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Kirchenlied und Kultur

2010
978-3-7720-5378-8
A. Francke Verlag 
Hermann Kurzke

Gesangbücher haben bis heute Millionenauflagen und besitzen eine prägende Kraft für bestimmte Gemütszonen und Bevölkerungsteile. Sie sind als Forschungsgegenstand lange vernachlässigt worden, obgleich die Hymnologie durch ihre Lage zwischen den Textwissenschaften, der Musikologie und den Theologien ein faszinierendes Paradigma von Interdisziplinarität darstellt. Ihre inhaltliche Spannweite reicht vom trivialen Liedchen bis zur höchsten musikalischen Poesie. Kirchenlieder sind Gebrauchsliteratur, die von jeder Generation an den jeweiligen Zeitgeist angepasst wird. Die Kirchenlied- und Gesangbuchgeschichte ist deshalb ein treuer Spiegel der Kulturgeschichte. Der Band vereinigt Studien zur Ästhetik, Dogmatik, Erotik, Melodik, Psychologie und Mythologie des Kirchenlieds. Er befasst sich vor allem mit den Überschneidungsgebieten zur säkularen Kultur - etwa mit Nationalhymnen als säkularisierten Kirchenliedern, mit Goethe im Gesangbuch, mit den Feldgesangbüchern des Zweiten Weltkriegs, mit der Textgeschichte von Marienliedern und mit Erich Kästners "Weihnachtslied, chemisch gereinigt".

Mainzer Hymnologisc Hymn Mainzer Hymnologisch Kirchenlied und Kultur Hermann Kurzke MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN Band 24 · 2010 Herausgegeben von Hermann Kurzke in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie Hermann Kurzke Kirchenlied und Kultur Redaktion Christiane Schäfer Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Umschlagbild: Franz Gareis, Novalis, 1799 Melodie: „Wenn ich ihn nur habe“ (Novalis), Melodie von Heinrich Karl Breidenstein © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1862-2658 ISBN 978-3-7720-8378-5 Inhalt I. Religion und Kultur 1 Remythisierung. Eine Art Manifest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Kirchenlied und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 Purifizierung und Re-Erotisierung. Zur Triebökonomie in der Geschichte des Kirchenlieds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4 Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder . . . . . . . . . . . . . . 50 5 Kirchenlied und nationale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 6 Der Gott der Schlachten. Aus der Geschichte der Militärgesangbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 7 Goethe im Gesangbuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 8 Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 9 Kirchenliedzitate in „Buddenbrooks“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 10 Zur Mythologie des Singens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 11 Die katholische Liturgie einst und jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Gattung und Gattungsgeschichte 12 „Ermuntre dich, mein schwacher Geist“ (Johann Rist, 1641). Ein erbauliches Lied und seine Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 13 Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs . 138 14 Kirchenlied und Literaturgeschichte. Die Aufklärung und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 15 Illudieren. Die religiöse Poesie des Novalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 16 Das Evangelische Gesangbuch von 1993. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 17 Vom Umgang mit alten Liedern. Anläßlich der Vorarbeiten zu einem neuen katholischen Einheitsgesangbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 III. Interpretationen 18 Das deutsche Te Deum: „Großer Gott, wir loben dich“ . . . . . . . . . . 189 19 Die Marseillaise der Reformation: „Ein feste Burg ist unser Gott“ . 198 20 Advent und Depression: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ . . . . . . 210 21 Geschichte einer Verwilderung: „O komm, o komm, Emanuel“ . . . 214 22 Vom Kuß des Kindes: „Es kommt ein Schiff“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Inhalt 6 23 Preußische Sentimentalität und Sehnsucht nach Erlösung: „Zu Bethlehem geboren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 24 Erich Kästner: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“. . . . . . . . . . . . . 228 25 Remetaphorisierung der Eschatologie: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 26 Mähen im Dreivierteltakt: „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“. . . . 234 27 Die Festung räumen: „Tu auf, tu auf, du schönes Blut“ . . . . . . . . . . . 237 28 Das Angesicht erheben: „Morgenglanz der Ewigkeit“ . . . . . . . . . . . . 245 29 Ex oriente lux: „Fern im Osten wird es helle“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Liedregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Zwischen allen Stühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 I. Religion und Kultur 1 Remythisierung. Eine Art Manifest Der leere Grat Ohne religiösen Glauben bleiben die Menschen in wesentlichen Bereichen im Stich gelassen - ob sie es wissen oder nicht. Das definitiv und auf immer Unbeherrschbare - der Tod und die Kontingenz, die Wechselfälle des Lebens und Sterbens - bedarf einer religiösen Kultur, die für Leben und Sterben Modelle bereithält, also Mythen, Riten und Symbole, die dem Sinnlosen einen Sinn geben. Ist dieser Sinn seit dem Massenerfolg der Religionskritik definitiv zerrüttet? Oder kann man ihn wiederherstellen? Die Frage soll hier nicht theologisch gestellt werden, sondern kulturell; nicht um die Erneuerung des Glaubensgebäudes soll es gehen, sondern um die bewußte Pflege christlicher Mythen, nicht um Remissionierung, sondern um Remythisierung. Den Materialhintergrund dieser Fragestellung bilden dreißigjährige Studien zum Kirchenlied, deren Schwerpunkt auf der Wirkungsgeschichte lag. An ihr lässt sich das Auf und Ab von Säkularisierung und Remythisierung gut ablesen. Doch ist die Diskussion kaum begonnen. Auf der theologischen Seite wurde und wird sie immer noch behindert durch bestimmte Denk-, zumindest aber Redeverbote. Auf der kulturwissenschaftlichen Seite wird sie behindert durch das meistens dezidiert säkulare Selbstverständnis dieser Fächer. Zwischen beiden Positionen scheint ein scharfer Grat zu liegen, auf dem sich aufzuhalten unbequem ist. Zu den Einwänden, die gegen die unten folgenden sieben Thesen vorgebracht wurden, gehört von „gläubiger“ Seite die Behauptung, den Typus des nur Glaubenwollenden gebe es gar nicht - wer glauben wolle, der glaube bereits. Von „ungläubiger“ Seite kam erstaunlicherweise eine analoge Bemerkung: Das Programm einer intellektuellen Remythisierung sei wirklichkeitsfremd, weil hinter ihm niemand stehe und weder in der Kirche (die eben in ihrem verhärteten Glauben feststecke) noch außerhalb ihrer (wo man von der Kirche nichts mehr erhoffe) Menschen zu finden seien, die das wirklich wollten. Der Grat scheint menschenleer zu sein. Der mythische Bestand im Christentum ist substantiell, nicht akzidentell. Das Christentum läßt sich vom Mythos nicht abstrahieren oder gar aus ihm extrahieren. Ein vom Mythos gereinigtes Christentum mag wasserklar richtig sein, aber es nährt nicht. Die Mythen sind kein ablegbares Gewand, sondern Remythisierung. Eine Art Manifest 10 der Körper der Botschaft. Jesus ist „Gottes Sohn“: Das ist eine mythische Aussage, denn nur die Götter der Mythen haben Kinder. Das apostolische Glaubensbekenntnis ist in wesentlichen Wendungen mythisch: „empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes, von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“ Verwandte Aussagen kennt man vom griechischen Dionysos-, vom babylonischen Tammuz-, vom ägyptischen Isis-Osiris-Horus-Mythos. Die Einzigartigkeit des Christentums ist damit noch nicht unbedingt in Frage gestellt. Es könnte Gott gefallen haben, die Einzigartigkeit der christlichen Offenbarung im Gewande bereits vertrauter Mythen zu senden. Nur weil es sich um Mythen handelt, hatte die aufklärerische Entmythologisierung einen so flächendeckenden Erfolg. Die Versuche, eine mythenfreie Religion zu kreieren oder zu statuieren, sind gescheitert. Man kann die Mythen nicht hintergehen. Der entmythologisierte Christus ist kein Christus mehr, sondern nur noch ein Lehrer der Menschheit wie Gandhi. Die Aufklärung hat das Christentum nur dann nicht zerstört, wenn es gelingt, das intellektuelle Lebensrecht und die intellektuelle Lebensfähigkeit von Mythen zu erweisen. Die Reevangelisierung des Abendlandes muß deshalb eine Remythisierung sein. Aliud credere aliud iudicare esse credendum. Wer seinen Glauben verloren hat, der hat ihn verloren, auch wenn er darüber traurig ist. Der Glaube kehrt so wenig wieder wie die verlorene Jugend. Man kann nicht glauben wollen, so wenig wie man Jung-sein wollen kann. Das Ergebnis solcher Sehnsüchte ist nicht Glaube oder Jugend, sondern Glaubensnostalgie und Jugendnostalgie. Man wird nicht spontan durch spontan sein wollen. Man wird nicht natürlich durch natürlich sein wollen, wenn man ein der Natur entfremdeter Großstädter ist. Schiller unterscheidet zwischen naiv und sentimentalisch: Naiv ist, wer natürlich ist wie ein Bauer, der auf und von der Scholle lebt; sentimentalisch aber ist der Stadtmensch, der die Natur sucht, sich nach ihr sehnt, aber zu ihr in einer unaufhebbaren Distanz steht. Der Glaubenwollende ist ein sentimentalischer Nostalgiker. Unter Glaube ist hier nicht eine Kopfhandlung, nicht ein verständiges Unterschreiben einer Weltanschauung verstanden, sondern etwas Irrationales: der durch Tradition und eingeübtes Handeln sozialer Kollektive habitualisierte und in der Regel unreflektierte Sinn- und Lebensgrund, der die einzelnen Handlungen, Entscheidungen und Stimmungen zusammenhält und konditioniert. Der unreflektierte Lebensgrund: Theologie ist nicht Glaube, aber Glaube ist es, wenn die Kuh kalbt und der Bauer Weihwasser holt, weil man eben Weih- Remythisierung. Eine Art Manifest 11 wasser braucht, wenn die Kuh kalbt. Glaube ist, soziologisch gesehen, nicht individuell, sondern kollektiv: eine Gemeinschaft trägt ihn und habitualisiert ihn, so daß der einzelne Mensch von der Begründungsverantwortung entlastet wird. Glaube ist nicht das, was ein Mensch von sich behauptet, sondern das, was ihn wirklich treibt und steuert. Glaube ist nicht Meinen, sondern Sein. Glaube ist nicht Wissenschaft, sondern Mythos. Unter „Mythos“ ist die ganze, auf Symbole und Geschichten gegründete, vielfarbige Realität des religiösen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen: Tisch- und Nachtgebet, Sakramente, Wallfahrten, Weihwasser, Kreuzzeichen, Schutzengel, Lieder, Kniebeugen, Oratorien, Gregorianik, die Vielfalt der auf- und absteigenden „Dogmen“, Brot und Fleisch, Wein und Blut, Priesteramt und Priestergewand, Engel, Teufel, Heilige, Maria, Maiandacht, Rosenkranz, Blasiussegen, Fasten und Kasteiung, Zölibat, Waffensegnen, Erntedank, Fronleichnamsprozession, Ablässe, der Mantel der Madonna, das Weltgericht und die Auferstehung der Toten. Im Mythos nimmt das ewige Licht die Gestalt von Kerzenflammen und Osterfeuern, von Riten und Gesten, von Metaphern und Erzählungen an. Die Wahrheit Gottes bricht ihr Weißlicht in die vielen Regenbogenfarben des Mythos. Die reine Wahrheit ist nicht des Menschen Sache; es fehlen ihm dafür die Organe. Ins Licht schauen ist ihm nicht ersprießlich, das wußten schon die Alten. „Daß dir im Sonne sehn vergehet das Gesicht / Sind deine Augen schuld / und nicht das große Licht.“ (Cherubinischer Wandersmann I, 178) Der gewollte Glaube ist ästhetizistisch, aber das ist nicht so schlimm, wie es klingt. Weil der Glaube, auf den es ankommt, unreflektiert und kollektiv ist, kann das Individuum ihn nicht durch einen intellektuellen und individuellen Entschluß herstellen. Man kann insofern nicht glauben wollen. Es gibt eine Art Dezisionismusfalle. Der Begriff „Dezisionismus“ kommt von decisio, Entscheidung, Entschluß. Ein Glaube ist dann dezisionistisch, wenn er nicht auf dem Hineingeborensein in eine Tradition, sondern auf einem Entschluß beruht, auf einer Entscheidung, die getroffen wird auf der Suche nach einem haltgebenden Sinnsystem, auf einer Wahl, die nach Durchmusterung des Angebots sagt: Okay, ich nehme den Katholizismus, den Kommunismus, den Nationalsozialismus. Streng genommen ist ein solcher Glaube kein Glaube, weil er individuell und reflektiert ist. Der Dezisionismus ist ein typisches Konvertiten- und Revertitenphänomen und ist besonders häufig bei Menschen anzutreffen, die ihre Weltanschauung wechseln oder nach einer Phase des „Unglaubens“ zurückkehren in den Schoß irgendeiner Kirche. Der Dezisionist kennt die Vernunftkritik am Glauben, aber er versucht, sie im Akt eines bewußten sacrificium intellectus zu ignorieren. Er muß et- Remythisierung. Eine Art Manifest 12 was unterdrücken. Er muß eine Einsicht verdrängen. Er muß so tun als ob. Er strafft sich gewissermaßen. Er muß sich eine Haltung geben. Das dezisionistische Überspringen der Kritik hat deshalb Ästhetizismus zur Folge. Der Glaubenwollende gibt sich den Habitus des Gläubigen. Er spielt den Gläubigen, spielt den demütigen Pilger, während er doch ein hochmütiger Intellektueller ist, er führt besonders formschöne Kniebeugen aus, während er doch ein Pharisäer ist, der sich und der Welt etwas beweisen muß, er gibt seiner Stimme Festigkeit beim Beten und beim Singen, während er doch gar nichts sicher weiß und seine Rolle nicht im Einklang steht mit seinem ganzen Sein. Er ist nur der Schauspieler eines Gläubigen - dies ist seine wahre Identität. Er weiß es manchmal nicht, er hält sich für einen Gläubigen, aber er ist vorerst nur ein Ästhet, der eine Rolle spielt. Bedeutet Ästhetizismus das Todesurteil für die Religiosität? Was bedeutet überhaupt das Ästhetische für das Religiöse? Ästhetik und Religion bilden ein dichtes Gewebe, die Fäden sind nicht voneinander trennbar, ohne das Gewebe zu zerstören. Religion, die frei ist von Inszenierung und Ästhetik, gibt es nicht. Wer Stimmungen beim Hören geistlicher Musik oder beim touristischen Besuch von Kirchen als „nur ästhetisch“ abqualifiziert, sitzt im Glashaus, denn jede Frömmigkeitserfahrung läßt sich auch als ästhetische Erfahrung beschreiben. Selbst das innigste, sogar das wortlose Gebet wird mit den Sinnen wahrgenommen, womit auch sonst, und ist insofern Gegenstand der Äshetik. Die tiefste Mystik ist zugleich höchste Literatur. Die Andacht vor einem Kunstwerk läßt sich empirisch von der Andacht vor einem Altar nicht unterscheiden. Auch das literarische Kunstwerk vermag Wirkungen hervorzubringen, die denen der Bibellektüre gleich sind. Jede ästhetische Erfahrung hat ein religiöses Potential. Remythisierung ist möglich, Ironie ist nur Angst vor der eigenen Courage. Deshalb gibt es auch einen Weg von der Ästhetik zum substantiellen Glauben. Der religionsferne Tourist, der alte Kirchen schön findet, entschließt sich vielleicht irgendwann einmal zur Teilnahme an einem Gottesdienst. Was er da sieht, erscheint ihm zuerst exotisch. Beim Mitmachen fühlt er sich unwohl. Eine Oblate überreicht zu bekommen mit der Mitteilung „Leib Christi“ hat zunächst etwas Peinliches, und die sonderbare Zumutung, darauf mit „Amen“ zu antworten, auch. Vorher erhält man auch noch eine Hand gereicht und eine wildfremde Banknachbarin sagt mit lächelndem Gesicht „Friede sei mit dir! “ Verlegenheit ist die Folge. Peinlichkeit und Verlegenheit sind ästhetische Abwehrempfindungen, die den aufgeklärten Menschen davor schützen, in Riten und Mythen einzutreten, die er nicht als die seinen empfindet. Wenn man diese Riten nicht überliefert bekommen hat, dauert es Jahre, Remythisierung. Eine Art Manifest 13 bis man sich daran gewöhnt hat, und man braucht eine Gemeinde, die einem hilft. Der Dezisionist kann den Weg von der Ästhetik zum Glauben nicht von heute auf morgen gehen. Noch nach vielen Jahren spürt er den Seelenschmerz der Nostalgie. Lange fühlt er sich nur als Gast. Erst eine Generation weiter verwächst sich das. Identität bildet sich aus Imitation. Die Kinder dessen, der sich zur Remythisierung entschlossen hat, können es ihm nachmachen auf natürliche Weise. Sie erfahren das Gespielte als selbstverständliche Realität und wachsen hinein in einen substantiellen Glauben. Die Voraussetzung ist freilich, daß der Dezisionist kein Ironiker ist. Er muß sein Tun ernst nehmen, muß das sacrificium intellectus wirklich vollzogen haben, darf nicht in allem religiösen Handeln zu erkennen geben, daß er eigentlich doch ein Aufklärer ist, der die Skepsis gegenüber dem „Aberglauben“ nie aufgegeben hat. Er darf das Kreuzzeichen nicht nur spöttisch andeuten, darf es nicht zitierend in Gänsefüßchen setzen, sondern sein religiöses Spiel muß überzeugend sein, er muß mit der Rolle verschmelzen. Wenn sie tiefen Sehnsüchten in seinem Herzen entspricht, sollte das auch möglich sein. Ironie wäre eigentlich eine klassische Antwort auf Glaubensnostalgie. Man könnte ironisch in die Kirche gehen - aus Sehnsucht, aber doch mit Distanz. Aber wozu dient das? Doch nur dazu, vor den aufgeklärten Freunden das Gesicht zu wahren. Aber könnte man diesen nicht einfach sagen: Ich gehe zur Kirche, ohne deshalb meinen Unglauben aufzugeben? Ich gehe als ungläubiger Ästhetizist. Ich gehe, weil ich die Empfindungen schätze, die dort in mir erregt werden. Das Christentum macht es dem verlorenen Schaf doch leicht, seinen Unglauben zu bekennen. Denn der Christ besitzt ja die Wahrheit nicht wie ein Gesetzbuch. Christus entmachtet ja die Macht der Gesetze. Den Wahrheitsbesitzer hält er für einen Pharisäer. In Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen gibt es ein Kapitel Vom Glauben, das den üblichen Glauben als doktrinäre Rechthaberei verachtet und für den Zweifel als Glaube plädiert. Immer zweifeln heißt dort nichts nach Prinzipien zu behandeln, sondern jede Situation neu zu bewerten, als begegne sie das erste Mal. Es heißt, immer menschlich sein, immer die Möglichkeit eigenen Irrens einzukalkulieren, immer überraschend zu handeln (nämlich so, wie es die Menschlichkeit verlangt). Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter versagen die mit dem festen und richtigen Glauben. Ein Christ muß eigentlich gar nicht so fest glauben. Der Unglaube mag manchmal christlicher sein - besonders wenn sich das Christentum auf ungute Weise mit weltlicher Macht ausgestattet hat. Der feste Glaube kann sehr inhuman sein. Er ist von der Lehre Christi manchmal weit entfernt. Ein ungläubiger Christ muß deshalb nicht ironisch sein. Er ist vielleicht ein gläubiger Christ. Remythisierung. Eine Art Manifest 14 Stationen der Remythisierung Das Fortschrittsparadigma der Aufklärung will wissen, daß ein Naivitätsverlust unumkehrbar sei, verlorener Glaube unwiederbringlich, Renaivisierung deshalb so unmöglich wie Remythisierung. Individuell mag das oft richtig sein, kulturell und kollektiv aber sieht es anders aus. Der Restaurator verlorenen Glaubens ist notwendig ein Kopfmensch, seine Gefolgschaft jedoch nicht. Der Restaurator ist der Mann mit dem Licht auf dem Rücken, das ihm selbst nicht leuchtet, aber den ihm Nachfolgenden Orientierung, Licht und Wärme gibt. Glanz und Elend religiöser Restaurationen lassen sich gut an der Geschichte des Kirchenlieds im 19. Jahrhundert zeigen. In der napoleonischen Zeit war das intellektuelle Leben in Deutschland so irreligiös wie heute. Die Aufklärung hatte auf breiter Front gesiegt. Der institutionelle und kulturelle Zusammenbruch des Christentums um 1800 herum hat jedoch wider alles fortschrittliche Erwarten eine große und relativ erfolgreiche Restauration nach sich gezogen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einsetzt, langsam ansteigt und erst in der Nachkriegszeit 1945-1960 ihren Höhepunkt erreicht, um dann mit der 1968er Bewegung abrupt zusammenzubrechen. Es ist deshalb festzuhalten, daß die Christen des 20. und 21. Jahrhunderts nicht in einer ungebrochenen Tradition leben, sondern daß sie ihr Christentum aus den Händen einer großangelegten Restauration empfangen haben. Es besteht heute außerhalb kleiner Expertenkreise keine Vorstellung davon, mit welcher Radikalität die Aufklärung in die Kirchenliedtradition eingegriffen hat. In den Jahren von 1770 bis 1800 kommt es fast überall zur Einführung neuer Gesangbücher, die mit dem Überlieferten bewußt und rücksichtslos brechen. Was heute als Kernbestand jedes evangelischen Gesangbuchs gilt, die Linie der großen Choräle von Luther über Paul Gerhardt bis zu Tersteegen, wurde damals ausgeschieden oder bis zur Unkenntlichkeit überarbeitet. Die Hauptziele waren die Entmythologisierung, Rationalisierung, Pädagogisierung und Aktualisierung des Christentums. Das Sakrale im engeren Sinne, als vertikale Frömmigkeit und Mystik der heiligen Zeichen, trat zugunsten horizontaler Mitmenschlichkeit und praktischer Weltvernunft zurück. Der Liedbestand wurde konsequent diesem Geist der Zeit angepaßt. Das Liedcorpus der Aufklärung prägt die evangelischen Gesangbücher bis etwa 1870 noch fast durchgehend, und ist mit langsam abnehmender Tendenz noch bis zum Ersten Weltkrieg gut erkennbar. Im Ganzen gesehen dauert der Prozeß der allmählichen Wiedergewinnung des alten Liedguts und der Reinigung der Texte von den rationalistischen Überarbeitungen weit über hundert Jahre. Die Entwicklung kommt erst mit dem Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950 zu einem gewissen Abschluß, einem streng puristischen Werk, das sich nach den deprimierenden Erfahrungen, die man mit der Anpassung an den Nationalsozialismus gemacht hatte, strikt zeitgeistunabhängig gab und einen reformatorischen Kernbestand sichern wollte. Die Liedauswahl Remythisierung. Eine Art Manifest 15 favorisiert intensiv das 16. und 17. Jahrhundert, drängt das 18. und 19. stark zurück und bringt aus dem 20. nur noch Marginales - im Stammteil nicht einmal 20 Lieder (von knapp 400 insgesamt). Dieses vier Jahrzehnte beherrschende, in vielen Millionen Exemplaren verbreitete Buch ist prägend geworden für das, was den heute Erwachsenen als evangelisch gilt. Es ist, um das noch einmal zu sagen, nicht das Erzeugnis einer ungebrochenen Tradition, sondern einer gelungenen Restauration. Im katholischen Bereich ist die Entwicklung nicht prinzipiell anders verlaufen. Es gibt unter Katholiken die gleichen Bemühungen um einen „vernünftigen“ Gottesdienst, um Entmythologisierung und Pädagogisierung der Religion, um die Schwächung des Lateinischen als Liturgiesprache und um eine Stärkung des deutschsprachigen Gemeindegesangs. Die josephinischen Reformen zerstören planmäßig die alte Tradition. Lieder des späten 18. Jahrhunderts, zum Beispiel die bis heute beliebten Meßliedreihen, verdrängen den Liedbestand der nachtridentischen Reform oder krempeln ihn vollständig um. Die aufklärerischen Fassungen durchsäuern in der Folgezeit das Liedgut so stark, und ein allgemeines Herumkorrigieren an den Liedern wird so üblich, daß wir am Anfang des 20. Jahrhunderts beim Vergleich von zwanzig Diözesangesangbüchern in der Regel keine zwei völlig gleichen Fassungen desselben Liedes mehr vorfinden. Eine gewisse Reinigung und Konzentration wurde erst durch die einflußreiche Sammlung Kirchenlied von 1938 erreicht und, zum Teil darauf aufruhend, durch die siebzig „Einheitslieder“ von 1947. Aus diesen beiden Quellen hauptsächlich speisten sich die Diözesangesangbücher der Nachkriegszeit, entstand der Kernbestand dessen, was als „Tradition“ dann in den Fünfziger Jahren erfahren wurde, obgleich es genau genommen oft nur ein oder zwei Jahrzehnte alt war und vorher unbekannt oder jahrhundertelang außer Gebrauch gewesen war. Als gelungen muß eine Restauration dann gelten, wenn sie ihrer selbst nicht mehr bewußt ist, ihre Gemachtheit vergessen hat, sich also als lebendige Tradition begreift. Der Prozeß einer Restauration spielt sich schematisiert und typisiert folgendermaßen ab. Eine erste Generation wird sich des Verlustes bewußt (Nostalgie), protestiert gegen das Neue und entscheidet sich für das Alte (Dezision) und sammelt das Alte mit Geschmack (Ästhetizismus). Eine zweite Generation will Konsequenzen ziehen, schafft mit System und Wissenschaft seriöse Sammelwerke und versucht, die besten Fundstücke wieder in die Praxis einzuspeisen (Restauration). Deren Kinder, die die dritte Generation bilden, vergessen das Künstliche und Gewollte. Sie nostalgisieren als Erwachsene ihre jeweiligen Kindheitserlebnisse und halten das von ihren Vätern erst Wiederhergestellte für althergebracht. Sie erleben es als substantiellen Glauben. Mit ein paar Namen illustriert wäre die Nostalgie eine Stimmung der Romantik nach 1800 (zum Beispiel bei Eichendorff), die Dezision könnte man belegen mit der Konversion Friedrich Schlegels im Jahr Remythisierung. Eine Art Manifest 16 1808, Sammler mit Geschmack sind Achim von Arnim und Clemens Brentano, deren Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn auch viele geistliche Lieder enthält, verwissenschaftlicht wird das Liedersammeln seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch große Hymnologen wie Philipp Wackernagel und große Volksliedforscher wie Ludwig Erk, die Praxiseinspeisung versuchen im katholischen Feld Restauratoren wie Heinrich Bone (als noch relativ erfolgloser Pionier) und, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit großer Wirkung der Jesuit Joseph Mohr. Im 20. Jahrhundert wiederholt sich der ganze Verlauf noch einmal in den Krisen und Neuorientierungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgten. Restaurationen alter Lieder werden unweigerlich bezahlt mit einem sentimentalischen Abstand, der auch bei denen objektiv besteht, die subjektiv nichts von ihm wissen. Dieser Abstand legt von der unausweichlichen Modernität auch derjenigen Menschen Zeugnis ab, die heute noch Kirchenlieder vergangener Jahrhunderte singen. Die Sprache des alten Kirchenliedes ist nicht ihre eigene Sprache. Das archaisch Ungehobelte, das die heutigen Sänger und Sängerinnen so herzbewegend anweht, war für die Menschen des 16., 17. oder 18. Jahrhunderts kein Wert, sie haben es gar nicht wahrgenommen. Wer heute alte Lieder singt, spielt eine Rolle und trägt ein Kostüm, er mag es wissen oder nicht. Bereits Herder war bei aller Gläubigkeit doch schon ein Nostalgiker, wenn er in seiner Vorrede zum Weimarer Gesangbuch von 1783 von der „treuherzigen Altvatersprache“ einer „leider! verlebten Zeit“ schwärmte. Nostalgie ist eine ästhetische Empfindung, die sehr stark werden kann. Viele, die sich für fromm halten, sind in Wahrheit Romantiker, die ihre nostalgische Liebe zum Glauben mit Glauben verwechseln. Es ist dennoch gut, die alten Lieder weiterhin zu singen. Es ist ersprießlicher, die abendländischen Mythen kultiviert zu pflegen, anstatt den Acker unbestellt zu lassen. Das Zelebrieren und Verständlichmachen alter Bräuche zu fördern ist besser als aufgeklärt zu verstummen. Wo wir keine eigene Sprache mehr haben, zum Beispiel im Bereich der Kultur des Sterbens, können wir wenigstens historistisch und nostalgisch alte Kulturgesten nachspielen. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, konstatierte schon Novalis. Wenn das wahr ist, sollte man, um sich gegen die Gespenster zu immunisieren, lieber bewußt und gekonnt seine Götter pflegen, im Sinne einer aufgeklärten Mythologie, als in einer langweilig gewordenen Religionskritik unproduktiv zu ersticken. Den Intellektuellen, den Künstlern und den Priestern kommt in diesem Prozeß eine führende Rolle zu. Ein Glaube läßt sich nicht aus dem Boden stampfen. Man hat nicht wirklich die freie Wahl, Moslem zu werden oder Hindu oder Shintoist oder Amish, Remythisierung. Eine Art Manifest 17 wenn man nicht genügend weit in die dazugehörigen Traditionen und Menschengruppen hineingeraten ist. Man kann auch keinen neuen Glauben erfinden - das zeigen die Romantiker, deren Programm einer neuen Mythologie letzten Endes zu einem erneuerten Christentum führte. Wenn kein neuer Glaube geschaffen werden kann, bleibt nur: Imitieren des überlieferten Glaubens, Inszenieren, Imaginieren, Zitieren, Spielen. Liturgie ist Theater - das ist kein Einwand gegen sie. Die Ästhetik ist derzeit, wie Odo Marquard sagte, die diensttuende Universalphilosophie. Nicht nach der Wahrheit fragt der Ästhet, sondern nach der formenden Kraft, mit der die Religion als große Erzählung und kulturelles Regelwerk das Leben stabilisiert. In seiner Kirche werden nicht Dogmen verkündet, sondern Mythen kultiviert. Mythen kultiviert: Das tut die katholische Kirche eifrig, auch wenn sie eine solche Ausdrucksweise natürlich ablehnt. Papst Benedikt XVI. schreibt in seinem Apostolischen Schreiben Sacramentum Caritatis vom 22. Februar 2007: „Die ars celebrandi muß das Gespür für das Heilige fördern und sich äußerer Formen bedienen, die zu diesem Gespür erziehen, zum Beispiel der Harmonie des Ritus, der liturgischen Gewänder, der Ausstattung und des heiligen Ortes.“ (Nr. 40) Das ist eine Anweisung, die eigenen Mythen zu kultivieren. Der Priester ist ein artifex, ein Künstler, ein Handwerker des Heiligen. Er ist ein Dramaturg, ein Choreograph, ein Schauspieler, ein Rhetor. Macht er seine Sache gut, dann stört man sich nicht daran. Macht er sie schlecht, dann gilt wie in der Dichtkunst: Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Das Kunstwerk soll natürlich wirken, obgleich es ein Artefakt ist. Des Priesters Kunst (die ars celebrandi) soll „das Gespür für das Heilige“ fördern. Dieses Gespür entsteht nicht von selbst. Der Glaube ist insofern immer auch etwas Gemachtes. Der Zelebrationskünstler muß die Mittel kennen, mit denen er die gewünschten Effekte erzeugt. Das hat er mit den profanen Künstlern gemein. Das unterscheidet immer die Profis von den Dilettanten, daß sie die Mittel kennen, mit denen man bestimmte Wirkungen erzielt. Nietzsche hat das im Fall Wagner erörtert. Auch Wagner hat Mythen kultiviert - nicht nur germanische wie im Ring des Nibelungen, sondern auch christliche wie im Parsifal. Die von Papst Benedikt angestrebte Neuevangelisierung des Abendlandes wird immer auch gemacht, von Profis, die wissen, wie das geht. Medienprofis. Die katholische Kirche ist in diesem Fach derzeit sehr gut. Die Inszenierungen vom Tod von Papst Johannes Paul II. bis zur Wahl Benedikts XVI. waren meisterhaft, und sie bezweckten, mit ihrer Glorifizierung des verstorbenen Papstes, auch eine Remythisierung. Santo subito - ein Mythos sollte geschaffen werden. Darf eine Restauration des Glaubens sich solcher Mittel bedienen, und kann sie auf diese Weise gelingen? Sind Medienprofis, die religiöse Effekte inszenieren, nicht zwangsläufig Zyniker? Das war ja genial gemacht, jener weltweit ausgestrahlte Film von der letzten Krankheit des Papstes über seinen Tod und seine Aufbahrung und Ausstellung bis zur Beisetzung. Remythisierung. Eine Art Manifest 18 Grandios war der Trauergottesdienst, effektvoll die heilige Kommunion für Frère Roger im Rollstuhl, perfekt die Organisation der Massen, die ihre Rolle musterhaft spielten, und der Aufmarsch der Staatslenker, welche ihr massenhaftes Vorkommen zur Bescheidenheit zwang. Geheimnisvoll und fremdartig folgten das Konklave, die Einsperrung der Kardinäle, der archaische Ritus des schwarzen und des weißen Rauches und endlich das wirkungsbewußt hinausgezögerte „Habemus Papam“. Hinter all dem standen nicht nur die altüberlieferten römisch-liturgischen Regularien, sondern auch professionelle Regisseure, welche die modernen Medien mit dem Exotischen geschickt zu bedienen wußten. Der Erfolg war außerordentlich, die Welt hielt inne, selbst hartgesottene Journalisten zeigten Ergriffenheit, die Kritiker verzwergten. Am Anfang einer Restauration muß immer eine überragende Intelligenz stehen, die weiß, was sie will, aber selbst nicht darin aufgeht. Es sind Menschen, die das Licht auf dem Rücken tragen. Sie sind wie Moses, der das Volk Israel führt, aber selber das Gelobte Land nicht erreicht. Eine Generation später wird es viel leichter, das Gemachte erscheint bereits als Gewachsenes, das einst dezisionistisch Gewollte als althergebrachte Tradition. Religion ist nicht nur Offenbarung, sie ist immer auch hergestellt, immer auch das Ergebnis kultureller Tätigkeit und kulturpolitischer Entscheidungen. Das gilt nicht nur für Restaurationen, sondern für jeden innovatorischen Eingriff. Weder die Benediktregel noch die Gestalt der Heiligen Messe sind vom Himmel gefallen - ganz bestimmte Intellektuelle und Kirchenmänner des Mittelalters haben sie entwickelt. Nicht einmal die Heilige Schrift ist vom Himmel gefallen - sie brauchte Schreiber und Verteiler, Redakteure und Übersetzer und Theologen, die darüber entschieden haben, was denn nun endgültig zu ihr gehören soll und was nicht. Immer muß es am Anfang einen gegeben haben, der nicht von Tradition gestützt war, sondern kraft seiner Intellektualität gesagt hat: Das Thomas-Evangelium nicht, das Lukas-Evangelium ja. Sie wußten, was sie taten, und verdienen Bewunderung und Respekt. Aber auch wenn am Anfang aller religiösen Riten, Formeln und Liturgien immer einer steht, der sie erfunden hat, so gewinnen sie Halt doch nur dann, wenn es gelingt, sie einzuspeisen, sie zu habitualisieren und ihre klugen Urheber vergessen zu machen, so daß der einzelne Gläubige sie für vom Himmel gefallen hält. Erst dann sind sie Bestandteil des Glaubens. Insofern sind Inszenierung und Glaube auf die Dauer kein notwendiger Widerspruch. Das medial Inszenierte kann zu lebendiger Praxis werden. Das zuerst nur dezisionistisch Angeeignete kann weitergegeben werden an die nächste Generation, die die Künstlichkeit vergißt und das kindheitlich Gelernte demütig für das Natürliche und Immerseiende hält. Es ist deshalb eine lohnende und große Aufgabe für die Priester, die christlichen Intellektuellen, die Künstler, überhaupt die führenden Köpfe der Kirche, daß sie darüber nachdenken, wie die Remythisierung inszeniert werden kann. Remythisierung. Eine Art Manifest 19 Sie müssen in ihrem Fach gut sein. Sie dürfen nicht einfach weitermachen wie bisher. Die deutsche katholische Kirche kann derzeit wenig Glaubenskraft aufbieten. Die Mehrheit ihrer Mitglieder, auch ihres hauptberuflichen Personals, ist den sogenannten Ungläubigen sehr ähnlich. Dieser Situation gilt es sich ehrlicher zu stellen als bisher. Der suchende Zweifler ist eine ebenso christliche Erscheinung wie der innig Gläubige. Vielleicht ist er christlicher als ein doktrinärer Fundamentalist. Jedenfalls sollte die Kirche ihre ungläubigen Mitglieder und ihre eigene Ungläubigkeit aufmerksam einbeziehen. Eine Inszenierung, die sich nichts anmaßt und nicht mehr sein will als eine solche, gibt den suchend Zweifelnden den Freiheitsraum, den sie brauchen, und macht ihnen zugleich ein Angebot, das sie annehmen können oder nicht. Eine kulturchristliche Initiative Wenn die Kirche sich nicht lähmen lassen will von der Glaubenskrise, dann soll sie gut spielen, ihr Personal soll sich aus der geduckten und bedrückten Haltung erheben, soll seinen Job professionell machen, soll, auch und gerade wenn der Glaubenszweifel nagt, die christlichen Mythen pflegen, ohne zu bestreiten, daß es Mythen sind, soll die reiche Tradition stolz und selbstbewußt und hingebungsvoll aufführen und alles daran setzen, daß die Inszenierungen der Kirche Strahlkraft haben. Daraus mag, wenn Gott will, allmählich wieder Glauben entstehen. Anstatt das Ästhetische als das „nur Ästhetische“ zu verachten, sollte jeder Gottesdienst als Inszenierung betrachtet und nach Maßgabe der vorhandenen Möglichkeiten möglichst gut gemacht werden. Anstatt das Kulturchristentum zu verachten, soll das Christentum sich als Kultur erweisen. Es gilt, ein bejahendes Verhältnis zu Mythen, zu ihrer Inszenierung, zu Ästhetik und Kultur zu gewinnen. Das ist ein wenigstens vorläufiger Ausweg aus der Krise und besser, als deprimiert und tatenlos der Erosion des Christlichen zuzusehen. Die derzeitige Konjunktur für Religiöses und Religion ist sentimentalisch, das heißt, sie beruht nicht auf Glaube, sondern auf Glaubenswilligkeit, Glaubensbereitschaft, Glaubenssehnsucht. Soll sie nicht ins Fundamentalistische abrutschen, muß dem Zweifel Raum bleiben. Eine kulturchristliche Initiative, die jedem seine Freiheit läßt, ist eine angemessene und unverächtliche Antwort. Gott allein weiß, ob wir damit den Glauben weitergeben oder nur ein beliebiges Steckenpferd reiten. Die Hoffnung wenigstens gibt es, daß mit den Inszenierungen auch der Glaube weitergegeben wird, wenn auch nur wie in einem verschlossenen Briefumschlag, den wir weitergeben, ohne seinen Inhalt zu kennen. 2 Kirchenlied und Psychoanalyse Prolog Am Jerusalemsabend der Konsulin Buddenbrook pflegt Lea Gerhardt, die in gerader Linie von Paul Gerhardt abzustammen beteuert, ein Buch aus ihrem Beutel zu nehmen und mit fürchterlicher Stimme, „die klang, wie wenn der Wind sich im Ofenrohr verfängt“, zu lesen: „Will Satan mich verschlingen …“ Nun, denkt Tony Grünlich, welcher Satan möchte die wohl verschlingen. 1 Bei Manfred Dierks, in seinem C. G. Jung-Roman Das dunkle Gesicht, spricht Vally in einer Séance-Pause mit Ernst ein Kindergebet vor sich hin, das sie bereit macht, einen weiteren Blick ins Jenseits zu tun: Breit aus die Flügel beide, O Jesu, meine Freude Und nimm dein Küchlein ein. Will Satan es verschlingen, So laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein. Der junge Alt, so heißt es weiter, „wunderte sich über den geflügelten Jesus. Wo hatte sie den denn her? Jedenfalls aber hatte er geholfen. Vally war nun bereit, noch einen letzten Blick ins Jenseits zu tun.“ 2 Woher sie das hatte? Nun, von C. G. Jung, der in seinen Erinnerungen berichtet: Meine Mutter hatte mich ein Gebet gelehrt, das ich jeden Abend beten mußte. Ich tat es auch gern, weil es mir ein gewisses komfortables Gefühl gab in Hinsicht auf die unbestimmten Unsicherheiten der Nacht: Breit aus die Flügel beide, O Jesu, meine Freude Und nimm dein Küchlein ein. Will Satan es verschlingen, So laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein. 3 1 Thomas Mann, Buddenbrooks,5. Teil, 5. Kapitel, Große Kommentierte Ausgabe der Werke Thomas Manns (= GKFA), Frankfurt: S. Fischer 2002 ff., 1.1, S. 307. Das dort verwendete Gesangbuch hat Ada Kadelbach beiläufig identifiziert, in ihrem Aufsatz Paul Gerhardt im Blauen Engel. Ein rätselhaftes Kirchenliedzitat in Heinrich Manns „Professor Unrat“, in: Heinrich Mann Jahrbuch 14, 1996, S. 87-112. 2 Manfred Dierks: Das dunkle Gesicht. Eine literarische Phantasie über C. G. Jung, Düsseldorf/ Zürich 1999, S. 11 f. 3 Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé, Zürich 1962, S. 16 f. Es handelt sich bei diesem „Gebet“ wortgetreu um die Kirchenlied und Psychoanalyse 21 Daß Jesus geflügelt sein sollte wie ein Vogel, störte den Knaben Carl Gustav nicht. Probleme hatte er mit dem „Einnehmen“ in der dritten Zeile. Medizin nimmt man ein, vornehmlich bittere. Vogel Jesus schien die „Chüechli“, die Küchlein nicht zu mögen, die er einzunehmen hatte, damit Satan sie nicht bekam. „Einnehmen“ begegnete dem Kind außerdem noch in der Wendung, daß der Herr Jesus Leute „zu sich nähme“, was hieß, sie in einer schwarzen Kiste in die Erde zu stecken. Carl Gustav fing an, dem Herrn Jesus zu mißtrauen. Dieser verlor seinen Aspekt als großer und wohlwollender Vogel und wurde mit den schwarzen Männern bei Beerdigungen assoziiert. Ein Trauma entwickelt sich. Jesus ist von da an eine Furchtgestalt. Auch der Freiburger Psychotherapeut und Schriftsteller Tilmann Moser, in seiner Anklageschrift Gottesvergiftung, zitiert die Strophe (denn um eine Liedstrophe, die achte von Paul Gerhardts Nun ruhen alle Wälder handelt es sich, nicht eigentlich um ein Gebet), erinnert sich aber auf eine ganz umgekehrte Weise daran. Nun ruhen alle Wälder und Der Mond ist aufgegangen seien Lieder, die auch starke Kinderängste gemildert hätten. „Sie haben das Gefühl vermittelt, die Eltern verwalteten einen Teil deiner tröstlichen Macht und seien fähig, sie uns mitzuteilen. […] Wenn der Vater gar mitbrummte und ebenfalls im Einklang mit dir schien, war die Welt in eine feierliche Schönheit getaucht. Uns alle schien dann ein ungeheuer kostbares Band zusammenzuhalten.“ 4 C. G. Jung zitiert das Lied, um zu erklären, wie ein Trauma entsteht. Er hat den Text als Kind natürlich völlig mißverstanden, Küken (kleine Hühner) mit „Küchlein“ (kleinen Kuchen) verwechselt und das neutestamentliche Bild von Jesus als Henne, die ihre Küken unter die Flügel nimmt, nicht identifiziert. 5 Das wäre leicht zu beheben gewesen. Insofern wird hier nicht Paul Gerhardt kritisiert, sondern eine religiöse Praxis, die gedankenlos und sinnleer gewesen sein muß. 6 Jung wird sich in der Folgezeit auf die Suche nach neuen Formulierungen und Symbolen für jene Erfahrungen machen, die die achte Strophe von Paul Gerhardts Lied Nun ruhen alle Wälder. Die Quelle für Jungs Mutter war jedoch (das beweist die in Fußnote 22 erläuterte Textabweichung Feind statt Satan) nicht das damals gebräuchliche Gesangbuch, sondern eine eigenständige Gebetsüberlieferung, die sich, da Paul Gerhardts Lieder im Zuge der rationalistischen Gesangbuchreformen weitgehend aussortiert worden waren, entweder auf eine diese Reformen untertunnelnde mündliche Praxis oder auf die hymnologische Entdeckungsarbeit von Philipp Wackernagel gestützt haben könnte, der die Originaltexte wieder verfügbar gemacht hat: Paul Gerhardts geistliche Lieder getreu nach der bei seinen Lebzeiten erschienenen Ausgabe wiederabgedruckt, Stuttgart 2 1849, Nr. 102. Für diesen Hinweis und für einige weitere wertvolle Anregungen danke ich meinem hymnologischen Mitstreiter Pfarrer Hans-Jürg Stefan, Zürich. 4 Tilmann Moser: Gottesvergiftung, Frankfurt 1976, S. 59 ff. 5 „Jerusalem, Jerusalem, […] wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel […]“ (Mt 23, 37; par. Lk 13, 34) 6 Das bestätigen auch Jungs Erinnerungen an sein erstes Abendmahl (Erinnerungen, S. 58- 60). Kirchenlied und Psychoanalyse 22 Religion für ihn nur enttäuschend formuliert hat. Keiner, dozierte er 1932, sei wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht habe, jeder kranke in letzter Linie daran, daß er das verloren habe, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben hätten. 7 Tilmann Moser aber wendet sich von diesen Erfahrungen selbst ab. Er fühlt sich von Gott hinters Licht geführt und zum Narren gehalten. Er wirft ihm vor: „Du bestehst aus Verweisung, Entschädigung, Ersatz, bist ein Destillat aller frühen, unerfüllten Ahnungen und Ängste.“ 8 Gott eigne sich für alle Arten von Übertragungswünschen. 9 In der Tat: Die Metapher „Gott“ bietet zahlreiche Möglichkeiten an: die Verschmelzung mit einem einzelnen, z. B. mit Jesus, die Verschmelzung mit einem Kollektiv, der Gemeinde oder, zeitenübergreifend, der Kirche, so daß die Mühsal der Individuation entfällt, schließlich die Identifikation mit einem grandiosen Herrscher, der das Winzigkeitsgefühl zugleich bestätigt und aufhebt. „Gott“ verheißt Erfüllung für alle narzißtischen Sehnsüchte, verspricht Antwort auf die Gefühle der Verlorenheit, auf das Verlangen nach Führung, Versorgung, Fütterung, Tränkung, Schutz und Beschenktwerden - den ganzen Katalog frühelterlicher Funktionen. 10 Für Moser ist er jedoch nur ein Phantasma - die Fata Morgana der „Geborgenheitsfiktion“. 11 Er spricht von Betrug. Statt zu reifen und wirklich erfüllt zu werden, würden die Bedürfnisse nur übertragen. 12 Das Beten zum Beispiel erscheint ihm als eine Art Onanie, „eine Selbstbefriedigung auf einem riesigen Umweg“, während umgekehrt die Onanie „ein Gebet an das eigene Selbst“ wäre. 13 Es ist das Emanzipationsparadigma der Achtundsechziger, von dem aus Moser die Kirchenlieder kritisiert. Sie sollen zu den Verhinderern von Bedürfnisbefriedigung, Aufklärung und Mündigkeit gehören. Mosers Gottesvergiftung erschien zuerst 1976 und trägt die Spuren des revolutionären Optimismus jener Jahre. Die Frage, ob Onanieren wirklich besser ist als Beten, stellt er sich noch nicht. 7 C. G. Jung: Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge, Zürich 1933, S. 12. 8 Moser, S. 82. 9 Das schreibt auch C. G. Jung, steht aber viel gelassener dazu. Die religiöse Projektion beispielsweise der menschlichen Schuld auf den Heiland leistet durchaus auch etwas Gutes, sofern sie erstens die Konflikte im Sündenbekenntnis bewußt hält und damit verhindert, „daß durch Verdrängen und Vergessen aus einem bekannten Leiden ein unbekanntes und darum um so quälenderes werde; und zweitens erleichtert man sich die Last, daß man sie dem, der alle Lösungen kennt, übergibt.“ (Wandlungen und Symbole der Libido, Ausgabe Leipzig/ Wien 3 1938, S. 62- 64). 10 Moser, S. 84-86. C. G. Jung bestätigt, ohne deshalb den Vorgang zu denunzieren: „In der Religion ist die regressive Wiederbelebung von Vater- und Mutterimago zum System organisiert.“ (Wandlungen und Symbole der Libido, S. 85). 11 Moser, S. 79. 12 Moser, S. 89. 13 Moser, S. 97 f. Kirchenlied und Psychoanalyse 23 Programm Mit Abstand am öftesten genannt werden in Mosers und Jungs religiösen Traumaprotokollen die Lieder von Paul Gerhardt. Sie scheinen sich am ehesten ins familiale Modell der klassischen Psychoanalyse zu fügen. Auch für das Werk Thomas Manns gilt: Wenn Kirchenliedspuren vorkommen, weisen sie fast stets auf Gerhardt. Ein Pastor des 17. Jahrhunderts wußte offenbar auf eine Weise Ich zu sagen, die bis heute ihre Faszinationskraft nicht verloren hat. Dieser Autor gehört ohne Frage in die Entwicklungsgeschichte des bürgerlichen Ichs hinein - Grund genug, daß auch die Hymnologie ihren Beitrag zur Psychoanalyse liefert. Bei einer Fixierung auf Paul Gerhardt geraten freilich riesige Strecken aus dem Blickfeld. Das ichsagende Kirchenlied ist ja nur ein kleiner Ausschnitt. Die klassische Liturgie kennt kein privates Ich. Friedrich Spees O Heiland, reiß die Himmel auf ist ein Rollengedicht, in dem die Propheten des Alten Testaments nach dem Messias seufzen. Das anonyme Es ist ein Ros entsprungen redet in einem Bilderrätsel vom Weihnachtsereignis und wird erst im 19. Jahrhundert sentimental erweitert. In Martin Luthers Vom Himmel hoch, da komm ich her verkündet ein Engel die weihnachtliche Frohbotschaft, ohne daß die Befindlichkeiten des Ichs eine nennenswerte Rolle spielten. Das Mir nach, spricht Christus, unser Held des Angelus Silesius malt eine Szene im geistlichen Krieg, keine Psychologie fürs biedermeierliche Wohnzimmer. Das uralte Christ ist erstanden redet allein vom Osterereignis, nicht von unseren Gefühlen, und wird erst in der Aufklärung moralisiert und psychologisiert. Philipp Nicolais Wachet auf, ruft uns die Stimme spricht von den klugen Jungfrauen, die sich rechtzeitig auf das Kommen des Bräutigams vorbereitet haben, und vom Himmel im Bilde der Hochzeit. Die Kommunikationssituationen des Kirchenlieds sind generell nicht auf das Ichsagen beschränkt, sondern außerordentlich reich ausgestaltet. Die Lieder bieten eine Vielzahl von Rollenmustern an. Mit der linguistisch üblichen, rein horizontalen Sprachdefinition, wonach ein Sender einem Empfänger über einen Code eine Botschaft vermittelt, lassen sie sich nicht greifen. Es kommt eine vertikale Dimension hinzu, die zahlreiche neue, im zivilen Leben unbekannte Kommunikationsmuster möglich macht. Die zweidimensionale Kommunikationsfläche weitet sich zu einem dreidimensionalen Fiktionsraum - auch rein linguistisch gesehen ein beträchtlicher Komplexitätszuwachs. Aus der sprachlichen Anwesenheit jenes unsichtbaren Mitspielers erwachsen Ausdrucksformen, die es in rein diesseitigen Diskursen nicht gibt. Moser gibt das widerwillig zu, wenn er von seiner Mutter erzählt, die der Meinung war, die meisten Dinge, die sie beschäftigten, könnte sie nie einem Menschen, auch keinem Psychoanalytiker, sondern nur Gott anvertrauen. Moser hielt das für eine Ausflucht. Wir wollen es ganz wörtlich nehmen. Die Annahme einer Kommunikationsfigur „Gott“ erlaubt Diskurse, die ohne sie Kirchenlied und Psychoanalyse 24 keinen Lebensraum haben, und zwar zentral wichtige Diskurse, die schwer oder gar nicht zu ersetzen sind und deren Wegfall psychisch kaum zu verkraften ist. Sie entlastet und befreit. Kirchenlieder sollen hier unter Vernachlässigung ihrer religiös-theologischen Dimension als psychologisches Material betrachtet werden, als Ausdruckformen jenes archetypischen Schatzes, den auch C. G. Jung in seiner Kindheit aufgenommen, aber später in seine Sprache - in eine andere Bildsprache - übersetzt hat. Dabei interessiert uns nicht das Biographische, nicht der Nachweis im einzelnen, sondern das Generelle. „Was ich vermißte, war einzig die Orgel und der Choral“, gesteht der spätere, der Kirche ferngerückte Jung. 14 Die Lieder haben ihm gefehlt. Was ist, psychoanalytisch gesehen, Singen, insbesondere gemeinsames Singen? Die Musik, schon bei Schopenhauer Ausdruck des Willens selbst, gehört zu den Idiomen des Unbewußten. Singen als Kommunikationsform ist befreiend. 15 Geborgen im Kollektiv werden dem Individuum kühne Aussagen und poetische Wendungen zugetraut, anvertraut und ermöglicht, die als gesprochene Privataussagen peinlich, anmaßend oder lächerlich wären. Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart; ich geb mich hin dem freien Triebe, wodurch ich Wurm geliebet ward; ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. (Gerhard Tersteegen) Das stand lange in jedem Soldatengesangbuch. 16 Gewiß dämpft Singen die rationale Kontrolle, tragen Melodien über Fragwürdigkeiten der Texte hinweg. Aber wenn man anerkennt, daß es ein legitimes Bedürfnis gibt, dieser ständigen Kontrolle auch einmal zu entkommen, dann hat man gerade darin einen der Gründe für die befreiende Kraft des Singens. Singen vereinigt das Bewußte und das Unbewußte, es ist, als Text, bewußte Sprache, als Musik Idiom des Unbewußten. Wer singt, mit dem geschieht das, wovon er singt. Er hebt die Stimme bei Macht, er betont das Wort Wurm durch eine lange Note, er läßt bei ich will den Ton steigend anschwellen und versinkt melodisch im Meer der Liebe bei den drei fallenden halben Noten auf versenken. Als Musik, als Wort und Melodie, spricht das Kirchenlied zum Selbst in seiner Ganzheit, also nicht nur zum bewußten Ich, sondern auch zu seinem Schatten, zur Summe des Nichtgelebten und nicht Lebbaren, aber gleichwohl die Psyche Prägenden. So wie „Glauben“ eigentlich nicht ein System abstrakter Sätze meint, sondern die Summe aller Strebungen des Selbst, so ist Singen kein blo- 14 Erinnerungen, S. 80. 15 Moser, S. 56. 16 Zum Beispiel Evangelisches Feldgesangbuch, Berlin 1939 (ohne ich Wurm), Katholisches Feldgesangbuch, Berlin 1940 (mit ich Wurm). Im Stammteil des Evangelischen Kirchengesangbuchs (1950 ff.) korrekt als dritte Strophe des Lieds Für dich sei ganz mein Herz und Leben, jedoch ohne die hier zugrunde gelegte, im Militär verbreitete Melodie von Dmitri Bortnjanski. Nicht im Stammteil des heutigen Evangelischen Gesangbuchs (1993 ff.), jedoch (mit der Bortnjanski-Melodie) in einigen landeskirchlichen Anhängen, z. B. in der Ausgabe für die Nordelbische Kirche (Nr. 615). Dort wird ich Wurm ersetzt durch auch ich. Kirchenlied und Psychoanalyse 25 ßer Wortvorgang im Kopf, sondern Ausdruck der Seele, von deren unermeßlichem Reichtum Jung mit Bewunderung spricht. Daß sie eine Entsprechung zum Wesen Gottes in sich haben müsse, sagt er weiterhin, und daß diese Entsprechung, psychologisch formuliert, der Archetypus des Gottesbildes sei. 17 Ein Lied bringt nicht das Ich, sondern das Selbst zum Ausdruck, also nicht nur die bewußte, sondern auch die unbewußte Psyche. Gegen Sigmund Freuds „Wo Es war, muß Ich werden“ ist das Selbst unaufklärbar. „Es besteht keine Hoffnung, daß wir je auch nur eine annähernde Bewußtheit des Selbst erreichen, denn, soviel wir auch bewußt machen mögen, immer wird noch eine unbestimmte und unbestimmbare Menge von Unbewußtem vorhanden sein, welches mit zur Totalität des Selbst gehört.“ 18 Der Schatten des mündigen Menschen, von dem er nichts wissen will, ist seine unaufhebbare Unmündigkeit. Diese bringt das Kirchenlied kultiviert zum Ausdruck - kultivierter jedenfalls als die Flucht in Alkohol oder Dauerfernsehen. An die Stelle der verlorenen Götter tritt nicht die aufgeklärte Vernunft, sondern Betäubung durch Illusion und Ersatz. Besser Gott dienen als den Götzen, hieß das früher. Das Christentum wegzulegen, sagt C. G. Jung, „ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt.“ 19 Die Menschen brauchen Götter, schreibt Thomas Mann im Joseph-Roman, „immer ahmen sie nur die Götter nach, und je wie das Bild ist, das sie sich von ihnen machen, danach tun sie.“ 20 Lieder Ich möchte nun versuchen, stellenweise inspiriert durch die Jungsche Psychoanalyse, einige typische Kommunikationssituationen und einige damit zusammenhängende Grundmetaphern des Kirchenliedes auszulegen. Das Liedcorpus stammt aus dem Zürcher evangelisch-reformierten Gesangbuch von 1891. 21 Eine Anfrage nach Lieblingsliedern früherer Zeiten führte zur 17 Zitiert nach: Erinnerungen, S. 415. 18 Zitiert nach: Erinnerungen, S. 415 f. 19 „In einer Zeit, wo ein großer Teil der Menschheit anfängt, das Christentum wegzulegen, lohnt es sich wohl, klar einzusehen, wozu man es eigentlich angenommen hat. Man hat es angenommen, um der Roheit der Antike endlich zu entkommen. Legen wir es weg, so steht schon wieder die Ausgelassenheit da, von der uns ja das Leben in modernen Großstädten einen eindrucksvollen Vorgeschmack gibt. Der Schritt dorthin ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Es geht wie beim einzelnen, der eine Übertragungsform ablegt und keine neue hat […].“ (Wandlungen und Symbole der Libido, S. 222) 20 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden (= GW) V, 1451 f. 21 Gesangbuch für die Evangelisch-reformirte Kirche der deutschen Schweiz, Zürich 1891. Es handelt sich um das sogenannte „Achtörtige Gesangbuch“, denn es galt in acht Kantonalkirchen (Zürich, Bern, Aargau, Schaffhausen, Appenzell, Basel-Stadt, Basel-Land und Freiburg). Die Lieder werden im folgenden nach diesem Gesangbuch zitiert. Es bietet für viele Lieder Fassungsvarianten gegenüber den heute üblichen, meistens wieder einigerma- Kirchenlied und Psychoanalyse 26 Heraushebung von 26 Liedern. 22 Sie mögen hier notdürftig eine empirische Untersuchung der Liedrezeption um 1900 stellvertreten, die es nicht gibt, und unseren Mangel an Wissen darüber kompensieren, welche Lieder im einzelnen C. G. Jungs Unbewußtes lebenslang bewahrt hat. Doch ist die Stabilität der Singetraditionen groß, und man wird bei einem Pfarrerssohn wie C. G. Jung nicht leicht fehlgehen mit der Annahme, daß er die meisten der folgenden Lieder zahlreiche Male gesungen hat und als Kind und Jugendlicher viele davon auswendig konnte. Auch Thomas Mann dürfte die meisten gekannt haben, denn das Liedgut ist weitgehend aus den lutherischen Gesangbüchern übernommen. Eine spezifisch zürcherische Komponente ist deshalb mit den Mitteln dieser Untersuchung nicht festzumachen. Während die reformierten Kirchen ursprünglich streng biblisch dachten und jahrhundertelang im wesentlichen aus dem Hugenottenpsalter sangen, war im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts allmählich eine Öffnung eingetreten, die es erlaubte, auch die lutherischen Choräle in den Gottesdienst einzubeziehen. 23 Inwieweit es ein vom lutherischen Gebrauch abweichendes Rezeptionsklima gegeben hat, zum Beispiel durch die verbreitete Vierstimmigkeit, muß hier außer Betracht bleiben. Auch wenn es, wie Gottfried Keller überliefert, 24 Ende des 19. Jahrhunderts im Kanton Zürich besonders viele Geistesstörungen gegeben hat, ist nicht genügend erweislich, ob und wie das mit der reformierten Tradition zusammenhängt. Vom Großen und Ganzen Gott ist das Ganze, schreibt Thomas Mann im Joseph-Roman. 25 Gott ist der Archetypus der Ganzheit, koinzidierend mit dem Archetypus des Selbst, ßen originalgetreuen Texten. Diese Varianten sind Ausläufer der aufklärerischen Gesangbuchreformen, die Ende des 18. Jahrhunderts zunächst mit großer Radikalität die alten Lieder teils verdrängt, teils bis zur Unkenntlichkeit umgedichtet, dem Zeitgeist angepaßt hatten. Dabei verschwanden z. B. die krassen Metaphern der Barockzeit, aber auch Eschatologie und Dämonologie waren erheblichen Abschwächungen ausgesetzt. So ist, einer damals schon alten Praxis folgend, in der oben zitierten Strophe aus Nun ruhen alle Wälder im Achtörtigen Gesangbuch das Wort Satan durch das viel unbestimmtere Feind ersetzt worden. Von solchen Abweichungen abgesehen findet man fast alle im folgenden erwähnten Lieder noch im heute gültigen Evangelischen Gesangbuch der deutschen Kirchen (seit 1993) wie auch im neuesten Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz (1998). Da alle diese Bücher alphabetische Initienregister haben, erscheint ein Seiten- oder Nummernnachweis der einzelnen Lieder im folgenden nicht erforderlich. 22 Hierfür danke ich vor allem Frau Claudia Mertz-Rychner, Frankfurt, die ihre Kindheit in Zürich verbracht hat und die Verhältnisse im evangelisch-reformierten Gottesdienst gut kennt. 23 Vgl. H. Weber, Der Kirchengesang Zürichs, sein Wesen, seine Geschichte, seine Förderung, Zürich 1866. 24 Gottfried Keller, Die Weihnachtsfeier im Irrenhaus, Sämtliche Werke VII, hrsg. v. Dominik Müller, Frankfurt am Main 1996, S. 315-321, hier S. 320 (zuerst NZZ 11. 1. 1879). 25 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, GW IV, 430; V, 1451. Vgl. auch Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, S. 435-440. Kirchenlied und Psychoanalyse 27 lehrt darüberhinaus C. G. Jung. 26 Das fragmentierte Ich hat ein Bedürfnis, vom Ganzen zu reden, dem heute mehr als je das Bewußtsein der Ichschwäche, der Begrenztheit unserer Erkenntnis und der Ausdifferenzierung der Teilsysteme unerbittlich widerspricht. Wer es tut, macht sich lächerlich - es sei denn, er redet von Gott. In diesem Fall ist er unbelangbar. Von etwas unbedingt Großem und Ganzem reden zu dürfen, ohne etwas Irdisches, Partikulares preisen zu müssen, das ist eine häufige Kommunikationsleistung des Kirchenlieds. Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke, vor dir beugt der Erdkreis sich und bewundert deine Werke. Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit. Das Anschwellende der Melodie erweitert das Ich und zieht hinauf. Der langsam wiegende Dreivierteltakt nimmt das Wir in die Bewegung einer gewaltigen Sphärenharmonie hinein. Von einer vielhundertköpfigen Menge gesungen macht das Lied einen gigantischen Eindruck. Ein vereinzeltes Ich gibt es nicht mehr, sowenig wie in Christian Fürchtegott Gellerts Die Himmel erheben des Ewigen Ehre, Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort. Ihn rühmet der Erdkreis, ihn preisen die Meere; Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort! „Die Himmel“ sprechen hier, werbend und warm, zu Zweiflern, denen der Urknall oder seine damaligen Vorläufertheorien das Universum entpoetisiert haben: Wie kannst du der Wesen unzählbare Heere, den kleinsten Staub fühllos beschaun? Die Betrachtung des gestirnten Himmels, einst eine erhabene Erfahrung, hinterläßt eine Art Trauer, wenn sie nicht mehr überwältigend zum Menschen sprechen darf. „Die unendliche schöpferische Musik des Weltalls“, schrieb Novalis 1799, wird dann „zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller […], eine sich selbst mahlende Mühle sey.“ 27 Wem die Demut des Preisenden nicht genügt, der kann imaginativ in die Größe selber eintauchen. Gerhard Tersteegens Gott ist gegenwärtig läßt in der fünften Strophe das Ich höchst wirkungsvoll in Gott als Größenselbst eingehen. Es redet zu Gott: Luft, die alles füllet, Drin wir immer schweben, Aller Dinge Grund und Leben, Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder, Ich senk’ mich in dich hinunter! Ich in dir, Du in mir! Laß mich ganz verschwinden, Dich nur sehn und finden. Ich bin das Ganze. Meine Kleinheit ist aufgehoben in einem Gewaltigen, das sich mir nicht entzieht. 28 26 Zitiert nach: Erinnerungen, S. 411. 27 Novalis, Die Christenheit oder Europa, Schriften III, Stuttgart 2 1968, S. 515. 28 Von Freud her liegt es nahe, den Begriff des „ozeanischen Gefühls“ (aus dem Beginn der Schrift Das Unbehagen in der Kultur, 1930) auf solche Lieder anwenden, demzufolge das heutige Ichgefühl nur „ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja - eines allumfassenden Gefühls“ sei, dessen Verlust durch Religion kompensiert wird. Freud leitet das „ozeanische Gefühl“ aus der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht ab. Es strebt „die Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzißmus“ an. (Sigmund Freud, Studienausgabe, Frankfurt 1974, Band IX, S. 200 und S. 204). Kirchenlied und Psychoanalyse 28 Die Metaphern des Versinkens und Durchdrungenwerdens sind für dieses Lied typisch wie am Schluß, in der vorletzten Strophe, die des Schauens und des Aufsteigens wie ein Adler: Laß mein Herz Himmelwärts Wie ein Adler schweben, Und in dir nur leben! Vom Loben und Danken Das Geschäft des Aufklärers ist die Kritik. Lob und Dank hingegen machen sich leicht kritikloser Affirmation verdächtig, denn nichts Irdisches läßt sich unbedingt loben. So gibt es im öffentlichen Diskurs heute ein Lobdefizit. Aber wenn sie auf Gott zielen, sind Loben und Danken vom Verdacht befreit. Es befreit deshalb, zu singen: Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade. Zumal die tröstliche Selbstbestätigung auf dem Fuße folgt: Darum, daß nun und nimmermehr Uns rühren kann kein Schade. Daß wir uns nicht selbst geschaffen haben, daß wir das wenigste unserer eigenen Leistung verdanken - das anderen Menschen gegenüber zum Ausdruck zu bringen ist oft schwer, da sie zum Mißbrauch neigen und Dankbarkeit ausnützen, aber die um die Position „Gott“ erweiterte Kommunikationssituation gibt die uneingeschränkte Freiheit: Nun danket alle Gott Mit Herzen, Mund und Händen, Der große Dinge tut, An uns und aller Enden, Der uns an Leib und Seel Von früher Kindheit an Unzählig viel zu gut Bis hierher hat getan. 29 Das sind aus unserem Diskurs verbannte Aussagen, die dennoch eine Erfahrung wiedergeben, die des Ausdrucks bedarf und ihn im Kirchenlied auf eine kultivierte Weise findet. Lobe den Herren, sagt die Seele zu sich selbst, den mächtigen König der Ehren. Auch hier ist das Loben mit einer Souveränitätserfahrung verknüpft: Lobe den Herren, der Alles so herrlich regieret, Der wie auf Flügeln des Adlers dich sicher geführet. Die Regentschaft des Herrn ist nicht entmündigend, sondern im Gegenteil: Souveränität teilend, am Königtum teilhaftig machend, wie oben bei Tersteegen, wo das Herz zum Adler wurde. Wir sind mächtig Das Kirchenlied bietet starken Trost für Neurastheniker. Souveränität und Identität teilt Martin Luthers Ein feste Burg mit. Als Kommunikationssituation läßt sich ein Wir ausmachen, das gegen Feinde steht und sich dabei, einander zurufend: Ein feste Burg ist unser Gott, seiner Identität versichert. Wenn Identität sich definiert als Homogenität nach innen und Heterogenität nach außen, dann ist das Lied identitätssichernd par excellence. Und die Identität ist mehr als das Leben, zumindest immunisiert sie gegen schweres Leid: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, Laß fahren dahin! Sie 29 Das wurde auch im Burghölzli gesungen, bei der von Gottfried Keller überlieferten Weihnachtsfeier (SW VII, 319). Kirchenlied und Psychoanalyse 29 haben’s kein’ Gewinn, Das Reich muß uns doch bleiben. Auch das ist eine Erfahrung von Freiheit - auf alles verzichten können und doch das wichtigste behalten: das Reich. Dieses ist freilich jenseitig und soll sich erst am Ende der Zeiten voll entfalten. Eine Burg ist auch der Mensch selbst. Eine Art Heroldsruf ist Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich’, Ein Heiland aller Welt zugleich. Der Herold kündet das Kommen eines Königs an. Die letzte Strophe verinnerlicht die Burgmetapher zur Burg des Herzens, dessen Türe offen ist für den König. Wieder vermittelt die Metaphorik eine Souveränitätserfahrung: Am Ende des Liedes ist die Burg des Herzens von einem guten König bewohnt. Mond und Sonne Aufklärungskritisch steht im Abendlied von Matthias Claudius (Der Mond ist aufgegangen) der Mond am sternenprangenden Himmelszelt über der nächtlichen Welt als einer stillen Kammer, traulich und hold, wo die Menschen des Tages Jammer Verschlafen und vergessen sollen. 30 Er ist die Allegorie unseres Halbwissens oder Halbnichtwissens. Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen Und ist doch rund und schön! Das Lied singt von den Grenzen der Aufklärung. Wir spinnen Luftgespinste Und suchen viele Künste Und kommen weiter von dem Ziel! Es will tröstlich befreien vom unaushaltbaren Anspruch steter Mündigkeit: Gott! Laß dein Heil uns schauen, Auf nichts Vergänglich’s trauen, Nicht Eitelkeit uns freun. Laß uns einfältig werden Und vor dir hier auf Erden Wie Kinder fromm und fröhlich sein. Überall sonst im bürgerlichen Diskurs wäre die Bitte Laß uns einfältig werden unaussprechlich, weil reaktionär. Durch das Hinzutreten Gottes wird ihr nichtreaktionäres Potential aussprechbar. Ein Kind sein dürfen: Was so notwendig ist, im Lied wird es dem Erwachsenen noch einmal erlaubt. Die goldne Sonne voll Freud und Wonne (Paul Gerhardt) läßt alles erstrahlen, was gut ist: Mein Haupt und Glieder, Die lagen darnieder: Aber nun steh’ ich, Bin munter und fröhlich, Schaue den Himmel mit meinem Gesicht. Im mundus spiritualis ist die Sonne nicht nur ein glühender Gasball, sondern das Bild des Himmels. Der Himmel ist ein gewaltiger Magnet, der das Ich nach oben zieht und die nach unten ziehende Schwerkraft der materiellen Interessen entmachtet. Ich hab erhoben Zu dir hoch droben All meine Sinnen; Laß mein Beginnen Ohn’ allen Anstoß und glücklich ergehn […] Geiziges Brennen, Unchristliches Rennen Nach Gut mit Sünde, Das tilge geschwinde Von meinem Herzen und wirf es hinaus. Freiheit vom Rennen und Jagen ist das 30 Mythologisch gesehen ist, wie C. G. Jung an verschiedenen Stellen ausführt, der Mond weiblich-empfangend, die Sonne männlich-zeugend (z. B. Wandlungen und Symbole der Libido, S. 196). Die Aufklärung hingegen orientiert sich am männlichen Licht und neigt dazu, das „Weibliche“ zu verdrängen. Kirchenlied und Psychoanalyse 30 Ziel. Am Ende der Zeiten wird die Sonne über der ewigen Freiheit leuchten: Kreuz und Elende, Das nimmt ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonnen erwünschtes Gesicht. Freude die Fülle Und selige Stille Darf ich erwarten Im himmlischen Garten: Dahin sind meine Gedanken gericht’t. Selbstgespräche Du meine Seele singe: So beginnt ein Psalmlied von Paul Gerhardt. In vielen Variationen ist die Kommunikationsform des Selbstgesprächs vertreten, das im gemeinsamen Singen laut werden darf. Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, fordert das Ich die eigene Seele auf. Oder das Ich spricht zu seinen Sinnen: Nun ruhen alle Wälder, Die Menschen, Städt und Felder, Es schläft die ganze Welt: Ihr aber, meine Sinnen, Auf, auf, ihr sollt beginnen, Was euerm Schöpfer wohlgefällt. Die Sonne ist vertrieben, aber ein and’re Sonne, Mein Jesus, meine Wonne, Gar hell in meinem Herzen scheint. Die Nacht ist Bild des Todes, aber eines gar festlichen. Die goldnen Sternlein prangen Am blauen Himmelssaal: Also werd’ ich auch stehen, Wenn mich wird heißen gehen Mein Gott aus diesem Jammertal. Ein Stern am himmlischen Festsaal werde ich sein. Jesus wird mich herrlich bekleiden, frei machen von Elend und Arbeit, mich zur Ruhe betten, mich als Henne wie ein Küken unter seine Flügel nehmen. Die Kommunikationsform der tröstlichen Selbstversicherung weitet sich in der letzten Strophe zur Bitte für die anderen aus: Gott lass’ euch ruhig schlafen, Stell’ euch die goldnen Waffen Ums Bett und seiner Engel Schaar. Zwischenhalt Als Küken ins Gefieder der Henne sich kuscheln, in den Mutterschoß zurück sich sehnen, einfältig werden, nicht mitrennen, vom Jenseits erst das Glück erwarten: Sind das nicht alles Regressionen, die Mündigkeit verratend, der Wahrheit ausweichend, die Vernunft hintergehend, zurückfliehend in eine bergende Illusion? Gibt es nicht ideologischen Mißbrauch die Fülle? Ein Wohlgefallen Gott an uns hat erlebte eine Glanzzeit im deutschen Nationalismus, Nun danket alle Gott sangen die Preußen nach der Schlacht von Leuthen, und ein Film aus den Dreißiger Jahren inszeniert das mit grandioser Wirkung. Ein feste Burg ist unser Gott kann jedwede Identifikation bestärken, jedweder Feind ist einsetzbar - die Orthodoxen sangen es gegen Katholiken und Reformierte, die Deutschen Christen sangen es gegen Juden und Liberale und die Bekennende Kirche sang es gegen die Nazis. 31 Werden nicht bei den Lobliedern das Böse, Not, Tod und Krankheit ausgeklammert? Wird nicht Affirmation um jeden Preis gepredigt, die kritiklose Legitimation des 31 Näheres dazu im betreffenden Liedartikel dieses Buches. Kirchenlied und Psychoanalyse 31 jeweils Bestehenden? Ist das Kirchenlied nicht Heines Eiapopeia vom Himmel, womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel? 32 Die Einwände sind sehr ernst zu nehmen. Sie sind so stark, daß sie die alten Kirchenlieder inzwischen weithin zerstört haben. Eine einfache Überlegung verweist sie jedoch in ein begrenztes Terrain. Wo Kirchenlieder dazu dienen, behebbares Leid durch unzeitigen Trost bewußtseinstrübend zu perpetuieren, dort sind sie nicht am Platz. Das ihnen einzig zukommende Reich ist das unaufhebbare Leid. Nicht jede Sehnsucht läßt sich stillen, nicht jeder kann seinen Platz in der Gesellschaft nach Belieben verändern. Ein gewisses Maß an Unglück ist eher die Regel als die Ausnahme. Die unaufhebbare Bedürftigkeit und Unbefriedigtheit „auch in dem besten Leben“ 33 läßt diese Lieder zum legitimen Ausdruck einer Sehnsucht nach etwas unbedingt Richtigem, religiös gesprochen nach Heil und Erlösung, psychologisch gesprochen nach Sicherheit und Schutz für das schwache Ich werden. In der Regression sammelt das Ich dann die Kraft zum Kampf. Progression und Regression sind aufeinander bezogen wie Einatmen und Ausatmen. Das Licht muß sein, aber auch der Trost der Nacht. Thomas Mann liebte die Mächte des Todes, aber gewann, indem er sie kultivierte, die Kraft zu den Werken des Lebens. Frei im Kopfe wollte er sein und fromm im Herzen - „in der Mitte ist des Homo Dei Stand“ 34 Ohne Kultivierung der Regressionen gibt es keine kultivierte Progression. 35 Es ist nicht gegenaufklärerisch, wenn man die Aufklärung aushaltbar machen will. Progression ohne Regression führt in die Depression. Die Depressionen der Menschen des 20. Jahrhunderts sind auch eine Folge davon, daß ihnen die tröstende Vorstellungswelt des Chorals nicht mehr zur Verfügung steht. Sie verstummen angesichts von Leid und Tod, fressen die schlimmsten Erfahrungen ungedeutet in sich hinein. Das Kirchenlied wäre ein wirksames Antidepressivum. Das gilt in besonderem Maße für solche Klassiker wie Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreusten Pflege, Deß, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, 32 Heinrich Heine, Deutschland - ein Wintermärchen, Caput 1. 33 Zitat aus Martin Luthers Lied Aus tiefer Not schrei ich zu dir. 34 Thomas Mann, Der Zauberberg, Abschnitt Schnee, GKFA 5.1, S. 747. 35 Aus der Tatsache, daß C. G. Jung mit dem Nationalsozialismus liebäugelte, will Thomas Mann deshalb auch nicht schließen, daß seine Lehre falsch wäre. Eine skeptische Psychologie, die um die Macht des Unbewußten weiß, muß sich durchaus mit einer aufklärerischen und antifaschistischen Politik verbinden lassen. In seiner Tagebuchnotiz vom 16. März 1935 hat Mann das entfaltet. „Wenn Jung erklärt, nur ‚seelenloser Rationalismus‘ übersehe die Tatsache, daß die Neurose auch etwas Positives, ein kostbares Stück Seele sei, und daß der Kranke nicht zu lernen habe, wie man sie loswerde, sondern wie man sie trage, - so hat er recht.“ Aber sofern Jung zur Verherrlichung des Nazitums und seiner „Neurose“ spricht, ist er nur ein Beispiel für Anpassung an die Gesinnung der Zeit. „Er schwimmt mit dem Strom. Er ist klug, aber nicht achtenswert. Wer sich heute noch in ‚Seele‘ sielt, ist rückständig, geistig und moralisch. Der Zeitpunkt, wo man wahrhaft recht hatte, wenn man gegen die Vernunft und den Geist recht hatte, ist vorüber.“ Kirchenlied und Psychoanalyse 32 Der wird auch Wege finden, Da dein Fuß gehen kann. Ein anonymer Sprecher, den man sich mütterlich oder väterlich vorstellen kann, vertrauenerwekkend und weise, versetzt den Sänger entlastend in die Position des kindlich hörenden Du, dem Gutes zugesagt wird. Nicht immer kommt die Hilfe gleich, das weiß der Ratgeber: Er wird zwar eine Weile Mit seinem Trost verziehn, aber wenn du ihm treu bleibst, wird dein Jammer schwinden, Da du’s am mind’sten glaubst. Auch Wer nur den lieben Gott läßt walten funktioniert nach einem ähnlichen Muster. Die Zusage eines anonymen Sprechers, der eine kollektive Lebenserfahrung zuversichtlich zusammenfaßt, lautet: den wird er wunderbar erhalten In aller Noth und Traurigkeit. Auch hier wird das scheinbare Ausbleiben der Hilfe Gottes als Irrtum bekämpft. Man darf die Heilszusage nicht mit irdischen Glück verwechseln: Denk nicht in deiner Drangsalshitze, Daß du von Gott verlassen seist, Daß ihm nur der im Schooße sitze, Den alle Welt für glücklich preist. Das tröstet die Benachteiligten. Bei den Vertrauensliedern ist allerdings die Gefahr besonders groß, daß sie eine allgemeine Hingebung an jederlei Geschick befördern. Wenn es irgendwo notwendig ist, für Gerechtigkeit zu kämpfen, können diese Lieder zur demütig buckelnden Hinnahme von Ungerechtigkeit ermuntern. Bist du doch nicht Regente, der Alles führen soll. In Revolutionszeiten, wo gehandelt werden muß und kann, sind sie unter Umständen ein Mäntelchen für Feigheit und Passivität. Der Faschismus, schrieb einst Walter Benjamin, sehe sein Heil darin, „die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen.“ 36 Das kann auch beim Kirchenliedersingen passieren, daß die Massen zwar zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht kommen. Aber es gilt nur für Zeiten, in dem eine Chance besteht, dieses Recht zu erwerben. Daß eine proletarische Revolution nicht die Lösung aller Fragen bedeutet, wissen wir heute. So wird die Zahl derer, die „ihr Recht“, was immer das sei, in einem umfassenden Sinn nicht bekommen können, immer groß genug bleiben, um das Singen von Vertrauensliedern zu rechtfertigen. Der Schatten Was Jung den Schatten nennt, der nichtgewollte, vom Ich verdrängte Teil des Selbst, ist im Kirchenlied wohl aufgehoben. Das Emanzipations- und Mündigkeitsparadigma verdrängt alles nicht Emanzipierte, Unmündige in diesen Schatten: das Kindliche, Einfältige, Ratlose, Autoritätsabhängige, Weiche, Schutzbedürftige, Kranke, Nervenschwache. Das Kirchenlied gibt den Einfältigen Raum und den Küken, es kennt die Metaphern des Kindes, des Opfers, des Schafs, des Wurms, des Verirrten und Verblendeten, des kranken Herzens und der kranken Seele, des hingegeben Liebenden und des gehorsa- 36 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: W. B., Illuminationen, Frankfurt 1969, S. 175. Kirchenlied und Psychoanalyse 33 men Gefolgsmanns. Der Mündige wird immer als Täter gedacht. Er ist nicht gewöhnt, die Welt vom Opferstandort anzuschauen, als Wurm und Schaf. Weil und sofern die Unmündigkeit sich nur Gott anvertraut, keiner irdischen Macht, deshalb ist ihr Ausdruck zulässig ohne Verrat an der Aufklärung. Auch die in der Welt Unerwünschten finden auf diese Weise Bestätigung: Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. 37 Tilmann Moser nennt das die kindliche Urphantasie, daß die Eltern das Kind genau so gewollt hätten, wie es ist, eine unwiderstehlich beglückende Antwort auf die Zweifel, ob man willkommen und akzeptabel sei. 38 Du hast mich erkoren. Erst recht in den Schatten verdrängt wird alles, was der Emanzipation prinzipiell unzugänglich ist: die Sünde, das Leid und vor allem der Tod. Daß wir Sünder seien, erlaubt uns der öffentliche Diskurs nicht mehr zu sagen, obgleich damit zunächst nur die Tatsache zum Ausdruck gebracht ist, daß es uns nicht gegeben ist, irgendetwas rundum und in jeder Hinsicht Richtiges zu tun, weil jedes Handeln irgendwo auch Leid verursacht, und sei es auch nur bei den Ameisen, die wir auf dem Weg zu einer guten Tat zertreten. Das Kirchenlied hat in dieser fundamentalen Defizienz, theologisch Erlösungsbedürftigkeit einen seiner Ausgangspunkte und sagt zerknirscht zum Gekreuzigten (in Johann Heermanns Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen): Was ist die Ursach’ aller deiner Plagen? Ach! Meine Sünden haben dich geschlagen; Ich, mein Herr Jesu, habe dieß verschuldet, Was du erduldet. Gottes Antwort aber ist nicht Strafe, sondern unverdiente Liebe. Der gute Hirte leidet für die Schafe. Im Leiden Jesu findet alles andere Leid seinen solidarischen Ausdruck. O Haupt voll Blut und Wunden ist kommunikationsanalytisch ein Salve an den leidenden Jesus: Gegrüßet seist du mir! Der Christ erweist dem Leidenden seine Reverenz. Er steht auf der Opferseite. Er ist, typologisch gesehen, die Mutter Maria, die den toten Sohn umfaßt, wie im Vesperbild (Pietá): Und wird dein Haupt erblassen, Im letzten Todesstoß, Alsdann will ich dich fassen In meinen Arm und Schooß. Auch der Tod, der blinde Fleck aller Aufklärung, der einen unstillbaren Deutungsbedarf hinterläßt, ruft im Kirchenlied nicht jenes erstickte und wortlose Grauen hervor, das heute die regelmäßige Reaktion auf ihn ist, sondern findet zur Sprache in vielerlei kultivierter Gestalt, in manchen Liedern drastisch, in den meisten tröstlich. Nur das eine, berühmte Beispiel soll stellvertretend erinnert werden: Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir; Wenn ich den Tod soll leiden, So tritt du dann herfür. Wenn mir am allerbängsten Wird um das Herze sein, So reiß mich aus den Ängsten Kraft Deiner Angst und Pein. 37 Aus Paul Gerhardts Ich steh an deiner Krippen hier. 38 Moser, S. 77. Kirchenlied und Psychoanalyse 34 Liebe Nicht jeder findet seine zugehörige Anima. Es gibt Einsame, Gescheiterte, Alte, Kranke, Verkrüppelte, Verhaßte, Verwitwete, es gibt Trottelige und abgrundtief Häßliche, es gibt Tobias Mindernickel und den kleinen Herrn Friedemann - kurzum, es gibt vielerlei Bedarf an Ersatz für nicht vorhandene und nicht einfach herstellbare Liebe. Es gibt ferner das auf Dauer nie zu stillende Begehren auch in der größten Leidenschaft - denn, wie Nietzsche dichtete, alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. 39 So daß alle Menschen Grund haben zu innigen Liedern wie dem von Zinzendorf, Herz und Herz vereint zusammen Sucht in Gottes Herzen Ruh’! Lasset eure Liebesflammen Lodern auf den Heiland zu! Oder dem von Novalis: Wenn ich ihn nur habe, Wenn er mein nur ist, Wenn mein Herz bis hin zum Grabe Seine Treue nie vergißt: Weiß ich nichts von Leide, Fühle nichts als Andacht, Lieb’ und Freude. Oder dem von Angelus Silesius: Ich will dich lieben, meine Stärke, Ich will dich lieben, meine Zier, Ich will dich lieben mit dem Werke Und immerwährender Begier. Ich will dich lieben, schönstes Licht, Bis mir das Herze bricht. Wie wohl täte es Tobias Mindernickel, etwas sonst Unaussprechliches geborgen im Kollektiv der Kirchengemeinde singen und sagen zu dürfen. Er bräuchte seinen Hund dann nicht mehr zu quälen. Sommer, Hochzeit, ewiges Leben Geh aus, mein Herz, und suche Freud, spricht das Ich zu sich selbst, bewundert der schönen Gärten Zier, die hochbegabte Nachtigall sowie die unverdroßne Bienenschaar und erfüllt sich einen Traum. O wär’ ich da! O stünd’ ich schon, Du reicher Gott, vor deinem Thron Und trüge meine Palmen! Denn der Sommer, den das Lied so glückestrunken besingt, ist nichts anderes als ein Bild und Vorschein des Paradieses. Auch als Hochzeit 40 ist es vorstellbar, in Wie schön leuchtet der Morgenstern, wo die Seele als weibliche Sprecherin von ihrem Bräutigam schwärmt. 41 Wachet auf, ruft der Wächter den Jungfrauen zu. Der Bräut’gam kommt! - Die Lampen nehmt! - Macht euch bereit Zur Hochzeitsfreud. - Wach auf, du Stadt Jerusalem! Das ewige Leben ist wie eine Stadt aus Tausendundeiner Nacht, traumverhangen, mit perlengeschmückten Toren, hohen Zinnen und Wächtern, die mit hellem Munde zur Hochzeit rufen. Der Ruf wird eilends befolgt. Wir erleben alles aus nächster Nähe mit, denn im Abgesang kehrt 39 Friedrich Nietzsche, Das trunkene Lied. 40 „Unter einem anderen Gesichtspunkt aber erscheint der Tod als ein freudiges Geschehen. Sub specie aeternitatis ist er eine Hochzeit, ein Mysterium Coniunctionis. Die Seele erreicht sozusagen die ihr fehlende Hälfte, sie erlangt Ganzheit.“ (Jung, Erinnerungen, S. 317) 41 Die Liebessprache des Liedes ist im Zürcher Gesangbuch allerdings, wie im 19. Jahrhundert meistens, gegenüber dem Urtext stark abgeschwächt. Kirchenlied und Psychoanalyse 35 die Strophe ins szenische Präsens des Liedanfangs zurück: Wir folgen all zum Freudensaal und halten mit das Abendmahl. „Wir“ jubeln, denn wir sind Glücksgenossen der Engel. Ausgelassenes Entzücken greift um sich, bringt nur noch abgerissene Juchzer zustande: „Io, io! “ Was kein Auge je sah und kein Ohr hörte, entzieht sich auch der Sprache, die sich ins Lateinische flüchtet, ins Zitat des Mystikerliedes „In dulci jubilo“, um das Unsagbare anzudeuten. (Heute wie schon im Zürcher Gesangbuch ist der Schluß abgeschwächt zu „Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für.“ Vom alltäglichen Lampenöl bis zu einem Glück, das sprachlos macht, reicht der Raum dieses Liedes. Es weitet den Blick bis ins Unendliche. Das unbedingt Strahlende, das ihm eigen ist in Text und Melodie, zieht nach oben, läßt alle Erdenschwere zurück. Wer es hört oder singt, fühlt sich wie im Himmel. Das Lied träumt uralte Menschheitsträume: von der Stadt Gottes, in der alle zum Liebesmahl geladen sind, von sozialer Harmonie und Paradiesesglück, von unaussprechlicher Lust und hochzeitlicher Erfüllung. Wozu brauchen wir einen Himmel? Um der Erhebung willen. „Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet“, schwärmte Novalis in seiner Rede über die Christenheit, gehalten im November 1799, beim berühmten Romantikertreffen in Jena. 42 Ein Himmel bedeutet eine nie ermüdende Feder, die die Sehnsucht der Menschen nach oben spannt und sie von der Angst um sich selbst, die sonst die Wurzel aller Unmenschlichkeit ist, befreit. Befreit zu sich selbst, denn „innerlich sind sie aus göttlichem Stamme“, wie ein pietistisches Lied versichert (Es glänzet der Christen inwendiges Leben). Novalis sekundiert: „Jeder ist entsprossen aus einem uralten Königsstamm. Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft? “ 43 Der Poet hat es leichter als der Wissenschaftler. Im Spiel der Kunst ist eine Remetaphorisierung der Eschatologie möglich und zulässig. Die beziehungsreichen Bilder des Himmels und der Hölle, des Gerichts und der Ewigkeit können stellvertretend stehen für hohe Ziele, für tiefe Schrecken, für Verantwortlichkeit des Lebens und für die unabweisbare innere Empörung gegen die Vorstellung, mit dem Tod sei alles aus. Die Natur sei verpflichtet, ihm eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige seinen Geist nicht ferner auszuhalten vermöge, sagte Goethe zu Eckermann (am 4. Februar 1829). „Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß.“ Selbst wenn solcher Glaube eine Fiktion wäre, worüber Tilmann Moser sich beschwert, was macht das eigentlich? Unusquisque sibi Deum fingit, sagte schon Pascal, 44 ohne Gott deshalb zu den Akten zu legen. Der Glaube kultiviert das sonst aus dem Bewußtsein Verbannte, gibt ihm Sprache und Gestalt. Wenn die graue Wahrheit trostlos ist und Trostloses aus 42 Novalis, Die Christenheit oder Europa, S. 517. 43 Novalis, Glauben und Liebe Nr. 18, Schriften II, Stuttgart 2 1965, S. 489. 44 Pascal, Pensées, Nr. 258. Kirchenlied und Psychoanalyse 36 ihr folgt, dann ist es Stärke, eine hilfreiche Fiktion zu pflegen. Die barsche Ehrlichkeit, die die Unsterblichkeit niedermacht, ist achtbar, aber sie ist hilflos nach ihrem leichten Sieg und weiß nicht weiter. Freud vergleicht die Religion mit einer Kindheitsneurose, die durch Aufklärung überwunden werden kann. Er weiß zwar, daß der Intellekt dazu eigentlich viel zu schwach ist, aber er läßt sich nicht entmutigen - „es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat.“ 45 Jung hält dagegen: „Je mehr die kritische Vernunft vorwaltet, desto ärmer wird das Leben; aber je mehr Unbewußtes, je mehr Mythus wir bewußt zu machen vermögen, desto mehr Leben integrieren wir.“ 46 Die überschätzte Vernunft hindert uns unter anderem daran, uns Vorstellungen über das Leben nach dem Tode zu bilden. „Wer das nicht tut, hat etwas verloren. Denn was als Fragendes an ihn herantritt, ist uraltes Erbgut der Menschheit, ein Archetypus, reich an geheimem Leben, das sich dem unsrigen hinzufügen möchte, um es ganz zu machen.“ Es gibt keinen Sieg des Intellekts über den Tod. Das Unaufklärbare bewußt zu kultivieren ist intellektuell nicht weniger redlich als die unproduktive Tapferkeit, die dem Nichts „ohne Illusionen“ ins Auge blicken will. Den religiösen Mythos nennt Jung eine der größten menschlichen Institutionen, „welche mit täuschenden Symbolen dem Menschen doch die Sicherheit und Kraft gibt, vom Ungeheuern des Weltganzen nicht erdrückt zu werden.“ Er fügt hinzu, daß das Symbol zwar täuschend sei vom Standpunkt des real Wahren aus - „aber es ist psychologisch wahr, denn es war und ist die Brücke zu allen größten Errungenschaften der Menschheit.“ 47 Perspektiven Nicht mehr die Neurose ist heute die psychische Krankheit vom Dienst, sondern die Depression. 48 Seit die Selbstverwirklichung zur Grundforderung an die Persönlichkeit avancierte, ist die Erschöpfung des Ich ihre Kehrseite - eben die Depression. Das Ich, das seine Identität selbst entwerfen soll, steht in einer absolut liberalen Umwelt vor einer kaum lösbaren Aufgabe. Identität kann nun einmal nur entstehen aus dem Konflikt mit dem Nichtidentischen. Wo der Konflikt fehlt, ist Depression die paradoxe Folge. 45 Die Zukunft einer Illusion (1927), Studienausgabe IX, 186. Auch zitiert von Thomas Mann in Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929), X, GW 277. 46 Erinnerungen, S. 305, dort auch das folgende Zitat. 47 Wandlungen und Symbole der Libido, S. 224. 48 Die folgenden Überlegungen wurden in einigen Details angeregt von einem Artikel von Sandra Janssen: Aus leeren Schachteln schaut das Grauen. Je mehr Antidepressiva, desto mehr Depressionen: Die Schwermut als Krankheit der Moderne, in: FAZ 31. 7. 1999, S. 47. Kirchenlied und Psychoanalyse 37 Die Zeiten, in denen das Kirchenlied Neurosen und Traumata erzeugte, dürfen wir heute als vergangen betrachten. Die Autoritäten, die es als Hebel im Gewissenszwang mißbrauchten, gibt es nicht mehr. Umso strahlender tritt die Grundeigenschaft des Kirchenlieds wieder hervor. Es ist nicht neurotisierend, sondern antidepressiv. Der Psalmensänger David schon, der mythologische Erzvater der Kirchenmusik, wußte das - sein Gesang vertrieb den bösen Geist, wenn König Saul von der Melancholie befallen wurde. 49 Die Befreiung aus den Repressionen, die die Achtundsechziger-Bewegung erreichte, hat einer neuen Erkrankungsmöglichkeit die Bahn gebrochen, die aus der Überforderung des Ich entsteht, aus der Unfähigkeit, die neue Freiheit aktiv zu gestalten, und sich deshalb als Unlust und Handlungslähmung äußert. Die Abkehr vom ödipalen, konfliktuösen Modell und die Hinwendung zu Narzißmustheorie und Ich-Psychologie impliziert, daß die Defizienz des Ich unheilbar ist, daß die Persona immer nur eine Maske ist, wie schon C. G. Jung meinte, 50 und keineswegs zwingend zur Persönlichkeit wird. Als Pharmakon eines so grundsätzlichen Mangels aber ist Religion doch wohl nicht schlechter als Fernsehen und Internet (heute das Opium des Volkes) oder Valium und Alkohol. Wenn die Symbolisierung der Libido unaufhebbar ist, es keine Emanzipation von ihr gibt, sondern nur einen Wechsel von Bildsprachen, 51 dann muß auch das Kirchenlied als eine von vielen möglichen Symbolisierungen gelten, dann wird es keinen Schaden in der Seele anrichten müssen. Kultivierte Symbolisierungen sind den dumpf-niederen vorzuziehen. Man kann das mit Blumenbergs Wort „Arbeit am Mythos“ nennen; der Welt Bedeutungen geben, wenn sie keine hat, Zusammenhänge bilden, in die das Ich sich einbringen kann, und diese im schönen Gespräch zitativ gegenwärtig halten, wie es in Thomas Manns Joseph-Roman geschieht. „Was die christlichen Völker betrifft“, sagt Jung mit einem gewissen Recht, „so ist ihr Christentum eingeschlafen und hat es versäumt, im Laufe der Jahrhunderte seinen Mythus weiter zu bauen.“ 52 Auch Carl Gustav Jung hat das versäumt. Anstatt, wie es bei ihm und anderswo üblich ist, in den Mythen der ganzen Welt herumzurühren, wäre es besser, aufzuwachen und die eigenen, die christlichen kulturellen Überlieferungen bewußt zu pflegen. Warum soll Mithras 53 diskursfähig sein und Christus nicht? Daß Jung Beispiele aus den Mythen aller Völker und Kulturkreise heranzieht, aber, abgesehen von dem eingangs zitierten Gebet 49 1 Sam 16, 23. 50 Nach: Erinnerungen, S. 413. 51 „Man darf sich keinen Augenblick der Illusion hingeben, ein Archetypus könne schließlich erklärt und damit erledigt werden. Auch der beste Erklärungsversuch ist nichts anderes als eine mehr oder weniger geglückte Übersetzung in eine andere Bildsprache.“ (C. G. Jung, zitiert nach: Erinnerungen, S. 410) 52 Erinnerungen, S. 334. 53 Mehrfach in Wandlungen und Symbole der Libido. Kirchenlied und Psychoanalyse 38 aus Nun ruhen alle Wälder, das in der Jugend aufgesogene Kirchenlied- Erleben als Quelle geradezu ausspart, hat seine Gründe wahrscheinlich in einer Traumatisierung, Tabuisierung und intellektuellen Diskreditierung dieses ganzen Bereichs, die auf eine grundfalsche, entfremdende „religiöse“ Erziehung zurückgeht, durch die das kulturelle Potential des Kirchenlieds und seine Anerkennung in der Wissenschaft ein Leben lang blockiert blieb. Eine kommende Hymnologie wird zeigen müssen, daß dieses Potential in die „Seelengeschichte der Moderne“ gehört, 54 in die „Geschichte des modernen Subjekts in seiner Autonomie und seiner Bedrohtheit“, daß es ferner zu den Heilmitteln gegen die Abdankung des Subjekts gehören kann und daß das Bewußtsein seiner christlichen Herkunft dem „flexiblen Menschen“ 55 zu ein wenig Halt verhelfen könnte. 54 Formulierungen aus dem Aufsatz Thomas Mann und die Tiefenpsychologie: von Janet bis Kohut von Manfred Dierks, in: Thomas Mann und die Wissenschaften, hrsg. v. Dietrich von Engelhardt und Hans Wißkirchen, Lübeck 1999, S. 158. 55 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. 3 Purifizierung und Re-Erotisierung Zur Triebökonomie in der Geschichte des Kirchenlieds „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ Jesus ist Bräutigam, er ist mein Schatz / ich bin sein Braut, er hat mein Herz besessen, nach ihm ist mein Herz krank und glümmet vor Fieber, es wünscht sich: Nimm mich / Freundlich / In dein Arme / Daß ich warme / Werd von Gnaden. Es träumt davon, Daß ich möge mit Jesulein/ Dem wunder schönen Bräutgam mein/ In steter Liebe wallen. Offenkundig gibt es im ursprünglichen Text von Wie schön leuchtet der Morgenstern zahlreiche erotische Metaphern. Daß man die Liebesmetaphorik allzu wörtlich verstehen könnte, befürchtete die Geistlichkeit seit langem und vielerorts, die „Keuschheit der Tropen“ nicht einräumend, von welcher der alte Goethe sprach. 1 Daß es ein kühnes und esoterisches Lied sei, dessen Mystik nur für wenige tauge, das man jedoch der Masse der Gläubigen nicht zumuten könne, diese Ansicht beherrscht die Diskussion bis heute. Das Ergebnis ist, daß das Lied fast nirgends unverändert in seinem Urtext erscheint, auch nicht im neuen Evangelischen Gesangbuch (1993), erst recht nicht in den katholischen Gebieten, wo es vor 1945 selten, nach 1945 verbreitet auftaucht, aber stets in mehr oder weniger verstümmelten Fassungen. Was in aller Regel bis heute herauszensiert wird, sind die lateinischen Vokabeln (zum Beispiel gratiosa coeli rosa, gnadenreiche Himmelsrose), das Bild von der lebendigen Rippe, die zärtlichen Diminutive und eben die erotischen Bilder. Obgleich es schon vorher gelegentlich zu Texteingriffen kommt, finden sich solche gehäuft und auf breiter Front erst seit der Aufklärung, die gesangbuchgeschichtlich in den Siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts wirksam wird. Auf Verständlichkeit bedacht, strichen die Aufklärer die pretiösen lateinischen Wendungen, auf Vernünftigkeit bedacht ersetzten sie die kühnen Bilder durch blasse Begriffe, auf Sittenstrenge bedacht tilgten sie die Erotica. Im Berliner Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in Preußishen Landen 2 von 1780, dem dann viele andere Bücher folgen, lauten die ersten drei Strophen (verfaßt von Johann Adolph Schlegel 3 ): 1 Zu Kanzler von Müller, 19. 4. 1819, vgl. Goethe: Sämtliche Werke, Band 35, Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 266. 2 Ausführlichere Angaben zu den Gesangbüchern liefert die Internetdatenbank „Gesangbuchbibliographie“. 3 Der Erstdruck des Liedes findet sich in: Sammlung Geistlicher Gesänge, zur Beförderung der Erbauung, von Johann Adolf Schlegeln, Pastorn an der Marktkirche der Altstadt Hannover […], Leipzig 1766, Nr. 37. Purifizierung und Re-Erotisierung 40 1. Wie herrlich stralt der Morgenstern! o welch ein Glanz geht auf vom Herrn! Wer sollte sein nicht achten? Glanz Gottes der die Nacht durchbricht! du bringst in finstre Seelen Licht, die nach der Wahrheit schmachten. Dein Wort, Jesu, ist voll Klarheit, führt zur Wahrheit und zum Leben. Wer kann dich genug erheben! 2. Du, hier mein Trost und dort mein Lohn! Sohn Gottes und des Menschen Sohn! des Himmels großer König! von ganzem Herzen preis ich dich! hab ich dein Heil, so rühret mich das Glück der Erde wenig: Zu dir komm ich; wahrlich keiner, tröstet deiner sich vergebens, wenn er dich sucht, Herr des Lebens! 3. Durch dich nur kann ich selig seyn. O drücke tief ins Herz mir ein Empfindung deiner Liebe; damit ich ganz dein eigen sey, aus Weltsinn deinen Dienst nicht scheu und dein Gebot gern übe. Nach dir, nach dir, den ich fasse, und nicht lasse, ewig wähle, dürstet meine ganze Seele! Tragend wird, typisch für die Aufklärung, die Lichtmetaphorik, auf Kosten der Bilder von Brautschaft und Hochzeit. Die Liebe wird nicht mehr erotisch, sondern moralisch aufgefaßt: und dein Gebot gern übe ist ihre Pointe. „Wie anders“, schrieb Goethe am 4. Januar 1819 an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, wieviel passender und gehöriger „klingt das proscribirte [geächtete] Lied: Wie schön leuchtet der Morgenstern! als das castigirte [gezüchtigte], das man jetzt auf dieselbe Melodie singt […]. Dies ist aber nicht der einzige Punkt worüber man muß verzweifeln lernen.“ Bis zum Ersten Weltkrieg herrscht in den Gesangbüchern ein unglaublicher Wirrwarr von Fassungen dieser Art, von Nachdichtungen und Mischgebilden aus Elementen des Urtexts und solchen aus den verschiedensten Bearbeitungen. Die geschilderten Änderungstendenzen lassen sich immer deutlich erkennen. Im Elberfelder Evangelischen Gesang-Buch von 1858 fehlen zum Beispiel die süße Wurzel Jesse, die lebendige Rippe, das liebeskranke Herz und die Äugelein. Aus Daß ich warme werd von Gnaden wird Hilf mir Armen aus Erbarmen, aus der Braut wird der Freund, Eia, eia wird zu Heil mir, Heil mir, und aus dem wunderschönen Bräutigam wird ein Seelenbräutigam. Die Kühnheiten verschwinden, die Erotik wird entschärft, das Lied wird „fromm“. Im Laufe des 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert kommt es zu einem mühsamen und immer wieder umstrittenen Wiederherstellungsprozeß. Wie wenig die Ängstlichkeit gegenüber diesem Lied überwunden ist, zeigt am deutlichsten die Stelle im Abgesang der vierten Strophe, wo Nicolai dichtete: Nimm mich freundlich in dein Arme, daß ich warme werd von Gnaden. Im Evangelischen Kirchengesangbuch (1950 ff.), im Gotteslob (1975 ff.) und im Evangelischen Gesangbuch (1993 ff.) ist Daß ich warme werd von Gnaden ersetzt durch Herr, erbarme dich in Gnaden. Aus dem Liebeslied wird so ein Sünden-, Not- und Elendslied - ein krasser Eingriff in die Sinnstruktur, unverständig insbesondere, weil es doch bei der Wiederkehr Christi gar keinen Erbarmensbedarf mehr gibt: „Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein.“ (Offb 21, 4) Purifizierung und Re-Erotisierung 41 „Ich will dich lieben, meine Stärke“ Die siebte Strophe des Liedes Ich will dich lieben, meine Stärke von Angelus Silesius lautet: Gib meinen Augen süße Tränen, Gib meinem Herzen keusche Brunst; Laß meine Seele sich gewöhnen, Zu üben in der Liebe-Kunst. 4 Es handelt sich, betrachtet man die verwendete Bildlichkeit, fraglos um ein Liebeslied, gesungen von einer hingegebenen Braut voll immerwährender Begier, süße Tränen im Auge, im Herzen keusche Brunst. Der Geliebte wird als Bräutigam und Freund bewundert, er verlockt durch Stärke, Zier, Schönheit und einen goldenen Mund, er ist Leben, höchstes Gut, wahre Ruhe und Himmelswonne, er ist Krone, Licht, Glanz und Gott. Ich will dich lieben, meinen Gott (8,2) - sogar das Wort „Gott“ scheint hier eher im verliebten Sinne eines Vergötterten und Angebeteten gebraucht zu werden als in einem theologischen Sinne. Zumindest schillert das Vokabular, sofern der theologische Firnis über den vielen starken Metaphern aus dem Bereich weltlicher Liebeslieder nur dünn zu sein scheint. Die Vorstellungsfülle, die hier der Liebe zu Jesus zugeschrieben wird, speist sich jedenfalls aus der irdischen Liebe. Die auf sie verzichten müssen, aus Wahl, Geschick oder eigner Schuld, singen das Lied deshalb mit besonderer Hingabe. Flehentlich und inbrünstig äußern sie die Worte, die ihnen „in der Wüsten dieser Welt“ 5 häufig verwehrt sind: Ich will dich lieben. Die Braut ist kein unbeschriebenes Blatt. Einst hatte sie sich an den Falschen verschwendet, weshalb sie seufzt: Ach, daß ich dich so spät erkannte. Es gab Zeiten, da hatte sie das geschaffne Licht geliebt. Was heißt das? „Gott ist Licht“, sagt Johannes. (1 Joh 1,5) Jesus Christus, „aus dem Vater geboren vor aller Zeit“, ist deshalb, dem Nicaenischen Glaubensbekenntnis zufolge, „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt“ sowie - und jetzt folgt das Stichwort des Liedes - „nicht geschaffen.“ Das ungeschaffne Licht ist Jesus. Den Sohn Gottes zu lieben, nicht einen irdischen Geliebten, darum also geht es. An dieser Stelle erst wird die bisher so zweideutig wirkende Metaphorik eindeutig. Das Lied leiht sich zwar seine Bildkraft von der irdischen Liebe, aber verwechselt werden will es nicht mit ihr. Das irdisch Höchste und Begehrenswerteste, die erfüllte Liebe, wird gebraucht, um einen Vorgeschmack der Ewigkeit zu geben. Trotzdem ist die irdische Liebe nicht nur der allegorische Schattenriß der Transzendenz, sondern umgekehrt auch ihre Bekräftigung, der sinnenhafte Beweis dafür, daß es den Himmel wirklich gibt. Wer vom Himmel reden will, muß von der Liebe reden, anders geht es nicht. 4 Angelus Silesius: Heilige Seelen-Lust. Reprint der fünfteiligen Ausgabe Breslau 1668. Herausgegeben von Michel Fischer und Domink Fugger. Kassel u. a.: Bärenreiter-Verlag 2004, (Teil I, Nr. 10) S. 29 5 Heilige Seelen-Lust, S. 3 (Vorrede). Purifizierung und Re-Erotisierung 42 Während die Orthodoxie, vom Pietismus bedrängt, das allmähliche, von großen Privatgesangbüchern wie dem Freylinghausenschen 6 und dem Porstschen 7 beförderte Vordringen des Liedes in die Kirchengesangbücher 8 nicht verhindern konnte, hat die rationalistische Gesangbuchreform Ende des 18. Jahrhunderts Ich will dich lieben konsequent aussortiert. Ein pädagogisch motiviertes, ethisches, soziales und politisches Christentum war mit dem mystischen des Angelus Silesius unvereinbar. Solche Mystik stand unter dem Verdacht, ekstatische Innerlichkeit auf Kosten sozialer Gleichgültigkeit zu erstreben. Ihre Sprache galt als schwülstig, ihre Liebesmetaphorik als anstößig. Erst die Romantik hat wieder das Ohr geöffnet für die Klänge des schlesischen Engels. Friedrich Schlegel weist zuerst auf ihn hin. 9 1826 erscheint eine Neuausgabe der Heiligen Seelen-Lust. 1829 kehrt das Lied ins Berliner Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen zurück. Einer der Herausgeber war Friedrich Schleiermacher. Die Katholiken, die das Lied bis dahin nur ganz vereinzelt kannten, ziehen seit der Jahrhundertmitte nach. 10 In beiden Konfessionen findet man es allerdings geboten, die erotische Bildlichkeit abzuschwächen und die Zweideutigkeiten ins theologisch Gängige zu transformieren. Stets wird die siebte Strophe entfernt (selten stark verändert), vor allem wohl, um Ausdrücken wie keusche Brunst und Liebe- Kunst aus dem Weg zu gehen. Kulturtheorie Freudianisch gesehen, und ich berufe mich hier vor allem auf die Schrift Die Zukunft einer Illusion von 1927, beruht Kultur auf Lustaufschub. Die Triebe sofort und umweglos zu befriedigen ist barbarisch. Die Rücksichtnahme auf die Mitmenschen macht Elastizität erforderlich. Wenn alle zugleich ihren Durst stillen wollen, wird die Quelle zerstört oder verschmutzt. Ein geordnetes Nacheinander ist eine notwendige Kulturleistung. 6 Geist=reiches Gesang=Buch / Den Kern Alter und Neuer Lieder / […] in sich haltend. Halle 1704 (zahlreiche Folgeauflagen) 7 Geistliche und Liebliche Lieder/ Welche Der Geist des Glaubens durch D. Martin Luthern/ Johann Hermann/ Paul Gerhard/ und andere seine Werckzeuge in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet. Berlin 1708 (zahlreiche Folgeauflagen). 8 Irmgard Scheitler: Angelus Silesius: „Heilige Seelenlust“. Die Rezeption der „Geistlichen Hirten-Lieder“ vom 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. In. Hansjakob Becker und Rainer Kaczynski (Hrsg.): Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium. Band I, St. Ottilien: EOS 1983, S. 711-753, hier S. 732 f. 9 Friedrich Schlegel: Von der wahren Liebe Gottes und dem falschen Mystizismus (1819), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, München/ Paderborn/ Wien 1959 ff., Band VIII, S. 529-545. 10 Zum Beispiel Laudate. Katholisches Andachtsbuch. Augsburg 1859 (verändert). Purifizierung und Re-Erotisierung 43 Wo es um Hunger und Durst geht, hat das Prinzip Lustaufschub relativ enge Grenzen. Anders ist es mit der Sexualität. Hier kann das Erreichen des Triebziels viel weiter hinausgezögert werden. Zwischenzeitlich wird der Trieb anderweitig beschäftigt. Die Transformation der Triebenergie nimmt im gesunden Fall die Gestalt der Sublimierung an. Im Krankheitsfall zeigt sie sich als Neurose, als Psychose oder als Depression. Kultur ist Triebsublimierung, das heißt: Modellierung, Kanalisierung oder Umlenkung des Triebs mit dem Ziel, seine anarchische, gesellschaftsgefährdende Energie zu bändigen, in ungefährliche Bahnen zu lenken und im günstigsten Fall in den Dienst eines humanen Zusammenlebens zu nötigen. Die von der Gesellschaft erpreßten Verzichtleistungen müssen allerdings kompensiert werden. Sie werden kompensiert entweder durch materielle Güter und die durch sie ermöglichten Ersatzbefriedigungen oder aber durch imaginäre Befriedigungen in Selbstgenuß und Machtausübung, Kunst, Kitsch und Kino, Traum, Rausch und Religion. Die Religion ist diejenige Illusion, auf die der Titel der Freudschen Schrift anspielt. Daß sie eine Zukunft haben solle, dem widerspricht Freud gut aufklärerisch: Er meint, es müsse reichen, die sozial zugemuteten Entbehrungen rein rational zu begründen. Die Erfahrung hat das vorher nicht und seitdem nicht bestätigt. Ich lese Die Zukunft einer Illusion so, daß die Illusion eine Zukunft hat. Religion sei das Opium des Volkes, sagte Karl Marx. Das ist richtig, aber auch Musik und Theater, Romane lesen und Fernsehen, feine Gastronomie und Fernreisen sind Opium des Volks. Kultur ist Opium, großenteils. Ohne Opium ist das Leben gar nicht zu ertragen. Religion kompensiert Frustration, aber das ist kein Argument gegen sie, sondern eines für sie. Die Kompensationsleistung pflegen erscheint vielen heute noch immer als Priestertrug, könnte aber postmodern aus diesem Paradigma befreit werden. Kirchenliedersingen erfolgt in der Regel kollektiv und anonym und erlaubt dadurch Redeformen, zu denen das Individuum sonst keine Gelegenheit hat. Ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. Das gemeinsame Singen ist eine Kommunikationsform mit verlegten Schamschwellen. Es ist viel freizügiger als die sonstige zwischenmenschliche Rede. Die Notwendigkeit eines Sublimierungsangebots ergibt sich aus dem verbreiteten Problem der Unerreichbarkeit erwünschter Sexualpartner. Da liebt ein Alter eine Junge, die er nicht bekommt, eine Häßliche einen Schönen, der sie nicht will, ein Unabhängiger eine verheiratete Frau, und Verheiratete sehnen sich nach dem Ehebruch. Überall gibt es unerfüllbare Sehnsüchte, und noch die, die alles zu haben scheinen, werden dessen irgendwann überdrüssig und sehnen sich hinaus noch aus den gesättigtsten Verhältnissen. Warum sollte die Religion sich nicht beteiligen an der Linderung dieser Not? Man sieht, wir bewegen uns, was den Religionsbegriff betrifft, auf einer sehr niedrigen Ebene. In der Tat möchte ich beim Thema Erotik und Kirchenlied an dieser Stelle nicht religiös und nicht theologisch argumentieren, Purifizierung und Re-Erotisierung 44 sondern nur triebpsychologisch und kulturtheoretisch. Zur Methode gehört das Wörtlichnehmen der Metaphern. Nicht ihre Oberstimme, die in der Regel unanstößige theologische Deutungen artikuliert, soll wahrgenommen werden, sondern zu Gehör kommen sollen die Unterstimmen, die aus den Kellergeschossen des Unterbewußten dringen, in denen man beim Hohen Lied nicht an Christus und die Kirche, sondern an das sinnliche Begehren denkt. Die reine Gottesliebe ist danach nur die höchstsublimierte Form des Sexualtriebs, ohne daß das ein Argument gegen sie (die Gottesliebe) wäre. Jede hohe Idee, jede Nächstenliebe und alles Gute überhaupt hat seine Wurzel in der Fleischlichkeit. Die Religion ist zugleich kompensatorisch, weil sie den Trieb anders befriedigt, wie auch kontrafaktorisch, weil sie den Trieb überformt und seine Kraft in Gottesliebe verwandelt. Freilich klappt das nicht immer. Als Emma Bovary den Verlust ihres Geliebten zu beklagen hat, wird sie eine Weile fromm: „Wenn sie auf ihrer gotischen Betbank kniete, redete sie den Herrgott mit denselben Koseworten an, die sie ihrem Geliebten in den hingebendsten Augenblicken des Ehebruchs zugeflüstert hatte. Sie tat es in der Hoffnung, sich dadurch die Gnade des Glaubens zu erwirken; aber keinerlei Gegenliebe kam vom Himmel herab, und sie stand wieder auf, mit müden Gliedern und dem undeutlichen Gefühl, betrogen zu sein.“ 11 Schnitte Wir legen anhand einiger leitender Gesangbücher einige Synchronschnitte an, um sie dann diachron miteinander zu vergleichen. Daß katholische Gesangbücher gewählt wurden, ist eine rein pragmatische Entscheidung. Die evangelische Entwicklung ist nicht wesentlich anders verlaufen. a) Alte Catholische Geistliche Kirchengeseng. Köln 1599 Das Buch lebt dominant von lateinischen Hymnen und ihren Übersetzungen und repräsentiert insofern weitgehend Texte des Mittelalters. Erotische Metaphern spielen nur eine relativ geringe Rolle. Ihr traditioneller Raum sind Lieder auf die Empfängnis. Formulierungen wie Die Göttlich gnad vom Himel groß / Sich in die keusche Mutter goß (aus Christum wir sollen loben schon, der deutschen Version von A solis ortus cardine) dienen theologisch dazu, den Beweis für die reale Fleischwerdung Christi zu erbringen, lassen sich aber im Blickwinkel der psychoanalytischen Symbolik als Metaphern für Sexualakte lesen. Jedenfalls interessiert man sich lebhaft für das Geheimnis der Zeugung Jesu (Veni redemptor gentium). Die biblische Formulierung die Kraft des Höchsten wird dich überschatten kommt in vielen Liedern vor, wird 11 Gustave Flaubert, Madame Bovary, übersetzt von Hans Reisiger, Zürich 1967, S. 332. Purifizierung und Re-Erotisierung 45 allerdings nicht als sexuelle Metapher verstanden, sondern gerade als diejenige Kraft interpretiert, die Maria vor der Verletzung ihrer Jungfräulichkeit schützt. Es wird dich vberschatten / Des allerhöchsten krafft / Vnd vnuerletzt verwahren / Die reine Jungfrawschaft. b) Allgemeines Gesang=Buch. Mainz 1683 Knapp hundert Jahre später hat die Fahndung nach erotischen Metaphern ein ganz anderes Ergebnis. Das für die Rhein-Main-Mosel-Bistümer repräsentative Allgemeine Gesangbuch ist voll davon. Der alttestamentliche Tau erscheint deutlich als spirituelles Gegenstück zum männlichen Samen: Der H. Geist soll über dich kommen: gleich wie der Thaw fällt übr die Blumen, oder Es fiel ein Himmels-Thawe / in eine Jungfrau fein 12 , oder Der H. Geist mit seinem Taw / Erschuff das Kind in dieser Fraw. 13 Die Rosenmetapher wird erotisiert in einer Weise, die an Goethes Heidenröslein denken läßt: Dich grüst mit schönen Worten / deß höchsten Vatters Bott: / er sprach / in deinen Garten / wil steigen unser Gott: will brechen Blümelein: / das ist die wahre menschheit: im keuschen Hertzen dein. 14 Maria selbst wird zur erotisch attraktiven Frau: Wan ich dein schönheit recht betracht / mein Hertz für Lieb verschmacht. / Dein Lefftzen seynd Rosen / dein Mund Honigschossen / darauß thut entspriessen / ja lieblich herfliessen / dein Honigsüsse Sprach. 15 Sie soll ihre erotischen Waffen sogar einsetzen, wenn es gilt, beim letzten Gericht von ihrem Sohn einen Sünder freizubitten: Zeig ihm deine Bruste / die er offt mit luste / in seins Lebens friste / gesogen hat. 16 In Laßt uns erfreuen herzlich sehr erscheint Ostern metaphorisch als erotische Begegnung von Maria und Jesus: Als dein Sohn gleich nach seinr Urständ / Sein freundliche Augen zu dir wend / Und glantzend in dein Kammer gieng / Mit beyden Armen dich umpfieng. / / Als er dir bracht ein freundlichen gruß / Und er dir gab einen hertzlichen Kuß./ / Maria wie war dir zu Muth. / Wie wallt in deinem Leib dein Blut./ / Als du ansahest seine Gestalt / Und seine Schönheit mannigfalt./ / Sag 12 Die Wiedereinspeisung von Es fiel ein Himmels-Thawe nach der Tilgung des Lieds in den Aufklärungsgesangbüchern gelingt trotz der Versuche von Heinrich Bone: Cantate. Mainz 1847 (= Bone 1847) und Guido Maria Dreves: O Christ hie merk. Freiburg i. Breisgau 1885 (= Dreves 1885) nicht. 13 Aus dem Lied Der Menschen Heil ein kleines Kind, dem keine weitere Verbreitung über das 17. Jahrhundert hinaus beschieden war. 14 Aus Ave Maria klare - das Motiv wird in den Restaurationsfassungen - z. B. Bone 1847, Gesang- und Gebetbuch für die Erzdiöcese Köln 1887, Kirchenlied. Freibug 1938 (=Kirchenlied 1938), Gotteslob 1975 ff. - nicht wiederhergestellt. Stattdessen steht Es wird dich übertauen / des Allerhöchsten Kraft. 15 Das Lied Maria wahre Himmels Freud geht trotz Bone 1847 (wo die zitierte Strophe bereits fehlt) weitgehend verloren 16 Das in der Restauration wiederhergestellte Lied Mein Zuflucht alleine Maria die reine hält sich zwar bis heute in wenigen Diözesananhängen, vgl. Heinrich Riehm: Das Kirchenlied am Anfang des 21. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Tübingen: Francke-Verlag 2004 (Riehm 2004). Die zitierte Strophe fehlt aber bereits bei Bone 1847. Purifizierung und Re-Erotisierung 46 was dein Seel damahl empfund / Und wie dir war im Hertzen Grund./ / Als du anhörest seine Stimm / Und freundlich wendest dich zu ihm./ / Und gabst ihm einen süssen Kuß. / O was war hie für überfluß. 17 Insgesamt aber ist Maria weniger erotisiert als Jesus. Daß dieser wie in der Tradition der Bräutigam ist, wird metaphorisch ausführlich konkretisiert. Dan seine lieb ist süß und mild / Die Marck und Bein mit Freud erfüllt. 18 Oder: Dich umbfangen mit Verlangen / Ich begehr ohn Unterlaß. 19 Die Schönheit des Kindes wird gepriesen mit den für das barocke Frauenlob typischen Metaphern. Von Lefftzen roth, Augen klar und Leib schneeweiß wie helffenbein ist die Rede, und zuckersüß, glänzend und wohlriechend ist er außerdem. 20 Daraus folgert Naheliegendes: Last uns sein Mündlein küssen. 21 Eine offenbar weibliche Sprecherin bietet sich dem Jesuskind mit den Worten an: Schlaff mein Leben / wil dir geben / tausend keusche backenküß: / O mein lüste / saug mein Brüste / saug / sie seynd gantz Zuckersüß: 22 Acht Strophen lang wird Jesus angehimmelt in Jesu meines hertzens Lust, daraus nur eine Strophe: Jesu wann ich dich gedenck / Ich für Lieb schier gar versenck: / Für Frewden gib dir tausend Küß / Jesu mein: Jesu mehr dan Zucker süß. 23 Im Weihnachtslied Als ich bei meinen Schafen wacht lauten die Strophen 5 bis 9: Das Kind zu mir sein Augen wand/ Mein hertz gab ich in seine Hand. Demütig küst ich seine Füß/ Davon mein Mund ward zuckersüß. Als ich heim gieng / das kind wolt mit/ Und wolt von mir abweichen nit/ Es legt sich selbst an meine Brust/ Und macht mir da all Hertzen lust. Den Schatz muß ich bewahren wol/ So bleibt mein Hertz der frewden voll. 24 17 Das in der Restauration wiederhergestellte und so bis heute gesungene Lied verliert die zitierten Passagen bereits bei Bone 1847. 18 Das Lied Jesu du allerliebster Herr geht in der Aufklärungszeit unter. 19 Das Lied Ach wann wird doch endlich kommen Jesus der Geliebter mein geht in der Aufklärungszeit unter. 20 Das im 17. und 18. Jahrhundert breit belegte Lied O Kind o wahrer Gottessohn war trotz Bone 1847 nicht wieder erweckbar. Bone hatte die Strophen 2 und 3 enterotisiert zur neuen Strophe 2: O Kind, du bist von Wunderart, / Dein Antlitz ist wie Rosen zart, / Dein Haupt ist Gold, dein Auge Licht, / Das alle Finsternis durchbricht. 21 Aus dem über Bone 1847 und Kirchenlied 1938 in die Diözesangesangbücher der Nachkriegszeit weitergereichten Laßt uns das Kindlein wiegen, in dem küssen bereits bei Bone (und dann in Kirchenlied 1938) zu grüßen entschärft wird. Heute nur noch in einem einzigen Diözesananhang (s. Riehm 2004). 22 Das Lied Schlaf mein Kindlein schlaf mein Söhnlein geht in der Aufklärungszeit unter. 23 Das Lied geht in der Aufklärungszeit verloren. 24 Das im Barock verbreitete, in der Aufklärung verlorene, in der Restauration wiederentdeckte Lied ist bereits bei Bone 1847 stark verändert und enterotisiert. Als letzter Rest Purifizierung und Re-Erotisierung 47 Die Imagination reicht bis ins Schlafzimmer. Gefällt dir mein Schlaffkämmerlein / Schlaff ewig drin liebs Jesulein. 25 Kühn erotisiert O du hochheilig Kreuze den Kreuzestod als Liebestod: Du bist das süsse Bethlein / Darauf mein Schatz sein Leben / Aus lauter Lieb auffgeben. 26 Der eigene Tod erscheint als Liebesvereinigung mit Jesus. Dan bey dir wil ich bleiben / mit Hertzen und mit Sinn / wil mich dir einverleiben / und also fahren hin./ / An meinem letzten ende / O Jesu liebster mein / zu mir dich freundlich wende / mich laß befohlen seyn. Ich warte mit verlangen / wie dir ist wol bewust / daß ich dich mög umbfangen / in ewigr Freud und Lust. 27 c) Neues christkatholisches Gesang= und Gebetbuch für die Mainzer Erzdiözes. Mainz 1787 28 Wieder hundert Jahre später, in den Gesangbüchern der Aufklärung, sind diese Lieder völlig verschwunden. Das Thema Unbefleckte Empfängnis kommt metaphorisch nur noch als Gruß des Engels vor. (Denn ein Engel schwebte nieder, / bracht’ in Nazareth den Gruß / jener Jungfrau, die uns wieder / nach dem Falle trösten muß.) 29 Maria ist reduziert auf die Stichworte Mutterschaft, Reinheit, Fürbitterin und Muster der Tugend. 30 In den Weihnachtsliedern ist das süße Kindlein dem Erlöser, Lehrer und Wahrheitbringer gewichen. d) Cantate! Katholisches Gesangbuch […] bearbeitet von Heinrich Bone. Mainz 1847 Heinrich Bone hat fast alle hier zitierten Lieder aus Mainz 1683 wiederzubeleben versucht. Bei etlichen hatte er auch Erfolg. Doch hat er durchgehend die Erotica getilgt oder die Metaphorik ins unzweideutig Geistliche verschoben. Die Kirchenliedrestauration des 19. Jahrhunderts verzichtet auf eine Re- Erotisierung des Bestands. findet sich in Kirchenlied 1938 und den ihm folgenden Büchern die Schlußstrophe Das Kind zu mir die Äuglein wandt, / mein Herz gab ich in seine Hand. 25 Aus dem seit der Aufklärung verlorenen Mein Herz das brinnt in Lieb entzündt. 26 Die Bettlein-Strophe hält sich, allerdings deutlich enterotisiert, immerhin noch bis köln 1887: Du bist das Bett der Schmerzen, / Darauf mein Herr sein Leben / Aus Liebe hingegeben. 27 Aus O Jesu liebster Jesu o Trost der Seelen mein, einem Lied, das nach der üblichen Aufklärungsunterbrechung und der Wiedereinspeisung durch Bone 1847 eine Weile präsent ist und im 20. Jahrhundert allmählich erlischt. Die Schlußzeilen lauten bei Bone abgeschwächt: Ich warte mit Verlangen, / O treuer Seelenheld, / Daß ich dich mög umfangen / In deinem Ehrenzelt. 28 Hier zitiert nach der sechsten Auflage 1790. 29 Aus Tauet Himmel den Gerechten (Nr. 95) in der damaligen Mainzer Version. 30 Muster aller Tugendgaben! / laß uns jeden Augenblick / dich vor unsern Augen haben, / o Maria, unser Glück.