broadway-Produktion (Abb. 5), zeigt Abb. 6, dass die verwendeten Kostüme und Requisiten (z.B. die Menorah im Vordergrund) auf die jüdische Identität der Verfolgten weisen. Das Bild aus Fryes Produktion stellt wohl die Chanukkah-Feier dar, die bei Goodrich und Hackett - so der Vorwurf Levins - mehr an Weihnachten als an das jüdische Fest erinnert habe. 100 Es hat zum einen rechtliche Gründe, dass Levins A NNE F RANK nur in Israel produziert wurde. Für die USA und Europa lagen alle Aufführungsrechte des Tagebuchs bei Otto Frank und Bloomgarden. Für Israel war diese Frage umstritten - nach der Androhung rechtlicher Schritte wurde die Produktion des Soldiers Theater abgesetzt. 101 Zum anderen war die Goodrich/ Hackett-Fassung von Anne Frank zwar auch in Israel erfolgreich, doch an einer Stelle entscheidend geändert worden. 102 In der Broadway-Fassung schließt Otto Frank am Ende das Tagebuch und antwortet auf das „in spite of everything“ seiner Tochter mit dem Satz: „She puts me to shame.“ 103 Für die israelische Erstaufführung durch das Habimah Theater (Tel Aviv, 1957) ließ der Regisseur Israel Becker den Satz streichen. Stattdessen hört Otto Frank die Worte seiner Tochter, schüttelt den Kopf und sagt - mit unsicherer Stimme - „I don’t know, I don’t know.“ 104 Das hier inszenierte Ende scheint den optimistischen Grundton der Goodrich/ Hackett-Fassung zu unterlaufen und bereitet den Weg für eine Figuration Anne Franks, die - wie in Levins Version - dem Optimismus „ihrer“ Botschaft kritisch gegenübersteht. Als der Regisseur George Stevens die erste Bühnenfassung des Tagebuchs verfilmt, übernimmt er nur die Schauspieler Joseph Schildkraut und Gusti Huber (Edith Frank) aus der Kanin-Inszenierung. Anne 99 Zur deutschen Rezeption des Broadway-Stücks vgl. Loewy 1998, v.a. 30-34. Die Universalisierung der Anne Frank im Theaterstück mache sie zu einem „‚Spiegel’ [...], in dem sich alle, auch ihre Mörder betrachten können. Der ‚Humanismus’ der solches unternimmt, setzt die Auslöschung des Gesichtes, das ihn anschaut, bereitwillig oder unfreiwillig fort, anstatt ihr zu widersprechen“ (Loewy 1998, 37). Im Namen einer Anne Frank, die „in spite of everything“ an das Gute im Menschen glaubt, hätten sich die Deutschen - stellt auch Rosenfeld (1996, 271) fest - selbst verzeihen können. 100 Vgl. Graver 1995, 116. 101 Vgl. Graver 1995, 176-181. 102 Vgl. zum Folgenden Rosenfeld 1996, 275-276 und Loewy 1998, 38. 103 Goodrich/ Hackett 1964, 87 (Akt II, Szene 5). 104 Rosenfeld 1996, 276. 165 Frank soll von einem Mädchen gespielt werden, das noch keine Filmerfahrung hat. Dass das Studio Twentieth Century Fox die Suche nach der Debütantin weltweit und öffentlich durchführt, hat zur Folge, dass schon lange vor Filmstart über das D IARY berichtet wird. 105 Neben diesem Werbeeffekt verhindert die Besetzung Annes mit einer unbekannten Schauspielerin, dass ihre frühere Rollenbiographie die Darstellung der abwesenden Zeugin im Sinne Marvin Carlsons „heimsucht“ 106 - sie kann das Gesicht des Holocaust-Opfers werden. Bei seiner Suche legt das Studio keinen Wert darauf, ob die Schauspielerin, die als Anne Frank ihr Filmdebüt geben soll, jüdisch ist oder nicht. Millie Perkins, die das Mädchen letztendlich spielt, ist keine Jüdin. Sie wird ausschließlich über die Ähnlichkeits zu Anne Frank - nicht über ihren kulturellen Hintergrund autorisiert. 107 Im Gegensatz dazu wird bei der Neubearbeitung des Tagebuchs, die 1997 im New Yorker Music Box Theater - wieder am Broadway - Premiere hat (Regie: James Lapine) äußerster Wert auf die jüdische Identität der Beteiligten gelegt: in der Berichterstattung ebenso wie in den als Werbematerial veröffentlichten Biographien. 108 Der Regisseur, die Autorin Wendy Kesselman und die Hauptdarstellerin Natalie Portman sind, wie immer wieder betont wird, jüdisch. Die damals 16jährige Portman ist in Israel geboren und Enkelin zweier Holocaust- Überlebender: Auch das wird in den Kritiken häufig erwähnt. Es scheint, als ob - anders als in den Fünfzigern - die Autorität der Anne Frank-Darstellung zu einem großen Teil aus der jüdischen Identität der Darstellerin und der Bearbeiter stammt (unabhängig davon, ob sie sich mit dieser Identität identifizieren). Der Unterschied zwischen den fünfziger und den neunziger Jahren, der hier zum Ausdruck kommt, lässt sich - wie Peter Novick und Matthew Frye Jacobson das getan haben - als ein gesellschaftlicher Wandel innerhalb der USA vom universalistischen zum partikularistischen Ethos beschreiben. 109 Damit 105 Vgl. Graver 1995, 138. 106 In T HE H AUNTED S TAGE (2001) spricht der Theaterwissenschaftler Marvin Carlson über verschiedene Weisen, wie Theaterproduktionen von „performativen Erinnerungen“ heimgesucht werden - dazu gehört auch das „haunting“ des Schauspielers durch frühere Rollen. Vgl. Carlson 2003, 13. 107 Umgekehrt ließe sich für Schildkraut - im Sinne des von Carlson beschriebenen „haunting“ - argumentieren, dass er auch über sein Judentum für die Rolle Otto Franks (paradoxerweise! ) autorisiert wird. Er ist der Sohn des 1930 gestorbenen Schauspielers Rudolf Schildkraut, der in New York einer der bekanntesten Darsteller des jiddischen Theaters war. Diese Verbindung mag dem New Yorker Publikum sowohl der Broadwayinszenierung als auch des Films durchaus bewusst gewesen sein, zumal Joseph Schildkraut 1959 - also im Jahr der Stevens- Verfilmung - die (Auto-)Biographie M Y F ATHER AND I vorgelegt hat. Zu Rudolf Schildkraut vgl. Marx 2008, 165-179. 108 Vgl. z.B. Canby 1997, Simon 1997 und Weinraub 1998. 109 Siehe oben, S. 100-102. 166 hängt auch zusammen, dass die jüdischen Züge der Rolle Anne Frank in der 1990er-Version klarer erkennbar sind, obwohl es sich um eine Bearbeitung der Goodrich/ Hackett-Fassung handelt. An die Stelle des Dialogs, der in den Fünfzigern darauf verweist, dass Leid eine universale Erfahrung sei („sometimes one race ... sometimes another ...“), tritt bei Kesselman eine Szene, in der Anne ihrem Freund Peter vorwirft, dass er seine jüdische Herkunft verleugne: „I’d never turn back on who I am. Don’t you realize, Peter, you’ll always be Jewish ... in your soul.“ 110 Das partikularistische Ethos, dem Kesselman in vielen Passagen ihrer Bearbeitung verpflichtet bleibt, verbindet sich mit einer kritischen Grundhaltung gegenüber der „Botschaft“ Anne Franks: Die Zeile „in spite of everything“ wird im Kontext des Tagebuchs zitiert, d.h. inklusive der Vision des bevorstehenden Todes. Während der Text aus dem Off erklingt, ist auf der Bühne zu sehen, wie die „Hinterhäusler“ verhaftet werden. Zuletzt tritt Otto Frank (gespielt von George Heam) noch einmal vor das Publikum und legt Zeugnis für eine andere Anne ab als in der 1950er-Version. Er zitiert eine Mitgefangene, die seine Tochter in Bergen-Belsen gesehen hat: „naked, her head shaved, covered with lice. ‘I don’t have anybody anymore,’ she weeps, not knowing that her father is alive.“ 111 Diese dritte Anne, die - auch in der Betonung ihrer jüdischen Identität - näher an die Version Levins rückt, verweist lediglich darauf, dass in den Neunzigern eine anders gestaltete Erinnerungsfigur am Broadway (d.h. im Zentrum der amerikanischen Populärkultur) möglich ist als in den Fünfzigern. Das bedeutet jedoch nicht, dass die optimistische Anne durch diese Lesart abgelöst würde. Selbst Kesselmans Neubearbeitung folgt über weite Strecken dem positiven Grundton der Goodrich/ Hackett-Fassung, auf der sie beruht: [The] whole of Kesselman’s revision amounts to far less than the sum of its parts. Despite the changes, this is still the same sentimental play about a luminous, flirtatious, idealistic Anne Frank that made the critics swoon 40 years ago. 112 Nicht nur am Broadway erklingt noch die „Stimme“ der optimistischen Anne, als eine von vielen möglichen Figurationen der abwesenden Zeugin. Am 28. Februar 2008 hatte das - von der Anne Frank- Stiftung geförderte - Musical E L D IARIO DE A NA F RANK : U N C ANTO A LA V IDA (Das Tagebuch der Anne Frank: Ein Lied auf das Leben) in Madrid 110 Zit. nach Hoagland 1999, 78. 111 Zit. nach Hoagland 1999, 79. 112 Hoagland 1999, 79. Zu einer solchen Kritik vgl. auch Canby 1997, dessen Artikel von einer „new ‘Anne Frank’ still stuck in the 50’s“ berichtet. 167 Premiere. Schon der Untertitel verweist darauf, was hier - nach Ansicht des Kritikers Merten Worthmann - passiert: „Das Grauen wird beiseitegesungen, die gute Hoffnung siegt.“ 113 Autoritätsentzug im G HOST W RITER (Philip Roth) Von der amerikanisch-jüdischen Autorin Cynthia Ozick stammt ein Aufsatz über die Geschichte des berühmten Tagebuchs, den sie mit der provokativen Frage übertitelt, wem Anne Frank eigentlich gehöre (W HO O WNS A NNE F RANK ? ). Äußerer Anlass des Artikels, 1997 im N EW Y ORKER erschienen, ist die eben beschriebene Neuninszenierung des Tagebuchs am Broadway, die zu jener Zeit unmittelbar bevorstand. Ozick fürchtet, dass Kesselmans Bearbeitung dem Geist der Fünfziger treu bleibe: [If] the play remains essentially as the Hacketts wrote it, the likelihood is that Anne Frank’s real history will hardly prevail over what was experienced, forty years ago, as history transcended, ennobled, rarefied. 114 Das erste Anzeichen für eine Fortsetzung der dominanten Lesart findet die Schriftstellerin in einer Interviewaussage der 16-jährigen Portman: „It’s funny, it’s hopeful, and she’s a happy person.“ 115 In ihrem Aufsatz versteht Ozick die gesamte Publikations-, Rezeptions- und Bühnengeschichte des Tagebuchs als eine Geschichte der Entstellung: A deeply truth-telling work has been turned into an instrument of partial truth, surrogate truth, or anti-truth. […] Almost every hand that has approached the diary with the well-meaning intention of publicizing it has contributed to the subversion of history. 116 Die Schriftstellerin stützt ihre Argumentation auf eine quasi-narratologische Unterscheidung. Sie trennt Annes Erzählung, den eigentlichen Text des Tagebuchs, von der Geschichte des Mädchens, zu der Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen gehören: „Anne Frank’s written narrative [...] is not the story of Anne Frank, and never has been.“ 117 Weil der Erzählung das Ende der Geschichte fehle, sei diese seit der Erstveröffentlichung von H ET A CHTERHUIS immer wieder verfälscht worden. Damit trage das Tagebuch zu einer Verfälschung des Holocaust - der subversion of history - bei. Aus diesem Grund kommt Ozick zu dem polemischen Schluss, der Text sei besser in den Wirren des 113 Worthmann 2008, 50. 114 Ozick 1997, 87. 115 Ozick 1997, 87. 116 Ozick 1997, 78. 117 Ozick 1997, 78. Meine Hervorhebung. 168 Krieges verbrannt. 118 Dem Titel ihres Essays setzt die Schriftstellerin so eine radikale Antwort entgegen: Anne Frank soll niemandem gehören, wo sie sich selbst nicht besitzen, d.h. ihre Geschichte nicht zu Ende erzählen kann. Ozicks Artikel formuliert den Wunsch nach einem Zeugnis, das zugleich Beweis ist. Es soll eine eindeutige Beziehung zum Realen (zur abwesenden Zeugin) unterhalten, die es dem „verfälschenden“ Spiel der Diskurse und Figurationen entzieht. Dieses authentische Zeugnis, bei dem Wirklichkeit und Narrativ eins wären, kann sich paradoxerweise nur als abwesendes realisieren. Ozick verwendet das Bild des verbrannten Tagebuchs jedoch nicht nur, um auf diese Problematik der Zeugenschaft hinzuweisen. Sie nutzt es auch, um ihre eigene Figuration von Anne Frank zu autorisieren: „[Her] story, truthfully told, is unredeemed and unredeemable.“ 119 Insofern folgt die Schriftstellerin - in gewisser Weise - Otto Frank und Meyer Levin, denen sie jeweils vorwirft, dass diese deren subjektive Stimme als „wahre Stimme“ der abwesenden Zeugin gesetzt hätten: „The surviving father stood in for the dead child, believing that his words would honestly represent hers“ 120 , schreibt sie über den einen und über den anderen: „Meyer Levin [...] claimed to be her authentic voice“. 121 Wie die optimistische Lesart sieht Ozicks kritische Interpretation des Tagebuchs eine bruchlose Kontinuität zwischen Anne und deren Figuration. Die Schriftstellerin verlagert diese Kontinuität lediglich auf eine andere Ebene: von der Erzählung zur Geschichte. Auch in ihren Augen gibt es nur eine richtige Vorstellung von Anne - und somit die Möglichkeit zur authentischen Figuration. Sie ergäbe sich aus einer - für Ozick durch Auschwitz, Bergen-Belsen und Westerbork eindeutig bestimmten - Fortschreibung des Tagebuchs, die aus ihrem Blickwinkel nur deshalb fehlt, weil die Zeugin nicht zu Ende habe schreiben können. Auf diese Weise wird die Differenz von Erzählung und Geschichte (als story und history) letztendlich wieder aufgehoben. Auch im kritischen Rezeptionsmodell scheint es deshalb möglich, die „wahre Zeugin“ durch den Text zu vernehmen. Beginnend mit einer kurzen Analyse von Philip Roths T HE G HOST W RITER , frage ich im Folgenden, welche Elemente von H ET A CHTERHUIS die Illusion der „wahren Stimme“ unterstützen. Wieso begünstigt die ästhetische Konstruktion des literarischen Textes eine Mehrzahl - einander ausschließender - Figurationen, die sich trotzdem als singuläre Wahrheit autorisieren? 118 Vgl. Ozick 1997, 87. 119 Ozick 1997, 78. Meine Hervorhebung. 120 Ozick 1997, 80. Meine Hervorhebung. 121 Ozick 1997, 87. Meine Hervorhebung. 169 T HE G HOST W RITER entwickelt die Fiktion einer Anne Frank, die den Holocaust tatsächlich überlebt hat. Sie ist nicht in Bergen-Belsen umgekommen, sondern konnte nach Kriegsende in die Vereinigten Staaten auswandern. Dort lebt sie zurückgezogen unter dem Namen Amy Bellette. 1955 sieht das Mädchen die Broadway-Aufführung des Tagebuchs: Alle Zuschauer sind den Tränen nahe oder weinen. Die junge Frau erkennt, dass sie sich nie als Anne Frank unter den Lebenden wird zurückmelden können, wenn ihr Text (und die Dramatisierung) diese Wirkung behalten soll: They wept for me […]; they pitied me; they prayed for me; they begged my forgiveness. I was the incarnation of the millions of unlived years robbed from the murdered Jews. It was too late to be alive now. I was a saint. 122 Innerhalb von Roths Roman wirkt Amys Geschichte zunächst real. Bald legt der Text jedoch nahe, dass es sich um eine Lebenslüge handeln könnte: um einen Selbstbetrug Amys, der aus der übermäßigen Identifikation mit Annes Tagebuch entstanden ist. Über die Reaktion des Schriftstellers, dem Amy „ihre“ Geschichte erzählt, heißt es in T HE G HOST W RITER : „And what did Lonoff think of [her story] when she was finished? That she meant every word and that not a word was true“ (150). Ohne dass diese Zuschreibung aufgehoben würde, offenbart sich die Geschichte anschließend - in einer weiteren Rahmung - als die Phantasie eines dritten Schriftstellers (neben Amy/ Anne und Lonoff). Die Geschichte erscheint als Fiktion, die der junge Nathan Zuckerman ausgehend von einer Begegnung mit Amy und ihrem gemeinsamen Vorbild E.I. Lonoff entwickelt. Zuckerman ist nicht nur die Hauptfigur von T HE G HOST W RITER , sondern erscheint - innerhalb des ästhetischen Rahmens - auch als der Autor des Romans. Diese Funktion wird ihm bereits im ersten Satz des Textes zugewiesen, insofern dieser auf die schriftstellerische Tätigkeit des Erzählers („I was twenty-three, writing and publishing my first short stories“ [3]) ebenso wie auf den zeitlichen Abstand zwischen Dargestelltem und Darstellung anspielt: „It was the last daylight hour of a December afternoon more than twenty years ago […]“ (3), beginnt der Text, den der Leser als gedruckten Roman in Händen hält. Einerseits betont auch dieser Druck die Autorfunktion Zuckermans, andererseits handelt es sich um einen Roman, der auf der Titelseite mit dem Namen „Philip Roth“ signiert ist. Die Spannung zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur überträgt sich auch in den Text, denn der Autor/ Erzähler Zuckerman führt sein jüngeres Ich explizit als literarische Figur ein - „like many a Bildungsroman hero before me“ (3). 122 Roth 1995, 150. Alle weitern Zitate aus T HE G HOST W RITER werden im Text (mit Seitenangaben in Klammern) belegt. 170 Die Figur Zuckerman erscheint noch spannungsgeladener in dieser Hinsicht, wenn man die intertextuellen Verweise innerhalb von Roths Werk berücksichtigt. Abgesehen davon, dass T HE G HOST W RITER den Auftakt zu einer Reihe von Zuckerman-Büchern bildet, schreibt Philip Roth bereits in M Y L IFE AS A M AN (1974) von einem Schriftsteller (Peter Tarnopol), der Kurzgeschichten über einen Schriftsteller namens Nathan Zuckerman schreibt. 123 Diese unauflösbare Spannung zwischen Autor/ Erzähler und literarischer Figur, „realem“ Vorbild und „fiktiver“ Darstellung ist, wie ich noch ausführen werde, grundlegend für T HE G HOST W RITER . Sie findet ihre Entsprechung in der narrativen Konstruktion des Gesamtromans, der sich selbst - teils explizit, teils implizit - auf andere Texte bezieht (z.B. Henry James’ Kurzgeschichte T HE M IDDLE Y EARS [1893] oder Anne Franks Tagebuch) und diese in einer Weise verwebt, dass es schwer wird, zwischen „Vorbild“ und „Nachbild“ zu entscheiden. So kommt ein Spiel von Autorisierung und Autoritätsentzug in Gang, das eine andere Politik der Zeugenschaft verfolgt als die einander ausschließenden Figurationen von Goodrich und Hackett oder Levin. „[The] novel seems to be about [...] the parallel lives different kinds and levels of discourse lead“, schreibt Patrick O’Donnell: Roth denies to us any sense of an authoritative fiction or central discourse to which we are drawn as we pierce the several veils of textuality that direct us elsewhere, toward a ‘true story,’ no matter how imaginary the projection of it may be. 124 Die verschiedenen Texte des G HOST W RITERS sind miteinander verknüpft, insofern viele Motive auf mehreren Textebenen durchgespielt werden. Zum Beispiel zitiert der Roman eine Passage aus dem Werk von Henry James, welche an Amys „krankhafte“ Identifikation mit Anne erinnert. Dieser Bezug wird in der erzählten Welt dadurch motiviert, dass Nathan T HE M IDDLE Y EARS liest, während er über die junge Frau nachdenkt. Wie sie übernachtet auch er - ohne schlafen zu können - bei seinem literarischen Vorbild E.I. Lonoff. Dort wird er zum Ohrenzeugen eines Gesprächs zwischen den beiden. „I love you so, Dad-da“, sagt Amy zu dem wesentlich älteren Schriftsteller. Sie schlägt ihm vor, nach Italien zu gehen: „In Florence, my sweetest, we could come out of hiding“ (119; meine Hervorhebung). Der Satz ist doppeldeutig, ebenso wie Lonoffs Antwort auf ihre Bitte, sie zu trösten: „You’re 123 Neben dem Roman M Y L IFE AS A M AN , in dem Zuckerman als Figur innerhalb zweier Kurzgeschichten auftritt, gibt es bislang neun Bücher, die ihn als Autor/ Erzähler in den Mittelpunkt stellen: Dazu gehört z.B. die Trilogie Z UCKER- MAN B OUND , deren erstes Buch T HE G HOST W RITER ist; ein Epilog zu dieser Trilogie (T HE P RAGUE O RGY [1985]) und der 2007 erschienene Roman E XIT G HOST , der bereits in seinem Titel Bezug auf THE G HOST W RITER nimmt. 124 O’Donnell 1983, 370. 171 fine now. You’re always fine in the end. You’re the great survivor“ (118; meine Hervorhebung). Der Dialog nimmt in seiner Ambiguität jene Verbindung zu Anne Frank vorweg, die Amy von Zuckerman auf den Leib geschrieben wird. Der Kosename, den sie für Lonoff wählt (Dadda), der Altersunterschied und ihr kindliches Erscheinungsbild geben der Beziehung des heimlichen Liebespaars eine inzestuöse Konnotation. An mehreren Stellen des Romans wird die 27-jährige Amy wie ein kleines Mädchen beschrieben. Bei ihrem ersten Treffen überlegt Nathan, ob sie Lonoffs pubertierende Tochter sein könnte (17). Zuckermans intrafiktionale Erzählung macht den älteren Schriftsteller zu einem Ersatzvater für Amy bzw. Anne, die ihrem wirklichen Daddy Otto Frank nicht mitteilen darf, dass sie noch lebt. Die Publikumsreaktionen bei der Broadway-Aufführung des D IARY haben sie zu dieser Überzeugung gebracht: I couldn’t call him. And I knew I couldn’t when I heard that woman [in the audience] scream ‘Oh, no.’ I knew then what’s been true all along: I’ll never see him again. I have to be dead to everyone. (124) Nathans Geschichte ist ebenfalls von der Suche nach einer Vaterfigur gekennzeichnet. Der Nachwuchsschriftsteller hegt die Hoffnung, Lonoff könne diese Rolle als geistiger Mentor ausfüllen. Mit seinem tatsächlichen Vater hat er sich wegen einer Erzählung zerstritten. Der alte Zuckerman bringt es nicht fertig, seinen Sohn mit dessen Texten zu identifizieren: This story isn’t [...] you. [...] You are a good and kind and considerate young man. You are not somebody who writes this kind of story and then pretends it’s the truth. (94) Unter anderen Vorzeichen kommt Lonoff zum gleichen Urteil: „You’re not so nice and polite in your fiction“, sagt er. „You’re a different person“ (180). Beide Aussagen bauen eine Spannung zwischen Leben und Schreiben auf. Paradoxerweise werden sie in einem Roman getroffen, dessen fiktionaler Autor und Ich-Erzähler der Beurteilte selbst ist. Wenn Lonoff sich überlegt, auf welche Weise ihn Zuckerman einst darstellen wird, tut er dies bereits innerhalb jener - zwanzig Jahre später geschriebenen - Geschichte: „I am curious how we all come out someday. It could be an interesting story“ (180). Auch innerhalb des ästhetischen Rahmens besitzen Lonoffs Worte keine volle Autorität. Sie lassen sich nicht zu ihrem „Vater“ zurückverfolgen, weil er bereits eine literarische Figur geworden ist. T HE G HOST W RITER behandelt diese Problematik der (unterbrochenen) Filiation auf mehreren Ebenen. Rein inhaltlich findet sie ihren Ausdruck in den komplizierten Vater-Kind-Beziehungen, die Lonoff, Otto Frank und den alten Zuckerman an Nathan bzw. Amy binden. Das Problem der unterbrochenen Filiation betrifft außerdem die Motivketten, die T HE G HOST W RITER zwischen den einzelnen Texten spannt. So 172 berührt sie das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Narrativen, die in Roths Roman umeinander kreisen. Dieser Strudel lässt kaum entscheiden, wo ein Motiv seinen Ausgang nimmt; und wo es gespiegelt wird: Das betrifft zum Beispiel die „krankhafte“ Besessenheit von einer Fiktion. In der Passage, die Henry James’ T HE M IDDLE Y EARS zitiert, ist ein junger Arzt so begeistert vom Werk des sterbenden Schriftstellers Dencombe, dass er sich um diesen statt um seine eigentliche Arbeitgeberin - eine reiche Gräfin - kümmert. Daraufhin enterbt sie den Arzt: „I chose to accept“, erklärt er dem Autor, „whatever they might be, the consequences of my infatuation“ (114). Eine solche Vernarrtheit in Lonoff mag der Grund dafür sein, dass Amy sich mit dem paradigmatischen Holocaust-Opfer (über-)identifiziert. Gleichlautend zu der Henry James-Stelle heißt es über ihre Beziehung zu Lonoff: „It was for him, the great writer, that Amy had chosen to become Anne Frank […]. For him, as a consequence of her infatuation” (155; meine Hervorhebung). Diese Erklärung ist jedoch ebenfalls verwaist. Lonoff stellt sich, innerhalb der Vorstellung von Nathan, vor, dass seine eigene Frau die Situation entsprechend interpretieren würde. Am nächsten Morgen verweigert Zuckerman selbst der nächtlichen Phantasie deren Gültigkeit. Insofern hat sie diesen „Ursprung“ gleich dreifach verloren, wird ihr die Autorität dreimal entzogen. Die Motivreflexionen des G HOST W RITERS bilden ein Spiegelkabinett, in dem das Original verloren geht. Reflektiert Nathans Unvermögen, der Fiktion zu entkommen, die Vernarrtheit Amys; oder ist es umgekehrt? Stacheln Henry James’ T HE M IDDLE Y EARS und das Gespräch, das Nathan belauscht, seine Phantasie an; oder tragen sie diese auf eine andere Ebene? Innerhalb des Romans bleiben solche Fragen unentscheidbar. Das unterminiert die Autorität, d.h. den Wahrheitsanspruch, seiner Motive. Sie werden zu elternlosen und geisterhaften Wiederholungen ihrer selbst. Das ändert jedoch nichts an ihrer Effektivität: So bleibt die infatuation - das Begehren des Imaginären - auch auf für Zuckerman gültig: „I could not really think of her as Amy any longer. Instead I was continually drawn back into the fiction I had evolved about her and the Lonoffs“ (157). Die Abständigkeit von Leben und Schreiben, Wirklichkeit und Fiktion hindert sie also nicht daran, sich gegenseitig zu durchdringen und ihre Grenzen zu aufweichen. Das hängt eng mit einer weiteren Spielart unterbrochener Filiation zusammen, die Roth illustriert. Sie betrifft das Spannungsverhältnis zwischen dem Autor und seiner Figuration im Text, wie sie beispielsweise der Vorwurf von Nathans Vater - this story isn’t you - zum Ausdruck bringt. Er sieht die größte Gefahr darin, dass die Erzählung trotz dieses Abstands und ungeachtet ihres ästhetischen Rahmens reale Wirksamkeit besitzt: „People don’t read art - they read about people“ (92). All diese Ebenen überschneiden sich in der Geschichte um Amy. Das Tagebuch der Anne Frank ist der Text im G HOST W RITERS , dessen 173 „Vaterlosigkeit“ am deutlichsten ist. Seine Autorität beruht wesentlich auf der realen Abwesenheit des Mädchens, das ihn geschrieben hat: Were Het Achterhuis known to be the work of a living writer, it would never be more than it was: a young teenager’s diary of her trying years in hiding during the German occupation of Holland. (145) Amy, die sich vielleicht - je nach Blickwinkel - für die wahre Anne hält, muss in dieser Rolle auf den Kontakt zum leiblichen Vater und auf ihr geistiges Kind verzichten. Sie ist überzeugt, dass das Tagebuch mehr bewirkt, wenn sie den Platz der abwesenden Zeugin einnimmt: „Dead she had written […] a book with the force of a masterpiece to make people finally see“ (146). Roths Anne Frank-Fiktion weist darauf hin, dass der Tod des Autors immer auch eine strukturelle Notwendigkeit darstellt. Nicht nur muss Amy, wenn sie Anne ist, die Rolle einer Toten übernehmen; deren Tagebuch bleibt ihr, trotz aller Identifikation, dennoch entfremdet: Weder erkennt sich das Mädchen im „young girl of her diary“ (144) wieder, noch kann es sich an die Niederschrift des Textes erinnern. 125 Wie es Platon für die Schrift befürchtet, irrt der Text „vaterlos“ durch die Welt. Für Roland Barthes ist Schreiben dadurch gekennzeichnet, dass sich Persönlichkeit, Körper und Intention des Autors darin verlieren. Es bleiben nur Spuren, die im gegenseitigen Spiel des Begehrens zwischen Leser und Text neu zusammengesetzt werden: [Perdu] au milieu du texte, il y a toujours l’autre, l’auteur. Comme institution, l’auteur est mort […] mais dans le texte, d’une certaine façon, je désire l’auteur : j’ai besoin de sa figure (qui n’est ni sa représentation, ni sa projection). 126 Das ermöglicht die unterschiedlichen - historisch und kulturell relativen - Figurationen des Autors, wie sie die Rezeptionsgeschichte von Anne Frank kennt. Die dominante Lesart des Tagebuchs blendet den Unterschied zwischen der abwesenden Zeugin und deren Figuration jedoch aus, indem sie Annes wahre Stimme zu vernehmen glaubt. Sie ignoriert, dass - wie Barthes in L A M ORT DE L ’A UTEUR schreibt - „sa source, sa voix n’est pas le vrai lieu de l’écriture, c’est la lecture.“ 127 Der Anteil des Rezipienten an der Bedeutungskonstitution wird zugunsten ihrer autorenseitigen Absicherung unterdrückt. Die optimistische Lesart kennt keine historischen, kulturellen oder individuellen Varianzen: Dem Text scheint seine „wahre Geschichte“ endgültig eingeschrieben. Die Effektivität dieses Modells beruht auf dem Versuch, 125 Vgl. Roth 1995, 134: „She still remembered most of what happened to her in the achterhuis, some of it down to the most minute detail, but of the fifty thousand words recording it all, she couldn’t remember writing one.“ 126 Barthes 2002b, 1507-1508. 127 Barthes 2002b, 494. 174 jegliche Differenz zwischen Schreib- und Lesesituation zu verwischen. Sie setzt Anne Frank als abwesende Zeugin, die höchste testimoniale Autorität daraus ziehen kann, das sie von den Nationalsozialisten „zum Schweigen gebracht“ wurde und dennoch spricht. Dabei wird ausgeblendet, dass nicht die abwesende Zeugin das Tagebuch vom Abgrund her schreibt, sondern dass dieses Tagebuch das Zeugnis eines Mädchens ist, das noch keine Berührung mit dem Konzentrationslager hatte. Bei Philip Roth heißt es über die erwachsene Amy/ Anne: She was not, after all, the 15-year-old, who could […] tell Kitty, I still believe that people are really good at heart. Her youthful ideals had suffered no less than she had in the windowless freight car from Westerbork and in the barracks at Auschwitz and on the Belsen heath. (146) Das scheint der Kritik zu entsprechen, die z.B. Ozick und Bettelheim an der optimistischen Lesart des Tagebuchs üben. Sie verkennen, dass die untergegangene Anne Frank ein anderes Zeugnis abgelegt hätte als das Mädchen aus dem Hinterhaus. Indem das dominante Rezeptionsmodell diese Differenz vernachlässigt, kann es sich testimoniale Autorität vom realen Tod der Autorin leihen, der diese zur „wahren Zeugin“ macht. Zugleich verdrängt das dominante Rezeptionsmodell durch seine Konzentration auf die optimistischen Passagen des Tagebuchs. Wie ich gezeigt habe, implizieren sowohl Bettelheim als auch Ozick, dass sie die „wahre“ - jeden Optimismus zurückweisende - Haltung des toten Mädchens kennen würden. „La naissance du lecteur“, endet Barthes berühmter Aufsatz, „doit se payer de la mort de l’auteur.“ 128 Ozick und Bettelheim drehen diesen Satz wieder um. Beide autorisieren ihre Interpretation - darin folgen sie dem Rezeptionsmodell der optimistischen Lesart - über die Illusion, von der authentischen Zeugin beglaubigt zu werden. Ihre Rolle, d.h. die Rolle des Lesers, besteht nur noch darin, deren „wahre Stimme“ durch das Tagebuch hindurch, über seine optimistischen Passagen hinweg zu vernehmen. Das ist möglich, weil sie den Abstand, der Erzählung und Geschichte trennt, ausschließlich an die Verhaftung und Ermordung Anne Franks binden. Nach dieser Auffassung konnte sie das Tagebuch einfach nicht zu Ende schreiben. Nur deshalb fehle ihm die Erfahrung des Konzentrationslagers. Hier klammert der reale Tod der Autorin, der in Wirklichkeit sinnlos und brutal war, die metaphorisch gemeinte mort de l’auteur aus, die sich in jedem Schreibakt vollzieht. T HE G HOST W RITER hingegen macht den realen Tod Annes zu einer unter vielen Varianten, wie sich die Beziehung zwischen H ET A CHTER- HUIS und dessen Autorin (im Rahmen von Roths Text) auflösen lässt. 128 Barthes 2002b, 495. 175 Wenn Amy entfremdet auf die Anne des Tagebuchs blickt, liegt das nicht eindeutig - wie es bei Ozick der Fall wäre - an einem gewandelten Erfahrungshintergrund. Das narrative Gefüge des Romans, mit seinen schwankenden Beziehungen zwischen unterschiedlichen Diskursen und Diskursebenen, verhindert jede stabile Relation zwischen Amy und Anne, Autorin und literarischer Figur. Innerhalb der erzählten Welt ist unklar, welches Mädchen welche der beiden Instanzen besetzt; und welche Rolle Nathan dabei spielt. Anne mag die Autorin von Amy sein, falls sie sich tatsächlich hinter deren Maske versteckt; Amy könnte - innerhalb eines Selbstbetrugs oder für Lonoff - die Autorin ihrer eigenen Anne Frank-Rolle sein; Nathan vermischt vielleicht, als Autor, die literarische Figur Annes (aus dem Tagebuch) mit der realen Amy zu einer neuen Gestalt. 129 Aber keine Lesart kann sich hier als singuläre Wahrheit behaupten. Jene offenbart immer ihre Gebundenheit an eine, der mort de l’auteur geschuldeten Bedeutungsvielfalt. Dennoch besitzen die unterschiedlichen Spielarten ihre je eigene Realität und Wirksamkeit: „I was continually drawn back into the fiction [...]“ (157). Diese Effektivität entsteht aus der Unmöglichkeit, die Grenze zwischen Leben und Schreiben eindeutig zu bestimmen. Autorisierungsstrategien in H ET A CHTERHUIS Das Tagebuch der Anne Frank organisiert seine Glaubwürdigkeit über eine Reihe von Autorisierungsstrategien, die auf die eben beschriebene Entgrenzung von Leben und Schreiben abzielen. Dabei gibt es einen entscheidenden Unterschied zum G HOST W RITER . Bei Roth öffnet sich die Grenze in Richtung einer real wirksamen Fiktion. H ET A CHTERHUIS trägt sie umgekehrt ins Leben hinaus. Seine Autorisierungsstrategien verlagern die Differenz zwischen literarischer Figur und abwesender Zeugin, wenn sich der Leser darauf einlässt, in eine Realität jenseits des Tagebuchs Indem diese Strategien die strukturelle Bedingtheit dieser Differenz verschleiern, können sie so unterschiedliche Figurationen wie die optimistische oder die kritische Anne als je singuläre und exklusive Wahrheit beglaubigen. Bei Roth hingegen bleiben die Figurationen im Spiel der Diskurse aufeinander verwiesen (als Spiegelbilder ohne Ursprung). T HE G HOST W RITER beschreibt einige der Autorisierungsstrategien, die auch H ET A CHTERHUIS einsetzt, und wendet diese in deren Gegenteil. Das zeigt sich am Motiv der Selbstentfremdung, das Roths 129 Vgl. Kartiganer 1988, 158: „[Impersonation] is the fundamental theme [...] of all Roth’s fiction. In every text we see acts of character transformation, metamorphoses in which old and new selves collide in a tortuous, often grotesque relationship that is incapable of resolving itself or displacing oneself with the other.“ 176 Roman aus H ET A CHTERHUIS übernimmt. In „ihrem“ Tagebuch liest Amy/ Anne: I have an odd way of sometimes, as it were, being able to see myself through someone else’s eyes. Then I view the affairs of a certain ‘Anne’ at my ease, and browse through the pages of her life as if she were a stranger. (135) Der mediale Subtext dieses - recht freien - Zitats aus T HE D IARY OF A Y OUNG G IRL lässt die Grenzen zwischen Leben und Schreiben innerhalb des literarischen Felds kollabieren. „Anne“ ist ein Buch, durch dessen Seiten hindurch sie sich selbst betrachten kann. In H ET A CH- TERHUIS wird dieser Vorgang wieder ans Leben gebunden. Am 15. Juli 1944 heißt es: Ik heb een sterk uitkomende karaktertrek die iedereen die me langer kent moet opvallen, en wel mijn zelfkennis. Ik kan mezelf bij al mijn handelingen bekijken, alsof ik een vreemde was. Helemaal niet vooringenomen of met een zak verontschuldigingen sta ik dan tegenover de Anne van elke dag en kijk toe wat die goed en ze slecht doet. [Ich habe einen stark ausgeprägten Charakterzug, der jedem auffällt, der mich länger kennt, und zwar meine Selbsterkenntnis. Ich kann mich bei allen meinen Handlungen betrachten, als ob ich eine Fremde wäre. Überhaupt nicht voreingenommen oder mit einem Sack Entschuldigungen stehe ich dann der Anne von jedem Tag gegenüber und schaue zu, was diese gut und schlecht macht]. 130 Die Fähigkeit, sich als Fremde zu betrachten, wird Anne durch den Prozess der Selbstdarstellung, also durch das Schreiben des Tagebuchs, erleichtert. Eines Morgens blättert sie durch ihre dagboekbrieven und erschrickt vor dem, was sie dort liest: „‚Anne, ben jij het die over haat gesproken heeft? O Anne, hoe kon je dat! ’ [Anne, bist du das die über Hass gesprochen hat? O Anne, wie konntest du! ]“ (481, Eintrag vom 2. Januar 1944). 131 Sie erkennt sich in dem von ihr selbst entworfenen Bild nicht wieder. Wie im G HOST W RITER beruht ihre Selbstreflexivität auf einem medialen Dispositiv und findet in diesem statt; aber die Erzählerin, die durch einen autobiographischen Pakt an die Autorin gebunden ist, schreibt sie ihrem Charakter zu. Deshalb verschiebt sich die Trennlinie zwischen der authentischen Zeugin und ihren Figurationen. Für Anne ist sie keineswegs dem medialen Abstand des Textes zur Wirklichkeit oder der strukturellen Differenz von Autorin und literarischer Figur geschuldet, sondern der temporalen Distanz zur „Anne van een jaar geleden [Anne von vor einem Jahr]“ (481). Das Tagebuch vermittelt ein Bewusstsein für das eigene emplotment, das vor seiner Entstehung - in der Lebenswirklichkeit der Autorin - zu liegen scheint. 130 Frank 2004, 731. Alle weiteren Zitate aus dem Tagebuch werden im Text, mit Seitenzahlen in Klammern, belegt. 