“ (S. 308) Purifizierung und Re-Erotisierung 48 Ist Re-Erotisierung angesagt? Der Trieb läßt sich direkt ausleben, er läßt sich sublimieren oder er läßt sich verdrängen mit der Neurose im Gefolge. Betrachten wir den Triebkessel Mitteleuropa mit seinen heutigen Druckverhältnissen, so ist das direkte Ausleben heute leichter und verbreiteter als je. Die Sublimierung bleibt zwar notwendig, da das direkte Erreichen des Triebziels vielen Menschen versagt bleibt, aber für diese Notwendigkeit gibt es heute einen riesigen Markt, der fabrikmäßig Ersatzbefriedigungen anbietet, vom Telefonsex bis zum allnächtlichen Dauerstriptease eines Sportsenders. Niemand wäre auf Kirchen angewiesen, die nachhinkend das Kirchenlied als Sublimator anbieten würden. Man muß den Kirchen deshalb nicht den alten Vorwurf einer neurotisierenden Sexualverdrängung machen, denn mit der allgemeinen Liberalisierung hat auch die Verdrängung ihren Impetus verloren. Sie ist heute nur noch ein marginales Problem. Man muß es deshalb nicht kritisieren, wenn ein Liebeslied wie Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer ohne erotische Metaphorik auskommt. Man muß auch die Barocklieder nicht wieder einspeisen - obgleich die Wiederherstellung der Urtexte von Wie schön leuchtet der Morgenstern und Ich will dich lieben, meine Stärke sicher keinen Schaden anrichten würde, und obwohl historische Texte eine gewisse Unschuld mitbringen, die bei Neudichtungen fehlt. Hier gilt immer leicht der Satz: Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Huub Oosterhuis hat noch einmal versucht, ein tief erotisches Liebeslied zu schreiben. Sein Komm in mich, du 31 stellt die Frage, ob die geschlechtliche Vereinigung heute noch ein geeignetes Bild für die Liebesvereinigung mit Jesus ist oder ob da nicht vielmehr eine Art pornographischer Komik entsteht. Ich lese das Lied einmal, die Metaphern wörtlich nehmend, als Rollenlied einer Frau, die sich nach sexueller Vereinigung mit einem Manne sehnt. Komm in mich, du, entwaffne mich. Sieh mich, rühr mich an. Steh mir entgegen, prüfe mich. Tau meinen Namen auf, enträtsle mich. Komm in mich, werde Klang in mir. Tod ist tief in mir. Versteint bin ich, ersteh in mir. Tu weh, durchglüh mich. Leb mich, leucht in mir. Komm aus mir, reiß mich auf, mein Kind. Mensch in mir, wach auf. Empfang mich, überschatte mich. Und geh mit mir, wo niemand mit mir geht. 31 Aus der Sammlung Mitten unter uns, Freiburg/ Wien: Herder 1982 u. ö. Purifizierung und Re-Erotisierung 49 Für die Liebesvereinigung stehen die traditionellen Bilder des Flüssigen, des Glühens, Klingens, Leuchtens, Tauens und Schmelzens. Eine masochistische Erwartung an das männliche Gegenüber ist nicht zu verkennen: entwaffne mich, steh mir entgegen, tu weh. Die dritte Strophe spielt neun Monate später. Das Kind ist eine Art besseres Ich, der Mensch in mir, der jesusförmig geworden ist. Es ist bisexuell, empfangend (Empfang mich) und zeugend zugleich (überschatte mich). Das Kind, das mit der Mutter schläft, erinnert natürlich an Ödipus. Die ödipale Phantasie ist gesellschaftlich geächtet, darum ist es logisch, daß die Sängerin um Diskretion bittet: Und geh mit mir, wo niemand mit mir geht. Daß die Götter diejenigen Sehnsüchte erfüllen, die auf Erden nicht erfüllt werden, ist psycho-logisch und mytho-logisch logisch. 4 Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder Vernichtet kann jener unsterbliche Sinn nicht werden, aber getrübt, gelähmt, von andern Sinnen verdrängt. (Novalis 1 ) Zum Begriff der Säkularisation Die christliche Religion ist ihrem Ursprung nach übernational, was sie selbst von Anfang an als pfingstliche Überwindung der Sprachgrenzen feiert. Es mußte viel geschehen, um das zum Vergessen zu bringen. Die Unterwanderung des christlichen Universalismus durch nationale Gehalte war nicht jederzeit möglich, sondern setzte eine zumindest partielle Säkularisation voraus, die bestimmte Botschaften und Ausdrucksformen des Christentums für andere Zwecke verfügbar werden ließ. Die Zeit der neueren Säkularisation und der rationalistischen Verflachung des Christentums ist in Mitteleuropa zugleich die Zeit des Aufstiegs des Nationalismus. Die aus dem Zentrum des christlichen Glaubens verstoßenen, damit quasi heimatlosen Riten und Mythen werden für nationalistische Verwendungen frei. 2 Dieser Prozeß läßt sich besonders deutlich an der Geschichte der Nationalhymnen demonstrieren. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder, so lautet unsere These. Bevor wir sie an einer Reihe von Beispielen hauptsächlich aus dem deutschsprachigen Raum demonstrieren, sind erst einige Klarstellungen zum Begriff der Säkularisation erforderlich. Der Prozeß der Aufklärung wurde lange als Emanzipation aus Naturverhaftung und mythischer Bindung verstanden. Die neueste Forschung 3 beginnt dieses Paradigma zu bezweifeln. Sie betont das von der Aufklärung nur 1 Novalis, Die Christenheit oder Europa (1799), Schriften, Band III, hrsg. v. Richard Samuel, Stuttgart 1968, S. 509. 2 Zu den besten Beiträgen der neueren Forschung zählt der von Sabine Behrenbeck und Alexander Nützenadel herausgegebene Sammelband Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/ 71, Köln 2000. Den End- und Höhepunkt der nationalistischen Inanspruchnahme des Religiösen markiert insbesondere der Aufsatz von Sabine Behrenbeck: Durch Opfer zur Erlösung. Feierpraxis im nationalsozialistischen Deutschland (ebd., S. 149-170, mit weiterführender Literatur). 3 Einen guten Überblick, dem das Folgende in einigen Punkten verpflichtet ist, gibt Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft (Forschungsreferate), 1993, S. 93-157. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 51 Verdrängte, aber in verwandelter Gestalt weiter Existierende - die Träume und das Unbewußte, den Wahn und die Erotik, den Mystizismus und die Erweckungsbewegungen, die Frauen, den Körper und die Kinder. Sie definiert die Aufklärung nicht mehr vom Kopfe her, von Mündigkeit und Verstand (wie Kant), sondern von der ihr zugrundeliegenden Anthropologie. Das anthropologische Paradigma beginnt das geistesgeschichtliche abzulösen, dessen zentrales Stichwort ‚Säkularisation‘ lautete. 4 Säkularisation in diesem Sinne hieß, Aufklärung als Gefälle zu verstehen, als verweltlichende Verwandlung religiöser Energien, entweder ‚bergauf‘ als Fortschritt, oder ‚bergab‘ als Verlust. Das Religiöse ist in diesem Denken das Ursprüngliche, die Verweltlichung das von ihr abgeleitete Spätere. Der Prozeß endet, bergauf oder bergab betrachtet, mit der völligen Auflösung der Religion. Der Anthropologie aber sind beide, Religion wie Säkularisation, nur Phantasmata, untergeordnetes Teilgeschehen. Wo die alte geistesgeschichtliche Betrachtung von Glaube und Verweltlichung spricht, spricht die anthropologische Betrachtung nur noch von Diskursen. Diskurse zielen nicht auf Wahrheit, sondern sie sind Epiphänomene von Interessen, der Interessen des Körpers, der Interessen der Macht. Es gibt kein Gefälle mehr von Religion zu Säkularisation, sondern nur veränderte Machtverhältnisse, die einmal einen religiösen, ein andermal einen säkularisierten Diskurs hervorbringen. Das Stichwort Säkularisation wird dadurch relativiert, aus einem geschichtsphilosophischen Apriori zum Subsystem anderer Großprozesse degradiert. Säkularisation in diesem degradierten Sinne kann immer nur Verwandlung, nie Auflösung religiöser Energien bedeuten. Nichts sei vergänglich, schrieb Novalis 1799, was die Geschichte je ergriff, „aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Gestalten erneuet wieder hervor.“ 5 Die Verweltlichung eines Geistlichen ist immer auch die Vergeistlichung eines Weltlichen. Säkularisation ist immer auch Realisation, 6 allerdings keineswegs immer im religiösen Vollsinn einer Inkarnation des Heiligen in der Welt, sondern allzu oft in Gestalt verzerrter Delirien. Wenn es keinen wirklichen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit gibt, jedenfalls nicht auf Dauer und im ganzen gesehen, dann wird die Aufklärung den Mythos niemals zerstören und mündige Vernunftwesen an die Stelle der real existierenden Halbtiere 4 Eine nützliche Zusammenfassung, die allerdings die germanistischen Beiträge zugunsten philosophischer, theologischer und soziologischer zurückstellt, bringt Giacomo Marramao: Säkularisierung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band 8, Basel 1992, Sp. 1133-1161. Die wichtigsten germanistischen Bücher sind wohl immer noch Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne von Albrecht Schöne (Göttingen 2 1968) und Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation von Gerhard Kaiser (Frankfurt 2 1973). 5 Novalis, Christenheit (Anm. 1), S. 510. 6 Vgl. Dorothee Sölle, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt/ Neuwied 1973. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 52 bringen können, sondern dann wird die Produktion von Mythen und Delirien im Rücken der Aufklärung immer so viel Terrain zurückerobern, wie sie im Angesicht der Aufklärung gerade preiszugeben scheint. Der Mythos der Entmythologisierung ist obsolet. 7 Wenn es keinen Sieg über die Mythen geben kann, sondern nur Verwandlungen, dann stellt sich die Frage, wie man mit ihnen umzugehen hat, anders als bisher. Sie lautet nicht mehr: Wie komme ich vom Mythos zur Wahrheit? sondern: Welchen Mythos ziehe ich vor? Es gibt kultivierte und es gibt barbarische Mythen. Der „Religionsschlaf“, von dem Novalis spricht 8 , hatte nicht Mündigkeit zur Folge, sondern Träume und Delirien, darunter auch ein Ausgeliefertsein an Massenmythen oft primitivster Art. Daß das Christentum seine Mythen pflegen sollte anstatt sie preiszugeben, dafür bietet die Geschichte des Kirchenliedes genug Gründe. Die Aufklärungsgesangbücher, die zwischen 1780 und 1820 eingeführt wurden, haben, geleitet vom ehrenwerten Ziel einer vernünftigen Religion, das Mythische und das Erotische, das Geheimnisvolle und den Tod, die Sinne, den Körper, das Weibliche und die Gefühle aus der Religion verbannt. Sie erzielten damit nicht Emanzipation, sondern lediglich Preisgabe, sie verloren ihre Kundschaft, weil sie die Menschen im Stich ließen und auf die kultivierende Modellierung ihrer irrationalen Grundbedürfnisse verzichteten. Wenn Säkularisation nicht als Auflösung, sondern als Verwandlung oder Umlenkung religiöser Energien verstanden werden kann, müssen auch ihre einzelnen Erscheinungsformen aus dem Gefälle-Paradigma befreit werden. Beim Vorgang der Kontrafaktur gelingt das zwanglos, denn hier ist die Zweiseitigkeit der Bewegung lange erkannt. Im Falle der geistlichen Kontrafaktur werden erfolgreiche weltliche Melodien oder literarische Formen übernommen, der weltliche Text wird durch einen geistlichen überschrieben. Die Religion ist in diesem Falle kulturell stark und expansiv, erobert weltliches Terrain. Im Falle der weltlichen Kontrafaktur werden geistliche Melodien oder Formen übernommen, der Text aber wird durch einen weltlichen ersetzt. Dieser Vorgang läßt in der Regel auf Schwäche der Religion schließen. Wenn profane Inhalte in religiöse Gefäße gegossen werden, spielt das vom Neuen verdrängte Alte bewußtseinsmäßig immer noch eine Weile mit. Das Neue erscheint als das Neue nur, solange es sich von einem Alten abhebt. Insofern schleppt es das verdrängte Alte dialektisch mit, das untergehend ein reiches Spektrum an ästhetischen Reizen erzeugt. Die Säkularisation ist, um Albrecht Schönes Formulierung zu verwenden, eine sprachbildende Kraft. Nicht selten allerdings mißlingt der Verdrängungsversuch, es entstehen Verspannungen des Kunstgebildes, Stilbrüche, die in manchen Fällen die religiöse Herkunft der Form fragmentarisch präsent halten. 7 So Marramao, Säkularisierung (Anm.3), Sp. 1156, einige gegenwärtige Positionen zusammenfassend. 8 Novalis, Christenheit (Anm. 1), S. 520. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 53 Säkularisierung bedeutet sehr häufig Ästhetisierung. Wenn religiöse Ausdrucksformen bestehen bleiben, während ihr Lebenskontext verweltlicht wird, werden sie zu erratischen Blöcken, zu Fremdkörpern, zu Altertümern, zu Museumsstücken. Das Alte aber übt einen bedeutenden Reiz aus. Es ist der Reiz der Nostalgie, ein ästhetischer Reiz. Die religiöse Empfindung lebt fort als ästhetische, umgekehrt aber ist jene auch in dieser aufbewahrt. Wenn der Glaube geschwunden ist, zum Beispiel der an das ewige Leben, aber nichts an seine Stelle gesetzt wird und der Tod ungedeutet, infolgedessen trostlos bleibt, dann entsteht Nostalgie des alten Glaubens als sein ästhetisches Surrogat. Religiöse Nostalgie ist ein Säkularisat des Glaubens, eine seiner wirksamsten Verwandlungsformen. Obrigkeitslieder im Gesangbuch Um 1800 lag die christliche Religion in Deutschland darnieder in fast jeder Hinsicht. Dementsprechend war sie, was Wissenschaft und Kultur betrifft, fast nirgends innovativ, fast überall Nachzügler. Die Kraft zur geistlichen Kontrafaktur tendierte gegen Null. Das Neue ging damals von anderen Bereichen aus, von Politik und Philosophie, von Musik und Literatur, von Naturwissenschaft und Technik. Auch was die Geburt des deutschen Nationalismus betrifft, hinkten die Kirchen weit hinterher. Es gelang vorerst nicht, diese neue Bewegung geistlich zu überschreiben und zu christianisieren; es gelang statt dessen die umgekehrte Bewegung, das Christliche national zu überschreiben. Das hatte natürlich seine Gründe. Die katholische Kirche war ihrer Struktur und Tradition nach übernational. Die protestantischen Kirchen waren Fürstenkirchen, traditionell partikularistisch, insoweit gewissermaßen unternational. Freilich sprangen sie spät auf den fahrenden Zug auf. Die Sehnsucht nach Einigung der deutschen Länder hatte die Forderung nach Einheitsgesangbüchern in ihrem Gefolge. Es war nicht der Universalismus der Aufklärung, der die Einheitsgesangbücher durchsetzte, sondern der deutsche Nationalismus. Ernst Moritz Arndt, der Dichter des vaterländischen Schlagers Was ist des Deutschen Vaterland? gab 1819 die Parole aus, 9 der Eisenacher Entwurf von 1854 präsentierte die ersten 150 Kernlieder, 10 aber erst das zwanzigste Jahrhundert und streng genommen erst seine zweite Hälfte, beginnend mit dem Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950, brachte die Erfüllung. 9 In seiner Schrift Von dem Wort und dem Kirchenliede. 10 Deutsches Evangelisches Kirchen-Gesangbuch. In 150 Kernliedern. Stuttgart/ Augsburg 1854. In der Vorrede werden die Lieder „ein Besitzthum des evangelischen Deutschen Volkes“ genannt, das „durch alle Kirchen unsers Vaterlandes sich verbreiten soll“ (S. III). Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 54 Dem entspricht der inhaltliche Befund. Das Nationale spielt in den Gesangbüchern vorerst überhaupt keine Rolle. Der Rubrik-Typus Volk und Vaterland wird nicht etwa zur Zeit der Befreiungskriege in die Gesangbücher eingefügt, sondern erst seit den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 11 Als meistens einzige politische Rubrik findet sich in den evangelischen Gesangbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts in der Regel (in wechselnden Formulierungen) Obrigkeit und Untertanen. Die Obrigkeitsrubrik wird erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend um den Begriff Vaterland erweitert. Der Begriff Volk ist in dieser Zeit noch sehr selten. Bis 1945 heißt die Rubrik meistens Vaterland und Obrigkeit; Halle 1931 12 steht Land und Volk, Weimar 1941 13 findet man Volk vor Gott und Heilig Vaterland. Erst das EKG 1950 kennt eine Rubrik Für Volk und Vaterland, bezeichnenderweise jetzt ohne Obrigkeit. 14 Erst als der nationale Gedanke durch die Hitlerzeit seinen Todesstoß erhalten hatte, kommt er im Gesangbuch an. Die Obrigkeitslieder ihrerseits sind in der Zeit um 1800 herum infolgedessen noch ohne jeden nationalen Unterton. Die Rubrik besteht, ein beliebiges Beispiel, im Aufklärungsgesangbuch Kassel 1785 15 aus den drei Liedern Erhalt uns Herr die Obrigkeit, 16 auf die Melodie des Luther-Lieds Aus tiefer Not schrei ich zu dir zu singen (ein Fall wohl einer mißglückten Verweltlichung, denn die Not wird gedanklich mitgenommen und ironisiert das Obrigkeitslied). Zweitens Es freu der Fürst des Landes sich, zu singen auf die Melodie des Paul-Gerhardt-Lieds Nun danket all und bringet Ehr, 11 Er pflegt dann oft das Lied Wach auf, wach auf, du deutsches Land zu enthalten, das zwar aus dem 16. Jahrhundert stammt, aber erst in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf breiter Front wieder entdeckt wird. Es wird heute oft im Sinne des nationalsozialistischen Slogans Deutschland, erwache mißverstanden, ist aber ein Bußlied. Das nationalistische Mißverständnis wird aber durch die Rezeptionsgeschichte des Liedes gestützt. Passend zurechtgekürzt, erscheint es in der Tat in vielen Gesang- und Liederbüchern der Rechten und steht zeitweise sogar im offiziellen Parteiliederbuch der NSDAP. 12 Gesangbuch für die Provinz Sachsen und Anhalt, Halle 1931. 13 Großer Gott wir loben dich, Weimar 1941. 14 Freilich enthält sie keine nationalistischen Kraftmeiereien, sondern Buß- und Friedenslieder. Zur Geschichte der Obrigkeitslieder vgl. Andreas Wittenberg: Fürchtet Gott, den König ehret…. Die Obrigkeit im Spiegel des deutschen evangelischen Gesangbuchliedes, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 35, 1994/ 95, S. 171-209. 15 Neues Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherischen Gemeinden in den Hochfürstl. HessenCasselischen Landen, Cassel 1785. 16 Der Verfasser ist Johann Samuel Diterich, das Lied findet sich z. B. noch im Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für protestantisch-evangelische Christen, Speyer 1892. Die ersten Strophen der drei Lieder lauten: 1. Erhalt uns, herr, die obrigkeit, / Die du uns gabst auf erden, / Mit wohlstand und mit sicherheit, / Durch sie beglückt zu werden. / Verleih ihr weisheit, trieb und kraft, / Was wahres wohl dem lande schafft, / Mit sorgfalt wahrzunehmen. […] 2. Es freu der fürst des landes sich, / Gott, deiner allezeit! / Sein auge sehe stets auf dich; / Sein herz sey dir geweiht[…] 3. Wer gehorcht, der thus mit lust; / Jeder, der sich wohl bewußt, / Daß er nicht regieren kann, / Sey ein guter unterthan.[…] Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 55 drittens Wer gehorcht, der thus mit Lust, auf die Melodie von Luthers Nun komm, der Heiden Heiland. Die drei Originale, die die Melodien liefern müssen, sind im Buch nicht mehr erhalten. Sie wurden insofern als leerstehende Hülsen betrachtet, deren Texte als veraltet galten, deren musikalische Kraft man aber in die Dienste des Neuen stellen wollte. Da in allen drei Fällen aber das geistliche Vorbild stärker ist, wendet sich die Kontrafaktur gegen den neuen Text. Das in der Säkularisation Verratene und Verdrängte meldet sich als ästhetische Nostalgie zurück. Von „God save the king“ zu „Heil dir im Siegerkranz“ 17 Text und Melodie der britischen Hymne sind bis heute im wesentlichen unverändert geblieben. Lediglich die erste Zeile wurde mit God save our gracious King bzw. Queen der jeweiligen Situation angepaßt. Die Melodie ist unverkennbar eine Choralmelodie, und das God save wurde im anglikanischen Raum auch als Kirchenlied verstanden, jedenfalls findet es sich in den offiziellen Gesangbüchern bis heute. 18 1745 zuerst vollständig gedruckt, lautete der Text: 19 God save great George, our King, Long live our noble King, God save the King! Send him victorious, Happy and glorious, Long to reign over us: God save the King! O Lord, our God, arise, Scatter his enemies And make them fall! Confound their politics, Frustrate their knavish tricks, On him our hopes we fix: O save us all! Thy choicest gifts in store, On George be pleas’d to pour, Long may he reign! 17 Von hier an stammen die meisten Beispiele aus meinem Buch Hymnen und Lieder der Deutschen (Anm. 9), wo Texte und Varianten philologisch, ideologiekritisch und wirkungsgeschichtlich umfassend dokumentiert sind, während hier die Auswahl und Auswertung lediglich in Hinsicht auf das Säkularisationsproblem erfolgt. 18 Zum Beispiel in The Book of Common Prayer der Church of England, Cambridge/ London o. J. 19 Hier nach Hans Jürgen Hansen, Heil dir im Siegerkranz. Die Hymnen der Deutschen, Oldenburg 1978, S. 7. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 56 May he defend our laws, And ever give us cause, To say with heart and voice: God save the King! Die Stabilität der britischen Hymne hängt mit ihrem Charakter als Segensgebet für einen König zusammen. Das Königtum war seiner Idee nach nicht auf den Gedanken des Volkes, sondern auf die übernationale Universalität der Reichsidee bezogen. Die Nation spielt in der britischen Hymne gar keine Rolle. Im strengen Sinne handelt es sich nicht um eine Nationalhymne, sondern um eine Königshymne. Auch die Feinde sind die Feinde des Königs, nicht die des Volkes. Während spätere Hymnen die Selbstbestätigung der Nation betreiben, betet hier ein Volk für seinen Herrscher. Die Struktur des Gebets schützt vor nationaler Selbstgerechtigkeit. Daß um Ruhm, Glück, Sieg und Rechtssicherheit gebetet wird, stellt diese Güter zwar als erstrebenswerte dar, behauptet aber nicht einfach, sie seien da. May he defend our laws kann man auch, und gerade dann, singen, wenn es mit der Verteidigung der Gesetze gerade nicht so gut bestellt ist. Ein Gebet ist niemals affirmativ. Die britische Königshymne wurde viel nachgeahmt. Da der Text nichts spezifisch Nationales enthält, war er leicht übertragbar. Im 19. und noch im 20. Jahrhundert folgten viele deutsche Hymnen dem Modell und der Melodie der englischen (es gibt sogar eine Version auf Adolf Hitler 20 ). Vor allem aber wurde Heil dir im Siegerkranz, die Hymne des Königreichs Preußen (und inoffiziell auch des wilhelminischen Deutschen Reichs bis 1918), auf die Melodie des God save gesungen. Der Text entstand 1790 zunächst als Lied auf König Christian VII. von Dänemark und Norwegen, der, als Herzog von Schleswig und Holstein, auch deutschsprachige Untertanen hatte. Der Verfasser ist der Flensburger Pastor Heinrich Harries. Mit wenigen Veränderungen erschien das Lied 1793 in Berlin unter dem Titel Berliner Volksgesang. God save the King. Die erste Strophe lautet dort: 21 Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, Heil, König, dir! Fühl’ in des Thrones Glanz die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu seyn! Heil, Herrscher, dir! Im Verhältnis zu God save the King hat die Preußenhymne vor allem den Gebetscharakter verloren. Daraus entsteht ein tautologischer Zug. Es ist kein 20 Nachweis Kurzke, Hymnen und Lieder (Anm. 9), S. 34 f. 21 Erstdruck nach Ottokar Boehm, Die Volkshymnen aller Staaten des deutschen Reiches, Wismar 1901, S. 15 f., spätere Varianten nach dem Faksimile bei Hansen, Heil (Anm. 20), S. 8. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 57 Gott da, der die Gaben verleihen könnte, deshalb muß der König sie selbst in sich erzeugen: Fühl in des Thrones Glanz. Der Angeredete ist nun der König selbst, nicht mehr Gott. Der Text ist ein huldigender Zuruf des Volkes an seinen Herrscher. Er hat immer noch die formale Struktur eines Gebets, aber an die Stelle Gottes ist der König getreten. Dieser ist damit nicht nur sprachlich überfordert. Der Nationalismus beerbt die vom religiösen Glauben aufgegebenen oder nicht mehr glaubwürdig gefüllten religiösen Strukturen. 22 Die Königshymne entwickelt sich weiter zur Landeshymne. Auf die Melodie von God save the King sang man in der Schweiz lange (offiziell bis 1961) das 1811 gedichtete Lied Rufst du, mein Vaterland. Es ersetzt die Gottesanrede direkt durch die Anrede des Vaterlands („Helvetia“), bedient sich im übrigen aber weitgehend des alten religiösen Vokabulars (Berufung, Geweihtsein, Heil). Die erste Strophe lautet: 23 Rufst du, mein Vaterland? Sieh uns mit Herz und Hand All Dir geweiht! Heil Dir, Helvetia! Hast noch der Söhne ja, Wie sie Sankt Jakob sah, Freudvoll zum Streit. Auch das Fürstentum Liechtenstein hatte die Melodie der britischen Hymne übernommen. Sie wurde 1850 mit einem Text versehen, der an die Stelle des Königsgebets ein Lob des Landes setzt. Aus der Königshymne wurde eine Heimathymne. Die erste Strophe des Liechtenstein-Lieds lautete mehr als ein Jahrhundert lang: 24 Oben am deutschen Rhein lehnet sich Liechtenstein an Alpenhöh’n. Dies liebe Heimatland im deutschen Vaterland hat Gottes weise Hand für uns erseh’n. 22 Die Vorgeschichte dieser Entwicklung im 18. Jahrhundert hat Gerhard Kaiser (in: Pietismus und Patriotismus, Anm. 3) dargestellt. Während er es mit einer Zeit zu tun hat, in der die Religion produktiv auf den Patriotismus zugeht und mindestens ein Gleichgewicht der Kräfte besteht (vgl. Kaiser, S. 43 f.), scheint sich im entfalteten Nationalismus des 19. Jahrhundert die Waage ganz zugunsten des Nationalen geneigt zu haben. Der Prozeß der profanen Besetzung des religiösen Sprachmaterials, vollzieht sich zwar bereits im 18. Jahrhundert, gewinnt aber seine Massenwirkung erst im 19., als das Religiöse sein Eigengewicht kaum mehr störend geltend macht. 23 Hansen, Heil (Anm. 20), S. 12 f. 24 Hansen, Heil (Anm. 20), S. 14. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 58 Auch dieser Text bedient sich noch der religiösen Konventionen. Er hat nicht den Charakter eines Gebets, aber den der Verkündigung. Dies liebe Heimatland hat Gottes weise Hand für uns ersehn. Wie den Israeliten das Gelobte Land, so hat Gott den Liechtensteinern ihr kleines Alpenstück gegeben. Worte und Vorstellungen aus den Sprachbereichen Vorsehung, Weihe und Geweihtsein, Huldigung und Gnade, Berufung, Segen und Heil sind besonders häufig in der gesamten Hymnentradition. Es sind entleerte Begriffe, deren religiöser Sinn längst ins Vage verschwommen ist. Sie erzeugen allenfalls noch eine weihevolle Aura, geben aber kaum noch eine präzise Information. Ihr Verschleiß ist allerdings nicht auf den kirchlichen Gebrauch allein zurückzuführen. Es handelt sich vielmehr um diejenigen Vorstellungen, die der Feudalstaat des Mittelalters entwickelt hatte, die das Christentum dann sakralisiert hatte, die aber bereits im absolutistischen Verfallsstadium des Gottesgnadentums propagandistisch entleert worden waren. Der Nationalismus konnte sich mit seinem Anknüpfen an die Feudalmetaphorik insofern bereits auf eine ältere Profanisierungstradition stützen. Eine alte Sakralisierung wurde resäkularisiert. Was vorher dem König zugesagt war, wird jetzt dem Land und dem Volk zugesprochen. Von „Gott, erhalte Franz den Kaiser“ bis „Deutschland, Deutschland über alles“ Auch das alte Deutsche Reich und nach seinem Ende 1806 die österreichischungarische Doppelmonarchie hatten einmal eine Hymne vom Format der englischen. Um die Identifizierung mit dem Herrscher im bis dahin für Österreich katastrophal verlaufenden Krieg gegen Frankreich zu verstärken, wurden der Dichter Lorenz Leopold Haschka und der Komponist Joseph Haydn gebeten, nach dem Vorbild der britischen Hymne ein volkstümliches Kaiserlied zu schaffen. Anfang 1797 war es fertig, mit vier wenig originellen Stanzenstrophen von Haschka, aber einer großartigen Melodie von Haydn: 25 G OTT , ERHALTE DEN K AISER ! Gott! erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Lange lebe Franz der Kaiser In des Glückes hellstem Glanz! Ihm erblühen Lorberreiser, Wo er geht, zum Ehren-Kranz! Gott! erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! 25 Text nach dem Facsimile des Erstdrucks bei Hansen, Heil (Anm. 20), S. 16. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 59 Laß von Seiner Fahnen Spitzen Strahlen Sieg und Furchtbarkeit! Laß in Seinem Rathe sitzen Weisheit, Klugheit, Redlichkeit; Und mit Seiner Hoheit Blitzen Schalten nur Gerechtigkeit! Gott! erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Ströme deiner Gaben Fülle Über Ihn, Sein Haus und Reich! Brich der Bosheit Macht; enthülle Jeden Schelm- und Buben-Streich! Dein Gesetz sey stets Sein Wille; Dieser uns Gesetzen gleich! Gott! erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Froh erleb’ er Seiner Lande, Seiner Völker höchsten Flor! Seh’ sie, Eins durch Bruder-Bande, Ragen allen Andern vor; Und vernehme noch am Rande Später Gruft der Enkel Chor: Gott! erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Der Text erhält jedoch erst nach dem Sieg über Napoleon, auf den die letzte Strophe anspielt, diejenige Gestalt, in der er sich dann in den meisten Liederbüchern findet (Änderungen kursiv): 26 Gott erhalte Franz, den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz! Hoch als Herrscher, hoch als Weiser steht er in des Ruhmes Glanz! Liebe windet Lorbeerreiser ihm zum ewig grünen Kranz! Gott erhalte Franz, den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz! Über blühende Gefilde reicht sein Scepter weit und breit. Säulen seines Throns sind Milde, Biedersinn und Redlichkeit, und von seinem Wappenschilde strahlet die Gerechtigkeit. Gott erhalte etc. 26 Text u. a. in: Allgemeines deutsches Lieder-Lexikon, Leipzig 1847. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 60 Sich mit Tugenden zu schmücken, achtet er der Sorgen werth. Nicht, um Völker zu erdrücken, flammt in seiner Hand das Schwert; sie zu segnen, zu beglücken, ist der Preis, den er begehrt. Gott erhalte etc. Er zerbrach der Knechtschaft Bande, hob zur Freiheit uns empor! Früh erleb’ er deutscher Lande, deutscher Völker höchsten Flor, und vernehme, noch am Rande später Gruft, der Enkel Chor: Gott erhalte etc. Der Konjunktiv Gott erhalte (im Sinne von ‚Gott möge erhalten‘) bedeutet gegenüber dem Imperativ der Erstfassung eine leichte Abschwächung des Gebetscharakters. „Gott“ steht nun nicht mehr in der zweiten Person, als direkt angesprochenes Du, sondern in der dritten. Dementsprechend ist, wo die Erstfassung imperativisch Gott um seine Gaben bittet (Erhalte …, Laß …, Ströme …, Brich …), in der Neufassung indikativisch-affirmativ von der Gaben des Kaisers als bereits vorhandenen, nicht erst zu erbittenden die Rede: Säulen seines Throns sind Milde, Biedersinn und Redlichkeit; und von seinem Wappenschilde strahlet die Gerechtigkeit. Damit ist ein Stück des Weges von der Gottesanbetung zur nationalen Selbstaffirmation bereits gegangen. Der Text blieb auch nach dem Tod von Kaiser Franz (1835) beliebt. 1854 entstand eine namensneutrale Neudichtung. Sie war bis zum Tod von Kaiser Franz Josef I. in Kraft, der von 1848 bis 1916 regierte und auf dessen Wahlspruch Viribus unitis (mit vereinten Kräften) die vierte Strophe anspielt. In dieser Fassung tritt der Kaiser noch deutlicher zurück gegenüber den Interessen von Land und Volk. Die erste und die letzte Strophe seien hier mitgeteilt: 27 Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze führ’ er uns mit weiser Hand! Laßt uns seiner Väter Krone schirmen wider jeden Feind: innig bleibt mit Habsburgs Throne Oesterreichs Geschick vereint. […] 27 Hier nach: Allgemeines deutsches Schützen-Liederbuch, Schwetz 1898, auch in: Das Österreichische Kommersbuch, Innsbruck 1984. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 61 Laßt uns fest zusammenhalten, in der Eintracht liegt die Macht; mit vereinter Kräfte Walten wird das Schwerste leicht vollbracht. Laßt uns, eins durch Bruderbande, gleichem Ziel entgegengehn! Heil dem Kaiser, Heil dem Lande! Oesterreich wird ewig stehn! 1918 hätten sehr viele Österreicher am liebsten das Gott erhalte durch Deutschland, Deutschland über alles ersetzt. Da der Anschluß Österreichs damals nicht durchzusetzen war, verfaßte der Sozialdemokrat Karl Renner, von 1918-1920 Staatskanzler der Ersten Republik, 1920 das Lied Deutsch- Österreich (mit einer Melodie von Wilhelm Kienzl). Es verzichtet auf eine explizit sakrale Fundierung, personifiziert aber Land und Volk zu quasi mythischen Wesen, in denen das sprechende Wir sein eigenes Größenselbst narzißtisch entwirft: 28 Deutsch-Österreich, du herrliches Land, wir lieben dich! Hoch von der Alm unter’m Gletscherdom stürzen die Wasser zum Donaustrom, tränken im Hochland Hirten und Lämmer, treiben am Absturz Mühlen und Hämmer, grüßen viel Dörfer und Städte und zieh’n jauchzend zum Ziel, unser’m einzigen Wien! Du herrliches Land, unser Heimatland, wir lieben dich, wir schirmen dich. Deutsch-Österreich, du tüchtiges Volk, wir lieben dich! Hart ist dein Boden und karg dein Brot, stark doch macht dich und klug die Not. Seelen, die gleich wie Berge beständig, Sinne, die gleich wie Wasser lebendig, Herzen so sonnig, mitteilsamer Gunst, schaffen sich selber ihr Glück, ihre Kunst. Du tüchtiges Volk, unser Muttervolk, wir lieben dich, wir schirmen dich. Deutsch-Österreich, du treusinnig Volk, wir lieben dich! Dienende Treu’ schuf dir Not und Reu’ … sei nun in Freiheit dir selber treu! Gibt es ein Schlachtfeld rings in den Reichen, wo deiner Söhne Knochen nicht bleichen? Endlich brachst du die Ketten entzwei … Diene dir selber, sei dein! Sei frei! 28 Text nach dem Erstdruck: Deutsch-Österreich. Hymne. Worte von Karl Renner, Opus 101, Wien, im Mai 1920. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 62 Du treusinnig Volk, unser Duldervolk, wir lieben dich, wir schirmen dich. Deutsch-Österreich, du Bergländerbund, wir lieben dich! Frei durch die Tat und vereint durch Wahl, eins durch Geschick und durch Blut zumal. Einig auf ewig, Ostalpenlande! Treu unserm Volkstum, treu dem Verbande! Friede dem Freund, doch dem Feinde, der droht, wehrhaften Trotz in Kampf und Not! Du Bergländerbund, unser Ostalpenbund, wir lieben dich, wir schirmen dich. Das künstliche Einführen von Hymnen ist immer problematisch. Das Lied wurde nicht populär. Vor allem war die alte Haydnsche Melodie nicht zu verdrängen. 1929 wurde deshalb, wieder zu singen auf die Melodie des Gott erhalte, der folgende, von Ottokar Kernstock 1919 gedichtete Text zur österreichischen Bundeshymne erklärt (Varianten des ursprünglichen Texts mit dem Titel ‚Deutschösterreichische Volkshymne‘ kursiv): 29 Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde, wunderhold! Deutsche Heimat Freundlich schmücken dein Gelände Tannengrün und Ährengold. Deutsche Arbeit, ernst und redlich! ehrlich Deutsche Liebe, zart und weich - Vaterland, wie bist du herrlich, Gott mit dir, mein Österreich! Deutschösterreich Keine Willkür, keine Knechte, Off ’ne Bahn für jede Kraft! Gleiche Pflichten, gleiche Rechte, Frei die Kunst und Wissenschaft! Starken Mutes, festen Blickes, Trotzend jedem Schicksalsstreich, Steig empor den Pfad des Glückes, Gott mit dir, mein Österreich! Deutschösterreich Laßt, durch keinen Zwist geschieden, [siehe unten] Uns nach einem Ziele schaun, Laßt in Eintracht und in Frieden Uns am Heil der Zukunft bau’n! Uns’res Volkes starke Jugend Werde ihren Ahnen gleich: Sei gesegnet, Heimaterde, Gott mit dir, mein Österreich! 29 Text nach: Das Österreichische Kommersbuch, Innsbruck 1984. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 63 Die Textsorte ist die einer Segensformel. Segnen ist Gutsprechen, Benedicare, eine Art Beschwören, ein magisches Reden, das den vorgebrachten Eigenschaften und Wünschen eine religiöse Bekräftigung geben soll. Das letzte Verspaar faßt Anfang und Ende zusammen und bestätigt noch einmal den Grundcharakter des Segensgebets. Freilich sah auch dieser Text ursprünglich anders aus. In einem Flugblatt- Druck von 1922 stehen die oben angeführten, das Deutsche hervorhebenden Varianten sowie die folgende dritte Strophe: 30 Osterland bist du geheißen Und von Osten kommt das Licht, Nacht und Finsternis zerreißen, Wenn es durch die Wolken bricht. Seht verklärten Angesichts Den ersehnten Tag vor euch! Land der Freiheit, Land des Lichtes, Gott mit dir, Deutschösterreich! Der Refrain verankert die Kernstocksche Heimathymne in der rückwärtigen Tradition des Königsgebets, die ja ohnehin durch die Melodie präsent bleibt. Die zweite Strophe weicht jedoch vom Typus der religiös getönten Heimathymne ab. Sie steht, mit ihrer Hervorhebung von Freiheit und Gleichheit, in der Tradition der Revolutionshymnen. Daß aber nicht einfach noch einmal die bürgerliche Revolution gemeint ist, ergibt sich aus der ursprünglichen dritten Strophe. Sie ist geschichtstheologischer, heilsgeschichtlicher, eschatologischer Art. Das uralte Ex oriente lux (aus dem Osten kommt das Licht) deutete, christlich interpretiert, auf Jesus, der nicht im Abendland, sondern im Morgenland sein Erlösungswerk vollbrachte. Es bedeutete, von den Romantikern reaktiviert, die Hoffnung auf Erlösung vom westlichen Rationalismus. Es bedeutete, vom Messianismus der Konservativen Revolution beseelt, die Hoffnung auf Erlösung von den demütigenden Folgen des verlorenen Krieges gegen die Westmächte. Die Messiaserwartung gehört zu denjenigen religiösen Topoi, die am häufigsten säkularisiert, politisch funktionalisiert wurden. Die Abfolge Karfreitag - Ostern ließ sich auf jedes beliebige nationale Unglück anwenden, aus dem irgendeine Politik Erlösung zu versprechen wußte. Der Druck des Liedes ist datiert „Ostern 1922“. Ostern, Osterland, Osten: welches Licht, welche Auferstehung, welcher Messias hier in Wirklichkeit gemeint war, ergibt sich unschwer daraus, daß Ottokar Kernstock damals auch ein Lied mit dem Titel Das Hakenkreuz gedichtet hat. 31 Die Deutschlandidee der Konservativen Revolution und, ihr folgend, des Nationalsozialismus 30 Das Flugblatt, datiert „Ostern 1922“ wird zitiert nach dem Exemplar der Sammlung Reinhard Popp, St. Augustin. 31 Hakenkreuz-Liederbuch, München 1926, auch in: Liederbuch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, München 24 1934, nicht mehr 51 1941. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 64 war ideologisch geostet. Siehst du im Osten das Morgenrot, ein Zeichen zur Freiheit, zur Sonne, dichtete 1931 der NS-Poet und Sturmbannführer Arno Parduhn. 32 Das Kernstock-Lied ist eschatologisch. Seht verklärten Angesichts / den ersehnten Tag vor euch! Gerade die Eschatologie, die die Kirchen seit der Aufklärung nicht mehr glaubwürdig zu vertreten wußten, eigneten sich die politischen Massenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts an. Von 1938 bis 1945 sang man in Österreich dann das Deutschlandlied und Die Fahne hoch. Nach dem Krieg war die Lage schwierig. Der Text des Deutschlandlieds war unmöglich geworden, aber auch seine Melodie war, obgleich ursprünglich österreichisch, nun unlösbar mit dem Scheitern des Dritten Reiches verknüpft. Nach so großen und tiefdringenden Texterfahrungen wie Gott erhalte Franz den Kaiser, Sei gesegnet ohne Ende und Deutschland, Deutschland, über alles hätte die Melodie wohl kaum eine neue Textversion ertragen. Die österreichische Regierung entschied sich 1947 für einen neuen, aus einem Preisausschreiben hervorgegangenen Text, der auf die Melodie des ‚Bundeslieds‘ im Anhang zu Mozarts Kleiner Freimaurer-Kantate zu singen ist: 33 Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome, Land der Hämmer, zukunftsreich! Heimat bist du großer Söhne, Volk, begnadet für das Schöne, Vielgerühmtes Österreich! Heiß umfehdet, wild umstritten, Liegst dem Erdteil du inmitten Einem starken Herzen gleich. Hast seit frühen Ahnentagen Hoher Sendung Last getragen, Vielgeprüftes Österreich! Mutig in die neuen Zeiten, Frei und gläubig sieh uns schreiten Arbeitsfroh und hoffnungsreich. Einig laß in Brüderchören, Vaterland, dir Treue schwören, Vielgeliebtes Österreich! Die religiöse Metaphorik ist zurückgenommen, aber nicht verschwunden. Das personifizierte ‚Land‘ steht emphatisch am Anfang als Ansprechpartner eines säkularisierten Gebetes. Worte wie begnadet, gläubig, hohe Sendung sowie das Treue schwören setzen ein Höheres voraus, eine Transzendenz. 32 Das durch seinen Refrain Volk ans Gewehr bekannte Lied findet sich in fast allen NS- Liederbüchern. 33 Text nach der Reclam-Sammlung Nationalhymnen, Stuttgart 1982, S. 119. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 65 Land und Volk rücken hier deutlich an die strukturelle Stelle Gottes, nehmen seine Funktionen wahr. Der wichtigste Trieb aus der Wurzel des Gott, erhalte ist jedoch zweifellos Das Lied der Deutschen, das der nationalliberale Oppositionelle Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 im Exil auf der damals britischen Insel Helgoland dichtete. Die Exilsituation ist für das Verständnis wichtig. Es handelt sich ursprünglich nicht um ein Lied der nationalen Affirmation, sondern um den Ausdruck einer Utopie. Das Deutschland, das Hoffmann besang, war ein ausstehendes und ersehntes, kein gegebenes. Was die Deutschen heute scheuen und was viele Ausländer erbittert hat, daß Deutschland sich über die anderen Länder erhebe, ist ein Mißverständnis. Deutschland über alles hieß 1841 Deutschland über Sachsen, über Baden, über Preußen und über Holstein und keineswegs Deutschland über Frankreich, Rußland oder England. Das Lied war ein Aufruf zur nationalen und demokratischen Einigung der über dreißig Staaten, die zu jener Zeit den Deutschen Bund bildeten. Die Zeilen von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt enthielten damals keine imperialistische Anmaßung, als wolle man Gebiete an der Maas (heute in Holland und Belgien), der Memel (in der Sowjetunion), der Etsch (in Italien) und am Belt (in Dänemark) beanspruchen, sondern beschrieben nur die faktischen Grenzen des Deutschen Bundes. Der Text lautet im Erstdruck: 34 D AS L IED DER D EUTSCHEN Deutschland, Deutschland über Alles, Über Alles in der Welt, Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält, Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt - Deutschland, Deutschland über Alles, Über Alles in der Welt! Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang, Uns zu edler That begeistern Unser ganzes Leben lang - Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang! Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland! Danach laßt uns alle streben 34 Man findet den Erstdruck an vielen Stellen facsimiliert, z. B. bei Hansen, Heil (Anm. 20), S. 38. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 66 Brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand - Blüh’ im Glanze dieses Glückes, Blühe deutsches Vaterland! Hoffmann hatte den Text der Haydn-Melodie auf den Leib geschrieben, mit so großem Erfolg, daß zumindest in Deutschland die Vorlage fast vollständig aus dem Bewußtsein verdrängt werden konnte. Das gelang, weil der konkurrierende Haschka-Text samt seinen Varianten relativ schwach war und der Hoffmann-Text relativ stark, jedenfalls in seiner ersten und dritten Strophe, und weil er sich so gut in die majestätisch aufsteigende, eine erhabene Würde ausstrahlende Melodie einfügt. Er ist als Kontrafaktur in seiner Art perfekt. Das ein Ausstehendes Erflehende des Gebets überschreibt er mit der romantisierenden Deutschlandsehnsucht. Die erste Strophe hat, wie ein Preisgebet, Anrufungscharakter; grammatisch bietet sie ja nur ein Subjekt ohne Prädikat. Auch die Inbrunst, mit der das Lied zu seiner Zeit gesungen wurde, läßt erkennen, daß es parareligiöse Funktionen übernommen hatte, Bedürfnisse nach dem Erhabenen, nach Verschmelzung mit einem Größeren, nach kollektiver Hingabe zu erfüllen vermocht hat. Seine majestätische Prägung war jedenfalls stärker als das demokratische Vokabular der dritten Strophe, das mit der Melodie eine weniger innige Verbindung eingeht als das der ersten Strophe. Von „Allons, enfants de la patrie“ bis „Auferstanden aus Ruinen“ Die eine Urmutter der Nationalhymnentradition ist God save the King, die andere die Marseillaise. Von diesen beiden Liedern gehen zwei völlig verschiedene Traditionsstränge aus: Königshymnen und Volks- oder Revolutionshymnen. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Noten zeigt die Unterschiede. Die Königshymnen sind in der Regel choralartig. Die Melodie ist ruhig und einfach. Das Tempo ist langsam. Lange Notenwerte (Viertel- und halbe Noten) und kleine Intervallschritte überwiegen. Achtel- oder Sechzehntelnoten und Punktierungen sind ebenso selten wie große Tonsprünge. Der Tonumfang ist in der Regel relativ gering (sechs Töne bei God save the King). Anders die Revolutionshymnen. Sie sind marschartig und im Tempo schnell. Sie haben komplizierte Melodien mit großem Tonumfang, rasanten Intervallsprüngen (mit einer Vorliebe für die Quart, wie am Anfang der Marseillaise), Auftakten, vielen punktierten Achtel- und Sechzehntelnoten. Ihr Tonumfang ist meistens relativ groß (neun Töne bei der Marseillaise). Der Textsorte nach sind die Königshymnen zunächst Gebete, wenngleich der Typus in säkularisierter Form später auch nationale Inhalte aufnimmt und sich zum Bekenntnislied (Deutschland, Deutschland über alles) oder Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 67 zum Heimatlied (Oben am deutschen Rhein) weiterentwickelt. Die Sprache ist feierlich, preisend, liturgisch. Die Revolutionshymnen hingegen sind Kampfgesänge, und zwar meistens Aufbruchslieder, die von der Situation vor einer Entscheidungsschlacht ausgehen. Die Sprache ist hitzig, dramatisch, voll von Aufrufen (Aux armes, citoyens! ) und rhetorischen Fragen (Que veut cette horde d’esclaves, de traitres, de rois conjurés? ) und anderen pathetischen Redefiguren. Sie stammt aus der Situation der flammenden Rede. Die Marseillaise war 1792 entstanden und hatte sich sehr schnell verbreitet. Sie wurde in den deutschen Ländern viel gesungen und sogar ins „Allgemeine deutsche Lieder-Lexikon“ (Leipzig 1847) aufgenommen, das alle „bekannten deutschen Lieder und Volksgesänge“ (Untertitel) aufzeichnet, hiernach unser Text: Allons, enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé; contre nous de la tyrannie l’étendard sanglant est levé. Entendez-vous, dans les campagnes, mugir ces féroces soldats? Ils viennent jusques dans vos bras égorger vos fils, vos compagnes. Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons! Marchons, Marchons! qu’un sang impur abreuve nos sillons! Que veut cette horde d’esclaves, de traitres, de rois conjurés? Pour qui ces ignobles entraves, ces fers dès longtemps préparés? Français, pour nous, ah, quel outrage! Quels transports il doit exciter! C’est nous qu’on ose méditer, de rendre à l’antique esclavage. Aux armes etc. Quoi! ces cohortes étrangères feraient la loi dans nos foyers! Quoi! ces phalanges mercenaires terrasseraient nos fiers guerriers! Grand Dieu! Par des mains enchainées nos fronts sous le joug se ploieraient; de vils despotes deviendraient les maîtres de nos destinées! Aux armes etc. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 68 Tremblez, tyrans et vous, perfides, L’opprobre de tous les partis! Tremblez! vos projets parricides vont enfin recevoir leur prix. Tout est soldat pour vous combattre; s’ils tombent, nos jeunes héros, la terre en produit de nouveaux, contre vous tous prèts à se battre. Aux armes etc. Français, en guerriers magnanimes, portez, ou retenez vos coups, épargnez ces tristes victimes, à regret s’armant contre nous; mais ces despotes sanguinaires, mais ces complices de Bouillé, tous ces tigres, qui sans pitié déchirent le sein de leurs mères. Aux armes etc. Amour sacré de la patrie, conduis, soutiens nos bras vengeurs! Liberté, liberté chérie, combat avec tes défenseurs! Sous nos drapeaux, que la victoire accoure à tes mâles accents! Que tes ennemis expirants voient ton triomphe et notre gloire! Aux armes etc. Die erste Strophe ruft zur Mobilmachung auf und zeigt die Feinde; die blutrünstigen Truppen der gegen die Freiheit verschworenen Könige. Die zweite und die dritte Strophe enthalten einen gespielten rhetorischen Dialog angesichts der Feinde: Was will denn diese Sklavenhorde? Wie? Diese feilen Söldner sollen uns regieren? Die vierte Strophe schüttelt drohend die Faust gegen sie. Die fünfte Strophe ruft zur Großmut gegen die Verführten unter den feindlichen Soldaten auf, aber zur Unbarmherzigkeit gegen die Tyrannen. Die sechste Strophe enthält einen gebetähnlichen, feierlichen Schluß. Der neue Gott ist die heilige Vaterlandsliebe, sie möge führen und den Kampf ihrer Verteidiger unterstützen. Das Lied wurde bald zum Kampfgesang auch der deutschen Opposition. In der Arbeiterbewegung entstehen zahlreiche deutsche Marseillaisen. Was die Kampflieder an Säkularisaten einbringen, sind vor allem die Vorstellungen des Martyriums und die des heiligen Kriegs, eschatologisch konkretisiert zur letzten Schlacht vor dem Anbruch der Utopie. Die sozialdemokratische Arbeitermarseillaise Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet verwendet als Märtyrer Ferdinand Lassalle (der allerdings in einem Duell, nicht in einem Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 69 Arbeitskampf sein Leben verlor), dessen Gestalt ein heilges Vermächtnis ist in einem heilgen Kampf, dem sich die verschworenen Getreuen eines neuen Bundes […] weihen. Die letzten beiden Strophen dieses Liedes lauten: 35 Von uns wird einst die Nachwelt zeugen, Schon blickt auf uns die Gegenwart, Frisch auf, beginnen wir den Reigen! Ist auch der Boden rauh und hart. Schließt die Phalanx in dichten Reihen! Je höher uns umrauscht die Fluth, Je mehr mit der Begeistrung Gluth Dem heil’gen Kampfe wir uns weihen! Nicht zählen wir den Feind, Nicht die Gefahren all’, Der Bahn, der kühnen, folgen wir, Die uns geführt Lassall’. Auf denn, Gesinnungskameraden, Bekräftigt heut’ aufs Neu den Bund, Daß nicht die grünen Hoffnungssaaten Gehn vor dem Erntefest zu Grund. Ist auch der Säemann gefallen, In guten Boden fiel die Saat, Uns aber bleibt die kühne That, Heil’ges Vermächtniß sei sie Allen! Nicht zählen wir etc. Der klassische Typus des säkularisierten Märtyrerlieds ist das Andreas- Hofer-Lied Zu Mantua in Banden, die Landeshymne von Tirol. Es erzählt im Balladenton die melodramatische Geschichte der Erschießung Andreas Hofers, unter dessen Führung die Tiroler 1809 am Berg Isel in mehreren Schlachten gegen Bayern und Franzosen ihre Freiheit zunächst erfolgreich verteidigten, bis Hofer an die Franzosen verraten und in Mantua hingerichtet wurde. Die erste Strophe des Liedes lautet: 36 Zu Mantua in Banden der treue Hofer war, zu Mantua zum Tode führt ihn der Feinde Schar. Es blutete der Brüder Herz, ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz, mit ihm das Land Tirol, mit ihm das Land Tirol. 35 Das Lied (mit der Anfangszeile Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet) stammt von Jacob Audorf, entstand 1864 nach dem Tod Lassalles (Ist auch der Säemann gefallen, fünfte Strophe) und wird hier zitiert nach: Sozialdemokratisches Liederbuch, Cassel 1903. 36 Hier nach: Schauenburgs Allgemeines Deutsches Kommersbuch, 96.-99. Auflage, Lahr o. J. [ca. 1910]. Das Lied wurde 1831 von Julius Mosen gedichtet. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 70 Ganz Deutschland blutet: Der Märtyrer ist eine Jesus-Figur, eine stellvertretende Verkörperung des gesamten Volkes. Das Hofer-Lied wurde von der Melodieseite her Grundlage zahlreicher Kontrafakturen. 37 Auch textlich erfuhr es Umdichtungen auf Märtyrer der Linken (Robert Blum) wie der Rechten (Albert Leo Schlageter). 38 In der Arbeiterhymne Brüder, zur Sonne, zur Freiheit hat das letzte, hochakzentuierte Wort die letzte Schlacht. Die Schlußstrophe lautet: 39 Brüder, in eins nun die Hände, Brüder, das Sterben verlacht: Ewig der Sklav’rei ein Ende, heilig die letzte Schlacht! Die gleiche Vorstellung begegnet auch im Horst-Wessel-Lied. Der Text lautet in der Version des SA-Liederbuchs: 40 Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen! S.A. marschiert mit ruhig festem Schritt. Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geist in unsern Reihen mit. Die Straße frei den braunen Bataillonen! Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann! Es schaun aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen, der Tag der Freiheit und für Brot bricht an. Zum letzten Mal wird zum Appell geblasen, zum Kampfe stehn wir alle schon bereit. Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen, die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit. Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen! S.A. marschiert mit ruhig festem Schritt. Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geist in unsern Reihen mit. Vom Grundcharakter her ist das Horst-Wessel-Lied ein Aufbruchslied vom Marseillaisen-Typus. Es wird Appell geblasen. Es geht um einen Aufruf an die Kämpfer, um ihre Sammlung, Einstimmung und Rüstung, um die Situation 37 Die Melodie des Andreas-Hofer-Lieds fand für zahlreiche beliebte Arbeiterlieder Verwendung, zum Beispiel Wer schafft das Gold zu Tage (Sozialdemokratisches Liederbuch, Zürich 1895); Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all! (Lieder der Arbeiterjugend, Leipzig 1960); Frisch auf, mein Volk, mit Trommelschlag (Jugend-Liederbuch, Berlin 1929); Rot Front, Rot Front! ertönet es aus der Kämpfer Mund’ (Lieder des Roten Frontkämpferbundes, Leipzig 1961). 38 Nachweise in meinem Buch Hymnen und Lieder der Deutschen (Anm. 9), S. 72. 39 Hier nach: Mit Gesang wird gekämpft. Lieder der Arbeiterbewegung, Berlin/ DDR 1967. 40 SA-Liederbuch, München o. J. [1939]. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 71 vor einer letzten, entscheidenden Schlacht. Die apokalyptische Denkfigur von der letzten Schlacht teilt das Lied mit Freiligraths Reveille, mit der Internationalen (C’est la lutte finale - Auf zum letzten Gefecht) und mit Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Daß die Knechtschaft nur noch kurze Zeit daure, daß der Tag der Freiheit und für Brot anbreche, sind Formulierungen, die sich in der Liedgeschichte der Befreiungsbewegungen seit dem 19. Jahrhundert sehr häufig finden und als Säkularisate der neutestamentlichen Naherwartung des kommenden Heils gelten können. Die im Geiste mitmarschierenden toten Kameraden gehören zu einer reichen Tradition säkularisierter Märtyrer - Andreas Hofer und Schlageter, die Heldenväter in der Wacht am Rhein, die tote Königin Luise in Theodor Körners Leyer und Schwerdt (1814), die Vision des Kurfürsten in Kleists „Prinz von Homburg“ („Und seinem Geist, tot vor den Fahnen schreitend …“, V,8), der gefallene Säemann Ferdinand Lassalle sind andere Beispiele. In der Hymne der DDR, gedichtet von Johannes R. Becher und vertont von Hanns Eisler, ist die Schlacht vorbei. Mit „Auferstanden“, dem ersten Wort, gibt sich die Gründung der DDR als Osterereignis zu erkennen, nach dem Karfreitag des Krieges. Vorbereitet wird Pfingsten, die neue Kirche. Die Melodie ist choralartig, mit Ausnahme der Zeilen fünf und sechs, die die Kampfgesangtradition quasi rückblickend zitieren. Der Text lautet: 41 Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muß uns doch gelingen, Daß die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint. Glück und Frieden sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, Reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, Schlagen wir des Volkes Feind! Laßt das Licht des Friedens scheinen, Daß nie eine Mutter mehr Ihren Sohn beweint, Ihren Sohn beweint. 41 Nach: Leben Singen Kämpfen. Liederbuch der deutschen Jugend. Herausgegeben vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend. Berlin/ DDR 1958. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 72 Laßt uns pflügen, laßt uns bauen, Lernt und schafft, wie nie zuvor, Und der eignen Kraft vertrauend, Steigt ein frei Geschlecht empor. Deutsche Jugend, bestes Streben Unsres Volks in dir vereint, Wirst du Deutschlands neues Leben Und die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint, Über Deutschland scheint. Es handelt sich um ein gebetähnliches Weihe- und Selbstverpflichtungslied. Vers I,4 nennt den Adressaten der Verpflichtung: Deutschland. Die Verse 1-4 sind an dieses Deutschland gerichtet, das die strukturelle Stelle Gottes besetzt hält. In den folgenden Versen spricht das Wir, nun nicht mehr direkt an Deutschland, sondern zu sich selbst gewendet, in Wünschen und Aufforderungen den Inhalt der Verpflichtung aus: Alte Not gilt es zu zwingen - Laßt das Licht des Friedens scheinen - Lernt und schafft, wie nie zuvor. Die Sonne dient als Verlegenheitsgott. Eine Chance des Christentums? Das alles scheint vorbei zu sein. Die säkularisierende Kraft des Nationalen scheint gebrochen, ihre Darstellung wirkt von heute aus als Entleerungsgeschichte und durchschaute Legende. Die alten Weisen sind ausgesungen. Ist die Säkularisationsbewegung dann doch eine Bewegung, die mit der völligen Auflösung des Religiösen endet? Der Schluß wäre vorschnell. Auch auf den Kult des Nationalen folgte ja nicht endlich erreichte Mündigkeit, sondern folgten andere Kulte, der Kult des Materiellen, der Kult des Ich, die ‚esoterischen‘ Massenbewegungen u. a. m. Das Nationale mag ausgesungen haben (in Deutschland wenigstens), nicht aber die Religion. Ihre leerstehenden Formen werden sich wahrscheinlich wieder neuen, anderen Realisationen zur Verfügung stellen. Die Befreiung vom Nationalen könnte auch eine Chance für die Kirchen sein, sich das Entwendete und Entfremdete wieder anzueignen. Die mißbrauchten Formeln werden nach Ablauf einer Schamfrist wieder verwendbar sein. Wenn die Chance nicht genützt wird, werden sie andere nützen. Das heißt auch, daß in denjenigen Ländern, die derzeit eine Renaissance des Nationalismus erleben, die alten Fehler nicht wiederholt werden sollten. Bevor man nach einer siegreichen Schlacht wieder Großer Gott, wir loben dich und Heilig, Herr der Kriegesheere singt, sollte man zur Immunisierung gegen vordergründige Selbstbestätigungsinteressen erst einmal Aus tiefer Not und Es ist doch unser Tun umsonst singen. Bevor man seiner Nation mit einem eitlen Ein Wohlgefallen Gott an uns hat schmeichelt, sollte man des ewigen Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder 73 Vaterlands gedenken: Ach komm, führ uns mit starker Hand / vom Elend zu dem Vaterland. Kraft seines Leidens- und Erlösungsuniversalismus muß das Christentum in nationalistischen Zeiten oppositionell sein. Zur Bestätigung des internationalistischen Universums der materialistischen Konsumwelt sollte es sich jedoch ebensowenig herablassen. 5 Kirchenlied und nationale Identität Die folgenden Thesen entstanden während eines internationalen Kongresses in Ljubljana (Slowenien) über K i r c h e n l i e d u n d n a t i o n a l e I d e n t i t ä t . 1. Identität besteht immer aus einem Eigenen, das man miteinander teilt, und einem Fremden oder Anderen, von dem man sich abstößt. Es gibt keine Identität ohne Alterität, keine Identitätserfahrung ohne „Feindbild“. 