131 In dem Eintrag geht es um Anne Franks gespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter. 177 Mit dem Begriff emplotment bezeichnet Hayden White die - auch historiographische Schriften bestimmende - Verwendung erzählerischer Strategien, um Ereignisse zu (einer) Geschichte zu formen. 132 In seinem Standardwerk W RITING AND R EWRITING THE H OLOCAUST hat James E. Young dieses Konzept auf Zeugnisse der Shoah angewendet. Er versteht emplotment als eine Aktivität, die zumindest teilweise vor dem Schreibprozess stattfindet. Sie habe bereits die Wahrnehmung der Ereignisse geprägt und das tatsächliche Handeln der Zeugen mitbestimmt: The issue here becomes not just ‘the facts’ of the Holocaust, but also their ‘poetic’ - i.e. narrative - configuration, and how particular representations may have guided writers in both their interpretations of events and their worldly responses to them. 133 Sich auf eine „Poetik der Zeugenschaft“ zu konzentrieren, bedeute deshalb nicht, jegliche Referentialität - und das Ereignis „an sich“ - zu leugnen; vielmehr seien reales Geschehen und narrative Konfiguration niemals zu trennen: The events of the Holocaust are not only shaped post factum in their narration, but […] were initially determined as they unfolded by the schematic ways in which they were apprehended, expressed, and then acted upon. 134 Die zahlreichen Stellen des Tagebuchs, an denen Anne Frank über sich selbst in der dritten Person spricht, verweisen auf ein emplotment, das vor dem Schreibprozess liegt, obwohl es erst durch diesen zum Ausdruck gebracht wird. Die „beledigde Anne“ (421), die „Anne van een jaar geleden“ (481) oder die „‚lichte’ Anne“ (740) sind narrative Konfigurationen ihrer selbst, welche die Autorin im „richtigen Leben“ verortet. Dort verbergen sie das „wahre“ Ich Annes. Am 1. August 1944 beklagt sich das Mädchen bei Kitty, der imaginären Adressatin des Tagebuchs, dass niemand sie wirklich kenne: „In gezelschap is de lieve Anne dus nog nooit, nog niet één keer tevoorschijn gekomen, maar in het alleen-zijn voert zij haast altijd de boventoon [So ist die liebe Anne in Gesellschaft noch nie, noch nicht einmal zum Vorschein gekommen, doch im Alleinsein führt sie fast immer das Wort]“ (740). Ein solcher Selbstentwurf suspendiert nicht nur das Verschwinden der authentischen Zeugin im Schreibakt. Darüber hinaus macht er ihre schriftliche Aussage zum einzigen Ort, an dem sie für andere sichtbar wird. Der Leser kann sich in einer privilegierten Position wähnen: nur er - und nicht die Menschen, die mit Anne Frank gelebt haben - kennt deren innere Wahrheit. Dieser Illusion des intimen Zugangs steht die Tatsache gegenüber, dass H ET A CHTERHUIS veröffentlicht und millio- 132 Vgl. White 1973, 5-38. 133 Young 1988, 4. Meine Hervorhebung. 134 Young 1988, 5. 178 nenfach gedruckt wurde. Bei der individuellen Lektüre aber ist der Leser mit dem Text allein. Wenn das Lesen des Tagebuchs, wie es seine gängigen Rezeptionsmodelle inszenieren, eine (imaginäre) Präsenz der abwesenden Zeugin auslöst, kann der Leser in einen privaten Pseudo- Dialog mit der Autorin treten. Grundlage dieser paradoxen Nähe ist die hybride Kommunikationsform des dagboekbriefs. Sie vereint die autobiographische Intimität eines Tagebuchs, in dem man für sich selbst schreibt, mit der Mitteilungsfunktion des Briefs. Der Text verortet den Leser, über die literarische Konstruktion Kittys, zugleich fern vom Geschehen und nah bei Anne. Einerseits kennt der hier implizierte Leser die Realität des kriegsgeplagten Europas nicht: „Al vertel ik je veel van ons, toch weet je nog maar een heel klein beetje van ons leven af. [Denn wenn ich Dir auch noch soviel erzähle, Du kennst immer nur einen kleinen Ausschnitt von unserem Leben]“ (622, Eintrag vom 29. März 1944). Andererseits inszenieren die fingierten Briefanfänge (Liefste Kitty) und direkten Anreden (weet je wat) eine intime Kommunikationssituation, die über die - von Anne implizierten - Zeit- und Raumgrenzen hinweg funktioniert. Die Fiktion des Briefwechsels ermöglicht eine Illusion von Dialogizität, deren Gültigkeit durch die Schriftlichkeit des Textes nicht angegriffen wird. Freilich antwortet Anne nur auf Fragen, die sie dem Leser selbst in den Mund legt: „Je hebt me gevraagd wat mijn hobby’s en interessen zijn [Du hast mich nach meinen Hobbys und Interessen gefragt]“ (633, Eintrag vom 6. April 1944). Die offensichtlich rhetorische Figur verrät eine Fixiertheit des Textes - als unveränderliche Abfolge von gedruckten Buchstaben -, gegen die sie gleichzeitig anschreibt. Sie gehört zu einer Reihe von Autorisierungsstrategien in H ET A CHTERHUIS , die den Entstehungsprozess des Tagebuchs - d.h. eine potentielle Offenheit auf der Produktionsseite - in den Vordergrund rücken. Sie beruhen auf der Authentizität des Schreibakts. „Even if narrative cannot document events,“ heißt es bei Young, or constitute perfect factuality, it can document the actuality of writer and text. The writer and his link to events may thus be reified not in the writer’s words but in the writing activity that brought words to the page. 135 Die fingierte Dialogizität des „Briefwechsels“ reflektiert die reale Verbindung zwischen Rezipient, Text und Autorin. Sie verweist auf den Lesevorgang, der in unserer Erfahrungswirklichkeit stattfindet, ebenso wie auf den Schreibakt, der sich in der (für uns abwesenden) Realität des Hinterhauses vollzieht. Dabei spielt Anne Franks Wunsch, Schriftstellerin zu werden, eine besondere Rolle. An mehreren Stellen motiviert dieser Wunsch selbstreflexive Kommentare zur Entstehung des Tagebuchs. So berichtet Anne am 29. März 1944 über den Plan, „een 135 Young 1988, 37. 179 roman van het Achterhuis“ (622) zu verfassen, der auf ihren Aufzeichnungen beruhen soll. Dieser Idee geht eine Radioansprache Gerrit Bolkesteins voraus, dem niederländischen Exilminister für Erziehung, Kunst und Wissenschaft. Seine Rede ist ein frühes Plädoyer für die Sammlung und Publikation von Kriegszeugnissen. Er argumentiert, dass Geschiedenis kan niet alleen geschreven worden op grond van officieele bescheiden en archiefstukken. Will het nageslacht ten volle beseffen wat wij als volk in deze jaren hebben doorstaan en zijn te boven gekomen, dan hebben wij juist de eenvoudige stukken noodig - een dagboek, brieven van een arbeider uit Duitschland [sic! ], een reeks toespraken van een predikant of priester. [Geschichte kann nicht nur aufgrund offizieller Unterlagen und Archivakten geschrieben werden. Soll das nachkommende Geschlecht voll und ganz begreifen, was wir als Volk in diesen Jahren mitgemacht und überstanden haben, dann brauchen wir gerade die einfachen Schriftstücke - ein Tagebuch, Briefe eines Arbeiters aus Deutschland, die Ansprachenreihe eines Pfarrers oder Priesters]. 136 Im Mai 1944 beginnt Anne Frank, die zuvor entstandenen Einträge für eine Veröffentlichung umzuarbeiten. Bis August, dem Monat ihrer Verhaftung, verfasst sie eine zweite Version des Tagebuchs. Sie deckt den Zeitraum bis zum 29. März 1944, dem Tag nach der Ansprache, ab. Otto Frank hat seine Ausgabe von H ET A CHTERHUIS aus diesen beiden Fassungen und Annes verhaaltjesboek (einer Sammlung von Kurzgeschichten) kompiliert. Die Übergänge zwischen den einzelnen Texten wurden bei der Veröffentlichung nicht markiert. So konnte der Eindruck eines einzigen - von Anne Frank selbst autorisierten - Tagebuchs entstehen. Erst 1986 hat das niederländische Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie eine kritische Ausgabe der Tagebücher vorgelegt. Die kritische Edition druckt Anne Franks erstes Tagebuch als Fassung a, die von ihr selbst überarbeitete Version als Fassung b und die Kompilation aus beiden Varianten, die posthum veröffentlicht wurde, als Fassung c. Bei einem Vergleich von a- und b-Fassung fällt auf, dass die Überarbeitung des Tagebuchs durch Anne kaum inhaltliche Dinge betrifft. Allerdings verschiebt sich der Fokus des Tagebuchs. Die revidierte Version räumt Politik und Zeitgeschehen mehr, der Romanze mit Peter hingegen weniger Platz ein. Otto Franks Zusammenstellung (Fassung c) re-integriert fast alle gestrichenen Passagen über die Schwärmerei seiner Tochter. Ich behandle die Frage, wie sich H ET A CHTERHUIS autorisiert, an dieser Fassung, die bis heute die größte Popularität besitzt, weil sie als das Tagebuch der Anne Frank wahrgenommen wird. 137 136 Zit. nach van der Stroom 2004, 69. Vgl. dazu Annes Tagebucheintrag vom 29. März 1944 (Frank 2004, 622-625). 137 Zu den Veränderungen zwischen den einzelnen Fassungen vgl. Caplan 2004. 180 Für meine Analyse sind vor allem stilistische Änderungen interessant, die in die publizierte Ausgabe übernommen wurden. Anne verteilt einige ihrer längeren Einträge auf zwei Tage; und verbindet sie mit Sätzen wie „Morgen vervolg [Morgen mehr]“ (256) oder „Net word ik geroepen [Eben werde ich gerufen]“ (263). Auch die späteren, nicht mehr überarbeiteten, Tagebucheinträge der a-Fassung sind diesem Stil verpflichtet. 138 Die eingearbeiteten Unterbrechungen lassen den Inhalt des Tagebuchs unangetastet. Sie stellen - im Gegensatz zu den dagboekbrieven über Politik - keine Ereignisse dar, sondern reflektieren den brüchigen Schreibprozess. Auf Grundlage des pacte autobiographique, der die Erzählerin an die Autorin bindet, inszenieren die Unterbrechungen Annes liminale Position zwischen Text und Realität. Dem dienen auch Stellen, die über ihre Gefühlslage beim Verfassen des Tagebuchs berichten: „Mijn hand trilt nog, hoewel de schrik die we hadden al weer twee uur voorbij is [Meine Hand zittert noch von dem Schreck, den wir hatten, obwohl schon zwei Stunden vorbei sind]“ (323), beginnt der Eintrag vom 20. Oktober 1942. Die folgenden Sätze beschreiben den Schrecken en detail: die „Hinterhäusler“ haben Angst, von einem Handwerker entdeckt worden zu sein. An erster Stelle, vor der Beschreibung, steht jedoch die körperliche Reaktion der Autorin, welche die zeitliche wie räumliche Nähe zwischen Niederschrift und Ereignis akzentuiert. Der Abstand des Textes zur Realität wird nicht durch Annes Darstellung, sondern durch ihre „zitternde Hände“ verkürzt, d.h. durch die Illusion einer noch frischen Zeugenschaft. Wie stark diese Illusion beim Leser sein kann, zeigt das Beispiel der Literaturwissenschaftlerin Sue Vice, die sich in einer Studie mit C HIL- DREN W RITING THE H OLOCAUST (2004) beschäftigt. Philippe Lejeune folgend, definiert sie das Tagebuch als Praxis, bei dem der eigentliche Text zum Nebenprodukt wird. Es geht ihr demnach um die körperliche Spur des Mädchens, die in ihrer Handschrift erhalten bleibe: A striking instance of such a ‘trace’ is perceptible in the very handwriting of an entry by Anne Frank, which begins, ‘My hand’s still shaking’. Frank’s fear at hearing someone knocking on the attic door continues to affect not just the moment, but the mark, of writing itself, two hours later. 139 Anders als diese Analyse glaubt, waren jedoch keine zwei Stunden, sondern zwei Jahre vergangen, als Anne Frank den zitierten Satz niederschrieb. Er stammt aus der b-Fassung, in der ersten Version heißt es 138 Vgl. Caplan 2004, 79: „The proximity of this date to Bolkstein’s broadcast two days later may be a sad coincidence (if we follow Gerrold van der Stroom’s assumption in his foreword to the Critical Edition that she had only reached this point when she was captured), or it might lead us to speculate whether the entries in the a-text after this point were written with publication in mind, and thus did not require further revision.“ 139 Vice 2004, 136-137. 181 lapidar: „Gisteren hebben we nog een reuze schrik gehad [Gestern bekamen wir schon wieder einen Riesenschrecken]“ (323). Es ist paradoxerweise Annes Überarbeitung, die dem Tagebuch die Illusion einer größeren Unmittelbarkeit verleiht. Sie entsteht aus der zeitlichen Verkürzung (gestern, zwei Stunden), einer lebhafteren Beschreibung und der stärkeren Personalisierung der Zeugeninstanz (wir, meine Hände). Deshalb ist Barbara Chiarellos Einschätzung zu widersprechen, die a-Fassung des Tagebuchs wirke „more truthful because Anne wrote it for herself“ statt für ein Lesepublikum. 140 Im Gegenteil sind die Autorisierungsstrategien, welche die Autorin im Hinblick auf eine mögliche Publikation einsetzt, wesentlicher Bestandteil der Authentizitätsillusion des Tagebuchs. Sie folgen der Bewegung der Zeugin „zu sich selbst“, 141 die H ET A CHTERHUIS inszeniert und explizit an den Schreibakt bindet. Erstens erklärt es die Schrift, wie gesagt, zum einzigen Ort, an dem die „wahre Anne“ Gestalt annehmen kann. Zweitens findet die reale Überarbeitung des Tagebuchs ihren Ausdruck in einer fiktiven Lektüreszene, die ihm erst die b-Fassung einschreibt: „Toen ik vanmorgen niets te doen had, bladerde ik eens in mijn dagboek [Als ich heute morgen nichts zu tun hatte, blätterte ich mal in meinem Tagebuch].“ (481, Eintrag vom 2. Januar 1944). Die Erzählerin/ Autorin weist jene Anne, vor der sie sich erschrickt, ins Jahr 1943 zurück: Ik heb geprobeerd de Anne van een jaar geleden te begrijpen en ten verontschuldigen [...]. Dit dagboek heeft voor mij veel waarde, omdat het vaak een memoiren boek is geworden, maar op vele bladzijden zou ik wel ‚voorbij’ kunnen zetten... [Ich habe versucht, die Anne von vor einem Jahr zu verstehen und zu entschuldigen ... Dieses Tagebuch hat für mich viel Wert, weil es ein Memoiren-Buch geworden ist, aber auf viele Seiten könnte ich schon ‚Vorbei’ setzen]. (481) Weil die „alte Anne“ lediglich durchgestrichen, aber nicht aus dem Text gelöscht wird, entsteht der Eindruck, man könne ihre Entwicklung zu ihr selbst - d.h. zu einer größeren Unmittelbarkeit und Authentizität - im Präsens des Tagebuchs, in der zeitlichen Abfolge der Briefe mitverfolgen. Obwohl sich diese Entwicklung auf dem Papier vollzieht, verweist sie auf einen Prozess, der „in Wirklichkeit“ stattfindet. Diese Rückbindung wird durch Anne Franks Alter, das Alter der Pubertät, noch bekräftigt: So konnte eine psychologische Deutung des 140 Chiarello 1999, 87. 141 Vgl. den Tagebucheintrag vom 15. Juli 1944 (Frank 2004, 733), in dem es auch um Annes Fähigkeit zur „Selbstbetrachtung“ geht: „ik wou niet als meisje-zoalsalle-anderen, maar als Anne-op-zichzelf behandeld worden [Ich wollte nicht als Mädchen-wie-alle-anderen, sondern als Anne-für-sich-selbst behandelt werden].“ 182 Tagebuchs, wie sie der Dichter John Berryman unternommen hat, „the conversion of the child into a person“ erkennen. 142 Das Tagebuch beglaubigt sich primär über die reflektierte (Selbst-) Darstellung Anne Franks. Sie verleiht ihrer Figuration eine liminale Position zwischen den Ereignissen und dem literarischen Text, die sie als authentische Zeugin tatsächlich innehatte. Der Unterschied zwischen den beiden Instanzen wird von einer strukturellen Ebene (der mort de l’auteur) in die abwesende Realität übertragen. Deshalb spielt das mediale Dispositiv des Tagebuchs nur insofern eine Rolle, als es Annes Selbstwahrnehmung für andere - für Kitty und für uns - sichtbar macht; dass es Autorin und „literarische Figur“ notwendig trennt, bleibt dabei ausgeblendet. Es scheint, als ob die Differenz zwischen der „wahren Anne“ und deren Figurationen in der Realität angelegt und lediglich einer zeitlichen Abfolge verpflichtet sei: Die Zeugin ändert den Blickwinkel auf sich und die Dinge, die sie wahrnimmt, aber sie bleibt, und wird immer mehr, sie selbst. Damit verbunden ist die Illusion einer bruchlosen Kontinuität zwischen abwesender Zeugin und Autorfigur. Diese unterstützt die optimistische Lesart auch deshalb, weil sich die Entwicklung zur „wahren Anne“ als ein Reifeprozess darstellt: Die „Anne van een jaar geleden“ (481) war zwar voller Hass, doch ihr Leben führte „een heel andere Anne dan die, die hier nu wijs geworden is [eine ganz andere Anne als die, die nun hier vernünftig geworden ist]“ (560, Eintrag vom 7. März 1944). „Alternately jaded and optimistic“, schreibt James Young, „Anne’s diary reflects both the darkness around her and her own compulsion to be - and therefore, it seems, to see - good.“ 143 Aber auch die kritischen Lesarten z.B. Ozicks oder Bettelheims werden über Franks Entwicklung beglaubigt. Im Gegensatz zur optimistischen Interpretation begreifen sie die Lagererfahrung als Wendepunkt auf diesem Weg zur „Anne-op-zichself“. Das Tagebuch beschreibt demnach die Realität, wie sie seine Autorin zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrnimmt. Der Fehler der optimistischen Lesart bestünde lediglich darin, diese subjektiv beglaubigte Wahrheit auf die Realität der Konzentrationslager zu übertragen. Annes Weg zu sich selbst, wie ihn H ET A CHTERHUIS darstellt, bleibt - auch, was die Schriftstellerei betrifft - immer auf die Zukunft bezogen; eine Zukunft, von der wir wissen, dass sie ihr geraubt wurde. „Ik weet dat ik kan schrijven“, notiert das Mädchen am 4. April 1944, een paar verhaaltjes zijn goed, mijn Achterhuisbeschrijvingen humoristisch, veel uit mijn dagboek spreekt, maar... of ik werkelijk talent heb, dat staat nog te bezien. […]. Ik wil verder komen, ik kan me niet voorstellen, dat ik zou moeten leven zoals moeder, mevrouw Van Daan en al die vrouwen, die 142 Berryman 1976, 93. 143 Young 1988, 27. 183 hun werk doen en die later vergeten zijn. Ik moet iets hebben naast man en kinderen, waar ik me aan wijden kan! Ik wil nog voortleven ook na mijn dood! [Ich weiß, dass ich schreiben kann. Ein paar Geschichten sind gut, meine Hinterhausbeschreibungen humoristisch, viel spricht aus meinem Tagebuch, aber... ob ich wirklich Talent habe, muss die Zukunft zeigen. ... Ich will weiterkommen. Ich kann mir nicht vorstellen so leben zu müssen wie Mutter, Frau van Daan und alle die anderen Frauen, die ihre Arbeit tun und die später vergessen sind. Ich muss neben Mann und Kindern etwas haben, dem ich mich ganz widmen kann! Ich will noch fortleben nach meinem Tod]. (631) Die Entwicklung zur Autorin und zur „Anne-op-zichself“ findet ihren Abschluss jenseits des Tagebuchs. Seine Autorisierungsstrategien inszenieren das Schreiben als Medium des (Über-)Lebens. Sie konstituieren eine autorisierende Instanz, die den verlassenen Platz der authentischen Zeugin zwischen Ereignis und Niederschrift wieder einnimmt. Der Text wird weniger über seinen Inhalt als über die illusorische Nähe zwischen Wahrnehmung, Schreib- und Leseakt autorisiert. Das Tagebuch folgt dem Autorisierungsmodell, das ich an Wiesels L A N UIT entwickelt habe, gerade in dieser Betonung von performativer Körperlichkeit und liminaler Position der autorisierenden Instanz. Das Schweigen, das dort als Ideal der Zeugenschaft erscheint wird hier auf paradoxe Weise gewendet: Die testimoniale Autorität des Tagebuchs und deren Bearbeitungen für Film und Bühne ist damit verbunden, dass Anne Frank diejenige ist, die aus dem Schweigen und der Abwesenheit heraus mit ihrer „eigenen Stimme“ zu sprechen scheint. Weil die Autorisierungsstrategien von H ET A CHTERHUIS auf diesen Ort des Schweigens verweisen, können sich die unterschiedlichen Figurationen, die für die abwesende Zeugin existieren, als singuläre Wahrheiten beglaubigen. Der Erfolg des Tagebuchs, schreibt Hanno Loewy, rühre auch aus dem Umstand her, dass Anne Frank „als real Verschwundene, gewaltsam Ausgelöschte ihrer fortwährenden idealisierte Wiederauferstehung nicht im Wege stehen kann.“ 144 144 Loewy 1998, 20. 185 Zeugenschaft zwischen Repräsentation und „Verkörperung“ Das Haupt der Medusa Wenn Primo Levi über die Untergegangenen der Shoah spricht, bezieht er sich - in einem Nebensatz von I S OMMERSI E I S ALVATI - auf die antike Mythologie. Seinem Konzept der Zeugenschaft entsprechend, sind die „wahren Zeugen“ des Holocaust (die testimoni veri oder integrali) durch Abwesenheit gekennzeichnet: Es sind jene Opfer, die nicht, oder nur schweigend, aus den Lagern zurückgekehrt sind. Die wahren Zeugen haben, wie Levi schreibt, den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt, d.h. sie waren einer unmöglichen Erfahrung bis zum Ende ausgesetzt. Sie erreichten einen Zustand, der - selbst wenn sie ihn überlebten - nicht zu leben war, und den sie deshalb niemals mitteilen können. Um diese Unmöglichkeit zu umschreiben, bemüht Levi die mythische Figur der Medusa. Dabei handelt es sich um eine der drei Gorgonen: die Töchter aus der Beziehung zwischen dem Meeresgott Phorkys und seiner Schwester Keto. Dem Mythos zufolge wird jeder, der die Gorgonen anschaut, zu Stein verwandelt. Deshalb kann niemand, der die Medusa je von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, Zeugnis von dieser Begegnung ablegen: „Chi lo ha fatto, chi ha visto la Gorgone, non è tornato per raccontare, o è tornato muto [Wer das getan hat, wer die Gorgo gesehen hat, ist nicht zurückgekommen, um zu berichten, oder er ist stumm zurückgekehrt]“, schreibt Levi. 1 Der Mythos erzählt aber von einer List, mit der Perseus - als er ausgesandt war, die Medusa zu töten - seine Gegnerin betrachten konnte ohne dabei zu erstarren. Statt die schlafende Medusa direkt anzublicken, schaute er ihr Spiegelbild in seinem blank geputzten Schild an. Auf diese Weise sah Perseus, wohin er mit seinem Schwert schlagen musste, um das Ungeheuer zu enthaupten. Diese Szene lässt sich so deuten, dass die Repräsentation - die Spiegelung Medusas - etwas sichtbar macht, was sich als Wirklichkeit nicht erfahren lässt. Eine solche Lesart des Mythos’ bietet der Kulturwissenschaftler Siegfried Kracauer 2 in seiner T HEORY OF F ILM , die 1960 zum ersten Mal veröffentlicht 1 Levi 2003, 64. 2 Kracauer wird heute vornehmlich als Vertreter einer realistischen Filmtheorie wahrgenommen. Sein Schaffen lässt sich jedoch nicht auf die Schriften zum Kino reduzieren. Es beinhaltet soziologische Arbeiten (D IE A NGESTELLTEN , 1929), kulturhistorische Versuche (J ACQUES O FFENBACH UND DAS P ARIS SEINER Z EIT , 1937) sowie Romane (G INSTER , 1928). Kracauer selbst wollte, dass man ihn dem deut- 186 wurde. 3 Es entspricht dem Stil von Kracauers Arbeit, dass er seine Interpretation mit dem Anschein des Selbstverständlichen versieht: The moral of the myth is, of course, that we do not, and cannot, see actual horrors because they paralyze us with blinding fear; and that we shall know what they look like only by watching images of them which reproduce their true appearance. (305; meine Hervorhebung) Laut der T HEORY OF F ILM kann das Kino - und nur das Kino - solche Bilder liefern, die uns die „wahre Erscheinung“ der Welt vor Augen führen. Die Filmleinwand wird zum Spiegel auch der unzugänglichen Natur, und somit dem Schild des Perseus ähnlich: „of all existing media the cinema alone holds up a mirror to nature“ (305). Kracauer benutzt hier die Spiegelmetapher, um eine „Reflexion“ im doppelten Wortsinn anzudeuten. Die Kamera wird zum Zeugen der Dinge, die der Mensch ohne ihre Hilfe nicht wahrnehmen kann. Dabei handelt es sich z.B. um Phänomene, die das Bewusstsein überwältigen. Kracauer nennt „elemental catastrophes, the atrocities of war, acts of violence and terror, sexual debauchery, and death“ (57). Indem das Kino erstens diese Dinge spiegelt, ermöglicht es dem Betrachter zweitens, sie bewusst zu reflektieren. Bei einer direkten Beteiligung oder Zeugenschaft würde ihm das Bewusstsein dafür fehlen. Film enthüllt aber auch die unscheinbaren Momente des täglichen Lebens. Ihnen räumt Kracauers Denken, von den frühen Aufsätzen aus der Weimarer Republik bis zu jenen Arbeiten, die - wie die T HEORY - in den Vereinigten Staaten entstanden sind, großen Raum ein. Es scheint mir keine falsche Selbsteinschätzung - und mehr als der Versuch, einem disparat wirkenden Textkorpus rückblickend Kontinuität zu verleihen - wenn Kracauers letztes Werk eine entsprechende Fokussierung unternimmt. Dem posthum veröffentlichten Geschichts-Buch H ISTORY : T HE L AST T HINGS BEFORE THE L AST (1969) steht eine autobiographische Notiz vor, die das „lebenslange“ Projekt des Autors folgendermaßen umreißt: „The rehabilitation of objectives and modes of being which still lack a name and hence are overlooked or misjudged.“ 4 Zu den verkannten Gegenstandsbereichen zählt er „Geschichte“ ebenso wie Phänomene der Massenkultur, allen voran Kino und Photographie. Durch den Versuch ihrer Rehabilitierung geraten jene unscheinbaren Wirklichkeitselemente ins Blickfeld, zu denen die photo- schen Nachkriegspublikum als „Kulturphilosophen oder auch Soziologen, und als einen Poet dazu“ vorstellt (zit. nach Koch 1996, 11). 3 Der englischsprachigen Ausgabe folgte 1964 eine von Friedrich Walter und Ruth Zellschan besorgte Übersetzung ins Deutsche. Kracauer hat diese Übersetzung selbst revidiert. Deshalb greife ich bisweilen auf sie zurück. Wo nicht anders angegeben, zitiere ich aus der amerikanischen Originalfassung (Kracauer 1997). Verweise auf diese Ausgabe werden im Text, mit Seitenzahlen in Klammern, belegt. 4 Kracauer 1969, 4. 187 graphischen Medien, laut Kracauer, eine spezielle Beziehung unterhalten. Für die T HEORY OF F ILM lässt sich diese Beziehung besonders deutlich an der Behandlung der Kameratechnologie erklären. Auf ihrer Grundlage enthüllt der Film Dinge, die zu gewöhnlich oder zu flüchtig sind, als dass der Mensch sie sähe. Die Zeitlupenaufnahme „expands movements too fast to be registered“, während der Zeitraffer Bewegungen sichtbar macht, die angeblich zu langsam für die menschliche Wahrnehmung ablaufen (52). Beide bringen bisher unerkannte (Alltags) Realitäten zur Anschauung, die sonst, so Kracauers, dem Vergessen anheim fielen. Für ihn begründet diese Sichtbarmachung des Unsichtbaren die „erlösende“ bzw. „rettende“ Kraft des Kinos, die seinem Buch den Untertitel gibt: T HE R EDEMPTION OF P HYSICAL REALITY . Bei allen Unterschieden in der Gewichtung spielen schon Kracauers frühe Arbeiten mit der Idee, dass „die Wirklichkeit“ im Ephemeren oder „Unsichtbaren“ zu finden sei. Sein Aufsatz zum O RNAMENT DER M ASSE (1927) beginnt mit den viel zitierten Worten, dass der „Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt [...] aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen“ und anhand ihrer „unbeachteten Regungen“ zu bestimmen sei. 5 Ausgehend vom Beispiel der Tillergirls, einer in den Zwanzigern beliebten Form des populären Tanztheaters, stellt Kracauer Überlegungen zum Verhältnis von Ornament und Masse an. Die Tillergirls seien „keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind“. 6 Ihr „Massentanz“, der präzise aufeinander abgestimmt sei, bringe ein Ornament zustande, das sie nicht sehen könnten, und das sich ihrer „Bewusstseinsimmanenz“ entziehe. Insofern mache das Ornament ein Muster für den Betrachter sichtbar, das im Unbewussten der bildenden Masse liege. 7 Ebenfalls aus dem Jahr 1927 stammt eine Artikelserie, die typische Motive des Unterhaltungskinos als „kritischen Spiegel“ der Gesellschaft liest. Dieser „Spiegel“ decke ihre „eigentliche Realität“ auf, indem er „sonst unterdrückt[e] Wünsche“ in „blödsinnigen und irrealen Filmphantasien“ gestalte. 8 Dem Ornament ähnlich machen Filme eine unsichtbare und unbewusste Wirklichkeit sichtbar. Das erinnert bereits an die T HEORY OF F ILM . Dort spiegelt Kino sowohl traumatische Realitäten, wie Medusas Haupt in Perseus’ Schild, als auch die „Wunder“ des täglichen Lebens. Im Vorwort verwendet Kracauer das Bild einer Pfütze, welche die Schönheiten (marvels) einer gewöhnlichen Vorstadt- 5 Kracauer 1977, 50. Meine Hervorhebung. 6 Kracauer 1977, 50. 7 Vgl. Kracauer 1977, 51-52. 8 Kracauer 1977, 280. Es handelt sich um eine Artikelserie, die unter dem Namen D IE KLEINEN L ADENMÄDCHEN GEHEN INS K INO bekannt ist. Beim Erstdruck hieß sie F ILM UND G ESELLSCHAFT . 188 straße zur Anschauung bringt: „invisible house façades and a piece of the sky“ (li; meine Hervorhebung). Der Akzent liegt hier jedoch anders als in den Weimarer Essays. Zum Zeitpunkt der T HEORY scheint das gesellschafts- oder ideologiekritische Moment der Reflexion fast vollständig verschwunden zu sein. An der Art, wie Kracauer Spiegelmetaphern verwendet, würden sich manche der Differenzen und Ähnlichkeiten herausarbeiten lassen, die es zwischen den frühen und späten Schriften des Kulturwissenschaftlers gibt. Ich möchte die häufig diskutierte Frage nach einem „Bruch“ in seinem Werk hier weitgehend ausklammern; 9 und mich auf die T HEORY OF F ILM konzentrieren. Der Untertitel des Buchs, T HE R EDEMPTION OF P HYSICAL R EALITY , bezieht sich auf die bereits erläuterte Idee, dem Kino falle eine „enthüllende“ Aufgabe zu. Dieser Glaube an die aufklärerische Funktion des Mediums - dass Filme nicht nur wiedergeben, was wir ohnehin sehen, sondern die Natur in einem Maße erforschen, wie es dem Menschen unmöglich ist - begleitet die Filmtheorie seit deren Anfängen. Sie findet sich, um nur zwei Beispiele zu nennen, auch bei Walter Benjamin oder Dziga Vertov. Der russische Regisseur fordert in seinen Manifesten, die Kamera als ein mechanisches Auge, als „Kinoglaz“ einzusetzen. Sie soll das „Chaos von visuellen Erscheinungen“ erforschen, das der Mensch allein nicht durchblicken würde. „Unsere Augen“, schreibt Vertov 1923, „können wir nicht besser machen als sie sind; die Kamera jedoch können wir unendlich vervollkommnen.“ 10 Walter Benjamin geht seinerseits vom Vokabular der Psychoanalyse aus, wenn er die Idee eines Optisch-Unbewussten entwickelt, das bloß der Film zur Anschauung bringe. „Es [ist] eine andere Natur, die zu der Kamera als die zum Auge spricht“, heißt es im Aufsatz über D AS K UNSTWERK IM Z EITALTER SEINER T ECHNISCHEN R EPRODUZIERBARKEIT (1936). 11 Während der Raum des Menschen mit Bewusstsein durchwirkt sei, könne der technische Apparat noch erfassen, was jenem entgehe, z.B. die Haltung eines Spaziergängers „im Sekundenbruchteil des Ausschreitens.“ 12 Gerade wenn die Kamera ihre „Hilfsmittel“ einsetze, so Benjamin, würden Strukturen sichtbar, die sonst notwendig verborgen (d.h. unbewusst) blieben: „Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.“ 13 In der T HEORY OF F ILM bleiben die Ausführungen zum Unbewusst- Unsichtbaren eng an einen utopischen Entwurf gebunden. Er betrifft 9 Einen Überblick zu dieser Diskussion bietet Mülder-Bach 1990. 10 Vertov 1973, 16. 11 Benjamin 1991b, 500. 12 Benjamin 1991b, 500. 13 Benjamin 1991b, 500. 189 die Entdeckung des Universellen und Schönen, das durch die photographischen Medien sichtbar wird. Mit diesem Motiv hebt Kracauers Buch im Vorwort an und zu ihm kehrt es zurück. Sein letztes Kapitel feiert Edward Steichens internationale Photoausstellung The Family of Man, weil diese eine Vision des Allgemein-Menschlichen in Bildern aus dem täglichen Leben zeige. Darüber hinaus nutze sie den Evidenzcharakter der Photographie, d.h. deren „Affinität“ zum Realen, um die Vision zu beglaubigen: One of the reasons for the world-wide response to [the] exhibition must be laid precisely to the fact that it consists of photographs - images bound to authenticate the reality of the vision they feature. (310) An rund fünfhundert Photographien, die aus über sechzig Ländern zusammengetragen wurden, arbeitet Steichens Ausstellung am Mythos der conditio humana. Die Sammlung ordnet ihre Bilder in wenige Kategorien wie Liebe, Geburt oder Tod: Sie suggeriert, dass diese Dinge überall und für alle Zeiten gleich seien. Dadurch inszeniert The Family of Man eine Einheit aus dem Pluralismus des Menschlichen: Alle werden zu einer großen Familie. 14 Kracauer nennt einige Filmbeispiele, von denen er glaubt, dass sie den Weg zu dieser Vision („a common life of mankind on earth“) ebenfalls sichtbar machen, u.a. denkt er an die Apu-Trilogie des indischen Regisseurs Satyajit Ray (310f.). Die Rückkehr zur Utopie, die das Filmbuch in seiner thematischen Kreisbewegung vollzieht, ist jedoch trügerisch. Das liegt kaum an der mehrdeutigen Wortwahl „to authenticate the reality of the vision.“ Wenn man die Formulierung aus ihrem Kontext löst, kann sie zwei Dinge meinen: Erstens, dass die von Steichen gesammelten Photographien „tatsächliche“ Wirklichkeit enthüllen und beglaubigen. Oder zweitens, dass sie diese Realität durch einen Authentizitätseffekt behaupten. In seiner Gesamtheit betrachtet unterstützt Kracauers Filmbuch die erste Auslegung des Satzes. Dennoch wird die Familien-Utopie am Ende gebrochen. Dafür gibt es weniger subtile Anzeichen als nur eine Ambivalenz in der Wortwahl. Die Family of Man ist einer Reihe von vier filmischen Vorschlägen (cinematic propositions) zugeordnet, die die Frage nach dem „spirituellen Leben“ betreffen 14 In seinen M YTHOLOGIES (1957) hat Roland Barthes eine entsprechende Kritik an Steichens Ausstellung vorgenommen: „[On] babelise à plaisir l'image du monde […], puis de ce pluralisme on tire magiquement une unité: l'homme naît, travaille, rit et meurt de la même façon“ (Barthes 2002a, 806). Barthes wendet sich gegen den Mythos von der conditio humana, weil er soziale Ungerechtigkeit in einer quasi-theologischen Perspektivierung aufhebe: Wenn alle Menschen eine identische „Natur“ besitzen, existiert Ungleichheit nur auf der formalen Ebene. Der Philosoph fordert einen neuen Humanismus, der „Natur“ historisiert, statt sie auf den Grund der Geschichte zu setzen. Für eine ideologiekritische Untersuchung der Family of Man vgl. auch Hirsch 1997, 48-77; siehe außerdem - in direktem Bezug auf Kracauer - Schlüpmann 1998, 117-120. 190 (309). In dieser Reihe nimmt sie den meisten Platz ein. Die anderen Propositionen werden mit insgesamt einem Paragraphen abgehandelt. Dennoch, trotz ihrer Marginalisierung, schreiben sie dem Schlusskapitel eine negative Weltsicht ein - quasi als Gegenentwurf zur Utopie der Gemeinschaft. Von den vier Beispielen, die Kracauer wie zufällig wählt, entsprechen lediglich Steichens Family of Man (und die damit verknüpften Filme) einer optimistischen Weltanschauung. Bei den anderen Vorschlägen handelt es sich erstens um „the shelterless individual in quest for sympathy and purpose“ (310). Mit diesem Motiv verbindet die T HEORY den italienischen Filmemacher Federico Fellini. Anschließend zählt sie Louis Buñuel auf, und dessen „involvement in the cruelties and lusts which fill the lumber rooms of our existence“ (310). Der dritte Vorschlag aus Kracauers Reihe wird Georges Franju zugeschrieben. Das ist insofern signifikant, als die T HEORY OF F ILM den französischen Regisseur erst wenige Seiten zuvor eingeführt hat; und zwar mit direktem Bezug auf den Medusen-Mythos. Sein Dokumentarfilm über einen Pariser Schlachthof - L E S ANG DES B ETES (1950) - wird dort als Beispiel für „Spiegelbilder des Grauens“ genannt, in einem Atemzug mit Aufnahmen aus den Konzentrationslagern (306). Kracauers Schlusskapitel macht die folgende „Proposition“ in Franjus Filmen aus: Sie würden von einem Entsetzen angesichts des Abgrunds zeugen, der unser tägliches Leben sei, the kind of dread which befalls an adolescent who awakes by night and suddenly realizes the presence of death, the togetherness of pleasure and slaughter… (310) Unmittelbar bevor Kracauer auf die Utopie der Gemeinschaft zu sprechen kommt, evoziert diese Szene ein - untergründig mit ihr verbundenes - Gegenbild. Seine Überlegungen zur Family of Man können den Abgrund des täglichen Lebens nicht schließen. Der Paragraph, der die ersten Propositionen aufzählt, findet kein Ende. Drei Auslassungszeichen (...) halten ihn in der Schwebe. 15 Das Entsetzen über den Tod bleibt im Beieinander von „Lachen und Schlachten“, so die deutsche Übersetzung, gegenwärtig. 16 Schon die Wortwahl, im Englischen kaum minder drastisch (pleasure and slaughter), deutet an, dass hier nicht die Binsenweisheit vom Tod gemeint ist, der irgendwie zum Leben gehöre. Die Furcht vor dem Abgrund, dem „abyss that is everyday life“ (310), bezieht sich auf eine konkrete historische Erfahrung, nämlich die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Kracauer hat das 15 Meine Lesart soll nicht verschleiern, dass sich diese Auslassungspunkte auch als et cetera übersetzen lassen, d.h. es gibt mehr Möglichkeiten, wie Filme die Frage nach dem „spirituellen Leben“ beantworten. Die T HEORY OF F ILM macht hier klar, dass sie nur Beispiele nennt. Zu Beginn des Absatzes heißt es: „The range of equally legitimate propositions is inexhaustible“ (310). 16 Vgl. Kracauer 1994, 401. 191 nationalsozialistische Deutschland 1933 verlassen. Die Flucht führte den Intellektuellen jüdischer Herkunft zunächst nach Frankreich. Später ging er in die USA (es war die selbe Flucht, die seinen Freund Walter Benjamin in den Selbstmord trieb). 1941 kommen Elisabeth und Siegfried Kracauer im Hafen von New York an. Sie werden nie mehr dauerhaft nach Deutschland zurückkehren. Obwohl das Schlusskapitel der T HEORY OF F ILM die Shoah nicht explizit erwähnt, stellt der Text einen deutlichen Bezug zu ihr her. Er tut das, indem er seine dritte Proposition mit Franjus Schlachthof-Film L E S ANG DES B ETES verbindet. Die Art, wie Kracauers Buch diesen Film behandelt, gibt ihm eine starke Resonanz zu den Aufnahmen, die bei der Befreiung der Konzentrationslager gemacht wurden. Da ist zunächst eine inhaltliche Parallele, die durch die Polysemie des Wortes slaughter hervorgehoben wird. Der Begriff kann sich sowohl auf die gezielte Tötung von Tieren (als Nahrungsmittel) als auch auf die sinnlose Ermordung von Menschen beziehen. 17 Das Schlusskapitel verstärkt diese Offenheit dadurch, dass es die „togetherness of pleasure and slaughter“ von der reinen Schlachthof-Referenz wegrückt. Dafür sorgt die narrative Einbettung in den Alptraum eines Jugendlichen, der nachts erwacht und der Präsenz des Todes - dem Nebeneinander von Lachen und Schlachten - gewahr wird. Franjus Dokumentarfilm zieht keine Parallele zwischen der industriellen Massentötung von Tieren und dem „Mord an Millionen durch Verwaltung“ (Adorno). 18 Auch Kracauer tut das nicht. Doch er stellt die Aufnahmen aus dem Schlachthof auf eine Ebene mit den Bildern aus den Konzentrationslagern. Es sind dies die einzigen Beispiele, an denen er seine Auslegung der Medusen-Szene erprobt. Dabei bringt Kracauer geschlachtete Kälber und die Körper geschändeter Menschen in einem Satz zusammen: „the rows of calves' heads or the litter of tortured human bodies in the films made of the Nazi concentration camps…“ (306). Diese Reihung und der Verweis auf Franju im Schlusskapitel wenige Seiten später machen die Extremsituation der Shoah zu einem möglichen Referenten für den Abgrund, der das tägliche Leben ist. Ihr Schock begleitet und untergräbt die Utopie der Family of Man. Er erinnert daran, dass Kino zwei Szenarios des optisch Unbewussten enthüllt. Der Franju-Film fungiert als Scharnier zwischen ihnen. Er bindet die „marvels“ an den „abyss“ des täglichen Lebens. Dieser Abgrund liegt auf einer tieferen Ebene des Unsichtbar-Unbewussten, denn er betrifft Phänomene, die Bewusstsein und Vorstel- 17 Laut Oxford English Dictionary gibt es drei Hauptbedeutungen für slaughter: 1. „The killing of cattle, sheep, or other animals for food“; 2. „The killing or slaying of a person; murder, homicide, esp. of a brutal kind“; 3. „The killing of large numbers of persons in war, battle, etc.; massacre, carnage.“ 18 Das Adorno-Zitat ist der N EGATIVEN D IALEKTIK entnommen. Vgl. Adorno 2003c, 355. 192 lungskraft des Menschen an deren Grenzen treiben. Neben der indirekten Referenz im Schlusskapitel behandelt Kracauer diese an zwei Stellen der T HEORY : Es sind die Ausführungen zum „Haupt der Medusa“ und ein Kapitel über Phenomena Overwhelming Consciousness. In jenem Kapitel spricht der Kulturwissenschaftler über Tod, Naturkatastrophen, Krieg, Gewalttaten und „ausschweifende“ Sexualität (sexual debauchery). Solche Ereignisse würden im Menschen „excitements and agonies“ hervorrufen, welche die Zeugenschaft destabilisiert: „No one witnessing such an event, let alone playing an active part in it, should therefore be expected accurately to account for what he has seen“ (57). Wie bei Benjamin zeigt uns die Kamera, was dem menschlichen Bewusstsein entgeht. Sie wird zum einzigen Zeugen, der die Ereignisse zuverlässig darstellen kann: „Only the camera is able to represent them without distortion“ (57). Aus diesem Grund zählt Kracauer traumatische Ereignisse zu den spezifisch filmischen Gegenständen (cinematic subjects). Um seine These zu untermauern, führt er an, dass die Kinogeschichte unzählige Beispiele kenne, in denen Mord, Gewalt und Unglücksfälle auf die Leinwand gebracht würden. Es ist bemerkenswert, dass Kracauer nicht streng zwischen Dokumentar- und Spielfilm unterscheidet. T HE E XECUTION OF M ARY , Q UEEN OF S COTS (1895), eine frühe Produktion Thomas Edisons, beschreibt er, als ob es sich um die historische Hinrichtung handle: „The executioner cuts off her head and holds it in his uplifted hand so that no spectator can possibly avoid looking at the frightful exhibit“ (57). Obwohl sie inszenierte Szenen zeigen, behandelt Kracauer auch fiktive Filme hinsichtlich einer Sichtbarmachung des Realen. Seiner Meinung nach zwingen sie den Zuschauer, Bilder des Schrecklichen in sich aufzunehmen, als ob es Ereignisse aus dem „wahren“ Leben wären: „[They] impress them on him as real-life events recorded by the imperturbable camera“ (58). Ich werde später auf die Grenzüberschreitung zwischen dokumentarischem und inszeniertem Material zurückkommen, deren Möglichkeit Kracauer hier in Aussicht stellt. 19 Zunächst genügt es festzuhalten, dass er sowohl Spielals auch Dokumentarfilmen eine welterschließende Kraft zuschreibt: „In acquainting us with the world we live in, the cinema exhibits phenomena whose appearance in the witness stand is of particular consequence“ (304f.). Kino spiegelt die Dinge, die wir fürchten, und integriert sie ins Erfahrbare. Darin gleicht die Leinwand dem Schild des Perseus, das ihm den „wahren Anblick“ der Medusa zeigt - ohne dessen tödliche Konsequenz. Im Zusammenhang mit dieser Metapher spricht die T HEORY OF F ILM explizit von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Die Bilder, die bei deren Befreiung gemacht wurden, stellen - zusammen mit Georges Franjus Aufnahmen aus den Pariser Schlachthöfen - die maß- 19 Siehe unten, S. 210-212. 193 geblichen Beispiele dar, an denen Kracauer die „mirror reflections of horror“ behandelt: In experiencing the rows of calves' heads or the litter of tortured human bodies in the films made of the Nazi concentration camps, we redeem horror from its invisibility behind the veils of panic and imagination. (306) Das fasst eine Argumentationskette zusammen, die sich, nach dem bisher Gesagten, in wenigen Worten skizzieren lässt: Es gibt Phänomene, deren wahre Gestalt dem menschlichen Bewusstsein unbegreiflich bleibt; das Kino kann sie aber - als einziges Medium - reproduzieren und in den „Zeugenstand“ bringen. Seine „enthüllende“ Kraft basiert darauf, dass es der Natur einen Spiegel vorhält: „Cinema alone holds up a mirror to nature“ (305). Dieser Spiegel macht sichtbar, was sonst verborgen bliebe. In ihm kann der Mensch all jene Phänomene wahrnehmen, die ihm „in Wirklichkeit“ entgehen. Dabei setzt Kracauer Sehen und Erfahrung gleich. Wer einen Film über die Konzentrationslager anschaut, erfährt deshalb das Grauenhafte, in experiencing the litter of tortured human bodies. Die deutsche, von Kracauer durchgesehene, Übersetzung der T HEORY macht diesen Punkt noch deutlicher: „Wenn wir [...] erblicken - und das heißt: erfahren.“ 20 Wo andere Kunstformen nur eine Vorstellung des Phänomens inszenieren, kann Film, gemäß dieser Sichtweise, eine Begegnung mit dem Realen bieten. Dieses Treffen befreit das Reale aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Angst und Phantasie (behind the veils of panic and imagination). Das ist der Vorgang, den die T HEORY als redemption bezeichnet. Bis heute bleibt jedoch umstritten, was dieser Begriff in Kracauers Spätwerk meint. Die deutsche Übersetzung gibt ihn abwechselnd als „Errettung“ oder „Erlösung“ wieder. Die erste Möglichkeit überwiegt zumindest in der Wahrnehmung, schon deshalb, weil sie sich an prominenter Stelle des Buches findet: Der deutsche Untertitel lautet „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit.“ Zum „Haupt der Medusa“ heißt es aber, dass wir das Grauen erlösen. 21 Die Worte „Erlösung“ und „Errettung“ bilden so ein Begriffspaar, das dem Konzept der redemption, wie es die T HEORY OF F ILM verwendet, eine Benjaminsche Färbung zu geben scheint. Bekanntermaßen entwirft Walter Benjamins Geschichtsphilosophie das Programm einer „rettenden Kritik“. 22 Sie sprengt das Kontinuum der überlieferten Geschichte auf, um „unterdrückte Vergangenheit“ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das ist möglich, weil Vergangenheit für Benjamins historisches Denken nicht abgeschlossen ist. Sie „führt einen heimlichen Index mit, 20 Kracauer 1994, 396. 21 Vgl. Kracauer 1994, 396. 22 Zum Begriff der „rettenden Kritik“ vgl. Habermas 1972. 194 durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.“ 23 Dieser Anspruch richtet sich an die Lebenden. Sie können tradierte Geschichte, die den Interessen der „herrschenden Klasse“ verpflichtet bleibt, „gegen den Strich [...] bürsten“. 24 Das ruft Ereignisse ins Gedächtnis, die von der Überlieferung ausgeschlossen sind. Eine solche - rettende - Geschichtskritik nutzt, was Benjamin als „schwache messianische Kraft“ bezeichnet, insofern sie von immer neuem an der „Erlösung“ arbeitet. Der „erlösten Menschheit“ stünde die Vergangenheit vollends zur Verfügung: Keiner ihrer Momente wäre mehr unterdrückt. 25 In Abwesenheit dieses utopischen Zustands versucht Benjamins Geschichtsschreiber die spezifische Konstellation zu erkennen, die zwischen diesen Gegenwart und einer früheren Epoche herrscht. 26 Jede Generation muss sich der Vergangenheit von neuem versichern, um deren Anspruch auf Erlösung nicht zu verraten: „Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“ 27 Diesem Geschichtsverständnis korrespondiert eine anamnetische Solidarität mit den Toten, die Benjamin in der jüdischen Tradition des „Eingedenkens“ vorgeprägt findet. Sie kann vergangenes Unrecht nicht ungeschehen machen, aber zumindest virtuell - über die Öffnung der Gegenwart zur messianischen Zeit hin - versöhnen. 28 Eine ähnliche Denkfigur lässt sich in Kracauers Interpretation der Medusen-Szene ausmachen. Auch hier kommt das versöhnungsästhetische Motiv einer Erlösung durch Erinnerung zum Tragen. 29 Perseus’ Heldentat habe nämlich nicht darin bestanden, den Kopf der Medusa abzuschlagen. Im Mythos ist es so, dass deren Enthauptung dem Schrecken kein Ende setzt. Die Göttin Athene, der Perseus den eroberten Kopf überreicht, verwendet ihn fortan, um ihre Feinde zu erschrecken: „Perseus, the image watcher, did not succeed in laying the ghost for good“ (305). Daraus folgert Kracauer, dass der Sinn von Schreckbildern - auch im Kino - nicht darin liege, auf eine konkrete Handlung zu verweisen. Vielmehr erschienen diese Bilder um ihrer Selbst willen: The mirror reflections of horror are an end in themselves. As such they beckon the spectator to take them in and thus to incorporate into his memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality. (306) 23 Benjamin 1991d, 693. Das Zitat stammt aus Benjamins zweiter These Ü BER DEN B EGRIFF DER G ESCHICHTE (1940). Zum Vorangegangenen vgl. 702-703 (16. u. 17. These). 24 Vgl. Benjamin 1991d, 695 (6. These) u. 697 (7. These). 25 Vgl. Benjamin 1991d, 694 (2. u. 3. These). 26 Vgl. Benjamin 1991d, 704 (Anhang A). 27 Benjamin 1991d, 695 (5. These). 28 Vgl. Benjamin 1991d, 704 (Anhang A u. B) sowie Habermas 1998, 26. 29 Zur „versöhnungsästhetischen Rettungsfigur“ vgl. Koch 1996, 137-139. 195 In der T HEORY OF F ILM besitzt Kino eine medienspezifische Fähigkeit, schreckliche Ereignisse durch Spiegelung sichtbar zu machen. Ohne filmische Zeugenschaft blieben sie der Wahrnehmung entzogen, meint Kracauer, weil sie der menschlichen Vorstellungskraft flöhen. Erst die photographischen Medien würden uns die Erfahrung des Grauen ermöglichen, zum Beispiel anhand der Leichenbilder aus den Konzentrationslagern. Damit legen Film und Photographie den Grundstein für die Erlösung vor dem Unsichtbar-Unbewussten. Diese Rettung zielt nicht auf die unmögliche Aufhebung des Grauens, sondern in einer ähnlichen Bewegung wie bei Benjamin darauf, das Unterdrückte („behind the veils of panic and imagination“) erinnerungsfähig zu machen, „to incorporate into [...] memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality“ (306). Filmtheorie „nach Auschwitz“ - Kracauer und das Primat des Optischen Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, deren Buch D IE E INSTELLUNG IST DIE E INSTELLUNG (1992) von visuellen Konstruktionen des Judentums handelt, beschäftigt sich in einem Kapitel mit Kracauers Überlegungen zu Bildern des Schrecklichen. Sie argumentiert, dass seine Theorie der redemption an dieser Stelle eine innere Grenze erreiche. Koch identifiziert diese Grenze mit Kracauers „Primat des Optischen vor dem Begrifflichen, der Anschauung vor der Vermittlung.“ 30 Fallen Blick und Erfahrung im oben beschriebenen Sinn zusammen, muss das Grauen visualisierbar sein, um „erlöst“ zu werden. Die T HEORY entfaltet ein komplexes Konzept der filmischen Sichtbarmachung, bei dem Sichtbarkeit jenseits der Leinwand eine sekundäre Rolle spielt: Film rettet auch, und gerade das, was der Mensch nur mit dessen Hilfe wahrnehmen kann. Trotzdem treffen Kochs Bedenken einen kritischen Punkt. Gemäß Kracauers Theorie ermöglichen die Bilder aus den Konzentrationslagern eine Zeugenschaft der Shoah, die „in Wirklichkeit“ nicht gelingt. Dieser Argumentation eignet ein grundsätzliches Problem: Wenn er über den „litter of tortured human bodies“ spricht, heftet Kracauer die - wiewohl medial vermittelte - Zeugenschaft an einen optischen Impuls, der in der „physischen Realität“ ankert. Die Binnengrenze seiner T HEORY OF F ILM scheint da erreicht, wo das, was sichtbar werden soll, vernichtet und aus der physischen Realität gerissen wurde. „Der Konkretismus der Anschaulichkeit“, schreibt Koch, „sperrt sich 30 Koch 1992, 131. Zum „Primat des Optischen“ bei Kracauer siehe ferner Adorno 2003b, 392 u. 408. 196 von innen her gegen das, was die Massenvernichtung ausmachte.“ 31 Kracauers Argumentation impliziere eine grauenvolle Hierarchie [...] von den Leichenbergen derer, die noch so lange überlebten bis ihre toten Körper in Bildern eingefangen wurden, bis zu denen, die im buchstäblichen Sinn sich in Feuer und Rauch aufgelöst haben, ohne eine visuelle Erinnerungsspur rettend nach sich gezogen zu haben. 32 Vor diesem Hintergrund scheint das Konzept der redemption dann besonders prekär, wenn es im Sinne einer Erlösung durch das Bild verstanden wird (d.h. als Kopplung der Benjaminschen Rettungsfigur an ein Primat des Optischen). Kracauers Ausführungen zum „Haupt der Medusa“ legen diese Deutung nahe. Sie ist jedoch, wie gesagt, keineswegs unumstritten - und das aus gutem Grund. Diskutiert wird der tatsächliche Einfluss Benjamins auf die T HEORY OF F ILM . Kracauer war über das Werk seines Altersgenossen gut unterrichtet. Beide kannten sich seit ihrer Frankfurter Zeit, und haben die Schriften des jeweils anderen mit Rezensionen bedacht. 33 Aber in der T HEORY OF F ILM findet Benjamin kaum Erwähnung; nur einmal nimmt das Buch Bezug auf den K UNSTWERK -Aufsatz. Dabei wird die Idee des Optisch-Unbewussten weder genannt noch mit dem eigenen Ansatz in Verbindung gebracht (48). Die persönliche Nähe zwischen Benjamin und Kracauer ermöglicht Spekulationen darüber, ob Benjamin im Filmbuch weitgehend fehlt, oder ob dies lediglich seinen Namen ausspart. Damit ist die Frage verbunden, inwiefern er Kracauers Konzept der redemption beeinflusst. Extrempositionen in dieser Hinsicht vertreten Dagmar Barnouw und David Rodowick. Für den Filmwissenschaftler ist noch die Ablehnung, auf die Kracauers amerikanische Schriften gestoßen sind, an das Verhältnis zu Benjamin gebunden. Der heute ungleich bekanntere Philosoph sei erstmals 1969 ins Englische übertragen worden. 34 Aus dem gleichen Jahr stammt Kracauers posthum veröffentlichtes Geschichtsbuch H ISTORY : T HE L AST T HINGS BEFORE THE L AST . Diese Konstellation erlaubt Rodowick - in Bezug vor allem auf den letzteren Text, aber auch hinsichtlich der T HEORY - ein „historisches Paradoxon“ zu unterstellen: „Kracauer seems to take for granted lessons from Benjamin of which his time and place were not yet aware.“ 35 Die ablehnende Haltung gegenüber Kracauers Schriften aus den Sech- 31 Koch 1992, 137. 32 Koch 1992, 137. 33 Vgl. Z U DEN S CHRIFTEN W ALTER B ENJAMINS (1928), wiederabgedruckt in Kracauer 1977, 249-255; sowie Benjamins E IN A UßENSEITER MACHT SICH BEMERKBAR (1930) (= Benjamin 1991a). 34 Vgl. den - von Hannah Arendt edierten - Band I LLUMINATIONS (Benjamin 1999). Als Jahr der Erstveröffentlichung ist dort, abweichend von Rodowick, 1968 angegeben. 35 Rodowick 2001, 143. 197 zigern ließe sich dann damit erklären, dass „the context of Benjamin [...] is needed to understand Kracauer and, in certain respects, to read him against himself.“ 36 Dagmar Barnouw bezieht die gegensätzliche Position. Sie verwendet weite Strecken ihrer Studie zu Kracauers C RITICAL R EALISM (1994) darauf, ihn aus dem Kontext der Benjamin-Rezeption zu lösen. Als (Neu-)Übersetzung für redemption schlägt Barnouw das deutsche Wort „Einlösung“ vor, dem sie die englischen Begriffe „reclamation“ bzw. „retrieval“ zuordnet. Die Rettung der äußeren Wirklichkeit durch den Film müsse bei Kracauer im Sinne einer „photographic reclamation as retrieving“ verstanden werden, d.h. by making visible, what is (was) present and should not therefore be lost. His interest, unlike Benjamin’s, is focused not on an a priori significance of the insignificant but rather on restoring to its proper significance what has become […] insignificant. 37 Es geht mir hier weniger um Barnouws Benjamin-Lesart als um den Kontrast, den diese zwischen Benjamin und Kracauer aufbaut. Sie stellt eine überhistorische Bedeutung des Unterdrückten (a priori significance) gegen ein Konzept der Insignifikanz, das die Verdrängung ins Bedeutungslose auf der geschichtlichen Ebene ansiedelt. Demnach beschäftigt sich Kracauer mit dem, „what has become [...] insignificant“, sei es durch menschliches Vergessen, Unaufmerksamkeit oder - darauf geht Barnouw allerdings nicht ein - im Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen. Auf diese Weise versucht die Literaturwissenschaftlerin, Kracauers Idee der redemption von deren potentiell theologischen Obertönen (als „Erlösung“) zu befreien; und im Sinne einer Einlösung neu zu formulieren. Damit komme ich auf das Schlusskapitel der T HEORY OF F ILM zurück, von dem die eben angestellten Überlegungen ihren Ausgang genommen haben, genauer gesagt auf das Verhältnis, das Utopie (The Family of Man) und Trauma (The Head of Medusa) in Kracauers Text eingehen. Wie man dieses Verhältnis versteht, hängt nämlich eng mit der Frage zusammen, wo sein Begriff der redemption im Spannungsfeld zwischen Erlösung und Einlösung positioniert wird. Die Gewichtung zwischen Trauma und Utopie steht dabei nur bedingt zur Debatte. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass das Trauma zugunsten der Utopie marginalisiert wird, auch wenn es im Schlusskapitel - wie ich gezeigt habe - untergründig fortwirkt. Die Frage betrifft eher den Grund dieser Marginalisierung. Koch, die eine tiefe Verwandtschaft zwischen Kracauers und Benjamins „Rettungsgedanken“ sieht, liefert 36 Rodowick 2001, 143. Damit ließe sich freilich nicht erklären, warum das Buch auch in der Bundesrepublik auf Ablehnung gestoßen ist. Zur deutschen Rezeptionsgeschichte vgl. Lethen 1990. 37 Barnouw 1994, 55. 198 eine erste mögliche Antwort: „Kracauer“, glaubt sie, „versuchte sich selbst im Primat des Optischen treu zu bleiben, während de facto kein Stein mehr auf dem anderen lag.“ 38 Pointiert gesprochen: Obwohl die Welt „nach Auschwitz“ undarstellbar geworden ist, will Kracauer sie weiterhin durch deren Bild erlösen. Um dieser Aporie zu entgehen, stellt er die „zentralen Fragen der Ästhetik nach Auschwitz nur nebenbei, auf Umwegen [...]. Auch das konnte Kracauerscher Eigensinn sein.“ 39 Ich möchte hier eine andere, bzw. eine anders akzentuierte Antwort versuchen. Sie knüpft an die vier Propositionen zum „spirituellen Leben“ an, die das Schlusskapitel der T HEORY OF F ILM aufzählt. Helmut Lethen schreibt über diese Vorschläge, dass sie „Landschaften der Melancholie [entwerfen], die eine magische Anziehungskraft auf Instanzen der Gnade, der List der Vernunft oder der Therapie“ erzeugen würden. 40 Mit anderen Worten: Sie wollen erlöst oder versöhnt werden. Eine Ausnahme bildet lediglich die vierte Proposition (zu Steichens Family of Man), welche die Idee der Erlösung „in ihrer Selbstgenügsamkeit ab[wehrt]. Denn sie ist keine Denkfigur des Mangels.“ 41 So gesehen vertrete die Metapher der Familie einen „radikaleren Gestus“ als die ersten drei Propositionen. Die ersten drei Propositionen sind auf Dinge gerichtet, die sich einem oberflächlichen Blick entziehen. In dieser Hinsicht ist Kracauers Sprache bezeichnend. Sie verlegt die Orte, an denen die Wahrnehmung jener Phänomene stattfindet, ins Abseits: Es sind z.B. die „Rumpelkammern“ (lumber rooms) der Existenz, die mit Lust und Grausamkeit gefüllt sind; oder die Nacht, in welcher der Abgrund des Lebens aufblitzt (310). Die Family of Man hingegen zeigt sich an der Oberfläche: in jenen Gebräuchen und Gesten, von denen Steichens Ausstellung behauptet, dass sie allen Menschen gleich seien. Die Kamera beglaubigt diesen Blick auf die Welt. Sie muss aber nichts mehr, im Sinne der Erlösung, retten: Die Ähnlichkeit der Bilder macht eine Ähnlichkeit der Menschen sichtbar, die sich selbst - als angeblicher Ausdruck der conditio humana - genügt. Auf diese Weise kommt „redemption“ dem Konzept der Einlösung nahe, wie Dagmar Barnouw es beschrieben hat. Der a-historische Fluchtpunkt, den sie mit dem Rettungsgedanken Benjamins verknüpft, wird jedoch nicht aufgegeben. Als zeit- und kulturübergreifende conditio humana verlagert er sich lediglich in die Immanenz der Family of Man. Für Lethen ist das der „radikale Gestus“ der vierten Proposition: „Daß sie des Sinns nicht entbehrt! Daß sie die Erde 38 Koch 1992, 137. Zur „tiefen“ Verwandtschaft zwischen Benjamin und Kracauer vgl. Koch 1996, 139. 39 Koch 1992, 137. 40 Lethen 1990, 220. 41 Lethen 1990, 220. 199 [...] als unsere Wohnstätte begreifen läßt! “ 42 Seiner Ansicht nach wird Kracauers Alterswerk von einem „Blick der stoischen Gelassenheit“ geprägt, der sich auf die Welt richte, wie sie nun einmal sei. Die historischen Traumata, die nicht nur Kracauers Welt seit 1933 erschüttert haben, bleiben dabei weitgehend ausgeblendet. 43 Lethen betrachtet die drei Propositionen, die ich als Spur jener Traumata begreife (und am Beispiel Franjus durch den Text verfolgt habe), nur am Rande. Sie geraten ihm ausschließlich als Gegenentwurf zum vierten Vorschlag in den Blick. So baut Lethen eine binäre Opposition auf, der sich Kracauers Schlusskapitel letztendlich entzieht. Obwohl es der Family of Man den meisten Platz einräumt, und diese in seinen Titel aufnimmt, weist es die mit dieser Struktur verbundene Hierarchisierung zurück. Im Text wird ihr widersprochen. Die T HEORY gesteht allen Vorschlägen die gleiche Legitimität zu: „All attempts to establish a hierarchy among these propositions [...] have proved futile so far“ (309). Als Ausdruck ihres Fortwirkens in die Utopie hinein habe ich oben die Fortsetzungspunkte interpretiert, die vor der vierten Proposition stehen. Statt eine feste Grenze zwischen Trauma und Family of Man zu ziehen, weichen sie diese eher auf. Von Lethen übernehme ich die Idee, dass Kracauers Hinwendung zur Utopie einen „radikalen Gestus“ birgt. Vor dem Hintergrund jener Grenzerweichung verstehe ich diese „Radikalität“ jedoch auf andere Weise. Sie liegt nicht in der Selbstgenügsamkeit der Utopie, wie Lethen glaubt, sondern vielmehr darin, dass Kracauer die Erlösungsfigur „nach Auschwitz“ suspendiert. Das Trauma aber bleibt bestehen, auch am Ende der T HEORY OF F ILM . Die Fortsetzungspunkte deuten an, dass es auf der Nachtseite, als „abyss that is every day life“ (310), in den Tagtraum der „Family of Man“ hineinragt. 44 Die „kleine“ Utopie von der conditio humana muss nur deshalb genügen und sich selbst genug sein, weil das Trauma auf keinen Fall erlöst werden kann. Aus diesem Blickwinkel erscheint Kracauers Marginalisierung der Shoah nicht darin begründet, dass er um jeden Preis am „Primat des Optischen“ festhält. Die Struktur seines Schlusskapitels erlaubt es, die Hinwendung zur Utopie als Reflex auf eine traumatische Geschichte 42 Lethen 1990, 220. 43 Lethen zitiert den Absatz über die KZ-Bilder; allerdings im Zusammenhang mit der westdeutschen Rezeptionsgeschichte der T HEORY . Es geht ihm darum, dass Textstellen wie diese in den 1960er Jahren überlesen wurden. Vgl. Lethen 1990, 197. Obwohl sein eigener Aufsatz die Kategorie der „Sichtbarkeit“ bei Kracauer behandelt, geht Lethen nicht weiter auf die „Bilder des Grauens“ ein. Auf diese Weise wiederholt er die Verdrängung, die er für die Rezeptionsgeschichte des Buches darstellt. 44 Die Rede von Tag und Nacht entspricht den Metaphern, die das Schlusskapitel der T HEORY OF FILM einsetzt, wenn sie den „Schrecken“ in die Rumpelkammern der Existenz und den nächtlichen Alptraum des Heranwachsenden verschiebt. 200 zu lesen, für die diese Bewegung keine Versöhnung bereithält. Ihr Verhältnis zum Trauma ist ein resignatives. Sie kann lediglich - ohne Erfolg - versuchen, dessen Präsenz zu verdrängen. Kracauers Auslegung des Medusen-Mythos hat Kino als den Ort etabliert, an dem eine bewusste Zeugenschaft der Shoah gelingen kann. Über die Nennung Franjus spielt das Schlusskapitel auf diese Möglichkeit an, um sich anschließend, durch Auslassungspunkte verbunden und getrennt, der Family of Man zuzuwenden. Diese Bewegung klammert Auschwitz weder aus noch erlöst sie es in den Universalien der Menschheit. Untergründig problematisiert sie die Darstellbarkeit des Undarstellbaren, ohne das Projekt seiner Sichtbarmachung aufzugeben. Bei Kracauer wird das Primat des Optischen auf diese Weise zur Möglichkeitsbedingung und Grenze der filmischen Repräsentation „von“ bzw. „nach“ Auschwitz. Dem entspricht ein Konzept der redemption, das weder Einnoch Erlösung ist, sondern zwischen beiden Aspekten oszilliert. Dieser Befund lässt sich durch einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der T HEORY OF F ILM erhärten und genauer erklären. Der Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen kommt das Verdienst zu, die - in das Jahr 1940 zurückreichenden - Vorarbeiten zu Kracauers Text und seine verschiedenen Fassungen miteinander verglichen zu haben. Hansens Studie ist Teil eines größeren Projekts, das die Historisierung von Film- und Medientheorien anstrebt. Darin fokussiert Hansen die Beziehung zur institutionellen Entwicklung des Kinos, ebenso wie zu den jeweils dominanten Rezeptions- und Repräsentationsformen. 45 Eine so verstandene Theoriegeschichte kann der Tendenz des Genres „Theorie“ entgegenwirken, seine Hypothesen auf der metahistorischen Ebene anzusiedeln. 46 Hansens Unterfangen scheint meiner Interpretation von Kracauers Filmbuch besonders zuträglich. Es erlaubt, so manchen Widerspruch im gedruckten Text auf eine Spannung zwischen unterschiedlichen Textebenen zurückführen. Es geht dabei nicht darum, die inhärenten Widersprüche der publizierten T HEORY zugunsten ihrer Allgemeingültigkeit aufzulösen. Die Verankerung in der Textgeschichte soll sie, ganz im Gegenteil, stärker auf den historischen Moment fokussieren, an den die Filmtheorie Kracauers noch in ihrem Hang zur Enthistorisierung gebunden ist. Darauf hofft auch Hansen: Historicizing Kracauer’s Theory of Film involves not only reconstituting the history of the text, as a process rather than product, but also restoring the dimension of history in the text, as a missing term underlying key concepts and arguments. 47 45 Hansen 1994, 442. 46 Vgl. Hansen 1994, 443. 47 Hansen 1994, 443. 201 In ihrer Studie betrachtet die Filmwissenschaftlerin unter anderem das Verhältnis Kracauers zu Benjamin. Sie kann zeigen, dass die frühen Entwürfe und Textebenen der T HEORY durch eine größere Nähe zwischen den beiden Denkern geprägt sind als die späteren Fassungen. Hauptgegenstand von Hansens Untersuchung sind Kracauers Notizbücher, welche dieser 1940 in Marseille benutzt hat. Sie beziehen sich, anders als die veröffentlichte T HEORY , explizit auf Benjamins Konzeptualisierung von Allegorie, Schock und Melancholie. 48 Im Marseiller Entwurf wirke die Welt, die Objekt der filmischen Wiedergabe und Enthüllung ist, wie eine „landscape of ruins and corpses reminiscent of Benjamin’s book on the Baroque tragic drama [Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928].“ 49 Das wird z.B. in einer Passage deutlich, in der Kracauer über das Betrachten alter Filmaufnahmen schreibt, dass uns [ein] Schauder ergreift [...] bei ihrem Anblick. In diesem Mobiliar haben wir gehaust, gelitten? Es ist, als befänden wir uns plötzlich verwesten Teilen unseres gelebten Lebens gegenüber. 50 Außerdem macht Kracauer in dem frühen Entwurf ausführliche Notizen über „das Grauenvolle, Entsetzliche[,] Katastrophen materieller Art“ - über Phänomene, die „das Bewußtsein zertrümmern“ und „in den dunklen Tiefen der materiellen Dimension zu Hause [sind], dort, wo Druck und Stoß regieren und kein Sinn mehr hindringt.“ 51 Die Geschichte des Films sei geprägt durch eine ununterbrochene Kette von Katastrophenbildern, Szenen des Grauens, Hinrichtungen, Schilderungen des materiell Entsetzlichen - kurz, von Sensationen aller Art, die Schockwirkungen zu erzielen vermögen. [...] Die Darstellung des Grauens im Film ist aber deshalb legitim, weil der Film mit der Möglichkeit die Verpflichtung hat, die materielle Dimension bis zu ihren extremen Grenzen zu erschließen. 52 Mit wenigen Ausnahmen, z.B. dem Abschnitt über Medusa, liefert die veröffentlichte T HEORY einen freundlicheren Blick auf die Filmgeschichte und die Welt. Wie ich erläutert habe, mag dies daran liegen, dass sich die Frage nach den „extremen Grenzen“ der materiellen Dimension und ihrer Sichtbarkeit „nach Auschwitz“ anders stellt. Zwischen den beiden Fassungen von Kracauers Filmtheorie kommt es zu einer Dominantenverschiebung - weg vom Trauma, hin zur selbstge- 48 Vgl. Hansen 1994, 444. Der sogenannte „M ARSEILLER E NTWURF “ ZU EINER T HEO- RIE DES F ILMS (1940) wurde 2002 im Rahmen der von Inka Mülder-Bach besorgten Werkausgabe erstmals veröffentlicht (Kracauer 2002). 49 Hansen 1994, 458. 50 Kracauer 2002, 603. 51 Kracauer 2002, 605. Diese Passagen scheinen weitläufiger geplant, als das, was später - unter dem Stichwort Phenomena Overwhelming Consciousness - in die T HEORY OF F ILM eingeflossen ist. 52 Kracauer 2002, 605-607. 202 nügsamen Utopie einer Family of Man. „The various ways in which film engages material reality“, kommentiert Hansen den publizierten Text, „often read like a catalog of aesthetic motifs or a celebration of the marvels of everyday life.“ 53 Anders sei es in den Notizbüchern aus Marseille. Dort erscheine die Beziehung zwischen Film und Wirklichkeit „still [...] under the perspective of phenomena that push the boundaries of individual consciousness.“ 54 Auch Hansen argumentiert, dass dieser Perspektivenwandel mit der Veränderung der geschichtlichen Rahmenbedingungen zusammenhänge. „Kracauer had to rewrite this vision [das Weltbild seiner Filmtheorie]“, schreibt sie unter Bezugnahme auf Benjamins Selbstmord (1940), from the perspective of a survivor, both in the literal sense of having survived his friend’s suicide (a fate he had been seriously contemplating himself) and in a more prophetic sense of having to confront life after the apocalypse. 55 In einem frühen Essay zur P HOTOGRAPHIE (1927) formuliert Kracauer die Hoffnung, dass photographischen Medien dem Menschen die reflektierte Zeugenschaft der Todeserfahrung ermöglichen würden, insofern sie das Subjekt aus der Welt zögen: „[Nicht] der Mensch tritt in seiner Photographie heraus; sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet.“ 56 Diese „Vernichtung“ des Menschen ist - was „nach Auschwitz“ undenkbar wäre - letztlich positiv besetzt (obwohl Kracauer von einem „Frösteln“ beim Anblick alter Photographien spricht 57 ). Sie ist es, weil sie den Menschen die „Totenwelt“ 58 zeigt, deren Realität ihnen - als Bestandteil dieser Welt - bislang entging: Das naturbefangene Bewußtsein vermag seinen Untergrund nicht zu erblicken. Es ist die Aufgabe der Photographie, das bisher noch ungesichtete Naturfundament aufzuweisen. Zum ersten Mal in der Geschichte treibt sie die ganze naturale Hülle heraus, zum ersten Mal vergegenwärtigt sich durch sie die Totenwelt in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen. 59 In den Marseiller Notizbüchern ist diese Auffassung noch stark ausgeprägt. Beispielsweise schlägt sie sich in der bereits zitierten Notiz über alte Filme nieder, die das „gelebte Leben“ von außen zeigen, so dass „der heutige Betrachter [...] in ihrer Nacktheit die Seinsbestände [er- 53 Hansen 1994, 457. 54 Hansen 1994, 457. 55 Hansen 1994, 444. 56 Kracauer 1977, 32. Vgl. dazu Hansen 1994, 456: „The photograph thus in fact enables [...] a momentary encounter with mortality, an awareness of a history that does not include us.“ 57 Kracauer 1977, 32. 58 Kracauer 1977, 38 59 Kracauer 1977, 38. 203 blickt], mit denen wir damals zusammen gelebt haben“. 60 Vor allem aber zeigt sich die Ausrichtung des Films auf eine Erfahrung der „Totenwelt“ und der Sterblichkeit des Menschen in der immer wiederkehrenden Metapher des Totenkopfs: „Das Gesicht“, notiert Kracauer 1940, „gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: ‚Danse macabre’.“ 61 Im Gegensatz zur Marseiller Fassung geht die gedruckte T HEORY kaum auf den Film als mögliches Medium der Todeserfahrung ein. Nach der Shoah haben sich die Bedingungen geändert, so Hansen, „under which film could still be constructed as a publicly available medium for experiencing and reflecting on the problematics of death.“ 62 Seit den frühesten Entwürfen habe Kracauer die Beziehung von Film und Tod ans Ende seines Buches gesetzt, berichtet Hansen. Erst im Januar 1955 wurde das noch ungeschriebene Schlusskapitel verworfen. In den verschiedenen Entwurfsstufen lauteten seine Titel Kermesse funèbre, Danse macabre und The Death’s-head. 63 Die publizierte T HEORY endet mit der Family of Man. Kracauers Position zum Verhältnis von Zeugenschaft und Film, wie ich sie vor ihrem historischen Hintergrund skizziert habe, beruht auf zwei miteinander verwandten Annahmen: erstens, dass die photographischen Medien der Natur einen Spiegel vorhalten; und zweitens, dass das Kino einen Raum öffnet, in dem Sehen und Erfahrung zusammenfallen. Die T HEORY OF F ILM versucht, beide Thesen zu begründen, indem sie eine „materiale Ästhetik“ des Mediums entwickelt und mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung verbindet. Eine nähere Betrachtung dieser theoretischen Grundlagen zeigt, dass diese kein geschlossenes System bilden. Wie bereits angedeutet, verstrickt sich Kracauers Text auch hier in Widersprüche. Ihnen werde ich, insbesondere anhand der Verwendung des Spiegelmotivs, nachgehen, um die Beziehung von Zeugenschaft und (filmischer) Repräsentation noch einmal - jetzt hinsichtlich ihrer medialen Bedingungen - zu problematisieren. Dialektik des Bildes In Rudolf Arnheims F ILM ALS K UNST (1932) finden Spiegel kaum Erwähnung. Nur ein einziges Mal lässt ihnen die Studie größere Aufmerksamkeit zuteil werden. Das Kapitel Möglichkeiten der Filmtechnik listet (kinematographische) Spiegeleffekte als das Gestaltungsmittel 60 Kracauer 2002, 603. 61 Kracauer 2002, 531. 62 Hansen 1994, 468. 63 Vgl. Hansen 1994, 468. 