2. Starke kollektive Identität entsteht durch starke Alteritäten. Slowenien hat als starke Alterität das ehemalige Jugoslawien, die Afrikaans sprechenden Südafrikaner haben als Alterität die schwarzafrikanische Bevölkerungsmehrheit. Generell entwickeln von Mehrheiten bedrohte Minderheiten entweder eine starke kollektive Identität oder sie assimilieren sich der Mehrheit und verlieren ihre Identität. 3. Schwache Identität entsteht beim Mangel an Alteritäten/ Feindbildern. Das liberalisierte Wohlstandschristentum der EU-Länder ist identitätsschwach, weil es von niemandem bekämpft wird und sich weder von Türken noch von Atheisten noch von Kommunisten bedroht fühlt. Als Katholiken und Protestanten noch gegeneinander standen, waren sie identitätsstärker und kulturell produktiver als heute. Ein Paradox: Ökumene ist Identitätsverlust, wenn sie nicht starke neue Alteritäten findet. 4. Identität bestätigt sich selbst durch Identitätssymbole und schiebt der Feindseite Alteritätssymbole zu. 5. Das Kirchenlied kann ein solches Identitätssymbol sein. In Deutschland ist es das nur noch für kleine Gruppen, denen als Alteritätssymbol der musikalische Massenkonsum, der nicht mehr selber singt, dienen kann. 6. Das Eigene erfährt sich als different vom Fremden. Der Aufenthalt im katholischen Slowenien hat den nichtkatholischen Nichtslowenen eine starke Erfahrung von Identität und Konfessionalität eingebracht. Beim Hören der slowenischen Lieder wird der deutsche, holländische oder skandinavische Protestant sich seines ganz anderen, auf die Psalmen und auf das 16. Jahrhundert gegründeten Kirchenliedverständnisses bewußt. Auch Maria als slowenisch-katholisches Identitätssymbol ist für die protestantische Tradition nach wie vor eine Alterität, fast ein Exotismus. 7. Je stärker die Identität, desto schwächer die Reflexion der Identität (und umgekehrt). Die deutschen Intellektuellen reflektieren ihre ehemaligen Identitätssymbole, weil sie ihnen durch die Hitlerzeit genommen wurden. Selbst wenn die deutschen Kirchenlieder noch schöner wären als die slowenischen, würde ein deutscher Intellektueller das nicht sagen. Der unbe- Kirchenlied und nationale Identität 75 fangene Stolz der Slowenen auf ihr Land macht ihr Singen innig, aber die slowenischen Referate dieser Tagung haben diesen Zusammenhang nicht thematisiert. Für die Deutschen ist das Thema „Kirchenlied und nationale Identität“ ein Thema, das dazu auffordert, einen problematischen Zusammenhang kritisch zu hinterfragen, während schon die Begrüßung zeigte, daß man in Slowenien nicht Kritik, sondern Affirmation von diesem Kongreß erwartet. 8. Maria, Königin der Ungarn, der Kroaten, der Slowenen, der Bayern und der Franken … (katholisch) Ein feste Burg ist unser Gott … (evangelisch): das singen verfeindete Gruppen, Maria bzw. Gott jeweils für sich reklamierend. Die Tagung zeigte viele Beispiele für die erschreckende Indienstnahme der christlichen Religion für weltliche Zwecke. Gott aber ist immer auch der Gott unserer Feinde, Maria immer auch die Gottesmutter unserer Feinde. Das wahre Israel, das Gottesvolk, hat keine nationalen Grenzen. 9. Wo Identität bewußt wird, ist sie schon bedroht. Der erste Färöer, der das Singen der Färöer auf Tonband aufnimmt, ist schon kein ganzer Färöer mehr. Eine Kultur, die nicht mehr naiv (im guten Sinne) und reflexionslos das Leben eines Volkes bestimmt, sondern sich selbst erkennt, wird rousseauisiert, romantisiert, folklorisiert, hybridisiert und ästhetisiert. Slowenien ist auf dem Weg zu dieser Hybridisierung, da seine Alterität verblassen wird. Die EU wird alle alten Nationalkulturen mehr oder weniger hybridisieren. 10. Eine „naive“, „natürliche“ Christlichkeit gibt es in EU-Europa immer weniger. Was kommt, ist ein postmodernes Christentum, das seine Riten inszeniert und seine Identität plant. Identität wird geplant, wenn sie nicht mehr von sich aus da ist. Das Evangelische Gesangbuch von Bayern, Thüringen und Baden-Württemberg wurde von einer Werbeagentur gestaltet. Das ist, am Gesangbuch als eines traditionell hochrangigen Identitätssymbols exerziert, Identitätsplanung. Das Inszenierte, Gespielte, Gemachte, Ästhetische der Religiosität wird zunehmen, das Existentielle wird abnehmen. Die Lieder werden Kunstwerke sein, weniger Glaubenszeugnisse. 6 Der Gott der Schlachten Aus der Geschichte der Militärgesangbücher 1 Bundeswehr Die Soldatengesangbücher der Bundeswehr sind um Ideologiefreiheit bemüht. Sie lassen kaum noch irgendeine militaristische Tendenz erkennen. Allenfalls betonen sie vorsichtig das Thema Frieden. Die erste Generation zeigt in der Liedauswahl noch eine versteckte Liebe für Lieder mit militärischer Metaphorik. Im heiligen Dienst (katholisch, zuerst 1957) enthält zum Beispiel das Michaelslied Unüberwindlich starker Held von Friedrich Spee, Friedrich Osers Zieh an die Macht, du Arm des Herrn und das Mir nach, spricht Christus, unser Held des Angelus Silesius. 2 In der Neuausgabe von 1979 sind diese Lieder sämtlich verschwunden. 3 Der Vergleich der Ausgaben von 1957 4 und 1977 5 des evangelischen Gegenstücks zeigt Analoges, zeigt den Verlust von Stücken wie Otto Riethmüllers Getreue Führer gib uns, Gott, Gerhard Tersteegens Ich bete an die Macht der Liebe, Ludwig Uhlands Ich hatt einen Kameraden und Johann Walters Wach auf, wach auf, du deutsches Land. Vorgeschichte bis 1933 In den wenigen Militärgesangbüchern des 18. Jahrhunderts geht es um das Soldatentum als Stand, nicht um eine politische Ideologisierung des Krieges. Eine solche gibt es seit den Befreiungskriegen. 6 Ihr Liedgut wird im wilhelminischen Kaiserreich in die Militärseelsorge eingespeist. Im Ersten Weltkrieg sind die Lieder von Ernst Moritz Arndt (Wer ist ein Mann? Wer beten 1 Über das ganze Feld orientiert neuerdings umfassend Andreas F. Wittenberg, Die deutschen Gesang- und Gebetbücher für Soldaten und ihre Lieder. Tübingen: Francke-Verlag 2009 (Mainzer Hymnologische Studien, Bd. 23). 2 Im heiligen Dienst. Katholisches Gesang- und Gebetbuch für die deutsche Bundeswehr (Bamberg 1957 u. ö.). 3 Gesang- und Gebetbuch für die katholischen Soldaten in der deutschen Bundeswehr (Kevelaer 1979 u. ö.). 4 Evangelisches Gesang- und Gebetbuch für Soldaten (1957 u. ö.). Seine Haupttendenzen werden beschrieben bei Wittenberg (Mainzer Hymnologische Studien, Bd. 23), S. 326-327. 5 Evangelisches Gesang- und Gebetbuch für Soldaten (Kevelaer 1977 u. ö.). 6 Gut sichtbar ist sie im Gesang- und Liederbuch für die Braunschweigischen Truppen (Braunschweig 1814), mit Liedern von Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt und anderen nationalistischen Barden jener Zeit. Der Gott der Schlachten 77 kann) oder Theodor Körner (Vater, ich rufe Dich! Brüllend umwölkt mich der Dampf der Geschütze) häufig zu finden. 7 Diese Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt in der NS-Zeit. Das soldatische Massengesangbüchlein des Zweiten Weltkriegs, im Herbst 1939 erschienen in einer evangelischen und einer katholischen Ausgabe, 8 soll im folgenden etwas detaillierter betrachtet werden. Das Evangelische Feldgesangbuch (1939) Liedauswahl Gottes Lob fügt sich nicht selten sehr zwanglos dem Menscheninteresse. Seit 1933 wird in der Stunde des Triumphs gerne Allein Gott in der Höh sei Ehr gesungen (von Nikolaus Decius 1525). 9 Darum daß nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade läßt sich von der religiösen Heilszusage leicht abwenden und als irdische Erfolgszusage singen. Gänzlich in tagesaktuelles Eigenlob wird ein Wohlgefallen Gott an uns hat umgemünzt worden sein. Die Strophen 3 und 4 allerdings, an Christus und an den Heiligen Geist gerichtet, leisten Widerstand. Das katholische Gegenstück wäre Alles meinem Gott zu Ehren. 10 Dort fehlen allerdings krass affirmative Zeilen. Gott durch Adolf Hitler zu substituieren ist erschwert durch Zeilen wie Meinem Gott allein will geben Leib und Seel, mein ganzes Leben, erst recht durch die konkretisierende Anrede an Maria und Joseph in den Strophen 2 und 3. 7 Beispiele hier aus Feldgesangbuch für die evangelischen Mannschaften des Heeres (München 1914). 8 Evangelisches Feldgesangbuch, Heeresdienstvorschrift 371 (Berlin o. J.); Katholisches Feldgesangbuch, Heeresdiestvorschrift 372 (Berlin o. J.). Das katholische galt für alle Truppenteile, das evangelische nur für Heer und Luftwaffe. Das dazugehörige Marine-Gesangbuch von 1940 wird hier nicht berücksichtigt. Man findet es bei Wittenberg beschrieben (Mainzer Hymnologische Studien, Bd. 23, S. 311-317). 9 Evangelisches Feldgesangbuch, Lied Nr. 2. Die erste Strophe lautet dort: Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade darum, daß nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade; ein Wohlgefalln Gott an uns hat, nun ist groß Fried ohn Unterlaß, all Fehd hat nun ein Ende. 10 Katholisches Feldgesangbuch Nr. 1. Die drei Strophen lauten: 1. Alles meinem Gott zu Ehren in der Arbeit, in der Ruh’! Gottes Lob und Ehr’ zu mehren, ich verlang und alles tu’. Meinem Gott allein will geben Leib und Seel’, mein ganzes Leben. Gib o Jesu, Gnad dazu! Gib o Jesu, Gnad dazu! 2. Dich, Maria, will ich ehren, die du uns das Heil gebracht, und dein Leben soll mich lehren, was mich ewig selig macht. Laß mich dich recht kindlich lieben, nie durch eine Sünd’ betrüben, schütze mich bei Tag und Nacht! Schütze mich bei Tag und Nacht! 3. Heil’ger Josef! Ich befehle Freund und Feinde, Hab und Gut, meinen Leib und meine Seele voll Vertrauen deiner Hut. Bin dein Kind, o hab’ Erbarmen, trag’ auch mich auf deinen Armen, d’rauf das Gotteskind geruht! D’rauf das Gotteskind geruht! Der Gott der Schlachten 78 Im allgemeinen zeigen die 82 Lieder des Evangelischen Feldgesangbuchs eine starke Vorliebe für Vertrauenslieder des 17. Jahrhunderts, zum Beispiel für Paul Gerhardts Befiehl du deine Wege, Georg Neumarks Wer nur den lieben Gott läßt walten, Kaspar Bienemanns Herr wie du willst, so schicks mit mir oder Samuel Rodigasts Was Gott tut das ist wohlgetan. Der ideologische Nutzen liegt auf der Hand: Zuversicht geben und Verantwortung abgeben, auch in ausweglosen Lagen. Wer nur den lieben Gott läßt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Als Gottes Fügung erscheinen gerade die Situationen, die man nicht begreift. Wie er fängt meine Sache an, will ich ihm halten stille. Es entlastet den, der furchtbare Befehle ausführen muß, wenn er singen kann: Drum laß ich ihn nur walten. 11 In der Praxis wurde sicher manchmal der Bogen überspannt. Ob ein Soldat im Kessel von Stalingrad singen mochte: Gott hat es alles wohl bedacht und alles, alles recht gemacht? 12 Manchmal werden die Ereignisse den Gottesbegriff beschädigt haben. In anderen Fällen aber können die Lieder umgekehrt auch die Ereignisse kritisieren und oppositionellen Stimmungen gegen das Regime Worte leihen. Das gilt insbesondere für Bußlieder wie Martin Luthers Aus tiefer Not schrei ich zu dir, was eher bei Stalingrad mochte gesungen werden können, oder Wach auf wach auf du deutsches Land. Je nach Strophenauswahl konnte dieses Lied als kirchliche Version des Deutschland erwache mißbraucht oder als Mahnung zur Buße verwendet werden. Im Evangelischen Feldgesangbuch ist immerhin noch die Mahnung stehen geblieben: Du solltest bringen gute Frucht, so du recht gläubig wärest, in Lieb und Treu, in Scham und Zucht, wie du solchs selbst begehrest, in Gottes Furcht dich halten fein und suchen Gottes Ehr allein […]. Wer das wörtlich nähme, dürfte nicht Hitlers Ehre suchen. Das Lied, 1561 geschrieben, aber erst seit Anfang der Dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts in den Gesangbüchern, steht auch im Liederbuch der NSDAP, dort allerdings ohne die zitierte Strophe. 13 Außer den Vertrauensliedern gibt es auffallend viele Sterbelieder. Wie die profanen Soldatenliederbücher lehren auch die kirchlichen das Sterben. Wieder stammen die wichtigsten aus dem 17. Jahrhundert: Christus der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn, Jesus meine Zuversicht oder Wer weiß wie nahe mir mein Ende oder Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunden mit den Schlußstrophen Wenn ich einmal soll scheiden und Erscheine mir zum 11 Evangelisches Feldgesangbuch Nr. 50. Die erste Strophe lautet dort im Zusammenhang: Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille, wie er fängt meine Sache an, will ich ihm halten stille. Er ist mein Gott, der in der Not mich wohl weiß zu erhalten; drum laß ich ihn nur walten. 12 Schluß von Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut von Johann Jakob Schütz. 13 Nicht in allen Auflagen, aber zum Beispiel in der 51 (2101.-2150 Tausend): Liederbuch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (München o. J.; ca. 1940), dort als erstes Lied einer Rubrik mit dem Titel: Wach auf Du Deutsches Land. 30. Januar 1933. Tag der Machtübernahme. Der Gott der Schlachten 79 Schilde, zum Trost in meinem Tod, und laß mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl! Politisierbare Lieder Eine lange Militärkarriere haben Großer Gott wir loben dich und Ein feste Burg ist unser Gott, das erste als Triumph und Siegeslied, das zweite eher als Trutz und Verteidigungslied. Beide machen Angebote, in ihre Leerformeln die Interessen des Krieges einzutragen. Heilig, Herr der Kriegesheere heißt es in Großer Gott wir loben dich - das heute übliche Herr der Himmelsheere ist eine schon früh übliche Korrektur des Originaltexts. 14 Doch hat die Militärtradition in diesem Falle dankbar das Original beibehalten. Gedacht ist ursprünglich an Engelsheere, denn es handelt sich um eine Übersetzung des hebräischen „Sabaoth“ - Gott Sabaoth ist der Herr der Heerscharen. Ein feste Burg ist unser Gott paßt immer auf den Gott derer, die das Lied gerade singen. Das Possessivum unser Gott sichert Identität nach innen, der alt böse Feind sichert sie nach außen. Dessen tagesaktueller Konkretisierung als jeweiliger gegnerischer Militärmacht (im Original ist der Teufel gemeint) setzt das Lied nur wenig Widerstand entgegen. Die Schlußzeilen des Liedes bieten dem Soldaten des Dritten Reiches Bestätigung seiner Hingabe trotz aller Verluste. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: laß fahren dahin, sie habens kein’n Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben. Bearbeitungsprozesse Anstelle von Luthers der Herr Zebaoth in der zweiten Strophe von Ein feste Burg findet sich im Feldgesangbuch der Retter in Not, anstelle von Heilig Herr Gott Sabaoth in Großer Gott, wir loben dich steht Heilig Herr allmächtger Gott. Das sind keine Einzelfälle. Alle Hebraismen sind konsequent getilgt. Es gibt im Evangelischen Feldgesangbuch kein Israel und kein Zion, keine Cherubim und kein Hosanna. Selbstverständlich ist aus Lobe den Herren auch die Strophe mit der Zeile Lob ihn mit Abrahams Samen entfernt. Diese Eingriffe entsprechen der Bearbeitungspraxis der Deutschen Christen, die allerdings dieses Verfahren nicht erfinden mußten, sondern übernehmen konnten. Die Tilgung der Hebraismen begegnet bereits in den Gesangbüchern der Aufklärung fast durchgehend, ist dort allerdings nicht primär antisemitisch motiviert, sondern zielte auf Erleichterung des Verständnisses ab; man änderte damals auch Graecismen wie Kyrie. Es gibt dennoch eine deutlich erkennbare Traditionslinie von der Aufklärung zu den Deutschen Christen, sofern beide Bewegungen auf Modernität, Aktualität und Popularität bedacht waren. Die Wiederherstellung der Hebraismen erfolgte in der 14 Von Ignaz Franz, 1768, nach dem altkirchlichen Te Deum laudamus. Der Gott der Schlachten 80 Regel im Zuge der Restauration der alten Kirchenlieder im Verlauf des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich bete an die Macht der Liebe 15 enthält original die Zeile wodurch ich Wurm geliebet ward. Ist ein deutscher Soldat ein Wurm? Um das bedrohte Männlichkeitsideal zu retten, wird entschärft: mit dem ich selbst geliebet ward. Erst der evangelische Soldat der Bundeswehr ist wieder ein Wurm. 16 „Unmännliches“ wird auch sonst gelegentlich gemildert. In Mir nach, spricht Christus unser Held wird das Wort Knecht durch Mann ersetzt. Auch Weltverachtung ist nicht erwünscht. Statt Verleugnet euch, verlaßt die Welt steht Verleugnet, was nicht Gott gefällt. Krassere Bearbeitungen sind selten. Das ärgste Beispiel ist Großer Gott wir loben dich mit zwei neugedichteten Schlußstrophen und der Schlußzeile Treu zu Führer, Volk und Reich. Zeitzeugen berichten, derlei sei nicht angenommen worden. Viele Gläubige kannten das Lied auswendig. Eine so tiefe Erfahrung kann ein einzelner Textabdruck nicht ändern. Die allzu merkbare Absicht, das uralte Te Deum laudamus auf Hitler zu münzen, dürfte verstimmend gewirkt haben. Anderes wirkt wie NS-Dichtung, ist es aber nicht. Ein Haupt hast du dem Volk gesandt und trotz der Feinde Toben in Gnaden unser Vaterland geeint und hoch erhoben; mit Frieden hast du uns bedacht, den Führer uns bestellt zur Wacht zu deines Namens Ehre. Das Lied entstand nicht 1933, sondern im 19. Jahrhundert. Julius Sturm hat es gedichtet. Nur schrieb er Kaiser anstelle von Führer. Politische Lieder Das Büchlein unterscheidet Choräle und Lieder. In beiden Rubriken finden sich auch Dichtungen manifest militaristischer Art, zum Beispiel Herr segne unsre Waffen oder Gott Vater, dir befehlen wir unser Vaterland, mach stark und treu die Seelen zu Stoß und Widerstand. In der Rubrik Lieder regiert unumschränkt der alte Gott der Schlachten, von dem Stefan George in seinem Gedicht Der Krieg 1917 sang, es gebe ihn nicht mehr. Sie enthält allerlei aus den Befreiungskriegen und ihrer nationalistischen Nachwirkung bis zum Ersten Weltkrieg, wie Auf bleibet treu und haltet fest (Ernst Moritz Arndt), Der Gott der Eisen wachsen ließ (Arndt), O Deutschland, hoch in Ehren (Ludwig Bauer, 1859), Vater ich rufe dich (Theodor Körner), Wer ist ein Mann? Wer beten kann (Arndt) und Wir treten zum Beten (Josef Weyl nach einer alten Vorlage). Dazu kommen, neben wenigen unpolitischen Liedern (Eichendorffs 15 Evangelisches Feldgesangbuch Nr. 60: Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart, ich geb’ mich hin dem freien Triebe, mit dem ich selbst geliebet ward; ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken. 16 Evangelisches Gesang- und Gebetbuch für Soldaten (Kassel 1957 u. ö.). Der Gott der Schlachten 81 Wem Gott will rechte Gunst erweisen oder Paul Gerhards Nun ruhen alle Wälder), einige manifest nationalsozialistische Produkte. In Wir schwören heut aufs neue kommt der Führer vor, ferner in O Vater, Berater (dem Reich und dem Führer getreu in den Tod), insgesamt im Buch also bisher in vier Liedern. Im Gebete-Teil ist er vor allem im Gebet für Führer, Volk und Wehrmacht präsent. Die Rubrik Lieder zeigt eine breite Deckungszone mit den Gesangbüchern der Deutschen Christen. 17 Nur ganz wenige davon sind auch in anderen evangelischen Gesangbüchern zu finden. Zwischenergebnis Betrachtet man, was fehlt, so läßt sich vereinfachend sagen: der mythische Kern des Christentums. Nicht die heilsgeschichtlichen Ereignisse Erwartung, Geburt, Erscheinung, Passion, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und der Jüngste Tag sind prägend, sondern die Bedürfnisse und Nöte des Ich. Gott ist stark, ein Helfer, ein Vater, ein Lenker, ein Führer. Jesus ist weniger überlegen, er ist näher bei uns, hat vor allem die Funktion des Nothelfers und Sterbegeleiters. Auf der anderen Seite gibt es kein einziges Adventslied. Es fehlt auch das Christ ist erstanden, es fehlen Sünde und Gericht. Die ideologische Indienststellung hat alles Widerständige, nicht in ihr Aufgehende verschluckt. Gotteslob, Gottvertrauen und Jesuszuversicht hingegen dienen willig. Das Katholische Feldgesangbuch (1939) Liedauswahl Das Katholische Feldgesangbuch hat einen wesentlich größeren liturgischen Teil (Gebete, Meßformulare), dafür nur 48 Lieder statt 82. Von den 34 Liedern des ersten Teils finden sich nur neun auch unter den 56 des Choräle-Teils im evangelischen Pendant, sechs davon auch noch mit meistens erheblichen Veränderungen. Die Deckungszone ist also sehr gering, das konfessionell Katholische sehr ausgeprägt. Anders sieht es im Lieder-Teil aus, der hauptsächlich das nationalsozialistisch besetzte Sondergut bringt. Die 13 Lieder dort stammen sämtlich aus den 25 des evangelischen Buches, wenige davon mit geringfügigen Veränderungen. Die Auswahl reicht von Auf bleibet treu und haltet fest (ohne erste Strophe) und Der Gott, der Eisen wachsen ließ bis Wir schwören heut aufs neue und Wir treten zum Beten. Sie haben durchgehend evangelische Verfasser. 17 Verglichen wurden Gesangbuch der kommenden Kirche (Bremen 1939) und Großer Gott wir loben dich (Weimar 1941). Der Gott der Schlachten 82 Zu den kleinen Änderungen gehört eine wichtige und auffallende. In Ich bete an die Macht der Liebe, jenem Lied von Gerhard Tersteegen, das sich in allen Militärgesangbüchern findet, weil seine Melodie durch den preußischen Zapfenstreich weithin bekannt und populär geworden war, 18 bringt die katholische Version den ursprünglichen Wortlaut mit dem ich Wurm geliebet ward. Der katholische Soldat darf sich als Wurm fühlen, der evangelische nicht. Die Liedauswahl im Choräle-Teil ist nicht von Vertrauens- und Sterbeliedern geprägt, sondern von der kirchlichen Tradition. Nicht das trostbedürftige Ich des Sängers steht im Vordergrund, sondern die traditionellen Gegenstände des Glaubens, das Gotteslob anstelle des Menscheninteresses (Alles meinem Gott zu Ehren), die Kirche (Ein Haus voll Glorie schauet und Fest soll mein Taufbund immer stehen mit dem dezidierten ich will die Kirche hören, Jesus, Maria, Joseph und die Schutzengel (In dieser Nacht), die adventliche Erwartung (O Heiland reiß die Himmel auf 19 ), die Eucharistie (Kommet lobet ohne End’ das hochheil’ge Sakrament) die Kreuzigung (O du Lamm Gottes unschuldig), die Auferstehung (Wahrer Gott wir glauben dir) und der Heilige Geist (Komm, Heil’ger Geist kehr bei uns ein 20 ). Auffallend ist ferner die relativ große Anzahl von Marienliedern, immerhin neun von 34. Es gibt darunter unverwendbare wie Freu dich du Himmelskönigin (mit dem Thema Auferstehung), eher von Hitler wegführende, weil sich ganz ausdrücklich der Gottesmutter verpflichtende wie Maria zu lieben oder Wunderschön prächtige, indirekt, in den Notlagen des bedrängten Soldaten brauchbare wie Maria breit den Mantel aus, aber auch oppositionell verwendbare wie Meerstern ich dich grüße mit dem Refrain Hilf uns allen aus unsrer tiefen Not. In dieser tiefen Not mochte der katholische Wurm sein Selbstgefühl ausgedrückt fühlen, während die NS-Ideologie mit Hitler die Erlösung von tiefer Not gekommen sah. Politisierbare Lieder Ohne Textänderung politisierbar ist kaum eines der katholischen Lieder. Das alte Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen beginnt hier in der 18 Ich bete an die Macht der Liebe ist eigentlich die dritte Strophe von Für dich sei ganz mein Herz und Leben, weshalb man es in den Nachkriegsgesangbüchern, wenn es überhaupt zu finden ist, unter diesem Titel suchen muß (zum Beispiel Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, 1950 u. ö.). 19 Zwar nicht in der Originalfassung, sondern teilweise in einer seit Ende des 18. Jahrhunderts häufigen Umdichtung, deren erste Strophe lautet: O Heiland, reiß die Himmel auf! Vollendet ist der Zeiten Lauf. Brich Schloß und Riegel, tritt hervor! Es seufzt zu dir die Welt empor. Wesentlich für den adventlichen, mit Hitler nicht kompatiblen Charakter ist jedoch die erhalten gebliebene Schlußstrophe: Hier leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ew’ge Tod: Ach komm, führ’ uns mit starker Hand vom Elend in das Vaterland. 20 Eine leicht veränderte und gekürzte Version der Übertragung des Veni creator spiritus von Heinrich Bone (1847), die üblicherweise das Initium hat Komm Schöpfer Geist, kehr bei uns ein. Der Gott der Schlachten 83 zweiten Strophe mit mitten in des Feindes Land will die Furcht uns treiben. Wer das (im Vergleich zur Luther-Fassung) für eine militärische Aktualisierung hält, irrt, es handelt sich vielmehr um eine in den katholischen Gesangbüchern schon vorher übliche, aus Michael Vehe 1537 abgeleitete Fassung. 21 Bearbeitungsprozesse Sie sind insgesamt seltener und weniger konsequent als im evangelischen Bereich, aber erkennbar. Großer Gott wir loben dich findet sich nicht mit zwei, sondern nur mit einer dazugedichteten Schlußstrophe, jener bereits erwähnten, die mit Führer, Volk und Reich endet. In Fest soll mein Taufbund wird die zweite Strophe zu einer Art Fahneneid. 22 Antisemitisch motivierte Eingriffe gibt es nicht, 23 allerdings gibt es in den verwendeten Vorlagen auch keine ausgeprägten Hebraismen. 24 Neue Lieder Allmächtger Herr der Heere gehört zu den Liedern, in denen der Gott der Schlachten den Deutschen im gerechten Krieg beisteht. Ebenso wie Gott Vater dir befehlen (mit Führer, Volk und Reich) und Herr segne unsre Waffen ist es unverändert aus dem evangelischen Buch übernommen. Katholisch interessierte Neuschöpfungen gibt es im Bereich der Marienlieder. Die Katholiken haben außer dem Vater auch eine Mutter der Schlachten. Geleite unsre Heere, o Mutter treu und mild […] Beschirme unsre Krieger, du mächtigste der Fraun. Am krassesten verfährt Wir grüßen dich im Schlachtgesang. Im Donner der Kanonen, Maria, Königin, erbitt uns Siegeskronen. Doch die Gottesmutter der Volksfrömmigkeit ist nicht Jeanne d’Arc, sondern eine Nothelferin, das ließ sich nicht unterdrücken. Anstelle des Körner- Klassikers Vater ich rufe dich gibt es hier ein (von Körner sonst unabhängiges) Lied Mutter dich rufen wir. Die Mutter hat mehr als der Vater Verständnis für die Not des Soldaten. Kühle die Wunden, der Sterbenden Pein. Das Bild vertieft sich, daß für die katholischen Soldaten die Not dominiert, nicht der Siegeszug der deutschen Truppen. 21 Michael Vehe (Hg.), Ein New Gesangbüchlin Geystlicher Lieder […] (Leipzig 1537/ Reprint Hannover 1853)). Dort heißt es Mitten in der Feinden Hand tut die Furcht uns treiben. 22 Will halten, was in heil’gem Eid ich Gott geschworen habe, dem Volke und der Obrigkeit treu dienen bis zum Grabe! Will wanken und verzagen nicht, die Ehre lieben und die Pflicht. So wahr mein Gott mir helfe! Auch hier handelt es sich nicht um eine NS-Dichtung. Die Strophe begegnet (unter der Überschrift Taufgelöbnis und Fahneneid) schon vor dem Ersten Weltkrieg, zum Beispiel in Zum Gebet! Katholisches Militärgebet- und Gesangbuch (Landau 1913). 23 Mit Ausnahme der bereits erwähnten Veränderung des Herr Gott Sabaoth in Großer Gott, wir loben dich. 24 Hosanna bleibt jedenfalls im Sanctus des Meßformulars erhalten (Hosanna in der Höhe). Der Gott der Schlachten 84 Zusammenfassung Der katholische Soldat durfte sich stärker als Opfer, als „Wurm“ fühlen, während der evangelische stärker auf der Täter- und Sieger-Seite gesehen wird. Das entspricht dem jahrhundertealten Kulturgefälle, in dem die Katholiken einen Minderwertigkeitskomplex aufgebaut haben. Der erlaubt ihnen seit langem, sich auf der Opferseite der Geschichte zu fühlen. Er schützte ihre Religiosität ein kleines Stück weit vor der nationalsozialistischen Ideologisierung. Den Kernbereich ihres Glaubens haben die Katholiken von politisch interessierten Überformungsprozessen besser frei halten können als die evangelischen. Das scheint auch an der größeren Abstraktheit des evangelischen Glaubens zu liegen. Die mythischen Erzählungen bleiben offenbar besser intakt als eine allgemeine gläubige Vertrauenshaltung. Jesus, Maria und Joseph, der Rosenkranz, die Heiligen und die Schutzengel, Advent, Ostern und Himmelfahrt sind präziser umrissen als die Leerformel „Gott“, die zum Schlußstein fast jedes Gebäudes gemacht werden kann. Die Immunität der liturgischen Formel ist größer als die des privaten Gebetes. Damit soll nicht gesagt werden, das Katholische Feldgesangbuch sei kein nationalsozialistisches Produkt. Der Bearbeiter wollte ohne Zweifel ein solches schaffen, bringt er es doch sogar fertig, in einer Beichtandacht den Albert Leo Schlageter zu zitieren. 25 Er plante kein subversives Buch. Aber er konnte als Individuum wenig ausrichten gegen ein kollektiv Vorliegendes. Die katholische Tradition, nicht das katholische Individuum brachte ihm diesen Widerstand entgegen. Sperrig ist nicht der Pianist, sondern die Klaviatur, auf der er spielt. Zur Identität des Religiösen, so läßt sich schließen, gehört unabwendbar das Mythische. Eine Religion, die restlos aufgeklärt wäre, verlöre ihre Identität und damit auch ihre Widerstandskraft. Die Zerstörung ihres Mythos hat die christliche Religion politisch so anfällig gemacht. Zur Dialektik der Aufklärung hat es immer schon gehört, daß Aufklärung ihres mythischen Gegenübers bedarf und ohne es in Totalitarismus umschlägt. Wenn man den Kirchen eine Zukunft wünscht, muß man einer kultivierten Remythisierung das Wort reden. 25 „Der deutsche Freiheitskämpfer Albert Leo Schlageter schrieb am 30 März 1915 in einem Briefe aus dem Felde: ‚Die Hauptsache ist, daß man stets ein sauberes Brusttuch hat und stets glatte Rechnung mit Gott hält.‘ Um glatte Rechnung mit Gott zu halten und so in der Lage zu sein, jeden Augenblick vor Gottes Antlitz zu stehen und zu bestehen, ist uns die heilige Beichte gegeben.“ (Katholisches Feldgesangbuch, S. 49) 7 Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen Johann Peter Eckermann überliefert, datiert vom 4. Januar 1827, die folgenden Sätze aus einem Gespräch mit Goethe: „Es ist eigen,“ fuhr er fort, „ich habe doch so mancherlei gemacht, und doch ist keins von allen meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangbuch stehen könnte.“ Ich lachte und gab ihm recht, indem ich mir sagte, daß in dieser wunderlichen Äußerung mehr liege, als es den Anschein habe. Nr. 1 286. Wandrers Nachtlied Der du von dem Himmel bist, Der du von dem Himmel bist, alles Leid und Schmerzen stillest, Alles Leid und Schmerzen stillest, den, der doppelt elend ist, Den, der doppelt elend ist, doppelt mit Erquickung füllest, Doppelt mit Erquickung füllest, ach, ich bin des Wogens müde Ach, ich bin des Treibens müde, banger Schmerzen, wilder Lust; Was soll all der Schmerz und Lust? - Gottes Friede, Gottes Friede, Süßer Friede, komm und wohn’ in meiner Brust! Komm, ach komm in meine Brust! Die linke Spalte enthält Goethes Lied in der Fassung, wie es im Bremer reformierten Gesangbuch von 1812 steht, 1 die rechte so, wie es die Zeitgenossen damals aus Goethes Schriften (8 Bände, Leipzig 1787-1790) kannten. Die Bearbeitungstendenzen liegen auf der Hand. Sie bestehen formal in einer Abflachung der Auffälligkeiten. Das ganze Gedicht erhält einheitlich acht Zeilen mit je vier Trochäen - was auch das Ziel gehabt haben mag, leichter eine Melodie dafür zu finden - wodurch die Akzentuierung der Kurzzeile „Süßer Friede“ eliminiert wird; eine banale Verdoppelung tritt an ihre Stelle. Die Parenthese der Zeilen 5 und 6 wird syntaktisch eingegliedert in den Aufruf, mit dem der Text endet, und aus der Frage wird eine Feststellung. Inhaltlich wird das eher aktive „Treiben“ durch das eher passive „Wogen“ ersetzt (Zeile 5). Die ausgeprägteste Veränderung ist der Austausch von 1 Christliches Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht, Bremen 1812. Dieses Gesangbuch war gut fünfzig Jahre im offiziellen Gebrauch. Die 9. und letzte Auflage erschien 1862. Es wurde nur in den Stadtgemeinden benutzt; die Landgemeinden behielten das Buch von 1767 bei. Näheres zur Bibliographie und Geschichte der bremischen Gesangbücher in: Bremer Gesangbücher. Bibliographie, Archivalien, Untersuchungen, Bremen 1982 (= Hospitium Ecclesiae. Forschungen zur Bremischen Kirchengeschichte, hg. v. Ortwin Rudloff, Band 13), hier S. 35 und S. 18. - Für Hilfen und Hinweise zu diesem Aufsatz danke ich Heike Wennemuth, Christa Reich und Arno Claas. Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 86 „Süßer Friede“ durch „Gottes Friede“. Das Lied wird religiös korrigiert. Der Zweifel, ob Goethe es nicht vielleicht doch pantheistisch gemeint haben könnte, wird beseitigt. Die Bearbeiter haben dabei kein schlechtes Gewissen. In ihrer Vorrede bemerken sie kaltschnäuzig: 2 Daß wir an den Liedern geändert haben, bedarf wohl kaum einer Erwähnung, da es allgemein herkömmlich ist, sich dieses zu erlauben, wo die Erbauung dasselbe zu erfordern scheint; daher denn auch lebende Verfasser nicht erwarten können, daß man über jede Aenderung sich mit ihnen in einen, Zeit und Porto kostenden, Briefwechsel einlassen sollte. Wir hoffen übrigens, im Verändern nie unbescheiden gewesen zu seyn. Das Bremer Gesangbuch ist ein typischer Repräsentant der rationalistischen Reformen, die seit den Siebziger und Achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts allmählich fast überall die noch von der Reformation und der Barockzeit geprägten alten Gesangbücher zu verdrängen suchten. Das entscheidende Merkmal ist nicht, daß sie Goethe „frömmer“ machen wollen, sondern daß sie überhaupt versuchen, einen Text von ihm ins Gesangbuch zu bringen. Ihre Absichten waren die besten. Sie nahmen ein Lied auf die eben erst erfundene Pockenschutzimpfung auf. Sie wollten modern sein, den immer weiter aufklaffenden Graben zwischen der sakralen und der profanen Kultur schließen, den Glauben aktualisieren. Sie schieden deshalb die alten Lieder sehr weitgehend aus oder überarbeiteten sie bis zur Unkenntlichkeit. An ihre Stelle setzten sie Lieder von Klopstock und Gellert, von Cramer und Diterich, von Claudius und Novalis, in seltenen Fällen auch von Goethe und Schiller. 3 Während im Evangelischen Kirchengesangbuch der Nachkriegszeit (1950-1993) und auch noch im heute gültigen Evangelischen Gesangbuch (1993 ff) ein sehr großer Bestand von Liedern des Mittelalters, des 16. und des 17. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 18. das Bild beherrscht, ist das Durchschnittsalter der Lieder oder Liedfassungen in den aufklärerischen Reformgesangbüchern erheblich niedriger. Mit der Romantik setzte ein Prozeß ein, der im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer mehr alte Lieder wieder in die Singepraxis einspeiste. Das bedeutete zugleich die allmähliche Zurücknahme der aufklärerischen Reform. Es bedeutete ferner, daß sich der Graben zwischen der profanen und der sakralen Poesie wieder weiter auftat. Hatten im 16., 17. und noch im 18. Jahrhundert so gut wie alle bedeutenden Dichter auch Kirchenlieder geschrieben, spaltet sich die poetische Entwicklung der geistlichen Dichtkunst im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. Die Kir- 2 S. VII. Die Vorrede ist unterzeichnet von Conrad Buhl, Heinrich Meier, Nikolaus Kiesselbach und Christian Carl Gambs, vier Bremer Pastoren. 3 Als Nr. 385 bringt das Bremer Gesangbuch Die Worte des Glaubens, mit dem Initium Drey Worte merket euch, inhaltsschwer! und weiteren kleinen Veränderungen. Ein weiterer Fundort ist: Deutsches Gesangbuch für Israeliten. Zum Gebrauch bey Andachtsübungen und beym Religionsunterrichte. Frankfurt am Main 1816, 2 1819 (Lied Nr. 116); ein Buch des assimilationswilligen Judentums. Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 87 chenlieddichtung, wenn sie überhaupt noch erfolgt, wird zum Tummelplatz drittrangiger Epigonen, und die profan erstrangigen Dichter kommen nicht mehr ins Gesangbuch - nicht einmal mehr dann, wenn sie geistliche Lieder dichten und so fromm sind wie Eichendorff oder der alte Brentano. 4 Nr. 2 Gesänge zur Metten am Oster-Sonntage. Eingang. Alleluja [etc.] Invitatorium. Chor der Engel Christ ist erstanden! Christ ist erstanden, Aus der Verwesung Schoos Aus der Verwesung Schoß. Reisset von Banden Reißet von Banden Freudig euch los! Freudig euch los! Venite exultemus Ps. 94. 1. Kommt! laßt uns dem Ewigen jauchzen, Frohlocken unserm Herrn und Retter, Mit Dankgesang vor Ihm erscheinen, Beim Saitenspiel Ihm laut frohlocken! Christ ist erstanden! Christ [etc.] Aus der Verwesung Schoos Reisset von Banden Freudig euch los! 2. Der Ewige ist ein großer Gott! Ein großer König über alle Götterwesen! Der Erden Schätze sind in seiner Hand! Der Berge Gipfel sind sein! Aus der Verwesung Schoos Aus der Verwesung Reisset von Banden [etc.] Freudig euch los! 3. Sein ist das Meer! - Er schuf es! Das Trockne, seiner Hände Werk! Anbeten laßt uns, niederfallen, Hinknien vor dem Herrn, unserm Schöpfer! Er ist unser Gott, wir seiner Weide Volk! Heerde seiner Hand! Christ ist erstanden! Christ ist [etc.] Aus der Verwesung Schoos Reisset von Banden Freudig euch los! 4 Obgleich Brentano doch einige verwehte Spuren im Gesangbuch hinterlassen hat: Vgl. Sabine Gruber, Clemens Brentano und das geistliche Lied, Tübingen 2002 (= Mainzer Hymnologische Studien Band 7). Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 88 4. Noch heute, wenn ihr seine Stimme hört, Verstockt nicht euren Sinn, wie zu Meriba, Am Tage der Versuchung in der Wüste; Da eure Väter mich versuchten, Mich prüften, schon sie meine Thaten sahn! Aus der Verwesung Schoos Aus der Verwesung Reisset von Banden [etc.] Freudig euch los! 5. Vierzig Jahre lang warnte ich dieß Geschlecht; Und sprach: es ist ein irrsinnig Volk! Will meine Wege nicht erkennen! In meinem Zorne schwur ich da: Nie gehen sie in meine Ruhe ein! Christ ist erstanden! Christ ist [etc.] Aus der Verwesung Schoos Reisset von Banden Freudig euch los! 6. Ehre sey dem Vater und dem Sohne Und dem heiligen Geiste! Ehre sey dir, Allmächtiger, Ewiger, Gott! Von allen Menschen, und zu allen Zeiten! Amen. Aus der Verwesung Schoos Aus der Verwesung Reisset von Banden [etc.] Freudig euch los! Christ ist erstanden! Christ ist [etc.] Aus der Verwesung Schoos Reisset von Banden Freudig euch los! Psalmen Beatus Vir. Ps. 1. […] Quare fremerunt Ps.2. […] Domine quid multiplicati Ps. 3. Responsorium Glockenklang und Chorgesang nach der ersten Lektion Chor der Engel: Christ ist erstanden! Christ ist erstanden! Freude dem Sterblichen, Freude dem Sterblichen, Den die verderblichen, Den die verderblichen, Schleichenden, erblichen Schleichenden, erblichen Mängel umwanden! Mängel umwanden. Chor der Engel: Er ist erstanden! Christ ist erstanden! Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 89 Selig der Liebende, Selig der Liebende, Der die betrübende, Der die betrübende, Heilsam’, und übende Heilsam’ und übende Prüfung bestanden! Prüfung bestanden. Chor der Weiber: Mit Spezereyen Mit Spezereien Hatten wir ihn gepflegt, Hatten wir ihn gepflegt, Wir seine Treuen Wir seine Treuen Hatten ihn hingelegt; Hatten ihn hingelegt; Tücher und Binden Tücher und Binden Reinlich umwanden wir; Reinlich umwanden wir, Ach! und wir finden Ach! und wir finden Christum, den Herrn, nicht hier! Christ nicht mehr hier. Chor der Engel: Er ist erstanden! Christ ist erstanden! Selig der Liebende, Selig der Liebende, Der die betrübende, Der die betrübende, Heilsam’ und übende Heilsam’ und übende Prüfung bestanden! Prüfung bestanden. Responsorium […] Faust: […] Lobgesang […] Chor der Jünger: Die Laudes […] Hat der Begrabene Psalmen […] Schon sich nach oben, Antiphone […] Lebend Erhabene, Schlußgesang Herrlich erhoben: Ist er in Werdelust Schaffender Freude nah; Ach! an der Erde Brust, Sind wir zum Leide da. Ließ er die Seinen Schmachtend uns hier zurück; Ach! wir beweinen Meister dein Glück! Chor der Engel: Christ ist erstanden, Aus der Verwesung Schoß. Reißet von Banden Freudig euch los! Tätig ihn preisenden, Liebe beweisenden, Brüderlich speisenden, Predigend reisenden, Wonne verheißenden Euch ist der Meister nah’, Euch ist er da! Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 90 Die Texte der linken Spalte finden sich in dem katholischen Gesangbuch des Kaspar Anton von Mastiaux (1810/ 11), 5 die der rechten am Schluß der Szene Nacht im ersten Teil von Goethes Faust. 6 Der liturgische Ort im Gesangbuch ist die Matutin des Ostertags, also keine heilige Messe, sondern die Morgengebetszeit bei oder vor Sonnenaufgang. Was Mastiaux von Goethe verwendet hat, hat er, anders als seine Bremer Kollegen, textlich korrekt verwendet; die wenigen Veränderungen fallen nicht ins Gewicht. Interessant ist in diesem Falle mehr, was er weggelassen hat, ferner die Art, wie er ein Lied aus einem Drama in eine Liturgie überführt. Was bei Goethe ein Wechselgesang zwischen dem Chor der Engel, dem Chor der Weiber und dem Chor der Jünger ist, hat auch Mastiaux in ein quasi-dramatisches liturgisches Rollenspiel gebracht. Im Invitatorium kombiniert er geschickt freirhythmische Verse aus einem alttestamentlichen Psalm mit Goethes als Refrain eingesetztem Engelsschlußchor. Es kommt dabei zu Bestätigungen der alttestamentlichen Botschaft durch die neutestamentliche (1. und 3. Strophe), zu Aufforderungen, dem im Psalm Verheißenen auch wirklich zu folgen (2. Strophe), zu Mahnungen, nicht die Fehler der alttestamentlichen Menschen zu wiederholen (4. Strophe, wobei durch den Sprecherwechsel - Gott selber spricht - auch Goethes Aus der Verwesung Schoß [etc.] als von Gott selbst gesprochen erscheint), zu Kontrasten zwischen der Unerlöstheit im Alten und der Erlösung im Neuen Testament (5. Strophe, wieder mit Gott als Sprecher) und zu einem Zusammenführen aller Stimmen in der sechsten, im Christ ist erstanden resumierend ausklingenden Strophe. Es folgen drei Psalmen, eine Lesung und dann, als Antwort auf diese, wieder der Chor der Engel als Responsoriumsgesang. Korrekt werden die ersten drei Teilstücke als Wechselgesang präsentiert, möglicherweise im Wechsel zwischen Vorsänger, Chor und Volk. Was Mastiaux nicht mehr interessierte, war der Chor der Jünger, der sich darüber beklagt, daß der Meister sich gen Himmel abgesetzt und sie quasi im Stich gelassen hat. Die Engel versuchen zwar, diese ironische Pointe Goethes mit einer nochmaligen Versicherung wieder zuzudecken, aber es wird doch ein Diskussionsbedarf damit angemeldet, für den Liturgie und Gesangbuch keinen Raum zu haben glaubten. Auch das Katholische Gesangbuch von Mastiaux ist ein typisches Erzeugnis der Aufklärung. Der Konflikt der Konfessionen erscheint diesem Buch überholt. Die 818 Liedertexte sind gut zur Hälfte protestantischen Ursprungs. 7 5 Katholisches Gesangbuch zum allgemeinen Gebrauche bei öffentlichen Gottesverehrungen, 3 Bände, München 1810-11; die Zitate Band 2, S. 34-41. Die damals dazugehörige Melodie war nicht ermittelbar. Später wird Goethes Christ ist erstanden von Franz Schubert vertont. 6 Hier zitiert nach der von Albrecht Schöne herausgegebenen Edition im Deutschen Klassiker Verlag: Faust, 2 Bände, Frankfurt 1994. 7 Zahlen nach Wilhelm Bäumker: Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts, 4 Bände, Freiburg Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 91 Mit 106 Texten ist Klopstock am stärksten vertreten, gefolgt von Gellert (26) und Lavater (26), Johann Andreas Cramer (22), Johann Samuel Diterich (18) und anderen. Die katholische Aufklärung ist mit Ignaz Heinrich von Wessenberg (31 Lieder), ferner mit Christoph von Schmid, Franz Seraph von Kohlbrenner, Michael Denis, Ignaz Franz und Ernst Xaver von Turin (dem Pfarrer von Sankt Ignaz in Mainz) stark vertreten. Unveränderte alte Lieder gibt es kaum. Das Buch ist liturgisch geordnet. Es möchte gegen die Dominanz des Lateinischen deutschsprachige Liturgien durchsetzen. Ähnlich wie die Aufklärungsgesangbücher des protestantischen Raums wird auch die Wirkung der katholischen Reformgesangbücher allmählich durch die einsetzende Restauration gedämpft und schließlich im 20. Jahrhundert nahezu ganz erstickt. Nur wenige Gesänge aus dem Mastiaux erobern sich einen festen Platz. Die große Mehrzahl seiner Vorschläge kann sich kein dauerhaftes Heimatrecht im katholischen Milieu erwerben. Wir müssen annehmen, daß auch die Ostermatutin mit Goethes Faust nur selten gottesdienstlich praktiziert wurde. Nr. 3 Es wird still um Goethe im Gesangbuch, für mehr als hundert Jahre. Der nächste Beleg - wobei es derzeit sicher niemandem möglich sein wird, die geistlichen Liedersammlungen in ihrer Gesamtheit zu überblicken 8 - steht im Gesangbuch der kommenden Kirche, Bremen o. J. (1938). Dort finden wir als Lied Nr. 146 den Gesang der drei Erzengel, mit dem in Goethes Faust der Prolog im Himmel beginnt: R APHAEL 1. Die Sonne tönt nach alter Weise Die Sonne tönt [etc.] in Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise vollendet sie mit Donnergang. im Breisgau 1883-1911 (Reprint Hildesheim 1962), wo in Band 4, S. 108-130 dankenswerterweise ein (bei Mastiaux fehlendes) Initienverzeichnis abgedruckt ist, das nach Möglichkeit auch die Verfasser der Lieder nachweist. 8 Das Reservoir dieses Aufsatzes ist bereits ziemlich groß. Es besteht aus den mehr als dreitausend Gesangbüchern im Archiv des Interdisziplinären Arbeitskreises Gesangbuchforschung an der Universität Mainz, ferner aus einer Datenbank mit Initien, die derzeit Fundorte von rund 28.000 Liedtiteln nachweist. Ein Zufallsfund mag belegen, daß außerhalb der offiziellen Traditionen der großen Konfessionen mit weiteren Beispielen zu rechnen ist. In der methodistischen Kirche gebräuchlich war Zions Perlenchöre. Eine Sammlung auserwählter, lieblicher Compositionen für gemischten Chor, mit besonderer Rücksicht auf christliche Sängervereine, bearbeitet von Ernst Gebhardt, Bremen 1870, 5 1886. Hier findet sich nicht nur eine geistliche Kontrafaktur auf Heines Loreley-Lied, sondern auch, unter dem Titel Das Land der Verheißung, eine auf Goethes Mignon-Lied aus Wilhelm Meisters Lehrjahren. Die erste Strophe sei hier wiedergegeben: Kennt ihr das Land? Auf Erden liegt es nicht, Von dem das Herz in bangen Stunden spricht; Wo keine Thräne von dem Auge fließt, Wo Freude nur und ew’ge Wonne ist? Kennt ihr es wohl? Dahin, dahin, Laßt fest uns richten Herz und Sinn! Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 92 Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, wenn keiner sie ergründen mag; die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag. G ABRIEL 2. Und schnell und unbegreiflich schnelle Und schnell und [etc.] dreht sich umher der Erde Pracht; es wechselt Paradieseshelle mit tiefer, schauervoller Nacht; es schäumt das Meer in breiten Flüssen am tiefen Grund der Felsen auf, und Fels und Meer wird fortgerissen in ewig schnellem Sphärenlauf. M ICHAEL 3. Und Stürme brausen um die Wette, Und Stürme brausen [etc.] vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer, und bilden wütend eine Kette der tiefsten Wirkung rings umher. Da flammt ein blitzendes Verheeren dem Pfade vor des Donnerschlags; doch deine Boten, Herr, verehren das sanfte Wandeln deines Tags. 4. Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise vollendet sie mit Donnergang. Z U DREI Der Anblick gibt den Engeln Stärke, Der Anblick gibt [etc.] da keiner dich ergründen mag, und alle deine hohen Werke, sind herrlich wie am ersten Tag. Die Änderungen sind minimal und leicht zu erklären. Es entfallen die verschiedenen Rollen, wie überhaupt demjenigen, der Goethes Faust nicht kennt, kein Hinweis darauf gegeben wird, daß hier Engel sprechen. Das Lied erscheint lediglich als Schöpfungslob und steht dementsprechend in der Rubrik All Ding auf Erden, welche Pracht. 9 Die erneute Einfügung des Anfangsvierzeilers Die Sonne tönt… in der vierten Strophe gibt dem Gebilde eine kreisende Geschlossenheit, hat aber als Hauptmotiv wohl nur gehabt, jeder Strophe die gleiche Länge zu geben, damit beim Singen keine Schwierigkeiten auftreten. Als Melodie findet eine Weise aus dem Genfer Psalter Verwendung (Genf 1551), die heute noch durch das Lied Jauchzt, alle Lande, Gott zu Eh- 9 Wobei dieser Rubriktitel einem als Nr. 144 wiedergegebenen Lied von Will Vesper entnommen ist, dessen Initium so lautet. Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 93 ren bekannt ist. 10 Damit wird dem im kirchlichen Kontext unüblichen Lied die Weihe einer alten Tradition verliehen. Aber was für ein Buch ist das, das Gesangbuch der kommenden Kirche? Das Vorwort, gezeichnet von Lic. Dr. Heinz Weidemann, Landesbischof und Bremischer Staatsrat, klärt uns auf: „Wir singen das Lied der Väter. Wir singen Lieder der Zeit, aber wir singen deutsch, auch als Christen nur deutsch.“ Ein Gesangbuch der Deutschen Christen also. In der gleichen Gestalt finden sich die vier Strophen unter dem Titel Lobgesang der Erzengel als Eingangstext eines anderen Buches: des Gesangbuchs Großer Gott, wir loben dich. Es erschien 1941 in Weimar im „Verlag für deutschchristliches Schrifttum“. 11 Seine erste Seite ziert ein pathetisch-grandioses Bild: eine Sonne, die strahlend durch die Wolken bricht. Danach folgt ganzseitig in Zierschrift Die Sonne tönt nach alter Weise, dann ganzseitig drei Erzengel in Jugendstilmanier, dann der Rubriktitel Lobgesang, dann Verszitate, die Gottes Stärke preisen, dann als Lied 1 Großer Gott, wir loben dich. Bezeichnend für die Deutschen Christen ist die Dominanz des Schöpfer- und Herrschergotts, den das Bild der Sonne symbolisiert, während Christus und das Kreuz an den Rand gedrängt werden. An diesem Rand noch werden sie mißbraucht: Zwischen Passion und Ostern schiebt sich eine Rubrik Heldengedenken. Auch die Bremer „Kommende Kirche“ ist ein Projekt der „Deutschen Christen“. Beide Bücher lassen unschwer erkennen, welchen Geistes sie sind. Unter den Autoren finden sich bekannte Nationalsozialisten und Hitler- Anhänger wie Heinrich Anacker, Ernst Bertram, Karl Bröger, Hermann Claudius, Hermann Ohland, Will Vesper und Josef Magnus Wehner. Auch die Liedbearbeitungen tragen die Merkmale der Zeit. Ausgetilgt werden alle Ausdrücke hebräischer Herkunft. In Joachim Neanders Lobe den Herren verschwindet selbstverständlich in Vers 5,2 die Aufforderung Lobe mit Abrahams Samen; sie wird ersetzt durch Preise des Heiligen Namen! (Bremen) oder stimme voll Freude zusammen (Weimar). Aus Wie schön leuchtet der Morgenstern verschwinden der Sohn Davids aus Jakobs Stamm ebenso wie die süße Wurzel Jesse (Weimar). Als weiteres Beispiel kann Martin Luthers Lied Aus tiefer Not schrei ich zu dir dienen. Während Vers 4,5/ 6 bei Luther lautet: So tu Israel rechter Art der aus dem Geist erzeuget ward, steht in den Büchern der Deutschen Christen So tu das Volk von rechter Art, das aus dem Geist geboren ward; wo Luther Vers 5,6 schrieb: Der Israel erlösen wird, heißt es nun: er, der sein Volk erlösen wird. 10 Evangelisches Gesangbuch (1993 ff), Nr.279, ursprünglich zu Nun saget Dank und lobt den Herren gehörig, dem Lied zu Psalm 118 (Evangelisches Gesangbuch Nr. 294); die Melodie stammt ursprünglich von Guillaume Franc (1543) und wurde 1551 von Louis Bourgeois überarbeitet. 11 Dort begegnet übrigens auch Wanderers Nachtlied wieder, wenn auch nicht als Lied, sondern als Gebet (S. 401). Goethe im Gesangbuch. Drei Petitessen 94 Änderungen dieser Art begegnen historisch zuerst in der Aufklärungszeit. Bereits das Berliner Gesangbuch von 1780 streicht durchgehend die Hebraismen. Nun muß man damals noch kein antisemitisches Motiv unterstellen. Die Änderung zielte vielmehr auf größere Verständlichkeit. Zu den allgemeinen Bearbeitungstendenzen der damaligen Reformgesangbücher gehörte es, daß Latinismen, Graecismen und Hebraismen, also Wörter und Wendungen wie In dulci jubilo und gratiosa coeli rosa, Maranatha und Kyrie eleison, Hosianna, Alleluja, Sabaoth, Jehova und Israel ins Deutsche übersetzt wurden. Es ging freilich schon damals vor allem um die hebräischen Wörter, die als undeutsch und morgenländisch kritisiert werden (so in der Vorrede zu Altona 1785 12 ), so daß antisemitische Motive es später leicht hatten, sich hinter dem Feigenblatt dieses Arguments einzunisten. Zu den Paradoxa der Gesangbuchgeschichte gehört es, daß die Bücher der Deutschen Christen auch in mancher anderen Hinsicht (Liedauswahl, Verständlichkeit, sprachliche und gestalterische Modernität, inhaltliche Aktualisierung, Nähe zur profanen Dichtung) in der Tradition der Aufklärung stehen, wenn auch vielfältig vermittelt. Mit anderen Inhalten als die Aufklärer arbeiten doch auch die Deutschen Christen am Projekt eines entmythologisierten Christentums. Die von der gemeinsamen Goethe-Rezeption gestiftete Brücke zwischen beiden Bewegungen ist zwar schmal und gewunden, aber vorhanden. Das Scheitern der deutsch-christlichen Modernisierung läßt die Frage legitim erscheinen, ob nicht auch die rationalistische Gesangbuchreform auf dem falschen Wege war, so daß sie nicht von ungefähr in eine Restauration der alten Lieder mündete. Anstatt die Mythen zu kultivieren hat man sie zu zerstören versucht. Aber der „vom Mythos gereinigte“, „aufgeklärte“ Glaube ließ sich leichter politisch funktionalisieren als ein Glaube, der von Jesus und seinen Wundern, von Advent und Menschwerdung, von Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten, von Sünde und Gnade, von Himmel und Hölle und letztem Gericht redet. Das „Mitgefangen - mitgehangen“ gilt hier für Goethe wie auch für Friedrich Schiller, 13 dessen Worte des Glaubens (4. Strophe), die uns schon im Bremer Gesangbuch von 1812 begegnet sind, auch die letzte Seite des Weimarer deutsch-christlichen Gesangbuchs von 1941 schmücken. Irgendein Kreis schließt sich hier schon, wenn auch ein fataler. 12 Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Allergnädigsten Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinen des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, der Herrschaft Pinneberg, der Stadt Altona und der Grafschaft Ranzau gewidmet und mit Königlichem Allerhöchstem Privilegio herausgegeben, Altona 4 1785, erste Auflage 1780. 13 Der im übrigen auch mit dem Lied Verschwunden ist die finstre Nacht (Nr. 68) auftaucht, dem Lied des Pförtners in Schillers Bearbeitung von Shakespeares Macbeth. 8 Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied Die Pockenschutzimpfung wurde 1796 in England von Edward Jenner zur Anwendungsreife gebracht und 1807 in Bayern als weltweit erstem Land gesetzlich eingeführt. Jenner hatte entdeckt, daß Menschen, die sich, was gelegentlich bei intensivem Tierkontakt, zum Beispiel beim Melken, geschah, mit den harmlosen Kuhpocken angesteckt hatten, Immunität auch gegen die lebensgefährlichen Pocken (Blattern) beim Menschen erworben hatten. Aus dem Kuhpockenerreger ließ sich ein Impfstoff entwickeln, der diese Krankheit, der jedes Jahr Hunderttausende von Menschen zum Opfer fielen, allmählich in ihre Schranken wies. Seit 1980 gelten die Pocken als weltweit ausgerottet. Bereits 1812, also wenige Jahre nach der Entwicklung der Schutzimpfung, findet sich im Christlichen Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht (Bremen 1812) 1 eine Rubrik Schutzpocken, die ein Lied mit dem folgenden Text präsentiert. 1. Dank dir, Gott, dein Vatersegen ströhmt uns überall entgegen, Leben giebst du und Gedeihn. Was sich auf der Erde reget, was im Wasser sich beweget, schufst du, Segen uns zu seyn. 2. Pflanzen, Thiere, Früchte geben nicht blos Nahrung, neues Leben quillt für uns aus ihrem Schoos. Lindrung, Rettung heißt den Kranken dir für Pflanzen, Thiere danken, selbst für Steine, selbst für Moos. 3. Auch d i e Seuche ist verschwunden, die mit Eiter und mit Wunden tausend in die Gruft gebracht, die in glühndem Schmerz die Sinnen, wie im Tiegel, ließ zerrinnen, manches Auge deckt’ mit Nacht. 1 Christliches Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht, Bremen, 1812. Gedruckt bey Peter Jöntzen, Präfectur-Buchdrucker. Ein Exemplar befindet sich im Gesangbucharchiv der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Weitere Fundorte werden nachgewiesen in der Internet-Datenbank „Gesangbuchbibliographie“ (über Google aufrufbar). Es handelt sich um ein Gesangbuch der evangelisch-reformierten (calvinistischen) Konfession. Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied 96 4. Ihrer Wuth nicht hingegeben ist nunmehr der Menschen Leben; Rettung ist uns nun bekannt. Du hast uns das Thier geschenket, das mit seiner Milch uns tränket, das die Seuche schnell verbannt. 5. Dank dir, unsrer Kinder freuen wir uns nun, denn sie gedeihen, wie an Schönheit, so an Kraft. Das hast du uns, Gott, geschenket, der in Eiter Heilung senket, der aus Krankheit Leben schafft. 6. Wehr’ dem blinden Aberglauben, der uns will den Segen rauben, den du uns hast zugedacht. Ist es Recht, zu übersehen, ist es Dank, das zu verschmähen, was du uns zum Heil gemacht? 7. Gut ist jede deiner Gaben: nähren willst du uns und laben, schützen, retten und erfreun! Selbst die Heilkunst kömmt von oben; alle deiner Liebe Proben sollen stets uns theuer seyn. Die unverzügliche Produktion eines Liedes auf eine neue Errungenschaft und ihre sofortige Einspeisung in ein Gesangbuch - ein sonst eher träge auf Neuigkeiten reagierender Buchtyp - zeugt vom intensiven Bemühen der Aufklärung um Modernisierung der Religion. Dem Dichter des Liedes, Christian Carl Gambs (1759-ca. 1820? ), lutherischer Pastor zu St. Ansgarii in Bremen, 2 war es offenbar wichtig, neue Erfahrungswelten sogleich geistlich zu überschreiben und keine weißen Flecken auf der Landkarte des religiösen Lebens entstehen zu lassen. Er fügte sich damit ein in das große Programm der aufklärerischen Gesangbuchreform. Da diese Reform durch eine ihr nachfolgende Restauration weitgehend in Vergessenheit geraten ist, macht man sich heute in der Regel keinen Begriff davon, mit welcher Radikalität sie in die Kirchenliedtradition eingegriffen hat. In den Jahren von 1770 bis 1830 kommt es fast überall zur Einführung neuer Gesangbücher, die mit dem Überlieferten bewußt und rücksichtslos brechen. 2 Die biographischen Angaben stammen aus dem Verfasserverzeichnis, das dem Gesangbuch löblicherweise beigegeben ist. Weiteres ließ sich nicht ermitteln. Auch die hilfreiche Monographie Bremer Gesangbücher. Bibliographie, Archivalien, Untersuchungen von Ortwin Rudloff (Bremen 1982) liefert über die gesangbuchgeschichtliche Einordnung des Buches hinaus keine Einzelheiten über die Verfasser und Redaktoren des Buches. Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied 97 Nun kann man in vielen Büchern lesen, die Spätromantik sei Restaurationszeit gewesen und habe die alten Lieder wiedergebracht. Die rationalistischen Gesangbücher wären so gesehen dann nur ein kurzes Zwischenspiel gewesen, als hätten sie nie wirklich Fuß fassen können. Aber der Weg von der Theorie in die Praxis war in Wirklichkeit sehr lang. Im Ganzen gesehen dauert dieser Prozeß der allmählichen Wiedergewinnung des alten Liedguts und der Reinigung der Texte von den rationalistischen Überarbeitungen weit über hundert Jahre. Die Entwicklung kommt erst mit dem Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950 zu einem gewissen Abschluß, einem streng puristischen Werk, das sich nach den deprimierenden Erfahrungen, die man mit der Anpassung an den Nationalsozialismus gemacht hatte, strikt zeitgeistunabhängig gibt und einen reformatorischen Kernbestand sichern will. Lieder aus den letzten fünfzig Jahren spielen hier nur eine verschwindend geringe Rolle. Dieses vier Jahrzehnte beherrschende, in vielen Millionen Exemplaren verbreitete Buch ist prägend geworden für das, was den heute Erwachsenen als evangelisch gilt. Es ist aber nicht das Erzeugnis einer ungebrochenen Tradition, sondern einer gelungenen Restauration. Im 19. Jahrhundert aber war die Gesangbuchlandschaft noch weitgehend von den Produkten der aufklärerischen Reform geprägt. Auch unser Bremer Gesangbuch gehört zu diesem Typus. Es war in den Bremer Stadtgemeinden rund sechzig Jahre in Gebrauch. Die letzte nachweisbare Auflage erschien 1868. 3 Mit ihr verschwindet auch das Pockenschutzlied von der Bildfläche. In Gesangbücher außerhalb Bremens scheint es nicht Eingang gefunden zu haben. 4 Ein marginales Produkt also, dessen Schicksale man auf sich beruhen lassen könnte. Dennoch scheint mir der Versuch, der da gemacht wurde, so beachtlich, daß ich über die Gründe seines Scheiterns noch ein wenig nachdenken und einige Thesen dazu aufstellen möchte. Die naheliegendste Auskunft ist, daß dem Lied ein liturgischer Ort gefehlt haben dürfte, also ein Platz im Gottesdienst des Tageslaufs, Sonntags oder Kirchenjahrs, an dem es passend zu singen gewesen wäre. Daß es diesen Platz nicht gab, zeigt an, daß es nicht genügt, die Liedtexte zu modernisieren, sondern daß es vorweg und viel umfassender notwendig gewesen wäre, gottesdienstliche Formen in die Wissenschaft und ihre Institutionen zu implantieren. Das säkulare Selbstverständnis der Wissenschaften widerstand damals wie heute einem solchen Bemühen. Die Wissenschaft hatte sich 3 Christliches Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht. Neunter Abdruck der Auflage von 1812, mit einem Anhang. Bremen. Gedruckt und zu haben bei H. M. Hauschild. 1868. 4 Für Aussagen dieser Art steht im Gesangbucharchiv Mainz eine Datenbank zur Verfügung, welche die Liedbestände von über zweihundert Gesangbüchern regional und diachron überschaubar macht. Es ist zwar möglich, daß es vereinzelt weitere Fundorte für das Lied gibt, aber eine breite überregionale Präsenz kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied 98 jahrhundertelang gegen die Kirchen entwickeln müssen. Sie war stolz auf ihre Leistung und war naturgemäß nicht gesonnen, ihre Ergebnisse nunmehr als gottgewollt interpretiert zu sehen. Das Lied muß sich, indem es sich der Wissenschaft andient, deshalb zugleich aufs schärfste gegen innerkirchliche Modernisierungskritiker wenden: Wehr’ dem blinden Aberglauben, der uns will den Segen rauben, den du uns hast zugedacht. (6. Strophe) Das Lied zerbricht trotzdem an seiner eigenen Unglaubwürdigkeit. Es kann Gott nicht eigentlich für die Pockenschutzimpfung danken, denn diese hat offensichtlich Edward Jenner erfunden. Es dankt Gott (in der vierten Strophe) lediglich für die Erfindung der Kuh (Du hast uns das Thier geschenket, das mit seiner Milch uns tränket, das die Seuche schnell verbannt). Es stellt sich der Frage nicht, warum Gott dann Jahrtausende lang die Menschen den Pocken schutzlos ausgeliefert hätte. Es dankt ihm in der fünften Strophe, die nebulös verquast von der Kindersterblichkeit handelt, dafür, daß die Kinder nunmehr gedeihen, weicht aber der Frage aus, warum Gott nicht schon früher in Eiter Heilung senkte. (Beim Impfen entsteht eine eitrige Pustel, die nach einiger Zeit abheilt und eine Impfnarbe hinterläßt.) Weiter hinten im Bremer Gesangbuch von 1812 findet sich eine Rubrik Ansteckende Krankheiten mit zwei Liedern, deren erstes (Herr über Tod und Leben) das Heraufziehen einer Seuche als Strafe Gottes interpretiert (Wir haben, Herr, dir widerstrebt), während das zweite (Wir kommen, Helfer, dir Gesang und Ruhm und Preis zu bringen) für das Abklingen einer Seuche dankt. In beiden Fällen wird eine Erfahrung der Kontingenz (die blinde Zufälligkeit einer ansteckenden Krankheit) in einen Sinnhorizont eingegliedert, der Leben und Tod umgreift. Auch die Hingerafften sind nicht sinnlos gestorben, sondern sind jetzt im Vaterland, wo keine Thränen fließen. Das Pockenschutzlied hat diesen Kontext aufgegeben. Es schließt die Akten über einen Bereich der Kontingenz, in dem man Gott künftig nicht mehr braucht. Indirekt bedeutet es eine Schwächung Gottes, der in den alten Seuchenliedern ein großer Lebens- und Todesfürst ist. Das Danklied auf die Pockenschutzimpfung wird zum Abdankungslied. Diese Schwächung spiegelt sich auch in der Ausdrucksweise des Liedes. Bis ins 17. Jahrhundert gelang es der religiösen Sprache, die profane Welt sakral zu überschreiben. Weltliche Lieder (Mein Gmüt ist mir verwirret von einer Jungfrau zart) sahen sich von geistlichen Kontrafakturen (O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn) erfolgreich verdrängt. Das erotische insbesondere wie das militärische Vokabular der Zeit wird im Kirchenlied lebhaft genutzt. In unserem Lied aber wird das moderne medizinische Vokabular geradezu ausgespart. Es findet sich weder das Wort „Pocken“ noch das Wort „Impfung“ (bzw. „Vakzination“, wie man in der Zeit sagte). Worum es geht, erfährt man nur aus der Rubriküberschrift. Im Lied selbst wird salbungsvoll außen herum geredet (Auch d i e Seuche ist verschwunden …). Es entsteht jene sakrale Verlogenheit, die man bis heute Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied 99 in den Kirchen so häufig findet, die zwar gut gemeint ist, aber nicht gut ist. Sie sucht ihr Heil darin, profan verständliche Vorgänge sekundär zu „rechristianisieren“, d. h. faktisch sie mit einer in Wahrheit funktionslosen religiösen Sprachglasur zu überziehen, aus Angst vor Gebietsabtretungen der Religion an die Wissenschaft. Sie verliert dabei ihre wirklichen Gebiete aus den Augen, die niemals von der Wissenschaft erobert werden können: den Tod und die Kontingenz. Sie mißversteht Aufklärung als allmähliches Überflüssigwerden aller Mythen, und vergißt, daß der Tod und die Kontingenz nie besiegt werden können und deshalb der Bedarf an Mythen immer bleiben wird. Sie verbrämt säkularisierte Welten mit überflüssigen religiösen Girlanden, anstatt den Menschen dort zu helfen, wo sie Hilfe nötig haben. Ärgerlich an unserem Pockenschutzlied ist, daß solche Unaufklärung im Gewande der Aufklärung daherkommt. Wahre Aufklärung schafft zwar Mythen und Riten ab, die obsolet geworden oder inhuman sind, aber sie pflegt und fördert Mythen und Riten dort, wo sie unentbehrlich und humanisierend sind. 9 Kirchenliedzitate in „Buddenbrooks“ Am Beispiel der Kirchenliedzitate des Romans Buddenbrooks von Thomas Mann kann man das Auswandern der Religiosität aus den Kirchen, hier der lutherischen, zugleich ihr Verwildern, Verstummen und Apokryphwerden beobachten. Vier kurze Abschnitte: 1. Unser erstes Stichwort lautet Satire. Am Sterbebett des Senators Thomas Buddenbrook erscheint Pastor Pringsheim. Er wird satirisch niedergemacht nach allen Regeln der Kunst: In halbem Ornat, ohne Halskrause, aber in langem Talar, erschien er, streifte Schwester Leandra mit einem kalten Blick und ließ sich am Bette auf den Stuhl nieder, den man ihm zuschob. Er bat den Kranken, ihn zu erkennen und ihm ein wenig Gehör zu schenken; da dieser Versuch aber fruchtlos blieb, so wandte er sich direkt an Gott, redete ihn in stilisiertem Fränkisch an und sprach zu ihm mit modulierender Stimme in bald dunklen, bald jäh accentuierten Lauten, indeß finsterer Fanatismus und milde Verklärung auf seinem Gesichte wechselten… Während er das R auf eine eigenartig fette und gewandte Art am Gaumen rollte, gewann der kleine Johann die deutliche Vorstellung, daß er soeben Kaffee und Buttersemmeln zu sich genommen haben müsse. 1 Die große evangelische Kirchenliedtradition begegnet dementsprechend vornehmlich als Schnurre und Parodie. Mit den Andachten im Hause Buddenbrook erlaubt sich der Dichter einen Scherz, wenn er die Anwesenden genötigt sein läßt, zu einer feierlichen, glaubensfesten und innigen Melodie die folgenden Worte zu singen: 2 Ich bin ein rechtes Rabenaas, Ein wahrer Sündenkrüppel Der seine Sünden in sich fraß, Als wie der Rost den Zwippel. Ach Herr, so nimm mich Hund am Ohr, Wirf mir den Gnadenknochen vor Und nimm mich Sündenlümmel In deinen Gnadenhimmel! Das kann Thomas Mann in seiner Kindheit nicht gehört haben, jedenfalls nicht in einer Andacht, höchstens im Kabarett, denn da gehört es hin. Es 1 Buddenbrooks 10. Teil, 8. Kapitel; Große Kommentierte Ausgabe der Werke Thomas Manns (= GKFA), Frankfurt: S. Fischer 2002 ff, 1.1, S. 753 f. 2 Buddenbrooks 5. Teil, 5. Kapitel; GKFA 1.1, S. 304. Kirchenliedzitate in „Buddenbrooks“ 101 handelt sich um eine um 1840 entstandene Parodie, die sich in keinem Gesangbuch der Zeit findet. 3 2. Doch es gibt auch eine andere Seite. Als der kleine Hanno betet, nimmt er nicht das Gesangbuch zur Hand, sondern Des Knaben Wunderhorn, rezitiert nicht das kirchlich-bürgerlich Vorgeschriebene, sondern das „bucklicht Männlein“. 4 Das Motiv seines Betens ist das Grauen über die Wirklichkeit, so wie sie ist, über die „mystische, traurige und interessante Niederträchtigkeit des Siebentagewerks“. 5 Hanno spricht im Traum mit schwerer Zunge (wir ergänzen, was er lallt): 6 Will ich in mein Gärtlein gehen, Will mein Zwiebeln gießen; Steht ein bucklicht Männlein da, Fängt als an zu nießen. Will ich in mein Küchel gehen, Will mein Süpplein kochen; Steht ein bucklicht Männlein da, Hat mein Töpflein brochen. Will ich in mein Stüblein gehen, Will mein Müßlein essen; Steht ein bucklicht Männlein da, Hats schon halber gessen. […] Will ich in mein Keller gehen, Will mein Weinlein zapfen; Steht ein bucklicht Männlein da, Thut mir’n Krug wegschnappen. Setz ich mich ans Rädlein hin Will mein Fädlein drehen; Steht ein bucklicht Männlein da, Läßt mirs Rad nicht gehen. […] 3 Vgl. Konrad Ameln: Über die „Rabenaas“-Strophe und ähnliche Gebilde, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 13, 1968, S. 190-194. 4 Buddenbrooks 8. Teil, 3. Kapitel; GKFA 1.1, S. 508 f.; dort auch die folgenden Buddenbrooks-Zitate. 5 Thomas Mann an Otto Grautoff 6. 4. 1897. GKFA 21, S. 87. 6 Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Kritische Ausgabe, hrsg. u. kommentiert von Heinz Rölleke. Band III, Stuttgart 1987, S. 276 f. Kirchenliedzitate in „Buddenbrooks“ 102 Wenn ich an mein Bänklein knie, Will ein bislein beten; Steht ein bucklicht Männlein da, Fängt als an zu reden. Liebes Kindlein, ach ich bitt, Bet’ für’s bucklicht Männlein mit! Erst macht es alles kaputt, und dann will es auch noch ins Gebet eingeschlossen werden! Wenn Hanno für’s bucklicht Männlein betet, dann, weil er sich identifiziert mit dessen bürgerlich betrachtet schädlichem, aber in einem höheren Sinne verzweifelt wahrhaftigem Treiben. Töpfe, Zwiebeln, Suppe, Spinnrad, Mus und Wein: der geordnete Haushalt ist letztlich Philistersache und kann die tiefsten, auf irgendeine Erlösung gerichteten Sehnsüchte nicht befriedigen. Es gibt eine nihilistische Religiosität beim frühen Thomas Mann, eine Religiosität aus Verzweiflung. Sie hat mit der vor der Gesellschaft katzbuckelnden Amtskirchlichkeit nichts zu schaffen. 3. Wenn sich Passagen finden, die religiöse Betroffenheit verraten, dann geht es immer um den Tod. So sind die Todesfälle im Roman im Kontrast zum Versagen der kirchlichen Todesverwalter durchaus erschütternd auch in religiöser Hinsicht. Ohne Spott erzählt Thomas Mann vom mystischen Augenblick des Todes der Konsulin Elisabeth Buddenbrook geborene Kröger nach langem, schrecklichem Leiden: Um halb sechs Uhr trat ein Augenblick der Ruhe ein. Und dann, ganz plötzlich, ging über ihre gealterten und vom Leiden zerrissenen Züge ein Zucken, eine jähe, entsetzte Freude, eine tiefe, schauernde, furchtsame Zärtlichkeit, blitzschnell breitete sie die Arme aus, und mit einer so stoßartigen und unvermittelten Schnelligkeit, daß man fühlte: zwischen Dem, was sie gehört, und ihrer Antwort lag nicht ein Augenblick - rief sie laut mit dem Ausdruck des unbedingtesten Gehorsams und einer grenzenlosen angst- und liebevollen Gefügigkeit und Hingebung: „Hier bin ich! “ … und verschied. Alle waren zusammengeschrocken. Was war Das gewesen? Wer hatte gerufen, daß sie sofort gefolgt war? 7 Wer hatte gerufen? Für den Frommen ist die Antwort klar: Christus. Ein lateinisches Gebet des Mittelalters fleht: „In hora mortis voca me! “ Rufe mich in der Stunde des Todes. In der Übersetzung von Angelus Silesius wurde es zum Sterbelied. Die letzte Strophe beginnt: Ruf mir in meiner letzten Not/ Und setz mich neben dich, mein Gott. 8 Wahre Religiosität hat mit Pastor 7 Buddenbrooks 9. Teil, 1. Kapitel; GKFA 1.1, S. 626. 8 Bei Angelus Silesius, Heilige Seelen-Lust oder Geistliche Hirten-Lieder Der in ihren JESUM verliebten Psyche […], Breslau 1657 heißt das Lied (2. Buch, Nr. 53) Die Seele Christi heilge mich. Im zweihundert Jahre lang in zahlreichen Auflagen verbreiteten Porstschen Gesangbuch konnte auch Thomas Mann es leicht finden: Geistliche und liebliche Lieder, Kirchenliedzitate in „Buddenbrooks“ 103 Rankes beflissenenen Zeremonien nichts zu tun. Sie ist mystisch, sie ist unbürgerlich. Sie wirft aus der Bahn wie die Liebe und der Tod. 4. Religiöse Scham. Der Diskretionsbedarf für religiöses Verhalten nimmt im Laufe des Romans immer weiter zu, bis er zum Verstummen zwingt. Das Religiöse ist genant. Das öffentliche Frommsein insbesondere ist peinlich, so wie Tonys Gebete am Sterbebett ihres Bruders: 9 Um fünf Uhr ließ Frau Permaneder sich zu einer Unbedachtsamkeit hinreißen. Ihrer Schwägerin gegenüber am Bette sitzend, begann sie plötzlich, unter Anwendung ihrer Kehlkopfstimme sehr laut und mit gefalteten Händen, einen Gesang zu sprechen … „Mach End’, o Herr“, sagte sie, und Alles hörte ihr regungslos zu - „mach Ende mit aller seiner Not; stärk seine Füß’ und Hände und laß bis in den Tod …“ Aber sie betete so sehr aus Herzensgrund, daß sie sich immer nur mit dem Worte beschäftigte, welches sie grade aussprach, und nicht erwog, daß sie die Strophe gar nicht zu Ende wisse und nach dem dritten Verse jämmerlich steckenbleiben müsse. Das that sie, brach mit erhobener Stimme ab und ersetzte den Schluß durch die erhöhte Würde ihrer Haltung. Jedermann im Zimmer wartete und zog sich zusammen vor Geniertheit. Mach End, o Herr ist der Anfang der zwölften und letzten Strophe von Paul Gerhardts Lied Befiehl du deine Wege. Was Tony durch die erhöhte Würde ihrer Haltung ersetzen mußte, lautet im Zusammenhang: 10 Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Noth! Stärk unsre Füß und Hände, und laß bis in den Tod uns allzeit deiner Pflege und Treu empfohlen sein, so gehen unsre Wege gewiß zum Himmel ein. Im Verlauf des Romans nimmt die religiöse Tiefe zu von Generation zu Generation, sinkt das Religiöse wie ein Stein in Brunnentiefen. Sein Ausdruck wird immer verschämter, versteckter und erstickter. Am Ende bleibt nicht Paul Gerhardt, sondern Hanno, der fürs bucklicht Männlein betet. welche der Geist des Glaubens […] gedichtet […]. Von Johann Porst, Ausgabe Berlin 1892, Nr. 75, zu singen auf die Melodie von Nun laßt uns den Leib begraben. 9 Buddenbrooks 10. Teil, 8. Kapitel; GKFA 1.1, S. 754 f. 10 Lübeckisches evangelisch-lutherisches Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht, auf Verordnung Eines Hohen Senates ausgefertigt durch das Ministerium, Lübeck 1877, Nr. 287. 10 Zur Mythologie des Singens Eine Predigt Liebe Gemeinde, von der Musik soll heute die Rede sein, von Freiheit und Fröhlichkeit, vom Glanz der Seele und vom Himmel. Singen ist mehr als Sprechen. Der ganze Körper dient als Resonanzraum, bewegt sich unwillkürlich mit, während das Wort oft nur eine Sache des Kopfes ist. Vereinfacht habe ich es mir so zurechtgelegt, daß die Melodie stärker das Unbewußte anspricht, während das Wort dem Bewußtsein zugehört. Das gilt im Guten wie im Bösen. Melodien können Texte übertölpeln, so daß man Unsinn oder Böses singt, nur weil die Melodie so verführerisch ist. Daß unreines Blut Frankreichs Furchen tränken möge, singen die Franzosen im Refrain der Marseillaise im Schatten der mitreißenden Melodie ohne Bedenken, aber wenn man sie in Prosa danach fragt, kommt doch Verlegenheit auf, ich glaube, sie meinen es nicht so wörtlich mit dem Furchentränken. Umgekehrt kann die Musik den Texten eine gewaltige Macht geben, wenn sie das dürre Wort um einen immensen Hallraum von Klängen, Bildern und Gefühlen bereichert. Sie hätte singen sollen, diese neue Seele, schrieb Stefan George über Friedrich Nietzsche, offenbar in der Meinung, daß Singen mehr ist als Sprechen, daß es mehr als nur intellektuell und philosophisch, daß es ganzmenschlicher und vollkommener, prophetischer, ja göttlicher ist. Nicht die Rede ist der Ausdruck des befreiten Menschen, sondern der Gesang. Ein Schulmeister muß singen können, sagte Martin Luther in seinen Tischreden, und wollte auch das Predigtamt keinem anvertraut haben, der sich nicht zuvor in der Musik geübet. Die Frage, ob die Unmusikalischen dann Christen zweiter Klasse sind, lassen wir unbeantwortet im Raum stehen, obgleich sie mich bedrängt, weil ich aus einem unmusikalischen Hause stamme - „Kurzke brummt“, sagte die Volksschullehrerin, wenn sie sich beim gemeinsamen Singen der Klasse neben mich stellte, der ich offenbar den richtigen Ton nicht traf. Es hat mich deshalb auch tief berührt, daß Jürgen Habermas sich im Herbst 2001 in seiner Rede zur Friedenspreisverleihung als „religiös unmusikalisch“ bezeichnete, wo er doch unverkennbar Sehnsucht nach der Welt religiöser Sinndeutung erkennen ließ. Die säkulare Seite, sagte er, solle „ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ bewahren, und ließ den erstaunlichen Satz folgen: „Die verlorene Hoffnung auf Auferstehung hinterläßt eine spürbare Leere.“ Das aufklärerische Kommunikationsvertrauen der Habermas’schen Philosophie kann offenbar den Schmerz der Leere nicht lindern, den der verlorene Glaube Zur Mythologie des Singens 105 hinterließ. Vielleicht hätte auch diese Seele singen sollen. Vielleicht muß nicht nur der Schulmeister, sondern auch der Philosoph singen können. Wenn es um die Grundlegung des Singens geht, begegnen in der christlichen Mythologie wenige, aber markante Ursituationen immer wieder. Da ist David mit der Harfe, der König Saul von seinen Depressionen befreite. Da ist das Danklied des Mose nach dem Durchzug durch das Rote Meer. Wir haben ein Gesangbuch in unserer Sammlung mit einem Titelkupfer: das heranbrandende Meer ist zu sehen, in dem gerade die Ägypter ertrinken, auf sicheren Uferhügeln aber stehen Miriam mit der Pauke und das Volk Israel, den Dankgesang anstimmend: „Laßt uns dem Herrn singen; denn er hat eine herrliche Tat getan, Roß und Mann hat er ins Meer gestürzt.“ Damit man zum Singen nicht jedes Mal tote Ägypter braucht, versteht das Neue Testament den Zug durchs Rote Meer als Sinnbild der Erlösung. Hinter dem Sieg des Mose über die Ägypter scheint der Sieg Jesu über die Sünde und den Tod auf. Das Singen gilt jetzt einer viel größeren, viel grundsätzlicheren, viel tieferen und endgültigeren Befreiung. In der Offenbarung des Johannes im 15. Kapitel ist die Rede von denen, die gesiegt haben über das Tier. Sie stehen an einem gläsernen Meer vor einem Herrscherstuhl im Himmel, sie haben „Harfen Gottes“ und singen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes und sprechen: Groß und wundersam sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott; gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Das Lied des Mose und das Lied des Lammes - von ihm ist kurz vorher (Offb 14, 1-6) die Rede, wir wollen auch diese imposante Stelle hören. Und ich sah das Lamm stehen auf dem Berg Zion und mit ihm 144000, die hatten seinen Namen und den Namen seines Vaters geschrieben an ihrer Stirn; Und ich hörte eine Stimme vom Himmel wie eines großen Wassers und wie eine Stimme eines großen Donners; und die Stimme, die ich hörte, war wie von Harfenspielern, die auf ihren Harfen spielen. Und sie sangen wie ein neues Lied […] und niemand konnte das Lied lernen denn die 144000 […] Das Singen hat also mit der Endzeit zu tun. Es singen die Befreiten, die Erlösten. Sie singen das Lied des Mose und das Lied des Lammes, das Lied der damaligen Befreiung und das Lied der kommenden Befreiung am Ende der Zeit. Die Befreiten singen, die Gefangenen nicht. Die Gegenprobe: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten“, klagt das von Babylon geknechtete Volk im 137. Psalm. „Unsere Harfen hingen wir an die Weiden.“ Die Gefangenen weinen, aber das befreite Volk singt. Singen ist in all diesen Bibelstellen mehr als nur melodiöses Sprechen. Es ist Vorschein der Erlösung. Über alles ziehet an die Liebe, schreibt Paulus im Kolosserbrief (3,14-16), der Friede Gottes regiere in eurem Herzen, vermah- Zur Mythologie des Singens 106 net euch mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern und singet dem Herrn in eurem Herzen. Als wäre man schon im Himmel, so muß sich deshalb das Singen anhören. (Selten genug ist das der Fall.) Es kommt meiner Meinung nach nicht so sehr darauf an, daß unser Kopf irgendwelche Lehren für wahr hält, sondern daß wir Befreite sind, die Liebe und Frieden ausstrahlen, als wären wir schon im Himmel. „Es glänzet der Christen inwendiges Leben“, so heißt es in einem Lied aus dem Freylinghausenschen Gesangbuch, das auch im EKG noch stand, aber im EG verloren gegangen ist. Es glänzet der Christen inwendiges Leben, obgleich sie von außen die Sonne verbrannt. Was ihnen der König des Himmels gegeben, ist keinem als ihnen nur selber bekannt. Was niemand verspüret, was niemand berühret, hat ihre erleuchteten Sinne gezieret und sie zu der göttlichen Würde geführet. Sie scheinen von außen oft arm und geringe, ein Schauspiel der Engel, verlacht von der Welt, doch innerlich sind sie voll herrlicher Dinge, der Zierrat, die Krone, die Jesu gefällt […] Sonst sind sie wohl Adams natürliche Kinder und tragen das Bildnis des Irdischen auch; sie leiden am Fleische wie andere Sünder, sie essen und trinken nach nötigem Brauch; in leiblichen Sachen, in Schlafen und Wachen sieht man sie vor andern nichts Sonderlichs machen, nur daß sie die Torheit der Weltlust verlachen. Doch innerlich sind sie aus göttlichem Stamme, geboren aus Gott durch sein mächtiges Wort; es lodert in ihnen die himmlische Flamme, entzündet von oben, genähret von dort. Innerlich sind sie aus göttlichem Stamme … Aber wie wenige tragen noch das Gepräge dieser Abkunft! Wie bedrückt, wie unfrei, wie traurig und trostlos, mutlos und deprimiert ist derzeit das Erscheinungsbild der Christen, wie grau ist es oft auch hier in diesem Raum. Wo sieht man der Christen inwendiges Leben glänzen? Sie haben sich von einer billigen Form von Aufklärung den Himmelsglanz rauben lassen. Aber es gibt doch viel Himmel auf Erden, es gibt die große Liebe, Freiheit, Schönheit, Kunst, Musik, das Glück der Erkenntnis, Trost im Leiden, uneigennützige Hilfe, überraschendes Gelingen. Wer einen Himmel kennt, ist von allem Irdischen weniger abhängig. Ein Himmel bedeutet eine nie ermüdende Feder, die die Sehnsucht der Menschen nach oben spannt und sie von der niederdrückenden Angst um sich selbst, Zur Mythologie des Singens 107 die sonst die Wurzel aller Unmenschlichkeit ist, befreit. Alles Leid auf Erden darf den Himmel nicht auslöschen, der es wirksam relativiert. Daß die Welt nur ein Windhauch sei, schreibt der Prediger Salomo. Der Weltverliebtheit von heute will ich das uralte vanitas-Motiv entgegenhalten. Die Welt kann doch das gar nicht leisten, was von ihr heute erwartet wird. Die Liebe zweier Menschen gibt eine Ahnung vom Himmel, aber sie ist nicht der Himmel selbst. Wenn zwei Menschen voneinander den ganzen Himmel fordern, zerbrechen sie ihre Liebe. Der Christ vergißt nie die unaufhebbare Defizienz der Welt. Er verläßt sich allein auf Gott und betrachtet die Welt deshalb mit Ironie. Er macht mit, aber er lacht dazu, im Bewußtsein der Vergänglichkeit, der Eitelkeit seines Tuns auch bei besten Absichten, im Bewußtsein der Unerreichbarkeit des Himmels auf Erden. Er verlacht die Torheit der Weltlust, wie es im vorhin zitierten Liede hieß. Kein Leid, kein Krieg, kein Erdbeben, keine Ungerechtigkeit, keine Krankheit, kein Elend ist ein Argument gegen seine Freiheit und Fröhlichkeit, seine Gelassenheit, seine innere Heiterkeit. Um noch einmal Luthers Tischreden zu zitieren: „Der Teufel ist ein trauriger Geist und macht traurige Leute, darum kann er Fröhlichkeit nicht leiden. Daher kommts auch, daß er von der Musica aufs weiteste fliehet, bleibt nicht, wenn man singet, sonderlich geistliche Lieder.“ Es wird zweifellos zu wenig geträumt und zu wenig gelacht, zu wenig Begeisterung und Glück in der Kirche erfahren. Religion sollte nichts Anstrengendes sein, nicht Leistung und Müssen und innerer Krampf, sondern Freiheit aus Angenommensein in Liebe, unverdient und unverdienbar, jedem zugänglich, den Kranken und Dummen, den Verachteten und Häßlichen, den Verzagten und Deprimierten, den Unfähigen und den Sündern. Der Glaube wird euch frei machen, lautet die Botschaft. Nicht eng. Das Leben in Fülle verspricht das Johannesevangelium (Joh 10,11). Der Christ hat eine große Vorstellung vom Leben, will den Himmel, also mehr als hienieden möglich. Gegen die platte Zufriedenheit von heute ahnt die Religion ein großes Leben, von dem alles Irdische nur Metapher, Abbild und Analogon sein kann. Unser Geist hat in sich eine Sehnsucht, die über das in der Welt Mögliche hinausreicht, die aus seiner Abbildhaftigkeit herrührt und ihn zum Urbild hinzieht. Die Christen müßten in Dingen der Kultur an der Spitze stehen, nicht irgendwo im Mittelfeld oder noch weiter hinten. Die christliche Tradition hat so große Reichtümer, einen so großen Schatz von Riten und Erfahrungen, Bildern, Liedern, Gesichten und Geschichten. Die Kirchen sollen ihre Mythen pflegen, nicht sie entmythologisieren, bis nur noch Wasser übrigbleibt. In einer Kinderkatechese hörte ich neulich, daß die Israeliten mit ihrem leichten Gepäck das versumpfte Rote Meer problemlos durchqueren konnten, während die Ägypter mit ihren schweren Streitwagen versanken. Das ist einleuchtend und aufgeklärt, aber langweilig, eine Geschichte von dummen Ägyptern nur noch, nicht mehr eine Geschichte von der Kraft des Glaubens, die das Wasser stehen ließ wie Mauern zur Rechten und zur Linken, zwischen Zur Mythologie des Singens 108 denen die Israeliten trockenen Fußes hindurchzogen. Das merkt man sich sein Leben lang, während die banale Sumpfversion nach drei Tagen vergessen ist. Es kommt auf das Bild an und seine Kraft, nicht darauf, ob es damals wörtlich so zugegangen ist. Wenn man die Auferstehung als Mythos nimmt, sagt man damit nicht wenig, sondern viel. Die Auferstehung verspricht Wunderbares, mit der Befreiung vom Tod verknüpfen sich uralte Menschheitsträume, die Unangreifbarkeit durch Leid, die Aufhebung der Körpergrenzen, Schwerelosigkeit, Fliegenkönnen, Durchstrahltsein von Seele und Licht. Die Rede von der Auferstehung darf nicht zur Theologie vertrocknen, wie es heute oft geschieht, sie muß kulturell lebendig gemacht werden. Sie gibt ja einem Begehren Ausdruck, das wirklich besteht, mit dessen Erfüllung auch andere kulturelle Vollzüge, Literatur, Theater, Film, Fernsehen, Märchen, Musik, Traum, Science Fiction, zu spielen pflegen. Sie bietet Metaphern der Befreiung an, Symbole der Entgrenzung. Sie imaginiert, was uns fehlt. Sie gibt uns Niedergedrückten eine Ahnung davon, von welchen Gipfeln der erlöste Mensch um sich schauen würde, eine Ahnung dessen, was ersehnt wird, wenn von „Auferstehung“ gesprochen wird. Wer das Wort „Auferstehung“ eliminiert haben will, der eliminiert zu leicht auch die Vision der Erlösung. Wenn vor dem Forum der Aufklärung vielleicht die reale Hoffnung auf Auferstehung verloren ist, so doch nicht die Sehnsucht nach ihr. Wenn nicht im Geiste wissenschaftlicher Gewißheit, so doch im Geiste der Sehnsucht dürfen wir die Leere, von der Habermas spricht, nach wie vor füllen, indem wir singen wie die 144000 auf dem Berg. 11 Die katholische Liturgie einst und jetzt Osternacht, schwäbisch, um 1958. Die Ratschenbuben laufen durch das Dorf, mit lärmendem Singsang und häßlichem Schnarren die Glocken ersetzend, die in der Karwoche schweigen müssen. Der Kirchhof schwarz von Menschen. Ein hochaufgetürmter Scheiterhaufen, Reisig, Zaunlatten, Besenstiele, Pfähle und Balken. Der Boden liegt voller Ketten, die sich sternförmig im umstehenden Volk verlieren. Stille. Ein leises Picken: es wird Feuer geschlagen. Nach kurzem Knistern lodert eine meterhohe Flamme gen Himmel. Der Priester waltet seines Amtes, betet, segnet, räuchert und weiht, entzündet schließlich eine Kerze am Feuer. Feierlich schreitet er zum Portal und zieht in die nachtdunkle Kirche ein, wo schweigend die Menge harrt. Er trägt sein einsames Kerzenflämmchen, bleibt stehen, singt „Lumen Christi“, die Gemeinde antwortet „Deo gratias“, er entzündet die Kerzen des Volkes an der seinen. Er schreitet weiter, singt höher, entzündet weiter, singt und entzündet ein drittes Mal, bis er, am Altar angekommen, die Osterkerze erstrahlen läßt, der Diakon das Exsultet anstimmt, jubelnd „O felix culpa, quae talem ac tantum meruit habere redemptorem“ - „O glückliche Schuld, die einen so großen Erlöser zu erhalten verdiente! “ - bis dann die Orgel aufbraust und alle Glocken läuten. Draußen fällt währenddessen das Feuer im Nu zusammen, denn die Ketten enthüllen jetzt ihren Sinn, die Burschen des Dorfes ziehen daran nach allen Seiten glühende Hölzer heraus, galoppieren damit wie die Rasenden davon, zucken wie Irrlichter über den nächtlichen Kirchhof, rasseln zwischen den Beinen der in die Kirche Drängenden hindurch, nach Hause, um dort mit der geweihten Glut das Herdfeuer anzuzünden. Osternacht, Maingebiet, Jahrzehnte später. Eine restaurierte gotische Kirche. Wo das Osterfeuer sei? Erst nach mehrmaligem Fragen wußte es einer. Draußen in einem Winkel stand ein Priester vor einem kleinen eisernen Töpfchen, einer Art Kanonenofen ohne Deckel, und verrichtete seine Zeremonien. Das Volk fehlte. Der Priester zog ein, sang „Christus, das Licht“, aber heller konnte es dadurch nicht werden, denn das elektrische Licht war schon vorher an. Die Orgel hatte das „Dank sei Gott“ anstimmen geholfen und war dann beim Gloria sowenig eine Überraschung wie die Glocken, die ohnehin schon zum Gottesdienst gerufen hatten. Vor bald fünfzig Jahren verkündete Papst Paul VI. die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie. Im Zeichen des Aggiornamento wollte sie den Gottesdienst modernisieren. Heute fragt man sich, ob „Aggiornamento“ nicht am besten mit „Anpassung“ zu übersetzen wäre. Könnte man die Liturgiereform als bloß revisionistische Anpassungskrise, als eine Art Sozialdemokratisierung Zur Mythologie des Singens 110 der Kirche verstehen? Sie machte den Katholizismus vernünftiger, aber auch ärmer. Sie pädagogisierte die Botschaft und ersetzte Zeichen durch Worte. Wo früher Stille war, wo ein lateinisch murmelnder Priester mit dem Rücken zum Volk mysteriöse Hantierungen vor der Altarwand vollzog, in der Regel keine Predigt hielt, sich nur manchmal mit einem aus dem rasenden Geflüster auftauchenden „Dominus vobiscum“ zu den Gläubigen umdrehte und sich nach Empfang der Antwort „Et cum spiritu tuo“ befriedigt wieder seinem Geschäft zuwandte, da wird nun ohne Pause geredet, deutsch und verständlich und leider häufig ziemlich platt. Wie gut war es manchmal, nicht zu verstehen! Wie ungeschickt wirkte plötzlich die Übersetzung „Und mit deinem Geiste“, während man sich an der lateinischen Formel nie gestoßen hatte. Aber war die alte Liturgie wirklich so zauberhaft? So poetisch, so ergreifend und erhaltenswert? Die liturgische Alltagspraxis der fünfziger und frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts war nur selten gewaltig, meistens ziemlich verkommen und gedankenlos. Die alte Liturgie war autoritär und volksfremd. Es gab viel Unwürdiges, viel Stilloses, Priester, die ihren Stolz dareinsetzten, eine Messe in dreizehn Minuten zu schaffen, andere, die ganz allein bezahlte Messen lasen: „Dominus vobiscum“ (Der Herr sei mit euch) riefen sie ab und zu den leeren Bänken zu. Die Umstellung auf die neue Liturgie geschah vielerorts ohne Verständnis. „Das Stufengebet und das Schlußevangelium fallen ab nächste Woche weg“, in dieser Tonart erklärte mancher seinem Kirchenvolk die Reform; Roma locuta, causa finita. Nach Geschlechtern getrennt, auch die Ehepaare, saß das Volk im Kirchenschiff, las Erbauliches, ging nicht zur Kommunion und sang nicht mit. Unter Männern herrschte der Brauch, erst zur „Opferung“ - heute Gabenbereitung - zu kommen, eine Weile verlegen hinter der Orgel zu stehen und während der Kommunion wieder zu gehen. Der alte Ritus begünstigte dies, wertete doch das im akademischen Teil des Kirchenvolkes weitverbreitete Meßbuch von Anselm Schott den einleitenden Gottesdienst bis zur Predigt als „Vormesse“ ab und ließ erst danach, überschrieben „Opfermesse“, das Eigentliche geschehen. Dieses Eigentliche war nicht das gemeinsame Mahl, sondern die Wandlung, der magische Augenblick, wenn die Hostie erhoben wird und die Ministranten klingeln. „Der Leib Christi“, spricht heute der Priester, wenn er dem Kommunionempfänger die gewandelte Hostie zeigt. Das klingt sehr direkt und archaisch. Man kann der Provokation schwerer aus dem Weg gehen als bei der früher üblichen klangvollen Formel „Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam“ („Der Leib unseres Herrn Jesus Christus bewahre deine Seele zum ewigen Leben“). Auf „Nahrung der Seele“ und „ewigem Leben“ lagen die Akzente. Der „Schott“ stellte für den Vorgang der Einverleibung des Gottes inflatorisch die Vokabel „Opfer“ zur Verfügung. „Meßopfer“ nennt er die Eucharistiefeier. Als Einleitung zum „Opfermahl“ (also zur Kommunion) schreibt er: „Wir haben Gott die vollkommenste Opfergabe dargebracht: seinen eingeborenen Sohn. Nun spendet uns Gott im Opfermahle Christi Zur Mythologie des Singens 111 Opferleib und Opferblut als kostbare Opferfrucht. Die Opferhandlung ist so aufs engste verbunden mit dem Opfermahl …“ (Ausgabe 1952). Ob je ein Mensch diesen Galimathias verstanden hat? Demgegenüber ist die Kommunion heute eine nüchterne Sache. Der Gemeinschaftscharakter, also der Charakter des Erinnerungsmahls an Jesu Abschiedsmahl mit den Jüngern, überwiegt bei weitem den Opfercharakter. Man läßt auch nicht mehr kniend und den Kopf in den Nacken gelegt die Zunge ausfahren wie Joachim Mahlke in „Katz ‚ und Maus“ von Günter Grass, damit Hochwürden Gusewski mit speichelbedecktem Daumen die leicht klebrige Oblate darauf plazieren kann, sondern man erhält stehend ein sympathisches Brotplätzchen in die ausgestreckte Hand gelegt. Die meisten Priester sind froh, daß sich die Handkommunion durchgesetzt hat. Ein bißchen unappetitlich war die Mundkommunion ja immer. Mancher Gläubige macht den Mund nicht richtig auf, mancher schnappt zu, mancher Priester hat zittrige Hände und trifft nicht so gut. Die alte Kommunion war mystisch, die neue ist sozial. Und sie hat tatsächlich die Massen erreicht. Man findet den Gang zum Altar nicht mehr genierlich. Der Kommunionempfang ist heute die Regel, früher war er die Ausnahme. „Mindestens einmal im Jahr, und zwar in der österlichen Zeit“, lautete die Vorschrift. Die strengen Nüchterhheitsgebote taten ein übriges, den Kommunionempfang selten zu machen. Man sollte seit Mitternacht, in den fünfziger Jahren dann noch wenigstens die letzten drei Stunden vorher nichts gegessen haben. Als frommer Mensch ging man deshalb ohne Frühstück in die Frühmesse. Mit diesen Vorschriften hingen heute kaum noch nachvollziehbare Reinheitsvorstellungen zusammen. Der nüchterne Magen war das gereinigte Haus, das Christus gern betrat. Diese Auffassung wurde unterstützt von der Beichterziehung jener Jahre. Außer der Nüchternheit war ja eine weitere Voraussetzung des Kommunionempfangs, daß man sich „im Stande der Gnade“ befand. Mit drohendem Unterton sprach der Herr Pfarrer im Kommunionunterricht: Wer unwürdig zum Tisch des Herrn geht, der ißt und trinkt sich das Gericht (nach 1. Kor. 11, 29). Was tun? Für alle Fälle: beichten. Die Beichte reinigt das Kleid der Seele, fleckenlos und strahlend ist es danach. Alle Voraussetzungen erfüllt, war es dann allerdings ein stolzes Gefühl, zur Kommunion zu gehen, vermutlich ein höheres als heute. Der alte Gottesdienst war mystisch, der neue ist sozial orientiert. Die alte Liturgie war mönchisch und klerikal, die neue tendiert zur geselligen Veranstaltung mit Schwätzchen vorher und Kaffeeklatsch nachher. Die alte wurde autoritär von oben verordnet, die neue lernt allmählich, auf die Erfahrung von unten zu hören. Einst war die Vertikale bestimmend, heute die Horizontale. Die Traditionalisten verlangen von ihren Anhängern, daß sie „auf die waagrechte Dimension - Händeschütteln und ähnliches - nicht eingehen“. Das ist eine Anspielung auf den sogenannten Friedensgruß, den der Priester Zur Mythologie des Singens 112 früher nur mit dem Diakon tauschte, während er heute die Gemeinde aufzufordern pflegt. „Gebt einander ein Zeichen des Friedens.“ Der mystisch und individualistisch, auf die Zwiesprache mit Gott und nicht mit seinem zufälligen Banknachbarn eingestellte Gläubige wird beim daraufhin üblichen Rundum-Hände-schütteln ein Gefühl des Unbehagens und verlegener Peinlichkeit nicht recht los. Viele aber sehen in dieser Geste den lebendigsten Teil der neuen Liturgie, gerade weil sie die Distanz aufhebt und dazu veranlaßt, Leuten, die man kaum oder gar nicht kennt, ins Auge zu schauen. Es gibt die verschiedensten Friedensgruß-Typen. Der Bürger alter Art streckt zögernd die Hand aus und lächelt scheu dazu, der Strahlemann-Typus drückt die Hand fest wie beim Rütlischwur und blickt einem mit kerniger Treuherzigkeit ins Auge, der geschulte Kirchgänger wickelt die Sache geschäftsmäßig ab, ungefähr so, wie ein Firmenchef die Teilnehmer der morgendlichen Lagebesprechung begrüßt, und viele Jugendliche fallen sich um den Hals. Auf jeden Fall wird an dieser Stelle eine individuelle Reaktion erwartet. Der Ritus ist nicht mehr kollektiver Mitvollzug eines objektiven Geschehens, sondern privates Handeln von Individuum zu Individuum. Ähnliches gilt für die Fürbitten. In manchen, insbesondere studentischen Gottesdiensten sind sie zur Freistatt der privaten Anliegen geworden. Die Gemeinde betet heute für Rüdiger, daß er sein Examen besteht, für Nachbars kranke Tante und besonders häufig für sich selbst, daß Gott sie zu irgendeiner gerade aktuellen Einsicht bringen möge. Die alte römische Liturgie hingegen formulierte ihre Fürbitten diskret, objektiv und allgemein: „Lasset uns beten, Geliebte, zu Gott, dem allmächtigen Vater, daß er die Welt von allen Irrtümern reinige, Krankheiten hinwegnehme, Hungersnot abwehre, die Kerker öffne, die Fesseln löse, den Pilgern Heimkehr, den Siechen Genesung, den Schiffbrüchigen den rettenden Hafen schenke.“ Trotz allem ist die Gesamtbilanz der Liturgiereform positiv. Im Vergleich zu dem dramatischen Rückgang des Gottesdienstbesuchs im protestantischen Bereich hat die katholische Liturgie ihre Anziehungskraft bewahrt. Die Besucherzahlen weisen auf einen noch halbwegs stabilen Kern. Viele Gottesdienste sind voll, und die Gläubigen nehmen aktiv an ihnen teil. Die Verluste der neuen Liturgie werden durch die Gewinne mehr als wettgemacht. Zwar weinen katholische Akademiker nach jedem Meßbesuch im Ausland dem Kirchenlatein eine Träne nach. Sie sollten aber nicht vergessen, daß die Mehrzahl der Gläubigen früher während der Messe Andachtsbücher las und der murmelnde Priester vorne genausogut das Einmaleins hätte aufsagen können. Die Liturgiereform allein kann freilich den Glaubwürdigkeitsverfall der Kirche nicht aufhalten, solange andere Reformen ausbleiben. Sie hat neue Tapeten geklebt, während der Dachstuhl brennt. Sie war ihrem Grundimpuls nach aufklärerisch orientiert. Heute aber verläuft die Entwicklung rückwärts. Viele Katholiken suchen wieder nach dem Heiligen und Mystischen, nach dem Geheimnis, nach Erweckungserlebnissen und höchstpersönlichen Zur Mythologie des Singens 113 Gnadenerfahrungen. Sie sehnen sich nach einer Offenbarung, die dem Leben in einer unüberschaubar gewordenen Welt Orientierung verspricht. Jedoch: Glauben und Glaubenwollen sind zweierlei. Die rechtskatholischen Fundamentalisten verwechseln ihre Unterwerfungsbereitschaft mit Glauben und halten die masochistische Lust, die aus der Knechtung des eigenen Verstandes zu entstehen pflegt, für Demut. Die Theoretiker der Postmoderne hingegen finden es selbstverständlich, daß man ungläubig ist. Das Dogmen- und Ritengebäude der katholischen Kirche ist für sie nur eine große Erzählung. Sie meinen das nicht abschätzig. Da sie ohnehin keine absolute Wahrheit kennen, ist eine große Erzählung so gut wie die andere, ist die kirchliche Erzählung im Prinzip gleich legitim wie das Dogmengebäude der Aufklärung. Die postmoderne Gelassenheit in bezug auf Religion und Religionskritik kann ein sehr aufgeschlossenes Verhältnis zur Liturgie nach sich ziehen. Die heutige Liturgie ist der Restbestand eines früher einmal sehr leistungsfähigen Lebensstabilisierungssystems. Die uns noch verbliebene Gliederung der Woche durch den Sonntag ist ein Teil der großen Zeitordnung, die einmal zu jedem Tag und zu jeder Tageszeit eine Geschichte, einen Heiligen, einen Sinn und eine Mahnung wußte. Das Kirchenjahr hatte die Zeiten gegliedert, der weihnachtlichen, der österlichen oder der Fastenzeit eine je verschiedene Stimmung gegeben und so das tödliche Gleichmaß, die Langeweile, den Überdruß und den Lebensekel verhindert. Das Interesse an solchen Regelsystemen, die der Sinnlosigkeitserfahrung des modernen Lebens Paroli bieten können, muß zwangsläufig immer weiter wachsen. In welchem Maß können sie auch ohne „Glauben“ ihre Funktion erfüllen? Könnte auch ein „Ungläubiger“ das erhabene Schau-Spiel der heiligen Messe mitspielen im Geiste seiner Regeln und im tröstlichen Takt seiner Tradition? Der Schatz der liturgischen Formeln und Lieder, Gesten und Bräuche hat einen kulturellen und poetischen Wert, ganz unabhängig von irgendwelchen Fragen des Dogmas. Als bedeutender Teil unserer Kulturgeschichte ist die Liturgiegeschichte eine Entdeckung wert. II. Gattung und Gattungsgeschichte 12 Ermuntre dich, mein schwacher Geist (Johann Rist, 1641) Ein erbauliches Lied und seine Rezeption Ausgangspunkte Der Begriff Erbauung läßt sich, da biblisch, natürlich nicht auf die frühe Neuzeit einschränken, entwickelt aber zwischen 1600 und 1750, in der Zeit von der „neuen Frömmigkeit“ 1 des frühen 17. Jahrhunderts (etwa bei Johann Arndt) bis zum Pietismus des 18. eine besonders markante Ausprägung, von der hier ausgegangen werden soll. Der Begriff bezeichnet in dieser Zeit nicht mehr, wie im Neuen Testament, vorwiegend die Auferbauung der Gemeinde, sondern die individuelle Erbauung des inneren Menschen, der zu einer Wohnstätte Christi werden soll. „Daher werden die wahren Christen genennet GOttes Tempel, in welchen nemlich Gott der H. Geist seinen Sitz hat“ - so definiert, eine Gebäudemetapher zu Hilfe nehmend, das Zedlersche Universal-Lexicon. 2 Die Erbauung zielt auf die innerliche Aneignung des Glaubens, auf eine religiöse Kultur des Herzens und eine Belehrung des Verstandes. Auf der Suche nach einem für die Erbauung und ihre Geschichte repräsentativen Lied bin ich ausgegangen von den Liedern, die bis heute im Evangelischen Gesangbuch stehen, weil ich die Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart verfolgen wollte. Innerhalb dieser Gruppe sollte es sich um ein möglichst frühes Lied aus dem oben genannten Zeitraum handeln. Ferner sollte es thematisch dem Komplex Erbauung deutlich zuzuordnen sein. Diese Kriterien führten rasch zu Johann Rist (1607-1667), der mit immerhin noch fünf Liedern im Stammteil des EG (seit 1993) und mit deren acht im Stammteil des EKG als prototypischer Autor für das frühe Erbauungsliedgut gelten kann. 3 Irmgard Scheitler zählt ihn zur protestantischen Reformortho- 1 Zum forschungsgeschichtlichen Kontext dieses Begriffs s. Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Vox - Sermo - Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Festschrift Uwe Ruberg, hrsg. v. Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber und Rudolf Voß, Stuttgart/ Leipzig 2001, S. 143-168, hier S. 159. 2 Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste […], Band 8, Halle und Leipzig 1734, Sp. 1478. 3 Er soll 658 Lieder gedichtet haben (vgl. Krummacher 2001, S. 143 Anm. 4). Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 118 doxie 4 und zitiert als Beleg dafür, daß die Hausandacht der primäre Sitz im Leben dieser Lieder sei, das Titelblatt einer Ristschen Liedersammlung, in der die „WiederErbauung des zerfallenen Christenthumes und Erneürung des inwendigen Menschen“ als Ziel des Werkes genannt sind. 5 Neuere Forschungen, vor allem der gründliche Rist-Aufsatz von Hans-Henrik Krummacher bestätigten die Repräsentanz dieses Autors für das Thema Erbauung. 6 Sententia communis in der Barockforschung sind inzwischen die Kriterien, wie solche Lieder zu analysieren sind, nämlich nicht subjektivistisch, im Sinne der älteren Arbeiten, die im Pietismus die Ursprünge der bürgerlichen Psychologie vermuteten und diese Einschätzung nach rückwärts in die Erbauungsliteratur der neuen Frömmigkeit verlängerten. Scheitler wie Krummacher betonen dagegen zu Recht, daß Rist zweifelsfrei zur lutherischen Orthodoxie zu zählen sei, 7 nicht zu irgendeinem psychologistischen Frühpietismus, daß es sich um persuasorische Affektrhetorik handle und daß es deshalb der Kenntnis der rhetorischen Traditionen bedürfe, um seine Art der Affektbehandlung zu verstehen. Unter den fünf EG-Liedern, die in Frage kamen, konzentrierte sich die Arbeit nach ersten wirkungsgeschichtlichen Stichproben bald auf Brich an, du schönes Morgenlicht, und zwar deshalb, weil es sich um den Restbestand eines großen Liedes handelt, das sein Initium verloren hat: Brich an ist die neunte Strophe von Ermuntre dich, mein schwacher Geist. 8 Dieses Lied nun hat eine breite Tradition in den evangelischen Gesangbüchern (während es zu einer katholischen Rezeption nie gekommen ist). Zuerst 1641 gedruckt, 9 verbreitet es sich sehr schnell, findet sich zum Beispiel spätestens seit 1674 in der auflagenstarken *Praxis Pietatis Melica, die auch die Lieder Paul Gerhardts verbreitete, steht seit 1704 im wichtigsten Gesangbuch des Halleschen Pietismus (dem viele Jahrzehnte lang gedruckten und weithin ausstrahlenden *Freylinghausenschen Gesangbuch), gehört jahrhundertelang zum Liedbe- 4 Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock, Berlin 1982, S. 270 u. ö. 5 Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik […], Lüneburg 1654 (komplette Wiedergabe des wortreichen Titelblatts bei Scheitler 1982, S. 424). 6 Daß Rist „Vermittlung von Erbauung als Wirkung seiner Lieder anstrebt, versteht sich dabei nahezu von selbst.“ (Krummacher 2001, S. 158, vgl. auch die Seiten 145, 155 und 163) 7 Scheitler 1982, S. 270; Krummacher 2001, S. 163. 8 Im vierten Heft der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch (Göttingen 2002) ist ein Beitrag von Eberhard Schmidt erschienen über Brich an, du schönes Morgenlicht und Ermuntre dich, mein schwacher Geist. Dort finden sich eine theologische, biblische und musikalische Erschließung des Liedes, die hier nicht wiederholt werden soll, ferner Hinweise auf die wichtigste Forschungsliteratur. 9 Als Nr. II in Johann: Risten H. P. Himlischer Lieder Mit sehr anmuthigen, mehreren theils von Herrn Johann: Schopen gesetzten Melodeyen. Das Erste Zehen. Lüneburg 1641. Hier zitiert nach *Fischer-Tümpel II, 169-170. Alle mit * versehenen Kürzel werden im Quellenverzeichnis am Schluß dieses Aufsatzes aufgelöst. Alle im folgenden verwendeten Gesangbücher sind zu finden in der Gesangbuchsammlung des Interdisziplinären Arbeitskreises Gesangbuchforschung der Universität Mainz. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 119 stand der *Herrnhuter Brüdergemeine, 10 steht aber auch im *Berliner reformierten Gesangbuch von 1700, ferner in den *Leipziger, den *Dresdener, den *Königsberger Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts 11 und in vielen weiteren. Seit 1765 dringt eine aufklärerische Umdichtung in die Liedüberlieferung ein, die, teils im Kampf mit der alten Fassung liegend, teils sich mit ihr verschränkend, ein Jahrhundert lang das Feld beherrscht. Die alte Fassung, die in bestimmten Sondertraditionen lebendig geblieben war, kehrt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich zurück, um im 20., wenngleich gekürzt, wieder allein das Feld zu beherrschen. Wir wollen an diesem Beispiel zeigen, was „Erbauung“ in einem konkreten Fall genau bedeutet hat und wie sich diese Bedeutung wandelte. Die Fassung des Erstdrucks In der linken Spalte findet sich der Erstdruck von 1641, in der rechten parallel gedruckt eine der typischen Gesangbuchversionen dieser Fassung, wie sie sich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert immer wieder ausbilden. Sie weisen in der Regel kleine Bearbeitungen (in unserem Beispiel fett gedruckt) und fast stets eine größere Kürzung auf (Strophen 7 bis 9). Rist 1641 *Magdeburg 1851 1. Ermuntre dich, mein schwacher Geist, Ermuntre dich, mein schwacher Geist, Vnd trage groß Verlangen, und trage groß Verlangen, Ein kleines Kind, das Vater heisst, ein kleines Kind, das Vater heißt, Mit Frewden zu empfangen. mit Freuden zu empfangen. Diß ist die Nacht, darin es kam Dieß ist die Nacht, darin es kam, Vnd menschlich Wesen an sich nam, und menschlich’s Wesen an sich nahm, Dadurch die Welt mit Trewen dadurch die Welt mit Treuen Als seine Braut zu freyen. als seine Braut zu freyen. 10 Sammlung Geistlicher und lieblicher Lieder, Eine grosse Anzahl der Kern=vollesten alten, und erwecklichsten Neuen Gesaenge enthaltend, Leipzig 1725 (Berthelsdorfer Gesangbuch). Herrnhut und Görlitz 1731 (Marchesches Gesangbuch). Alt= und Neuer Brueder=Gesang. London 1749-54. (Londoner Gesangbuch). Alle im Folgenden mit * markierten Titel werden im Quellenverzeichnis am Ende dieses Aufsatzes bibliographisch entschlüsselt. 11 Des Koenigs und Propheten Davids Geistreiche Psalmen … wie auch Anderer gottseligen und Christ=lichen Leute Geistliche Lieder/ und Psalmen, *Berlin 1700; Musicalisches Gesang=Buch, Darinnen 954 geistreiche, sowohl alte als neue Lieder und Arien, *Leipzig 1736; Das privilegirte Vollstaendige und vermehrte Leipziger Gesangbuch, *Leipzig 1753; Auserlesenes und vollständiges Gesang=Buch, *Dresden 1758; Das Privilegirte Ordentliche und Vermehrte Dreßdnische Gesang=Buch, *Dresden und Leipzig 1785; Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder, die in denen Preußischen Kirchen gesungen werden, *Königsberg 1763. Weitere Auflagen 1776, 1787. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 120 2. Willkomm, O süsser Bräutigam, Willkommen, süßer Bräutigam, Du König aller Ehren, du König aller Ehren! Willkomm, O Jesu, Gottes Lamb, willkommen, Jesu! Gottes Lamm! Ich wil dein Lob vermehren. ich will dein Lob vermehren; Ich wil dir all mein Lebenlang ich will dir all’ mein Lebelang Von Hertzen sagen Preiß vnd Danck, von Herzen sagen Preis und Dank, Daß du, da wir verlohren, daß du, da wir verloren, Für vns bist Mensch geboren. für uns bist Mensch geboren. 3. O grosser Gott, wie könt es seyn, O GOttes Sohn! wie konnt’ es seyn, Dein Himmelreich zu lassen, dein Himmelreich zu lassen, Zu springen in die Welt hinein, zu kommen in die Welt hinein, Da nichts denn Neid und Hassen? da nichts denn Neid und Hassen? Wie kondtest du die große Macht, wie konntest du die große Macht, Dein Königreich, den Frewden-Pracht, dein Königreich, die Freudenpracht, Ja, dein erwündschtes Leben ja, dein erwünschtes Leben Für solche Feind’ hingeben? für solche Feind’ hingeben? 4. Ist doch, HERR Jesu, deine Braut Ist doch, HErr JEsu, deine Braut Gantz arm und voller Schanden; ganz arm und voller Schanden; Noch hast du sie dir selbst vertrawt noch hast du sie dir selbst vertraut Am Creutz’ in TodesBanden. am Kreuz in Todes Banden. Ist sie doch nichts als Vberdrus, der Sünde Fluch und Finsterniß Fluch, Vnflath, Todt vnd Finsternus; stürzt sie tief in Bekümmerniß, Noch darff sie jhrent wegen doch wagst du’s, ihrentwegen Den Scepter von dir legen! dein Zepter abzulegen. 5. Du Fürst vnd Herrscher dieser Welt, Du Fürst und Herrscher aller Welt, Du Friedens-Wieder-Bringer, die Friedenswiederbringer, Du kluger Rath vnd tapffrer Held, du kluger Rath und tapfrer Held, Du starcker Hellen-Zwinger, du starker Höllenzwinger! Wie ist es müglich, daß du dich wie ist es möglich, daß du dich Erniedrigest so jämmerlich, erniedrigest so jämmerlich, Als wärest du im Orden als wärest du im Orden Der Bettler Mensch geworden? der Bettler Mensch geworden? 6. O großes Werck, O Wundernacht, O großes Werk, o Wundernacht, Dergleichen nie gefunden! dergleichen nie gefunden, Du hast den Heyland hergebracht, du hast den Heiland hergebracht, Der alles überwunden; der alles überwunden! Du hast gebracht den starcken Mann, Du hast gebracht den starken Mann, Der Fewr vnd Wolken zwingen kan, der Feu’r und Wolken zwingen kann, Für dem die Himmel zittren vor dem die Himmel zittern, Vnd alle Berg’ erschüttren. und alle Berg’ erschüttern. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 121 7. O bleicher Mond’, halt eiligst ein Den blassen Schein auff Erden, Wirff deinen Glantz zum Stall’ hinein: Gott soll geseuget werden. Ihr hellen Sterne, stehet still Vnd horcht, was ewer Schöpffer wil, Der schwach vnd vngewieget In einem Kriplein liget. 8. Du thummes Vieh, was blökest du Dort bey des HErren Mutter? Immanuel hält seine Ruh’ Allhie auf dürrem Futter. Dem alle Welt sol dienstbar seyn, Ligt hier, hat weder Brodt noch Wein; Die Wärme muß er meiden, Frost, Blöss’ vnd Hunger leiden. 9. Brich an, du schönes MorgenLiecht, Vnd laß den Himmel tagen. Du Hirten-Volck, erschrecke nicht, Weil dir die Engel sagen, Daß dieses swache Knäbelein Sol vnser Trost vnd Frewde seyn, Dazu den Sathan zwingen Vnd letzlich Frieden bringen. 10. O liebes Kind, O süsser Knab’, O liebstes Kind, o süßer Knab’! Holdselig von Geberden, holdselig von Geberden, Mein Bruder, den ich lieber hab’ mein Bruder, den ich lieber hab’, Als alle Schätz’ auff Erden: als alle Schätz’ auf Erden! Komm, Schönster, in mein Hertz’ hinein, komm, Schönster, in mein Herz hinein, Komm eiligst, laß die Krippen sein, komm eilend, laß die Krippe seyn! Komm, Komm, ich wil bey zeiten komm, komm, ich will bey Zeiten Dein Lager dir bereiten. dein Lager dir bereiten. 11. Sag’ an, mein Hertzens-Bräutigam, Sag an, mein Herzensbräutigam, Mein’ Hoffnung, Frewd’ und Leben, mein’ Hoffnung, Freud’ und Leben, Mein edler Zweig aus Jacobs Stamm, mein edler Zweig aus Jacobs Stamm, Was sol ich dir doch geben? was soll ich dir doch geben? Ach nimb von mir Leib, Seel’ und Geist, Ach! nimm von mir Leib, Seel’ und Geist, Ja alles, was Mensch ist vnd heisst. ja alles, was Mensch ist und heißt; Ich wil mich gantz verschreiben, ich will mich ganz verschreiben, Dir ewig trew zu bleiben. dir ewig treu zu bleiben. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 122 12. Lob, Preiß vnd Danck, HErr Jesu Christ, Lob, Preis und Dank, HErr JEsu Christ, Sey dir von mir gesungen, sey dir von mir gesungen, Daß du mein Bruder worden bist daß du mein Bruder worden bist, Vnd hast die Welt bezwungen. und hast die Welt bezwungen; Hilff, daß ich deine Gütigkeit hilf, daß ich deine Gütigkeit Stets preis’ in dieser Gnaden-Zeit stets preis’ in dieser Gnadenzeit, Vnd mag hernach dort oben und mög’ hernach dort oben, In Ewigkeit dich loben. in Ewigkeit dich loben. Strophe 1 beginnt mit der Aufforderung zur Erbauung des inneren Menschen - Ermuntre dich - und zur Entwicklung geistlicher Affekte - trage groß Verlangen, und gibt das Thema an, auf das sich das Verlangen, die Erbauung beziehen soll: Ein kleines Kind […] mit Freuden zu empfangen. Es geht um Weihnachten, die Menschwerdung, die Brautschaft des Kindes mit der Welt. Das Ermuntre dich bildet das Vorzeichen des gesamten Textes, der als rhetorischer Selbstappell und als szenische Imagination auf der Bühne der Einbildungskraft verstanden werden kann. Die Strophen 2-11 malen dann im einzelnen aus, was den schwachen Geist ermuntern, das Verlangen steigern kann. Dabei lassen sich hauptsächlich fünf Isotopieebenen, d. h. Gruppen von Bildern, Vorstellungen und Argumenten unterscheiden. Die erste ist die gewohnt weihnachtliche vom Jesusknaben: Kind, Nacht, Kripplein, Vieh, Futter, Hirten, Knäbelein sind ihre Textsignale; sie finden sich vor allem in den Strophen 1, 7, 8, 9, 10. Die zweite Ebene ist dazu gegenteilig: Jesus nicht als Kind, sondern als göttlicher Herrscher, zu ihr gehören die Metaphern Vater, König, großer Gott, Königreich, Freudenpracht, Szepter, Fürst und Herrscher, kluger Rat, tapfrer Held, Höllenzwinger und der starke Mann, der Feur und Wolken zwingen kann; ihr Ort sind vor allem die Strophen 1 sowie 2-6; zu ergänzen ist Immanuel aus Strophe 8. Die dritte Schicht ist die brautmystische, zu ihr gehören die Bilder der Welt als Braut (Str. 1, Str. 4) und des Jesuskindes als Bräutigam (Str. 2) und Herzensbräutigam (Str. 11), die Anrede als Schönster und das Komm, komm, ich will beizeiten / dein Lager dir bereiten (Str. 10), die Frage nach Geschenken und das Verlobungsversprechen Ich will mich ganz verschreiben, / dir ewig treu zu bleiben (Str. 11). Diese Isotopieebene schlägt eine Art Bogen vom Anfang zum Ende. Die vierte Bildschicht gehört streng genommen zur ersten, weihnachtlichen: Es sind die Naturbilder des Mondes, der dem Kinde, das gestillt wird, leuchten soll, der Sterne, die innehalten sollen, des Viehs, das zu blöken aufhören soll, des Morgens, der Licht bringen soll (Strophen 6-9). Die fünfte Isotopie endlich charakterisiert die Welt mit Vokabeln wie Neid und Hassen, Feind’, arm und voller Schanden, Überdruß, Fluch, Unflat, Tod und Finsternis, zu ihr gehören bildlich auch die Wörter Bettler, schwach und ungewieget, Frost, Blöß’ und Hunger. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 123 Es handelt sich also um sehr widersprüchliche Bildschichten. Sie könnten als Katachresen, ja, als Stümperei wirken, wenn nicht an verschiedenen Stellen zu erkennen wäre, daß es Rist genau auf die Paradoxien ankam, die die Kombination dieser Bildwelten erbringen mußte. Das dumme Vieh wird mahnend auf eine solche Paradoxie hingewiesen: Immanuel hält seine Ruh allhie auf dürrem Futter (8,1-4, Kombination von Bildschicht 1, 2 und 4). Auch Ein kleines Kind, das Vater heißt (1,3) zeigt die Paradoxie als rhetorisches Prinzip dieses Lieds (Bildschicht 1+2), das Kind, das eine erwachsene Braut freien will (Bildschicht 1+3) ebenfalls. Die Strophen 3-5 entfalten die Theologie der Erniedrigung als Paradox (Bildschichten 2 und 5): „Wie konntest du nur? “ Wie ist es möglich, daß du dich / erniedrigest so jämmerlich, / als wärest du im Orden / der Bettler Mensch geworden? (5,5-8) Strophe 6 identifiziert, die Bildschichten 1 und 2 mischend, das in der Wundernacht geborene schwache Knäbelein (9,5) als starken Mann, vor dem Himmel und Berge zittern. Ein Paradox ist auch (Mischung von Bildschicht 3 und 5), die Welt als Braut zu freien (1,7-8), ja, sich mit ihr am Kreuz zu vermählen (hast du sie dir selbst vertraut am Kreuz in Todesbanden, 4,3-4) denn diese Welt ist doch arm und voller Schanden (4,2), ein Grund für die Liebe zu ihr nicht zu erkennen. Als strukturierendes Prinzip und theologische Basis des ganzen poetischen Gebäudes ist das in der Mitte stehende Erniedrigungsparadox zu betrachten. Während die Strophen 2-11 das Ermuntre dich in die Imagination einer bevorstehenden Hochzeit münden lassen (Dein Lager dir bereiten, Ich will mich ganz verschreiben, 10,8; 11,7), blickt die Dankstrophe 12 zurück - allerdings nicht auf eine Hochzeit, sondern auf ein ganz anderes Ergebnis: Daß du mein Bruder worden bist. Die Folge dieser Ehe ist Bruderschaft - wieder ein Paradox. Zeitlich richtet sich die rhetorische Imagination der Binnenstrophen auf das Damals der Wundernacht, während die Schlußstrophe vom Heute der Gnadenzeit aus in die Zukunft spricht. Die Erbauung zielt darauf, am Tag des Weihnachtsfests durch umfassende Imagination ein früheres Ereignis in die Gegenwart zu zwingen, um, ausgestattet mit diesem Als ob, die Wirklichkeit dieser Welt zu bewältigen und zu überwinden. Die Umdichtung der Aufklärungszeit Es ist der reiche, zu Paradoxien gebündelte Bilderschatz, der das Wesen dieses Liedes ausmacht. Die Wirkungsgeschichte zeigt, daß die poetischen Zumutungen dieser Struktur einer trägen Gemeindepraxis nicht standzuhalten vermochten. Bereits im 17. Jahrhundert verschwand durch ersatzlose Strophenstreichung fast stets 12 Bildschicht 4, beginnend mit Str. 8 (wo of- 12 Ausnahmen sind Johann Kruegers Neu zugerichtete *PRAXIS PIETATIS MELICA in der Ausgabe von 1703 und das Neu eingerichtetes Sachsen=Weimar=Eisenach= und Jenaische Gesang=Buch […]. *Weimar 1783. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 124 fenbar Du dummes Vieh besonders unerträglich schien), und beinahe immer verschwanden dann auch die Strophen 7-9 13 , manchmal auch Str. 6 mit sich reißend. Davon abgesehen bleibt das Lied bis zu den aufklärerischen Gesangbuchreformen relativ konstant, mit Ausnahme von kleinen Korrekturen, Säuberungen und Verdeutlichungen. So wird Finsternis aus Finsternus, manchmal, um den Reim zu erhalten, dann Überdrieß aus Überdruß (4,5-6). Der logisch unklare Vers 4,7 ist fast stets korrigiert, in der Regel zu Noch darfst du ihretwegen, wobei die Redaktoren sich stützen können auf eine Lesart in einem von Rist später selbstveranstalteten Nachdruck, in dem die Zeile heißt Und du magst jhrentwegen. 14 Der Sinn ist dann: Obgleich die Welt nur Unflat etc. ist, mochtest du das Szepter wegen ihr ablegen und ein schwaches Kind werden. Die aufklärerische Gesangbuchreform will offenbar auch von den übrigen Paradoxien nichts wissen. Johann Samuel *Diterich veröffentlichte in seinem Buch Lieder für den öffentlichen Gottesdienst (Berlin 1765) die folgende, im Berliner Raum 1780 bis 1844 15 verwendete Fassung (in der rechten Spalte die Nachfolgerfassung im *Schleiermacherschen Gesangbuch Berlin 1829): 16 *Diterich 1765 *Berlin 1829 1. 1. GOtt, deine Gnade sey gepreist! Ermuntre dich, mein schwacher Geist, Sie schuf uns Heil und Leben. und trage groß Verlangen, Ermuntre dich, mein träger Geist! den Heiland, den der Himmel preist, ihr Wohltun zu erheben. mit Freuden zu empfangen. Denk an die Nacht, da auf der Welt Dies ist die Nacht, in der er kam, des Höchsten Sohn sich eingestellt, und menschlich Wesen an sich nahm. um sein so theures Leben Er will durch sein Erscheinen für Sünder hinzugeben. uns ganz mit Gott vereinen. 2. [6.] 2. O große That! erwünschte Nacht! Willkommen, Held aus Davids Stamm, von Engeln selbst besungen! du König aller Ehren! Du hast den Mittler uns gebracht, Willkommen, Jesu, Gottes Lamm, der uns das Heil errungen. ich will dein Lob vermehren! 13 Johann Cruegers / Neu zugerichtete *PRAXIS PIETATIS MELICA: Das ist: Ubung der Gottseligkeit/ Jn Christlichen und trostreichen Gesaengen […]. Ausgabe Frankfurt 1674; Des Koenigs und Propheten Davids Geistreiche Psalmen […]. *Berlin 1700; Johann Anastasii *Freylinghausen Geistreiches Gesang=Buch […] in den Ausgaben Halle 1704 und 1741, ferner das *Porstsche Gesangbuch (vermutlich in allen Ausgaben, z. B. Berlin 1748, auch noch Berlin 1892). 14 *Fischer-Tümpel II, 170. 15 Vgl. die Ausgaben des *Mylius von 1780 bis 1844 (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich=Preußischen Landen, Berlin 1780. Weitere Auflagen z. B. 1810, 1830 und 1844). 16 Änderungen gegenüber Rist 1641 fett, Änderungen gegenüber *Diterich 1765 kursiv. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 125 In dir erschien der starke Held, Ich will dir all mein Lebelang der alles schuf, und alles hält, von Herzen sagen Preis und Dank, der Freund der Menschenkinder, daß du, da wir verloren, des Todes Ueberwinder. für uns bist Mensch geboren. 3. [5.] 3. [3.-4.] Der du zu uns, gesandt vom Herrn, O wie ist deine Huld so groß, aus deinem Himmel kamest, Ich kann sie nimmer fassen! und unser Fleisch und Blut so gern Du hast dich aus des Vaters Schooß in Demuth an dich nahmest! SOhn Gottes, o wie hast du dich so tief erniedrigt auch für mich! Wie arm bist du erschienen, um meinem Heil zu dienen. 4. [3. und 4.] O lehre mich den großen Werth von deiner Huld recht fassen! Was reizte dich auf dieser Erd, dich so herab zu lassen? zu uns herabgelassen. Hier warteten dein nichts als Noth, Hier warteten dein nichts als Noth, Verachtung, Kummer, Schmerz und Tod; Verachtung, Kummer, Schmerz und Tod; und doch kamst du auf Erden, und doch kamst du auf Erden, ein Menschensohn zu werden. der Menschen Heil zu werden. 5. [2.] 4. [6.] Noch stärker, Herr, als Schmerz und Tod O große That, o Wundernacht, war deine Menschenliebe. von Engeln selbst besungen! Du sahest unsre Sündennoth Du hast den Helfer uns gebracht mit mitleidsvollem Triebe. der Sünd’ und Tod bezwungen, Du stimmtest, unser Heil zu seyn, und jetzt, zur Herrlichkeit erhöht, in deines Vaters Rathschluß ein; herrscht auf dem Thron der Majestät, wardst Mensch, und kamst, mit Freuden, um Heil und ew’ges Leben für uns den Tod zu leiden. den Gläubigen zu geben. 6. 5. [10.] Immanuel! dein freu ich mich. O du, des Vaters ein’ges Kind, Du bist auch mein Erretter. du Hoffnung aller Frommen! Auch mir zum Troste sandte dich durch den nun Gottes Kinder sind, der Herr, der GOtt der Götter. die dich, Herr, aufgenommen. Was mir ein wahres Wohl verschafft, Komm, Jesu, in mein Herz hinein Erleuchtung, Friede, Beßrungskraft, und laß es deine Wohnung seyn; und Freuden, die stets währen, dahin geht mein Verlangen, willst du auch mir gewähren. dich würdig zu empfangen. 7. [11.] 6. [11.] Was soll ich dir, mein größter Freund! Du, deß sich meine Seele freut, für deine Treue geben? mein höchstes Gut, mein Leben, Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 126 Du bists, der mich mit Gott vereint, Was soll ich dir aus Dankbarkeit du bringst mir Heil und Leben. für deine Treue geben? Herr, was ich hab und was ich bin, Herr, was ich hab’ und was ich bin, das geb ich dir zum Dienste hin. das geb’ ich dir zu eigen hin. Ich will dich ohn Aufhören, mich soll kein Glück, kein Leiden mit Leib und Geist verehren. von deiner Liebe scheiden 8. 8. Zwar seh ich dich im Fleisch noch nicht; Noch sieht dich zwar mein Auge nicht, doch du wirst wiederkommen; doch du wirst wiederkommen; und dann schaun dich von Angesicht, dann schauen dich von Angesicht, HErr! alle deine Frommen. Herr, alle deine Frommen. Dann werd auch ich, HErr JESU Christ! Dann werd’ auch ich, Herr Jesu Christ, dich schaun so herrlich, als du bist. dich sehn so herrlich, wie du bist; Dann wirst du mich zum Leben, und ewig dich dort oben das bey dir ist, erheben. mit allen Sel’gen loben. Schon der Eingang zeigt die völlig andere Zielsetzung. Das Ermuntre dich verliert seine Stellung als Vorzeichen des gesamten Texts. Angeredet werden nun Gott (1. Strophe) und Christus (3.-8. Strophe). Lediglich in der zweiten Strophe wird mit der Anrede der „Nacht“ ein Rest der alten Imagination bewahrt. Der Geist ist nicht mehr schwach, sondern träg, aus der Grundbefindlichkeit der Erlösungsbedürftigkeit wird eine überwindliche Untugend. Das Verlangen fehlt, damit die emotionale Komponente, das Ermuntre dich gilt nicht mehr dem Verlangen, das Kind zu empfangen, sondern einer Aufforderung zum Gotteslob. Aus dem präsentisch-imaginativen Dies ist die Nacht wird das vergangenheitsorientierte Denk an die Nacht. Von der Bildschicht 1 (Weihnachtsszenerie) ist nur noch die Nacht geblieben, das Kind wurde zum Sohn Gottes, zum Mittler und zum Menschensohn, aus der bildstarken Legende werden theologische Formeln. Bildschicht 2 (der göttliche Herrscher) bewahrt nur noch der starke Held und Immanuel, wobei Immanuel von den Bearbeitern nach Diterich meist durch Sohn Gottes ersetzt wird. Da es das Kind nicht mehr gibt, ist auch die paradoxe Beziehung zwischen Kind und Held gelöscht. Die dritte, brautmystische Schicht ist völlig getilgt. An ihrer Stelle stehen Huld und Herablassung (4), Freundestreue und Dienstbarkeit (7). Die Sprecherrolle wurde damit vom Weiblichen zum Männlichen hin verschoben, der schwache Geist spricht nicht mehr als Braut. Die vierte Schicht (Mond, Sterne, Vieh, Morgen) fehlt ganz (mit Ausnahme der schon erwähnten Nacht), damit entfallen wieder Imaginationen zugunsten von Lehren. Die fünfte Schicht, die Welt als Fluch, Unflat, Überdruß, Frost, Blöße, Hunger, Tod und Finsternis ist abgeschwächt zu Not, Verachtung, Kummer, Schmerz und Tod (4). Am Rande sei erwähnt, daß es auch den Satan (9,7) und die Hölle (5,4) nicht mehr gibt. Die Eschatologie existiert nur noch als Erwartung der Wie- Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 127 derkunft Christi in Strophe 8. Ihr Hauptargument scheint das Zwar seh ich dich im Fleische nicht (später meist Zwar sieht dich hier mein Auge nicht), das die Imagination bestreitet und zurückweist, auf die Rist zielte. Auf dem Höhepunkt des Liedes „sieht“ Rist, er hat sich so erfolgreich ermuntert, daß er in seiner Imagination auf dem Schauplatz ist: Du dummes Vieh, was blökest du? Der Aufklärer aber „sieht“ nicht, sondern denkt nach. Lediglich das Erniedrigungsparadox ist geblieben, aber es ist metaphorisch entkräftet, da die Spannweite vom königlichen Herrscher, vor dem die Himmel zittern, zum Kind und schwachen Knäbelein fehlt. Der Sieg über Sünde und Tod scheint auch einfacher gewesen zu sein als bei Rist: Noch stärker, Herr, als Schmerz und Tod / war deine Menschenliebe. / Du sahest unsre Sündennot / mit mitleidsvollem Triebe. / Du stimmtest, unser Heil zu sein, / in deines Vaters Ratschluß ein; / wardst Mensch, und kamst, mit Freuden, / für uns den Tod zu leiden. 17 Die Wirkungsgeschichte der Diterichschen Fassung umspannt das gesamte 19. Jahrhundert. Freilich vermischt sie sich mehr und mehr mit Resten des ursprünglichen Texts, 18 so daß bald zahlreiche Fassungen kursieren. 19 Besonders das ursprüngliche Initium, dessen Tilgung Auffindbarkeit und Erkenn- 17 Das Mitleid als Motor der Menschwerdung ist eine Anwendung der Rousseauschen „bonté naturelle“ auf Jesus als den exemplarischen, d. h. in höchstem Maße mitleidsfähigen Menschen. Zur zentralen Rolle des Mitleids in der Aufklärung vgl. Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1980, z. B. S. 27-31. 18 Der in vereinzelten, aber durchaus mächtigen Gesangbuchtraditionen auch kontinuierlich überliefert wurde, wie vor allem im *Porst, dem Gesangbuch, mit dem die konservativen Kreise Preußens die Aufklärung zu untertunneln vermochten, ferner z. B. bei *Bollhagen (Heiliges Lippen= und Herzens=Opfer Einer glaeubigen Seele: Oder Vollstaendiges Gesang=Buch […]. Alten=Stettin 1809; weitere Auflagen 1862, 1869, 1872, 1886 und 1893). Außerdem im Vollstaendigen Gesang=Buch, in sich haltend 1000 geistreiche und auserlesene Lieder […]. *Magdeburg 1851. 19 So zum Beispiel in der Sammlung alter und neuer Lieder für das Königreich Preußen […]. *Königsberg 1870, wo sich die folgende, von Varianten überbordende Fassung findet: „1. Ermuntre dich, mein schwacher Geist! und trage groß Verlangen den, der mit Recht ein Heiland heißt, mit Freuden zu empfangen. Dies ist die Nacht, darin er kam und menschlich Wesen an sich nahm, um Trost uns zu verleihen, von Sünd’ uns zu befreien. 2. Mit treuer Liebe, hoch erfreut, will ich dich, HErr! verehren, ich will durch wahre Frömmigkeit dein Lob auch mit vermehren. Ich will dir, HErr, mein Lebenlang, von Herzen sagen Preis und Dank, daß du, da wir verloren, für uns bist Mensch geboren. 3. O HErr! wie konnt es möglich sein, den Himmel zu verlassen, zu übernehmen Angst und Pein! Wer kann die Liebe fassen! Wie konntest du die große Macht, dein Königreich, der Freuden Pracht, ja, dein so theures Leben für solche Welt hingeben? 4. Ist in der Welt, die GOtt gebaut, nicht Sünd’ und Noth entstanden? Wird jeder, der dem Laster traut, nicht elend und zu Schanden? Die Menschen wählen, ach gewiß, oft statt des Lichts die Finsterniß; und du willst ihretwegen den Scepter von dir legen? 5. Du Fürst und Herrscher dieser Welt, du willst es dahin bringen, daß unser Wandel GOtt gefällt; hilfst uns zum Himmel bringen. Für uns erniedrigest du dich, und lebst so arm und kümmerlich, als wärest du im Orden des Elend Mensch geworden. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 128 barkeit des Liedes zu sehr erschwert hatte, wird meistens wiederhergestellt. 20 Im *Schleiermacherschen Gesangbuch von 1829 kehren wesentliche Elemente wenigstens der 1. und der 2. Strophe zurück, wobei allerdings immer noch Kind durch das theologischere Heiland ersetzt wird und die Brautschaft nur noch als allgemeines mit Gott vereinen vorkommt. In der zweiten ist lediglich der Bräutigam gestrichen und durch Held aus Davids Stamm ersetzt, womit die zweite Bildschicht (Herrscher) gestärkt erscheint. Auch das Kind ist wieder da (5,1). Im übrigen hat sich ein dritter Bearbeiter eingemischt 21 und viele neue Elemente eingebracht wie zum Beispiel große Teile von Strophe 5, mit den Motiven Gottes Kinder, dem Verlangen, dich würdig zu empfangen und dem Komm, Jesu, in mein Herz hinein / und laß es deine Wohnung sein. 6. O heilige geweihte Nacht! von Engeln selbst besungen, du hast den Heiland uns gebracht; ihm ist das Werk gelungen. Du hast gebracht den starken Mann, der Sturm und Meer bezwingen kann. Was könnt’ uns so erschüttern, daß wir nun trostlos zittern? 7. Und doch, wie niedrig und wie klein erscheinest du auf Erden; tritts Kindern gleich ins Leben ein, das Heil der Welt zu werden. Mein Geist steht voll Bewundrung still, wenn er das Wunder sehen will, daß der so hilflos lieget, der doch die Welt besieget. 8. Erlöser, ach! wer sollte da nicht betend niederfallen? Die größte That, die je geschah, wie klein schien sie nicht Allen! Dem alle Welt soll dienstbar sein, tritt arm und schwach ins Leben ein, muß Glanz und Hoheit meiden, ja Noth und Mangel leiden. 9. Brich an, du schönes Morgenlicht, und laß den Himmel tagen; du Hirtenvolk! erschrick nur nicht, weil dir die Engel sagen, daß dieses Kind, jetzt schwach und klein, einst werde Trost und Retter sein, der Sünde Macht bezwingen und uns den Frieden bringen. 10. Dein bin und bleib ich bis in’s Grab. Im Glück und bei Beschwerden soll das, was ich an dir nun hab’, auch nie vergessen werden. Komm, Heiland, in mein Herz hinein und laß es deine Wohnung sein. Komm, komm, ich will bei Zeiten mein Herz dir zubereiten. 11. Du, der zu meiner Rettung kam, und mit dem Menschenleben auch all’ sein Elend übernahm, was könnt’ ich dir wohl geben? Ach, HErr, hier ist mein Leib und Geist, und alles, was das Meine heißt; dein Opfer soll es bleiben, und nichts von dir mich treiben. 12. Lob, Preis und Dank, HErr JEsu Christ! sei dir von mir gesungen, daß du ein Mensch geworden bist, und mir hast Heil errungen. Hilf, daß ich deine Gütigkeit stets preis’ in dieser Gnadenzeit, und mög’ hernach dort oben in Ewigkeit dich loben! 20 Nur selten ist Diterichs Initium erhalten geblieben, z. B. Fuerstlich Nassauisches neues verbessertes Gesangbuch […]. *Wiesbaden 1779; Neues Braunschweigisches Gesangbuch, nebst einem kurzen Gebetbuche, zum oeffentlichen und haeuslichen Gottesdienste […]. *Braunschweig 1779; im *Mylius (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich=Preußischen Landen […]. Berlin 1780 u. ö.); Christliches Gesangbuch zur Beförderung der öffentlichen und häuslichen Erbauung, für Neu=Vorpommern und das Fürstenthum Rügen […]. *Stralsund 1836; Eisleber Gesangbuch zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche. *Eisleben 1851. 21 Die Akten der damaligen Gesangbuchkommission sind erhalten geblieben und von Bernhard Schmidt publiziert worden: Lied - Kirchenmusik - Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Berlin/ New York 2002. Aus ihnen geht jedoch lediglich hervor, daß das alte Lied Ermuntre dich, mein schwacher Geist (das aus *Porst und *Freylinghausen bezogen wurde) am 23. Dezember 1819 als der Aufnahme nicht würdig erachtet wurde. In der Sitzung vom 20. Februar 1823 wurde Diterichs Gott, deine Gnade sei gepreist in Vorschlag gebracht, am 13. März 1823 in einer von dem Kommissionsmitglied Samuel Marot vorgetragenen, vielleicht auch von ihm veränderten Fassung mit dem alten Initium akzeptiert. (Vgl. Schmidt, S. 559, 636- 638). Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 129 (5,6-7, aus Rist 10,5, und aus *Brüdergesangbuch 1819: komm, laß es deine Krippe sein). Die partielle Restauration des Originals Die Wiederherstellung des alten Liedes erfolgt mit großen regionalen Unterschieden gehäuft in den Jahren zwischen 1870 und 1930. Im Berliner Raum geschieht der Rückgriff auf Rists Original erstmals wieder im Gesangbuch für evangelische Gemeinen. Als Entwurf herausgegeben vom Königlichen Konstistorium der Provinz Brandenburg, Berlin 1869, und zwar mit sieben Strophen, unter Weglassung von 4, 5, 7-9. Braut und Bräutigam sind jeweils durch andere Wendungen ersetzt. Das Lied bleibt jedoch instabil. Im *DEG von 1915, dem großen Markstein der Vereinheitlichung des Liedguts, steht es nicht - ein Zeichen dafür, daß man sich nicht auf eine gemeinsame Fassung einigen konnte. Erst mit dem *EKG von 1950 ist das Lied wieder deutschlandweit in einer einheitlichen Fassung präsent. Die Strophenauswahl ist 1, 2, 6, 9, 10 und 12. Was damit wiederkehrt, ist die brautmystische Komponente, ist die Natur wenigstens mit der Morgenlicht-Strophe, ist damit am Rande auch der Satan. Entfallen sind dafür die wichtigsten Elemente der Erniedrigungsparadoxie (Strophen 3-5). Die Gesamtimagination ist damit ins Liebliche verschoben. Wie immer fehlt das dumme Vieh. Offenbar hat aber auch diese Fassung keine dauerhafte Akzeptanz gefunden, sonst wäre sie im *EG 1993, das so drastische Veränderungen sonst scheut, unverändert geblieben. Dort begegnet eine bis dahin nie gesehene Strophenauswahl: 9, 2 und 12, so daß das Lied nun heißt Brich an, du schönes Morgenlicht. 22 Die erste (ursprünglich neunte) Strophe greift jetzt das „Fürchtet euch nicht! “ und die Weihnachtsbotschaft der Engel auf. 23 Es herrscht imaginative Gegenwart. Strophe 2 (ursprünglich 2) kann als szenische Rede dessen gesehen werden, der die Botschaft der Engel aus Strophe 1 verstanden hat; sie ist gegenwärtig und am Schluß, mit dem Wunsch ich will dir all mein Leben lang, zukünftig. Strophe 3 (ursprünglich 12) beginnt etwas tautologisch mit dem Dank, mit dem Strophe 2 schon schloß, und mündet in ein Gebet mit einer eschatologischen Doxologie. Sie ist zurückblickend auf 22 Ein weiteres, in vielen Gesangbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts begegnendes Lied mit dem Initium Brich an, du schönes Morgenlicht stammt von Max von Schenkendorf, ist aber lediglich in seiner ersten Zeile von Rists 9. Strophe angeregt. Im übrigen handelt es sich um ein völlig anderes Lied. 23 Die letzte Strophe endet wie schon im *EKG mit der Verszeile und letztlich Frieden bringen. Das ist ein altes Mißverständnis. Bei Rist stand „letzlich“, nicht „letztlich“, und das bedeutet „erquicklich, erfrischend, lindernd“ - eine Ver-letzung ist ein Verfehlen der Letzung - und hat nicht den Sinn von „zu guter Letzt“. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 130 die vollzogene Menschwerdung: daß du mein Bruder worden bist. Die Paradoxien erscheinen, da zu viele Kontexte weggebrochen sind, nicht mehr als absichtliches Stilmittel, sondern lediglich als Katachresen. Jesus ist zugleich schwaches Knäbelein, süßer Bräutigam, König aller Ehren, Gottes Lamm und Bruder. Die Bilder reiben sich nicht mehr produktiv-verstörend aneinander wie bei Rist, sondern sind nur noch Zeugnisse jener ausgewaschenen religiösen Metaphorik, in der gedankenlos alles mit allem verknüpft werden kann. Der Grund für die auffällige, dem sonstigen Niveau des EG nicht entsprechende Fassungsentscheidung ist denn auch nicht im Text zu finden, sondern in der Musik. 24 Genau diese drei Strophen seien in den Gemeinden und Kirchenchören lebendig, so argumentiert Eberhard Schmidt in der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. 25 Wandel der Erbauung Blicken wir zurück. Was ist das, im Ganzen betrachtet, für ein Vorgang? Im 17. Jahrhundert konkretisiert sich Erbauung als bilderreiche Imagination des Heilsgeschehens, als rhetorische Inszenierung seiner Paradoxe, als Selbstüberredung, als Ausstattung des Tempels der Seele mit geistlichem Mobiliar. Die aufklärerische Reform imaginiert nicht mehr eine gegenwärtige und vergegenwärtigte, sondern lobt eine vergangene Heilstat, sie egalisiert die Para- 24 Jürgen Henkys schreibt mir dazu: „Müßte man nicht unterscheiden zwischen hymnodischer Rezeption (Gesangbücher) und musikalischer Rezeption (Oratorien, Kantaten, Chorliteratur) - und beide doch zusammendenken? Bach und Lübeck haben schon zwei Generationen nach Rist, als die Gesangbücher noch den ganzen Liedtext boten und die Zweinaturenlehre in ihrer lutherisch-orthodoxen Ausprägung der Frömmigkeit vieler durchaus noch erreichbar war, Einzelstrophen aus Rists Lied bezogen (Bach Str. 9, Lübeck Str. 2.10-12). Das war ja wohl noch kein Zeichen beginnenden (aufgeklärten) Verstummens, sondern kreativer Fortschreibung mit den Mitteln musikalischer Konzentration (Chorsatz) bzw. Amplifikation (Kantate). Wenn das *EG etwas von diesem Strom wieder in den Gemeindegesang zurückzulenken versucht, muß das - alle geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Brüche der Zwischenzeit zugestanden - doch nicht einfach Verrat am ohnehin in die Literaturgeschichte abgesunkenen Original sein.“ 25 Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 4, Göttingen 2002, S. 10. Schmidt weist insbesondere auf den Choralsatz Brich an, du schönes Morgenlicht in Bachs Weihnachtsoratorium hin, ferner auf die Weihnachtskantate Willkommen, süßer Bräutigam von Vincent Lübeck (dort die 10.-12. Strophe des Ristschen Liedes). Bereits in der Vorläufigen Liederliste von 1984, dem frühesten Entwurf zum *EG, war das Lied nur in einer Schrumpfversion präsent, und zwar mit den Strophen 9, 10 und 12 (=*EKG Strophen 4- 6). Das Hauptkriterium war von Anfang an die Musik. Man wollte das Lied nicht als Ganzes streichen, weil sonst die Melodie verloren gehen würde, und suchte deshalb nach einer geeigneten Strophenauswahl. Von 26 Landeskirchen hatten zwei für Streichung des Liedes votiert, zwei für Aufnahme des Liedes in der *EKG-Version (so auch der germanistische Berater Eberhard Haufe), alle anderen für eine Strophenauswahl mit dem Initium Brich an, du schönes Morgenlicht. (Für diese Hinweise danke ich Dorothea Monninger.) Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 131 doxe zur Stimmigkeit, macht aus einer göttlichen Unbegreiflichkeit eine gute Tat, sie spielt diese nicht mehr nach, sondern läßt sich über ihren dogmatischen Gehalt belehren. Das Lied behält zwar noch eine erbauliche Funktion, doch erscheint diese wesentlich enger, auf den Verstand beschränkt, das Herz und die Sinne nicht mehr im gleichen Maße affizierend. Als dritte Phase der Wirkungsgeschichte war dann eine partielle Restauration des alten Texts zu identifizieren. Wie ist diese zu bewerten? Texte wiederherstellen heißt noch nicht Glauben wiederherstellen. Die Herrschaftsmetaphorik war ebenso wie die erotische und bräutliche Metaphorik in der Barockzeit modern, im 20. Jahrhundert jedoch ist sie archaisch. Archaismen können zwar als Stilmittel betrachtet modern sein. Da sie aber stets eine vergangene Ausdruckswelt beschwören und nicht Ausdruck eines bestehenden und gegenwärtigen Glaubens, sondern Ausdruck eines erwünschten, aber vergangenen Glaubens sind, gesellt sich ein ästhetisches Moment zu ihrer Rezeption. Der Glaube wird nostalgisch. Die Erbauung wird sentimentalisch, um Schillers Ausdruck zu gebrauchen. Das Beharren auf dem Alten gibt sich als Bekenntnis, ist aber in Wirklichkeit ein Rollenspiel, das die Religion ästhetisiert. Glauben und Singen werden zur Attitüde, auch wenn sich diese Attitüde für Natur hält. Weil das gesellschaftliche Sein sich nicht zurückentwickeln wird, haben Restaurationen immer und unvermeidlich etwas Gemachtes, Rhetorisches und Inszeniertes. Was aber unterscheidet die rhetorische Inszenierung des 17. Jahrhunderts von der historistischen und ästhetizistischen des 20. und 21.? Was den Mainzer Dom von einer neuromanischen Kirche unterscheidet. Während Rist fest in der lutherischen Orthodoxie verwurzelt war, ist die antiaufklärerische Rückkehr der alten Lieder im 19. und 20. Jahrhundert eine historistische Sentimentalität. Das rhetorische Rollenspiel des 17. Jahrhunderts spielt mit konventionsgesicherten Abläufen, feststehenden Chargen und Requisiten auf dem festen Bühnenboden eines substantiellen Glaubens. Das des 20. Jahrhunderts tanzt bodenlos auf einem Seil irgendwo im Supermarkt der Rollenangebote. Mit Wehmut fühlt der Sänger die Distanz dessen, was er singt, zu der Welt, die ihn umgibt. Die Arbeit am Ich - Ermuntre dich! - erfährt sich als zufällig und beliebig, sie wird überdies entmutigt durch die Autosuggestionskritik der Psychoanalyse, die das Über-Ich der neurotisierenden Vergewaltigung des Es verdächtigt. Die Erbauung wird, wo sie dennoch versucht wird, historisiert, ästhetisiert und sentimentalisiert. So bleibt es auch bei einem alten Lied und auch wider einen anders gerichteten Willen bei jener Ablösung der erbaulichen Rezeptionshaltung von ihrem religiösen Gehalt, die die Aufklärung schon einmal bewußt und reformwillig vollzogen hatte. Die Restauration kann den Graben nicht wieder schließen. Wie die merkwürdige Strophenselektion im *EG zeigt, tendieren die religiösen Inhalte heute zur Beliebigkeit, sind nur noch ästhetische Reize zur Erzeugung religiöser Stimmung, weitgehend ablösbar von ihrem ursprünglich festen Fundament. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 132 „Keine Christengemeine kommt zusammen, sich in Poesie zu üben“, schrieb Johann Gottfried Herder 1783 26 ), die ästhetische Realisation alter Lieder ablehnend. Heute kann das nicht mehr gelten. Historismus und Ästhetizismus sind unausweichlich, die Ästhetisierung und Sentimentalisierung der Erbauung unwiderruflich. Es steht nicht in unserer Macht, uns in die Zeiten substantiellen Glaubens zurückzukatapultieren. Die „psychologistische Entartung“ der Erbauung, die im RGG beklagt wird, 27 ist eine zwingende Signatur des Zeitalters und nicht durch anderslautende Entschlüsse rückgängig zu machen. Die spirituelle Erbauung des Ich, so überholt das Wort sein mag, ist auch unter dieser Voraussetzung eine bleibende Aufgabe. Quellenverzeichnis *Berlin 1700 Des Koenigs und Propheten Davids Geistreiche Psalmen/ Nach Frantzösischen Melodien in Deutsche Reimen gebracht durch D. AMBROSIUM Lobwasser/ Denen auch des Hrn. D. Lutheri und anderer Gottseliger und Christlicher Leute geistreiche und gebrauechlichste Lieder und Psalmen beygefueget; Vormals mit 4. Vocal- und 3. Instrumental Stim=men/ nebst dem Basso continuo aufgesetzet von Johann Cruegern/ Direct. Music. in Berlin/ Jtzo Zu nuetzlichem Gebrauch der Christlichen Kirchen/ fuernemlich Sr. Churfl. Durchl. Residen-zien/ mit Fleiß uebersehen/ und in 4. Vocal-Stimmen/ zum Druck befordert: auch mit dem Heydelbergischen Catechismo und der Form der heiligen Handlung des hochheiligen Abendmahls vermehret. Auf Churfl. gnaedigste Befreyung. ALTUS & TENOR. Berlin/ gedruckt und verlegt von Salfeldischer Wittwe. angebunden: D. M. Luthers/ Wie auch Anderer gottseligen und Christ=lichen Leute Geistliche Lieder/ und Psalmen/ Wie sie bißher in Evangelischen Kirchen dieser Landen gebrauchet werden. Denen auch anitzo etliche auserlesene so wol alte als neue Geistreiche Gesaenge beygefueget sind/ Jn 4. Vocal-Stimmen uebersetzet von Johann Cruegern. ALTUS & TENOR. Berlin/ Gedruckt und verlegt von David Salfelds seel. Wittwe/ ANNO 1700. *Berlin 1869 Gesangbuch für Evangelische Gemeinen. Als Entwurf herausgegeben vom Königl. Konsistorium der Provinz Brandenburg. Berlin 1869. Verlag der Königlichen Geheimen Ober=Hofbuchdruckerei (R. v. Decker). *Bollhagen 1809 Heiliges Lippen= und Herzens=Opfer Einer glaeubigen Seele: Oder Vollstaendiges Gesang=Buch, Enthaelt in sich Die neuesten und alten Lieder des seel. D. LUTHERI und anderer erleuchteten Lehrer unserer Zeit, Zur Befoerderung der Gottseligkeit, Bey oeffentlichem GOttes=Dienst, Jn Pommern und andern Orten zu gebrauchen, eingerichtet, 26 Neu eingerichtetes Sachsen=Weimar=Eisenach= und Jenaisches Gesang=Buch […], *Weimar 1783. 27 RGG, Artikel „Erbauung“. Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 133 auch mit bekannten Melodeyen versehen: Nebst Einem Geist=reichen Gebet=Buch, Von dem Herrn General-Superintendenten Dr. Laurent. David Bollhagen. Anjetzo mit vermehrtem Sonn= und Festtags=Register versehen. Mit Koenigl. Preußis. allergnaedigstem PRIVILEGIO. Alten=Stettin, gedruckt und verlegt von dem Koenigl. Preuß. privilegirten Buch=drucker, Joahnn Samuel Leich, 1809. [Erste Auflage 1769] *Braunschweig 1779 Neues Braunschweigisches Gesangbuch, nebst einem kurzen Gebetbuche, zum oeffentlichen und haeuslichen Gottesdienste. Mit Hochfuerstl. Braunschw. Lueneb. gnaedigstem Special=Privilegio. Braunschweig, gedruckt und verlegt von Friedrich Wilhelm Meyers Wittwe, und Johann Christoph Meyer. 1779. [Erste Auflage.] *DEG 1915 Deutsches evangelisches Gesangbuch für die Schutzgebiete und das Ausland. Herausgegeben vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß. Berlin 1915. Ernst Siegfried Mittler und Sohn. Königliche Hofbuchhandlung. Kochstraße 68-71. (Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn, Berlin SW 68, Kochstraße 68-71.) *Diterich 1765 Lieder für den öffentlichen Gottesdienst. Berlin 1765 *Dresden 1785 Das Privilegirte Ordentliche und Vermehrte Dreßdnische Gesang=Buch, Wie solches sowohl in der Churfl. Saechs. Schloß=Capelle, als in denen andern Kirchen bey der Churfl. Saechsischen Residenz, Nach den Lieder=Nummern an den Tafeln, Hiernebst auch in den gesamten Chur= und Fuerstlich=Saechs. Landen bey oeffentlichem Gottesdienst gebrauchet, und daraus pfleget gesungen zu werden. Darinnen die auserlesensten und Geistreichsten Lieder in reicher Anzahl zusammen getragen. Auf hohen Befehl Und vieler Verlangen mit leserlicher Mittel=Schrift in diesem Formate zum Druck gegeben worden, Von einem seinem JEsu Getreu Bleibenden Diener. Mit Sr. Churfl. Durchl. zu Sachsen allergn. Privilegio, auf keinerley Art und Weise nicht nachzudrucken. Dreßden und Leipzig, Verlegts Johann Gottlob Immanuel Breitkopf. 1785. [Erste Auflage 1724.] *EG 1993 Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland. (Satz- und Notenherstellung: Universitätsdruckerei H. Stürtz AG, Würzburg. Druck und Bindung: Biblia-Druck, Stuttgart.) [1993]. *Eisleben 1851 Eisleber Gesangbuch zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche. Eisleben, 1851. Verlag der Eisleber Prediger=Wittwenkasse. *EKG 1950 Evangelisches Kirchengesangbuch. Stammausgabe. Kassel 1950. (Herstellung: Bärenreiter=Druck Kassel unter Verwendung der Peter Jessen=Schrift von Rudolf Koch und Paul Koch=Notenschrift). Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 134 *Fischer-Tümpel Albert Friedrich Wilhelm Fischer und Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Gütersloh 1904- 1916). 6 Bände. Hildesheim 1964. *Freylinghausen 1704 Geist=reiches Gesang=Buch/ Den Kern Alter und Neuer Lieder / Wie auch die Noten der unbe=kannten Melodeyen Und darzu gehoerige nuetzliche Register in sich haltend; Jn gegenwaertiger bequemer Ordnung und Form samt einer Vorrede/ Zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung im Glauben und gottseligem Wesen/ nebst einer Zugabe zum andern mahl herausgegeben von JOHANN ANASTASIO Freylinghausen / Past. Adj. HALLE/ Gedruckt und verlegt im Waeysen= Hause/ 1705. [Erste Auflage 1704] *Herrnhuter Brüdergemeine 1725 Sammlung Geistlicher und lieblicher Lieder, Eine grosse Anzahl der Kern=vollesten alten, und erwecklichsten Neuen Gesaenge enthaltend, Nebst einer Vorrede des Editoris, welcher man Herr D. Marpergers, Koen. und Chur=S. Ober=Hof=Predigers Gedancken von alten und neuen Liedern beygefueget. LEJPZJG, bey August Martini. (1725). Berthelsdorfer Gesangbuch. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer, Dietrich Meyer und Gudrun Meyer-Hickel. Zwei Teile. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1725). Hildesheim und New York 1979. (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 4. Band 1.) *Herrnhuter Brüdergemeine 1731 Sammlung Geist= und lieblicher Lieder, Eine grosse Anzahl der Kern=vollesten alten und erwecklichsten neuen Gesaenge enthaltende, Dritte sehr vermehrte und gebesserte Auflage, Nebst einer Vorrede des EDITORIS, worinnen die Ordnung der Titel und zugleich Eine ziemlich deutliche Einleitung in das gantze Geschaefft der Seeligkeit zu befinden. Herrhuth und Goerlitz, Zu finden bey M. Christian Gottfr. Marchen. (1731). Marchesches Gesangbuch. Herausgegeben von Erich Beyreuther. Zwei Teile. (Nachdruck der Ausgabe Herrnhut und Görlitz 1731). Hildesheim und New York 1980. (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 4. Band 2.) *Herrnhuter Brüdergemeine 1749 Alt= und Neuer Brueder=Gesang. Londoner Gesangbuch. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer, Dietrich Meyer und Gudrun Meyer-Hickel. Drei Teile. (Nachdruck der Ausgabe London 1749-54). Hildesheim und New York 1980. (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 4. Band 4.) *Herrnhuter Brüdergemeine 1819 Gesangbuch, zum Gebrauch der evangelischen Bruedergemeinen. Gnadau, 1819. Zu finden in den Bruedergemeinen. [Erste Auflage 1778] *Königsberg 1763 Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder, die in denen Preußischen Kirchen gesungen werden, Nebst einem Anhange geistreicher Gebete, GOtt zu Ehren und den Gemeinen zu oeffentlicher und besonderer Andacht ausgefertiget, Mit Koenigl. Preuß. allergnae- Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 135 digst. Privilegio. Vierzehnte Auflage. Koenigsberg, Verlegts Philipp Christoph Kanter, 1763 *Königsberg 1870 Sammlung alter und neuer Lieder für das Königreich Preußen mit einem erwecklichen Spruche über einem jeden Liede und mit erbaulichen Gebeten, auch nöthigen Registern. (Neues Rogall’sches Gesangbuch.) Mit königl. Preuß. Allergnädigst. Privilegio. Königsberg, 1870. Druck und Verlag von H. Hartung *Leipzig 1736 Musicalisches Gesang=Buch, Darinnen 954 geistreiche, sowohl alte als neue Lieder und Arien, mit wohlgesetzten Melodien, in Discant und Baß, befindlich sind; Vornemlich denen Evangelischen Gemeinen im Stifte Naumburg=Zeitz gewidmet, und mit einer Vorrede Sr. Hochehrw. Herrn Friedrich Schulzens, Schloßpredigers, Stifts=Superint. und des Stifts=Consistorii Assessors zu Zeitz, herausgegeben von George Christian Schemelli, Schloß=Cantore daselbst. Mit Allergnaedigster Freyheit, weder mit, noch ohne Noten nachzudrucken. Leipzig, 1736. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, Buchdr. [Faksimile: Hildesheim u. a.: Georg Olm, 1999.] *Leipzig 1753 Das privilegirte Vollstaendige und vermehrte Leipziger Gesangbuch, Darinnen die auserlesensten Lieder, wie solche in hiesigen und andern Kirchen gebraeuchlich, an der Zahl 1015. mit Fleiß gesammlet, und nebst einem Gebeth= und Communionbuche, vormals von Vopelio, jtzo aber aufs neue verbessert, und durchgehends geaendert, herausgegeben von Carl Gottlob Hofmann, damals S. T. B. und Prediger zu St. Petri in Leipzig, nunmehr S. S. Theol. D. und P. P. O. in Wittenberg. Leipzig, zu finden bey Sebastian Heinrich Barnbeck, am Thomas=Kirchhofe. 1753. *Magdeburg 1851 Vollstaendiges Gesang=Buch, in sich haltend 1000 geistreiche und auserlesene Lieder, sowohl des seligen Herrn D. Martin Luthers, welche bereits im Jahre 1596 allhier zu Magdeburg herausgegeben worden sind, als auch anderer gottseligen Männer. Jn gute Ordnung gebracht, und mit Genehmhaltung Eines Ehrbaren Raths der Stadt Magdeburg, und eines lutherischen Ministeriums Censur, nebst einem erbaulichen Gebet=Büchlein, und der unveränderten Augsburgischen Confession zum Druck befördert. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenb. allergnädigster Freyheit. Magdeburg, im Faber’schen Verlag. 1851. (Druck und Verlag: A. & R. Faber in Magdeburg.) *Mylius 1780 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich=Preußischen Landen. Mit allergnaedigster Koenigl. Freyheit. Berlin 1780 verlegts August Mylius Buchhaendler in der Bruederstraße. *Mylius 1810 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich Preußischen Landen. Mit allergnaedigster Koenigl. Freyheit. Berlin 1810 in der Myliussischen Buchhandlung. [Erste Auflage 1780] Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 136 *Mylius 1830 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich Preußischen Landen. Mit allergnaedigster Koenigl. Freiheit. Berlin, 1830. Jn der Mylius’schen Buchhandlung. Bruderstraße No. 4. [Erste Auflage 1780] *Mylius 1844 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich Preußischen Landen. Mit allergnädigster Königl. Freiheit. Berlin, 1844. Jn der Mylius’schen Buchhandlung. Brüderstraße No. 4. [Erste Auflage 1780] *Porst 1748 Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhard und andere seine Werckzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen der Koen. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekandt, Und mit Koenigl. Allergnaedigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingefuehret worden, Nebst einigen Gebeten Und einer Vorrede von Johann Porst, Koenigl. Preußischen Consistorial-Rath, Probst und Inspectore in Berlin. Berlin, verlegts sel. Josua David Schatz, Buchbinders an der langen Bruecke, Erben, und gedruckt bey Samuel Koenig, privil. Buchdrucker. 1748. *Porst 1892 Geistliche und liebliche Lieder, welche der Geist des Glaubens durch D. Martin Luther, Johann Heermann, Paul Gerhardt und andere seine Werkzeuge in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen der Königl. Preuß. und Kurfl. Brandenb. Lande bekannt und mit Königl. Allergnädigst. Approbation und Freiheit gedruckt und eingefuehrt worden nebst einigen Gebeten Von Johann Porst, weil. Königl. Preußischem Consistorial=Rate, Probste und Jnspector in Berlin. Verbessert und Vermehrt. Berlin, Jonas Verlagsbuchhandlung. 1892. (Druck von Otto Drewitz, Berlin N., Monbijouplatz 10.) [Erste revidierte und vermehrte Auflage 1855.] *Praxis pietatis melica 1674 Johann Cruegers / Neu zugerichtete PRAXIS PIETATIS MELICA: Das ist: Ubung der Gottseligkeit/ Jn Christlichen und trostreichen Gesaengen Herrn D. Martin. Lutheri fuernamlich/ wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger/ und reiner Evangelischer Lehr Bekenner. Ordentlich zusammen gebracht/ Und zur Befoerderung des so Kirchen= als Privat-Gottesdiensts/ mit bißhero gebraeuchlichen/ wie auch neuen Melodeyen/ neben darzu gehoerigen Fundament verfertiget/ und mit vielen trostreichen Gesaeng vermehret Von Peter Sohren/ Bestalten Schul= und Rechen=meistert der Christlichen Gemeine zum H. Leichnam/ in Koeniglicher Stadt Elbing Preussen. Mit Churf. Saechsischer Freyheit. Drucks und Verlags Balth. Christ. Wusts/ in Franckf. am Mayn. MDCLXXJV. *Praxis pietatis melica 1703 Johann Kruegers Neu zugerichtete PRAXIS PIETATIS MELICA: Das ist: Ubung der Gottseligkeit/ Jn Christlichen und trostreichen Gesaengen/ Herrn D. Martin. Lutheri fuernemlich/ wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger/ und reiner Evangelischer Lehr Bekenner/ Ordentlich zusammen gebracht/ zur Befoerderung des so Kirchen= als Privat- Ein erbauliches Lied und seine Rezeption 137 Gottesdiensts/ mit bißhero gebraeuchlichen/ wie auch neu=en Melodeyen/ verfertiget und mit vielen trostreichen Gesaengen vermehret. Von Peter Sohren/ Bestallten Schul= und Rechenmei=ster der Christlichen Gemeine zum H. Leichnam in Koeniglicher Stadt Elbing in Preussen. HAMBURG/ Jn Verlegung Johann Hinrich Voelckers. RATZEBURG Gedruckt bey Sigismund Hoffmann/ Jm Jahr Christi 1703. *Schleiermacher 1829 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch fuer evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten. Berlin Verlag von G. Reimer. 1829 *Stralsund 1836 Christliches Gesangbuch zur Beförderung der öffentlichen und häuslichen Erbauung, für Neu=Vorpommern und das Fürstenthum Rügen. Neue Auflage. Mit der Königl. Hochpreislichen Regierung Approbation und gnädigstem Privilegio. Stralsund, 1836. Bei Joh. Struck’s Wittwe. [Erste Auflage 1796.] *Weimar 1783 Neu eingerichtetes Sachsen=Weimar=Eisenach= und Jenaisches Gesang=Buch, bestehend aus 1192. alten und neueniedern auf speciellen gnädigsten Befehl Jhro regierenden Herzogl. Durchl. zum allgemeinen Gebrauch in Dero saemmtl. Herzogthuemern und incorporirten Landen, auch Hennebergischen Antheil, nebst einem Gebetbuch. Jetzt neu uebersehen und mit einer Vorrede begleitet von Joh. Gottfr. Herder F. S. Oberhofprediger und Generalsuperintendent des Herzogthums Weimar. Mit Hochfuerstl. gnaedigsten Privilegio. Weimar, verlegts Carl Rudolf Hoffmanns seel. Erben, 1783. [Erste Auflage 1778.] *Wiesbaden 1779 Fuerstlich Nassauisches neues verbessertes Gesangbuch Zur Befoerderung der oeffentlichen und haeußlichen Erbauung. Jm Verlag des Wiesbadischen Waisenhauses. Wiesbaden, gedruckt bey Joh. Henrich Frey, Fuerstlich Nassauischen Hof= und Kanzleybuchdrucker. (1779.) 13 Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs Gemessen an dem breiten Strom von Wirkungen, der sich vom Geistreichen Gesangbuch in die protestantische Kirchenlied-Tradition ergießt, ist die katholische Rezeption minimal. Wenn man davon ausgeht, daß *Freylinghausen 1 das bedeutendste Identitätssymbol und die verdichtetste Kulturgestalt des Halleschen Pietismus ist, könnte man sich fast zu der Aussage genötigt sehen, daß es diese Frömmigkeitsform im katholischen Raum schlichtweg nicht gab. 2 Nicht nur ist kein Beispiel dafür bekannt, daß, wie im evangelischen Raum mehrfach belegt, ganze Gesangbücher auf *Freylinghausen zurückgehen. Auch für die Nachwirkung einzelner hallescher Gesänge stößt man fast durchgehend auf Fehlanzeige. Die wenigen heute katholisch gebräuchlichen Lieder, die auf das Freylinghausensche Gesangbuch zurückgehen, wurden außerdem nicht von dort aus direkt importiert, sondern gerieten erst auf dem Weg über andere evangelische Überlieferungsträger in den katholischen Bereich. Freilich sind solche Aussagen nur unter erheblichen Vorbehalten zu machen. Es ist möglich und nicht allzu schwer, ein einzelnes Gesangbuch auf seine Abhängigkeiten von einem anderen zu untersuchen. Es ist fast unmöglich, die ganze katholische Tradition zu untersuchen, mit ihrer Formenvielfalt und mit ihrer Reichweite von Bonn bis Bozen, von Luxemburg bis Ljubljana, von Litauen bis Lothringen. Man müßte ja jeweils ganze Corpora vergleichen, müßte die anderthalbtausend Lieder des *Freylinghausen, oder zumindest die rund 500 dezidiert pietistischen Lieder, 3 in allen katholischen Gesangbüchern vom 18. bis zum 20. Jahrhundert suchen, um zu sehen, welche davon vorhanden sind und in welcher Gestalt, und müßte prüfen, aus welcher Vorlage sie sich jeweils speisen. Man müßte dazu die katholischen Gesangbücher 1 Mit einem * markierte Kurztitel von Gesangbüchern werden im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt. Das Kürzel *Freylinghausen bezieht sich auf die gesamte Ausgaben- und Auflagengeschichte, von der *Halle 1704 und *Halle 1741 zur Verfügung standen. 2 Die Pietismusforschung hat sich bisher mit den Wirkungen in den katholischen Raum hinein wenig befaßt. Der Aufsatz Der Pietismus in Bayern von Horst Weigelt (GdP 2, 296-318) befaßt sich fast nur mit den evangelischen Gebieten Bayerns und kann speziell für den halleschen Pietismus nur wenige Spuren namhaft machen. Auch Martin Brecht, Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts, beschreibt keinerlei Ausstrahlungen ins katholische Feld. (GdP 2, 319-357). 3 Für diese Zahl und für andere wertvolle Hilfen und Auskünfte danke ich Wolfgang Miersemann. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 139 möglichst alle vor Ort verfügbar haben. Besonders die Exemplare aus dem 18. Jahrhunderts sind aber über viele Standorte verstreut, und die Überlieferung weist viele Lücken auf. Die meisten Titel sind extrem selten, die gesamte Landschaft infolgedessen schwer überschaubar. Da diese kleine Studie den für eine vollständige Corpusanalyse erforderlichen gigantischen Zeitaufwand nicht erbringen kann, war ein praktikabler Kompromiß erforderlich. Die folgenden Aussagen basieren im wesentlichen auf den Beständen des Mainzer Gesangbucharchivs. Diese sind zwar für das 19. und 20. Jahrhundert ausreichend repräsentativ, umfassen für die Jahre von 1700 bis 1775 im katholischen Bereich jedoch lediglich 15 Bücher. Die Mainzer Gesangbuchbibliographie, die den Gesamtbestand zu ermitteln sucht, weist für diesen Zeitraum bisher 255 Titel katholischer Provenienz auf. Eine weitere Einschränkung entsteht dadurch, daß die Befunde in der Regel auf dem Initienbestand des Mainzer Liedkatalogs 4 fußen, der aus diesen Jahren bisher lediglich fünf katholische Bücher auswertet. Es handelt sich allerdings durchgehend um wichtige Bücher: *Bamberg 1719, *Mainz 1723, *Köln 1747, *Mainz 1755 und *Paderborn 1765. Dieses Hilfsmittel erlaubt zwar Aussagen über die großen Linien der Rezeption, gibt aber gerade für die unübersichtliche erste Phase keine randscharfen Befunde her. Es gibt keinerlei Garantie, daß nicht doch irgendein lokaler Gesangbuchmacher sich bei *Freylinghausen bedient hat. 5 Lediglich eine überregionale Verbreitung solcher Bemühungen kann mit großer Sicherheit verneint werden. Eine weitere Einschränkung des Liedkatalogs ist, daß er nur die Texte erfaßt, während die Rezeption von *Freylinghausen-Melodien, die sich von ihrem Text gelöst haben, auf diesem Wege nicht greifbar ist. Eine weitere Grundlage für Ermittlungen zu unserer Thematik bietet Wilhelm Bäumker 6 , der von den 195 Titeln, die er im Zeitraum 1700-1770 erfaßt, einige wichtige ausführlich beschreibt. Er gibt zwar Hinweise auf protestantische Einflüsse, präzisiert diese aber nicht weiter, so daß man dort nur indirekte Signale für eine mögliche Freylinghausen-Rezeption findet. Außerdem steht noch Albert Friedrich Wilhelm Fischers Kirchenlieder- Lexicon zur Verfügung. Es hat hauptsächlich die evangelische Tradition im Blick 7 und erkennt das Überschreiten der Konfessionsgrenze daher in vielen Fällen nicht. Im übrigen lassen einen die großen Nachschlagewerke im Stich. Im Überschneidungsbereich zwischen Freylinghausen und der katholischen 4 Damit ist eine in Mainz verfügbare Datenbank gemeint, in die 2008 die Initienverzeichnisse von rund 100 evangelischen und rund 60 katholischen Gesangbüchern in einer repräsentativen Streuung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart eingetragen waren. Sie macht es möglich, die diachronen Rezeptionsmuster von rund 20.000 Liedern zu überblicken. 5 Welche Gesangbücher zum Beispiel die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung (ca. 1795-1820) verwendet hat, ist mir nicht bekannt. Die in Kempten 1812 erschienene Sammlung erbaulicher Lieder zum Gebrauch in christlichen Häusern war über die Fernleihe nicht zu beschaffen. 6 Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, 4 Bände, Freiburg 1886-1911. 7 Vgl. das Quellenverzeichnis in der Vorrede, KLL, S. IX-XI. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 140 Tradition befinden sich nach Auskunft der Mainzer Datenbank Liedkatalog (Stand 2008) 87 Lieder. Meistens handelt es sich um Lieder, die sowohl bei Freylinghausen wie im katholischen Bereich nur durchlaufen, vorkonfessionelle Klassiker wie Christ ist erstanden oder In dulci jubilo oder ältere evangelische Lieder wie Aus tiefer Not (Martin Luther), Wachet auf, ruft uns die Stimme (Philipp Nicolai) oder O Haupt voll Blut und Wunden (Paul Gerhardt). Es liegt auf der Hand, daß diese Beispiele nicht unter „Freylinghausen-Rezeption“ geführt werden können, da es einleuchtendere Überlieferungswege für sie gibt. Die vorreformatorischen Lieder haben in der Regel eine eigenständige katholische Tradition, die des Umwegs über evangelische Gesangbücher nicht bedarf. Für das Eindringen evangelischer Lieder in die katholische Singepraxis lassen sich mehrere große Schübe ausmachen. Dazu gehören die Remissionierungsbemühungen des 17. Jahrhunderts, die bedacht waren, den konvertierten Protestanten vertrautes Liedgut anzubieten (z. B. im Rheinfelsischen Gesangbuch *Augsburg 1666 8 ), und die konfessionelle Irenik der Aufklärung, die von *Paderborn 1765 bis zum Heroldschen (*Hoinkhausen 1807) und Mastiaux’schen Gesangbuch (*München 1811) evangelische Lieder einzuspeisen versucht, mit insgesamt eher geringem Erfolg. Weitere Lieder wurden durch die hymnologische Forschung und das überkonfessionelle Sammelinteresse des 19. Jahrhunderts an den Tag gebracht (Layriz, Tucher, Albert Knapp, Wackernagel, Erk/ Böhme). Der größte und erfolgreichste Schub entwickelt sich jedoch erst durch die intensive Begegnung der Konfessionen im Ersten Weltkrieg und seiner Folgezeit, was sich in der Sammlung „Kirchenlied“ von *Freiburg 1938 spiegelt. Weitere Einspeisungen sind eine Frucht der ökumenischen Bestrebungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965). In diese großen Linien müßten sich auch die Stationen einer möglichen *Freylinghausen-Rezeption einfügen, die im folgenden zu untersuchen sind. 1. Station: Unmittelbare Rezeption bis 1770 Die ersten zwei Drittel des 18. Jahrhunderts sind eine Zeit besonders strikter Konfessionalität. Gesangbücher von Bedeutung, die die Grenzen zu überschreiten versuchen, kenne ich nicht. Generell laufen im katholischen Raum in dieser Zeit (mit wechselnden Titeln) die Barockgesangbücher weiter - zum Beispiel, um einige besonders einflußreiche zu nennen, die Hymnodia Catholica (zuerst *München 1624), das Mainzer Cantual (zuerst *Mainz 1605), das 8 Das sich seinerseits aus der Davidischen Harmonie *Wien 1659 (Bäumker I, 182-185) speist, die ihrerseits bei David Gregor Corner *Nürnberg 1625 evangelisches Material bezieht (Bäumker I, 181). Vgl. Stephan Christoph Müller, Ein Zeugnis guten Willens. Das Rheinfelsische Gesangbuch von 1666. In: Ernst von Hessen-Rheinfels: Rheinfelsisches Gesangbuch. Nachdruck der Ausgabe von 1666, Münster 2004, Band 2, S. 23-48, hier S. 36. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 141 Mainzer Allgemeine Gesangbuch (zuerst *Mainz 1683), das Kölner Psälterlein (zuerst *Köln 1638). Diese unterliegen zwar immer wieder Veränderungen und erfahren Zusätze (z. B. *Mainz 1712 9 ), doch bleibt der Typus des katholischen Barockgesangbuchs fast zweihundert Jahre lang, von etwa 1600 bis etwa 1800, im wesentlichen erhalten. Bei einer Durchsicht der 15 Bücher des GBA-Bestands ergaben sich nur in einem relativ abgelegenen Fall Hinweise auf evangelische Einflüsse. 10 Alle anderen, von *Mainz 1712 über *Köln 1747, *Straßburg 1756 bis zu *Mainz 1774, machen einen entschieden katholischen Eindruck. Auch Zusätze oder Anhänge aktualisieren nicht im evangelischen Sinne. Das gilt bis ins letzte Viertel des 18. Jahrhunderts. *Mainz 1774 ist gegliedert nach Liedern im Kirchenjahr, Fronleichnamsliedern, Marienliedern, Heiligenliedern, Wallfahrtsliedern und Litaneien. Ein „Zusatz neuer Lieder“ enthält Lieder auf die Heiligen Ursula, Anna, Joseph, auf Maria, auf die heiligen drei Könige und auf das heilige Sakrament. Das bleibt alles im Banne des barock-katholischen Gesangbuchtypus; irgendwelche Interessen für eine Aktualisierung im pietistischen Sinne sind offenkundig nicht vorhanden. 2. Station: *Paderborn 1765 Von den (nicht nur Lieder, sondern auch Litaneien umfassenden) 321 Nummern dieses Buches sind mindestens 80 von evangelischen Verfassern. 11 „Diese Lieder“, so Erika Heitmeyer, 12 „hatten jedoch im Bistum Paderborn keine Überlebenschance, denn bereits 1767 erschien eine approbierte gekürzte Neuauflage, die literarisch bezeugt, aber verschollen ist. Eine zweite Auflage dieser Neuauflage, gedruckt 1770 bei Wilhelm Junffermann, enthält nur noch 209 Lieder: bis auf drei Lieder sind alle anderen protestantischen Ursprungs weggelassen oder, in zwei Fällen, umgedichtet worden.“ Bereits 1780, nach 9 Der Zusatz Sieben und zwayntzig Außerlesener Lieder / Mit Anmüthigen Melodeyen gezieret enthält 36 Lieder, davon die Hälfte Heiligenlieder. Alle sind katholischer Herkunft. 10 *Neiße 1740 hat insgesamt nur 23 Lieder, davon sind evangelischer Herkunft Paul Gerhardts Wach auf mein Herz und singe und Nun ruhen alle Wälder, Luthers Verleih uns Frieden gnädiglich und Gott der Vater wohn uns bei, ferner Decius’ Allein Gott in der Höh sei Ehr, Polianders Nun lob mein Seel, Grünwalds Kommt her zu mir spricht Gottes Sohn und die anonymen Lieder Auf meinen lieben Gott trau ich, Warum betrübst du dich mein Herz und Heut triumphieret Gottes Sohn. Alle stehen auch bei *Freylinghausen, aber sie sind, mit Ausnahme der Lieder von Paul Gerhardt, zu Beginn des 18. Jahrhunderts schon mindestens hundert Jahre alt. Die Gerhardt-Lieder bringen es zwar nur auf ein halbes Jahrhundert, haben aber bereits vor *Freylinghausen eine reiche evangelische Rezeption (zumeist über die zahlreichen Auflagen der *Praxis pietatis melica (seit 1647). Vgl. Christian Bunners, Lieder Paul Gerhardts im Freylinghausenschen Gesangbuch, GrG S. 210-240: „Es ist also nicht zutreffend, daß der Weg in den Gemeindegesang für Paul Gerhardt recht eigentlich erst durch den Pietismus bereitet worden sei und daß dafür das Freylinghausensche Gesangbuch eine Schlüsselrolle gespielt habe.“ (S. 215) 11 Nach Bäumker III, 80. 12 Erika Heitmeyer: Sursum Corda. Vom Wesen und Wirken eines geistlichen Bestsellers, Paderborn 1999, S. 34. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 142 nur 15 Jahren, mußte das Werk insgesamt das Feld räumen, und zwar „seinem lebenskräftigeren, noch immer akzeptierten Vorgänger“ (von 1726 13 ). Unter diesen über 80 Liedern hat die größte Gruppe, nämlich 19 Lieder, Benjamin Schmolck zum Verfasser, 14 der für *Freylinghausen untypisch ist (dort nur ein einziges Lied stellt). Von den übrigen finden sich zwölf auch im Freylinghausenschen Gesangbuch. 15 Bei keinem davon hat man einen zwingenden Grund zu der Annahme, daß *Freylinghausen als Quelle gedient hat. In den meisten Fällen ist das ausgesprochen unwahrscheinlich, da es Text- oder Melodieabweichungen sowie näher liegende Überlieferungswege gibt. 3. Station: *München 1811 Die dreibändige Anthologie (denn um eine solche handelt es sich, nicht um ein kirchlich verwendetes Gesangbuch) enthält mindestens 380 Lieder 13 Heitmeyer S. 37. 14 Nach Bäumker III, 80. 15 Das sind im einzelnen: Neanders Lobe den Herren (mit geringen Abweichungen von *Halle 1741 in Text und Melodie), Petersens Jesu clemens, pie Deus (Freylinghausen-Kernbestand, vgl. KLL), zwar textgleich mit *Halle 1704/ 41, aber mit anderer Melodie, Richters Seid zufrieden, lieben Brüder mit sehr geringen Abweichungen von *Halle 1704/ 1741 (Bäumker III, 175 hatte noch nicht gesehen, daß das Lied bereits *Halle 1704 vorhanden ist, hat aber die Melodie offenbar auch in den heute nicht mehr auffindbaren Eichsfelder Gesangbüchern Duderstadt 1724 und 1734 aufgefunden) und Sacers Komm Sterblicher betrachte mich (textgleich wie *Halle 1704/ 41, nach KLL bereits Stralsund 1665, breite evangelische Überlieferung neben *Freylinghausen, insofern kommen zahlreiche andere Überlieferungswege in Betracht). Weiterhin finden sich des Angelus Silesius Ich will dich lieben, meine Stärke, für dessen Überlieferung *Freylinghausen zwar wichtig ist, das aber bald darauf eine breite evangelische Rezeption in anderen Büchern aufweist (Bäumker III, 72 kennt als ersten katholischen Beleg nach dem Erstdruck *Guben 1752, dort aber wie bei *Paderborn 1765 mit anderer Melodie) und Neanders Sieh hier bin ich Ehrenkönig, das nach KLL eine breite evangelische Überlieferung vor und nach *Freylinghausen aufweist, weshalb andere Wege ins Katholische wahrscheinlicher sind. Es gibt außerdem geringe Textabweichungen, so wird freye Gnad (Ich begehre nichts, o Herre / als nur deine freye Gnad) ersetzt durch theure Gnad, worin man die konfessionelle Differenz in der Rechtfertigungslehre gespiegelt sehen mag. Ach weh ach weh gehört wieder zu den Liedern des Angelus Silesius, ist *Paderborn 1765 19-strophig, *Halle 1704/ 41 aber 18-strophig, so daß Angelus Silesius wohl auf anderen Wegen eingespeist wurde. Des gleichen Autors Die Seele Christi heilge mich bestätigt das: Melodie und Text weisen deutliche Abweichungen auf. Du hast, Gott, in der ganzen Welt (Anonymus) ist in *Halle 1704/ 41 und *Paderborn 1765 annähernd textgleich, ist aber bereits in der Praxis pietatis melica *Hamburg 1703 und in etlichen anderen Gesangbüchern der Zeit zu finden. Gen Himmel aufgefahren ist ist eine Verdeutschung des Hymnus Coelos ascendit hodie, der nicht nur bei Freylinghausen, sondern bereits bei Corner (*Nürnberg 1625), also in einer katholischen Quelle belegt ist, allerdings evangelischer Herkunft ist und zuerst 1601 bei Bartholomäus Gesius zu finden ist (EG Nr. 119). Johann Daniel Herrnschmidts Gott wills machen, daß die Sachen kann, aber muß nicht über *Freylinghausen gelaufen sein. Es fähret heute Gottes Sohn (Anonymus) hat eine andere Melodiezuweisung und kann allenfalls textlich, aber muß nicht über *Freylinghausen gelaufen sein. Heut triumphieret Gottes Sohn (von Gregor Ritzsch) steht katholisch bereits *Nürnberg 1625 (Corner) und ist evangelisch bereits vor *Freylinghausen breit präsent. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 143 protestantischen Ursprungs 16 , von insgesamt 818. Davon stehen einige wenige auch bei *Freylinghausen, doch ist der Bezugspunkt des Herausgebers Kaspar Anton Freiherr von Mastiaux nicht dort zu suchen, sondern in der evangelischen Aufklärung, von der er die meisten Lieder und Fassungen bezieht. 17 Der Pietismus war ihm dennoch nicht fremd. Mastiaux scheint zu den Förderern der Allgäuer katholischen Erweckungsbewegung zu gehören, die ihrerseits Beziehungen zur Herrnhuter Brüdergemeine pflegte. 18 Doch lag damals das Freylinghausensche Gesangbuch wohl schon zu weit zurück, um noch als Bezugspunkt dienen zu können. 4. Station: Das Heroldsche Gesangbuch 1803-1860 Das Gesangbuch von Melchior Ludolf Herold erschien zuerst 1803, dann, immer noch als Privatdruck, in 2. verbesserter Auflage *Hoinkhausen 1807, dann weitgehend unverändert immer wieder bis zur 24. Auflage Lippstadt 1860. 19 Im Mainzer Gesangbucharchiv liegt die 10. Auflage *Lippstadt 1830 vor. Die Texte stammen fast durchgehend von den katholischen und evangelischen Autoren der Aufklärungszeit. 20 Es gibt nur ganz wenige Lieder, die auch im *Freylinghausen stehen, aber jeweils in stark veränderten Fassungen: J. A. Haßlochers Du sagst, ich bin ein Christ begegnet in einer von sechzehn auf acht Strophen gekürzten, stark veränderten Fassung. Ich hab in Gottes Herz und Sinn ist ein Lied von Paul Gerhardt, weshalb andere Überlieferungswege nahe liegen, 21 und ist überdies stark gekürzt und aufklärerisch verändert. Ähnliches gilt von Sollt ich meinem Gott nicht singen. Unter dem Initium Ich weiß, daß mein Erlöser lebt schließlich begegnen bei Herold und *Freylinghausen zwei völlig unterschiedliche Lieder. 16 Nach Bäumker IV, 108, meist von Klopstock, Gellert, Cramer, Lavater und Diterich. 17 Nur ganz wenige Lieder sind älter als fünfzig Jahre. Luthers Aus tiefer Not (Band III, 71) wird übernommen und redigiert nach der Aufklärungsfassung. Liebe, die du mich zum Bilde (Band III, 555, von Angelus Silesius) wird ebenfalls in einer aufklärerisch veränderten, von *Freylinghausen 1741 deutlich abweichenden Fassung präsentiert. Auch Die Seele Christi heilge mich (III, 508, von Angelus Silesius) begegnet mit völlig verändertem, wohl auf die lateinische Vorlage zurückgehendem Text. O du Liebe meiner Liebe (Band III, S. 68, von E. Senitz) ist zwar ursprünglich aus dem Freylinghausen-Bestand, aber inzwischen evangelisch breit rezipiert; Mastiaux bezieht sich außerdem auf eine stark bearbeitende aufklärerische Fassung. Auch bei Was Gott tut, das ist wohlgetan (III, 442, ursprünglich von S. Rodigast) zeigt sich das vertraute Bild. Das evangelische Adventslied Gott sei Dank in aller Welt (II, 367, von Heinrich Held 1658, EG Nr. 12) begegnet ebenfalls gegenüber *Freylinghausen völlig verändert. 18 Nach Horst Weigelt, Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung, in: GdP IV, 85-111, hier S. 96-98. 19 Vgl. Erika Heitmeyer (Anm. 13), S. 43-45; Bäumker IV, 88-98. 20 Einzelnachweise bei Bäumker, a. a. O. 21 Ausgangspunkt der Wirkungsgeschichte sind hier in der Regel die zahlreichen Ausgaben der Praxis pietatis melica (seit *Berlin 1653). Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 144 5. Station: Heinrich Bone, Cantate, *Mainz 1847 Die katholische Restauration des 19. Jahrhunderts 22 befördert außer einigen erfolgreich rezipierten Aufklärungsliedern (darunter auch solche evangelischer Herkunft) fast nur alte Lieder aus der Zeit bis zum 17. Jahrhundert. Die Zeit von 1700 bis 1775 spielt keine Rolle. Die vier Lieder, die sich sowohl im Cantate wie im *Freylinghausen finden, 23 stammen durchweg aus diesen älteren Zeiten. 24 6. Station: Kirchenlied *Freiburg 1938 Während die in der Aufklärungszeit versuchten Einspeisungen evangelischen Liedguts nur selten von nachhaltigem Erfolg gekrönt waren, kommt es im 20. Jahrhundert offenbar zu einer tiefergehenden Durchdringung der Konfessionen. Dem jugendbewegten Singen nach dem ersten Weltkrieg, das katholischerseits in die Sammlung Kirchenlied (*Freiburg 1938) mündet, gelingen zahlreiche Importe evangelischer Lieder so gut, daß ein Bewusstsein der evangelischen Herkunft dieser Lieder bei den katholischen Gläubigen in der Regel nicht besteht. Das Buch soll die Druckgenehmigung von den NS-Behörden erhalten haben, weil man hoffte, die Liedervermengung würde Unfrieden zwischen den Konfessionen stiften. 25 Das Gegenteil war der Fall, es kam zu einer erfolgreichen ökumenischen Begegnung. Die katholischen Diözesangesangbücher der Nachkriegszeit nehmen die evangelischen Lieder dieser Sammlung in breitem Strom an, so daß Lieder wie Lobe den Herren, Macht hoch die Tür, Was Gott tut, das ist wohlgetan, Morgenglanz der Ewigkeit, Wie schön leuchtet der Morgenstern oder das bis dahin fast nur evangelisch rezipierte Scheffler-Lied Mir nach, spricht Christus, unser Held (alle auch in *Freylinghausen) den katholischen Gläubigen bald als Eigengut erscheinen. Sie sind in der Regel gekürzt, manchmal auch verändert. Generell gilt, daß es sich nicht um ausgeprägt pietistische Lieder, sondern um in der evangelischen Kirche des 20. Jahrhunderts breit rezipierte Kernlieder handelt, so daß ein Zurückgreifen der Herausgeber der Sammlung Kirchenlied (* Freiburg 1938) auf *Freylinghausen nicht erforderlich war. 22 Vgl. Rebecca Schmidt, Gegen den Reiz der Neuheit. Prozesse der katholischen Restauration am Beispiel der Gesangbücher von Heinrich Bone, Joseph Mohr und Guido Maria Dreves, Tübingen 2004 (Mainzer Hymnologische Studien Band 14). 23 Verleih uns Frieden gnädiglich, Ein Kindelein so lobelich, Der Tag der ist so freudenreich, Christum wir sollen loben schon. 24 Darunter Nun bitten wir den heiligen Geist, O Traurigkeit, o Herzeleid, Ein Kind geborn zu Bethlehem und Da Jesus an dem Kreuze stund. 25 Das berichtet Thomas Labonté in seiner Dissertation: Die Sammlung „Kirchenlied“ (1938). Entstehung, Corpusanalyse, Rezeption, Tübingen: Francke-Verlag 2008, S. 11 (Mainzer Hymnologische Studien, Band 20) aus einem Gespräch mit Josef Seuffert. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 145 7. Station: Gotteslob 1975 Alle diese Lieder stehen noch, zum Teil verändert, im derzeit amtierenden Einheitsgesangbuch Gotteslob (seit 1975). Für Lobe den Herren findet sich dort die Quellenangabe „Stralsund 1665/ Halle 1741“ (für die Melodie), für Macht hoch die Tür liest man „Halle 1704“ (ebenfalls nur für die Melodie), desgleichen für Morgenglanz der Ewigkeit. Die Melodie dieses Liedes wurde außerdem auch übertragen auf Kündet allen in der Not (Friedrich Dörr 1972). Lediglich in drei Melodien zu vier Liedern scheint der hallesche Pietismus heute in den katholischen Raum hineinzuwirken. 26 Wobei noch die Frage ist, ob diese Melodien überhaupt etwas spezifisch Pietistisches haben, ob ihnen jene „Lieblichkeit und Gravität“ zukommt, von der Johann Anastasius Freylinghausen in der Vorrede zu *Halle 1704 spricht. Zu Macht hoch die Tür schreibt Christa Reich im HEG immerhin, daß sich der Eindruck eines schwingenden Ganzen einstelle. 27 Der 6/ 4-Takt kann in gewissem Maße als Innovation des halleschen Pietismus gewertet werden. Bei Morgenglanz der Ewigkeit ist der Befund schon undeutlicher, doch wird im Handbuch auch hier das Gefühlhafte vermerkt. „Mit ihrer durch den Generalbaß gegebenen harmonischen Begleitung erzeugt die Melodie eine moderierte Wärme. Es ist die Sprache der Terz, die unser Gemüt anspricht.“ 28 8. Gegenprobe Keines der sechzehn Lieder auf der CD der Franckeschen Stiftungen, die ja als typische ausgewählt sein und das Aroma des Pietismus tragen müßten, 26 Inzwischen hat Heinrich Riehm eine genaue Auszählung gemacht, die minimale Nachwirkungen auch in textlicher Hinsicht zutage förderte. Heinrich Riehm: Lieder aus dem Umkreis des halleschen Pietismus in landeskirchlichen Gesangbüchern ab 1950. In: „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Hrsg. von Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch. Tübingen: Niemeyer 2008, S. 553-564, hier S. 564. Riehm präzisiert, daß es in Gotteslob Nr. 644 (Sonne der Gerechtigkeit) zwei Strophen von J. C. Nehring gibt, ferner im Limburger und im Osnabrücker Diözesananhang das Lied Dir, dir, o Höchster, will ich singen zu finden ist. Wenn er außerdem auf das Lied Der Herr bricht ein um Mitternacht von Johann Christoph Rube verweist (Gotteslob Nr. 567), so stammt dieses zwar aus dem Umkreis des halleschen Pietismus, findet sich aber nicht in *Freylinghausen und gehört insoweit nicht zu unserem Untersuchungsgegenstand. Das Lied gelangte, wie sich Heinrich Riehm erinnert, auf Anregung von Markus Jenny sowohl ins EKG wie auch ins Gotteslob, gehört also zu einem historisch sehr späten Einspeisungsversuch. Im Gotteslob findet es sich überdies in einer Bearbeitung, die wesentliche pietistische Akzente eliminiert. Eine breite Rezeption des Liedes erfolgte meines Wissens nicht. 27 „Der Rhythmus: ein 6/ 4-Takt, der durchgehend im Grundschlag der punktierten Halben schwingt. Da ist beständige Bewegung, steter leichter Auftakt, steter Wechsel von schwer und leicht, keine Synkope, kein punktierter Rhythmus, keine Pause und, bis auf eine Ausnahme am Ende der vorletzten Zeile, kein Stillstand. Alles fließt, alles schwingt.“ (Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 1, Göttingen: Vandenhoek 2000, S. 56) 28 Eberhard Schmidt, Liederkunde zum Evangelischen Gersangbuch, Heft 8, Göttingen: Vandenhoek 2003, S. 47. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 146 erfährt je eine katholische Rezeption. 29 Durchweg evangelisch (mit den erwähnten geringen Ausnahmen) ist auch die Wirkungsgeschichte jener 12 Lieder, die Wolfgang Miersemann als besonders typisch identifiziert hat. 30 Ergebnisse Im 16. Jahrhundert werden noch relativ viele evangelische Lieder katholisch rezipiert. Die katholische Seite war vom Erfolg des reformatorischen Liedguts zunächst so konsterniert, daß sie noch jahrzehntelang Zuflucht in der Nachahmung suchte. Erst deutlich nach dem Ende des Tridentinums (1563) und besonders dann im 17. Jahrhundert festigt sich das katholische Selbstbewußtsein. Die Konfessionsgrenzen sind in den Jahrhunderten vom Tridentinum bis zum Ersten Weltkrieg sehr scharf markiert. Evangelisches Liedgut wird zwar gelegentlich präsentiert, aber es handelt sich stets um Bücher besonderer Prägung und geringer Massenwirkung, wie David Gregor Corners Geistliche Nachtigall (zuerst *Nürnberg 1625 31 ), das Rheinfelsische Gesangbuch *Augsburg 1666, 32 *Paderborn 1765 oder *München 1811. Ein 29 Nach Auskunft des Mainzer Liedkatalogs, der freilich abgelegene und vereinzelte katholische Übernahmen nicht erfaßt. Es handelt sich um die von den Franckeschen Stiftungen in Halle vertriebene CD „CHriste/ wahres Seelen-Licht“. Lieder des Pietismus. Auf ihr sind die Lieder Singt dem Herrn nah und fern, Wachet auf, ihr faulen Christen, Christe, wahres Seelenlicht, Wachet, wachet auf ihr Töchter Zion, Liebster Jesu, liebstes Leben, Wie lange soll ich dann, Eins ist not, ach, Herr, dies eine, Haß der Welt, O du Herzog meiner Liebe, Jesu perpetuo cuius delicio, Triumph, Triumph des Herrn Gesalbter sieget, Es glänzet der Christen inwendiges Leben, Jesu, Herr der Herrlichkeit, Auf, Triumph, es kommt die Stunde, Wer überwindet, soll vom Holz genießen sowie Amen, Gott Vater und Sohne. 30 1. Es glänzet der Christen inwendiges Leben, T: Chr. Fr. Richter (1704) M: Anonymus (Richter? ) (1704) 2. Es kostet viel, ein Christ zu sein, T: Chr. Fr. Richter (1704) M: Anonymus (Richter? ) (1704) 3. Jesus ist das schönste Licht, T: Chr. Fr. Richter (1704) M: Anonymus (Richter? ) (1704) 4. Wer ist wohl wie du, T: J. A. Freylinghausen (1704) M: Adam Drese (1698) 5. Wach auf, du Geist der treuen Zeugen, T: August Hermann Francke (zuerst 1702; 1704 bei Freylinghausen) 6. Auf, Seele, auf und säume nicht, T: M. Müller (zuerst 1700; 1704 bei Freyl.) 7. Eins ist not, ach Herr, dies Eine, T: J. H. Schröder (1695) M: Geistlich 1680 u. 1704 8. Dir, dir, Jehova, will ich singen, T: B. Crasselius (1695) M: Anonymus (1704) (hierzu immerhin ein katholischer Fundort: *Limburg 1957, vgl. ferner Bäumker IV, 175, 679) 9. Macht hoch die Tür, T: G. Weissel M: Anonymus (1704) (katholisch verbreitet seit *Freiburg 1938) 10.Gott sei Dank in aller Welt, T: H. Held (1658) M: Anonymus (1659 u. 1704) (nur *München 1811) 11. Erneure mich, o ewigs Licht, T: J. F. Ruopp (zuerst 1704; 1714 bei *Freylinghausen) 12. Lobe den Herren, o meine Seele, T: J. D. Herrnschmidt (1714) M: Anonymus (1714) 31 Näheres bei Franz Karl Praßl, Das österreichische katholische Kirchenlied im 17. Jahrhundert. Gesangbücher - Funktion - Repertoire, in: Ladislav Kacˇ ic (Hg.), Cantus Catholici a duchovná piesenˇ 17. storocˇ ia v strednej Európe - Cantus Catholici und das Kirchenlied des 17. Jh.s in Mitteleuropa, Kongressbericht Bratislava 2002, 83-95. 32 Dazu s. Anm. 9, ferner Kolumban Gschwend, Das Rheinfelsische Gesangbuch zu St. Goar, Augsburg 1666, in: JLH 7, 152-172. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 147 wirklich breiter Rezeptionsschub erfolgt erst mit der Sammlung Kirchenlied von 1938. Es gab also keinen wirklichen Raum für eine katholische Freylinghausen- Rezeption. Woran liegt das? Den Liedern aus *Freylinghausen scheint ein besonderes evangelisches Aroma anzuhängen, das katholischerseits als Alterität erscheint: So möchte man nicht sein. Dazu gehört das Subjektive und Selbstreflexive, der Seele die Temperatur Messende, die Innenschau, das Süßliche, Gefühlshafte, Ostentative, eine betuliche Art, Jesus anzureden. Die Zweiglein der Gottseligkeit (aus Macht hoch die Tür) nimmt man hin mit einem Lächeln. Das Katholische verstand sich mehr als Kult und objektiver Vollzug, es interessierte sich wenig für psychologische Authentizität, existentielle Erfahrung der Wiedergeburt und Subtilität der Selbstbeobachtung. Das ex opere operato der katholischen Sakramentsfrömmigkeit behauptet sich stark gegen das ex opere operantis einer subjektivistischen Frömmigkeitspraxis. Wer sich nicht in der Gnade fühlte, ging zur Beichte, und die Sache war geregelt. Die katholische Welt war wohl auch ethisch liberaler, der Lebensfreude offener als Francke mit seinem Lachverbot und seiner überzogenen Furcht vor der Fleischeslust. Das alles ist bis heute so. Ein Einfluß des Pietismus wird im großen Ganzen nicht gewünscht. Zum Schluß ein Paradox. *Freylinghausen hat für die Einspeisung der Lieder aus der Heiligen Seelenlust des Angelus Silesius eine wichtige Rolle gespielt. Mehr als fünfzig Lieder aus dieser Quelle finden sich in den verschiedenen Ausgaben. Auch wenn es eine schmale Linie katholischer Silesius- Frührezeption gibt (darunter *Paderborn 1765 und *München 1811), 33 so gelang die erst im 20. Jahrhundert erfolgende Übernahme dieser Lieder in die katholische Gemeindesingpraxis auf breiter Front erst auf dem Umweg über die sehr viel breiter angelegte evangelische Rezeption. Das evangelische Aroma, das im Rezeptionsschicksal, aber auch im Produktionskontext des evangelisch erzogenen Konvertiten Scheffler begründet ist, hat die katholische Rezeption lange behindert. Auf der anderen Seite hat die pietistische Einfärbung den Liedern etwas mitgegeben, das dann doch auch für den katholischen Raum fruchtbar wurde, eine persönliche Jesusfrömmigkeit, die von Liedern wie Ich will dich lieben, meine Stärke, Morgenstern der finstern Nacht und Mir nach, spricht Christus, unser Held dann getragen und befördert wurde. Sollte es im katholischen Raum „pietistische“ Bedürfnisse gegeben haben, dann wurden diese durch die Lieder des Angelus Silesius abgedeckt. Wenn dem so war, dann trug ein katholischer Autor den evangelischen Pietismus in den katholischen Raum. 33 Näheres bei Irmgard Scheitler, „Heilige Seelen-Lust“. Die Rezeption der „Geistlichen Hirten-Lieder“ vom 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, in: Hansjakob Becker und Reiner Kaczynski, Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, St. Ottilien 1983, S. 711-753. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 148 Quellenverzeichnis: *Augsburg 1666 Christliches Catholisches zu S. Goar uebliches Gesang=Buch/ mit vorgesetzen Melodeyen auff alle hohe feste durchs gantze Jahr, wie auch auff an=dere Zeiten vnd Faelle mit Fleiß zusammen getra=gen/ vnd in diß Formb gebracht/ vnd meh=rentheils dem Davidische Harmonj genannt/ nachgedruckt. Permissu eorum, ad quos pertinet. Erstlich gedruckt zu Wien/ bey Johann Ja=cob Kuern/ jm Jahr 1659. Vnd jetze mit verscheidenen Lidern vnd Psalmen vermehrt/ nachgedruckt zu Augsburg/ Bey Simon Vtzschneider/ auff vnser lieben Frawen Thor. Jm Jahr Christi 1666. *Bamberg 1719 Heilige | Seelen-freud | Durch | Andächtiges Ge-|sang zu erwecken / | Umb | Das Gemüth von Zeit zu | Zeit in GOTT zu - | erheben. | W (IHS) | BAMBERG / | Gedruckt in der Hochf. Druckerey / | bey Johann Gerhard Kurtz. 1719. *Berlin 1653 PRAXIS PIETATIS | MELICA. | Das ist: | Vbung der | Gottseligkeit in Christ=|lichen und trostreichen | Gesängen / | Herrn D. Martini Lu=|theri fürnemlich / wie auch ande=|rer vornehmer und gelehr=|ter Leute: | Ordentlich zusammen gebracht / Vnd / über vorige Edition | mit gar vielen schönen / neuen | Gesängen (derer ingesamt 500) | vermehret: | Auch zu Beforderung des so wol | Kirchen= als Privat=Gottesdienstes / | mit beygesetzten Melodeyen / nebest dazu | gehörigem Fundament / verfertiget | Von | Johann Crügern Gub. Lus. | Direct. Mus. in Berlin / ad D. N. | P | EDITIO V. | Gedruckt zu Berlin / und verleget von | Christoff Runge / Anno 1653. *Freiburg 1938 Kirchenlied | Eine Auslese geistlicher Lieder. Freiburg: Herder-Verlag 1938. *Freylinghausen Siehe *Halle 1704 und *Halle 1741 *Guben 1752 Neues Geistliches Zeug=Hauß, Oder Catholisches mit allerhand auserlesenen Geistlichen Waffen, und heilsamen Christlichen Ermahnungen, wohl versehenes Gebeth= und Gesang=Buch. Auf stetes Anhalten andächtiger Hertzen Aus dem vorigen kleinern Format in dieses grössere auffs neue verfasset, verändert, vermehret, mit Kupffern gezieret, und zu grösseren Trost und Nutzen der Catholischen Christenheit willfährig mitgetheilet Jm Stifft und Closter Neuen= Zelle Cistercienser Ordens. Mit Röm. Kays. Majestät sonderbahrer Freyheit. Guben, gedruckt bey Johann Michael Kühn. 1752. *Halle 1704 Geist=reiches | Gesang=Buch / | Den Kern | Alter und Neuer | Lieder / | Wie auch die Noten der un=|bekannten Melodeyen / | Und darzu gehörige nützliche Register | in sich haltend; | In gegenwärtiger bequemer | Ordnung und Form / | sam[m] einer | Vorrede / | Zur | Erweckung heiliger Andacht und Erbauung | im Glauben und gottseeligem Wesen | herausgegeben | von | IOHANN ANASTASIO | Freylinghausen / Past. Adj. | HALLE / | Gedruckt und verlegt im Wäysen=|Hause / 1704. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 149 *Halle 1741 Geistreiches | Gesang=Buch, | Den Kern alter und neuer | Lieder | in sich haltend, | in gegenwärtiger bequemer | Ordnung und Form, | Nach denen unter diesem Namen alhier schon | edirten | Gesang=Büchern | eingerichtet, | Herausgegeben | Von | IO. ANASTA- SIO Freylinghausen, | weil. Past. zu St. Ulrich und des Gymn. Schol. | Dritte Auflage. | B | HALLE, In Verlegung des Wäysenhauses, 1741. *Hamburg 1703 Johann Krügers | Neu zugerichtete | PRAXIS PIETATIS MELICA: | Das ist: | Ubung der | Gottseligkeit / | In Christlichen und trostreichen | Gesängen | Herrn D. Martin. Lutheri | fürnemlich / wie auch anderer seiner | getreuen Nachfolger / und reiner | Evangelischer Lehr | Bekenner / | Ordentlich zusammen gebracht / | Und zur Beförderung des so | Kirchen= als Privat-Gottesdiensts / | mit bißhero gebräuchlichen / wie auch neu=|en Melodeyen / verfertiget / und mit | vielen trostreichen Gesängen | vermehret. | Von | Peter Sohren / | Bestallten Schul= und Rechenmei=|ster der Christlichen Gemeine zum | H. Leichnam in Königlicher Stadt | Elbing in Preussen. | HAMBURG / | In Verlegung Johann Hinrich Völckers. | RATZEBURG | Gedruckt bey Sigismund Hoffmann / | Im Jahr Christi 1703. *Hoinkhausen 1807 Der heilige Gesang oder vollständiges katholisches Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht. Hrsg. von M[elchior] L[udolf] Herold, Pfarrer zu Hoinkhausen im Herzogthum Westphalen. Mit Gutheißen der geistl. Behörde. 2. verbesserte Aufl. Gedr. auf Kosten des Herausgebers 1807. *Köln 1638 Geistlicher | Psalter | in welchem | Die ausserlesenste | alt: vnd newe kirch=|en vnd hausgesang | neben den lieblichs=|ten Psalmen Dauids | verfasset seindt. | Colln | MDC XXXVIII | In verlegung Peter Greuenbruchs *Köln 1747 Geistliches | Psälterlein | PP. Societ. JESU, | In welchem | Die außerlesenste alte und | newe Kirchen= und Hauß=Ge=|säng / liebreichste Psalmen Davids / | Kinder=Lehr / kleiner Catechismus / | Gebett=Büchlein der Bruder=|schafften / zc. verfasset. | Diese letzte Truck von denen | Patribus mit sonderlichem Fleiß | übersehen / und mit anmuthigen und | gantz newen Gesängen und vielen Psal=|men vermehret / so seiner | Ordnung nach eingesetzt. | P | Cölln / | In dem Metternichischen Buch=|laden / Im Vogel Greiff. | Im Jahr 1747. *Limburg 1957 Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Limburg, Frankfurt am Main: Verlag Josef Knecht [1957 u. ö.] *Lippstadt 1830 Der | heilige Gesang, | oder | vollsta[e]ndiges katholisches | Gesangbuch | fu[e]r | den o[e]ffentlichen Gottesdienst | und die ha[e]usliche Andacht. | Herausgegeben | von | M. L. Herold, | weil. Pfarrer zu Hoinkhausen im Herzogthum Westphalen. | V | Mit Gutheißen der geistlichen Beho[e]rde. | Zehnte Auflage. | Z | Lippstadt, | Druck und Verlag von Heinrich Staats. | 1830 Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 150 *Mainz 1605 Catholisch Cantual oder | Psalmbüchlein: | Darinnen viel | Lateinische vnnd Deutsche / | aber meistentheils alte Catholische | Gesänge begriffen / welche man auff die | fürnembsten Fest deß gantzen Jahrs/ auch | bey dem Ampt der H.Meß/ Processio= | nen/ vnd sonst/ zusingen | pflegt. | Jetzt von Newem vbersehen/ ver= | bessert/ vnd in ein feine Ordnung gebracht | und gestelt: Ein jedes mit seinen | Noten vnnd Melo= | dey: | Außtheylung sampt einem Ordent= | lichen Register. | Gedruckt in der Churfürst= | lichen Statt Meyntz / durch | Balthasar Lippen/ Im | Jahr 1605. *Mainz 1683 Allgemeines | Gesang=Buch | Jn welchem | Die ausserlesenste so wol alte | als neue Lieder/ so in den Mayntzi= | schen/ Cölnischen/ Trierischen/ Würtzbur= | gischen und Speyrischen | Gesang Bücheren | Verfast und begriffen/ in dieses all= | gemeine Gesangbuch zusammen | gesetzt seynd. | Mit beyfügung der jenigen newen | Lieder/ so in obgemelten Ertz= und Bistum- | ben dieser Zeit üblich/ und dannoch in keinem | deren Gesangbüchern zu finden | seynd. | Auß sonderbahrer Bewilligung ei= | nes Hochw. Vicariats zu Mayntz im gantzen | Ertz=Stifft in Kirchen und Schulen | zu gebrauchen. | Z | Mäyntz / | Bey Christoph Küchlern im | Jahr 1683. *Mainz 1712 Speyrischen Gesangbüchern gezogen / und mit vilen neuen Liedern / fürnemlich Auff alle Fest deß Jahrs geziert und vermehret. Auß sonderbarer Bewiiligung eines Hochwürd. Vicariats zu Mayntz Anno 1682, im gantzen Ertz-Stifft zu brauchen. Anjetzo Anno 1709. von dem Authore mit goßem Fleiß übersehen / von gar vilen eingeschlichenen Truck- Fehlern corrigiert / mit Zusetzung vierzehn neien Liedern / vnd mit Verbesserung der Melodien / Noten / Reymen und Versen außstaffieret. Die jenige Lieder so keine Noten haben / seynd auß dem Mayntzer Gesang-Buch genommen; allwo sie mit Noten zu finden seynd. Der eilffte Truck. Durch P. Martin von Cochem / Cap. Cum Gratia & Privilegio Sac. Caes. Maj. & Electoris Mogunt. &c. Mayntz, gedruckt und verlegt durch Johann Mayern / Hoff- und Universit. Buchdruckern / 1712. 400 S. + 92 S. „Zusatz / Sieben und zwayntzig Außerlesener Lieder / Mit Anmüthigen Melodeyen geziert“. *Mainz 1723 Geistliche | Gesänger | Und | Gebetter, | Zu Gebrauch | Der Heiligen | MISSION | Zusammen getragen. | Cum Privileg. Sac. Caes. Majest. | Electoral. Mogunt. & Palatin. | & Permissu Superiorum. | B | Mayntz / | Gedruckt in der Churfürstl. Privilegirten | Hoff= und Universitäts=Buchdruckerey / | Durch Johann Georg Häffner. 1723. *Mainz 1755 Catholisches CANTUAL, | Eines | Mayntzer auch Allgemeinen | Gesang=Buchs, | Erste Abtheilung darin | Die auserlesenste, theils alte | theils neue Catholische Latein= und | Teutsche Gesänger begriffen seynd, | so man das gantze Jahr durch | In denen Kirchen, Schulen, | Wallfahrten, und sonsten | zu singen pflegt. | Sammt dem Basso Generali ad Orga-|num begriffen. | Anjetzo von neuem übersehen, corrigirt, | und mit vielen neuen Ge[s]ängern vermehrt/ | und verbessert | Von P. Martin vom [sic! ] Cochem Capuc. | P | Cum permissu Superiorum. | Z | Mayntz und Franckfurt, | In der Häffnerischen Buchhandlung, 1755. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs 151 *Mainz 1847 Cantate! | Katholisches Gesangbuch | nebst | Gebeten und Andachten | für | alle Zeiten und Feste des Kirchenjahres. | Nach den alten, sonst allgemein gebräuchlichen Gesängen | und Andachten, sowie nach dem lateinischen Kirchenritus | bearbeitet | von | Heinrich Bone. | Mit hoher geistlicher Genehmigung. | Z | Mainz, | Verlag von Kirchheim, Schott und Thielmann. | 1847. *München 1624 HYMNODIA CATHOLICA. | Auß vnderschid- | lichen von der Catholischen | Kirchen approbierten Gesangbü- | chern / Jn Processionibus, Bettvnd Kirch- | fahrten nutzvnd loblich zugebrauchen / mit | fleiß seligiert vnd zusammen | getragen / | Durch | VALEN- TINVM SCHLV[e]NDL | Secretarium Stiffts Tepel. | B | Getruckt zu München / durch | Nicolaum Henricum. | M. DC. XXIV. *München 1811 Katholisches Gesangbuch | zum | allgemeinen Gebrauche | bei | o[e]ffentlichen Gottesverehrungen. 3 Bände, München, 1810-11. [Herausgegeben von Kaspar Anton Mastiaux] *Neiße 1740 Catholische Kirchen-Gesänge / Und Geistliche Lieder. Auff alle Hohe Feste / auff das gantze Jahr / wie auch bey denen Proceßionen, Kirchen- und Wallfahrten / ingleichen deß Morgens und Abends, nach alter christlicher Gewohnheit zu singen. Neyß gedruckt und zu finden, bey Francisca Schlögelin verw. Stadt Buchdruckerinn. [ca. 1740] *Nürnberg 1625 Groß Catolisch | Gesangbüch | Darinen in die vierhundert | Andechtige alte vnd newe gesäng | vnd rüff/ in eine gute vnd richtige | ordnung züsam gebrach, so theils | zu Hauß theils zu Kirchen auch | bey Procesionen vnd Kirchenfes= | ten mit grosen nütz können | gesungen werden. | Alles mit sonderm fleiß aus | dem mehrern bißhero getruckte[e] | gesangbüchern zusam getra | gen: theils auch von newe | gestelt durch | Dauit Gregorium Cor= | nerum. | Cum Gratia et priuilegiae Cae: M: | Bey Georg Endtner | dem Jüngern. Bürger | in Nurnberg. *Paderborn 1765 GOTT, | und der allerseeligsten Got= | tes=Gebährerin, und Jungfrauen | MARIAE | gewidmetes, | Neues verbessert= und vermehrtes | Catholisch= | Paderbornisches | Gesang=Buch, | Welches zum Gebrauch des öffentlichen | Gottesdienstes in denen Kirchen so wol, als zu | eines jeden besonderen Andacht, und Seelen- | Heyl, zu gebrauchen. | In eine bequemere Ordnunge eingetheilet, | und | mit Noten, zu denen, und unbekannten | Gesängen, versehen. | Mit Approbation und Erlaubnüß hoher Obrigkeit. | Paderborn: Gedruckt und verlegt von Wilhelm | Junffermann, Hoff-Buchdrucker 1765. *Wien 1659 Davidische | HARMONIA. | Das ist / | Christlich Ca-|tholische Gesänge / mit | vorgesetzten Melodeyen / auff | alle hohe Fest durch das gantze | Jahr; wie auch auff andere Zeiten | vnd Fälle. | Zusammen getragen / | Auß vnterschidlichen GesangBÜ-|chern / vnd jetzo zum erstenmal in dise | Form gebracht. | A | Z | Gedruckt zu Wienn / bey | Johann Jacob Kürner / | im Jahr 1659. 14 Kirchenlied und Literaturgeschichte Die Aufklärung und ihre Folgen Die Verwandlungen alter Lieder. Rezeptionshorizonte, Leerstellen und Bestimmtheitsstellen Die Literaturwissenschaft war lange Zeit nur produktionsästhetisch orientiert, das heißt, sie interessierte sich für die Frage, was der Dichter alles einem Text mitgegeben hat, für den Horizont des Produzenten also. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich eine rezeptionsästhetische Wende vollzogen. Nicht mehr allein der Autor, sondern der Leser, also die Rezeptionsseite interessiert die Forschung. Der Erwartungshorizont des Lesers oder Sängers dichtet ja mit an einem Text. Der Text ist lediglich eine Partitur, die mittels der Einbildungskraft des Lesers zur Aufführung gebracht wird. Auch wenn die Partitur immer gleich ist, bringt doch jeder Leser andere Erfahrungen mit, mithin ein anderes Orchester, so daß ein und derselbe Text ganz verschiedene „Aufführungen“ findet. Die rezeptionsästhetische Wende ist für die moderne Kirchenliedforschung von eminenter Bedeutung. Weit mehr noch als andere Gattungen ist das Kirchenlied rezeptionsabhängig. Die große Mehrzahl der Kirchenlieder ist textlich außerordentlich instabil. Jede Gesangbuchgeneration greift in den Textbestand ein. Überblickt man diese Prozesse über Jahrhunderte, dann lösen sich die Texte oft auf in eine Kette von Fassungen. Es gibt Fälle, in denen ein „Urtext“ überhaupt nicht feststellbar ist. Die Osterleise Christ ist erstanden findet sich zuerst einstrophig in Handschriften des 12. Jahrhunderts, wird im 15. Jahrhundert dreistrophig und so dann auch von Luther überliefert, im 17. Jahrhundert zu einem 20-30-strophigen Erzähllied ausgeweitet, begegnet im 18. Jahrhundert meistens wieder in der Luther-Fassung und verschwindet in den meisten aufklärerischen Gesangbüchern seit ca. 1780 ganz. Die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich einsetzende Restauration nimmt das Lied zwar in der Regel bald wieder auf, aber häufig noch in aufklärerisch inspirierten Varianten. Die Fassung Gotha 1828 zum Beispiel 1 ersetzt (älteren Vorbildern folgend) Kyrieleison und Halleluja (meist 1 Neues Gothaisches Gesangbuch für die öffentliche Gottesverehrung und für die häusliche Andacht. Gotha 1828. Die zweite Strophe lautet dort zum Beispiel: Für uns, seine Brüder, erweckt Gott ihn wieder. Wer stets, wie er, für Andre lebt, so fromm und duldend, den erhebt Gott auch, wie ihn“ Kirchenlied und Literaturgeschichte 153 durch Gelobt sei Gott) und verschiebt den Akzent von der Auferstehung zur Moral (Wer stets, wie er, für Andre lebt). Als Quelle wird trotzdem „Luther“ angegeben. Die aufklärerischen Gesangbücher hatten nicht einmal vor den größten Namen Respekt. Sie eliminierten rücksichtslos auch die Lutherlieder. Nun komm, der Heiden Heiland, vorher stets enthalten, fehlt in fast allen Aufklärungsgesangbüchern; sowohl inhaltlich wie auch von der holprigen Versform widersprach es dem aufgeklärten Geschmack. Aus tiefer Not schrei ich zu dir ist teils vorhanden, teils gestrichen, teils radikal überarbeitet. 2 Ein feste Burg ist teils vorhanden, teils gestrichen, teils radikal revidiert, teils in einen Anhang abgedrängt, mit Liedern, die einige Vorgestrige sich gewünscht haben. Das Straßburger Gesangbuch von 1802 3 hat zum Beispiel einen Anhang mit dem Titel Auswahl von 20 alten Liedern. Auf Verlangen mehrerer Mitglieder der Gemeinde St. Thomä […]. Luthers Ein feste Burg begegnet dort historisiert und ins Zitat gerückt unter der Überschrift: Denkmal des hohen Glaubens-Muths Luthers. Als er auf den Reichstag nach Worms reisete, sang er also: […]“ Jeder Text verfügt, rezeptionsästhetisch betrachtet, über Bestimmtheitsstellen, die dem Leser eine bestimmte, feststehende Deutung abverlangen, und Leerstellen, an denen der Leser eigene Deutungen einbringen kann. Das Verhältnis Leerstellen - Bestimmtheitsstellen sollte im Idealfall ausgewogen sein. Es muß genug Bestimmtheit geben, um ein Lied nicht ins Beliebige und Aussagelose verschwimmen zu lassen, aber auch genug Bestimmbarkeit, um Aktivität des Lesers zu ermöglichen. Zuviel Bestimmtheit birgt die Gefahr, daß Lieder veralten. Zuwenig Bestimmtheit birgt die Gefahr, daß sie sich jedem Interesse zur Verfügung stellen. Martin Luthers Lied Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort lautete in seiner zweiten Zeile ursprünglich nicht und steure deiner Feinde Mord, sondern und steur des Papsts und Türken Mord. Das ist eine Bestimmtheitsstelle, die, am Beginn des Liedes stehend, die Stoßrichtung des ganzen Liedes deutlich festlegt. Es wurde auch lange Zeit so gesungen. Nach Auskunft unseres Mainzer Gesangbuch-Archivs begegnet die Fassung Feinde zwar schon zum Beispiel Leipzig 1731, aber Papst und Türken bleiben mehrheitlich bis ins siebte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erhalten. Erst die Aufklärungsgesangbücher bringen das Lied stets mit Feinde. 2 Besonders tiefe Spuren in der Wirkungsgeschichte hinterließ die Fassung des Berliner Gesangbuchs von 1780, deren erste Strophe lautet: Aus tiefer Noth ruf ich zu dir, der du ins Herz kannst sehen. Entzeuch nicht dein Erbarmen mir, Gott, laß mich Gnad erflehen! Ach, siehest du, als Richter, an, was wir nicht recht vor dir gethan, wer kann vor dir bestehen. Die letzten drei Verse vermeiden das Wort Israel und das Wort Sünden und lauten: Er ist allein der gute Hirt, der wiederbringt, was sich verirrt; er hilft aus allen Nöthen. (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich Preußischen Landen, Berlin: Mylius 1780). 3 Neues Gesangbuch zu Beförderung der häuslichen und öffentlichen Andacht, Straßburg 1802. Kirchenlied und Literaturgeschichte 154 Das rezeptionsästhetische Problem ist, daß, wenn der Papst und die Türken verschwinden, das Wort Feinde zur Leerstelle wird. Das Lied paßt nun auf alles. Es kann nach Bedarf gegen Katholiken oder Kommunisten, gegen Atheisten oder Faschisten gesungen werden. Die Bekennende Kirche sang es gegen die Deutschen Christen, und die Deutschen Christen sangen es gegen die Bekennende Kirche. Die Aufklärung hat die Leerstelle Feinde einfach mit den Feinden der Aufklärung gefüllt. Die Fassung Darmstadt 1872 4 ist mit ihrer Aufforderung zu Toleranz, Rationalität und Freiheitlichkeit geradezu ein Programmlied des Liberalismus. Das Beispiel der Aufklärung Die einschneidende Wirkung des Traditionsbruches, den die Gesangbücher der Aufklärungszeit vollzogen, ist bereits sichtbar geworden und soll nun im Zusammenhang und in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Literaturgeschichte untersucht werden. 5 Im 16. und 17. Jahrhundert verlaufen die Entwicklungen der weltlichen und der geistlichen Dichtung weitgehend konform. Innerhalb der Gattungshierarchie ist das Kirchenlied eine angesehene Textsorte, in der die meisten großen Dichter der Zeit etwas zu leisten versuchen. Texte von Sigmund von Birken, Paul Fleming, Andreas Gryphius, Johann Rist oder Martin Opitz stehen noch heute im Evangelischen Gesangbuch. Das bleibt auch im 18. Jahrhundert so. Obgleich die Gesangbücher mit Verzögerung reagieren und, während eine „vernünftige Poesie“ schon seit 1730 propagiert wird (Gottsched, Critische Dichtkunst) und die aufklärerischen Gesangbücher frühestens seit 1765 (Johann Samuel Diterich, Lieder für den öffentlichen Gottesdienst, Berlin 1765) und in breiterem Strome erst seit etwa 1780 (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich-Preußischen Landen, Berlin: Mylius 1780) ihre Wirkung entfalten, ist der Wunsch, modern zu sein, den Anschluß an die Geistesgeschichte nicht zu verlieren, doch klar erkennbar. Es sind deshalb auch im 18. Jahrhundert die größten Namen der profanen Literaturgeschichte, die Kirchenlieder beitragen: Christian 4 Allgemeines Evangelisches Gesangbuch für das Großherzogthum Hessen, Darmstadt 1872. Die ersten beiden Strophen mögen als Beispiel dienen: 1. Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort; den finstern Irrthum treibe fort; bewahr uns vor Gewissenszwang, so preist dich unser Lobgesang! 2. Die Völker sein dir unterthan! Es weiche falscher Lehre Wahn vor deiner Wahrheit klarem Licht: Gewalt hilft dem Gewissen nicht. 5 Inzwischen liegt mit der von Dominik Fugger und Andreas Scheidgen hg. Geschichte des katholischen Gesangbuchs (Tübingen: Francke-Verlag 2008, Mainzer Hymnologische Studien Bd. 21) ein ausgezeichneter Überblick vor, der die hier vorgebrachten geistesgeschichtlichen Überlegungen mit exakten literarhistorischen Daten stützt, die auf der Datenbank „Gesangbuchbibliographie“ fußen. Eine Geschichte des evangelischen Gesangbuchs soll folgen. Kirchenlied und Literaturgeschichte 155 Fürchtegott Gellert, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Gottfried Herder und andere mehr. Erst die deutsche Klassik, die im Zuge der Autonomieästhetik Gebrauchstexte generell abwertete, bricht mit dieser Tradition. Das Hamburgische Gesangbuch von 1842 6 , ein halbrestauratives Buch, das neben der aufklärerischen Tradition auch die wichtigsten Lieder von Martin Luther und Paul Gerhardt wiederaufnimmt, enthält (12. Auflage 1868) ein Register mit Liedverfassern und Jahreszahl. Man kann hier mit einem Blick sehen, daß damals rund 90 % der Lieder aus den letzten hundert Jahren vor Erscheinen stammen. In der Stammausgabe des Evangelischen Gesangbuchs von 1993 liegt die Zahl der Lieder aus den letzten hundert Jahren bei kaum mehr als 20 %. Als oberstes Prinzip der aufklärerischen Bücher ist das Bemühen um Aktualität und Modernität zu erkennen. Daraus folgt mittelbar die Durchsetzung der üblichen aufklärerischen Interessen, die wir im folgenden an einigen Bearbeitungsbeispielen sinnfällig machen wollen: 1. Entmythisierung. Am deutlichsten erkennbar ist diese Tendenz am fehlenden Verhältnis zur Eschatologie. Bestimmtheitsstellen im Textbereich Tod und Hölle werden durch Leerstellen oder aufklärerische Bestimmtheiten ersetzt. Das Lied Mitten wir im Leben sind geht in seiner ersten Strophe auf eine lateinische Antiphon des 11. Jahrhunderts zurück. Die Strophen 2 und 3 stammen von Martin Luther. Das katholische Gesangbuch von Michael Vehe von 1537 7 übernimmt den Luther-Text, greift aber an allen drei Stellen ein, wo das Wort Hölle vorkommt. Ebenso verfahren die Bearbeiter der Aufklärungszeit. 8 Das Lied kennt keine Hölle mehr, wie in der katho- 6 Hamburgisches Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst und die häusliche Andacht, Hamburg 12 1868. 7 Michael Vehe’s Gesangbüchlin vom Jahre 1537, herausgegeben von Heinrich Hoffmann von Fallersleben (Hannover 1853). 8 Im Altonaer Gesangbuch von 1785 ist Luthers Hölle verschwunden sowie das ursprünglich an Christus gerichtete Trishagion (Heiliger Herre Gott..“) trinitarisch korrigiert. Der auf Klopstock zurückgehende Text lautet: 1. Wir, der Erde Pilger, sind Mit dem tod umfangen. Wer, ach! wer errettet uns, Daß wir gnad erlangen? Das thust du, HErr, alleine! Es reut uns unsre missethat, Die dich, HErr, erzürnet hat. Heiliger! Schöpfer GOtt! Heiliger! Mittler, GOtt! Heiliger! Barmherziger Tröster! Du ewiger GOtt! Laß uns nicht versinken In des todes tiefer nacht! Erbarm dich unser! 2. In dem tod ergreifen uns Unsrer thaten schrecken. Ach, wer wird, wer wird uns dann Vorm gerichte decken? Das thust du, HErr, allein! Preis ihm! Wir überwinden weit Durch des HErrn barmherzigkeit. Heiliger! Schöpfer, GOtt! Heiliger! Mittler, GOtt! Heiliger! Barmherziger Tröster! Du ewiger GOtt! Laß uns gnade finden In der letzten, letzten noth! Erbarm dich unser! 3. Ach, wenn uns in dieser angst Unsre sünden treiben: Wo entfliehen wir dann hin, Da wir können bleiben? Zu dir allein, Versöhner! Vergossen ist dein heiligs blut, das gnug für die sünde thut. Heiliger! Schöpfer, GOtt! Heiliger! Mittler, GOtt! Heiliger! Barmherziger Tröster! Du ewiger GOtt! Stärke, stärk im tode Uns durch deiner liebe trost! Erbarm dich unser! (Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Allergnädigsten Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinen des Herzogthums Schleswig, Kirchenlied und Literaturgeschichte 156 lischen Rezeption. Auch im heutigen katholischen Einheitsgesangbuch Gotteslob ist das so, sofern dort nur die erste Strophe zu finden ist. Die Vehe-Varianten halten sich jedoch in bestimmten Militärgesangbüchern. In Strophe 3 war der Beginn bei Luther Mitten in der Höllen Angst, bei Vehe Mitten in der Feinden Hand, im Feldgesangbuch von 1940 Mitten in des Feindes Land 9 Hier ist offenkundig eine neue, militärisch verwendbare Bestimmtheit eingedrungen. Sie ist allerdings nicht von den Nazis erfunden worden, denn Feindes Land begegnet zum Beispiel auch im Rottenburger Gesangbuch von 1919. 10 2. Entpoetisierung, Entmetaphorisierung, Abstrahierung. Die aufklärerischen Gesangbuchvorreden wenden sich gegen „Lieder, in welchen ein spielender Witz herrschte […] und die den leichtsinnigen Gemüthern Anlaß zum Spotten gaben“ (Bayreuth 1803 11 ). Aus dem Lied Wie schön leuchtet der Morgenstern verschwinden im Zuge der Aufklärung nunmehr konsequent die Manierismen, zum Beispiel die gesucht kostbaren Wörter wie „Jaspis“ und „Rubin“, die lateinischen Formeln, die zärtlichen Diminutiva, die kühnen Bilder und die erotischen Metaphern zugunsten von Abstrakta und konventionellen Formeln. 12 3. Sprachliche Modernisierung. Die Aufklärung will Maß und Vernunft und streicht deshalb die extremen Bilder der Reformation und der Barockzeit. Aus tiefer Not schrei ich zu dir wird zu Aus tiefer Not ruf ich zu dir. 13 Die Verständlichkeit für den Durchschnittsmenschen ist den Bearbeitern ein wesentliches Anliegen. Die Aufklärung vereinfacht die Syntax, glättet die Metrik, streicht Latinismen (gratiosa coeli rosa), Graecismen (Kyrieleison) und Hebraismen (Hosianna, Sabaoth, Israel, Alleluja). Was damals als „undeutsch und morgenländisch“ kritisiert wird (Vorrede Altona 1785 14 ), erhält im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich auch eine antisemitische Note. In Luthers Aus tiefer Not hat schon (z. B.) das Hanauer Gesangbuch des Herzogthums Hollstein, der Herrschaft Pinneberg, der Stadt Altona und der Grafschaft Ranzau gewidmet und mit Königlichem Allerhöchstem Privilegio herausgegeben. (Altona 41785, erste Auflage 1780). 9 Katholisches Feldgesangbuch (Berlin ca. 1940). 10 Katholisches Gesang- und Andachtsbuch zum Gebrauch bei dem öffentlichen Gottesdienste im Bistum Rottenburg, Rottenburg 1919. Das erste Vorkommen der Variante Feindes Land liegt sicher noch erheblich früher, doch ließe sich das nur mit unangemessen hohem Ermittlungsaufwand exakt feststellen. 11 Neue Sammlung auserlesener evangelischer Lieder oder vollständigeres Gesangbuch zum öffentlichen und besonderen Gebrauch der christlichen Gemeinen in dem Burggrafthum Nürnberg […], Bayreuth 23 1803. 12 Die Veränderungen des Morgenstern-Liedes beginnen vereinzelt allerdings schon früher, vgl. z. B. Waltraud-Ingeborg Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, Kassel 1983, S. 172-212. 13 Zum Beispiel im Berliner Gesangbuch von 1780 (Anmerkung 2). 14 Quellennachweis Anmerkung 9. Kirchenlied und Literaturgeschichte 157 von 1779 Israel durch Volk ersetzt. 15 Auf diese von der Aufklärung eingeführte Texttradition greifen aber dann die Deutschen Christen der NS-Zeit zurück. 16 Einige weitere Tendenzen möchte ich noch nennen, ohne sie im einzelnen auszuführen. Die 4. Historisierung wurde schon erwähnt: Alte Lieder rücken in die Anhänge oder ins Zitat oder beides, wie im Straßburger Gesangbuch von 1802. 17 5. Pädagogisierung. Der Gottesdienst soll „eine immer hellere Aufklärung ihres Geistes“ bewirken, ferner eine Besserung des Herzens und des Lebens (Vorrede Altona 1785 18 ). 6. Erotischer Purismus. Die Aufklärung unterdrückt die Sinnlichkeit der barocken Tradition; sie wendet sich gegen vermeintlich unschickliche und unedle Ausdrücke und will hinwegräumen, „was etwa anstößig seyn, und die Erbauung hindern könnte“ 19 . 7. Verstaatlichung. Die Obrigkeit kommt verstärkt ins Spiel. Typisch ist ein Text wie Erhalt uns, Herr, die Obrigkeit, zu singen auf die Melodie von Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Speyer 1892 20 ). Die Restauration der alten Texte setzt mit der deutschen Romantik ein. Des Knaben Wunderhorn (1806) enthält alte Kirchenlieder, darunter auch Ein feste Burg (unter dem Titel Kriegslied des Glaubens, I, 112, mit vielen Abweichungen). Zuerst kommen die Luther-Lieder zurück. Braunschweig 1825 21 bringt als Schlußabteilung alle Lutherlieder, Breslau 1842 22 als Vorausabteilung (mit eigener Zählung; man wollte die alten Bücher nicht neu setzen oder die alte Numerierung verwendbar lassen). Schleiermacher, aus der Berliner Romantik inspiriert, arbeitet am Berliner Gesangbuch von 1829 mit, das den „Mylius“ von 1780 ablösen wird. Allerdings bedarf es schon bald eines Anhangs, da das Bedürfnis nach alten Liedern längst nicht gestillt ist. 15 Die Schlußverse lauten hier: Er ist allein der gute Hirt, der uns, sein Volk, erlösen wird von allen unsern Sünden. (Neues Gesangbuch zum Gebrauch der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Grafschaft Hanau, Hanau 1779). 16 In Großer Gott, wir loben dich (Weimar: Der Neue Dom. Verlag für deutschchristliches Schrifttum 1941) lauten die Schlußverse: Er ist allein der gute Hirt, er, der sein Volk erlösen wird aus seinen Sünden allen. 17 Quellennachweis siehe Anmerkung 3. 18 Quellennachweis siehe Anmerkung 9. 19 Lieder für den öffentlichen Gottesdienst (Berlin 1765), Vorrede. 20 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauche für protestantisch-evangelische Christen (Speyer 1892). Die erste Strophe lautet: Erhalt’ uns, Herr, die Obrigkeit, die du uns gabst auf Erden, mit Wohlstand und mit Sicherheit durch sie beglückt zu werden! Verleih’ ihr Weisheit, Lust und Kraft, was wahres Wohl dem Lande schafft, mit Sorgfalt wahrzunehmen! 21 Neues Braunschweigisches Gesangbuch, nebst einem kurzen Gebetbuche, zum öffentlichen und häuslichen Gottesdienste, Braunschweig 1825. 22 Evangelisches Gesangbuch nebst einem Anhange von Gebeten zur öffentlichen und häuslichen Gottesverehrung, Breslau 1842. Kirchenlied und Literaturgeschichte 158 Unverkennbar habe sich, so heißt es in der Vorrede zur achten Auflage von 1853, der kirchliche Sinn neuerdings in noch höherem Grade und größerem Umfange als zum Zeitpunkt der Erstausgabe „sowohl überhaupt den Liedern von älterer Bewährung, als auch den älteren Lese-Arten der einzelnen, wieder zugewandt“ 23 . Wir haben an den Liedbeispielen schon gesehen, daß die Nachwirkung der Aufklärung bis ins zwanzigste Jahrhundert anhält. Die Restaurationsbewegung beginnt sehr langsam und kompromißbereit. Wiesbaden 1880 24 hat noch von Gellert, Cramer und Diterich jeweils über 30 Lieder, bei 13 Luther- und 18 Paul-Gerhardt-Liedern. Die romantischen Lied- und Märchensammlungen entstehen im ersten und zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Die Kirchenlied- und Gesangbuchentwicklung reagiert in größerem Umfang erst seit den Dreißiger und Vierziger Jahren, als die wichtigsten Dichter bereits andere Wege gehen, wie zum Beispiel Heine, Büchner oder die politischen Schriftsteller der Vormärzzeit. Profane Dichtungsgeschichte und Kirchenliedgeschichte beginnen von nun an immer weiter auseinanderzuklaffen. Die Gesangbuchentwicklung steht in den politischen und sozialen Kämpfen der letzten 150 Jahre fast stets auf der Seite der beharrenden Mächte. Die große Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts war weitgehend oppositionell. Die Kirchenliedentwicklung hingegen ist affirmativ. Sie bringt kirchliche Sonderdichter hervor wie jenen Bischof Heydenreich, der 57 Lieder zum Wiesbadener Gesangbuch von 1880 beitrug. Die großen Innovationen der Lyrikgeschichte wurden nicht mitgemacht, weder Heine noch Fontane, weder Arno Holz noch Rilke, weder Benn noch Brecht, weder die Symbolisten noch die Expressionisten noch gar die Dadaisten hinterließen eine nennenswerte Spur im Kirchenlied. Bedingungen der Möglichkeit von Restaurationen heute Wir können uns nicht aus der Geschichtlichkeit des Glaubens ausklinken. Leerstellen füllen heißt immer und zwangsläufig, Interessen unserer Zeit einzubringen. Wenn wir singen und steure deiner Feinde Mord, dann müssen wir eine Vorstellung davon bilden, wer heute die Feinde sind, die Jesus Christus vom Thron stürzen wollen, und was oder wen sie morden. Anderenfalls bleibt das Lied leer. Man kann die Texte restaurieren, aber nicht den alten Glauben. Restaurationen sind möglich, wenn für alte Lieder neue Realisationskontexte gefunden werden, neue Bestimmbarkeiten. Unter den vielen heute möglichen Rezeptionshorizonten, die den alten Texten neues Leben geben könnten, 23 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für Evangelische Gemeinden (Berlin 81853), Vorrede. 24 Gesangbuch für die evangelisch-christliche Kirche in Nassau, Wiesbaden o. J. (Ausgabe 1880). Kirchenlied und Literaturgeschichte 159 möchte ich mich mit einem einzigen befassen, dem Horizont Postmoderne. Die „postmoderne“ Zeitströmung ist der Religion gegenüber aufgeschlossen. Das sollte als Chance für alte Lieder begriffen werden. Manierismen sind in diesem Kontext positiv. Eine ästhetische Realisation, unabhängig von Fragen eines expliziten Glaubens, stößt heute auf Interesse. Die Latinismen, die Erotizität der Brautmystik, die Apokalyptik im Morgenstern-Lied: solche hochartifiziellen Produkte sind anziehend für die manieristische Décadence der heutigen Kultur. Auch theologisch scheint mir die Verachtung der ästhetischen Realisation nicht angebracht. Oft steckt in ihr verwandelte Glaubenskraft. Der Kunstsinn hat ja kein eigenes Organ. In das, was wir als schön, als häßlich, als erhaben empfinden, gehen vielfältige Prägungen unserer Wahrnehmung ein. Ästhetische Reize speisen sich nicht zuletzt aus der Erinnerung an verschüttete religiöse. Romantik sei Heimweh nach der Kirche, hat Eichendorff einmal gesagt. 25 Die Postmoderne hat nichts eigenes, aber sie zitiert gerne. Ergriffen zitierte ein religionsferner Bekannter von mir ein altes Beerdigungslied. Nun laßt uns den Leib begraben ist als Zitat aufführbar, auch wenn der Glaube es nicht mehr im wörtlichen Sinne trägt. Das ist besser als Abmilderungen ins Nichtssagende, die keine Bestimmtheit mehr anbieten. Die Fassung im neuen Evangelischen Gesangbuch zeigt das Fortwirken der Aufklärungsinteressen bis heute, von der metrischen Glättung, die den Text harmonisiert und ihm seine archaische Härte nimmt, bis zur inhaltlichen Verflachung, die am Fehlen der fünften Strophe besonders deutlich wird. Bewußt als Zitat singen ist besser als streichen. Auch alte, nicht mehr im Wortsinn geglaubte Bestimmtheiten tragen oft noch Sehnsucht nach Glauben mit sich. In tieferen Schichten gibt es die Hoffnung auf das ewige Leben und die Auferstehung des Leibes, auch wenn der Verstand nicht mehr daran glaubt. Die sele lebt on alle klag, / der leib schlefft bis ann letzten tag, / An welchem ihn got verkleren / und der freuden wird geweren. (Michael Weiße 1531) Die wissenschaftliche Rekonstruktion eines Urtexts schafft noch keinen Glauben. Sie setzt vielmehr oft dann ein, wenn der Glaube verloren ist. Die Philologie sei der Tod des Glaubens, meinte Novalis (in Die Christenheit oder Europa). Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst bei einbrechender Dämmerung (Hegel am Ende der Vorrede zur Rechtsphilosophie). Lebendiger Glaube änderte die Texte, wie Luther, dessen Lieder zumeist Bearbeitungen sind, oder schrieb in die Leerstellen die eigenen Bestimmtheiten ein. Für die Urtexte eintreten wäre im 16. und 17. Jahrhundert falsch gewesen. Heute aber bewahren die Urtexte in der Regel ein reicheres Rezeptionspotential als zeitgeistangepaßte Neufassungen. 25 Genauer: „Wir sahen, der Inhalt der Romantik war wesentlich katholisch, das denkwürdige Zeichen eines fast bewußtlos hervorbrechenden Heimwehs des Protestantismus nach der Kirche.“ (Eichendorff im Schlußkapitel seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Zweiter Theil, Paderborn 1857, S. 208) Kirchenlied und Literaturgeschichte 160 Was die alten Lieder betrifft, so meine ich, es muß eine Zeit des Sammelns und Bewahrens sein. Schon einmal war das alte Liedgut nahezu völlig zerstört, in der Zeit der Aufklärung, die gesangbuchgeschichtlich etwa von 1780 bis 1850 reicht, sich allmählich abschwächt bis 1918, aber in Ausläufern noch heute akut ist. Innerhalb dieser Zeit entwickelte sich jedoch auch eine Gegenbewegung, die deutsche Romantik. Auch sie begann mit Sammeln und Bewahren (Märchen, Mythen, Sagen, Lieder). Aus ihr ging die Kirchenliedrestauration des 19. Jahrhunderts hervor. Restaurationen setzen immer so ein, daß Gelehrte das Vergangene philologisch und historisch aufarbeiten. Sie können am Anfang also nicht Zeugnisse spontanen Glaubens sein, sondern sind künstliche Bemühungen. So wie man die Melodie eines unbekannten Liedes erst mühsam lernen muß, auf den Krücken der Noten; wenn man sie aber beherrscht, bedarf man der Noten nicht mehr und das Künstlich-Angestrengte wird Natur. Lieder, die eine Generation lang gesungen werden, erscheinen den Gläubigen als uraltes Gut. Sie realisieren dann nicht mehr, daß es sich um Restaurationen handelt. Die gelungene Restauration ist daran zu erkennen, daß sie ihre Künstlichkeit vergessen hat. Unsere Lage ist nicht neu. Schon Johann Gottfried Herder hat sie formuliert. Als einsamer Rufer in der Wüste schrieb er 1778 ein bedeutendes Vorwort zum neuen Weimarischen Gesangbuch (erschienen Weimar 1783 26 ), das sich gegen die aufklärerischen Liedbearbeitungen richtete: Ein Wahrheits- und Herzensgesang, wie die Lieder Luthers alle waren, bleibt nie mehr derselbe, wenn ihn jede fremde Hand nach ihrem Gefallen ändert, so wenig unser Gesicht dasselbe bliebe, wenn jeder Vorübergehende darinn schneiden, rükken und ändern könnte, wie’s ihm, dem Vorübergehenden, gefiele. Den neuen Lieder wirft Herder vor, daß sie Machwerke seien, routiniert verfertigt, aber nicht aus dem echten Glauben entsprungen. Die alten hingegen: welche Seele, welche Brust ist in ihnen! Aus dem Herzen entsprungen, gehen sie zu Herzen, erheben dasselbe, trösten, lehren, unterrichten, daß man sich immer im Lande der geglaubten Wahrheit, In GOttes Gemeine, in freiem Raume ausser seiner alltäglichen Denkart und geschäftigen Nichtsthuerei fühlet. […] Sollten diese letztern, die ich die bessern nenne, nun auch in alten Melodien und Reimen seyn, sollten sie auch die treuherzige Sprache der verlebten Zeit und hie und da zu viele Sylben in einer Reihe haben; gerade diese alte Melodien, diese treuherzige Altvatersprache, einer, leider! verlebten Zeit und der ungezählte, hinüberlaufende Herzensüberfluß zu vieler Sylben und Worte macht auf eine bewundernswürdige Weise den Reiz und die Kraft dieser Lieder, so, daß man nicht glätten, nicht rücken und schneiden kann, oder der erste unmittelbare Eindruck wird geschwächt und das Ehrwürdige der alten Vatergestalt geht verloren. 26 Neu eingerichtetes Sachsen-Weimar-Eisenach- und Jenaisches Gesang-Buch […] Jetzt neu übersehen und mit einer Vorrede begleitet von Joh. Gottfr. Herder […], Weimar 1783. 15 Illudieren Die religiöse Poesie des Novalis Die meisten Menschen hierzulande haben heute ein recht distanziertes Verhältnis zu Religion und Kirche. Das ist eine gute Voraussetzung, um die Gedanken der Frühromantik zu verstehen, denn die öffentliche Debatte war damals, um 1800, ähnlich irreligiös und säkularisiert wie heute. Daß die Auflösung der geistlichen Fürstentümer, die Aufhebung der Klöster und die Einziehung ihres Besitzes ohne nennenswerten Widerstand erfolgte, daß jahrtausendalte religiöse Institutionen lautlos in sich zusammensanken wie kürzlich die DDR, das zeigt, welch unglaubwürdigen Tiefstand das religiöse Bewußtsein erreicht hatte. In Mainz war man in der Franzosenzeit so aufgeklärt, daß man den Dom abreißen wollte. Dieser Konkurs des religiösen Bewußtseins ist der Hintergrund, vor dem die Romantiker eine neue Mythologie forderten. Der alte Glaube schien unrettbar verbraucht. Wozu Mythen, wozu Religion nach der Aufklärung, darüber sollen im folgenden ein paar Überlegungen angestellt werden. Gespenster Die Folgen der Erosion des Religiösen hat Novalis in seinem Essay Die Christenheit oder Europa bereits prägnant formuliert. Glauben und Liebe, schreibt er, seien ersetzt worden durch Wissen und Haben. 1 Der Religionshaß habe sich auf alle Gegenstände des Enthusiasmus ausgedehnt, Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe verketzert. Dieser Haß machte schließlich, wie Novalis mit bewegten Worten klagt, die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey. 2 Ein höheres Wesen war damit überflüssig. „Gott wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht […]“. 3 1 Schriften III, 510. Im folgenden wird zitiert nach der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe: Schriften, hrsg. V. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Band I, 3. Auflage 1977, Band II, 2. Auflage 1965, Band III, 2. Auflage 1968. 2 Schriften III, 515. 3 Schriften III, 516. Illudieren 162 Bisher ist die Hoffnung nicht aufgegangen, daß die Menschen ohne Religion glücklicher seien, daß Emanzipation und Entmythologisierung ein aufgeklärtes Reich der Vernunft nach sich gezogen hätten. Schade, spottete schon Novalis, „daß die Natur so wunderbar und unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen sie zu modernisiren zum Trotz.