204 schlechthin auf, um den, nach Arnheims Ansicht naiven Glauben an die Wirklichkeitswiedergabe im Film zu zerstören. Unter anderem schlägt er vor, den Reflex eines Menschen im „spiegelglatten“ Wasser zu filmen. Die Zuschauer würden zunächst vermuten, „eine normale Aufnahme zu sehen, und es könnte dann plötzlich das Wasser bewegt werden, so daß das Bild ins Zittern geriete, sich verzerrte, unkenntlich würde.“ 64 Eine solche Verwendung des Spiegeleffekts wäre bei Kracauer ebenfalls denkbar, solange er an die Realität des Wassers gebunden bliebe (und dessen Bewegungen „spiegeln“ würde). Arnheim hingegen geht es um den Effekt an sich. Er denkt dabei auch an Filme, in denen überhaupt kein Wasser vorkommt, „einfach als Mittel, eine solche Auflösung eines realen Menschen von Fleisch und Blut in ein zittriges Zerrbild zu geben.“ 65 Die Beispiele, die der Kunsttheoretiker für den Einsatz von Spiegeleffekten anführt, zielen alle auf die Verunsicherung eines Realitätseindrucks. Zur zitternden Wasserfläche gesellen sich der Blick in die „Nickelkaffeekanne“ und das Zerschlagen eines Glasspiegels. Diese Effekte sollen derart aufgebaut sein, dass die Zuschauer zunächst annehmen, eine „gewöhnliche Wirklichkeitsaufnahme“ zu sehen, bevor ihnen die Verzerrung bewusst wird. Davon erhofft sich Arnheim eine Schockwirkung, deren Heftigkeit er in seiner Diktion auszudrücken versucht: Plötzlich saust ein Stein ins Bild, zertrümmert den Spiegel, zertrümmert - für den Zuschauer - die Wirklichkeit, die Welt ... es wäre ein sehr heftiger optischer Schock! 66 Obwohl Arnheim hier das entfremdende Moment der Spiegelung betont, nämlich die Verzerrung der Wirklichkeit ins Imaginäre, beruht der von ihm beschriebene Schockeffekt auf dem vorgängigen Realitätseindruck des (filmischen) Spiegelbilds. Freilich konzeptualisiert er diesen nicht als perfekte Illusion: Arnheim zufolge empfinden wir „Gegenstände und Vorgänge auf der Leinwand zugleich als lebendig und tot, als Wirklichkeit und als bloße Färbungen der Projektionsfläche.“ 67 Der Kunsttheoretiker stellt die Filmerfahrung so dar, dass dem Geschehen auf der Leinwand ein Zwischenstatus zukommt, der an die Dualität des Spiegelbilds (zwischen Realitätsbezug und imaginärer Entfremdung) erinnert. Wenn Arnheims Filmbuch aber ausdrücklich über Spiegelbilder spricht, bezieht es sich - in jedem Beispiel - auf eine 64 Arnheim 2002, 126. 65 Arnheim 2002, 126. 66 Arnheim 2002, 127. Zum Sprachduktus in F ILM ALS K UNST schreibt Arnheim 1978, aus Anlass der deutschen Neuausgabe, dass ihn „in jenen jungen Jahren die Tagesschriftstellerei mehr [lockte] als das Laboratorium und die Fachliteratur“ (2002, 10). 67 Arnheim 2002, 41. 205 Bewegung, die das „Zwischenreich“ zum Unwirklichen hin überschreitet. Kracauers T HEORY OF F ILM geht in die umgekehrte Richtung. Das Vorwort endet mit dem Bild einer Pfütze, welche die „Schönheit“ der Welt spiegelt: „The trembling upper world in the dirty puddle - this image has never left me“ (li). Dieses Bild verbindet sich in zweifacher Hinsicht mit dem Spiegel des Kinos, wie Kracauer ihn begreift. Zum einen steht die Pfütze selbst für seine enthüllende Kraft, wenn sie „invisible house façades“ (li) sichtbar macht. Der Schmutz und das Zittern der Wasserfläche hindern sie nicht daran, diese Wirklichkeit zu zeigen. Zum anderen gehört auch die Pfütze, mit ihrer spiegelnden Verzerrung der Oberwelt, zu jenen Schönheiten, die erst der Film - als mirror of nature - entdeckt. Das Vorwort lässt nämlich offen, ob Kracauer die Pfütze auf dem Nachhauseweg vom Kino sieht, oder ob sie Bestandteil des geschauten Films war. 68 Die Entfremdung im Spiegel (das Zittern, der Schmutz) wird so gleich doppelt unterdrückt. Nicht nur behält die Pfütze ihren Realitätsbezug trotz aller Verzerrungen: Die Verzerrungen selbst werden von der realistisch gedachten Spiegelung erfasst. Sie sind möglicher Bestandteil eines Filmerlebnisses, das auf der Prämisse beruht, dass „cinema […] a mirror to nature“ sei (305). Kracauers Film fängt die Verzerrung inhaltlich auf, indem er die schmutzige Pfütze zeigt. Arnheims Film steigert sie zu einem formalen Effekt, indem er den realen Bezugspunkt - die zitternde Wasserfläche - ausblendet. Ohne ihre gemeinsame Grundlage im Dualismus des Spiegels zu leugnen, bewegen sich beide „Spiegel-Konzepte“ in gegensätzliche Richtungen. Sie besetzen konträre Punkte auf einer Skala, so dass Form und Verfremdung gegenüber Inhalt und Realitätsbezug stehen. 69 Die „Spiegel der Zeugenschaft“, um die es in diesem Teil meiner Arbeit geht, lösen den hier beschriebenen Dualismus des Spiegels - in unterschiedlicher Weise - in Richtung Realitätsbezug auf. Sie tun dies aber nicht, indem sie den verfremdenden Rahmen einfach leugnen. Vielmehr erscheint der imaginäre Raum - das Tagebuch, mit dem sich Anne Frank den Spiegel vorhält bzw. der Spiegel/ Text 70 , der bei Wie- 68 „I was still a young boy“, schreibt Kracauer, „when I saw my first film. The impression it made upon me must have been intoxicating, for I there and then determined to commit my experience to writing.“ Der Kulturwissenschaftler behauptet, sich nicht erinnern zu können, ob er das Projekt jemals ausgeführt habe. Er erinnere sich aber an den Titel, „which, back home from the moviehouse, I immediately put on a shred of paper. Film as the Discoverer of the Marvels of Everyday Life, the title read. And I remember, as if were today, the marvels themselves.“ Dann folgt die Beschreibung der Pfütze. Vgl. Kracauer 1997, li. 69 Es handelt sich bei Form und Inhalt also um keinen qualitativen, sondern einen quantitativen Unterschied: darauf weist auch Arnheim (2002, 134) hin. 70 Der Ausdruck Spiegel/ Text soll hier - in Einklang mit meiner Analyse von L A N UIT - auf die Spiegelsituation als Allegorie des Schreibens verweisen. 206 sel den Tod zum Vorschein bringt - als der einzige Ort, an dem eine Zeugenschaft des Realen möglich ist. Das begründet eine Dialektik, die ich an Kracauers Auslegung des Medusen-Mythos weiter verfolgt habe: Nur innerhalb des medialen Rahmens (auf der Leinwand, im Buch, im Spiegel) wird sichtbar, was außerhalb des medialen Rahmens - in Wirklichkeit - stattgefunden hat, doch dem Bewusstsein entzogen blieb. Nach dieser Logik verweist die imaginäre oder imaginative Darstellung immer auch auf ihr Anderes: „A novel about Treblinka“, lautet ein vielzitierter Satz Wiesels, „is either not a novel, or not about Treblinka.“ 71 Das ist die Grenzüberschreitung, die in den hier dargestellten „Spiegeln der Zeugenschaft“ behauptet wird: Ein Roman sei kein Roman, ein Film sei kein Film (wie Truffaut über N UIT ET B ROUIL- LARD schreibt 72 ), ein Tagebuch bzw. ein Theaterstück seien „wahrer“ als das Leben, das sie darstellen. Die „Spiegel der Zeugenschaft“ bewegen sich zwischen Repräsentation und „Verkörperung“, (fiktionaler) „Verzerrung“ und Realitätsbezug. Kracauers Filmtheorie macht diese Dialektik am Konzept eines Bildes fest, das in gewisser Weise kein Bild mehr ist, weil es das Reale scheinbar „körperlich“ aufnimmt: „films […] incorporate aspects of physical reality“ (40; meine Hervorhebung). In der T HEORY verbindet sich diese erste „Verkörperung“ unterschwellig mit einer zweiten, die auf den Zuschauer gerichtet ist: Indem Filme die Wirklichkeit (laut Kracauer) erfahrbar machen, schreiben sie diese Zeugenschaft „körperlich“ in die Erinnerung des Zuschauers ein. Ihre Aufgabe sei „[to] incorporate into his memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality“ (306; meine Hervorhebung). Diese Bewegung einer doppelten „Verkörperung“, die mit der Dialektik des Bildes eng verbunden ist, soll an den medialen Grundlagen dargestellt werden, die Kracauer für die filmische Zeugenschaft des Realen behauptet. Anschließend möchte ich sie - in einer kurzen Analyse von Claude Lanzmanns Film S HOAH (1985) - auf das Autorisierungsmodell beziehen, das an Wiesels L A N UIT herausgearbeitet wurde und das paradigmatisch für die „Spiegel der Zeugenschaft“ zu sein scheint. Der Dualismus des Spiegels drückt sich in der Gegenüberstellung von Arnheim und Kracauer als Differenz zwischen Form/ Verfremdung und Inhalt/ Realitätsbezug dar. Das entspricht einer Dichotomie zwischen „Wesen“ und „Sprache“ des Kinos, welche die klassische Filmtheorie formuliert und in unterschiedlichen Dominantsetzungen verfolgt. Auf der einen Seite stehen primär formalistische Theorien, die 71 Wiesel 1990, 7. 72 Vgl. den Satz von Truffaut (1956, 30), den ich im Kapitel über Elie Wiesel zitiert habe: „Si ce film est un film, il est Le film et les autres ne sont plus que de la pellicule impressionnée.“ 207 den „expressiven“ Aspekt des Mediums, oft am Beispiel der Montage, betonen. Der Filmwissenschaftler J. Dudley Andrew spricht von der „Formative Tradition“, zu der er unter anderem Arnheim, Béla Balázs und Sergej Eisenstein zählt. Den Gegenpol bildet die „Realist Theory“, die bei dem Filmwissenschaftler durch Bazin und Kracauer vertreten wird. 73 In seiner Unterscheidung der klassischen Filmtheorien wiederholt Andrew - darin durchaus beispielhaft - eine Aufteilung, die Kracauer in der Filmgeschichte verwirklicht findet. Die T HEORY OF F ILM spricht einerseits von der welterschließenden „realistischen“ Tendenz, die sie mit den Brüdern Lumière verknüpft. Auf der anderen Seite sieht sie die formgebende „formative tendency“, als deren Prototyp die T HEORY Georges Méliès ausmacht - einen Regisseur, „who gave free rein to his artistic imagination“ (30). Während sich formalistische Theorien vor allem den Gestaltungsmitteln (der Sprache) des Films widmen, richten realistische Theorien ihren Fokus auf den Inhalt; und/ oder beschäftigen sich mit der „Ontologie“ des kinematographischen Bildes: mit der Beziehung zum Dargestellten sowie dem Realitätseindruck, den es beim Zuschauer hinterlässt. 74 Der jeweils andere Pol wird dabei als notwendiger Bestandteil des Mediums anerkannt, seine Bedeutung jedoch heruntergespielt. Demgemäß akzeptiert auch die T HEORY , dass sich in Filmen „realistic and formative tendencies“ finden (30); inszeniert aber den Unterschied zwischen ihnen als Mediendifferenz. Das ist möglich, weil sich die Filmtheorie Kracauers, wie schon erwähnt, im Rahmen einer „materialen Ästhetik“ entfaltet. Sie setzt voraus „that the achievements within a particular medium are all the more satisfying aesthetically if they build on the specific properties of that medium“ (12) - also im Falle der photographischen Medien auf der (von Kracauer behaupteten) Fähigkeit, Natur zu spiegeln (305). Der Glaube an die Spiegelfunktion des Kinos beruht auf der Annahme, dass Film wesentlich eine Erweiterung der Photographie sei: „It therefore shares with this medium a marked affinity for the visible world around us“ (xlix). Diese Affinität gründet in einer „Verdinglichung der Wahrnehmung“, wie Heide Schlüpmann formuliert. Die Filmwissenschaftlerin zieht eine Verbindung zwischen Kracauers T HEORY und dem frühem Traktat zum D ETEKTIV -R OMAN (1922-25). Als „Held der Aufklärung“ repräsentiere der Detektiv das Verlangen zu Sehen, das Schlüpmann mit Kracauers Begehren als (Film-)Kritiker 73 Vgl. Andrew 1976. In seinen Standardwerken über Filmtheorie hat Andrew viel zur Abwertung Kracauers beigetragen, dessen Realismuskonzept er - im Vergleich mit Bazin - herabsetzt: „ Bazin’s notions of standard perception derive from Bergson and Sartre and are substantially more complicated than Kracauer’s naive realism“ (Andrew 1984, 19). 74 Vgl. Sobchack 1992, 5 u. Diederichs 2001, 7. 208 gleichsetzt. 75 Die Artikelserie D IE K LEINEN L ADENMÄDCHEN GEHEN INS K INO ist von der Hoffnung geprägt, dass Kritiker die Reflexionskraft des Publikums stärken können. Es würde dann die eigene Situation im Spiegel des Kinos erkennen. Kracauer schreibt: „Der Inbegriff der Filmmotive ist zugleich die Summe der gesellschaftlichen Ideologien, die durch die Deutung dieser Motive entzaubert werden.“ 76 Seine erste amerikanische Veröffentlichung - F ROM C ALIGARI TO H ITLER (1947) - reagiere auch darauf, dass diese Hoffnung enttäuscht wurde, so Schlüpmann. 77 Noch interpretiert Kracauer Filme als Spiegel sozialer und psychologischer Verhältnisse, aber der Nationalsozialismus hat den Glauben an eine rettende Kraft der Kritik zerstört. Gerade die letzten Sätze des Buches lassen sich als Protokoll des Scheiterns lesen: Since Germany thus carried out what had been anticipated by her cinema from its very beginning, conspicuous screen characters now came true in life itself. [...] It all was as it had been on the screen. The dark premonitions of a final doom were also fulfilled. 78 Die Zeichen waren da, doch sie wurden nicht entzaubert. Schlüpmann argumentiert, dass es auch eine Folge der Desillusionierung sei, wenn die T HEORY OF F ILM den „Spiegel des Detektivs [und Kritikers] durch den des Kameraapparats“ ersetzt. 79 Obwohl die „verdinglichte Wahrnehmung“ auf den Zuschauer gerichtet bleibt, erscheint sie zunächst im Materiellen, in der Technik. Es geht nicht darum, ideologische Konstrukte zu enthüllen, sondern um eine direkte Beziehung zwischen Apparat und Wirklichkeit. Diese wäre von keiner Subjektivität - z.B. der des Filmemachers - verstellt. Nach Kracauers Ansicht können Film und Photographie ihr Rohmaterial ausstellen (exhibit) statt es, wie alle anderen Künste, zu verbrauchen (consume). Dieser Punkt wiegt so schwer in der T HEORY OF F ILM , dass er ständig wiederholt wird. 80 Hansen übersetzt das Konzept der Ausstellung in eine semiotische Begrifflichkeit, wenn sie schreibt, dass es die „indexical dimension of film“ betone, the trace of a material bond with the world represented (the camera having been there at a certain point in time, light rays having linked the object with the photochemical emulsion for fractions of a second). 81 Als Index wird das photographische Bild zur Spur seines Referenten, der an ihm haften bleibt. 82 Bei Kracauer ist es diese Art der Verbindung, 75 Vgl. Schlüpmann 1998, 21. 76 Kracauer 1977, 282. „Die Filme“, heißt es zu Beginn der Artikelserie, „sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft“ (Kracauer 1977, 279). 77 Vgl. Schlüpmann 1998, 22. 78 Kracauer 2004, 272. 79 Schlüpmann 1998, 22. 80 Vgl. Kracauer 1997, z.B. l, 10, 18, 34, 39, 68, 96 u. 302. 81 Hansen 1997a, viii. 209 die die filmische Affinität zum Realen garantiert. Ihr gegenüber ist die Ikonizität des Bildes, im Sinne einer Ähnlichkeit zum Referenten, lediglich sekundär. 83 Das begründet den Unterschied von Film und Photographie zu dem, was Kracauer die „traditionellen Künste“ nennt. Ihm zufolge können Theater, Literatur und Malerei eine Ähnlichkeit mit der physischen Realität anstreben. Sie bleiben jedoch immer von der Wirklichkeit getrennt, deren Abbildung sie versuchen: „They are free creations rather than explorations of nature“ (39). Das liegt daran, dass sie einer künstlerischen Subjektivität und Formgebung notwendig unterworfen sind. Natur zu erforschen heißt bei Kracauer aber, sie im Rohzustand wahrzunehmen - bevor der Mensch diesen mit Bedeutung überzieht. Es ist der Vorteil der Technik, dass sie „nature in the raw“ treffen kann, „nature as it exists independently of us“ (18). Wenn Rudolf Arnheim Film zu Kunst erklärt, richtet er sich gegen die Auffassung, dass dieser „nichts [tut] als einfach mechanisch die Wirklichkeit zu reproduzieren.“ 84 F ILM ALS K UNST untersucht, wie „Filmbild“ und „Wirklichkeitssehbild“ voneinander abweichen, um die Gestaltungsmittel des Mediums - d.h. seine künstlerische Qualität - aus diesen Differenzen zu bestimmen. Kracauer geht umgekehrt vor. Er wendet die Kritik, dass Filme keine Kunst seien, ins Positive. Gerade darin liege deren ästhetische Qualität. Weil Film die Natur mechanisch reproduziere, müsse er sie, im Gegensatz zum „traditionellen“ Kunstwerk, nicht verbrauchen. „In the work of art nothing remains of the raw material itself“, schreibt Kracauer, or, to be precise, all that remains of it is so molded that it implements the intentions conveyed through it. In a sense, the real-life material disappears in the artist’s intentions. (300) Demzufolge ist es dem „traditionellen“ Kunstwerk unmöglich, dem Primat der Formgebung - der Verwandlung von „Natur“ in „Bedeutung“ - zu entkommen: „Due to its rise from interpretable human intentions and circumstances, the meanings inherent in it can virtually be ascertained“ (20). Film und Photographie unterscheiden sich, „they are art with a difference“ (302), weil ihre Verbindung zum Rohmaterial verdinglicht ist. Im photographischen Bild reproduziert die Kamera, aufgrund einer chemischen Reaktion, was vor ihrer Linse geschieht. Daraus schließt Kracauer, im Einklang mit Benjamin und Vertov, dass der Apparat auch erfasse, was dem Bewusstsein entgehe. Deshalb wird Film - für die T HEORY - nicht dadurch zur Kunst, dass er den Intentionen eines Künstlers folgt. Seine ästhetische Qualität besteht im Gegenteil darin, jede schöpferische Intentionalität zu überschreiten; denn die Index-Verbindung zum Rohmaterial ist laut Kracauer die spezifische 82 Vgl. Barthes 2002d, 793. 83 Vgl. Hansen 1997a, xxv. 84 Arnheim 2002, 24. 210 Eigenschaft der photographischen Medien. Dementsprechend postuliert die T HEORY , da sie sich als materiale Ästhetik versteht, dass filmische Filme ihre formgebenden Tendenzen unterordnen. Wenn eine „Erfahrung des Realen“ nur im Film - aufgrund seines (indexikalischen) Realismus - möglich ist, so muss er jene Erfahrung in den Vordergrund stellen: „Truly ‘cinematic’ films […] incorporate aspects of physical reality with a view to making us experience them“ (40). Diese Verpflichtung zur Realität, die Kracauer dem Medium einschreibt, hat Auswirkungen auf die Autorität des Künstlers: Vom Autor, in dessen Intentionen das real-life material verschwindet, wird er zu einem forschenden Leser im Buch der Natur: „The film artist has traits of an imaginative reader, or an explorer prompted by insatiable curiosity“ (302). Kracauer lehnt Filme ab, in denen die formgebende Tendenz überwiegt: wo das Rohmaterial nicht um seiner Selbst willen erforscht, und für die Erfahrung der Zuschauer gerettet wird, sondern eine fremdbestimmte Story (eben die des Künstlers) illustriert. In dieser Hinsicht sind „Theater-Filme“ das Hauptangriffsziel der T HEORY . Bereits in der Einleitung heißt es über zwei Shakespeare-Verfilmungen 85 : While admiring them, the spectator cannot help feeling that the stories which they impart do not grow out of the material life they picture but are imposed on its potentially coherent fabric from without. (l) Wegen seines inhärenten Realismus müsse das Kino „rohe Natur“ darstellen, keine Tragödien: „I submit that film and tragedy are incompatible with each other“ (l). Die materiale Ästhetik erlaubt es Kracauer, den Bereich des Filmischen auf Wiedergabe und Enthüllung der „physischen Realität“ einzuschränken. Innerhalb der T HEORY erfüllt es einen doppelten Zweck, wenn dem „truly cinematic“ Film zunächst das Genre des „Theater-Films“ entgegenstellt wird. Dieses Genre ist für Kracauer mehr als nur ein Beispiel unter vielen „unfilmischen“ Filmprojekten. Weil es auf Adaptionen beruht, wird es zum unterschwelligen „Beleg“ dafür, dass formgebende Tendenzen, obwohl sie vom Film untrennbar sind, in ein anderes Medium gehören. Das Kapitel zu den Grundlagen der Filmästhetik behauptet, dass Georges Méliès mit Phantasie- und Science-Fiction-Filmen letztendlich ein Theaterregisseur geblieben sei: „Much as his films differed from the theater on a technical plane, they failed to transcend its scope by incorporating genuinely cinematic subjects“ (33). Über weite Strecken liest sich Kracauers Filmtheorie, als ob theatrical und cinematic films in einer strikten Opposition zueinander stünden, als ob sie sozusagen unterschiedlichen Medien angehörten. Dem ist nicht so. Deshalb kann der Gegensatz zwischen theatrical und cinematic film der Affinität zum Realen - die Kracauer als „wesentlich“ für das 85 Orson Welles’ O THELLO (1952) und Renato Castellanis R OMEO AND J ULIET (1954). 211 Medium behauptet - nicht standhalten, und verschwimmt. Für den „theatralischen“ Film bedeutet dies, dass ihm „filmische“ Realitätsmomente als Akzidens eignen. Sie geschehen, wenn „[the] images inadvertently tell a story of their own, which for a transient moment makes one completely forget the manifest story“ (302). Dieser akzidentielle Realismus ist in der von Kracauer angenommenen Medienspezifizität fest angelegt. Der indexikalische Bezug auf die Welt bedingt, dass es in jedem Film etwas gibt, was die Inszenierung (das „Theatralische“, Formgebende, die Intention des Künstlers) überschreitet. Beim Film emanzipiert sich die Kamera, ihrem Wesen gemäß, vom Kameramann: However purposefully directed, the motion picture camera would cease to be a camera if it did not record visible phenomena for their own sake. It fulfills itself in rendering the ‘ripple of the leaves.’ (l) Also haftet jeder Aufnahme etwas Zufälliges an, ein nicht inszenierbares Element, das um seiner selbst Willen erscheint. Das emblematische Beispiel dafür sind die Blätter, die im Wind zittern: „Leaves [...] cannot be ‘staged’ but occur in endless quantities“ (20). Wenn man wie Kracauer annimmt, dass weder ihre Bewegung noch ihr massenhaftes Vorkommen „gestellt“ werden kann, machen sie die Indexikalität des Mediums sichtbar. Das gilt im Dokumentarebenso wie im Spielfilm, deren Grenzen diesbezüglich verschwimmen. L’ ARROSSEUR A RROSÉ (1895) der Brüder Lumière zum Beispiel, einer der ersten Filme überhaupt, besitzt eine inszenierte Handlung. Es geht um einen Gärtner, der die Blumen gießt, und am Ende selbst begossen wird. Die Szene spielt in einem Garten; im Hintergrund steht eine Reihe von Bäumen, die sich im Wind bewegen. Glaubt man Kracauer, ist dieses zufällige Element wichtiger als der intendierte Plot: „Significantly, the contemporaries of Lumière praised his films [...] for showing the ‘ripple of the leaves stirred by the wind’“ (xlix). Die Blätter lassen sich nicht auf die gefilmte Handlung reduzieren. Selbst wenn sie mit Bedeutung aufgeladen werden, vom Zuschauer oder durch die Inszenierung, erschöpfen sie sich nicht in diesem Symbolwert, weil Blätter - laut Kracauer - niemals „gestellt“ seien. Es sei etwas an ihnen, das sich der Intentionalität des Ganzen widersetze. Diese Momente, in denen der Film etwas „verkörpert“ statt es mit Bedeutung (z.B. einer Story) zu überziehen, sind für Kracauer die Momente, in denen Film die Wirklichkeit erfahrbar mache. Auch in Hinblick auf die Zuschauer wird diese Erfahrung, wie bereits angedeutet, körperlich gedacht: „[to] incorporate into his memory“ (306). Sie spreche ihre Körper direkt an, weil sie nicht den Umweg über eine Bedeutungszuweisung mache. Das ist ein weiterer Aspekt der T HEORY , der im Marseiller Entwurf noch klarer formuliert ist. Dort heißt es, dass Filme den „Menschen mit Haut und Haaren“ ergreifen würden, 212 sein Sensorium wird von ihnen unmittelbar, und nicht etwa auf dem Umweg über das Bewußtsein, attackiert. Die materiellen Elemente, die sich im Film darstellen, erregen direkt die materiellen Schichten des Menschen: seine Nerven, seine Sinne, seinen ganzen physiologischen Bestand. 86 Inszenierung des Realen: Claude Lanzmanns S HOAH In kulturwissenschaftlichen Texten zur Frage der Zeugenschaft „nach Auschwitz“ ist Claude Lanzmanns Film S HOAH die vielleicht am meisten kommentierte künstlerische Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. 87 Das liegt im Darstellungsmodus des über neunstündigen Films begründet, der den Bezug zu seinem Thema über Zeugenaussagen aufbaut. Dabei enthält er sich konsequent der kommentierenden Off-Stimme ebenso wie einer Bebilderung der Shoah - versteht man Bebilderung im Sinne von Archivaufnahmen (vgl. N UIT ET B ROUILLARD ) oder (re-)konstruierenden Spielszenen (vgl. S CHINDLER ’ S L IST ). Elf Jahre lang, zwischen 1974 und 1985, filmte Lanzmann überlebende Opfer, Täter und andere Zeugen (bystanders) ebenso wie die Orte der Vernichtung, welche sich mittlerweile in „Nicht-Orte der Erinnerung“ (non-lieux de la mémoire) verwandelt hatten, so die Begriffsbildung des Regisseurs: also Orte, an denen sich nicht mehr zeigt, was dort geschehen ist. 88 Lanzmann umschreibt sein Projekt als Versuch, „den Ort und das Wort“ (le lieu et la parole) zusammenzubringen, d.h. ein Treffen zwischen den überlebenden Opfern samt ihrer Erinnerung und den „erinnerungslosen Plätzen“ zu inszenieren. 89 Diese Inszenierung, die Lanzmann bewusst als solche bezeichnet, 90 unterscheidet den Film auch von solchen Dokumentarfilmen, die ihren inszenatorischen Charakter leugnen. Der Regisseur verwahrt sich dagegen, S HOAH als Dokumentarfilm zu kategorisieren und insistiert, dass es sich um ein Kunstwerk - eine „fiction du réel“ - handle. 91 86 Kracauer 2002, 575-577. Vgl. auch Hansen 1994, deren Artikel zum „Marseiller Entwurf“ mit W ITH S KIN AND H AIR überschrieben ist. 87 Vgl. z.B. die einflussreichen Texte von Koch (1992) u. Shoshana Felman (in Felman/ Laub 1992, 204-283). Die Anthologie von Liebman (Hg.) 2007 versammelt viele zentrale Essays zu Lanzmanns Film. 88 Vgl. Lanzmann 1990b, 290 u. 1990a, 295. Der Ausdruck „non-lieux de la mémoire“ lässt sich als Negativfolie zu Pierre Noras Konzept des „lieu de mémoire“ begreifen. Der Historiker bezeichnet damit einen (auch metaphorisch zu verstehenden) Ort, der für das kollektive Gedächtnis einer Gruppe von besonderer Bedeutung ist. Vgl. Nora 1989. 89 Vgl. Lanzmann 1990a, 293-305. 90 Vgl. z.B. Lanzmann 1990a, 298. 91 Vgl. Lanzmann 1990a, 201. 213 Aufgrund der Inszenierungsstrategien von S HOAH , die Archivbilder und bebildernde Spielszenen ausklammern, werden sowohl der Film als auch sein Regisseur zumeist als exponierte Vertreter einer Politik des Bilderverbots wahrgenommen. 92 Tatsächlich hat Lanzmann die Autorität, die er aus dem Erfolg seines Films (bei der Kritik wie beim Publikum) gewonnen hat, mehrfach dazu genutzt, um eine solche Politik in öffentlichkeitswirksamen Aussagen zu verfolgen. Am bekanntesten ist vielleicht die Kritik des französisch-jüdischen Regisseurs an seinem amerikanischen Kollegen Spielberg. Als dessen S CHINDLER ’ S L IST in die Kinos kam, druckten mehrere europäische Zeitungen, darunter Le Monde, die FAZ und der österreichische Standard, einen Artikel Lanzmanns, in dem er auf der Undarstellbarkeit der Shoah beharrt. „Der Holocaust“, heißt es in der deutschen Fassung, ist vor allem darin einzigartig, daß er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes Maß an Greueln nicht übertragbar ist: Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist. 93 Anders als es auf den ersten Blick scheinen mag, ist Lanzmanns Aussage keine Kritik am Fiktionalen per se. Sie verbietet einen bestimmten Typus des Fiktionalen, der sich als bebildernde Fiktion bezeichnen ließe. Nur deshalb kann der Regisseur seinen Film eine „fiction du réel“ nennen, ohne ihm die Daseinsberechtigung zu entziehen oder sich selbst in Widersprüche zu verstricken. Dass sich Spielbergs „Fiktion“ - im Gegensatz zu Lanzmanns „Fiktion“ - „der schlimmsten Übertretung schuldig“ mache, läge dann vor allem daran, dass jene den Schrecken bebildert. Das wird im weiteren Verlauf des Artikels klarer, wenn Lanzmann betont, dass auch dokumentarische Aufnahmen der Shoah moralisch nicht zu legitimieren seien: „Wäre mir ein unbekanntes Dokument in die Hände gefallen“, schreibt er, „ein Film, der [...] gezeigt hätte, wie dreitausend Juden [...] gemeinsam starben [...], ich hätte ihn 92 Vgl. z.B. Lyotard 1988, 51-52 u. Koch 1992, 149-152. Im Kontext der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, verbindet sich die Berufung auf ein „Bilderverbot“ - aufgrund des impliziten oder ausdrücklichen Bezugs zum Zweiten Gebot („Du sollst Dir kein Bildnis machen“) - oft mit einer Sakralisierung der Shoah (vgl. Bannasch/ Hammer 2004, 9-11). Demgegenüber betont Lanzmann, dass er eine Desakrilisation des Geschehens betreibe, insofern er „echte Körper“ und „echte Orte“ zeige. Vgl. Lanzmann 2001, 276. 93 Lanzmann 1994, 27. Der hier zitierte Artikel I HR SOLLT NICHT WEINEN wurde am 5. März 1994 in der FAZ abgedruckt; die französische Version erschien am 3. März des gleichen Jahres unter dem Titel H OLOCAUSTE , LA RÉPRESENTATION IM- POSSIBLE in Le Monde. Für eine Analyse von S CHINDLER ’ S L IST , die Lanzmanns Kritik zum Ausgangspunkt nimmt, vgl. Hansen 1997b, v.a. 83-85. 214 zerstört. Ich bin unfähig zu sagen, warum. Das versteht sich von selbst.“ 94 Dass Lanzmann die Frage nach dem Warum an dieser Stelle unbeantwortet lässt, ist mehr als nur ein Stilmittel, um die eigene Aussage als allgemeingültig zu autorisieren („Das versteht sich von selbst“). Die fehlende Antwort verweist auf ein zweites Verbot, das der Regisseur dem Bilderverbot in vielen Äußerungen über S HOAH und die Shoah zur Seite stellt. Er argumentiert, dass sich die Frage nach dem Warum im Kontext der Massenvernichtung verbiete. Sie sei obszön, weil es immer einen Bruch gebe zwischen der Erklärung und dem Ereignis. Keine Bedingung, die für die Entstehung des Massenmords genannt werde, könne eine ausreichende Begründung für dessen tatsächliche Durchführung bilden. „All these fields of explanation“, sagt Lanzmann in einem Gespräch an der Universität Yale, „are all true and false.“ Für ihn ergibt sich die notwendige Falschheit aller Erklärungsmuster - auch derjenigen, die er als „wahr“ betrachtet - aus einer Unmöglichkeit, die Shoah abzuleiten: Between all these conditions - which were necessary conditions maybe, but they were not sufficient - […] and the gassing of three thousand persons, men, women, children, in a gas chamber, all together, there is an unbreachable discrepancy. It is simply not possible to engender one out of the other. There is no solution of continuity between the two; there is rather a gap, an abyss, and this abyss will never be bridged. 95 In der oben zitierten Kritik an Spielbergs Film scheint mir die unbeantwortete Frage nach dem Warum auch deshalb auf diese Ablehnung der deduktiven Logik zu verweisen, weil Lanzmann das Bilderverbot - speziell seine Kritik an Archivbildern - anderswo durchaus begründet. Neben der Gefahr, dass Bebilderungen des Grauens vielleicht die Schaulust der Zuschauer befriedigen könnten, 96 nennt er insbesondere die „Kraftlosigkeit“ solcher Bilder: „J’appelle ça des images sans imaginations. Ce sont juste des images, ça n’a pas de force.“ 97 Die bebildernde Darstellung schaltet also die Vorstellungskraft der Zuschauer aus und verhindert, dass diese das Gesehene erfahren könnten: „[Ces images] pétrifient la pensée et tuent toute puissance d’évocation.“ 98 94 Lanzmann 1994, 27. Eine Kritik an Lanzmanns Haltung findet sich in Georges Didi-Hubermans Buch I MAGES M ALGRÉ TOUT , das in direkter Auseinandersetzung mit dem Regisseur entstanden ist. Vgl. Didi-Huberman 2003. 95 Lanzmann 1991, 481. Zu den Erklärungsmustern, auf die Lanzmann sich hier bezieht, gehören die Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik und die „völkische“ Ideologie. Zu Lanzmanns „Warumverbot“ vgl. auch Lanzmann 1990c, 279 sowie - kritisch dazu - Gross/ Hoffmann 2004 u. LaCapra 1998, 100-101. 96 Vgl. Lanzmann 2001, 278. 97 Lanzmann 1990a, 297. 98 Lanzmann 2001, 274. 215 Das filmische Dokument als Bild, das die Erfahrung oder Zeugenschaft des Realen verhindert: Diese Beschreibung steht in deutlicher Opposition zu Kracauers „mirror reflections of horror“, bei denen „realistische Tendenz“ der photographischen Medien für eine Erfahrbarkeit dessen sorgt, was „in Wirklichkeit“ nicht erfahrbar ist. Die Kopplung von Warum- und Bilderverbot, die das testimoniale Projekt Lanzmanns auszeichnet, unterhält jedoch eine untergründige Verbindung zu Kracauers Überlegungen zur (filmischen) Zeugenschaft. Diesen zufolge hält das Kino der Natur einen Spiegel vor, weil es sein Rohmaterial angeblich „ausstellt“ statt es mit fremdbestimmter Bedeutung zu überziehen und zu „verbrauchen“. Laut Kracauer lässt Film die Dinge - auch „things too dreadful to be beheld in reality“ 99 - unerklärt zu ihrem Recht kommen. Diese würden erfahrbar, anstatt hinter der menschlichen Bedeutungszuweisung (Kracauer) oder - wie Lanzmann fürchtet - hinter Erklärungsmustern zu verschwinden. Lanzmanns „Bilderverbot“ und Kracauers Idee, das Undarstellbare im Bild zwar nicht zu erlösen, doch zu retten, finden ihren gemeinsamen Ausgangspunkt in der Dialektik eines Bildes, das die Bebilderung überschreitet - und somit kein Bild mehr ist. Im Sinne von Kracauers T HEORY können Filme eine direkte „körperliche“ Erfahrung des Realen bieten: „[they] incorporate aspects of physical reality with a view to making us experience them.“ 100 Auch Lanzmann versteht seinen Film als „Inkarnation“ des Realen 101 und spricht davon, dass die Zuschauer diesen nicht nur „sehen“, sondern sogar „leben“ würden. 102 Das verbindet sich mit der Filmtheorie Kracauers, insofern diese die Möglichkeit einer Beziehung zwischen abwesender Wirklichkeit, Darstellung und Rezipient formuliert, die als doppelte „Verkörperung“ des Realen - sowohl im Film als auch im Erinnerungsvermögen der Zuschauer - funktionieren würde. Kracauers „Spiegelbilder“ definieren sich primär über den „körperlichen“ bzw. indexikalischen Bezug zum Realen, den sie über den ikonischen Realismus - die behauptete Ähnlichkeit zum Referenten - stellen. So deutet die T HEORY auf die Idee einer „Spiegelung“ hin, welche die abwesende Wirklichkeit in der Darstellung nicht bebildern, sondern körperlich bezeugen würde. Kracauers Behauptung, dass der indexikalische Bezug zum Dargestellten unveränderliches Spezifikum der photographischen Medien sei, ist - auch angesichts der Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung - unhaltbar. Löst man die T HEORY jedoch aus ihren überzeitlichen Ansprüchen, lässt sich die doppelte „Verkörperung“ des Realen (von der abwesenden Wirklichkeit über den Film zum Zuschauer) als mögliches 99 Kracauer 1997, 306. 100 Kracauer 1997, 40. 101 Vgl. z.B. Lanzmann 1990b, 282, Lanzmann 1990a, 298 u. Lanzmann 2001, 276 102 Vgl. Lanzmann 1990d, 200. 216 Ergebnis einer bestimmten filmischen Praxis begreifen. Diese Historisierung verändert den Blick auf die Beziehung zwischen Inszeniertem und Realem, wie Kracauer sie beschreibt: Das Reale wäre nicht mehr etwas, das trotz der Inszenierung zum Vorschein kommt (z.B. als Akzidens im „theatralischen Film“). Stattdessen würde es durch die Inszenierung hervorgerufen und diese zugleich, als materielle Spur einer abwesenden Wirklichkeit, überschreiten. Lanzmanns S HOAH verfolgt eine so verstandene Inszenierung des Realen. Der Film versucht, eine körperliche Wieder-Holung des Abwesenden zu erreichen, welche die Grenzen der Inszenierung sprengt, mit deren Hilfe sie hervorgerufen wird. Im Folgenden skizziere ich, auf welche Weise die testimoniale Struktur von S HOAH eine solche Beziehung zur abwesenden Wirklichkeit aufbaut. Ich konzentriere mich auf eine Szene, an der sich auch zeigt, dass Lanzmanns Inszenierungsstrategien im Rahmen des testimonialen Autorisierungsmodells operieren, das ich weiter oben an Wiesels L A N UIT herausgearbeitet habe. Alle vier Grundelemente des Modells - das sind die Privilegierung des Schweigens, die liminale Position der autorisierenden Instanz zwischen Leben und Tod, die körperliche Verankerung der Zeugenschaft sowie die Idee einer traumatischen Wiederkehr des Realen - sind in der Szene zu finden. Lanzmann beschreibt seinen Film als eine „Auferstehung“ der Toten. Anders als bei der „Auferstehung“ Anne Franks, deren optimistische Figuration eine falsche Illusion von Erlösung und Überleben bietet, geht es dem Regisseur um eine Rückkehr des Todes der Toten. Weil sie unbezeugt gestorben seien, wolle der Film „ressusciter ces gens, et les tuer une seconde fois, avec moi; en les accompagnant. [...] C’est bien cela: je dois les accompagner, je dois être avec eux.“ 103 Lanzmann setzt sich in diesem Zitat selbst als sekundären Zeugen ein, doch die beschriebene Position ist auch die des Rezipienten - insofern Lanzmann den Film, in dieser Weise Kracauer ähnlich, als Medium zur körperlichen Weitergabe von Erfahrung und Wissen versteht. Dies werde gerade nicht über den Inhalt der Zeugnisse erreicht, sondern über die angestrebte Verkörperung des Realen: „Shoah n’est pas fait pour communiquer des informations, mais apprend tout. […] Pourquoi? Parce que Shoah est une incarnation.“ 104 Der Unterschied zwischen Informationsvergabe (communiquer des informations) und Verkörperung (incarnation) lässt sich an einer der bekanntesten Szenen des Films verdeutlichen. In dieser Sequenz spricht der deutsch-polnische Jude Abraham Bomba über seine Gefangenschaft im Vernichtungslager Treblinka, aus dem er Ende 1942 fliehen 103 Lanzmann 1990b, 291. 104 Lanzmann 2001, 276. 217 konnte. Während seiner Zeit in Treblinka wurde der gelernte Friseur gezwungen, die Haare der Frauen und Kinder abzuschneiden, die in die Gaskammern geführt wurden. Der Regisseur interviewt Bomba nicht einfach, wie es für das reine Erlangen von Information genügen würde. Stattdessen lässt Lanzmann das Gespräch in einem Friseursalon stattfinden. Er filmt Bomba beim Haare schneiden und bittet ihn - ungefähr in der Mitte des Interviews - genau die Bewegungen nachzuahmen, die er auch in Treblinka gemacht hat (Abb. 7). A BB . 7: Abraham Bomba (r.) im Friseursalon - Szene aus S HOAH Auf diese Weise macht Lanzmann den Überlebenden zu einer Art Schauspieler, der das spielt, was er rund 40 Jahre zuvor tun musste. 105 Die Grenzen dieses „Spiels“ werden jedoch überschritten, weil es der gleiche Körper ist, der Körper Bombas, der noch einmal die gleichen Bewegungen vollführt wie im Vernichtungslager. Eine körperliche Erinnerung, welche die Erzählweise des Opfers verändert, gewinnt die Oberhand: Bomba, der das Gespräch mit fester Stimme begonnen hatte, gerät immer mehr ins Stocken - bis er minutenlang schweigt, und weinend die Haare weiterschneidet. Er durchlebt eine traumatische 105 Vgl. dazu Lanzmann 1990a, 101: „Il a fallu transformer ces gens en acteurs. C’est leur propre histoire qu’ils racontent. Mais la raconter ne suffisait pas.“ Meine Hervorhebung. 218 Erinnerung, die ihn körperlich überwältigt. In S HOAH , schreibt der Historiker Dominick LaCapra, survivors both play and are themselves. Any boundary between art and life collapses at the point trauma is relived, for when a survivor-victim breaks down, the frame distinguishing art from life also breaks down and reality erupts on stage or film. 106 Die traumatische Wiederkehr des Erlebten durchbricht die Inszenierung und beglaubigt die Rede des Überlebenden gerade dadurch, dass sie diese unterbricht. Lanzmann lässt die Kamera weiterlaufen. Sie folgt Bomba auch dann, wenn er zur Seite tritt, um nicht mehr reden zu müssen. „You have to do it, I know it’s very hard“, insistiert Lanzmann aus dem Off, „I know, and I apologize [...] Please, we must continue.“ 107 Es geht um die Frage, was mit den abgeschnittenen Haaren geschehen sei. Bomba wird leiser, wenn er nach langer Zeit - zunächst auf Englisch - antwortet, dass diese nach Deutschland geschickt wurden. Dann wiederholt er den Satz zwei Mal, wie für sich selbst, murmelnd, auf Jiddisch - es ist das einzige Mal, dass er diese Sprache im Verlauf des Interviews spricht. Die Zuschauer können den Satz kaum verstehen, weil er viel zu leise gesprochen und weder untertitelt noch übersetzt wird. Auch hier steht die Körperlichkeit im Vordergrund: die Stimme eines Zeugen, der in sich versinkt - in einer Erfahrung, die er in die Gegenwart holt und damit beglaubigt. Obwohl Lanzmanns Inszenierung mit Bildern arbeitet, welche die abwesende Wirklichkeit des Vernichtungslagers bezeugen, wird diese abwesende Wirklichkeit nicht bebildert. Lanzmanns Bilder zeigen weder den Umkleideraum noch die Gaskammer, in denen Bomba seine Arbeit verrichten musste. Zu sehen ist ein heutiger Friseursalon mit viel Kundschaft. Treblinka wird körperlich „dargestellt“ - über die Bewegungen des Überlebenden, die seine Bewegungen von 1942 „spiegeln“ und in der traumatischen Wieder-Holung des Realen, die daraus entsteht. Um eine „Auferstehung“ der Toten (bzw. deren Todes), wie Lanzmann sagt, handelt es sich insofern, als Bomba von den letzten Momenten im Leben unzähliger Frauen und Kinder berichtet, die nicht wussten, „that this is their last way or that this is their last time they’re going to live or they’re going to breathe or they’re going to...“ - so die Worte des Überlebenden. Seine Aussage bezeugt er körperlich, wie eben beschrieben: durch die Schneidebewegungen, das 106 LaCapra 1998, 135. 107 Die Gespräche in S HOAH finden u.a. auf Englisch, Deutsch, Jiddisch, Hebräisch und Polnisch statt. Dabei verzichtet der Film auf synchronisierende Voiceovers: Wenn Lanzmann die Sprache selbst spricht (Englisch u. Deutsch), werden die Interviews untertitelt. Wenn der Regisseur einer Sprache nicht mächtig ist, übersetzt eine Dolmetscherin seine französischen Fragen und die Antworten der jeweiligen Gesprächspartner. 219 wiederholte Schweigen und das erneute Durchleben eines traumatischen Moments. Zudem wird Bombas Zeugenschaft dadurch autorisiert, dass Lanzmann die besondere Position betont, die diesem Überlebenden im Vernichtungsprozess zukam. Er musste - teilweise sogar in der Gaskammer - die Haare von Menschen schneiden, die unmittelbar danach ermordet wurden. Nur nach genau diesen Momenten, den Momenten direkt auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, fragt der Regisseur während des Interviews. Entsprechend ist Lanzmanns gesamter Film konstruiert, der sich bei den Opfern vor allem auf die wenigen Überlebenden konzentriert, die Zeugen für die allerletzten Schritte der Vernichtung wurden: Neben Bomba ist dies z.B. der slowakische Jude Filip Müller, der drei Jahre lang in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz arbeiten musste. Während Müller den Moment schildert, als er zum ersten Mal durch das Stammlager Auschwitz in den Verbrennungsraum des Krematoriums gehetzt wurde, zeichnet die Kamera - gefilmt aus der Subjektive - seinen Weg durch das KZ nach. Ebenso wenig wie Bomba befindet sich Müller bei seiner Zeugenaussage tatsächlich am Ort des Verbrechens. Wie bei jenem wird die Aussage durch eine körperliche Bewegung an die abwesende Wirklichkeit gebunden. Der entscheidende Unterschied ist, dass Müller die Bewegung - den Weg durch das Lager ins Krematorium - nur sprachlich schildert. Die Verkörperung dieser Bewegung wird aufgrund von Lanzmanns Inszenierung erreicht, in Form einer Montage von Wort und Bild. Die unruhig geführte Kamera übernimmt die Schritte Müllers. Während sie die Abwesenheit des Verbrechens (das heutige, leere Auschwitz) filmt, füllt der Zeuge diesen Raum mit seinen eigenen Worten. In ihrem Vorwort zur Buchausgabe des Films (1985) unterscheidet die Schriftstellerin Simone de Beauvoir zwischen dem Wissen, das sie seit der Nachkriegszeit über den Holocaust erlangt habe, und der Erfahrung, die ihr nun, nach dem Schauen von S HOAH , eigne: „[En] voyant aujourd’hui l’extraordinaire film de Claude Lanzmann“, schreibt sie, nous nous apercevons que nous n’avons rien su. Malgré toutes nos connaissances, l’affreuse expérience restait à distance de nous. Pour la première fois, nous la vivons dans notre tête, notre cœur, notre chair. Elle devient la nôtre. 108 Die hier formulierte Idee, dass Lanzmanns S HOAH für eine körperliche Weitergabe der Erfahrung sorge, findet sich immer wieder in Texten zu diesem Film. Er schaffe es „à implanter la mémoire du génocide dans la conscience des générations qui lui sont postérieures.“ 109 108 Beauvoir 1998, 9. 109 Ertel 1990, 53. Meine Hervorhebung. 220 Die testimoniale Struktur des Films ist auf diese doppelte Verkörperung hin angelegt: Am Körper der überlebenden Zeugen kommt es - durch eine Wieder-Holung des Realen - zu einer „Auferstehung“ der abwesenden Zeugen im Moment des Sterbens („this is their last way […,] their last time“). Als sekundäre Zeugen sollen die Zuschauer des Films diese Momente mit-erleben, wenn die überlebenden Opfer das Geschehene wieder durchleben. Besonders deutlich wird dieser Übergang vielleicht in der Kamerabewegung, die Müllers Beschreibung von Auschwitz begleitet. Aufgrund der Subjektive bindet sie die Aussage des Zeugen an die Position des Zuschauers, der nur in diesem Zusammentreffen von Wort und Ort etwas erfahren kann: Erst Müllers Beschreibung, wie er ins Krematorium gehetzt wurde - „‚Rein ihr Schweinehunde’, und wir sind rein“ - gibt der Kamerabewegung eine testimoniale Bedeutung, macht sie zur Verkörperung von Müllers Zeugenschaft. Wenn Lanzmanns Film versucht, die Erinnerung an den Holocaust „körperlich“ weiterzugeben, bleibt er auf die primäre Zeugenschaft vor allem der Opfer angewiesen. Deren Position zwischen Leben und Tod sowie deren Traumatisierung, die durch die Inszenierung des Realen erfahrbar werden soll, bringt die abwesende Wirklichkeit in die Gegenwart der sekundären Zeugen. Im Film werden diese impliziert z.B. durch die Kunden im Frisiersalon (Abb. 7) und die subjektive Kamerabewegung, die Müllers Zeugnis begleitet - vor allem aber durch die Position des Filmemachers, der niemals nach dem „Warum“ fragt, aber auf der Erfahrung des „Wie“ beharrt: „You have to do it […]. Please, we must continue.“ 110 Die Holocaust-Darstellungen, deren testimoniale Autorisierung in diesem Teil der Arbeit untersucht wurde, beglaubigen sich ausgehend von einer oder mehrerer Zeugen-Figuren, die den Platz eines Opfers besetzen, das - in je unterschiedlicher Weise - zwischen Leben und Tod steht. Bei Lanzmann erscheint die Instanz des sekundären Zeugen als bestimmender Faktor bei der Hervorbringung von Zeugenschaft. Die Idee einer - die Inszenierung überschreitenden - Inszenierung des Realen, welches sich am Körper der Überlebenden ausdrückt, verortet den testimonialen Effekt jedoch in der primären Zeugenschaft der Opfer. Im Folgenden skizziere ich drei Gegenmodelle zu diesem Modell testimonialer Autorisierung, das von den Opfern ausgeht. Es handelt sich bei ihnen um andere „Perspektiven der Zeugenschaft“, insofern sie jeweils um einen Ort kreisen, der nicht der Ort der direkten körper- 110 Auch bei Lanzmann handelt es sich um einen sekundären Zeugen der Massenvernichtung. Der Regisseur erlebte den Krieg im Untergrund und als Mitglied der Résistance, der er sich 1943 angeschlossen hatte. 221 lichen Erfahrung (bzw. traumatischen Nicht-Erfahrung) der Shoah ist. Das erste Beispiel, Peter Weiss’ M EINE O RTSCHAFT (1965), betrifft den Ort des Nichtzeugen und die ethische Problematik, die mit dem Begehren nach Erfahrung - wie es mitunter auch bei Lanzmann zum Ausdruck kommt - verbunden sein kann. Im Anschluss lese ich den zweibändigen Comicroman M AUS (1986, 1991) durch die Linse des Selbstporträts, das der Autor Art Spiegelman von sich im Umschlagcover zeichnet. Hier geht es um die Beziehung der „zweiten Generation“ zur eigenen Familiengeschichte und zur Geschichte der Shoah. Die dritte Lektüre dreht sich um einen Text des Holocaust-Überlebenden Imre Kertész. In ihr wird die Position des „Autors“, die Kertész für sich - als fiktionale Entkopplung seiner Zeugenschaft - beansprucht, mit Elie Wiesels Modell des „Schriftsteller-Zeugen“ kontrastiert. III. Gegenmodelle: Perspektiven der Zeugenschaft 225 Peter Weiss und der Ort des Nichtzeugen Im Herbst 1964 fragt Klaus Wagenbach - der gerade den Fischer Verlag verlassen hat, um sein eigenes Verlagshaus zu gründen - rund vierzig Autoren aus Ost- und Westdeutschland nach Beiträgen für einen Band von Essays, Gedichten und Geschichten. Das Buch, das A TLAS heißen soll (und ein Jahr später veröffentlicht wird), hat zum Ziel, wie Wagenbach einleitend schreibt, die „Bewußtseinslagen und Verhaltensweisen“ im geteilten Deutschland zu registrieren. Dafür werden alle Autoren gebeten, mit einem Beitrag „‚ihren’ Ort in diesen Atlas ein- [zu]tragen“ - den Ort, den sie als den für ihr Leben und ihre Arbeit wichtigsten bezeichnen würden. 1 Der vielleicht berühmteste von allen Texten in Wagenbachs Anthologie, die Beiträge z.B. von Anna Seghers, Wolf Biermann und Günter Grass versammelt, ist Peter Weiss’ M EINE O RTSCHAFT . Schon bei seiner Entstehung war der Prosatext umstritten und veranlasste den Dichter Paul Celan dazu, sich vom A TLAS -Projekt zurückzuziehen. 2 Sowohl die Bekanntheit des Textes als auch die Ablehnung durch Celan liegt in der Ortschaft begründet, die Weiss als seine Ortschaft wählt. Anders als die meisten Schriftsteller, die in der Anthologie versammelt sind, entscheidet er sich, keinen Platz zu beschreiben, den er „wirklich“ kennt. Der Autor, der 1916 in Nowawes bei Berlin geboren wurde, verließ Deutschland zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung mit den Eltern, einer protestantischen Mutter und einem zum Protestantismus konvertierten Vater jüdischer Herkunft. Weiss sollte nie wieder dauerhaft nach Deutschland zurückkehren; stattdessen wohnte er in verschiedenen Städten Europas, unter ihnen Paris, London und vor allem Stockholm, wo er seit 1940 die meiste Zeit seines Lebens verbrachte und 1982 starb. 3 M EINE O RTSCHAFT ist der einzige Text in A T- LAS , der mit selbstreflexiven Überlegungen zur Frage beginnt, welche Ortschaft der Ort des Schriftstellers sein könnte. In den Worten des Ich-Erzählers bezeichnet er alle genannten Städte - inklusive der schwedischen Hauptstadt - als „Durchgangsstellen“, keine davon könne „für wert befunden werden [...], einen festen Punkt in der Topographie meines Lebens zu bilden.“ 4 Der einzige Ort, dem er in dieser Hinsicht Stabilität einräumt, ist ein Ort, an dem er nur einen Tag verbracht hat: „Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren“ (34). Ob- 1 Vgl. Wagenbach 2004, 10. 2 Vgl. Wagenbach 2004, 11 u. Beise 2006, 216. 3 Zur Biographie von Weiss vgl. Beise 2002, 10-21. 4 Weiss 2004, 33-34. Alle weiteren Seitenzahlen in Klammern im Text. 226 wohl der Autor/ Erzähler seinen Erfahrungsmangel betont, beschließt er, über diese eine Ortschaft zu schreiben. Sie trägt einen deutschen Namen, der zum Metonym für den Holocaust und für alle Konzentrationslager wurde: „ces camps qui, si différemment qu’ils se nomment, portent tous le même nom: Auschwitz.“ 5 Weiss besucht die Ortschaft, die er später in Wagenbachs A TLAS eintragen wird, am 13. Dezember 1964. Der äußere Anlass ist ein Ortstermin im Rahmen des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963-1965), an dem Weiss als Beobachter teilnimmt. In seinen Notizbüchern notiert er „grausige Szene[n]“ der Beweisaufnahme, etwa als der Gerichtsdiener in eine Stehzelle klettern soll. Der Staatsanwalt will herausfinden, ob Rufe durch die Luke zu hören sind [...]. Sagen Sie etwas, singen Sie, ruft er in den Spalt zwischen dem Betonblock und der Luke. Der Gerichtsdiener drinnen singt. Es ist zu hören: Sah ein Knab ein Röslein stehn. 6 Der Erfahrungsbruch zwischen der Gegenwart des Lagers (als Museum und Gedenkstätte) und den Schrecken der Vergangenheit wird auch spürbar, als sich „Dr. Lucas, einer der Angeklagten, der hier als Zeuge aufzutreten hat, [...] ‚in Andacht’ vor die Schwarze Wand“ stellt - jener Mauer, an der die Häftlinge durch einen Schuss in den Hinterkopf hingerichtet wurden: Lucas „ist wohlgenährt, vornehm dunkel gekleidet, steht etwas steif, den Hut in den verschränkten Händen.“ 7 In M EINE O RTSCHAFT fehlt jeder explizite Hinweis auf den Auschwitzprozess: Der Autor/ Erzähler läuft allein durch das Lager, inmitten von anderen Besuchern wie einer Schulklasse oder einem „Trupp Soldaten mit weinroten Mützen“ (35). Was sich dem Text jedoch einschreibt, ist die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie der Versuch, diese - trotz des Erfahrungsbruchs - zu sehen und zu beschreiben. In diesem Versuch impliziert M EINE O RTSCHAFT , obwohl Worte aus dem Begriffsfeld der Zeugenschaft kaum verwendet werden (nur einmal ist die Rede von „Zeugenaussagen“ [44]), eine testimoniale Struktur. Wie ich im Folgenden argumentiere, oszilliert der Text zwischen zwei narrativen Positionen, die sich je als der Ort des Zeugen und des Nichtzeugen begreifen lassen. M EINE O RTSCHAFT etabliert eine Differenz dieser Instanzen, die zugleich durch das narrative Pendeln zwischen den Positionen destabilisiert wird. Auf diese Weise autorisiert sich der Autor/ Erzähler, stellvertretend Zeugenschaft an einem Ort und „für“ einen Ort abzulegen, an dem er nichts erfahren hat. Den Begriff des Nichtzeugen übernehme ich von Gary Weissman, der mit dieser Terminologie unterstreichen will, 5 Blanchot 1983, 100. 6 Zu dem Ortstermin vgl. Weiss 1982, 323-327; hier: 326. 7 Weiss 1982, 326. 227 that we who were not there did not witness the Holocaust, and that the experience of listening to, reading, or viewing witness testimony is substantially unlike the experience of victimization. 8 Aus diesem Grund lehnt er testimoniale Konzepte ab, die von der Möglichkeit einer sekundären, imaginären oder stellvertretenden Zeugenschaft ausgehen. 9 Im Gegensatz dazu untersuche ich den Ort des Nichtzeugen, um auf den Punkt hinzuweisen, an dem diese Konzepte - ohne ihre allgemeine Berechtigung einzubüßen - an eine ethische Grenze stoßen: nämlich dort, wo der Unterschied zwischen der primären Zeugenschaft der Opfer und sekundären Formen der Zeugenschaft verloren geht. Am Beispiel von M EINE O RTSCHAFT wird erkennbar, dass sich noch das Eingeständnis einer Nichtzeugenschaft („Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren“ [34]) mit dem problematischen Begehren nach (Opfer-)Erfahrung verbinden kann. Celans Empörung über M EINE O RTSCHAFT , berichtet der Philosoph Hermann Levin Goldschmidt in einem Text über seine Freundschaft mit Weiss, habe sich gegen dessen „Berufung auf Auschwitz“ gerichtet; er selbst wirft dem Schriftsteller vor, sein Judentum verraten zu haben, insofern die Identität der Ermordeten in seinen Texten nicht hervortrete. 10 Tatsächlich kommt das Wort „Jude“ in Weiss’ Dokumentartheaterstück D IE E RMITTLUNG (1965) - basierend auf Berichten vom Auschwitzprozess - nicht vor. Die Kritik daran gehört zu den meistwiederholten Vorwürfen gegen den Autor. 11 Auch in M EINE O RT- SCHAFT wird die meist jüdische Identität der Opfer lediglich impliziert, insofern „the title of this short prose text“, wie Robert Cohen meint, „performs Weiss’s identification with the Jewish victims“ 12 - ergänzend möchte ich hinzufügen, dass diese Identifikation von einer externen Zuschreibung ausgeht: „Ich habe keine andere Beziehung zu [dieser Ortschaft]“, schreibt Weiss, „als daß mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten“ (34). Verbunden mit der Frage nach Weiss’ jüdischer Identität 13 ist die zweite Frage, wofür „Auschwitz“ in M EINE O RTSCHAFT steht. Ist dieser Name eine „Chiffre für die auf die Spitze getriebene Ausbeutung und 8 Weissman 2004, 20. 9 Vgl. Weissmann 2004, 20 u. 211-215. 10 Vgl. Goldschmidt 1992, 200-201 sowie Beise 2006, 216. 11 Dieser Vorwurf wird z.B. geäußert von Wiesel (1990, 34) und Young (1988, 72), der die Ermittlung „as Judenrein as most of post-Holocaust Europe“ nennt. Zusammenfassend zu diesen Vorwürfen vgl. Cohen 1998. 12 Cohen 1998, 59. 13 Nach jüdischem Recht ist Weiss - als Sohn einer protestantischen Mutter - kein Jude; für die Nationalsozialisten aber - aufgrund der Religion seines Vaters - „halbjüdisch“. Freilich sagen diese externen Zuschreibungen nichts darüber aus, inwiefern sich Weiss mit dem Judentum identifiziert. Zum „jüdischen Bewusstsein“ in seinem Werk vgl. Heidelberger-Leonard 1992. 228 Unterdrückung von Menschen durch Menschen“ - wie der Blick auf Weiss’ Gesamtwerk laut Arnd Beise nahe legt - oder wäre er als „Chiffre für den staatlich organisierten Judeozid“ zu begreifen? 14 Solche Fragen stehen für Lesarten von M EINE O RTSCHAFT , die den Text vornehmlich als biographischen Schlüssel zur Betrachtung anderer Werke des Autors (z.B. der E RMITTLUNG ) nehmen. 15 In der folgenden Analyse spielen sie eine untergeordnete Rolle. Auf den eigentlichen Text fokussiert, macht sie eine andere Bruchstelle für M EINE O RT- SCHAFT aus: eben die Grenze zwischen dem Zeugen und dem Nichtzeugen, zwischen (tödlicher) Erfahrung und dem Begehren zu wissen, wie es „wirklich“ war. Im letzten Absatz des Prosatextes verdichtet sich das Pendeln zwischen den beiden Positionen, die ich als Ort des Zeugen und des Nichtzeugen bezeichnet habe. Deshalb ist er ein besonders deutliches Beispiel für die narrativen Bewegungen, deren Spuren hier verfolgt werden. Aus diesem Grund zitiere ich den letzten Absatz (bestehend aus einem großen und zwei kleinen Paragraphen) zunächst ausführlich, bevor ich ihn noch einmal - Satz für Satz - durchgehe und auf den Gesamttext von M EINE O RTSCHAFT beziehe: Doch nach einer Weile tritt auch hier [gemeint ist eine Baracke in Auschwitz] das Schweigen und die Erstarrung ein. Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hier herkommt, aus einer anderen Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, sie sind Teil seines Lebens, er trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt. Nur wenn er selbst von seinem Tisch gestoßen und gefesselt wird, wenn er getreten und gepeitscht wird, weiß er, was dies ist. Nur wenn es neben ihm geschieht, daß man sie zusammentreibt, niederschlägt, in Fuhren lädt, weiß er, wie dies ist. Jetzt steht er nur in einer untergegangenen Welt. Hier kann er nichts mehr tun. Eine Weile herrscht die äußerste Stille. Dann weiß er, es ist noch nicht zu Ende. (44) Dieser letzte Absatz beginnt mit einem Perspektivwechsel: Zuvor war der Text in der ersten Person geschrieben - aus dem Blickwinkel eines Ich-Erzählers, der unlösbar mit dem Autor verbunden scheint. Obwohl es viele Gründe für diese Engführung der Instanzen gibt, finden sich die deutlichsten in der paratextuellen Einbindung des Beitrags. Auf der ersten Seite erwähnt der Erzähler „meine[n] Geburtsort [...], der 14 Vgl. Beise 2006, 216. 15 Schilling z.B. nennt M EINE O RTSCHAFT einen „trockene[n], ja kunstlose[n] Text“ nennt, von dem aus der Kunstcharakter der E RMITTLUNG sichtbar würde. „Nach dem Besuch von Auschwitz soll Weiss gewusst haben, wie er die Ermittlung zu schreiben habe“, so Schilling weiter - nur daraufhin untersucht er den Text. Vgl. Schilling 2001, 68-69. 229 den Namen Nowawes“ (33) trägt - am Ende von A TLAS ist der gleiche Ortsname in der Kurzbiographie des Autors angegeben (310). Auch steht der Ausdruck „mein Geburtsort“ in direktem Bezug zu dem „Meine Ortschaft“ des Titels, der sich gedruckt unter dem Namen Peter Weiss auf der gleichen (ersten) Seite des Textes findet. Zudem macht Wagenbachs Vorwort für die Anthologie klar, dass die Autoren „‚ihren’ Ort in diesen Atlas eintragen“. 16 Der Wechsel von einer Ich-Erzählung zum externen Blick in der dritten Person stellt keine Unterbrechung des „autobiographischen Pakts“ dar, der auf diese Weise etabliert wird. 17 Vielmehr betont er ein Gefühl, das Weiss seinem erzählten Selbst zuschreibt - das Gefühl, ausgeschlossen zu sein: „Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah“ (44). An dieser Stelle in M EINE O RTSCHAFT , zu einem Zeitpunkt, da „das Schweigen und die Erstarrung“ (44) herrscht, bezieht Weiss die Position des Nichtzeugen: Ihm ist verschlossen, „was hier geschah“. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe; zum einen die Nachträglichkeit des Besuchs. Auschwitz, behauptet der Autor/ Erzähler zu Beginn seines Textes, sei eine Ortschaft, „von der ich seit langem wußte, doch die ich erst spät sah“ (34). Diese Äußerung impliziert, dass Weiss „nach Auschwitz“ in Auschwitz ankommt. Deshalb erfährt er an diesem Ort nichts, deshalb wird er nicht zum Zeugen, weder jetzt - d.h. „erst spät“ - noch zwei Jahrzehnte zuvor, als er nicht in Auschwitz war: Ich bin hierher gekommen aus freiem Willen. Ich bin aus keinem Zug geladen worden. Ich bin nicht mit Knüppeln in dieses Gelände getrieben worden. Ich komme zwanzig Jahre zu spät hierher. (35) Weiss beschreibt, wie er 1964 durchs Lager läuft und dabei Lehrer sieht, Schüler und Postkartenverkäufer (35, 43). Was er nicht sieht, zumindest nicht ohne einen Plan, sind die Krematorien. Nur mit Hilfe der Lagerkarte erkennt er, dass „ich schon vor dem Krematorium stehe, dem kleinen Krematorium mit der begrenzten Kapazität“ (35). Die Ortschaft, die der Autor/ Erzähler als „seine“ Ortschaft behaupten will, wurde im Lauf der Zeit entstellt: Jetzt ist sie eine „untergegangen[e] Welt“ (44); der Besucher, der an diesen Ort kommt, der „heute zu einem Museum ernannt ist“ (35), kann kein Zeuge werden. Wiederholt betont M EINE O RTSCHAFT , dass Weiss im Lager sieht ohne zu sehen, z.B. in der folgenden Passage: 16 Wagenbach 2004, 10. 17 Philipe Lejeunes formalistische Definition von Autobiographie behauptet, dass der „autobiographische Pakt“ (pacte autobiographique) eine Gleichheit zwischen Autor, Erzähler und Protagonist aufbaut. Üblicherweise führt das zu einer Erzählung in der Ich-Form; die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist könne aber auch bestehen, wenn dies nicht den Fall ist. Vgl. Lejeune 1996, 16. 230 Ich wußte einmal von diesen Appellen, von diesem stundenlangen Stehen im Regen und Schnee. Jetzt weiß ich nur von diesem leeren lehmigen Platz, in dessen Mitte drei Balken in die Erde gerammt sind, die eine Eisenschiene tragen. Auch davon wußte ich, wie sie hier unter der Schiene auf Schemeln standen und wie dann die Schemel unter ihnen weggestoßen wurden und wie die Männer mit den Totenkopfmützen sich an ihre Beine hängten, um ihnen das Genick zu brechen. Ich hatte es vor mir gesehen, als ich davon hörte und davon las. Jetzt sehe ich es nicht mehr. (38) Die Holocaust-Erinnerungen von Ruth Klüger ( WEITER LEBEN [1992]) wenden sich gegen die „Museumskultur der KZs“ 18 - sie behandeln die Konzentrationslager im Sinne einer Zeitschaft. Mit diesem Neologismus, abgeleitet aus der Wortkette „Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape“ möchte Klüger bezeichnen, „was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher“. 19 Als sie einmal die Gedenkstätte Dachau besuchte, schreibt Klüger, hätten die Baracken fast einladend gewirkt: Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben. Und heimlich denkt wohl mancher Besucher, er hätte es schon schlimmer gehabt als die Häftlinge da in dem ordentlichen deutschen Lager. 20 Die Ortschaft, die das Lager einmal gewesen ist - „die Ausdünstung menschlicher Körper, der Geruch und die Ausstrahlung von Angst, die geballte Aggressivität, das reduzierte Leben“ 21 -, ist verschwunden. Auch Auschwitz ist als Museum nicht mehr das tatsächliche Lager. Darin besteht der erste Grund, warum die Zeugenposition dem „Lebende[n], der hier herkommt, aus einer anderen Welt“ (44) verschlossen bleibt: Er kommt auch aus einer anderen Zeit. Der zweite Grund, warum der Autor/ Erzähler als Nichtzeuge erscheint, ist mit dem ersten aufs Engste verbunden. Da er „zwanzig Jahre zu spät“ (35) nach Auschwitz kommt - an eine Gedenkstätte, nicht in ein Vernichtungslager - ist Weiss kein Überlebender von Auschwitz. Sein Erfahrungsmangel ist ein gänzlich anderer als der, den Primo Levi für die „Geretteten“ des Holocaust beschreibt. Er ist kein überlebender Zeuge, der seine Zeugenschaft über die Grenzen der eigenen Erfahrung erweitert: Der Lebende ist überhaupt kein Zeuge. Er unterscheidet sich nicht nur von den toten, sondern auch von den überlebenden Opfern. Der Überlebende, superstes, bezeichnet auf Latein jenen Zeugen, 18 Klüger 2004, 69. 19 Klüger 2004, 78. 20 Klüger 2004, 77. 21 Klüger 2004, 77. Vgl. dazu auch A. Assmann 1999, 333: „Die zu Gedenkstätten und Museen umgestalteten Erinnerungsorte unterliegen einem tiefgreifenden Paradox: Die Konservierung dieser Orte im Interesse der Authentizität bedeutet unweigerlich einen Verlust an Authentizität: Indem der Ort bewahrt wird, wird er bereits verdeckt und ersetzt.“ 231 der ein Ereignis durchlebt hat und es deshalb bezeugen kann. 22 Für die Shoah wäre in diesem Zusammenhang eher von einem „surmortal“ als einem „survival“ zu sprechen: Jorge Semprun schreibt, dass die Geretteten und die Untergegangen „la mémoire collective de notre mort“ teilen. 23 Im Gegensatz dazu besitzt der Autor/ Erzähler von M EINE O RTSCHAFT nichts als „Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen“ (44). Ungeachtet dessen gibt es Passagen in seinem Text, die implizieren, dass diese Kenntnisse einen Erfahrungsprozess auslösen können, der für eine imaginäre oder stellvertretende Zeugenschaft sorgt. Eine jener Passagen habe ich bereits zitiert; sie betrifft die Darstellung des Appellplatzes: „Ich hatte es vor mir gesehen, als ich davon hörte und davon las“ (38). Wenn Klüger die Konzentrationslager als „Zeitschaften“ beschreibt, schließt sie trotzdem nicht aus, dass man in ihnen nachträglich zum Zeugen werden könne. Allerdings würde, „wer dort etwas zu finden meint, [...] es wohl schon im Gepäck mitgebracht“ haben. Als Beispiel nennt sie M EINE O RTSCHAFT , denn der Text handle von der Frage, „ob man Gespenster in Museen bannen kann, und Peter Weiss schleppte damals die seinen vom Frankfurter Auschwitz-Prozess nach Polen“. 24 Nach Ansicht der Holocaust-Überlebenden wäre es also möglich, dass sich der Nichtzeuge in Auschwitz - über die Kenntnis „von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen“ - einer Zeugenposition annähert. Damit folgt sie der narrativen Logik des Weiss-Textes, der über dieses Wissen des Autors/ Erzählers behauptet, dass es „Teil seines Lebens“ sei: Er „trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt“ (44). Auf den ersten Blick scheint sich dieser Satz noch auf die Position des Nichtzeugen zu berufen. Er unterscheidet zwischen dem Wissen, das der Lebende mit sich trägt und dem fehlenden Verständnis für das, was er niemals erfahren hat: „fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt“. In Bezug auf diesen Satz schreibt Aleida Assmann, dass „dem nachträglichen Besucher an diesem Ort [gemeint ist Weiss] die absolute Differenz von Lerngedächtnis und Erfahrungsgedächtnis“ 25 aufginge. Ihre Interpretation übersieht, dass es in dieser Passage einen laufenden Übergang zur Zeugenposition gibt: An einem Wissen zu tragen, es als „Teil seines Lebens“ und - wie es bei Klüger heißt - Gespenst mitzuschleppen, unterscheidet sich von „einfachem“ Wissen. Angestoßen von einer fremden Erfahrung (den Zeugenaussagen, den Kenntnissen von Ziffern), bewegt sich der Lebende hin zu einer vermeintlichen Erfahrung der (fremden) Erfah- 22 Vgl. Benveniste 1969, 277. 23 Vgl. Semprun 2003, 160. Siehe oben, S. 130-132. 24 Klüger 2004, 75. 25 A. Assmann 1999, 332. 232 rung. Das ist die Bewegung, die sich auf ambivalente Weise im letzten Absatz von M EINE O RTSCHAFT ereignet; die nächsten Sätze lauten: Nur wenn er [der Lebende] selbst von seinem Tisch gestoßen und gefesselt wird, wenn er getreten und gepeitscht wird, weiß er, was dies ist. Nur wenn es neben ihm geschieht, daß man sie zusammentreibt, niederschlägt, in Fuhren lädt, weiß er, wie dies ist. (44) Natürlich behauptet Weiss nicht, dass er diese Dinge in Auschwitz erfahren habe; aber dadurch, dass er sie detailliert und im repetitiven Modus beschreibt, erhebt er gewissermaßen Anspruch auf diese Erfahrung (und auf die Position des Zeugen). Es scheint, als ob der Autor/ Erzähler versuche, die Geister jener Ereignisse heraufzubeschwören und sie mit Hilfe seiner schriftstellerischen Imagination wiederauferstehen zu lassen. Zeugenschaft und Nichtzeugenschaft treffen sich in ambivalent strukturierten Passagen wie der folgenden: Ich bin im Hof gestanden vor der Schwarzen Wand, ich habe die Bäume gesehen hinter der Mauer, und die Schüsse des Kleinkalibergewehrs, die aus nächster Nähe in den Hinterkopf abgefeuert wurden, habe ich nicht gehört. (40) In der Mitte des Satzes wird der Autor/ Erzähler zum Zeugen für die Shoah: Aus einer Beschreibung der Gegenwart zeichnen sich die „Schüsse des Kleinkalibergewehrs“ ab, die „aus nächster Nähe in den Hinterkopf“ gefeuert wurden; erst die Verneinung am Ende stellt klar, dass er diese Erschießungen weder sieht noch hört. Auf ähnliche Weise funktioniert der bereits zitierte Absatz, der für den „leeren lehmigen“ Appellplatz beschreibt, wie sie „unter der Schiene auf Schemeln standen und wie dann die Schemel unter ihnen weggestoßen wurden“ (38). Auch an dieser Stelle gleitet die narrative Position vom Nichtzeugen (der einen „leeren lehmigen“ Platz sieht) zum Zeugen, der die Ermordung der Häftlinge beschreibt, zurück zum Nichtzeugen: „Jetzt sehe ich es nicht mehr“ (38). In diesen Passagen haben die Ereignisse, die der Lebende nicht erfahren hat, geisterhafte Auftritte, an denen er sie zu erfahren glaubt. Geister spielen in M EINE O RTSCHAFT auch inhaltlich eine Rolle; in dieser Hinsicht hat Klüger recht, wenn sie den Text auf die Frage nach dem Verhältnis von Gespenst und Museum bezieht. 26 „Im Augenblick, in dem die Sonne versinkt“ und die Bodennebel aufsteigen, tritt Weiss in eine Baracke ein: Und dies ist jetzt so: hier ist das Atmen, das Flüstern und Rascheln noch nicht ganz von der Stille verdeckt, diese Pritschen [...] sind noch nicht ganz verlassen, hier im Stroh, in den schweren Schatten sind die tausend Körper noch zu ahnen, [...] hier ist noch zu erwarten, daß es sich regt da drinnen, daß ein Kopf sich hebt, eine Hand sich vorstreckt. (44) 26 Vgl. Klüger 2004, 75. 233 Das spektrale Erlebnis dauert nur einen Moment, dann dringen - mit dem ersten Satz des letzten Paragraphen, der auf diese Beschreibung folgt - „auch hier das Schweigen und die Erstarrung“ (44) ein. Eine ähnliche Bewegung, von der Möglichkeit zurück zur Unmöglichkeit einer (stellvertretenden) Zeugenschaft, ist dem letzten Absatz eingeschrieben: „Jetzt steht er [der Lebende] nur in einer untergegangenen Welt. Hier kann er nichts mehr tun. Eine Weile herrscht die äußerste Stille“ (44). Doch diesmal ist die Rückkehr zum Schweigen nicht endgültig: „Dann weiß er, es ist noch nicht zu Ende“ (44); der Lebende hat in Auschwitz etwas erfahren. Mit Hilfe der Vorstellungskraft wurde er zum Zeugen für das, was er als Zeuge nicht erlebt hat. In M EINE O RTSCHAFT akzeptiert Weiss den Unterschied zwischen sich und den Opfern; zumindest ist diese Differenz in die Bewegungen zwischen dem Ort des Zeugen und dem des Nichtzeugen eingeschrieben. Trotzdem bilden diese Bewegungen eine hochproblematische Laufbahn. Sie autorisieren Weiss’ Text als Zeugnis der Shoah, indem sie den Unterschied zwischen dem Nichtzeugen und dem überlebenden Zeugen verwischen. Weiss behauptet, dass Auschwitz „sein“ Ort sei: Es ist „eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam“ (34). Allerdings war er nur als Besucher in Auschwitz. Die imaginäre Zeugenschaft von Weiss tendiert dazu, die unterschiedlichen Subjektpositionen zwischen dem Überlebenden und dem Lebenden zu kollabieren, während sie deren Differenzen zugleich bestätigt (das ist die narrative Bewegung, die ich hier verfolgt habe). „Nur wenn er selbst von seinem Tisch gestoßen und gefesselt wird, wenn er getreten und gepeitscht wird, weiß er, was dies ist“ (44). Dieser Satz impliziert den Wunsch des Nichtzeugen, zum Zeugen zu werden; er verweist auf eine Sehnsucht nach Erfahrung, die vielleicht daraus entsteht, dass Erfahrung - nicht nur in M EINE O RTSCHAFT , sondern häufig im Diskurs „nach Auschwitz“ - höher bewertet wird als ein „einfaches“ Wissen. Wo soll diese Sehnsucht enden? Einerseits ist sie völlig gerechtfertigt: Auschwitz in ein Museum zu verwandeln, kann bedeuten, dass die Vergangenheit - wie z.B. Klüger fürchtet - verschlossen und vergessen wird, dass das Lager zu einem Ort wird, wo „das Schweigen und die Erstarrung“ (44) herrschen. Als Form der Unterdrückung würde dieses „Schweigen und die Erstarrung“ das Leid der Opfer verraten. Weiss hingegen versucht, durch einen Akt der imaginären Zeugenschaft, ihre Wunden für die Gegenwart offen zu halten. Andererseits verrät auch Weiss - ohne es zu wollen - das Leid der Opfer. Er tut dies gerade in seinem Wunsch, den Platz des abwesenden Zeugen zu erreichen: vom Tisch gestoßen und gepeitscht zu werden, getreten und gefesselt zu sein; während er die ganze Zeit weiß, dass er frei war, seine Ortschaft zu wählen und dass er Auschwitz als „Lebender“ verlassen wird. 235 Bilder des Autors: Zwischen Spiegelman und M AUS Seit April 1942 veröffentlicht die New York Times in ihrer wöchentlichen Literaturbeilage (der New York Times Book Review) eine Bestseller-Liste, die als wichtigste der Vereinigten Staaten gilt. Sie besteht aus mehreren Kategorien, wobei die maßgebliche Trennlinie von Anfang an zwischen fiction und nonfiction gezogen wurde. Ein solches Raster suggeriert klare Grenzen zwischen den Büchern, die eine „Fiktion“ vorstellen, und jenen, die sich auf „Fakten“ beziehen. Im Juli 2000 erweitert die New York Times ihre Liste erstmals um eine Sparte, die dieses binäre Schema - dem Namen nach - unterwandert: Sie ist ganz allgemein Kinderbüchern gewidmet. „The new list“, erklärte die Zeitung in ihrer Vorankündigung, „will mix all categories of children’s books together, fiction and nonfiction.“ 1 Wie das Zitat verdeutlicht, greift die anvisierte Mischung das bis dato geltende Raster nicht an. Es kommt zu keiner Lockerung der Grenze zwischen „Fakten“ und „Fiktion“. Der Artikel versteht fiction und nonfiction als klar trennbare Kategorien, die lediglich, was Kinderbücher betrifft, auf einer Liste versammelt werden. Wenn er dennoch Probleme der Klassifikation anspricht, geht es ihm um „true crossover book[s]“, die für Erwachsene ebenso wie für Kinder geeignet wären. Dinitia Smith, die Autorin des Artikels, berichtet über eine Kontroverse in der Redaktion, ob solche Bücher auf der „regulären“ Liste bleiben sollten. 2 Diesen Punkt greift die Amerikanistin Beverly Lyon Clark in ihrer Studie zur „kulturellen Konstruktion“ von Kinderliteratur auf. Sie nimmt an, dass die Leser der Bestseller-Liste Bücher, die dort als „children’s books“ klassifiziert werden, nur als solche wahrnehmen. Damit sei eine Ausgrenzung dieser Titel verbunden: „Unless the Harry Potter books“, schreibt Clark, have effected a major change in how adults in general think about children’s literature - not likely - adults are not apt to look down the page from the general fiction to the children’s list for guidance in what to read. 3 Demnach entfremdet die Neuordnung der Beststeller-Liste Texte, die weder Kindernoch Erwachsenenliteratur - oder beides zugleich - sind, von einem Teil deren möglichen Rezipientenkreises. 1 Smith 2000, 12. 2 Vgl. Smith 2000, 12. Zum Begriff des crossover books, den Smith in ihrem Artikel verwendet, siehe auch Beckett (Hg.) 1999. 3 Clark 2005, 164. 236 Die Klassifikation der New York Times beruht dabei nicht - oder nicht ausschließlich - auf Gattungsmerkmalen. Sie ist vor allem ökonomischen Interessen verpflichtet: Bei der Neustrukturierung der Bestseller-Liste war es erklärtes Ziel des zuständigen Redakteurs, „to get Harry off the fiction list.“ 4 Zu jenem Zeitpunkt besetzten die ersten drei Bücher um den Nachwuchsmagier Harry Potter seit über achtzig Wochen je einen der insgesamt fünfzehn „fiction“-Plätze. Vor diesem Hintergrund hatten sich viele Verlagshäuser bei der Zeitung beschwert, dass „a cluster of popular children’s books can keep deserving adult books off the lists.“ 5 Der New York Times-Artikel, der die Einführung der Kategorie „Children’s Books“ bespricht, weist auf klassifikatorische Probleme hin, die mit dieser verbunden sind: Die Frage nach hybriden Formen wie dem „true crossover book“ wird aber, kaum ist sie gestellt, schon wieder ausgeklammert. Das Prinzip der Kategorisierung an sich bleibt unangetastet. Wird ein Text als „Erwachsenenliteratur“ rezensiert, aber mehrheitlich im Jugendbuchsektor verkauft, will man ihn - so der Artikel - von einer Liste auf die andere schieben. 6 Die Grenze zwischen Erwachsenen- und Kinderbuch, bzw. deren mögliche Auflösung, stehe also nicht zur Debatte. Was die Unterscheidung von „fiction“ und „nonfiction“ betrifft, gerät die Frage nach Werken, die sich einer entsprechenden Kategorisierung entziehen, erst gar nicht ins Blickfeld des Artikels. Knapp zehn Jahre vor Einführung der Kinderbuchliste gab es ein Ereignis, das genau diese Grenze (zwischen „fiction“ und „nonfiction“) in Frage stellte. Auch hier bestand die Lösung seitens der New York Times darin, nur die Klassifizierung eines Werks zu überdenken, nicht aber das System der Klassifizierung an sich. Am 29. Dezember 1991 druckt die Zeitung einen Brief des Comicbuchautors Art Spiegelman, in dem dieser sich beschwert, dass seine beiden M AUS -Commix 7 (1986, 1991) auf der Beststeller-Liste unter „fiction“ eingeordnet sind. Gleichzeitig gibt die New York Times ihre redaktionelle Entscheidung bekannt, die zwei Bände M AUS von „fiction“ in „nonfiction“ umzusortieren. 4 Zit. nach Clark 2005, 164. 5 Smith 2000, 12. 6 Vgl. Smith 2000, 12. 7 Spiegelmans Bezeichnungen für M AUS sind uneinheitlich - bisweilen nennt er das Werk ein „comic book novel“ (Spiegelman 2007, 7). Oft verwendet er jedoch den Begriff Commix. Das soll betonen, dass Text und Bild in seiner Arbeit nicht voneinander zu trennen sind: „I prefer the word commix, to mix together, because to talk about comics is to talk about mixing together words and pictures to tell a story [...]. The strength of commix lies in [its] synthetic ability to approximate a ‘mental language’ that is closer to actual human thought than either words or pictures alone.“ Zit. nach Young 2003, 27, der den Begriff - unter Rückgriff auf die Comicgeschichte - weiter untersucht. Vgl. Young 2003, 26-29. 237 Im Zentrum beider Commix steht die Geschichte von Spiegelmans Eltern Anja und Vladek - zweier polnischer Juden, die im Jahr 1944 nach Auschwitz deportiert werden. Im Gegensatz zu Richieu, deren erstem Kind, überleben Anja und Vladek die Shoah und wandern nach dem Krieg - über Schweden, wo ihr Sohn Art geboren wird - nach New York aus. 1968 begeht Anja Selbstmord. Spiegelmans Commix erzählen, wie der Comicbuchautor „Art“ ein Comic zeichnet, das auf den Holocaust-Erfahrungen seines Vaters beruht. In M AUS alternieren die Geschichte(n) des Vaters, die dieser seinem Sohn oft widerwillig erzählt, mit den Bemühungen des Sohnes, diese Geschichte(n) zu erfahren und - als Comic - aufzuzeichnen. Immer wieder kommt es zu Konflikten zwischen Vladek und Art, etwa als dieser feststellen muss, dass jener die Notizbücher seiner Frau verbrannt hat, „[because] these papers had too many memories.“ 8 Diese Erinnerungen - Anjas Zeugnis - fehlen in M AUS . Die Geschichte der Mutter ist nur in der Weise präsent, wie ein anderer, nämlich Vladek, diese Geschichte von außen wahrnimmt. 9 Als abwesende Zeugin verweist Anja auf die Subjektivität der geschilderten Erinnerung. An einer früheren Stelle des Buches sagt Art: „I wish I got mom’s story while she was alive. She was more sensitive... It would give the book some balance“ (Bd. I, 132). Der Abstand zwischen den Ereignissen und deren Darstellung wird jedoch nicht nur durch das Fehlen von Anjas Zeugnis verdeutlicht. 10 Hinzu kommt die bereits erwähnte Simultaneität der Zeitebenen: dass Arts gegenwärtige Bemühungen, Geschichte zu erfahren und aufzuzeichnen, ebenso abgebildet werden wie die gezeichnete Geschichte selbst. 11 Vor allem aber wird die Distanz zwischen der abwesenden Wirklichkeit und ihrer Darstellung in der Form des Comics markiert. Spiegelman zeichnet alle Figuren, auch seinen Stellvertreter im Buch - den Autor/ Erzähler „Art“ - als anthropomorphe Tiere: die Juden als Mäuse, die Deutschen als Katzen, die Amerikaner als Hunde, usw. Diese Tiermetapher scheint einer der Hauptgründe dafür zu sein, warum die New York Times M AUS zunächst als Fiktion klassifiziert: Auf der Redaktionskonferenz, auf der Spiegelmans Wunsch diskutiert wurde, von der „fiction“-Liste genommen zu werden, soll ein Redakteur vorgeschlagen haben, „[to ring] Spiegelman’s doorbell to see if a giant 8 Spiegelman 1992, Bd. I, 159. Alle weiteren Zitate belege ich mit Seitenzahlen in Klammern. 9 Vgl. Miller 2003, 49: „Although Vladek tells the parts of Anja’s wartime experience that overlap with his, what’s missing is her own self-narrative, her chance to refigure herself.“ 10 Anjas Zeugnis als Lücke im Zeugnis untersucht z.B. Glejzer 2003. 11 Auf diese Weise werden Autobiographie (des Sohnes) und Biographie (des Vaters) vermischt, vgl. z.B. Frahm 2006, 10. 238 mouse would respond.“ 12 Nur in diesem Fall sei es gerechtfertigt, M AUS anders einzuordnen. Spiegelman gesteht in seinem offenen Brief ein, dass seine Comics klassifikatorische Schwierigkeiten bereiten, insofern sie quer zu den Genregrenzen liegen, auf die sich die New York Times Beststeller-Liste beruft: I know that by delineating people with animal heads I’ve raised problems of taxonomy for you. [...] If your list were divided into literature and nonliterature, I could gracefully accept the compliment as intended, but to the extent that ‘fiction’ indicates that a work isn’t factual, I feel a bit queasy 13 Obwohl M AUS eine „romanhafte Struktur“ (a novelistic structure) besitze, wie sie zum Beispiel in der Tiermetapher zum Ausdruck komme, habe er - Spiegelman - sich keineswegs die imaginativen Freiheiten eines Romanschriftstellers (a novelist’s license) genommen: I shudder to think how David Duke [ein rechtsextremer Politiker in den USA] would respond to seeing a carefully researched work based closely on my father’s memories of life in Hitler’s Europe and in the death camps classified as fiction. 14 Spiegelmans Brief unterscheidet Inhalt und Form der M AUS -Bücher: Er klassifiziert die in diesen erzählte Geschichte als nonfiction („a carefully researched work“), doch deren Erzählstruktur gesteht er eine fiktionale Prägung („a novelistic structure“) zu. Innerhalb der Comics werde diese Aufteilung, wie Marianne Hirsch zeigt, durch eine unterschiedliche Behandlung von „Stimme“ und Bild figuriert. Auf der sprachlichen Ebene erweckt die Geschichte des Überlebenden - Vladeks Zeugnis - den Eindruck, als ob M AUS dem Redefluss von Spiegelmans wirklichem Vater folge. Auch ohne dass wir dessen „wahre Stimme“ kennen, wird deren Nähe zum gedruckten Wort durch stilistische Eigenheiten wie Satzumstellungen und Ellipsen autorisiert: „The text gives us the impression that Art has transcribed the testimony verbatim, getting the accent, the rhythm, the intonation just right.“ 15 Dieser „auditive Realismus“ - der für alle Szenen gilt, in denen Vladek Zeugnis ablegt 16 - wird von der graphischen Umformung der Erzählung in eine anthro- 12 Zit. nach Orbán 2005, 38. Zur Entscheidung der Redaktion vgl. auch Horowitz 1997, 7-11. 13 Zit. nach La Capra 1998, 145. 14 Zit. nach LaCapra 1998, 145. 15 Hirsch 1997, 26. Orvell (1992, 122) weist auf die Bedeutung hin, die Spiegelmans Handschrift in den Sprechblasen für diesen Realitätseffekt besitze: „Spiegelman has an accurate ear for Yiddish-American speech and skillfully uses the handdrawn letters of the cartoon to emphasize intonation.“ 16 Der „auditive Realismus“ bezieht sich nur auf die Szenen, die in der Gegenwart des Erzähl- und Zeichenvorgangs spielen. Innerhalb der gezeichneten Erinnerung wird Vladeks gebrochenes Englisch durch reguläres Englisch ersetzt. Dies soll andeuten, dass er in diesen Szenen Polnisch spricht. 239 pomorphe Tierwelt begleitet. „The testimony is contained in Vladek’s voice“, schreibt Hirsch, but we receive both more and less than that voice: we receive Art’s graphic interpretation of Vladek’s narrative. This is a survivor’s tale […] mediated by the survivor’s child through his idiosyncratic representational and aesthetic choices. 17 Realitätsbezug und Formgebung sind hier unlöslich miteinander verbunden. Die visuelle Dimension von M AUS betont den Abstand zum Realen, d.h. die Fiktionalität des Textes, während Vladeks gezeichnete Stimme - unabhängig davon, wie genau sie dessen „wahre Stimme“ nachahmt - den Bezug zur Wirklichkeit akzentuiert. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von „romanhafter“ Form und Realitätsbezug, die in M AUS gegeben sei, schlägt Spiegelman in seinem Brief an die New York Times vor, die Beststeller-Liste um eine Sparte zu erweitern: „Could you consider adding a special ‘nonfiction/ mice’ category to your list? “ 18 Die Doppelbezeichnung weist darauf hin, dass Form und Inhalt von M AUS nicht trennbar sind, obwohl der Brief sie zunächst unterscheidet. Zugleich führt sie eine Wertung ein, nach der die Klassifikation des Werks - wenn überhaupt - erfolgen sollte: In der „taxonomischen“ Frage räumt Spiegelman dem (inhaltlichen) Bezug zum Realen einen höheren Stellenwert ein als der Form dessen Vermittlung. Der Name der Spezialkategorie lautet nonfiction/ mice - die Reihenfolge ist wichtig. Spiegelmans Vorschlag stellt insofern mehr als einen gelungenen Scherz dar, der das klassifizierende Prinzip der Beststeller-Liste ironisiert. Er betont die moralische Verantwortung, die mit dieser Klassifizierung verbunden ist. Demzufolge darf M AUS , wenn es nach einem binären Schema beurteilt wird, in dem ein Text entweder „fiction“ oder „nonfiction“ ist, nicht auf Seite der Fiktion landen. Der Hinweis auf den rechtsextremen Politiker Duke macht diesen Punkt besonders deutlich. M AUS ist ein Zeugnis des Holocaust; es als Fiktion einzuordnen, könnte dem in die Hände spielen, der die Realität der Shoah leugnet - „to the extent that ‘fiction’ indicates that a work isn’t factual.” 19 In Spiegelmans Darstellung liegt die Gefahr der Irrealisierung nicht darin, dass die Grenze zwischen „Fakt“ und „Fiktion“ aufgelöst wird: dass sich eine „Fiktion“ mit der Shoah auseinandersetzt und versucht, 17 Hirsch 1997, 26. 18 Zit. nach LaCapra 1998, 145. 19 Zit. nach LaCapra 1998, 145. Zur moralischen Problematik dieser Einordnung vgl. Hungerford 1999, 124: „[Spiegelman’s] cartoon cannot be classified as fiction, because to do so is to make the Holocaust a fiction and to make oneself, like David Duke, racist - which is also to say it makes the Book Review [...] immoral rather than incompetent. The Book Review is in danger not of being wrong about genre but of being anti-Semitic.“ 240 für diese Zeugnis abzulegen. Im Gegenteil ist die Irrealisierung eine Gefahr, die aus der Klassifizierung entsteht: aus einer Kategorisierung, die eine Zeugenschaft mit „fiktionalen Mitteln“ nicht anerkennt, und diese deshalb zur Fiktion erklärt. Diesem tiefergehenden „problem of taxonomy“ 20 stellt sich die New York Times nicht. Sie verschiebt M AUS einfach in die „nonfiction“-Sparte - Berufung auf Verlagsangaben und auf die Klassifikation der Library of Congress, die jedes in den USA veröffentlichte Buch katalogisiert. 21 Wie ich im ersten Teil dieses Buches ausgeführt habe, bewegt sich jede Zeugenschaft im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Aufgrund seiner Ungleichzeitigkeit - der temporalen Trennung zum Bezeugten - kann das Zeugnis niemals Beweis werden. Es muss sich, wie Derrida sagt, von der Möglichkeit der Fiktion heimsuchen lassen. Umgekehrt erlaubt diese Heimsuchung Texten, deren fiktionale Bestandteile überwiegen, einen testimonialen Bezug zum Realen aufzubauen - d.h. sich als Zeugnis für die abwesende Wirklichkeit zu beglaubigen. Unter dem Stichwort „Spiegel der Zeugenschaft“ habe ich dann Darstellungen der Shoah untersucht, die ihre Fiktionalität zwar einräumen - Lanzmann zum Beispiel nennt S HOAH ausdrücklich eine „fiction du réel“ 22 -, ihre testimoniale Wirksamkeit aber über eine unterschiedlich behauptete Wieder-Holung (eine körperliche, nicht unbedingt abbildende Spiegelung) des Realen erreichen. Die Gegenmodelle, die ich in diesem Teil des vorliegenden Buches als „Perspektiven der Zeugenschaft“ skizziere, bauen einen anderen Bezug zwischen Fiktion und Realem auf. Sie legen vornehmlich dadurch Zeugnis ab, dass sie den Abstand zum Realen reflektieren - und nicht, indem sie die Wieder-Holung des Realen inszenieren. Lanzmann, dessen Werk ich zu den „Spiegeln der Zeugenschaft“ zähle und Weiss, dessen M EINE O RTSCHAFT im vorliegenden Abschnitt meiner Arbeit untersucht wurde, sind bewusst um die Grenze zwischen den beiden Abschnitten gruppiert: Sowohl in S HOAH als auch in M EINE O RTSCHAFT spielen Abständigkeit und Wiederholung - mit nur leichter Akzentverschiebung - eine bestimmende Rolle. Die „Spiegel der Zeugenschaft“ und ihre Gegenmodelle sind zwei unterschiedliche Punkte auf einer kontinuierlichen Skala. Je nachdem, wie sie sich angesichts der Leerstelle des abwesenden Zeugen autorisieren, betonen sie ihre Nähe oder den Abstand zu dessen „wahrer Zeugenschaft“ - die jedoch für beide uneinholbar bleibt. 20 Spiegelmans Brief wurde von der New York Times unter dem Titel A P ROBLEM OF T AXONOMY abgedruckt. 21 Zu diesem Vorgang und zur Problematik der Klassifikation im allgemeinen vgl. Orbán 2005, 38-43. 22 Lanzmann 1990a, 301. 241 Darstellungen der Shoah, die den Versuch unternehmen, die abwesende Wirklichkeit über eine Betonung des fiktionalen Abstands zu bezeugen, scheinen Ordnungssysteme wie die Bestseller-Liste der New York Times vor größere Probleme zu stellen als Texte, welche dem Autorisierungsmodell „Spiegel der Zeugenschaft“ folgen. 23 Die „taxonomische“ Sprengkraft von M AUS , schreibt Katalin Orbán, beschränke sich nicht allein darauf, „that [it] does not fit the accepted system of genre and subject categories (clearly no work of art is adequately described by them)”. 24 Was Spiegelmans Projekt unterscheide, sei „that it performs and thrives on the destabilization of a wide variety of categories and binary oppositions.“ 25 Als Beispiele für die Felder, deren Grenzen M AUS verwische, nennt Orbán Dokumentation und Fiktion, Mensch und Tier, Hochkultur und Populärkultur. Sie kann jedoch Belege dafür anführen, „[that] classification seems to obsess much of the critical response to Maus“ 26 , ungeachtet der Destabilisierungen und Hybridisierungen, die der Text vollziehe. Aus O F M ICE AND M EMORY (1988), einem Artikel des Historikers Joshua Brown, zitiert sie: Maus is not a fictional comic-strip, nor is it an illustrated novel: however unusual the form, it is an important historical work that offers historians and oral historians in particular, a unique approach to narrative construction and interpretation. 27 Wenn Brown das Werk aus dessen „fiktionalem“ Genre bzw. Medium - dem Comic-Strip oder graphic novel - löst, vollzieht er eine autorisierende Bewegung, die M AUS zwar zurecht als Zeugnis beglaubigt, dem Comic aber nicht gerecht wird. Denn es handelt sich auch um einen „fictional comic-strip“ bzw. eine „illustrated novel“. Was hier in positiver Absicht geschieht, kehrt in Spiegelmans Schreckbild, von David Duke pervertiert, wieder: dass die Realität der Shoah durch eine Auflösung der Hybridität von M AUS und seiner Stabilisierung (als „nonfiction“) geleugnet würde. Im Folgenden unternehme ich eine Lektüre von M AUS , die sich vor allem auf das Bild konzentriert, das der Kurzbiographie des Autors in den amerikanischen Ausgaben der Commix zur Seite gestellt ist (Abb. 8). 28 Bereits die Position des Bildes, im Innencover der Buchdeckel, 23 Im nächsten Kapitel untersuche ich die Dialektik zwischen den hier beschriebenen Gegenmodellen und dem über lange Zeit dominanten Autorisierungsmodell der „körperlichen Spiegelung“ an Kertész’ Spiel mit der Grenze zwischen Autobiographie und Roman. 24 Orbán 2005, 40. 25 Orbán 2005, 40. 26 Orbán 2005, 41. 27 Brown 1988, 91. Vgl. Orbán 2005, 42. 28 Die deutsche Ausgabe (erschienen im Rowohlt-Verlag) verzichtet auf einen Abdruck dieses Bildes. 242 verweist auf dessen Zwischen-Ort: zwischen der Realität des Autors, der das Werk geschaffen hat, und dem Bild, das er von sich „zeichnet“ bzw. dem Bild, das wir - die Leser - uns von ihm machen. Ich werde zeigen, dass sich aus der „Lektüre“ des Bildes - das zwischen Spiegelman (dem realen Autor) und M AUS bzw. „Art“ (der „Erzähler/ Autor- Maus“) liegt - eine Vielzahl von Bewegungen ergeben, die mit den vermeintlichen Oppositionen zu tun haben, welche die Kategorisierung der New York Times Bestseller-Liste behauptet: der Opposition zwischen Mensch und Tier („[...] see if a giant mouse would respond“) sowie der zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Hinzu kommt die Frage nach dem kommerziellen Aspekt, den das Erscheinen auf einer Bestseller-Liste impliziert und dessen Einfluss auf die „kulturelle Konstruktion“ von Genres ich eingangs - am Beispiel der Kategorie „Children’s Books“ - erwähnt habe. A BB . 8: Das Bild des Autors im Innencover von M AUS I und M AUS II 243 Bereits ein flüchtiger Blick auf dieses „Bild des Autors“ (Abb. 8) macht die Verwischung der Grenzen augenfällig, die M AUS betreibt; und zeigt auch die Richtung an, in welche sich diese Grenzen tendenziell auflösen. Nicht nur ist Spiegelman gezeichnet, wo viele andere Bücher eine Photographie des Autors drucken: Er zeichnet sich zudem als Mensch mit Maus-Maske. 29 Ließe sich die erste Differenz noch mit einem Hinweis auf das Medium stabilisieren, ist der Umstand, dass sich Spiegelman nicht „einfach“ als Mensch (im Sinne eines realistischen Selbstporträts) zeichnet, auch im Rahmen des Mediums Comic auffällig. Beispielsweise ist das „Bild des Autors“ Adrien Tomine, wie es sich auf dem Cover seiner autobiographischen Comic-Erzählungen S UMMER B LONDE (2002) findet (Abb. 9), eine Photographie, die den Autor beim Zeichnen eines realistischen - vermeintlichen spiegelbildlichen - Abbilds seiner selbst zeigt. Auch diese Photographie inszeniert eine Auflösung der Grenzen zwischen Leben und Text, doch die Auflösung wie sie im Bild behauptet wird, funktioniert nur in eine Richtung: Der Autor zeichnet sich in seine Comic-Erzählungen hinein, er beglaubigt die autobiographische Verbindung zwischen diesen und seinem Leben. 30 A BB . 9: Das Bild des Autors in Adrien Tomines S UMMER B LONDE In Spiegelmans Bild wird eine komplexere Verbindung behauptet: Sie fließt nicht einfach vom Leben in den Text, sondern erweitert das narrative Universum von M AUS , inklusive der Tiermetapher, über die Buchdeckel hinaus. Primärer Auslöser dieser Bewegung ist zunächst der Zwischen-Ort des Bildes auf dem Umschlag: Es befindet sich jen- 29 Der Unterschied zwischen Photographie und Zeichnung ist an dieser Stelle im Paratext auch deshalb signifikant, weil M AUS innerhalb des Textes durchaus Photographien einsetzt, z.B. eine Aufnahme von Spiegelmans Mutter aus den Sechziger Jahren (Bd. I, 100) oder ein Photo, das Vladek Spiegelman nach seiner Befreiung machen lässt (Bd. II, 134). Zum Verhältnis von Photographie und Zeichnung bei M AUS vgl. Hirsch 2001. 30 Vgl. Tomine 2004. 244 seits der eigentlichen Erzählung. Außerdem ist unter der Zeichnung, bzw. in sie einfließend, die Biographie Spiegelmans gedruckt - inklusive der bisherigen Erfolgsgeschichte des Buches M AUS . Vor allem aber wird die Bewegung vom Text ins Leben dadurch inszeniert, dass Spiegelman sich nicht - wie normalerweise den Erzähler/ Autor „Art“ innerhalb der Commix - nur als Maus bzw. als Mensch mit Mauskopf zeichnet: Stattdessen trägt er eine Mausmaske. Auf der Abbildung, die als Zeichnung bereits eine Art Maskierung des Autors ist, wird so eine weitere Differenz zwischen Mensch und Maske/ Tier behauptet, die zugleich auf ihre Auflösung in Richtung Fiktionalität drängt: Die Maske sei ein „Mängelwesen“, schreibt der Theaterhistoriker Richard Weihe, die diesen Mangelzustand hinter sich lassen wolle: Der Maske wohnt die Aufforderung inne, belebt und beseelt zu werden. Doch wenn sie aufgesetzt ist, dann ist die Maske nicht mehr hintergehbar. Sie ermöglicht ihre Betrachtung nur, indem sie die Betrachtung des Gesichts ausschließt. 31 In Bezug auf Spiegelmans Porträt würde es sich - ginge die Differenz zwischen Gesicht und Maske verloren - nicht um eine Verlebendigung handeln, die das Fiktionale vergessen macht. Es wäre eine Verwirklichung des Fiktionalen im (gezeichneten) Leben, insofern seine Maske als Tiermaske auf das primäre Fiktionalisierungsmerkmal der M AUS - Commix verweist. Denn die formgebende Tendenz des Textes drückt sich, wie bereits erwähnt, darin aus, dass er seine realen Vorbilder in anthropomorphe Tiere umformt. Dass diese Umformung als solche erkennbar wird, erreicht M AUS vor allem damit, dass es die eigene Entstehung innerhalb des Textes reflektiert. Die berühmte Eröffnungssequenz des zweiten Bandes zeigt „Art“ mit einem Zeichenblock. Er überlegt sich, wie er seine Frau Françoise im Buch abbilden soll: „What kind of animal should I make you? “, will er von ihr wissen (Bd. II, 11). Da Françoise aus Frankreich stammt, schwebt ihm vor, sie in einen Frosch zu verwandeln (Bd. II, 12). Françoise hingegen ist der Meinung, dass sie - weil sie zum Judentum konvertiert ist - ebenfalls als Maus erscheinen müsse. „[If] you’re a mouse, I ought to be a mouse too“ (Bd. II, 11). Deutlicher als kaum eine andere Szene in M AUS markiert dieses gezeichnete Gespräch zwischen „Art“ und seiner Frau die Arbitrarität der verwendeten Darstellungsmittel: Die obere Hälfte der Seite wird von einer Zeichnung des Zeichenblocks eingenommen, auf der Françoise mit fünf unterschiedlichen Tierköpfen erscheint: dem eines Elchs, eines Pudels, eines Froschs, eines Hasen und dem einer dunkelhaarigen Maus. Insofern die Selbstreflexivität bezüglich der verwendeten Gestaltungsmittel auf deren Arbitrarität verweist, betont sie den Abstand zur 31 Weihe 2004, 51. Zum Gebrauch der Maske in M AUS vgl. Frahm 2006, 19-90. 245 „realen“ Françoise - und den Abstand des Textes zur abwesenden Wirklichkeit, die er darstellt. Der Text unterstreicht also den Prozess der Fiktionalisierung, die zwischen der Realität und deren Aufzeichnung im Comic liegt. Zugleich ist die Selbstreflexivität der Szene, und der M AUS -Commix allgemein, ein weiterer Faktor, der die Beziehung zwischen dem Erzähler/ Autor „Art“, dem „Bild des Autors“ im Cover und dem realen Autor bekräftigt. „Art“ zeichnet das Buch, das der Leser bereits als fertiges Produkt von Art Spiegelman rezipiert. Keine der Formen im (gezeichneten) Notizbuch entspricht Françoises Gestalt auf dem Rest der Seite und im Rest von M AUS : Während sich „Art“ noch überlegt, wie er seine Frau zeichnen soll, hat Spiegelman sie bereits zur Maus gemacht. Die Darstellung des Schaffensprozesses im Text etabliert die Verbindung zum „Bild des Autors“ auch deshalb, weil die Umschlagszeichnung dieses ebenfalls in einer Arbeitssituation zeigt (Abb. 8). Die Frage nach dem „Wie“ der Darstellung, die in der Szene mit Françoise diskutiert wird, scheint jedoch zu einer Schreibblockade zu führen: Der gemalte Spiegelman zeichnet nicht. Er wirkt in sich versunken und ist vor allem mit seiner unterbrochenen Arbeit beschäftigt. Den Kopf in den Händen haltend, starrt er auf den Zeichentisch vor sich. Die emporgezogenen Augenbrauen, die auf die Mausmaske gemalt sind, zeigen entweder Zweifel oder Frust. Es ist nicht ersichtlich, was der gemalte Spiegelman auf dem Tisch vor sich sieht: Handelt es sich um eine leere Seite, die zurückstarrt. Oder um ein bereits gezeichnetes Bild, das vielleicht der Szene im Hintergrund - außerhalb des Fensters - ähnelt, in der eine deutsche Soldatenkatze über ein Konzentrationslager wacht? Durch diese Ambivalenz in der dargestellten Beziehung zwischen dem Autor und dem Text wird „seine“ Schreibblockade mit verschiedenen Problemen rund um die Produktion und Publikation von M AUS verknüpft. Sie betreffen vor allem die Frage, ob und auf welche Weise es Spiegelman - laut dieser Selbstdarstellung - möglich sei, einen Platz in der „großen Geschichte“ einzunehmen, die zugleich die Geschichte seiner Eltern ist. Zugleich aber geht es um den Druck, der - dem Ausdruck der Maske nach zu urteilen - auf dem Autor hinter der Maske lastet, diesen Platz nicht verlassen zu können. Diese Fragen und Probleme finden sich im „Bild des Autors“, dem Bindeglied zwischen Spiegelman und M AUS , wieder. Es weist deutlich darauf hin, dass die dargestellte Verzweiflung Spiegelmans einen gewichtigen Grund im Thema dessen Arbeit hat: Die Poster an der Wand machen deutlich, dass dieses Thema der Holocaust ist. Links unten hängt das Cover des ersten M AUS -Bandes, wobei das darauf abgedruckte Hakenkreuz den Inhalt des Comics verrät. Darüber wird die Titelseite einer Ausgabe von R AW sichtbar - einem alternativen Comicmagazin, das der reale Spiegelman und seine Frau 1980 gründeten 246 und in dem immer wieder Kapitel aus M AUS vorab gedruckt waren. 32 Außerhalb des direkten Werkbezugs beziehen sich auch der rauchende Schornstein - als populärer Bestandteil der Ikonographie der Massenvernichtung 33 - und die Katze in Naziuniform auf die Shoah. Diese Bildelemente geben eine weitere Begründung dafür, warum Spiegelman sich in einer Schreibblockade malt. Sein Bild (und also seine Bilder) beziehen sich auf die abwesende Wirklichkeit vor allem durch Elemente, die dieser entfremdet bleiben. Zum einen handelt es sich um frei verfügbare Elemente einer kommerziell genutzten Ikonographie des Schreckens (wie der Schornstein). Zum anderen sind es Metaphern (wie die Katze), die M AUS als letztlich willkürlich behauptet. Darauf weist die Szene mit Françoise ebenso hin wie zahlreiche andere Stellen des Comics, in denen die Tierformen als Metaphern reflektiert werden: Über seinen Psychiater, der eine Mausmaske über einem Menschenkopf trägt und einen Hund an der Leine führt, sagt der Erzähler/ Autor: „His place is overrun with stray dogs and cats. Can I mention this or does it completely louse up my metaphor? “ (Bd. II, 43). Im letzten Panel auf der gleichen Seite ist die gezeichnete Photographie einer Katze zu sehen. Daneben ist eine erklärende Textbox gedruckt, in der steht: „Framed Photo of Pet Cat. Really! “ (Bd. II, 43). Es ist jedoch nicht nur so, dass M AUS das Gefüge seiner Metaphorik destabilisiert. Gegenüber der - in den genannten Szenen und auf dem Autorbild - behaupteten Willkürlichkeit der Gestaltungsmittel (d.h. ihrer Distanz zur abwesenden Wirklichkeit), etabliert das Comic an anderen Stellen eine notwendige Beziehung zwischen der Darstellungsform und dem Dargestellten. Insofern „destabilisiert“ M AUS noch seine Destabilisierung. Es gibt einen Wirklichkeitsbezug der Maus-Metapher, der nicht arbiträr ist, insofern er auf die Praxis des Nationalsozialismus verweist, Metaphern in tödliche Realität zu überführen. 34 In einem Artikel von 1994 schreibt Spiegelman, dass M AUS in Kollaboration mit Hitler entstanden sei: It was the Nazis' idea to divvy the human race up into species, […] to "exterminate" (as opposed to murder) Jews like vermin, to use Zyklon B - a pesticide - in the gas chambers. 35 Laut Spiegelman nehmen seine anthropomorphen Tiere Bezug auf die antisemitische Darstellung von Juden als Ungeziefer oder Ratten - z.B. 32 Der erste Entwurf von M AUS , eine dreiseitige Geschichte, erschien 1972 in dem Untergrund-Comic F UNNY A MINALS (sic! ). Seit 1980 wurden in R AW Auszüge aus der entstehenden Arbeit gedruckt. Zur Entstehungsgeschichte von M AUS und zu Unterschieden zwischen den einzelnen Fassungen vgl. v.a. Weiner 2003, 35-38 sowie die CD-Rom T HE C OMPLETE M AUS . 33 Zur Ikonographie der Massenvernichtung vgl. Knoch 2001 und Stier 2003. 34 Vgl. dazu Lacoue-Labarthe 1987. 35 Spiegelman 1994, 45. 247 in den Karikaturen, die Fips (d.i. Philipp Rupprecht) für Julius Streichers Propagandablatt Der Stürmer gezeichnet hat. 36 Ein entsprechendes Adolf Hitler-Zitat steht am Anfang des ersten M AUS -Bandes. Auf Englisch lautet es: „The Jews are undoubtedly a race, but they are not human“ (Bd. I, 4). Der zweite Band zitiert, ebenfalls in englischer Übersetzung, einen Zeitungsartikel aus den dreißiger Jahren: Mickey Mouse is the most miserable ideal ever revealed... Healthy emotions tell every independent young man and every honorable youth that the dirty and filth-covered vermin, the greatest bacteria carrier in the animal kingdom cannot be the ideal type of animal... Away with Jewish brutalization of the people! Down with Mickey Mouse! Wear the Swastika Cross! (Bd. II, 3) In Hinblick auf diese Genealogie betrachtet, ist die Maus-Metapher eine nicht willkürliche Bezugnahme auf eine in der historischen Wirklichkeit willkürlich gewählte, doch in tödliche Realität überführte Metapher. Die Arbitrarität der Gestaltungsmittel, die M AUS an anderer Stelle reflektiert, verdeutlicht zugleich die Abstandnahme von dieser Praxis, die Menschheit mittels vermeintlich stabiler biologischer Identitäten („Rassen“) zu kategorisieren. Spiegelman betont, dass seine Maus-Figuren - wenngleich sie Spuren der Stürmer-Karikaturen aufweisen - gegen diese Typisierung gerichtet sind: „By being particularized they are invested with personhood; they stand upright and affirm their humanity.“ 37 Wenn die auf dem Autorbild des Umschlags (Abb. 8) dargestellte Verzweiflung bzw. Schreibblockade des Autors, wie schon angedeutet, auch mit der kommerziellen Verwendung populärer Holocaust-Bilder zu tun hat, wird diese Verzweiflung noch dadurch gesteigert, dass der Autor der Vermarktung seines eigenen Werks nicht entgehen kann. Das M AUS -Cover an der Wand und die Kurzbiographie des Autors signalisieren den wirtschaftlichen Erfolg der Bücher. Außerdem raucht Spiegelman auf dem Selbstporträt eine Zigarettenmarke, die nur scheinbar die Marke „Camel“ ist. Auf der Packung „Cremo Lights“ (Krematorium Light) sind zwei rauchende Schornsteine statt des Kamelhöckers zu sehen. Diese Zigaretten können für eine kapitalistische Vermarktungskultur stehen, die alles zu Geld macht und in konsumierbare Waren verwandelt. Das Bildprogramm des Spiegelman-Porträts weist auf das zweite Kapitel von M AUS II (Abb. 10) hin, das „Art“ als Mensch mit Mausmaske zeigt, verzweifelt über dem Zeichentisch - wie „Spiegelman“ auf dem Umschlagcover. Durch diesen Bezug verweist die Szene mehr auf die Rolle des Autors als auf die des Erzählers - auch, weil „Art“ hier ausdrücklich als „Mr. Spiegelman“ angesprochen wird (Bd. II, 41) und die Veröffentlichung von M AUS I reflektiert: „At least fifteen foreign editions are coming out. I’ve gotten 4 serious offers 36 Vgl. Doherty 1996, 74. 37 Spiegelman et al. 1994, 45. 248 to turn my book into a TV-special or movie (I don’t wanna.)“ (Bd. II, 41). Die Szene thematisiert den kommerziellen Erfolg des ersten M AUS - Bandes. Ein amerikanischer Geschäftsmann mit Hundemaske schlägt dem Autor vor, Fanartikel in Form von Maus-Kleidung zu verkaufen: „You’ve read the book, now buy the vest“ (Bd. II, 42). Der Autor/ „Art“ lehnt das Angebot ab - genau wie jeden Versuch einen M AUS -Film zu drehen. Auf diese Weise verwehrt er sich gegen eine Vermarktung der Shoah. Zugleich jedoch suggeriert die Gestaltung der ersten Kapitelseite, dass sein eigener Erfolg auf Bergen von Leichen gründet (Abb. 10). Sophia Lehmann schreibt, dass Spiegelman hier reflektiere, „that [he] is capitalizing on the Holocaust [...] and deriving profit from the fate of its victims.“ 38 Sie verbindet diesen Punkt mit einer Analyse des Rückcovers von M AUS II (Abb. 11). In der rechten unteren Ecke zeigt dieses eine Maus in der Kleidung eines KZ-Häftlings, „over which is superimposed the bar code containing the book prize. The stripes of the uniform are carefully made to meld into those of the bar code.“ 39 A BB . 10: „We’re ready to shoot! ...“ (M AUS II, 41) 38 Lehmann 1998, 42. 39 Lehmann 1998, 42. Auch auf diese Darstellung verzichten die deutschen Ausgaben von M AUS . 249 In der Verbindung mit Spiegelmans eigenem Werk stehen die „Cremo Lights“, die er auf seinem Selbstporträt raucht, nicht nur für den Zynismus einer Verwertungskultur, die noch den Holocaust in Konsumgüter verwandelt. Die Zigaretten verweisen auch auf die Unmöglichkeit, diesem Teufelskreis zu entkommen: dass eine Geschichte vermarktet werden muss, um gehört zu werden. Das R AW -Cover im Hintergrund erinnert, ebenso wie die Kurzbiographie („co-founder/ editor of Raw, the acclaimed magazine of avant-garde comics and graphics“, heißt es darin), daran, dass Spiegelman einer Comic-Szene entstammt, die sich bewusst gegen das große Publikum wendet: „Getting to the masses“, erklären Spiegelman und Françoise Mouly 1980 in einem Interview zur Gründung von R AW , isn’t what we are thinking about [...]. If we look at television or read mass market magazines, they’re not things we’re interested in. So we assume that people who would be interested in the same things that we are.... Or are as alienated from the mass culture as we are ... would be interested in Raw. 40 Die Veröffentlichung von M AUS bei einem großen Verlag (bei Pantheon Books) hat laut Spiegelman u.a. damit zu tun, dass Steven Spielberg 1986 geplant habe, einen Zeichentrickfilm namens A N AMERICAN T AIL zu produzieren: Darin wäre eine Familie jüdischer Mäuse, die in Europa von Katzen verfolgt wird, in die Vereinigten Staaten geflohen und hätte dort Zuflucht gefunden - „an utter domestication and trivialization of Maus.“ 41 Abb. 11: Rückumschlag von M AUS II Der Weg vom Untergrund-Comic zur „Massenkultur“, von R AW zu M AUS , liegt demnach auch in der Notwendigkeit begründet, der kom- 40 Spiegelman 2007, 29. 41 Spiegelman 2007, 72. 250 merziellen „Domestizierung und Trivialisierung“ der Judenverfolgung eine andere Geschichte entgegen zu setzen. Auf dem schonungslosen Selbstporträt im Cover von M AUS suggeriert Spiegelman jedoch, dass auch seine Zigaretten - insofern es „Holocaust-Zigaretten“ sind - mit Geld gekauft wurden, das ihm die Geschichte seiner Eltern eingebracht hat. Spiegelman, wie er auf dem Autorbild gezeichnet ist, grübelt ebenfalls über den Widerspruch, dass ein erfolgreiches Erzählen der eigenen Familiengeschichte diesen Erfolg sogleich zu einer Verfehlung macht: Der Autor kann nicht umhin, das Schicksal seiner eigenen Eltern wirtschaftlich zu vermarkten - selbst wenn dies gar nicht in seinem Sinne ist. Ein dritter Aspekt der „Cremo Lights“ in Spiegelmans Porträt ist, dass sie auf dessen übermäßige Identifizierung mit dem Thema seiner Arbeit verweisen. Für Spiegelman, wie er sich selbst darstellt, ist die Shoah überall: draußen vor dem Fenster genauso wie in dem Zigarettenrauch, den er inhaliert. Im zweiten Band von M AUS gibt es eine Szene, in der „Art“ seiner Frau über die eigenen Kindheitsphantasien berichtet: I did have nightmares about S.S. men coming into my class und dragging all us Jewish kids away. Don’t get me wrong, I wasn’t obsessed with this stuff.... It’s just that sometimes I’d fantasize Zyklon B coming out of our shower instead of water. (Bd. II, 16) Diese Identifizierung liegt in der Position des Erzählers/ Autors als Sohn von Überlebenden begründet. An Stellen wie diesen weist M AUS auf die Möglichkeit hin, dass Eltern die eigene Traumatisierung an die Kinder weitergeben. Die „intergenerational transmission of trauma“ 42 ist ein bestimmendes Thema der beiden M AUS -Bände, wie es sich zum Beispiel in P RISONER ON THE H ELL P LANET ausdrückt - einem autobiographischen Comic, das Spiegelman in den Siebzigern über den Selbstmord seiner Mutter gezeichnet hat. Innerhalb dieses Comics, das im ersten Band von M AUS wiederabgedruckt ist (Bd. I, 100-104), stellt sich Spiegelman als Mensch in KZ-Kleidung dar. 43 Diese traumatische Verbindung zur Vergangenheit, die nicht am eigenen Leib erlebt wurde, ist ebenfalls in den „Cremo Lights“ ausgedrückt. „Der Rauch aus der Zigarette des Zeichners“, schreibt der Literaturwissenschaftler Axel Dunker über das Selbstporträt des Autors, „wiederholt den Rauch aus dem Kamin im KZ.“ 44 Weil der Rauch einer Zigarette und der Rauch des Krematoriums einander aber nicht ähnlich seien, betrachtet Dunker weder die Zigarette auf dem „Autorbild“ noch „Arts“ Zigaretten im Comic als Metaphern der Shoah: „[Die] Zi- 42 Hungerford 1999, 123. 43 P RISONER ON THE H ELL P LANET erschien zum ersten Mal in Short Order Comix No. 1 (1973). 44 Dunker 2004, 92. 251 garetten überführen auf metonymische Weise die Präsenz des Holocaust von der einen Zeitebene in die andere.“ 45 Die intergenerationelle Traumatisierung des Autors, die sich in dem metonymischen, nicht metaphorischen, Verweis äußert, autorisiert ihn als sekundären Zeugen der Shoah, insofern sie noch einmal die Notwendigkeit zur Erzählung - trotz der damit verbundenen Probleme (kommerzieller und darstellerischer Art) - begründet. 46 Die Zeugenposition, die der Erzähler/ Autor in M AUS beansprucht, unterscheidet sich grundlegend von der Position des überlebenden Opfers. Deshalb ist es bedeutsam, dass die Commix nicht einfach nur die Erinnerungen von Vladek Spiegelman darstellen und den Sohn zu einer Art „Ghost Writer“ machen. Indem M AUS die Position des sekundären Zeugen reflektiert, autorisiert es sich hingegen anders in Bezug auf die abwesende Wirklichkeit - anders als viele Texte, die den Überlebenden in seiner Zeugenfunktion zur Beglaubigung einsetzen. Die Autorisierung durch den Überlebenden (Vladek) wird in M AUS von einer testimonialen Struktur ergänzt und überlagert, die - mittels der autorisierenden Instanz eines sekundären Zeugen - das Imaginäre der Darstellung in den Vordergrund spielt, ohne den Realitätsbezug zu verlieren. Diese testimoniale Struktur reflektiert den - schon zeitlich - immer größer werdenden Abstand zur abwesenden Wirklichkeit. M AUS verweist deutlich auf die Abwesenheit der primären Zeugen: auf den toten Bruder Richieu, der den Holocaust nicht überlebt hat, auf die Mutter, die sich das Leben nahm und auf den Tod des Vaters 1982 - ans Ende von M AUS II zeichnet Spiegelman den Grabstein seiner Eltern. Das zentrale Element auf Spiegelmans „Bild des Autors“ (Abb. 8) ist die Maske. Sie erlaubt es, die Möglichkeiten und Grenzen der sekundären Zeugenschaft, wie sie sich in M AUS darstellen, noch einmal zusammenzufassen. Als Mausmaske steht sie zum einen für die Fiktionalität der Darstellung - deren Abstand zum Realen -, insofern sie auf die Willkürlichkeit der Maskenwahl und die Problematik von Identitätskonstruktion verweist, die ich am Beispiel der Françoise-Szene beschrieben habe. Der Realitätsbezug der Mausmetapher, der sich daraus ergibt, dass der Nationalsozialismus die Juden unter Zuschreibung solcher Masken als „Ungeziefer“ oder „Ratten“ ermordet hat, deutet zugleich auf die Last hin, die mit dem Tragen der Maske verbunden ist - zumal die Position des Autorbildes die Fiktion in die Wirklichkeit überführt. Auf dem „Autorbild“ ist der reale Spiegelman doppelt maskiert: Erstens ist das menschliche Gesicht hinter der gezeichneten Maske nicht zu sehen, 45 Dunker 2004, 93. 46 Vgl. dazu Witek 1989, 98: „Spiegelman’s authority to speak on the Holocaust stems from a personal psychological necessity.“ 252 zweitens handelt es sich nur um die Zeichnung eines Gesichts, das eine Mausmaske trägt. Obwohl er nicht mehr zu erkennen ist, verschwindet der Autor keineswegs hinter seiner Figuration. Anders als bei „Art“, der Erzählermaus verschmelzen Maske und Gesicht, Mensch und Tierkörper nicht zu einer Einheit. Innerhalb des Comics ist das nur während der Szene im zweiten Kapitel von M AUS II der Fall, die - wie ich oben beschrieben habe - deutlich auf das Autorbild verweist (Bd. II, 41-47). Die Differenz von Maske und Gesicht wird somit zu einer Differenz von „Art“ und Autor, die sich in keine der beiden Richtungen vollendet. Indem er die Geschichte seiner Eltern aufzeichnet, und damit Zeugnis für diese ablegt, nimmt er einen Platz zwischen der eigenen Biographie als Autor und den Erlebnissen der Eltern als Holocaust-Überlebende ein. Wie wichtig es ist, dass diese Position zwischen M AUS und dem Autor Spiegelman liegt, zeigt sich im Selbstporträt des Autors daran, dass er - um Zeichnen zu können - die Maske der Fiktion aufsetzen muss. Die Destabilisierung der Dichotomien (Fiktion - Nichtfiktion sowie Maus - Mensch) ist Grundlage seiner Zeugenschaft. Weil die Bewegung vom Autor zum Zeugen - für Spiegelman, der den Holocaust nicht erlebt hat - in die Fiktionalität führen muss, kann er Zeugnis nur in der Bewegung ablegen: in dem Prozess der Annäherung an das Reale, im Versuch, die Geschichte zu erfahren und aufzuzeichnen. 253 Überleben/ Schreiben - Vom Zeugen zum Autor (Imre Kertész) In seinem Vortrag T HE H OLOCAUST AS L ITERARY I NSPIRATION wendet sich Elie Wiesel 1977 gegen die Idee, die in dem Titel des Textes ausgedrückt scheint: dass die Shoah eine Quelle der literarischen Inspiration werden könne. „He or she who did not live through the event will never know it“ 1 , argumentiert Wiesel. Als „Literatur“ handle es sich deshalb um ein Thema, „where imagination [weighs] less than experience.“ 2 Aus diesem Grund hätten Texte über die Shoah nur eine Berechtigung, wenn sie von Zeugen stammen: But then there are witnesses and there is their testimony. If the Greeks invented tragedy, the Romans the epistle, and the Renaissance the sonnet, our generation invented a new literature, that of testimony. 3 In diesem Zusammenhang verweist der Begriff „literature [...] of testimony“ auf ein Paradoxon. Obwohl Wiesel behauptet, dass „‚The Holocaust as Literary Inspiration’ [...] a contradiction in terms“ sei, 4 spricht er nicht einfach von Zeugenschaft, sondern von Zeugenschaft als einem literarischen Genre. Dieses Paradox wird gerade deshalb auffällig, weil Wiesel die „Literatur der Zeugenschaft“ in die Nähe der Tragödie, der Epistel und des Sonetts rückt - also in die Nachbarschaft künstlerischer Formen, für die keineswegs ausgemacht ist, dass auch bei ihnen Erfahrung mehr wiegt als Vorstellungskraft. Bevor ich diesem Paradox in Wiesels Text weiter nachgehe, möchte ich seinem Zitat einen bekannten Eintrag aus Imre Kertész’ „Tagebuch- Roman“ G ÁLYANAPLÓ (Galeerentagebuch [1992]) zur Seite stellen. Darin schreibt der Überlebende von Auschwitz und Buchenwald: Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht - und vielleicht sogar dann am wenigsten -, wenn wir es erleben.) 5 Auch dieses Zitat handelt von den paradoxen Beziehungen zwischen Literatur, Vorstellungskraft und Erfahrung, die eine „Literatur der Zeugenschaft“ prägen können. Laut Kertész ist es für einen Zeugen der Konzentrationslager - für denjenigen, der sie selbst erlebt - unmöglich, diese Erfahrung zu beanspruchen, ohne auf ihr scheinbares Gegenteil 1 Wiesel 1990, 7. 2 Wiesel 1990, 9. 3 Wiesel 1990, 9. 4 Wiesel 1990, 7. 5 Kertész 1999, 253. 254 zurückzugreifen: auf die Vorstellungskraft. Somit ist sich der Überlebende selbst ein Fremder - ein abwesender Zeuge, insofern er das Ereignis erlebt, aber nicht erfahren hat. Zeugnis für diese Abwesenheit, die als traumatische Erinnerung in ihm ruht, kann das überlebende Opfer - laut Kertész - nur mit Hilfe der Vorstellungskraft ablegen. Bei Kertész wie bei Wiesel scheint Zeugenschaft an Literatur gekoppelt - eine Verbindung, die ich im ersten Teil meiner Arbeit näher ausgeführt habe. Imagination und Erfahrung gehen in Wiesels Argumentation gegen den H OLOCAUST AS L ITERARY I NSPIRATION jedoch eine andere Konstellation ein als in dem Zitat von Kertész. Für Wiesel ist Erfahrung das bestimmende Element („imagination [weighs] less than experience“), bei Kertész scheint es umgekehrt: Der erste Satz seines Galeerentagebuch-Eintrags betont lediglich, dass das Konzentrationslager nur als Literatur vorstellbar sei. Es ist aber nicht die Rede davon, dass derjenige, der diese Literatur schreibt, das Konzentrationslager tatsächlich erlebt haben muss. Der überlebende Zeuge kommt erst mit dem zweiten Satz ins Spiel - als derjenige, der vielleicht am wenigsten Zugriff auf die „reale Erfahrung“ hat. Zeugenschaft bleibt hier auf Literatur bezogen: Der zweite, in Klammern gestellte Satz ist eine klare Ergänzung des ersten, die ohne diesen ersten Satz keinen Sinn ergeben würde. Der erste Satz hingegen bleibt auch ohne Ergänzung verständlich: „Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht.“ 6 Auf diese Weise führt Kertész eine Entkopplung des Holocaust-Autors vom überlebenden Zeugen durch, die in Wiesels Modell der testimonialen Literatur undenkbar wäre. „One cannot write about the Holocaust“, sagt er in seinem Vortrag: Not if you are a writer. [...] The great novelists of our time - Malraux, Mauriac, Faulkner, Silone, Mann and Camus - chose to stay away from it. It was their way of showing respect toward the dead and the survivors as well. Also it was their way of admitting their inability to cope with themes where imagination weighed less than experience. 7 Das oben benannte Paradox zwischen Literatur und Zeugenschaft wirkt auch an dieser Stelle des Textes weiter. Wie bei Kertész wird versucht, es über die Ergänzungsstruktur zweier Sätze aufzulösen. Zuerst behauptet Wiesel, dass man über die Shoah nicht schreiben könne, dann fügt er hinzu: „Not if you are a writer.“ Das not if dieses Übergangs impliziert, dass man als „Nicht-Schreiber“ vielleicht doch über den Holocaust schreiben könne. Anders geformt findet sich dieses Paradox in der folgenden Formulierung, ebenfalls aus Wiesels T HE H OLO - CAUST AS L ITERARY I NSPIRATION : „A novel about Treblinka is either not a novel or not about Treblinka”. 8 Diese Dialektik zwischen Roman und 6 Kertész 1999, 253. 7 Wiesel 1990, 9. 8 Wiesel 1990, 7. 255 Nicht-Roman, Bild und Nicht-Bild, etc., die jeweils in Richtung des letzteren tendiert, habe ich als Kennzeichen für eine testimoniale Autorisierung beschrieben, die den Wirklichkeitsbezug der Darstellung in den Vordergrund rückt. Ohne die Vorstellungskraft völlig auszuklammern - sie bleibt ein Bestandteil der Gleichung, obwohl sie „less than experience“ wiegt - besteht Wiesel darauf, dass nur Überlebende einen Anspruch darauf haben, Literatur aus dieser Erfahrung zu machen. Wer das Ereignis nicht durchlebt hat, könne es niemals kennen - auch nicht aus den Zeugnissen der Opfer; denn „he or she who did live through the event will never reveal it. Not entirely. Not really. Between our memory and its reflection there stands a wall that cannot be pierced.“ 9 Wie Kertész bezieht sich Wiesel auf den unhintergehbaren Abstand zwischen Darstellung und Ereignis, zwischen dem „Spiegelbild“ (reflection) und dem, was darin zum Vorschein kommt. Die Distanz wird jedoch als Differenz zwischen Erinnerung und Darstellung ausgespielt. Deshalb kann die Erfahrung des Zeugen - selbst wenn sie ihm nicht mitteilbar ist - einen Bezug zum Realen herstellen. An der Spiegelszene aus Wiesels L A N UIT habe ich ein solches Modell testimonialer Autorisierung herausgearbeitet, bei dem die liminale Position des Schriftsteller-Zeugen zwischen Leben und Tod sowie zwischen Darstellung und Ereignis einen körperlichen Bezug des Realen zum Text behauptet. So kann sich dieses Reale - als traumatische Erinnerung - durch den Zeugen und durch jede imaginäre „Verzerrung“ des Spiegelbilds hindurch schreiben. Auf diese Weise erlaubt es die Erfahrung des Überlebenden (die ihm auch bei Wiesel nicht einfach zugänglich ist), über den Holocaust zu schreiben - trotz der behaupteten Unmöglichkeit, dies zu tun: „But then there are witnesses and there is their testimony“, beginnt der eingangs zitierte Absatz zur „Literatur der Zeugenschaft“. 10 Auch für Wiesel wird es somit möglich, über den Holocaust zu schreiben - aber nur als Zeuge, nicht als Autor („the great novelists [...] chose to stay away from it“). Das Zitat aus G ÁLYANAPLÓ legt nahe, dass für Kertész das Gegenteil gilt: Wenn das Konzentrationslager nur als Literatur vorstellbar ist, wiegt Vorstellungskraft schwerer als Erfahrung. Demnach ließe sich die vermeintlich unmögliche Aufgabe, über den Holocaust zu schreiben, nur von einem Autor bewältigen oder von einem Zeugen, der als Schriftsteller nicht Zeuge, sondern Autor ist. Das Modell des Schriftsteller-Zeugen und das Modell des Schriftsteller-Autors sind zwei gegensätzliche Tendenzbildungen innerhalb der Dialektik von Erfahrung und Vorstellungskraft, die sowohl Wiesel als auch Kertész für die „Literatur der Zeugenschaft“ festhalten. Beim 9 Wiesel 1990, 7. 10 Wiesel 1990, 9. 256 einen werden die Grenzen der Literatur in Richtung Zeugenschaft überschritten, beim anderen wird Zeugenschaft in Literatur überführt. Es ist deshalb mehr als eine bloß biographische Anekdote, dass sowohl Wiesel als auch Kertész für ihre Holocaust-Zeugenschaft mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden - aber in unterschiedlichen Kategorien: Kertész erhielt 2002 den Nobelpreis für Literatur, d.h. er bekam die Auszeichnung als „Autor“. Im Gegensatz dazu wurde Wiesel bereits 1986 mit dem Friedensnobelpreis geehrt, als „witness for truth and justice.“ 11 Der Unterschied in den Auszeichnungen tritt aufgrund einer gewissen biographischen Parallelität von Wiesel und Kertész um so mehr ins Auge: Beide sind ungefähr zur gleichen Zeit (1928 bzw. 1929) geboren und wurden unter ungarischer Herrschaft als Jugendliche deportiert. Nach dem Krieg sind ihre Lebenswege - abgesehen davon, dass beide Bücher schreiben - nicht mehr zu vergleichen: Kertész wird zum Opfer eines zweiten totalitären Regimes (des ungarischen Kommunismus), während Wiesel nach Frankreich und in die USA auswandert. Die Differenz zwischen Friedens- und Literaturnobelpreis lässt sich auf die testimonialen Konzepte und Autorisierungsmodelle der beiden Überlebenden beziehen. Wiesel steht dabei für den Typus des Überlebenden, der wie Primo Levi zum Schriftsteller wird, um Zeugnis abzulegen. 12 „I shall speak to you as a Jew, a witness and a writer, and the three are fused into one”, autorisiert sich Wiesel zu Beginn seines Vortrags. 13 Kertész hingegen autorisiert sich unter Berufung auf das Konzept des „Zeugen als Autors“. Die Überführung von Zeugenschaft in Literatur, die das Autorisierungsmodell von Kertész behauptet, hindert seine Texte nicht daran, testimoniale Effekte zu haben. Der Literaturkritiker und ständige Sekretär der Nobelakademie Horace Engdahl berichtet über seine Lektüre von S ORSTALANSÁG (Roman eines Schicksallosen [1975]): It is hard to read Kertész’ novel without believing one is reading a truthful account of the writer’s experience of German concentration camps. But Kertész, who really was interned in Auschwitz, denies that this book is autobiographical. 14 Im Anschluss zitiert Engdahl einen Eintrag aus G ÁLYANAPLÓ , der sich auf den Roman bezieht und in einer paradoxen Wendung einen „auto- 11 Aarvik 1997, 164. Meine Hervorhebung. 12 Levi bezeichnet sich wiederholt als „scrittore-testimone [Schriftsteller-Zeuge]“, der nur schreibe, um die Shoah zu bezeugen. Vgl. z.B. Levi 1976, 247. 13 Wiesel 1990, 5. 14 Engdahl 2002, 6. Engdahls Überlegungen stammen aus einem Vortrag, den er 2001 - ein Jahr vor der Preisvergabe an Kertész - auf einem, von der schwedischen Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, organisierten, Symposium zu Witness Literature gehalten hat. 257 biographischen Pakt“ für das Werk behauptet und diesen zugleich erschüttert: „Das Autobiographischste in meiner Biographie ist, daß es in ‚Schicksalslosigkeit’ nichts Autobiographisches gibt.“ 15 Um das paradoxe Moment dieses Satzes zu klären, schlägt Engdahl vor, dass Kertész „perhaps [...] simply implies that he acts like a writer, that is to say, he reconstructs an experience without necessarily explaining its link to his specific case.“ 16 Diese Idee, dass der Zeuge als Schriftsteller bzw. Autor handelt, scheint bereits in den Genrebezeichnungen seiner Texte ausgedrückt. Obwohl S ORSTALANSÁG auf dem beruht, was Kertész in Auschwitz und Buchenwald erlebt hat, nennt er das Buch einen Roman (regény). Die deutsche Übersetzung rückt die Genrebezeichnung sogar in den Titel: Aus „Schicksallosigkeit“ wird der „Roman eines Schicksallosen“. Auch G ÁLYANAPLÓ ist der gattungsmäßigen Einordnung zufolge ein Roman, obwohl es sowohl strukturell als auch in seinen poetologischen Äußerungen bezüglich anderer Texte des Autors durchaus als „Arbeitstagebuch“ betrachtet werden kann. 17 Dass ich G ÁLYANAPLÓ mehrfach als „Tagebuch-Roman“ bezeichnet habe, ist wiederum eine Anspielung auf den deutschen Titel des Romans: „Galeerentagebuch“. In dem 2006 veröffentlichten Text K. D OSSZIÉ (Dossier K. [2006]) scheint sich Kertész gegen solch hybride Klassifizierungen zu wenden. Über den Ausdruck „autobiographischer Roman“ heißt es dort: „[Eine] solche Gattung gibt es gar nicht. Entweder ist es Autobiographie oder ein Roman.“ 18 An einer Lektüre von K. D OSSZIÉ werde ich nun das paradoxe Spiel nachzeichnen, das die Berufung des überlebenden Zeugen auf die Position des Autors in Gang setzt. Anschließend frage ich nach den Implikationen dieses Spiels, nach der mit ihm verbundenen Politik der Zeugenschaft. Auf den ersten Blick handelt es sich bei K. D OSSZIÉ um ein umfassendes Gespräch mit Kertész. Das Druckbild unterscheidet Frage und Antwort nach der gängigen editorischen Praxis, den Part des Interviewers vom Rest des Textes in Kursivschrift abzusetzen. Die „Stimmen“, die auf diese Weise angedeutet werden, besitzen keine Namen, doch das Gespräch behandelt ausschließlich das Werk und die Biographie des 15 Kertész 1999, 185. 16 Engdahl 2002, 6. Meine Hervorhebung. 17 Vgl. dazu Fried 2004, der Kertész als Tagebuchautor untersucht und in G ÁLYA- NAPLÓ „das Schaffen einer schriftstellerischen Persönlichkeit (und nicht unbedingt des ‚empirischen’ Autors“ beobachtet, die zwar von der „konkreten (auto)biographischen Ereignisgeschichte“ losgelöst sei, sich aber auf die Produktionsgeschichte der von Kertész geschriebenen Romane beziehe (Fried 2004, 255- 256). Diese Loslösung von der „konkreten“ (Auto)biographie als Hinwendung zu einer Autorfigur beschreibe ich in diesem Kapitel als das Modell des Zeugen, der zum „Schriftsteller-Autor“ wird. 18 Kertész 2006, 12. Alle weiteren Zitate werden im Text belegt (mit Seitenzahlen in Klammern). 258 Literaturnobelpreisträgers Kertész. Immer wieder zitiert der Fragesteller aus seinen Romanen, um eine biographische Absicherung der Texte zu erhalten. Der Gesprächspartner verweigert ihm diese Autorisierung jedoch, indem er auf der Differenz von Literatur und Wirklichkeit besteht. Als „Autor“ erschaffe er Fiktionen, eine souveräne Welt, die im Kopf des Autors geboren wird und den Gesetzen der Kunst, der Literatur gehorcht [...]. Bei der Fiktion sind alle Details vom Autor erfunden, jedes Moment... (13) Das Interview kreist an dieser Stelle - gleich zu Beginn - um ein Ereignis, das im Gesamtwerk Kertész’ eine zentrale Rolle spielt: An der Stadtgrenze von Budapest wird im Sommer 1944 ein etwa 14-jähriger Junge verhaftet, weil er Jude ist. Die Arbeitspapiere, die ihn bis dato geschützt haben, sind plötzlich nichts mehr wert. Ein Polizist bringt ihn und seine jüdischen Kollegen zu einer Kaserne, wo sie mit vielen anderen in den Pferdestall gesperrt werden. Später, während eines Luftangriffs, treibt man die Gefangenen auf den Hof und droht, alle zu erschießen, falls in der Nähe eine Bombe fallen sollte. Dazu kommt es nicht. Es vergehen fünf Tage, dann wird der Junge über Auschwitz nach Buchenwald deportiert. Kertész schildert die Ereignisse um diese Festnahme u.a. in A K UDARC (Fiasko [1988]) und in S ORSTALANSÁG . Dort heißt der Junge - er ist der Ich-Erzähler des Romans - György Köves. In dem anderen Text bleibt er namenlos. 19 Der Interviewer von K. D OSSZIÉ identifiziert ihn mit dem Verfasser der beiden Bücher. Wenn er nach Einzelheiten der Verhaftung fragt, will er vom Autor wissen, wie dieser auf den Hof der Kaserne kam: „Letztlich genau so, wie ich es im Roman eines Schicksallosen beschrieben habe“ (8). Obwohl es hier heißt, dass Kertész’ Festnahme „genau so“ abgelaufen sei wie die des jungen Köves, und obwohl der Schriftsteller im Folgenden sagt, dass er sein „Leben als Rohstoff für [seine] Romane“ (15) betrachte, lässt er - wie bereits ausgeführt - S ORSTALANSÁG nicht als autobiographischen Roman gelten: „Eine solche Gattung gibt es gar nicht“ (12). In K. D OSSZIÉ siedelt Kertész die Opposition von Roman und Autobiographie auf einer formalen Ebene an. Als Unterscheidungskriterium dient ihm ein autobiographischer Pakt, den die Verfasser von Autobiographien mit ihrer Erinnerung eingehen müssten: Es sei eine wesentliche Voraussetzung, dass sie sich an diese „so gewissenhaft wie möglich“ (12) halten. Anders als bei Lejeunes pacte autobiographique spielt die Beziehung zum Leser - der Pakt, den der Autor mit diesem eingeht - kaum eine Rolle. 20 Bei Kertész geht es um die schriftstellerische Praxis, d.h. um die Herangehensweise, die ein Autor wählt, der das eigene Leben zum „Rohstoff“ seiner Texte macht. Er kann sich 19 Zu diesen Ereignissen vgl. Kertész 1998, 47-81 (S ORSTALANSÁG ), Kertész 2001, 27-34 (A K UDARC ) u. Kertész 2006, 7-16 (K. D OSSZIÉ ). 20 Vgl. Lejeune 1996, 126. 259 entweder für die Autobiographie entscheiden; dann ist es „von größter Bedeutung, daß du alles so beschreibst, wie es in Wirklichkeit geschehen ist, das heißt den Tatsachen nichts hinzufügst“ (12). Oder er wählt den Ansatz, den Kertész in K. D OSSZIÉ für sich behauptet: Er verwandelt den „Rohstoff“ seines Lebens in einen Roman, wo „nicht die Tatsachen das Entscheidende [sind], sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt“ (12). Der Gesprächspartner des Autors ist alles andere als zufrieden mit dieser Aussage. Er behauptet, mit Sicherheit zu wissen, dass alles, was Kertész in seinen Romanen schreibe, „in vollem Umfang authentisch [sei,] und sich jedes Element der Geschichte auf Dokumente stützt“ (12). „Wirklichkeitssplitter sind natürlich auch im Fall der Fiktion außerordentlich wichtig“ (13), räumt der Autor in seiner Antwort ein. Er besteht jedoch weiterhin auf der kategorischen Unterscheidung zwischen Roman und Autobiographie, die ich oben beschrieben habe: dass die Autobiographie erinnere, während die Fiktion, d.h. der Roman, eine Welt erschaffe, in der „alle Details vom Autor erfunden“ sind, „jedes Moment...“ (13). An dieser Stelle unterbricht der Interviewer um auf die, wie er meint, Grenze dieser „Fiktionstheorie“ hinzuweisen: „Du willst doch nicht sagen, daß du Auschwitz erfunden hast? “ (13) - „Und doch“, antwortet der Autor, ist es in gewissem Sinn genau so. Ich mußte im Roman [er meint S ORSTALAN- SÁG und A K UDARC ] Auschwitz für mich neu erfinden und zum Leben bringen. [...] Alles mußte auf hermetische Weise, durch die Zauberkraft von Sprache und Komposition in Erscheinung treten. (13f.) Wird dieser Dialog auf die oben beschriebene Dichotomie zwischen dem Schriftsteller-Zeugen (dem „Wiesel-Modell“) und dem Schriftsteller-Autor bezogen, nimmt der Kertész von K. D OSSZIÉ die Position des „Autors“ ein, obwohl er ein Überlebender der Konzentrationslager ist. Aufgrund dieser Erfahrung will sein Gesprächspartner den Schriftsteller in der Rolle des Zeugen sehen. Dieses Spiel zwischen der Position des „Zeugen“ und der des „Autors“ findet auf der Ebene zwischen einer mündlichen Situation - dem vermeintlichen Interview - und dem Schreibvorgang statt. Indem er Romane schreibt, möchte der Autor dem Gespräch über seine Erfahrung entkommen, und damit - in gewisser Weise - der Erfahrung selbst. „Der Roman“, sagt er, „ist Fiktion“ (8), und obwohl S ORSTALAN- SÁG gemeint ist, lässt sich diese Aussage im Kontext des Gesamtdialogs auf den Roman „an sich“ beziehen. Der Interviewer arbeitet gegen diesen Versuch des Autors, die Erfahrung von sich weg - in die Fiktion hinein - zu schreiben. Er versucht, die Roman-Szenen an das Leben von Kertész zurück zu binden und ihn damit in die Position des Zeugen, in die mündliche Zeugenschaft zu drängen. Die Spannung zwischen den Gesprächspartnern ist bereits auf der ersten Seite von K. 260 D OSSZIÉ angelegt. Der Interviewer beginnt den Dialog mit einem Zitat aus A K UDARC : Im Alter von vierzehneinhalb Jahren stand ich etwa eine halbe Stunde lang Auge in Auge dem Lauf eines feuerbereiten Leichtmaschinengewehrs gegenüber, das auf mich gerichtet war. (7) Er möchte wissen, warum diese Episode in S ORSTALANSÁG nicht vorkommt, obwohl sie zu den dort beschriebenen Ereignissen gehören würde. „Vom Standpunkt des Romans aus gesehen“, entgegnet der Autor, „war sie ein anekdotisches Moment, deshalb mußte sie draußen bleiben“ (7). „Doch vom Standpunkt deines Lebens aus gesehen hätte es ein entscheidendes Moment sein können...“ (7), beharrt der Interviewer. Das verleitet den Autor dazu, selbst eine Frage zu stellen, nämlich ob er jetzt über all das sprechen solle, über das er niemals habe sprechen wollen: „Warum hast du dann darüber geschrieben? “ - „Vielleicht gerade, um nicht darüber reden zu müssen“ (7). Im weiteren Verlauf des Dialogs wird die hier etablierte Unterscheidung zwischen Schreiben und Sprechen explizit enggeführt mit dem Unterschied zwischen Fiktion und Zeugenschaft. Der Autor behauptet, Interviews mit Überlebenden - wie sie etwa Spielbergs Shoah Visual History Foundation sammelt (ein Beispiel, das an dieser Stelle explizit erwähnt wird) - zu hassen. Angeblich halte er es nicht aus, Sätze zu hören wie: „Man hat uns in den Pferdestall getrieben... Wir wurden in einen Hof gedrängt... Man hat uns in die Ziegelei von Budakalász gebracht usw.“ (8). Interessanterweise beziehen sich diese Sätze auf Erfahrungen von Kertész, die in seinen Texten häufig dargestellt werden. Zum Beispiel beschreiben sowohl A K UDARC als auch S ORSTALANSÁG , wie bereits erwähnt, dass ein ungefähr 14-jähriger Junge - zusammen mit anderen Gefangenen - in einen Stall getrieben, auf einen Hof gedrängt und zur Ziegelei von Budakalász gebracht wird. Diese Übereinstimmungen veranlassen den Interviewer zu der Frage, warum der Autor diese Sätze hasse: „Ist es nicht so passiert? “ - „Im Roman ja. Aber der Roman ist Fiktion...“ (8). Auf Nachfragen des Interviewers hin antwortet er aber, dass letztlich alles „genau so“ passiert sei, wie er es beschrieben habe (8). Diese paradoxe Wendung innerhalb des Dialogs, von der meine Betrachtung ihren Ausgang genommen hat, wird durch das Genre von K. D OSSZIÉ noch verstärkt. Der Text erscheint zwar wie ein Interview mit Kertész, doch die Repliken sind nicht mit Namen versehen. Zudem behauptet Kertész - in einer Einleitung, die mit den Initialen I.K. signiert ist -, dass er das Gespräch auf Grundlage eines „wahren“ Gesprächs mit seinem Lektor Zoltán Hafner erfunden habe: Als ich die ersten Sätze [des abgetippten Interviews] gelesen hatte, legte ich den Manuskriptpacken beiseite und öffnete, sozusagen mit einer unwillkürlichen Bewegung, den Deckel meines Computers... (5) 261 Dann bezeichnet er das Buch - entgegen der im Dialog geäußerten Behauptung, dass ein Text entweder nur Autobiographie oder Roman sein könne - als „eine regelrechte Autobiographie“ und als „Roman“ (5). In dem erfundenen Gespräch nimmt Kertész insofern die Rolle sowohl des Autors als auch des Interviewers ein, während er zur gleichen Zeit keiner von beiden ist. 21 Warum spielt Kertész dieses Spiel, das ihm weder die gesicherte Position eines Autors (als Romanschriftsteller, der Fiktionen schreibt) noch die des Zeugen zugesteht? Warum stellt er sich gegen die „alten Überlebenden in der Spielberg-Serie“ (7) und widerspricht - in einem Text, der zugleich Autobiographie, Roman und Interview ist - der Idee eines „autobiographischen Romans“ und dem autobiographischen Schreiben an sich? Aus dem Dialog, der in K. D OSSZIÉ inszeniert wird, lassen sich - unter Berücksichtigung von G ÁLYANAPLÓ und verschiedener Essays des Schriftstellers - die folgenden Antworten auf diese Fragen ableiten: Erstens ist das Konzentrationslager nur als Literatur, nicht als Realität vorstellbar, zugleich folgt die Literatur anderen Regeln als die Realität. Deshalb kann die Szene aus A K UDARC , nach der Kertész’ (imaginärer) Gesprächspartner fragt, nicht in S ORSTALANSÁG stehen. Wenn autobiographisches Schreiben meint, „sich so gewissenhaft wie möglich an deine Erinnerungen zu halten“ und es „von größter Bedeutung [ist], daß du alles so beschreibst, wie es in Wirklichkeit geschehen ist“ (12), kann der Roman - weil es einen strukturellen Zwang gibt, die Realität in Literatur umzugestalten - laut Kertész nicht länger autobiographisch genannt werden, jedenfalls nicht auf einer formalen Ebene. Zweitens versucht der Zeuge, indem er zum Autor wird, seiner eigenen Erfahrung (der traumatischen Erinnerung) zu entfliehen, für die er dennoch Zeugnis ablegt. Indem er sich selbst in eine Romanfigur verwandelt, „verschwindet“ er - so die Hoffnung Kertész’ - aus der Geschichte: Ich konnte mir die Sprache, Wesen und Gedankenwelt einer solchen Figur als Fiktion vorstellen, war aber nicht mehr identisch mit ihr; ich will sagen: Indem ich die Figur schuf, habe ich mich selbst vergessen. (77) Das bedeutet nicht, dass der „Autor“ den Bezug zwischen sich und seiner Geschichte leugnet, aber er versucht, wieder Herr seines „Schicksals“ zu werden, indem er sich aus der Geschichte - in der vor allem mit ihm gehandelt wird - an den Platz des kontrollierenden Autor- 21 Dieses Spiel erinnert an die Platonischen Dialoge, in denen ebenfalls eine Gesprächssituation fingiert wird. Wie P HAIDROS führt auch K. D OSSZIÉ , in der hier beschriebenen Differenzierung von Zeugen- und Autorposition, einen wertenden Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein - freilich in Umkehrung der Platonischen Qualifizierung, die Schrift gegenüber dem „lebendigen Wort“ abwertet. 262 Erzählers versetzt: Sein Platz sei „nicht [mehr] in der Geschichte, sondern am Schreibtisch“ (23), behauptet der Autor an einer Stelle. Dieser Versuch, Kontrolle über die erzählte Welt (und damit über das eigene Leben) zu erlangen, klingt auch an anderen Stellen des Dialogs an, die ich bereits zitiert habe, z.B. wenn K. D OSSZIÉ betont, dass „[die] Welt der Fiktion [...] eine souveräne Welt“ sei, die „im Kopf des Autors geboren wird“ (13). Drittens ist die Autobiographie in einer Welt „nach Auschwitz“ nicht mehr möglich, weil sie ein selbstbestimmtes Individuum voraussetzen würde. Kertész, der nach dem Nationalsozialismus den Kommunismus erlebt hat, beschreibt, wie Individualität in totalitären Regimes verloren geht. Sie zwängen den Menschen zur „Schicksallosigkeit“, meint Kertész. Darunter versteht er den „charakteristische[n] Zug der Diktaturen, den Menschen seines eigenen Schicksals zu enteignen, es in ein Massenschicksal zu verwandeln“ (78). Viertens wendet sich Kertész gegen den Modus der „autobiographischen“ Zeugenschaft, für den die Überlebenden der Shoah Visual History Foundation stehen. Sie würden einen bestimmten Diskurs über den Holocaust unterstützten, der „die Erfahrung selbst mit dem Aussterben der letzten Überlebenden der Konzentrationslager als tote Erinnerung, als ferne Geschichte betrachten möchte“ (121). An anderer Stelle, in einem Essay von 1990, schreibt Kertész - noch ohne Bezug auf die Überlebenden - dieser Diskurs erkläre Auschwitz so, dass das Lager „wie ein sorgfältig präparierter Ausgrabungsfund“ erscheine, „eine in allen Einzelheiten bekannte, abgeschlossene Geschichte, für die wir zu Recht das Präteritum verwenden.“ 22 Der Zusammenhang zwischen diesem Blick auf Auschwitz als „abgeschlossene (tote) Geschichte“ und den Zeugnissen der Überlebenden - die gewöhnlich als Ausweis der „lebendigen Erinnerung“ an die Shoah gesehen werden 23 - scheint erklärungsbedürftig. Warum verbindet Kertész deren Zeugenschaft mit dem Vergessen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich einen weiteren Text von Kertész hinzuziehen - eine positive Kritik über Benignis Film L A V ITA È B ELLA , die 1998 in der Zeit erschienen ist. Unter dem Titel W EM GEHÖRT A USCHWITZ ? beklagt der Autor zunächst die „Eifersucht, mit der die Überlebenden auf dem alleinigen geistigen Eigentumsrecht am Holocaust bestehen.“ 24 In einer Wendung, die sich direkt gegen die Auffassung des (ungenannten) Wiesel zu richten scheint, dass „he or 22 Kertész 2002a, 46. 23 Vgl. dazu z.B. meine Analysen von Langers H OLOCAUST T ESTIMONIES (s.o., S. 32- 38), Spielbergs Shoah Visual History Foundation (s.o., S. 40-47) oder Claude Lanzmanns S HOAH (s.o., S. 212-221), die sich - trotz unterschiedlicher testimonialer Praktiken - auf dieser Ebene vergleichen lassen. 24 Kertész 2002b, 145. 263 she who did live through the event will never reveal it“ 25 , benennt Kertész, was er als Kennzeichen dieses Anspruchs wahrnimmt. Seiner Ansicht nach handeln viele Überlebende [als] wäre ihnen ein einzigartiges, großes Geheimnis zugefallen. Als bewahrten sie einen unerhörten Schatz vor dem Verfall und - ganz besonders - vor mutwilliger Beschädigung. [...] Ängstliche Blicke kleben an jeder Zeile von Büchern über den Holocaust, an jedem Zentimeter Film, der den Holocaust erwähnt: Ist die Darstellung glaubwürdig, die Geschichte exakt, haben wir wirklich das gesagt, es so empfunden, stand der Kübel tatsächlich dort, in genau dieser Ecke der Baracke, waren der Hunger, der Zählappell, die Selektion wirklich so, und so weiter... 26 Kertész sieht die „Eifersucht“ der Überlebenden, anders als dieses Wort vielleicht nahe legt, nicht nur negativ. Auch er beklagt - aus seiner Position als Überlebender heraus - die „[unerträgliche] Stilisierung des Holocaust“ 27 , durch die dieser „den Menschen entfremdet“ würde, bis selbst der überlebende Zeuge darüber „belehrt [wird], wie er über das denken muß, was er erlebt hat, völlig unabhängig davon, wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erlebnissen übereinstimmt [...].“ 28 Hier erscheint der überlebende Zeuge als Gegenpol zu einer Verfälschung der Shoah durch Stilisierung. Wie lässt sich diese Haltung mit der erstgenannten Position des Artikels und den Passagen aus K. D OSSZIÉ zusammenbringen, die sich gegen die Zeugnisse der „alten Überlebenden“ (7) sowie deren „Alleinanspruch auf das Leiden“ (121) wenden? Die Antwort, die sowohl K. D OSSZIÉ als auch der Zeit-Artikel andeuten, doch nicht explizit ausführen, lässt sich mit dem Namen Spielberg verbinden. Der Artikel von 1998 zitiert S CHINDLER ’ S L IST als Negativfolie für L A V ITA È B ELLA . In Spielbergs Film findet Kertész die Entfremdung der Shoah vollendet - gerade deshalb, weil der Film sich so sehr darum bemühe, die „ihm unbekannte Welt [der Konzentrationslager] so auf die Leinwand zu bringen, daß sie in jedem Detail authentisch erscheine“. 29 Benignis Film hingegen wird von Kertész dafür gelobt, dass er die Shoah gerade über die Märchenhaftigkeit der Darstellung, den deutlichen Abstand zwischen Wirklichkeit und Fiktion bezeuge. Als Beispiel nennt er die Szene, in der Guido (Benigni) seinem Sohn vorlügt, dass Auschwitz nur ein Spiel sei, bei dem der Sieger einen Panzer gewinne: „Aber hat diese Erfindung nicht eine ganz wesentliche Entsprechung in der erlebten Wirklichkeit? “, fragt Kertész: Man roch den Gestank des verbrannten Fleisches und wollte doch nicht glauben, daß alles wahr sein könnte. Lieber suchte man Überlegungen, die 25 Wiesel 1990, 7. 26 Kertész 2002b, 145. 27 Kertész 2002b, 146. 28 Kertész 2002b, 148. 29 Kertész 2002b, 150. 264 zum Überleben verlockten, und ein ‚echter Panzer’ ist für ein Kind genau solch ein verführerisches Versprechen. 30 Diese Gegenüberstellung der beiden Filme und ihrer Regisseure, von denen erwähnt wird, dass sie erst nach dem Krieg geboren wurden, ist ein Plädoyer für eine Zeugenschaft durch offene Fiktionalisierung, auf die sich auch Kertész’ „Autor“ beruft. Während Benigni seine Abständigkeit zur Realität der Shoah offenlegt - er autorisiert seine Darstellung des Konzentrationslagers „als Literatur“ -, verschleiert Spielberg diese Distanz. Er behauptet, das Konzentrationslager „als Realität“ darzustellen, d.h. es wird zu einer „abgeschlossenen Geschichte“, die in allen Einzelheiten bekannt ist. Auf die Schlussszene von S CHINDLER ’ S L IST , die ich gegen Anfang dieser Arbeit diskutiert habe, geht Kertész nicht weiter ein. An ihr lässt sich aber die Verbindung aufzeigen, die der - in K. D OSSZIÉ kritisierte - „Alleinanspruch auf das Leiden“ (121) mit dem Konzept des „Konzentrationslager[s] als tote Erinnerung, als ferne Geschichte“ (121) eingehen kann. Denn in der Schlussszene autorisieren die überlebenden Schindler-Juden die Schein-Realität von Spielbergs Film als Wahrheit ihres Überlebens. So legen sie Zeugnis ab für eine Erinnerung, die S CHINDLER ’ S L IST ihnen nach Ansicht von Kertész raubt. „Ja, der Überlebende sieht ohnmächtig zu, wie man ihn um seine einzige Habe bringt: um die authentischen Erlebnisse“, beginnt der Schriftsteller die Passage seines Artikels, in der er sich mit Spielbergs Film beschäftigt. 31 An der Shoah Visual History Foundation lässt sich der Entzug der Erinnerung noch genauer studieren. Einerseits behauptet die Initiative, ihre Gesprächspartner als „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ zu bewahren, andererseits zerstückelt sie die Interviews, die sie mit ihnen macht. Die Erinnerungen der Überlebenden werden zum Ausgangsmaterial für Filme wie V OICES FROM THE L IST oder James Molls T HE L AST D AYS (1998). Auf der Internetseite der Foundation gibt es einen Online Testimony Viewer, der die Erinnerungen nicht nach Zeugen sortiert, sondern ihre Zeugnisse in kleinen Häppchen nach „Erfahrungsgruppen“ einteilt: „prisons“, „concealment of Jewish identity“, „displaced persons camps“, „escapes from mass shootings“ und viele mehr. 32 Die Singularität der jeweiligen Zeugen und ihrer spezifischen Erfahrung geht dabei verloren. Die „Idee eines totalen Archivs der Überlebenden“, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, 30 Kertész 2002b, 153. Zu L A V ITA È B ELLA vgl. zahlreiche Aufsätze, z.B. Langer 2006, 30-47, die dem Film jene „Verfälschung“ der Wirklichkeit vorwerfen, die Kertész für S CHINDLER ’ S L IST beklagt. 31 Kertész 2002b, 149. 32 Vgl. http: / / college.usc.edu/ vhi/ (Letzter Zugriff: 28. Februar 2008). 265 wie es z.B. im Archiv des Holocaust-Museums und in der Spielberg-Stiftung intendiert ist, besonders aber das Vorhaben einer elektronisch gestützten Archivierung, die eine datenspezifische Analyse oder ‚Auswertung’ der Videozeugnisse ermöglicht, [bereitet] die Aufnahmen [...] [vor] für eine Zersplitterung der Zeugnisse in positivistische Einzeldaten. 33 So gesehen, zeigt sich an Spielbergs Initiative der Verlust der Zeugenschaft im Übergang zu einer positivistischen Geschichtsauffassung, für die der Holocaust ein „erklärter“ Teil der Vergangenheit ist, die sich aber dennoch über eine Bezugnahme auf die vermeintlich „geretteten“ Zeugen autorisiert. Dieser Autorisation zu entgehen, das ist vielleicht der wichtigste Grund, warum Kertész sich in K. D OSSZIÉ - ebenso wie in seiner schriftstellerischen Praxis, über die der Dialog handelt 34 - nicht als Zeuge, sondern als Autor inszeniert; und Anlass für die Politik der Zeugenschaft, die das paradoxe Spiel von K. D OSSZIÉ betreibt: „Siehst du da nicht einen Widerspruch? “, fragt der Interviewer am Ende des Buches. „Natürlich“, erwidert der Autor, „ich sehe überall Widersprüche. Aber ich liebe Widersprüche“ (235). Während das Autorisierungsmodell, für das hier der Name Wiesel steht, versucht, die hybride „Literatur der Zeugenschaft“ als Zeugnis zu stabilisieren, d.h. zu einem „Spiegel der Zeugenschaft“ in dem Sinn zu werden, dass das Imaginäre in Richtung des Realitätsbezugs überschritten wird, fürchtet Kertész eine solche Stabilität. Zu einer Zeit, da „Auschwitz [den] immer schwächer werdenden Händen“ der Überlebenden entgleitet, 35 geben sie ihre Position als Zeugen immer mehr dem Missbrauch preis. Stattdessen plädiert der Überlebende für eine testimoniale Position, die sich von der offengelegten Fiktion her denkt - von einem widersprüchlichen Spiel zwischen „Autor“ und „Zeuge“, das die Erinnerung im unsicheren Raum der fiktionalen Zeugenschaft „lebendig“ hält. 33 Weigel 2002, 54-55. 34 Vgl. Eaglestone (2005, 38): „It is the use of fiction, rather than eyewitness testimony, by Kertész that allows the texts to offer his unique response to the Holocaust.“ Die - noch nicht zahlreiche - Sekundärliteratur zu Kertész behandelt meist S ORSTALANSÁG . Vgl. z.B. die Aufsatzsammlungen von Szegedy-Maszák/ Scheibner (Hg.) 2004 u. Vasváry/ Zepetnek (Hg.) 2005. 35 Kertész 2002b, 145. 267 Epilog: Die Abwesenheit der Zeugen I went for three days and I found absolutely nothing... I didn’t even find the kind of absence that I was anticipating, it wasn’t an evocative absence, it wasn’t a moving experience, it was just nothing. 1 In Jonathan Safran Foers Roman E VERYTHING IS I LLUMINATED (2002) sucht ein junger amerikanischer Jude in der Ukraine nach dem (fiktiven) Shtetl Trachimbrod, aus dem seine Familie stammt, und nach einer Frau namens Augustine, von der er glaubt, dass sie seinen Großvater vor den Nazis gerettet habe. Um Augustine und das Shtetl zu finden, reist der junge Mann - der so wie der Autor des Buches „Jonathan Safran Foer“ heißt - durch das ihm fremde Land. Der 21-jährige Amerikaner wird dabei unterstützt von dem gleichaltrigen Ukrainer Alex und von dessen Großvater. Die beiden arbeiten für ein Reiseunternehmen namens „Heritage Touring“, das sein Geld vor allem damit verdient, jüdischen Menschen die Orte zu zeigen, an denen sie heute vielleicht leben würden - wären die Juden dort nicht ermordet oder vertrieben worden: „I want to see Trachimbrod“, erklärt Jonathan das Ziel seiner Reise, „To see what it’s like, how my grandfather grew up, where I would be now if it weren’t for the war.“ 2 Jonathan hat seinen Großvater Safran nie kennengelernt. Dieser war nach dem Massaker von Trachimbrod, das außer ihm fast niemand überlebt hat, in die USA ausgewandert. Dort starb er fünf Wochen nach seiner Ankunft. Jonathans Suche nach der eigenen Vergangenheit beginnt mit ihrem (fast) absoluten Fehlen. Anders als z.B. der Sohn in M AUS besitzt dieser Nachkomme von Holocaust-Überlebenden kein „Postmemory“ in dem Sinn, wie Marianne Hirsch diesen Begriff definiert: Postmemory characterizes the experience of those who grow up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by the stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood nor recreated. 3 Jonathan, der - wie der Autor von E VERYTHING IS I LLUMINATED - 1977 geboren wurde, kann die Geschichte(n) seiner Vorfahren auch deshalb nicht einholen, weil sie für ihn nicht existieren. Was die traumatischen Ereignisse von Trachimbrod betrifft, fehlen ihm Erfahrung, Erinnerung 1 Jonathan Safran Foer in der Fernsehsendung The Charlie Rose Show vom 24. Mai 2002 (Foer 2002b). 2 Foer 2002a, 59. 3 Hirsch 1997, 22. Vgl. auch Hirsch 2001. 268 und Zeugenschaft. Jonathan kommt in den Vereinigten Staaten auf die Welt, mehr als dreißig Jahre nach den Ereignissen und auf einem anderen Kontinent. Seinen Großvater haben weder er noch seine Mutter jemals kennengelernt. Die Großmutter redet nie über die Vergangenheit und darf auch nicht wissen, dass Jonathan sich auf der Suche nach dieser Vergangenheit befindet: Der junge Amerikaner hat Angst, dass sie ihm die Reise nach Europa nicht verzeihen würde. Alles was Jonathan von der Vergangenheit besitzt, ist die minimale Auskunft darüber, dass eine Frau seinen Großvater aus Trachimbrod gerettet hat - und ein Photo, auf dem vermutlich diese Frau zu sehen ist. „This is me with Augustine, February 21, 1943“, steht auf die Rückseite des Bildes gekritzelt. 4 Allerdings weiß Jonathan weder sicher, ob es sich um die Handschrift seines Großvaters handelt, noch, ob die Frau auf der Photographie wirklich Augustine heißt. Anders als die Familienphotos, die Hirsch in ihrem Buch über Postmemory beschreibt, ist dieses Bild kein Erinnerungsort, an dem sich die Geschichten verschiedener Generationen überkreuzen. 5 Aus diesem Fehlen der Erinnerung heraus begibt sich Jonathan auf die Suche nach einer Zeugin (Augustine) und nach einem Erinnerungsort (Trachimbrod), die ihn mit der eigenen Geschichte nicht nur verbinden - sondern diese überhaupt erst herstellen würden. Insofern unterscheidet sich Jonathans Weg von dem anderer Nichtzeugen, die ich in dieser Arbeit behandelt habe: Geht es bei Art Spiegelman und Peter Weiss um die Suche nach Zeugenschaft innerhalb einer Ortschaft bzw. der eigenen Familiengeschichte, muss in E VERYTHING IS I LLUMI- NATED selbst der Raum der möglichen Zeugenschaft erst geschaffen werden. So verweist Foers Roman auf eine Abwesenheit der Zeugen, die noch weniger ist als Abwesenheit: nämlich ein „Nichts“ der Zeugenschaft. Die Modelle testimonialer Autorisierung, die in meiner Arbeit untersucht wurden, haben als Gemeinsamkeit, dass sie sich in Bezug auf einen abwesenden Zeugen situieren - unabhängig davon, ob sie Zeugnis mittels einer Betonung des Abstands oder der Nähe zu diesem ablegen. Zeugenschaft, wie sie sich in dieser Arbeit dargestellt hat, liegt quer zu traditionellen Dichotomien wie Fiktion und Nichtfiktion, Vorstellungskraft und Erfahrung, Form und Inhalt. Gerade das ermöglicht die testimoniale Wirksamkeit von Darstellungen der Shoah - obwohl sie vom Körper der „wirklichen“ Zeugen getrennt sind. Mit dem wachsenden kulturellen und zeitlichen Abstand zu den Ereignissen wird die Abwesenheit der Zeugen jedoch größer, weil nicht nur die „wahren Zeugen“ im Sinne Primo Levis fehlen, sondern auch die überlebenden Zeugen sterben. Wenngleich testimoniale Autorisierung als 4 Foer 2002a, 60. 5 Vgl. Hirsch 1997, v.a. 21-23. 269 Möglichkeit erscheint, die Erinnerung auch nach deren Tod lebendig zu halten (insofern sie Holocaust-Darstellungen trotz der realen Abwesenheit der Zeugen, die schon in der medialen Umsetzung vorgezeichnet ist, beglaubigt), scheint sie darauf angewiesen, dass die Abwesenheit als Bezugsrahmen erhalten bleibt. Wie angedeutet, beschreibt Foer - als Angehöriger der dritten Generation „nach Auschwitz“ - eine Situation, in der selbst diese Abwesenheit auf dem Spiel steht. Zugleich wird die Vorstellungskraft des Autors als der Ort behauptet, an dem die Abwesenheit (als Grundlage der Zeugenschaft) noch einmal hergestellt werden kann. E VERYTHING IS I LLUMINATED nimmt diese Gewichtung darüber vor, dass zwei Reisen nach Trachimbrod kontrastiert werden. Die geographische Reise, die Jonathan, Alex und dessen Großvater zusammen machen, wird von Alex in gebrochenem und teilweise erfundenem Englisch erzählt. Als die drei, begleitet von ihrem Hund und von einer Frau, die vielleicht die gesuchte Augustine sein könnte, das Shtetl endlich erreichen, finden sie dort buchstäblich „Nichts“. Laut Alex’ Beschreibung, [there] was nothing. When I utter ‘nothing’ I do not mean there was nothing except for two houses, and some wood on the ground, and pieces of glass, and children’s toys, and photographs. When I utter that there was nothing, what I intend is that there was not any of these things, or any other things. 6 Die geographische Reise bzw. ihre Schilderung durch Alex wechselt sich mit einem Reisebericht anderer Art ab. Jonathan, der zweite Erzähler von E VERYTHING IS I LLUMINATED , vollzieht eine imaginäre Reise in die Vergangenheit des Shtetls und seiner Familie. Er erfindet deren Geschichte seit 1791 als magisch-realistische und folkloristisch angehauchte Erzählung. 7 Nicht nur der Stil dieser Erzählung verweist darauf, dass es sich um eine Wiedererweckung aus der Vorstellungskraft handelt. Die Rolle der Imagination drückt sich z.B. auch in der Bedeutung aus, die Träume in der Geschichte des Shtetls einnehmen - oder in eingestreuten Bemerkungen wie die folgende über eine Hauptfigur der Erzählung: „I’ve imagined her many times.“ 8 Zudem wird der Schreibvorgang in Briefen reflektiert, die Alex an seinen Freund Jonathan schickt und die Entwicklung des intrafiktionalen Romans kommentiert. Am Ende der Geschichte steht die Vernichtung Trachimbrods. 1942 zerstören die Deutschen den Ort, sperren alle jüdischen Einwohner in die Synagoge und zünden das Gebäude an: „(It was the same in every 6 Foer 2002a, 184. 7 Zum Stil dieser Binnenerzählung vgl. Eaglestone 2004, 128-130 sowie Behlman 2004, 59-60. 8 Foer 2002a, 75. 270 shtetl. It happened hundreds of times. It happened in Kovel only a few hours before and would happen in Kolki in only a few hours)“ (272). Der in Klammern gesetzte Satz betont, dass dieser Vorgang historische Realität darstellt - unabhängig davon, dass Jonathan die Geschichte des Shtetls innerhalb eines Romans erfindet. Die Grenzen der „Erfindung“ sind hier erreicht, weil die Vernichtung der Juden Trachimbrods - obwohl Jonathan sie aus dem „Nichts“ imaginieren muss - eine Realität aufnimmt, die „hundreds of times“ geschehen ist. In einem Aufsatz über den Stellenwert des Fantastischen in amerikanisch-jüdischen Holocaust-Romanen seit der Jahrtausendwende, erklärt der Literaturwissenschaftler Lee Behlman, dass literarische Strategien wie der magische Realismus Foers eine Antwort auf „the nowvast temporal and cultural distance between late twentieth and twentyfirst century America and the Holocaust“ seien. 9 In den 1930er Jahren hat Marcus Lee Hansen eine Theorie aufgestellt, die als „Hansen’s Law“ in die Sozialwissenschaft eingegangen ist. 10 Während die Kinder von Einwanderern, d.h. die zweite Generation, sich von den Wurzeln der Eltern abwenden würde und nach Assimilation in der neuen Heimat Amerika strebt, will sich die dritte Generation an das erinnern, was die Identität der Großeltern ausmachte. Hansen nennt dies „the principle of third-generation interest.“ 11 In E VERYTHING IS I LLUMINATED folgt Jonathans Familiengeschichte Hansens Muster, insofern die Mutter kein Interesse an der Geschichte ihrer Eltern hat - Jonathan sich hingegen auf die Suche nach den eigenen Wurzeln macht. Es ist ihm jedoch unmöglich, diese in Wirklichkeit einzuholen: An ihrer Stelle steht ein „Nichts“. Der Rückbezug auf folkloristisch-jüdische Erzählformen in Jonathans (und Foers) Re-Imagination des Shtetl-Lebens ließe sich demnach als Ausdruck des „third-generation interest“ verstehen. Wo der „authentische“ Rückbezug auf die eigene Identität nicht mehr möglich ist, führt dieses Interesse zu eine Wiederbelebung mit den Mitteln der Imagination. 12 Behlman argumentiert, dass die Re-Imagination des Shtetl-Lebens in Romanen wie E VERYTHING IS I LLUMINATED einen Effekt beim Leser auslösen würde, insofern sie - wie oben beschrieben - mit der Realität der Shoah gekoppelt werde: The reader’s sense of shock or surprise in these works derives from the apparent clash between the familiar characters, conventions, and storylines of 9 Behlman 2004, 60f. 10 Zum Folgenden vgl. Jacobson 2006, 1-10. 11 Zit. nach Jacobson 2006, 3. 12 Vgl. dazu Matthew Frye Jacobsons Konzept der „ethnic reverie“ (Jacobson 2006, 177-205). 271 Jewish folklore and the dreadful events that would destroy the culture that produced them. 13 Die Vernichtung Trachimbrods, die am Ende von Jonathans Binnenerzählung steht, ist demnach etwas anderes als das „Nichts“, das ihm und seinen Begleitern an Stelle des realen Trachimbrod begegnet. Indem Jonathan die Geschichte des Shtetls bis zum Zeitpunkt der Zerstörung neu imaginiert, erschreibt er sich die Abwesenheit (im Gegensatz zum „Nichts“) der eigenen Geschichte. In einem Fernsehinterview mit Charlie Rose spricht der Autor Jonathan Safran Foer über die Entstehungsgeschichte seines Romans. Er sei auf den Spuren seines Großvaters in die Ukraine gefahren, habe dort aber nichts gefunden - noch nicht einmal die bewegende Abwesenheit („evocative absence“), die er erwartet habe: „it was just nothing“, sagt Foer. 14 Vielleicht ist das ein neues Paradox der Zeugenschaft, das der Roman E VERYTHING IS I LLUMINATED untergründig beschreibt: dass es, je mehr wir uns von Auschwitz „nach Auschwitz“ entfernen, notwendig wird, das Nichts in jene Abwesenheit der Zeugen zu verwandeln, die Zeugenschaft überhaupt erst möglich macht. 13 Behlman 2004, 57. 14 Vgl. Foer 2002b. 273 Literaturverzeichnis Aarvik, Egil (1997): „Presentation by Egil Aarvik“ [Rede für Elie Wiesel, 1986]. In: Abrams, Irwin (Hg.): Nobel Lectures: Peace, 1981-1990. Singapore: World Scientific, S. 163-168. Adorno, Theodor W. (2003): Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirk. von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; darin: Adorno, Theodor W. 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Fernsehserien And the Pursuit of Happiness [1986]. USA. Regie: Louis Malle. Anne Frank Remembered [1995]. UK, USA, Holland. Regie: Jon Blair. L’Arroseur arrosé [1895]. Frankreich. Regie: Louis und Auguste Lumière. Au revoir les enfants [1987]. Frankreich, BRD. Regie: Louis Malle. The Diary of Anne Frank [1959]. USA. Regie: George Stevens. Drehbuch: Frances Goodrich, Albert Hackett. The Execution of Mary, Queen of Scots [1895]. USA. Regie: Alfred Clark. Produktion: Thomas Edison. Holocaust: The Story of the Family Weiss (TV) [1978]. USA. Produktion: Marvin J. Chomsky. Drehbuch: Gerald Green. Im Toten Winkel: Hitlers Sekretärin [2002]. Österreich. Regie: André Heller, Othmar Schmiderer. Into the Arms of Strangers: Stories of the Kindertransport [2000]. UK, USA. Regie: Mark Jonathan Harris. Judgment at Nuremberg [1961]. USA. Regie: Stanley Kramer. The Last Days [1998]. USA. Regie: James Moll. De Laatste zeven maanden van Anne Frank [1988]. Holland. Produktion: Willy Lindwer. The Long Way Home [1997]. USA. Regie: Mark Jonathan Harris. Nazi Concentration Camps [1945]. USA. Regie: George Stevens. Nuit et brouillard [1955]. Frankreich. Regie: Alain Resnais. Orphée [1950]. Frankreich. Regie: Jean Cocteau. The Pianist [2002]. Frankreich, Deutschland, UK, Polen. Regie: Roman Polanski. Rear Window [1954]. USA. Regie: Alfred Hitchcock. Salò o le 120 giornate di Sodoma [1975]. Italien. Regie: Pier Paolo Pasolini. Le Sang des bêtes [1949]. Frankreich. Regie: Georges Franju. Schindler’s List [1993]. USA. Regie: Steven Spielberg. Shoah [1985]. Frankreich. Regie: Claude Lanzmann. Die Todesmühlen [1945]. USA. Regie: Hans Burger. Der Untergang [2004]. Deutschland, Italien, Österreich. Regie: Oliver Hirschbiegel. La Vita è bella [1997]. Italien. Regie: Roberto Benigni. Voices from the List [2004]. USA. Regie: Michael Mayhew. Hörspiele Ein Blumenstück [1968]. Saarländischer Rundfunk mit Hessischer Rundfunk, Süddeutscher Rundfunk, Südwestfunk. Buch: Ludwig Harig. Regie: Hans Bernd Müller. Ein Blumenstück [Neuinszenierung 1979]. Norddeutscher Rundfunk. Buch: Ludwig Harig. Regie: Heinz Hostnig. 291 Theaterinszenierungen Anne Frank [1966]. Israel Soldiers Theater, Tel Aviv. Buch: Meyer Levin. Regie: Peter Frye. The Diary of Anne Frank [1955]. Cort Theater, New York. Buch: Frances Goodrich, Albert Hackett. Regie: Garson Kanin. The Diary of Anne Frank [1957]. Habimah Theater, Tel Aviv. Buch: Frances Goodrich, Albert Hackett. Regie: Israel Becker. The Diary of Anne Frank [1997]. Music Box Theater, New York. Buch: Wendy Kesselmann nach Frances Goodrich u. Albert Hackett. Regie: James Lapine. El diario de Ana Frank. Un canto a la vida [2008]. Calderon Theater, Madrid. Buch: Rafael Alvero. Musik: José Luis Tierno. Produktion, Regie: Rafael Alvero. 292 Abbildungsverzeichnis Bildquellen der Abbildungen: Abb. 1-2 Standbilder aus Roman Polanski: The Pianist (S. 55, S. 63) Abb. 3 Aufnahme von Harry Miller: Jüdische Gefangene in Buchenwald, aus U.S. Defense Visual Information Center (S. 92) Abb. 4-5 Bühnenbild von Boris Aronson für The Diary of Anne Frank (Regie: Garson Kanin, 1955); Szenenfoto aus Frances Goodrich, Albert Hackett (1964): The Diary of Anne Frank. (S. 154, S. 162) Abb. 6 Szenenfoto von Meyer Levins Anne Frank in der Regie von Peter Frye (1966) aus Lawrence Graver (1995): An Obsession with Anne Frank. Meyer Levin and the Diary. (S. 163) Abb. 7 Standbild aus Claude Lanzmann: Shoah. (S. 217) Abb. 9 Bild aus Adrian Tomine (2004): Sommerblond (S. 243) Abb. 8, 10-11 Bilder aus Art Spiegelman (1992): Maus. (S. 242, S. 248, S. 249) 293 Dank Es gibt drei Leute, ohne deren Hilfe dies Buch nicht entstanden wäre: da ist zum einen Peter Marx, der Betreuer meiner Doktorarbeit, dessen Bürotür für mich offenstand, als wir uns noch nicht kannten - und dessen Offenheit das Projekt entschieden in die richtige Richtung gelenkt hat. Zum anderen ist da Michael Bopp, der in den Wochen der Fertigstellung unglaublich viel geholfen hat: mit seiner Saftmaschine, seinem Drucker und seinem unermüdlichen Leseeifer für all das, was aus diesem Drucker kam. Schließlich Sabine, der ich mehr (ver-)danke als Worte ausdrücken können. Am Anfang dieser Arbeit stand auch die Hörspielredaktion des Saarländischen Rundfunks, für die ich sieben Jahre lang als Regieassistent arbeiten durfte und die mir den Zugang zu ihrem Archiv ermöglichte. Nicht ohne Grund beginnt dieses Buch mit Überlegungen zu einem „saarländischen“ Hörspiel. Dafür danke ich Anette Kührmeyer, Stefan Dutt, Robert Karge und Cornelia Purkarthofer. Meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bin ich für Hilfe und Freundschaft zu Dank nicht nur verpflichtet: allen voran dem Institutsleiter Friedemann Kreuder, der meine Arbeit sehr gefördert hat, Constanze Schuler, die das IPP am Laufen hielt, sowie Stefanie Watzka, die weite Teile des Manuskripts Korrektur gelesen hat. Die Arbeit ist, gefördert durch ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung Rheinland-Pfalz, im Rahmen des Internationalen Promotionsprogramms (IPP) Performance and Media Studies entstanden. Ich danke meinen Mitdoktoranden - v.a. Mashav Balsam und Ulf Otto - ebenso wie den beteiligten Hochschullehrern, in erster Linie Alfred Hornung, Karl N. Renner, Martin Puchner, Freddie Rokem, Sabine Haenni, Bernhard Spies und Brigitte Schultze, für zahlreiche Anregungen und eine gute Arbeitsatmosphäre. Auch Matthias Bauer, Axel Dunker, Dieter Lamping, Sven Kramer und Robert S. Schine danke ich für hilfreiche Gespräche. Die Drucklegung des Buches wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Carl Niessen-Stiftung (Köln), der ich - wie der Gesellschaft der Freunde der Universität Mainz - aufs herzlichste für ihre Hilfe danke. Ich danke allen, die das Manuskript in unterschiedlichen Entwurfsstadien gelesen und kommentiert haben: vor allem Jochen Schreiner, Andreas Kohler, Michael Bopp, Sabine Kim und Dieter Bachmann. Meinen Eltern, meiner Schwester, meiner Tante Irmgard danke ich für ihre lebenslange Unterstützung. 294 Namenregister Adorno, Theodor W. 24-26, 84, 148, 191, 195 Agamben, Giorgio 21-23, 56-57, 60-61, 73-74 Alberti, Leon Battista 63 Alvero, Rafael 166-167 Améry, Jean 57 Andrew, J. Dudley 207 Appelfeld, Aharon 34 Arendt, Hannah 14, 99, 109, 112- 116, 118 Arnheim, Rudolf 203-207, 209 Aronson, Boris 154-155 Assmann, Aleida 42, 68-70, 139, 230-231 Assmann, Jan 37, 42, 138 Atkinsons, Brooks 158 Augustinus 71 Baal-Schem-Tow 117-119 Bal, Mieke 51, 64 Balázs, Béla 206-207 Ballif, Algene 143-144, 146-147 Barnouw, Dagmar 196-198 Barthes, Roland 83, 118-119, 124, 147, 173-174, 189, 209 Bazin, André 63-64, 207 Beauvoir, Simone de 219 Becker, Israel 164 Beckett, Samuel 26 Begley, Louis 51 Behlman, Lee 269-261 Ben-Gurion, David 103, 106, 113 Benigni, Roberto 38, 40, 262-264 Benjamin, Walter 188, 191-198, 201-202, 209 Bennett, Cherie; Gottesfeld, Jeff 152 Benveniste, Émile 74, 231 Bernard-Donals, Michael 91-92, 95, 97-98, 100, 117-119 Berryman, John 182 Bettelheim, Bruno 142-147, 153- 155, 158, 174, 182 Biermann, Wolf 225 Blanchot, Maurice 71, 75, 131, 226 Bloomgarden, Kermit 151, 159, 164 Bomba, Abraham 216-219 Bouquet, Michel 90, 97 Brody, Adrien 38, 50, 68 Broszat, Martin 10 Buñuel, Luis 190 Carlson, Marvin 165 Carter, Jimmy 93 Caruth, Cathy 58, 76, 129 Cayrol, Jean 90, 94-97, 134-135 Celan, Paul 94, 225, 227 Chomsky, Marvin J.; Green, Gerald 39 Cloquet, Ghislain 90 Cocteau, Jean 121 Colombat, André 90, 94 Crawford, Cheryl 159-160 Danieli, Yael 100 Delbo, Charlotte 126-131 Denby, David 50-51, 55, 64 Derrida, Jacques 48, 70-75, 77, 79, 116, 147-150, 240 Didi-Huberman, Georges 96-97, 214 Dinur, Yehiel 111-112, 114-118, 133 Dössekker, Bruno siehe Wilkomirski, Binjamin Douglas, Lawrence 106-112, 115 Duke, David 238-239, 241 Dunker, Axel 20, 250-251 Edison, Thomas 192 Eichmann, Adolf 10-12, 14-16, 47- 48, 69, 99-100, 105-116, 133 Eisenstein, Sergej 207 Eisler, Hanns 95-97 Eke, Norbert Otto 21 Engdahl, Horace 256-257 Fellini, Federico 190 Felman, Shoshana 56, 59, 76-78, 107, 110, 112, 115-116, 212 Fest, Joachim 85 Fips (d.i. Philipp Rupprecht) 247 Fischer-Lichte, Erika 156-157 Foer, Jonathan Safran 267-271 Foucault, Michel 120-121, 147 295 Franju, Georges 190-192, 199-200 Frank, Anne 48-49, 133, 137-183, 205-206, 216 Frank, Otto 137-140, 142-144, 150- 151, 155, 159, 163-166, 168, 179 Freud, Sigmund 59, 128-129 Frye, Peter 163-165 Ganz, Bruno 85 Gilman, Sander L. 146, 151, 156, 158-159, 161 Glejzer, Richard 91-92, 95, 97-98, 100, 117-119, 237 Goldschmidt, Hermann Levin 227 Goodrich, Frances; Hackett, Albert 137, 139-147, 150, 153- 155, 158-164, 166, 170 Gottesfeld, Jeff siehe Bennett, Cherie Grass, Günter 29, 225 Graver, Lawrence 140, 151-152, 159-165 Green, Gerald siehe Chomsky, Marvin J. Habermas, Jürgen 193-194 Hackett, Albert siehe Goodrich, Frances Halbwachs, Maurice 42 Hansen, Marcus Lee 270 Hansen, Miriam 200-203, 208-209, 212-213 Harig, Ludwig 7-19 Hart Nibbrig, Christiaan L. 121 Hartman, Geoffrey H. 30, 40, 56, 61, 107-108, 112, 114, 116 Harwood, Ronald 50-52 Hausner, Gideon 99, 105-111, 113-116 Heam, George 166 Hegel, G.W.F. 24 Heißenbüttel, Helmut 12-13, 15, 17 Heller, André; Schmiderer, Othmar 85 Hellman, Lillian 159 Hilberg, Raul 18 Himmler, Heinrich 13-14 Hirsch, Marianne 189, 238-239, 243, 267-268 Hirschbiegel, Oliver 85-86 Hitchcock, Alfred 63 Hitler, Adolf 85, 102, 246-247 Höß, Rudolf 7, 9-12, 14, 16-18 Hostnig, Heinz 7 Huber, Gusti 164 Insdorf, Anette 39-40, 95 Jacobson, Matthew Frye 101, 165, 270 James, Henry 170, 172 Jameson, Storm 149 Jessen, Jens 85-86 Junge, Traudl 85-86 Kamps, Johann M. 7, 9 Kanin, Garson 139-141, 150, 153- 156, 158, 161-162, 164 Katzetnik siehe Dinur, Yehiel Kazin, Alfred 99 Kerr, Walter 154 Kertész, Imre 19-20, 49, 57, 221, 253-265 Kesselman, Wendy 153, 165-167 Klüger, Ruth 230-233 Koch, Gertrud 186, 194-198, 212- 213 Kolesch, Doris 156-157 Kracauer, Siegfried 49, 185-216 Kramer, Stanley 39 Kramer, Sven 45, 53 Krämer, Sybille 74, 156-157 Krankenhagen, Stefan 45-46 Kreuder, Friedemann 48, 138-139 Kubrick, Stanley 51, 54 Lacan, Jacques 19, 58-60, 64, 121 LaCapra, Dominick 22-23, 61, 214, 218, 238-239 Lacoue-Labarthe, Philippe 246 Langer, Lawrence 29-37, 104-105, 108, 127, 131, 140, 144, 149, 262, 264 Lanzmann, Claude 26, 49, 212- 221, 240, 262 Lapine, James 165-166 Lara, Alexandra Maria 85-86 Laub, Dori 59, 76-78 Lejeune, Philippe 180, 229, 258 Lethen, Helmut 197-199 296 Levi, Primo 18, 29-30, 35, 37, 48, 52, 56-62, 70, 75, 185, 230, 256, 268 Levin, Meyer 150-153, 156, 158- 161, 163-164, 166, 168, 170 Lévinas, Emmanuel 94 Lex, Hans Ritter von 90, 102 Libeskind, Daniel 108 Lichtman, Ada 108-109 Lindeperg, Sylvie 90, 96-97 Lindner, Burkhart 23-25 Lindwer, Willy 148-149 Littel, Jonathan 20 Loewy, Hanno 164, 183 Loshitzky, Yosefa 41, 103-104 Lumière, Louis u. Auguste 207, 211 Lustig, Branko 41 Lyotard, Jean-François 24-26, 83- 84, 107, 148, 213 Malle, Louis 37, 80-85, 97 Margalit, Avishai 69-70, 93 Marx, Peter W. 42, 165 Mauriac, François 125, 133-135 Mayhew, Michael 43-46 McCullers, Carson 160 Méliès, Georges 207, 210 Melnick, Ralph 159-163 Mitscherlich, Alexander u. Margarete 102 Moll, James 264 Mon, Franz 8 Mouly, Françoise 244-246, 249 Müller, Filip 219-220 Mulvey, Laura 64 Nora, Pierre 212 Novick, Peter 39, 100-101, 165 Orbán, Katalin 238, 240-241 Ozick, Cynthia 140, 143, 167-168, 174-175, 182 Pasolini, Pier Paolo 20 Perec, Georges 20 Perkins, Millie 137-140, 165 Platon 149-150, 173, 261 Plunka, Gene A. 116 Polanski, Roman 37-38, 40, 50-56, 61-65, 67-68, 80 Portman, Natalie 153, 165, 167 Quinn, Michael 120, 157 Rabbi Israel ben Elieser siehe Baal-Schem-Tow Radisch, Iris 20 Ranke, Leopold von 31 Ray, Satyajit 189 Reagan, Ronald 93 Reinmuth, Karl Wilhelm 153 Renger, Annemarie 102 Resnais, Alain 48, 89-100, 117-118 Rodowick, David N. 196-197 Rokem, Freddie 157-158 Rosenfeld, Alvin 21, 99, 138, 149, 153-154, 164 Roth, Philip 149, 152, 167-176 Rupprecht, Philipp siehe Fips Santner, Eric L. 102 Scarry, Elaine 127-128 Schildkraut, Joseph 137, 139-140, 155, 164-165 Schildkraut, Rudolf 165 Schlüpmann, Heide 189, 207-208 Schmiderer, Othmar siehe Heller, André Schnabel, Ernst 148-149, 156 Schumacher, Claude 66 Segev, Tom 103 Seghers, Anna 225 Semprun, Jorge 36-37, 130-131, 231 Servatius, Robert 111 Shandler, Jeffrey 39, 46-47, 90, 93, 98-99 Sobchack, Vivian 64, 207 Spiegelman, Art 49, 221, 235-252, 268 Spielberg, Steven 15, 37-48, 51, 213-214, 249, 260-265 Steichen, Edward 189-190, 198 Stevens, George 39, 137, 139-141, 150, 152-153, 164-165 Strasberg, Susan 139-140, 146- 147, 155 Szpilman, W adys aw 38, 50-56, 61-65, 67-68 Tholen, Georg Christoph 25-26 297 Tomine, Adrian 243 Torrès, Tereska 151 Truffaut, François 87, 206 Vertov, Dziga 188, 209 Vice, Sue 180-181 Vierny, Sacha 90 Wagenbach, Klaus 225-226, 229 Watts, Richard 154-155 Weber, Elisabeth 25-26 Weigel, Sigrid 129, 264-265 Weihe, Richard 244 Weiss, Peter 49, 110, 221, 225-233, 240 Weissman, Gary 21, 93, 99, 226- 227 Welles, Orson 210 Welzer, Harald 102 Wenders, Wim 85-86 White, Hayden 30, 177 Wiesel, Elie 47, 49-50, 69, 77, 91- 95, 97-100, 110, 116-135 Wieviorka, Annette 40, 69, 99, 108-111, 116 Wilkomirski, Binjamin (d.i. Bruno Dössekker) 79-80 Woolf, Virginia 128 Yablonka, Hanna 103, 105-106, 111, 115, 117 Young, James E. 21-22, 78, 103- 104, 177-178, 182, 227, 236 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Der Band untersucht italienische, deutsche, französische, russische, kroatische, polnische sowie englische/ amerikanische Theaterstücke, welche eine oder mehrere reale oder fiktive Künstlerpersönlichkeiten zum zentralen Personal zählen und auf je eigene Weise ästhetische bzw. gesellschaftliche Tendenzen reflektieren. Die Beiträge, die sich auch mit Vorgeschichte und Weiterentwicklungen, Kontinuitäten, Brüchen und Wechselbeziehungen befassen, sind als Materialien zu einer Geschichte des Künstlerdramas angeordnet. Frank Göbler (Hrsg.) Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 41 2009, 308 Seiten €[D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-7720-8345-7 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Ein Lieto fine, ein glückliches Ende, gehörte seit der Entstehung der Gattung Oper in Italien zum festen Bestandteil der Handlungsdramaturgie. Im späten 18. Jahrhundert geriet diese einstige Selbstverständlichkeit mehr und mehr ins Wanken; die Gründe dafür sind in den grundlegenden historisch-politischen Konstellationen der Zeit ebenso zu suchen wie in den globalen Veränderungen der damaligen Theaterlandschaft (u.a. Rezeption der Shakespeare -Tragödien im Schauspiel) . Der Band stellt eine Bestandsaufnahme von Finallösungen in den verschiedenen Erscheinungsformen des Musiktheaters (italienische opera seria, deutsches Singspiel und französische tragédie lyrique) um 1800 dar, bezieht darüber hinaus aber auch das zeitgenössische Oratorium und die Messe mit ein. Ursula Kramer (Hrsg.) Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800 Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 40 2009, 242 Seiten, € [D] 58,00/ SFR 98,00 ISBN 978-3-7720-8319-8 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die Rückkehr zu Wort und Sprache gilt als zentrale Konstituente des Gegenwartstheaters. Zahlreiche avancierte Regisseure wie René Pollesch oder Falk Richter sind zugleich auch ihre eigenen Autoren. Globale Fragen der Polis werden von jungen Autoren erneut thematisiert, wenngleich ein explizit theaterpolitisches Engagement im Übergang zum 21. Jahrhundert fehlt. Der schnelle Zugriff auf aktuell geschriebene dramatische Literatur erscheint somit als Möglichkeit, einen Realitätsbezug zu behaupten, der Theaterkunst ihre gesellschaftspolitische Relevanz sichert. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich erstmalig der kulturhistorischen Bedeutung dieser neuen Formen avancierten dramatischen Theaters im interkulturellen Vergleich. Friedemann Kreuder / Sabine Sörgel (Hrsg.) Theater seit den 1990er Jahren Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 39 2008, 291 Seiten €[D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-7720-8264-1