“ 4 Schade, daß der Religionsschlaf nicht Freiheit erzeugt hat, sondern Fratzen, Alpträume und Wahngebilde aller Art, „Deliria des heiligen Organs“ als Surrogate des Verlorenen. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“ 5 - in diese Formel kleidet Novalis den Sachverhalt. Vom Himmel Trotz aller Forschung liegen der Ursprung des Universums und der Ursprung des Lebens immer noch in undurchdringlichem Dunkel. Ein Urknall erklärt schließlich nicht viel, sondern verlagert nur die Frage weiter zurück, was da eigentlich geknallt hat und was vorher war. Bis heute kann die Biochemie keine Zelle zusammenbauen, die, vom Wissenschaftler angehaucht, dann von selbst anfinge, sich zu teilen, zu leben. Sie kann kein Samenkorn synthetisch erzeugen, keine simple Kastanie herstellen, aus der dann, in die Erde gesteckt, ein Kastanienbaum wüchse. Die Wissenschaft kann Gene manipulieren, aber keine Gene machen. Noch immer ist das Leben, ist die Welt ein unaufgeklärtes Wunder. So lange es noch Unaufgeklärtes in der Welt gibt, so lange ist auch Bedarf für Religion. Zwei Bastionen der Unaufgeklärtheit widerstehen der Aufklärung besonders hartnäckig: der Tod und die Kontingenz, die Zufälligkeit unseres Lebens. Nichts bedarf so sehr der Deutung wie der Zufall. Viele Menschen neigen zum Beispiel dazu, ihr Leben als Bildungsroman zu interpretieren, damit sie sich von jedem Zufall etwas Nützliches sagen lassen können. Der Zu- Fall wird oft als Erklärung für das Unerklärliche herangezogen, aber er ist so unerklärlich wie der Ein-Fall. Warum fällt mir etwas ein? Woher kommt das, was mir einfällt? Das Fremdwort Inspiration zeigt den religiösen Ursprung des Einfalls: „Spiritus“ ist der Atem Gottes, mit dem er dem Lehmkloß Adam das Leben einhauchte, In-spiration also die Beatmung, die Beseelung, die Belebung, die Einhauchung des heiligen Geistes. Wie der Einfall birgt, wie Novalis im Blüthenstaub schreibt, auch der Zufall Offenbarungen, 6 er ist gewissermaßen die Sprache Gottes. Ebenso wie die Kontingenz bedarf der Tod einer Deutung. Es hat große Rückwirkungen auf das Leben, wie man den Tod versteht. Gibt es kein Leben nach dem Tod, dann muß aus dem Diesseits alles herausgequetscht werden, 4 Schriften III, 516. 5 Beide Zitate Schriften III, 520. 6 Blüthenstaub Nr. 22, Schriften II, 421 f. Illudieren 163 ein Maximum an Genuß, Macht, Besitz, Erfüllung. Dementsprechend verschärft sich der Konkurrenzkampf, das Gerangel um den besten Platz, während der Jenseitsgläubige viel gelassener bleiben kann. Ironisch blickt er auf die, die sich da abstrampeln, denn er kennt etwas Besseres. Der Blick auf ein ewiges Leben ist nicht finsterer Aberglaube, sondern verleiht Souveränität. Die christliche Weltverachtung, das „Alles ist eitel“ des Predigers Salomo, bedeutet nicht nur Flucht, sondern auch Freiheit. Wer sich einen Himmel vorstellen kann, ist von allem Irdischen weniger abhängig. Der Nutzen eines Himmels besteht darin, daß er nach oben zieht. „Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet“, sagt Novalis in seiner Rede über die Christenheit. 7 Der Himmel immunisiert gegen die Welt, läßt ihre Wichtigtuerei verblassen. Im letzten der Geistlichen Lieder hat Novalis diese Wirkung des Himmels poetisch zum Ausdruck gebracht: Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, Doch keins von allen kann dich schildern, Wie meine Seele dich erblickt. Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel Seitdem mir wie ein Traum verweht, Und ein unnennbar süßer Himmel Mir ewig im Gemüthe steht. 8 Gegen die Süßigkeit eines solchen Himmels hat der Welt Getümmel keine Chance mehr. Arbeit am Mythos Aber was machen, wenn der Mythos untergegangen ist? Man muß einen neuen schaffen, so die Antwort der Frühromantiker. Man muß religiös produktiv werden. „Religion muß gemacht und hervorgebracht werden […]“. 9 Ein Glaube für Ungläubige muß entworfen werden. Unerschrocken und ohne falschen Respekt geht Novalis mit den Heiligtümern des Christentums um. Ob nicht ein römischer Soldat Vater Jesu sein könne, erwägt eine unfromme Notiz. 10 Die Bibel, meint Novalis, müsse weitergeschrieben werden. „Sollte die Bibel nicht noch im Wachsen begriffen sein? “ 11 Das protestantische Sola scriptura habe den viel reicheren Geist des alten Christentums auf das eine Buch reduziert, „und nun drückte der dürftige Inhalt, der rohe abstracte Entwurf der 7 Schriften III, 517. 8 Schriften I, 177. 9 Fragmente und Studien Nr. 12, Schriften III, 557. 10 Fragmente und Studien Nr. 97, Schriften III, 569. 11 Fragmente und Studien Nr. 97, Schriften III, 569. Illudieren 164 Religion in diesen Büchern desto merklicher, und erschwerte dem heiligen Geiste die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich.“ 12 Denn die Offenbarung geht weiter. „Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel.“ 13 Alle großen Dichtungen sind Apokryphen zur Bibel, alle großen Dichter Propheten und Evangelisten, die das Wort Gottes in die Sprache ihrer Zeit übersetzen. Die Offenbarung für abgeschlossen zu erklären und die Religion ein für alle mal festzuschreiben war, so betrachtet, der große Fehler der neuzeitlichen Kirchen. Die biblische Lehre ist nach Ansicht des Novalis nur „die symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen, Weltreligion“, er sei daher geneigt, sich „einen eignen Weg in die Urwelt zu bahnen“. 14 Er versteht das Glaubensorgan als ein aktiv schaffendes, nicht nur als passiv empfangendes Vermögen. Er spricht vom freien Gebrauch des Glaubens 15 und treibt seine Thesen auf die Spitze mit der provokanten Feststellung: „Glauben ist die Operation des Illudirens.“ 16 Was kam dabei praktisch heraus? Man kann die religiösen Experimente des Novalis in zwei Gruppen teilen, eine privatistische und eine kirchliche. Die privatistische Mythenschöpfung besteht vor allem im Sophienkult des jungen Mannes. Seine Braut Sophie von Kühn war im Alter von fünfzehn Jahren qualvoll gestorben. Novalis bildet zur Bewältigung dieses schrecklichen Todes eine Mythologie aus und illudiert eine jenseitige Welt aus der Kraft der Poesie. „Indem ich glaube, daß Söffchen um mich ist, und erscheinen kann, und diesem Glauben gemäß handle, so ist sie auch um mich - und erscheint mir endlich gewiß […]“ 17 Am Grabeshügel der Braut wird die Welt gläsern und federleicht, „im seligen Verklärungsaugenblick“ zergehen die Grenzen von Raum und Zeit. „Zur Staubwolke wurde der Hügel“, heißt es in den Hymnen an die Nacht, und „durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In ihren Augen ruhte die Ewigkeit - ich faßte ihre Hände, und die Tränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter.“ Die Motive „Grab“, „Hügel“ und „Tränen“ durchziehen von da an sein Dichten und Träumen, und die Geliebte wird zum Schlüssel für das Reich des Geistes, zur Mittlerin der Erlösung. Sophie und Christus heißt eine seiner Notizen. 18 Alles kann Mittler sein, eine andere, in der Wahl des Mittelglieds sei der Mensch frei. Meine Geliebte, pointiert Novalis, ist die Abbreviatur des Universums. Das Universum sei die Elongatur der Geliebten, fügt er schalkhaft hinzu. 19 12 Schriften III, 512. 13 Blüthenstaub Nr. 102, Schriften II, 457. 14 Brief an Just am 26. 12. 1798. 15 Allgemeines Brouillon Nr. 782, Schriften III, 421. 16 Allgemeines Brouillon Nr. 601, Schriften III, 372. 17 Allgemeines Brouillon Nr. 603, Schriften III, 374. 18 Journal 29. 6. 1797. 19 Glauben und Liebe Nr. 4, Schriften II, 485. Illudieren 165 Viele Menschen bilden Privatmythologien aus, bestehend meistens aus Erinnerungen an symbolische Situationen, Personen, Lieder, Orte, Gegenstände, die lebensentscheidende Erlebnisse markierten. Viele Menschen tun in der ersten Liebe ihren persönlichen Blick in den Himmel. Die Kultivierung solcher Privatmythologien ist wichtig, wirkt stabilisierend und identitätgebend. Eine öffentliche Kultur läßt sich freilich auf sie nicht gründen. Öffentliche Religiosität bedeutet in der Praxis kirchlich verfaßte. Trotz aller freien Produktivität findet sich bei Novalis ein tiefer Respekt vor dem kirchlich verfaßten Christentum. Nicht gegen die Kirche, sondern in ihr will er wirken, als Sauerteig ihrer Entwicklung. Als er geistliche Lieder schreibt, versteht er diese durchaus als Beitrag zu einem neuen Gesangbuch 20 , also nicht einfach als private Lyrik. In der Tat geraten einige dieser Lieder in die Kirchengesangbücher, freilich nicht ohne zensurierende Eingriffe, die sich auf den privatistischen Bereich beziehen, auf die Sophienanspielungen der Texte und auf ihren Glauben an die weltverändernde Kraft der Poesie. Man kann sagen, daß die Kirche dem Novalis die Flügel beschnitten hat, sich seinen Innovationen so wenig geöffnet hat wie den meisten anderen, so daß eine lebendige Novalis-Rezeption nur apokryph, quasi sektiererisch erfolgen konnte. Jene vagabundierende, freie Religiosität, die sich aus der Frühromantik über die Neuromantik und die Jugendbewegung bis in unsere Tage zieht, hat einen ihrer Ahnherrn in Novalis. Was er mit seinen Liedern wollte und was kirchlich daraus wurde, soll nun an einem Beispiel 21 illustriert werden. Wenn ich ihn nur habe 1. Wenn ich ihn nur habe, Wenn er mein nur ist, Wenn mein Herz bis hin zum Grabe Seine Treue nie vergißt: Weiß ich nichts von Leide, Fühle nichts, als Andacht, Lieb’ und Freude. 2. Wenn ich ihn nur habe, Lass’ ich alles gern, Folg’ an meinem Wanderstabe Treugesinnt nur meinem Herrn; Lasse still die Andern Breite, lichte, volle Straßen wandern. 20 Am 31. 1. 1800 an Friedrich Schlegel. 21 Das Folgende ist in einigen Passagen übernommen aus einer Liedanalyse, die ich für das von mir mitherausgegebene Werk Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München: C. H. Beck Verlag 2001, geschrieben habe (S. 394-400). Illudieren 166 3. Wenn ich ihn nur habe, Schlaf ’ ich fröhlich ein, Ewig wird zu süßer Labe Seines Herzens Flut mir sein, Die mit sanftem Zwingen Alles wird erweichen und durchdringen. 4. Wenn ich ihn nur habe, Hab’ ich auch die Welt; Selig, wie ein Himmelsknabe, Der der Jungfrau Schleier hält. Hingesenkt im Schauen Kann mir vor dem Irdischen nicht grauen. 5. Wo ich ihn nur habe, Ist mein Vaterland; Und es fällt mir jede Gabe Wie ein Erbteil in die Hand; Längst vermißte Brüder Find’ ich nun in seinen Jüngern wieder. 22 Die schlichte, irritationslose Innigkeit des Liedes macht seinen Reiz aus. Wenn ich ihn nur habe, versichert das Lied - und wir nehmen vorläufig an, mit „ihn“ sei Jesus gemeint -, dann löst sich jeglicher Schmerz des Lebens auf. Dann vergesse ich alles Leid (Strophe 1), dann gehe ich vertrauensvoll steile, dunkle und einsame Pfade, auch wenn die anderen auf breiten Straßen wandeln (Strophe 2, nach Mt 7, 13 f.), dann löst sich alles wie im Schlaf, dann erweicht die Liebe alles Verhärtete (Strophe 3). Wenn ich ihn habe, habe ich zugleich die Welt, verspricht die vierte Strophe. Selig, wie der Knabe auf dem Arm der Sixtinischen Madonna (der den Schleier der Jungfrau hält), schaue ich das Irdische, das sich im Schauen verzehrt und zur Idee verzaubert. Erlöst, das heißt bei Novalis gelöst, aufgelöst, verflüssigt, geschmeidigt, präsentiert es sich frei von Grauen. Dort, wo ich ihn habe, wird die Welt zum Vaterland, alles ist dort Geschenk, nichts mehr Kampf, alles gehört mir dort immer schon, der Zeitenabstand ist aufgehoben, anstelle der anderen, die auf den breiten Straßen wandern, finde ich die Gemeinschaft der Heiligen, Jesu Jünger von damals bis heute - ob lebend, ob verstorben -, finde zurück in meine ursprüngliche Heimat (Strophe 5). Novalis wollte kein gewöhnliches pietistisches Jesuslied schreiben. Sein Ehrgeiz reichte weiter. Er wollte innovativ sein. Das Vaterland, von dem er spricht, ist in der Welt, nicht im Himmel oder im Jenseits. Die Welt ist eine versteinerte Zauberstadt, die erstarrte und erfrorene Gestalt eines ursprünglich Wunderbaren. Es gilt, sie zu schmelzen, wieder flüssig zu machen. Der Poet sucht nach dem Zauberstab, der das Vaterland wieder sichtbar macht. 22 Schriften I, 164 f. (Geistliche Lieder, Nr. 5). Illudieren 167 „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.“ 23 Romantisieren heißt, vom Ideal so zu sprechen, als sei es schon da. Bewußt und methodisch wird das goldene Zeitalter erzeugt, indem wir uns verhalten, als bestehe es bereits. Vom Schlichten und Innigen dieser Lieder darf man sich nicht täuschen lassen. Daß nicht gläubige Naivität, sondern höchste methodische Bewußtheit in ihnen herrscht, zeigen die Fragmente und Aufzeichnungen während der Entstehungszeit. Diesen fehlt jede Schlichtheit. Sie lauten, wie schon zitiert, „Religion muß gemacht und hervorgebracht werden“, oder „Sollte die Bibel nicht noch im Wachsen begriffen seyn“, und sie definieren den Himmel unbefangen als ein „Erzeugniß des produktiven Herzens“. Die Religion ist eine Art transzendentalphilosophische Selbstbegegnung; sie entsteht, indem das Herz sich selbst empfindet und zu einem idealischen Gegenstand macht. 24 Die Aufzeichnungen der Jahre 1799 und 1800 skizzieren eine dialektische Psychologie der Religion. Weder Gott noch der Mensch dürfen vollkommen sein, wenn das Religiöse seine Funktion wahrnehmen soll. „Sollen wir Gott lieben, so muß er hülfsbedürftig seyn.“ 25 Besonders paradox formuliert ein Fragment aus dem April 1800: „Die Xstliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der große Reitz für die Liebe der Gottheit. Je sündiger man sich fühlt, desto kristlicher ist man. Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist der Zweck der Sünde und Liebe.“ 26 Der fromme Ton der Lieder ist also keine Selbstverständlichkeit, nicht die Mitgift eines herrnhutisch Erzogenen, sondern einer hochgezüchteten und in manchen Partien durchaus frivolen Intellektualität abgerungen. Er ist gewollt und gemacht, Ergebnis jenes „magischen Idealismus“, der, die Philosophie Fichtes noch übersteigend, von der Kraft des setzenden und freisetzenden Geistes sehr hohe Vorstellungen hatte. Er will nicht weltflüchtig, sondern weltschaffend sein. Wenn ich ihn nur habe, hab’ ich auch die Welt. Einige Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte. „Meinen Liedern“, schrieb Novalis am 31. Januar 1800 an Friedrich Schlegel, „gebt die Aufschrift: Probe eines neuen, geistlichen Gesangbuchs.“ 27 Selbstbewußt schaltet er sich damit in die damalige Gesangbuchdiskussion ein. Er kritisiert die Lieder der rationalistischen Reform, Klopstocks, Gellerts oder Lavaters, sie scheinen ihm zu sehr auf den Verstand und zu wenig aufs Herz berechnet. 28 Aus einer Lavater-Kritik entwickelt er eine fragmentarische Poetik des geistlichen Lieds: 23 Schriften II, 545 (Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen Nr. 105, Frühjahr 1798). 24 Schriften III, 570 (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr. 104, Herbst 1799). 25 Schriften III, 562 (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr. 48, Herbst 1799). 26 Schriften III, 653 (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr. 573). 27 Schriften IV, 317. 28 Das überliefert Augustin Coelestin Just 1805 über Novalis, Schriften IV, 548. Illudieren 168 In den meisten Lavaterschen Liedern ist noch zu viel Irrdisches - und zu viel Moral und Ascetik - Zu wenig Wesentliches - zu wenig Mystik. Die Lieder müssen weit lebendiger, inniger, allgemeiner und mystischer seyn. 29 Paradoxerweise bahnen aber ausgerechnet die aufklärerischen Gesangbücher mit ihrer Offenheit für die Gegenwartsliteratur den Geistlichen Liedern des Novalis den Weg in den Gottesdienst. Relativ bald taucht Wenn ich ihn nur habe in kirchlichen Gesangbüchern auf, bis zur Jahrhundertmitte vereinzelt, in der zweiten Jahrhunderthälfte dann häufig, bis das Lied mit der Aufnahme ins Deutsche Evangelische Gesangbuch (1915), das in der Folgezeit in viele landeskirchliche Gesangbücher ausstrahlt, den Höhepunkt seiner Anerkennung erreicht. Erst das der Romantik nicht wohlgesonnene Evangelische Kirchengesangbuch (seit 1950) bricht diesen Siegeslauf. Den Gestaltungswillen der rationalistischen Reform überstanden die Novalis-Lieder nicht ohne Blessuren. Gerade die Innovationen werden gestrichen. Die Modernität der Aufklärer hatte ihre engen Grenzen. Die Lieder werden reduziert auf das Gebräuchliche. In der dritten Strophe von Wenn ich ihn nur habe ist Christus bildstark ein lösendes Alkahest, ein Allesverflüssiger. Aber die Rede von seines Herzens Flut, die mit sanftem Zwingen alles wird erweichen und durchdringen, wird fast immer abgeschwächt, zum Beispiel, indem erweichen durch erreichen ersetzt wird. 30 In einer breiten Tradition sind die dritte und die vierte Strophe einfach weggelassen worden. Die Gründe kann man an früheren Änderungsversuchen leicht ablesen. Da war als erstes die schon erwähnte Vorstellung von Jesu alles erweichender Herzensflut. Bereits das (katholische, aufklärerisch und ökumenisch orientierte) Münchener Gesangbuch von 1811 31 bricht dem die Spitze, indem es als dritte und letzte Strophe bringt: Wenn ich Ihn nur habe, Schlaf ich fröhlich ein. Ewig wird zu süßer Labe Mir der Name Jesus seyn. Preis sey deinem Namen, Jesu! dir sey ewig Ehre! Amen. Das zweite Ärgernis war das Hab ich auch die Welt. Das reformierte Züricher Gesangbuch von 1853 schreibt stattdessen, den Sinn verkehrend: Laß ich gern 29 Schriften III, 588 (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr. 226, Herbst 1799). 30 Zum Beispiel im Gesangbuch für die Evangelische Kirche im Großherzogthum Hessen, Darmstadt 1880 u. ö. und im Gesangbuch für die evangelisch-christliche Kirche in Nassau, Wiesbaden o. J. [Ausgabe 1890]. 31 Katholisches Gesangbuch zum allgemeinen Gebrauche bei oeffentlichen Gottesverehrungen, 3 Bände, München 1810-1811, hier II, 471 f. (in der Rubrik Am Feste der Beschneidung Christi). Illudieren 169 die Welt, und läßt die Strophe mit Will ich siegen über Todesgrauen anstelle von Kann mir vor dem Irdischen nicht grauen enden. Das einflußreiche Berliner Gesangbuch 32 von 1829, an dem Friedrich Schleiermacher mitgewirkt hat, treibt die Rücknahmen auf die Spitze. Da kürzlich die Kommissionsakten gefunden wurden, läßt sich die Bearbeitungsgeschichte rekonstruieren. 33 Schleiermacher hatte das Lied vorgeschlagen. Er kannte den Originaltext. Er hielt die Lieder des Novalis jedoch für zu subjektiv, nicht zum kirchlichen Gebrauch passend. 34 Der Kommissionsarbeit lagen deshalb die Fassungen des Bremer Gesangbuchs von 1812 35 und des Jauerschen Gesangbuchs von 1813 36 zugrunde. Das Bremer entfernt sich von Novalis deutlich, das Jauersche stark. Auf dem letzteren baut die Berliner Fassung auf. Mit Wenn ich nur den Heiland habe macht sie, wie schon die Jauersche (Wenn ich ihn, den Heiland, habe) eindeutig, wer allein der Mittler ist (was Novalis bewußt in der Schwebe läßt). Sie streicht die Strophen 4 (mit Hab ich auch die Welt) und 5 (mit der Vaterland-Mystik) ganz und läßt die dritte in eine Sterbestrophe münden: Wenn ich nur den Heiland habe, schlaf ’ ich sanft und selig ein; ewig wird die höchste Gabe mir sein treues Lieben seyn. Mir kann vor dem Tod nicht grauen, jenseits werd’ ich Jesum schauen! Auch die Strophenform ist geglättet; aus dem reizvollen Wechsel von dreihebigen, vierhebigen und fünfhebigen Zeilen werden sechs standardmäßige Vierzeiler. Das Lied wurde damals auf die Melodie von Herr, ich habe mißgehandelt gesungen. Neben der Geradheit des 73. Psalms („Wenn ich nur dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde“ - Ps 73, 5) hat die künstliche Einfalt des Novalis fraglos etwas Überzüchtetes. Seine Innovationen sind nicht jedermanns Sache. Aber sie stellten immerhin einen ernstgemeinten Versuch dar, den Graben zwischen der Stagnation der religiösen und der stürmischen Vorwärtsbewegung der profanen Poesie in der Goethezeit noch einmal zu überbrücken 32 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen, Berlin 1829 u. ö. 33 Die folgenden Informationen verdanke ich Bernhard Schmidt, in dessen Dissertation die Akten publiziert sind: Lied - Kirchenmusik - Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Berlin/ New York 2002. 34 Die praktische Theologie […] von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hrsg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850, S. 179. 35 Christliches Gesangbuch zur Beförderung öffentlicher und häuslicher Andacht, Bremen 1812. 36 Sammlung christlicher Lieder für die kirchliche Andacht evangelischer Gemeinen, Breslau und Jauer 1813. Illudieren 170 und eine innovatorische religiöse Produktivität freizusetzen. Der Versuch scheiterte aus vielerlei Gründen. Nach Novalis trennt sich die sakrale von der profanen Poesie. Die literarische Entwicklung des Kirchenlieds verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts auf weiten Strecken den Anschluß und mündete in Traditionalismus und kulturelle Ghettoisierung. Frömmigkeit ohne Glauben Man braucht deshalb keinen Novalismus zu inszenieren, keine Novalis- Religion zu gründen. Es gilt hier nur generell darauf hinzuweisen, daß die Religion ein Teil der Kultur ist, daß zur Kultur die Kultivierung auch der religiösen Impulse gehört, daß religiöse Produktivität möglich und nützlich ist, auch heute noch, daß die Teilnahme an einem religiösen Diskurs einen Intellektuellen nicht schändet, daß Dichtungen und Rituale, Geschichten und Fernsehspiele, Lieder und Liturgien, in denen die christliche Überlieferung fortgeschrieben wird, weiterhin gemacht werden können und müssen. Arbeit am Mythos ist die Folge. Aber wie macht man das? Was tun, wenn nun einmal der Glaube verschwunden scheint? Des Novalis Antwort heißt: Illudieren. Mit anderen Worten: Imitieren, Inszenieren, Imaginieren, Zitieren, Spielen. An der alten christlichen Liturgie teilzunehmen ist besser als aufgeklärt zu verstummen. „Piété sans la foi“ (Ernest Renan), Frömmigkeit ohne Glauben: das ist eine paradoxe Möglichkeit. Man muß nicht auf die Kultur verzichten, die im Glauben steckt. Wer keine eigene Sprache mehr erzeugt, zum Beispiel im Bereich der Eschatologie und der Kultur des Sterbens, kann die alte Sprache wenigstens im Zitat bewahren. Viele alte Lieder geben Trost im Tod. Heut schließt er wieder auf die Tür / zum schönen Paradeis; / der Cherub steht nicht mehr dafür. / Gott sei Lob, Ehr und Preis. 37 So etwas dichtet heute keiner mehr, aber zitieren kann man es noch. An den Gräbern herrscht meistens würgendes Grauen und peinliches Schweigen. Ist es da nicht besser, vom Paradies zu sprechen? Oder mit Novalis zu sagen: Zur Staubwolke wurde der Hügel? Oder, wie der schon Schwerkranke kurz vor seinem Tode schrieb: „Religion ist der große Orient in uns“ - der Orient dient als Bild der Poesie und bezeichnet die Ursprungsregion des Christentums -. „Ohne sie wäre ich unglücklich. So vereinigt sich Alles in einem großen, friedlichen Gedanken, in Einem stillen, ewigen Glauben.“ 38 Novalis war ein Mutmacher, dessen Blick die Welt neu und unerwartet erscheinen läßt. In Wissenschaft und Religion, in Politik und Poesie hat er Produktivität freigesetzt. Sein Plan war, Wunder systematisch erzeugbar zu machen. Genie, so sagte er im Blüthen- 37 Aus dem Weihnachtslied Lobt Gott, ihr Christen alle gleich. 38 Novalis an Just im November 1800. Illudieren 171 staub, ist das Vermögen, von eingebildeten Gegenständen wie von wirklichen zu handeln. 39 Das Wort „Blütenstaub“ ist eine Zeugungsmetapher, der Staub fällt in den Kelch der Blüte und befruchtet sie. Das Motto der Blüthenstaub betitelten Sammlung 40 war: Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlichen Samen Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Ernten gedeihn. 39 Blüthenstaub Nr. 21, Schriften II, 421. 40 Schriften II, 413. 16 Das Evangelische Gesangbuch von 1993 Ein Gesangbuch ist ein literarisches Erzeugnis eigener Art. Es enthält zwar große Dichtungen von großen Autoren. Aber sein eigentlicher Verfasser ist eine Wolke - jene „Wolke von Zeugen“ des Glaubens (Hebräer 12, 1), die seit Abraham gesungen, gefeiert und gebetet, Lieder komponiert, gedichtet, bearbeitet und gesammelt haben. Unser Platz in dieser Wolke mag ein bescheidener sein. Die Geschichte des Glaubens mag uns als Verfallsgeschichte erscheinen. Als sie keine Helden mehr hatten, dichteten sie welche, schrieb Kleist, als sie keine mehr dichten konnten, erfanden sie dafür die Regeln, und am Ende wurden sie schlecht. Aber auch der Platz am Ende einer langen Reihe will ausgefüllt sein. Auch wir stehen noch, bei allem Tiefstand des Glaubens, in der Überlieferung und sind nicht allein. Wenn der Kirchenbesuch weiter zurückgeht - am neuen Gesangbuch wird es nicht liegen. Es wird die Gottesdienstgestaltung erheblich bereichern. Es ist zugleich ein Schatzhaus der großen evangelischen Liedtradition geblieben. Es wird diejenigen zu Kritik herausfordern, die von einem Gesangbuch entschiedene Heutigkeit verlangen. Aber die Entscheidung für die alte Tradition hat ihr Zwingendes und verdient Respekt. Dieses Buch hat eine Phase der Gesangbuchgeschichte mit Glück übersprungen: jene der geschichtsvergessenen Zeitgeistanpassung, für die als Beispiel das 1975 eingeführte katholische Einheitsgesangbuch Gotteslob stehen kann, das schmerzliche Verluste im Liedbestand gebracht hat. Die katholische Kirche wird bald nachziehen müssen und dann sicher manches wiederherstellen, was einer ganzen Generation entzogen war. Prononciert evangelisch Das Gotteslob hatte damals einen prononciert ökumenischen Akzent. Das neue Gesangbuch, auf das sich 24 lutherische, reformierte und unierte Kirchen im deutschen Sprachraum verständigt haben und das am Reformationstag dieses Jahres in Berlin-Brandenburg eingeführt wurde, ist hingegen prononciert evangelisch. Es gibt dort zwar Lieder, die sich unverändert auch im Gotteslob finden, aber es ist lediglich ein Zehntel des Gesamtbestandes, insgesamt 53 von 535. Sie sind mit einem „ö“ (für „ökumenisch“) gekennzeichnet und gehören zu den Liedern, die eine evangelisch-katholische „Arbeitsgemeinschaft Ökumenisches Liedgut“ Anfang der Siebziger Jahre redigiert und verabschiedet hat. Andere ö-Lieder wurden aufgenommen, die im Gotteslob Das Evangelische Gesangbuch von 1993 173 fehlen, deren Ökumenismus also nur auf dem Papier steht. Ferner gibt es Lieder, bei denen, obgleich eine ö-Fassung existiert, weiterhin die konfessionelle Variante bevorzugt wird, wie bei In dulci jubilo, wo unter Verzicht auf den reizvollen deutsch-lateinischen Mischtext aus dem 14. Jahrhundert die poetisch schwächere, aber protestantisch übliche Eindeutschung gewählt wurde. Besonders auffallend aber sind die Stücke, bei denen das „ö“ eingeklammert ist. Es handelt sich um Lieder, deren ökumenische Fassung rückbearbeitet wurde. Im Vorentwurf von 1988 waren es 15, jetzt aber sind es 64. Es muß in der letzten Redaktionsphase noch einmal einen konservativen Schub gegeben haben. In der Regel restauriert die Rückbearbeitung entweder das Original oder die spezifisch evangelische Variante. Die Wiederherstellung des Originals wird man meistens begrüßen. Bei der evangelischen Variante kann man gelegentlich Zweifel anmelden. So ist das seit 1587 belegte katholische Weihnachtslied Es ist ein Ros entsprungen unauffällig entökumenisiert worden. Die erste Strophe gibt ein Rätsel auf, von einer Rose, die aus der Wurzel Jesse (also dem Stamm Davids) entsprang und ein Blümlein gebracht hat. Die zweite Strophe löst das Rätsel: Das Röslein, das ich meine, / davon Jesaja sagt, / ist Maria, die Reine, / die uns das Blümlein bracht. (ö-Text) Im neuen Gesangbuch wird Röslein durch Blümlein ersetzt. Des Rätsels Lösung ist dann nicht mehr Maria, sondern Jesus. Uralte Konfessionskämpfe wetterleuchten aus der Ferne. Die Einheit der Kirchen ist ein vernünftiges Anliegen. Man soll sie nicht mit Einheitlichkeit verwechseln. Die produktivsten Jahrhunderte des Kirchenlieds kannten keine Einheitsgesangbücher. Jedes Städtchen mittlerer Größe hatte sein eigenes. Erst im 19. Jahrhundert gewinnt der Einheitsgedanke an Boden. Sein Hintergrundsmotiv war der deutsche Nationalismus. Von der Maas bis an die Memel sollten die gleichen Lieder gesungen werden. Aber regionale Vielfalt und konfessionelle Verschiedenheit sind nicht Mangel, sondern Reichtum. Das Wetteifern der Konfessionen trieb jahrhundertelang gute Lieder hervor, im Geiste von Lessings Nathan: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen.“ Man respektiere einander. Bei gemischtkonfessionellen Anlässen singe man demütig die Texte der jeweiligen Gastgeber, ohne reformatorischen Trotz und ohne katholische Sturheit. Regionale Anhänge vermindern die Einheitlichkeit weiter. Das Buch kann auch das Hervorsprießen immer neuer Begleithefte, Songbooks und kopierter Einzelblätter nicht verhindern. Der Einheitsgedanke mit seinen zentralistischen Zensurgelüsten darf die lebendige Tradition nicht ersticken, die nur von unten kommen kann. Experimentierfelder sind nötig. Aber sie müssen auf der Wiese vor den Toren angelegt werden, nicht mitten in der Stadt. Das Evangelische Gesangbuch sticht nicht durch Experimente, sondern durch Treue und Gediegenheit hervor. Es fügt einem leicht bereinigten Altbestand nur solche Lieder hinzu, die in den letzten Jahrzehnten klassisch geworden sind. Das Evangelische Gesangbuch von 1993 174 Das Buch ist typographisch sehr schön gestaltet, übersichtlich, benützerfreundlich, gut lesbar, mit meditativen Motti durchsetzt. Daß es dicker wurde als sein Vorläufer, das 1950 eingeführte Kirchengesangbuch, dessen Stammteil 394 Lieder enthielt, war nicht zu vermeiden, denn in einer von Pluralismus und Historismus geprägten Zeit wollen viele Interessen bedient werden. Gesangbuchumfänge haben ihre Geschichte. Zu Luthers Lebzeiten waren sie schmal. Im 17. und 18. Jahrhundert waren Bücher mit über tausend Liedern die Regel. Die Aufklärung reduzierte radikal, schied aus, was sie für vernunftwidrig hielt. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde ein Teil der aussortierten Lieder rehabilitiert. Die Anzahl pendelte sich zwischen 500 und 800 ein. Insofern hält sich das neue Gesangbuch im üblichen Rahmen. Angesichts der Ansprüche, die an es gestellt wurden, der Ausschüsse, die es in seiner fünfzehnjährigen Entstehungszeit durchlaufen hat, der mehreren tausend Lieder, die geprüft und verworfen wurden, der vielen Kirchen, die mitgewirkt haben von Pommern bis Lothringen, von Bremen bis Österreich, zeugt der Umfang nicht von Maßlosigkeit, sondern von Disziplin. Ohne Volk und Vaterland Für die Gliederung ist das Kirchengesangbuch von 1950 Vorbild gewesen, dessen Rubrikenanordnung im Grundsätzlichen übernommen wurde. Die vier Hauptkapitel sind überschrieben Kirchenjahr, Gottesdienst, Biblische Gesänge und Glaube - Liebe - Hoffnung. Die Unterabteilungen des letzten Kapitels reichen von Loben und Danken bis Bestattung. Neu ist eine Rubrik Erhaltung der Schöpfung - Frieden und Gerechtigkeit, mit sechzehn Liedern meist neueren Datums. Ersatzlos entfallen ist die Rubrik Für Volk und Vaterland. Dabei braucht man sich dessen nicht zu schämen, was im bisherigen Evangelischen Kirchengesangbuch an diesem Platze steht. Dieses Buch ist ja nicht nationalistisch. Es ist aus dem Geist der Bekennenden Kirche hervorgegangen, die sich nach 1945 der Verdrängung der deutschen Schuld widersetzte. Die Vaterlandsrubrik enthält infolgedessen hauptsächlich Bußlieder. Aber wir scheinen damit nicht umgehen zu können. Wie belastet das ganze Feld ist, läßt sich an Wach auf, wach auf, du deutsches Land deutlich machen. Das Lied stammt aus dem Jahre 1561. Der Nationalismus war damals noch nicht erfunden. Trotzdem drängt sich den meisten Deutschen als erste Assoziation das Deutschland, erwache des Nazi-Barden Dietrich Eckart auf. Sie können sich leider sogar darauf berufen, daß das Lied gekürzt auch in den späten Auflagen des NSDAP-Liederbuchs stand (zum Beispiel in der 51. von 1941). Der Text kann nichts dafür. Er ruft zur Umkehr auf. Die Deutschen stehen vor Gericht. Deutschland, laß dich erweichen, heißt es in der Zielstrophe, tu rechte Buße in der Zeit. Das Evangelische Gesangbuch von 1993 175 Das neue Gesangbuch rettet sich aus der Verlegenheit, indem es das Lied der Rubrik Bußtag zuordnet, wogegen nichts einzuwenden ist, und es halbherzig bearbeitet, worüber man geteilter Meinung sein kann. Zu deutsches Land wird als Wahlmöglichkeit unser Land, zu Deutschland - o Land angeboten. Ferner wurde die siebte Strophe entfernt (Wach auf, Deutschland! s’ ist hohe Zeit). Das nationale Vokabular ist nach diesen Eingriffen verschwunden. Ohne Zärtlichkeit Die Rubriken Advent und Weihnachten enthalten 57 Lieder. Gegenüber dem Kirchengesangbuch von 1950 fällt auf, daß viele populäre Weihnachtslieder neu aufgenommen wurden, wie O du fröhliche, Ihr Kinderlein kommet oder Tochter Zion, freue dich (mit dem Chorsatz von Georg Friedrich Händel). Das Evangelische Gesangbuch will ein Hausbuch sein, nicht nur ein Kirchenbuch. Nummer 1 ist nun Macht hoch die Tür, ein ö-Lied, bei dem lediglich die altertümliche Wortform zeuch durch zieh ersetzt wurde. Die bisherige Nummer 1 wurde Nummer 4: Martin Luthers Nun komm, der Heiden Heiland, eine dunkle und klobige Übersetzung des ambrosianischen Hymnus Veni redemptor gentium. Auch die Autorität Luthers konnte nicht verhindern, daß von den ursprünglich acht Strophen schon lange nur noch fünf gesungen werden. Die fehlenden enthielten die üblichen Stolpersteine der Marienlehre (Der Jungfrau Leib schwanger ward, / doch blieb Keuschheit rein bewahrt). Solche alten Redaktionsvorgänge sind auch in mehreren anderen Fällen nicht zurückgenommen worden. In Es kommt ein Schiff, geladen verlor das Jesuskind seinen roten Mund und der Sänger das Gelüst. In der ältesten erhaltenen Handschrift (um 1450) lautete die letzte Strophe (leicht modernisiert): So wer das Kind will küssen, / auf seinen roten Mund, / der empfängt ein großes Gelüste, / von ihm zu der selben Stund. Daraus wird in der ö-Fassung dogmatisch korrekt, aber unfroh: Und wer dies Kind mit Freuden / umfangen, küssen will, / muß vorher mit ihm leiden, / groß Pein und Marter viel. Spuren der alten puritanischen Sinnenfeindschaft sind geblieben. Philipp Nicolais Wie schön leuchtet der Morgenstern (1599), das im Laufe der Jahrhunderte zahlreichen redaktionellen Mißhandlungen ausgesetzt war, ist ein virtuoses Liebeslied der gläubigen Seele an Jesus als himmlischen Bräutigam. Aber das vor Liebe kranke, glimmende, verwundete Herz wird dem Sänger von heute vorenthalten. Wegretuschiert bleibt die Zärtlichkeit des alten Texts: Nimm mich / freundlich / in dein Arme, / daß ich warme / werd von Gnaden. Der Jubel über das paradiesische Sinnenglück im Arm des Bräutigams schrumpft zum Armesünderlied. Im Gesangbuch lautet die Stelle: Nimm mich / freundlich / in dein Arme / und erbarme / dich in Gnaden. Das Evangelische Gesangbuch von 1993 176 Ohne Modernität Verschärft stellt sich das Problem der sakralen Sonderentwicklung bei den Liedern des 20. Jahrhunderts. Das Evangelische Gesangbuch präsentiert eine große Tradition und eine bescheidene Gegenwart. Weitaus die meisten Lieder stammen aus der Zeit vor 1900. Als Autoren sind am häufigsten Martin Luther (34 Lieder) und Paul Gerhardt (26 Lieder) vertreten. Im 20. Jahrhundert ist Jochen Klepper mit zwölf Liedern aus den späten Dreißiger Jahren der produktivste Autor. In der Gegenwart stellen sich ihm Jürgen Henkys und Paul Ernst Ruppel mit ebenfalls je zwölf an die Seite. Betrachtet man sie genauer, so handelt es sich bei Henkys ausschließlich um (respektable) Übersetzungen, bei Ruppel hauptsächlich um Melodien. Beides ist typisch. Der eigentliche Beitrag unserer Zeit ist der musikalische. Größte Bedeutung hat deshalb die Aufnahme vieler Gesänge aus Taizé. Bei den Texten hingegen besteht ein fühlbarer Mangel an Modernität. Was neu aussieht, sind fast stets Bearbeitungen von Vorlagen. Was es sonst noch gibt, ist sehr kurz oder trotz Länge sehr inhaltsarm. Beliebt sind Kehrverslieder, bei denen jeweils nur eine einzige Zeile sich ändert. Häufig ist auch der Typus des Lieds mit wechselnd zu füllenden Leerstellen, das mit einem Minimum an Erfindungskraft auskommt: Ohren gabst du mir, / hören kann ich nicht: / der du Taube heilst, / Herr, erbarm dich mein. Man ersetze Ohren - hören - Taube durch Augen - sehen - Blinde, Hände - schaffen - Lahme, Lippen - loben - Stumme etc., und man hat schon wieder ein Lied fertig. Niemand hat etwas dagegen, wenn jemand heute im Stil Mozarts komponiert. Besonderes Lob kann er freilich nicht erwarten. Die hier vertretene religiöse Lyrik verzichtet auf Innovationen so gut wie völlig. Die moderne Welt bleibt vor der Tür. Die profane Lyrik verfuhr ganz anders. Benn flocht Medizinerausdrücke ein, und Enzensberger nutzte die Welt der Massenkommunikation als Metaphernspender. Es läßt sich nicht verhehlen: Wenn dieses Gesangbuch repräsentativ ist, dann ist Nachkriegsdeutschland poetischreligiös nicht produktiv gewesen. Der letzte große Text ist fast siebzig Jahre alt: Dietrich Bonhoeffers Von guten Mächten treu und still umgeben. Die vielen Übersetzungen zeigen, daß die christliche Religion wenigstens andernorts poetisch fruchtbar ist. Die Internationalität versöhnt mit dem Mangel an deutschsprachiger Innovation. Das Buch enthält sechzig Lieder aus neunzehn Ländern, viele davon, zum Beispiel das Schalom chaverim, auch in der Originalsprache. Man hätte diesen Weg noch weitergehen können. Warum nicht auch We shall overcome oder O when the Saints? Hätte man sich überhaupt der sakralen Popmusik öffnen sollen? Wäre man dann auf die Innovationen gestoßen, die man im traditionellen Genre so deutlich vermißt? Aber die Grenzen wären dann kaum noch zu ziehen gewesen. Ein konsensfähiges Buch wäre nicht mehr zu erzielen gewesen. Das Evangelische Gesangbuch von 1993 177 Ein Museum? Die Geschlossenheit der Gesamtkomposition hat Opfer gekostet. Bei der Jugend wird das Evangelische Gesangbuch auf Akzeptanzprobleme stoßen. Sogar das vielgesungene Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer, das sich im Vorentwurf noch findet, ist wieder herausgefallen, vermutlich, weil es als zersungen gilt und zu albernen Parodien reizt (…ist wie Kraut und Rüben). Da allerdings auch die ältere Generation bei vielen Texten Erschließungsprobleme hat, ist die Gefahr da, daß hier ein Museum des Protestantismus entstanden sein könnte. Die Verlebendigung dieses Buches muß heute, wo der Zugang zu diesen Traditionen nicht mehr von selbst da ist, mit Energie in Angriff genommen werden. Es ist eine Aufgabe nicht nur der Kirchen, sondern auch der Familien, der Schulen und Universitäten, der Chöre und der Medien. Wenn sie gelingt, öffnen sich ganze Welten neu. Die Tiefe unserer Herkunft ist mit Zeugnissen, die, vom Psalter an gerechnet, zweieinhalbtausend Jahre umspannen, im Gesangbuch präsent wie nirgends sonst. Auch der Textteil weckt weitreichende Erinnerungen. Er enthält das Apostolische und das Nicaenische Glaubensbekenntnis, Luthers kleinen Katechismus, den Heidelberger Katechismus, die Augsburgische Konfession, die Barmer Erklärung der Bekennenden Kirche, die Leuenburger Konkordie und eine Auswahl bedeutender Gebetstexte. Aus der Welt dieser Texte und Lieder kamen die Grundprägungen der deutschen Kultur, speisten sich ihre Literatur und ihre Musik, ihre Bilder, ihre Gefühle und Gedanken. Auch wer nicht gläubig ist im alten Sinne, begegnet doch den Säkularisaten der Religion auf Schritt und Tritt, oft ohne sie zu erkennen. Im Gesangbuch könnte mancher seine vergessenen Wurzeln finden. Wenn ein Glaube zu Ende geht, kommen die Philologen und die Sammler, die Nostalgiker und die Historisten. Sie kennen die Tradition manchmal besser als die Gläubigen. Sie werden anerkennen, daß hier ein Buch gelungen ist, das trotz mancher Kompromisse zu den reichsten und schönsten der Gesangbuchgeschichte zählt. Es gehört nach wie vor in jedes Haus. 17 Vom Umgang mit alten Liedern Anläßlich der Vorarbeiten zu einem neuen katholischen Einheitsgesangbuch Aufklärung und Restauration Der Glaube der Kirche ist, dogmatisch betrachtet, eine klar abgegrenzte Größe. Anders sieht es aus, wenn man sich auf einen empirischen Blickwinkel beschränkt, wie es sich für einen Literaturwissenschaftler geziemt, der die ihm gesetzten Grenzen nicht überschreiten will. Kultur- und literaturgeschichtlich gesehen ist der Glaube viel weniger stabil. Was faktisch geglaubt wird, ändert sich von Epoche zu Epoche, oft auch von Region zu Region, selbstverständlich auch von Konfession zu Konfession. Die religiösen Überzeugungen wandeln sich, das zeigt das Studium der Kirchenliedgeschichte ganz unzweideutig. Lieder kommen und gehen, veralten und erneuern sich, verändern ihre Bedeutung, ihre poetische und musikalische Gestalt, ihre Rubrik im Gottesdienst, ihren Sitz im Leben. Kein einziges der alten Lieder wurde kontinuierlich und unverändert durch alle Zeiten hindurch gesungen, auch die altehrwürdigsten nicht. Das aufklärerische Intermezzo ist zwar so gut wie vergessen, war aber überaus folgenreich. Was heute in den evangelischen und katholischen Gesangbüchern steht, ist nicht das Ergebnis einer ungebrochenen Überlieferung, sondern einer erfolgreichen Restauration. Erfolgreich ist eine Restauration dann, wenn ihr Charakter als reformerischer Eingriff in das Überlieferungsgeschehen vergessen wird und das „künstlich“ Restaurierte allgemein für „natürlich“, für altüberliefert gehalten wird. Der Kirchenlied-Altbestand des EKG von 1950 und der katholischen Diözesangesangbücher der Fünfziger Jahre war das Ergebnis einer solchen erfolgreichen Restauration, denn nach kurzer Zeit wußte niemand mehr, daß Es kommt ein Schiff, geladen oder Tu auf, tu auf, du schönes Blut Neueinspeisungen jahrhundertelang vergessener Lieder waren, Restaurationsergebnisse also, nicht kontinuierlich überlieferte Zeugnisse des gesungenen Glaubens. Ästhetizismus, Romantisierung, Nostalgie Alte Lieder singen heißt nicht alten Glauben haben. Neugotische Dome bauen heißt nicht, den Glauben der Gotik zu haben. Es heißt vielmehr: eine Rolle Vom Umgang mit alten Liedern 179 spielen. Es heißt, eine vergangene Glaubenswelt imaginieren und inszenieren, sich sehnsüchtig in sie hineinversetzen. Das Singen alter Lieder, die nicht unsere, sondern eine vergangene Sprache sprechen, lebt vom Reiz der Nostalgie, die das Altertümlich-Holzschnittartige, das Treuherzige und seelisch Naive der alten Bilder schätzt, weil es so sehr einer seelenlos erscheinenden Modernität und Reflexivität kontrastiert. Nostalgie wird leicht mit Altgläubigkeit verwechselt, ist aber zunächst eine ästhetische, keine religiöse Haltung. Das Interesse am Alten ist etwas Modernes, es will auch nicht wirklich das Alte, sondern das als alt Empfundene. Die meisten Menschen nostalgisieren als Erwachsene ihre jeweiligen Kindheitserlebnisse und halten die in der Kindheit aufgesogene Liedgestalt für die althergebrachte, während es sich in Wirklichkeit eben nur um die Fassung der vorigen Generation handelt. Was wir als alt empfinden, hat meistens im 19. oder 20. Jahrhundert erst seine Stilisierung zum Alten erfahren. Unser Begriff des Alten ist romantischer Herkunft. Das auf alt Polierte, das uns schmeichelt, wird gern mit dem wirklich Alten verwechselt, das ohne romantischen Charme zu sein pflegt und uns oft wildfremd, wenn nicht gar langweilig vorkommt. Eine vollständige Bekenntnisübereinstimmung beim Singen alter Lieder ist bei so komplexen Bedingungen weder möglich noch nötig. Man kann, schreibt Alex Stock, alten Liedern auch, „im Gespür für die Zeitdifferenz, mit einer gewissen Verhaltenheit nachsingen, ihnen folgend, ohne mit ihnen vollends identisch zu sein.“ 1 Zum Umgang mit Archaismen Nostalgie ist nichts Verächtliches, sondern im Gegenteil eine sehr starke Empfindung. Die untergehende Sonne einer Kultur läßt die Farben glühender leuchten als die im Zenit stehende. In der Liturgie waren Ästhetisches und Religiöses noch nie trennscharf zu unterscheiden. Kirchengebäude, Kirchengewänder und Kirchenlatein waren im 20. Jahrhundert immer auch Nostalgiefaktoren. Ästhetizismus, Historismus, Sentimentalität und Nostalgie sind von unserem Verhältnis zu alten Liedern nicht abzulösen. Sie sind Grundbedingungen unserer Kultur mindestens seit der Romantik. Es liegt nicht in unserer Macht, uns ihnen zu entziehen. Im Gegenteil sollten wir ihre Kraft nutzen. Die Sehnsucht nach dem Alten wächst in dem Maße, in dem das Individuum mit der ökonomischen, wissenschaftlichen und gesellschaft- 1 Alex Stock: Und die alten Lieder singen. Umgangsweisen mit der Liedtradition bei der Entstehung des Einheitsgesangbuchs, in: Kirchenlied interdisziplinär. Hymnologische Beiträge aus Germanistik, Theologie und Musikwissenschaft, hg. v. Hermann Kurzke und Hermann Ühlein, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2. Auflage 2002, S. 29-45, hier S. 45. Vom Umgang mit alten Liedern 180 lichen Akzeleration nicht mehr Schritt zu halten vermag. 2 Nostalgie verbürgt dann bedrohte Identität. Das Gesangbuch, das besonders im evangelischen Raum auch als Gegenstand eine hohe Wertschätzung erfuhr, verbürgt bedrohte Identität. Die Sehnsucht nach dem Alten darf von den Kirchen bedient werden, ebenso wie sie von Kunstgeschichte und Musik, Archäologie und Ägyptologie bedient wird. Manchmal zieht sie vielleicht auch wirklichen Glauben nach sich. Daraus ergibt sich als Leitlinie: Alte Lieder nicht modernisieren, sondern ihnen die Würde ihres Alters lassen. Keine billige Besserwisserei, Spees Geozentrik in Ist das der Leib, Herr Jesu Christ nicht korrigieren zu gleichwie die Welt viel tausend Meil die Sonn umläuft in schneller Eil, sondern im Gedenken einer Vergangenheit, in der die Erde noch im Mittelpunkt stand, steif und fest singen: gleich wie die Sonn viel tausend Meil die Welt umlauft in schneller Eil. 3 Das hält die Erinnerung an eine große Erfahrung wach. Die Lieder auch nicht theologisch zensieren, sondern sie von einem Glauben sprechen lassen, der nicht mehr der unsere ist. Das O zieh uns immerdar zu dir des Himmelfahrtslieds Ihr Christen, hoch erfreuet euch wiederherstellen, auch wenn wir kein so wörtliches Verständnis der Himmelfahrt mehr aufbringen. 4 Den Jüngsten Tag nicht preisgeben wie das Evangelische Gesangbuch, das, von einer Ö-Fassung in die Knie gezwungen, sich die borstigen Archaismen nicht mehr zutraute, die das Charakteristikum des jahrhundertelang gesungenen Begräbnislieds von Michael Weiße sind: Nun laßt uns den Leib begraben / und daran kein Zweifel haben, / er werd am Jüngsten Tag aufstehn / und unverweslich herfürgehn. 5 Die Archaismus-Debatte begleitet die Gesangbuchreformen seit zweieinhalb Jahrhunderten. Bei Herder und Arndt, bei Bone, Schlosser und Dreves tauchen immer wieder dieselben Argumente auf, 6 und es ist nicht einzusehen, 2 Den Zusammenhang von Romantik, Konservatismus und Akzeleration habe ich zu entfalten versucht in meinem Aufsatz Romantik und Konservatismus, in: Aurora 61, 2001, S. 55- 66. 3 Vgl. Alex Stock, Geistliches Wunderhorn, S. 205, S. 517. 4 Vgl. Ansgar Franz, Geistliches Wunderhorn, S. 378. 5 Text hier nach EKG Nr. 174. Im EG (Nr. 520) lautet die erste Strophe, metrisch geglättet: Nun legen wir den Leib ins Grab / und zweifeln nicht: durch Gottes Gab / wird, was wir hier verweslich sä’n, einst unverweslich auferstehn. Die Opitzsche Versreform und die aufklärerische Sprachnormierung haben zwar ohne Frage Qualitätssteigerungen bewirkt, aber sie haben auch altertümliche Satzstellungen, unreine Reime, Synkopen (wie G’walt oder seim eingen Sohn) und Apokopen (wie Seel, Erd oder Meil’ statt Meilen) unmöglich gemacht, was eine beträchtliche Ausdünnung des Vers- und Reimpotentials zur Folge hatte. 6 Von Bone über Mohr zu Dreves nimmt die Tendenz zur unverfälschten Übernahme der alten Liedgestalt im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig zu, vgl. Rebecca Schmidt, Gegen den Reiz der Neuheit. Prozesse der katholischen Restauration am Beispiel der Gesangbücher von Heinrich Bone, Joseph Mohr und Guido Maria Dreves, Tübingen 2004 (Mainzer Hymnologische Studien Band 14), S. 103-115. Ferner Rebecca Schmidt und Hermann Kurzke, Fritz Schlosser als Sammler geistlicher Lieder, in: Goethekult und katholische Romantik. Fritz Schlosser (1780-1851), hrsg. von Helmut Hinkel, Mainz 2002, S. 105-120. Vom Umgang mit alten Liedern 181 wieso jede Generation die Fehler der Väter wiederholen muß. Stets mündeten die tagesaktuell motivierten Liedmodernisierungen früher oder später in Restaurationen. Wenn das neue Gotteslob geschichtsbewußter wäre als das alte es war, könnte man sich manche Umwege sparen. Die Lieder also sprachlich nicht glätten und „verständlich“ machen, sondern ihnen ihre alternd zugewachsene geheimnisvolle Vieldeutigkeit lassen, Archaismen wie wallen, traut, hienieden, die Feinde dämpfen und schimpfieret, der Hölle Rachen (aus Mitten wir im Leben sind) oder Zwingt die Saiten in Cithara (aus Wie schön leuchtet der Morgenstern) stehen lassen, so wie ja auch am Stamm des Kreuzes geschlachtet und in deiner Urständ fröhlich ist bisher stehen geblieben ist. Lateinische, hebräische und griechische Wörter unangetastest lassen, also selbstverständlich In dulci jubilo, aber vielleicht auch wieder hilariter, hilariter in Die ganze Welt, Herr Jesu Christ, anstelle des allzu eingewöhnten Alleluja. Schwer verständliche Wendungen durch verständliche zu ersetzen erzeugt Siege, die nicht vorhalten. Gute Texte haben ihre Geheimnisse. Die „Verständlichkeit“, die schon die Aufklärungsgesangbücher forderten und die viele Reformer bis heute fordern, gibt etwas rezeptionsästhetisch Entscheidendes preis. Das Verstandene ist das Tote und Erledigte. Das Unverstandene aber ist produktiv wie ein Rätsel, das gelöst werden soll. Rezeptionsästhetisch gesehen sind dunkle Stellen produktive Zonen, die den Leser zur Deutungstätigkeit anregen und seine Phantasie in Gang setzen. Auch Anstößigkeit ist ein starker ästhetischer Wert. Literarisch gesehen sollte man die militärische Metaphorik vieler Lieder nicht herauszensieren, wie es seit wenigen Jahren gefordert wird, weil man als Christ Pazifist zu sein hat. Die poetische Qualität und Stimmigkeit verlangt vielmehr, kraftvoll zu singen: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Oder Mir nach, spricht Christus, unser Held. Das Militärische bietet archetypische Bilder, die unentbehrlich sind und sich nicht erübrigen durch eine sanfte Gesinnung. Zumal die zitierten Lieder zwar militärische Metaphern verwenden, aber sie christlich-eschatologisch kontextieren und irdische Kriege gerade nicht rechtfertigen. Ähnlich sieht es mit der erotischen Metaphorik aus. Alte Lieder soll man auch nicht erotisch purifizieren, sondern die Liebesmystik des Hohenlieds und der eschatologischen Hochzeit den Gläubigen von heute zutrauen, die von den Medien mit allen erotischen Wassern gewaschen werden und nicht mehr schamhaft die Augen verdrehen werden, wenn in einem Kirchenlied ein Kuß vorkommt. Die geistliche Erotik kann heute wieder originell wirken und der „niedrigen“ Erotik eine Alternative gegenüberstellen. Das ordinäre Lachen wird den Leuten schon vergehen, wenn man ihnen ab und zu erklärt, daß Brunst von Brennen kommt wie Kunst von Können und Gunst von Gönnen, und nichts anderes als Brand bedeutet (wie in Feuersbrunst), und nichts zu tun hat mit der Brunft der Hirsche (die von „Brum- Vom Umgang mit alten Liedern 182 men“ kommt). 7 Auch daß Keuschheit in der spannenden Wortfügung keusche Brunst 8 zweifellos etwas Großes ist, nicht einfach finstere Kasteiung und masochistische Zuflucht von Frustrierten, sondern Freiheit und Begeisterung, Überlegenheit und sublimer Übermut, sollte ab und zu gesagt werden. Und was für ein schönes Wort ist „Inbrunst“! Ich plädiere für den Mut zum Risiko. Wer nirgends anstoßen will, ist in Gefahr, keine Suppe, sondern nur noch klares Wasser zu liefern, und das macht nicht satt. Alte Sprachwelten sind wie ein Genpool, der sonst aussterbende Möglichkeiten des Lebens und Empfindens bewahrt. Irgendwann braucht man sie wieder, entdeckt man ihre heilenden Kräfte. Ein Gesangbuch muß sie vorrätig halten. Frömmigkeitsgeschichtliche Vielfalt gegen theologische Monokultur Das heißt nicht, daß ein Gesangbuch ein reines Museum sein darf. Neben der entschiedenen Pflege des alten Liedguts muß im nächsten katholischen Einheitsgesangbuch die ebenso entschiedene Förderung neuer Lieder (und nicht nur deutscher) stehen. Ein Verhältnis alte Lieder und neue Lieder zu gleichen Teilen schiene mir angemessen. Es wird auch kein Lied allein deshalb aufzunehmen sein, weil es alt ist. Nur solche Lieder, die starke Gene einbringen, kommen in Frage, nicht die Massenware früherer Jahrhunderte. Nur Kunstwerke voll religiöser, poetischer und musikalischer Kraft. Die Auswahl sei eng, aber hochkarätig. Vielleicht 150 alte (und 150 neue) Lieder. Daß die Lieder noch leben, irgendwo im Gebrauch sind, wird in der Regel ein weiteres Kriterium sein - obgleich wenige, gut ausgewählte Wiederbelebungs- oder Neueinspeisungsversuche möglich sein sollten. Doch sind dem enge Grenzen gesetzt. Eine theologische Zensur sollte unsere glaubensschwache, mit dauerhaften Überzeugungen nicht eben gesegnete Zeit sich nicht anmaßen, 9 ausgehend davon, daß alle überhaupt zur Wahl stehenden Lieder einmal als Ausdruck großen Glaubens gegolten haben. Besser steht uns historistische Gelassenheit zu Gesicht. Das Gesangbuch soll, wenn man den Literaturwissenschaftler fragt, nicht glattbügeln, nicht alles über einen gängigen theologischen Leisten schlagen, sondern es soll vielseitig und tönereich sein wie eine reich gegliederte Landschaft, in der auch der Fels nicht dem Acker, der See dem Wasserfall nicht vorschreibt, wie man sich zu benehmen habe. 7 Die Verteidigung des Wortes „Brunst“ findet man schon bei Guido Maria Dreves, vgl. Rebecca Schmidt, Gegen den Reiz der Neuheit, S. 106. 8 Gib meinem Herzen keusche Brunst heißt es in einer heute unterdrückten Strophe von Ich will dich lieben, meine Stärke (Angelus Silesius). 9 „Mein Interesse an den überlieferten Texten geht davon aus, daß die geistliche Erfahrung und poetische Kraft des Christentums in Deutschland gegenwärtig nicht so stark ist, als daß es auf die alten Lieder großzügig verzichten könnte. Die poetische Schwäche vieler neuer Lieder liegt leider offen zu Tage.“ (Alex Stock, a. a. O. S. 44) Vom Umgang mit alten Liedern 183 Die theologisch begründete Liedervernichtung, die das 1975-er Gotteslob in manchen Fällen betrieben hat, ist in manchen Fällen rückgängig zu machen. Morgenglanz der Ewigkeit sollte in der siebenstrophigen Originalversion aufgenommen werden, also mit Adams Apfelbiß. 10 Maria zu lieben ist in Heinrich Bones Fassung aufzunehmen, und für Wunderschön prächtige empfehle ich sogar die ursprüngliche Volksliedfassung des 18. Jahrhunderts 11 , nicht die hundert Jahre jüngeren theologischen Verkirchlichungen von Bone und Geissel, nicht deren unzählige Mischversionen und auch nicht die Neufassungen von verschiedenen Gotteslob-Dichtern. Das hätte den Vorteil, daß es vielleicht ein Stammteillied werden könnte, weil alle nachgeben müssen, anstatt wie bisher den über dreißig diözesanen Anhängen ein gutes Dutzend verschiedene Fassungen zu präsentieren. Da die emotionale Bindung an das alte Liedgut längst nicht mehr so stark ist wie in der Zeit vor Einführung des Gotteslob, da fast alles aus dem Buch, fast nichts mehr auswendig gesungen wird, sind die Chancen, daß man einige Liedreinigungen durchsetzen kann, heute vielleicht ganz gut. In jedem Fall ist ja Liedpflege notwendig - ohne sie, ohne Geistliche und Kantoren, die Text und Melodie der alten Lieder den Herzen der Gläubigen wieder nahe bringen, muß das Plädoyer für die archaische Gestalt abstrakt und akademisch bleiben. Nicht immer freilich ist die älteste Fassung die beste. Manche Lieder finden erst im Laufe der Wirkungsgeschichte ihre künstlerisch beste und oft dann quasi kanonische Gestalt. Das gilt für Ihr Christen, hoch erfreuet euch oder für O heilge Seelenspeise oder für Auf, gläubige Seelen, wo ich jeweils die im Geistlichen Wunderhorn edierte Fassung empfehlen möchte. Selbstverständlich können auch heute noch in seltenen Fällen Bearbeitungen sinnvoll sein, bei Liedern, die große Impulse geben, aber nicht zu einer optimalen Gesamtgestalt gefunden haben. Solche Bearbeitungen können jedoch in der Regel nur akzeptiert werden, wenn sie 1. wirklich besser sind als alle bisherigen Fassungen und 2. sich an der Idee des ursprünglichen Lieds orientieren, anstatt es zu einem Gegenwartslied umzufrisieren. Konfessionalität und Ökumene Man wird überkonfessionell akzeptierte und in lebendigen Gebrauch gekommene ökumenische Lieder in der Regel nicht wieder in Frage stellen. Für andere Fälle, in denen die Ö-Fassung die konfessionelle und meistens originalnähere Fassung in der Praxis nicht zu verdrängen vermochte, sollte nicht das Prinzip Einheit, sondern das Prinzip versöhnte Verschiedenheit im Vordergrund stehen. Die Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner 10 Vgl. Geistliches Wunderhorn, S. 320. 11 Vgl. dazu Christiane Schäfer: „Wunderschön prächtige“. Geschichte eines Marienliedes. Tübingen: Francke-Verlag 2006 (Mainzer Hymnologische Studien, Band 18), S. 69 f. Vom Umgang mit alten Liedern 184 läuft Gefahr, den Liedern die Kanten abzuschleifen, ihnen ihr Profil zu nehmen. Kulturgeschichtlich gesehen sind die Vereinheitlichungsbestrebungen Nebenfolgen des deutschen Nationalismus, auch wenn heute die Migrationsbewegungen eine andere Begründungslage geschaffen haben. Dennoch bleibt festzuhalten, daß die produktiven Jahrhunderte des Kirchenlieds keine Einheit gekannt haben. Ökumenische Lieder mögen entstehen, aber als moderne Lieder, nicht als nachträgliche Eintragung einer allgemeinen Christlichkeit in Produkte aus dem Geist dezidiert konfessioneller Identitäten. Die Konfessionalität war, bei allem Beklagenswerten, auch ein Reichtum. Sie hat eine kulturelle Konkurrenz geschaffen, die beiden großen Konfessionen Höchstleistungen abverlangte, während die allgemeine Toleranz von heute zur Produktivität offenbar nicht ermuntert. Ich würde die Konfessionalität alter Lieder nicht verschleiern wollen, aber, der Tendenz der letzten fünfzig Jahre folgend, weiteren großen Liedern der evangelischen Tradition im katholischen Gesangbuch Heimatrechte verleihen, z. B. Wie soll ich dich empfangen oder Der Mond ist aufgegangen. Selbstverständlich wäre Luthers Aus tiefer Not in der fünfstrophigen Fassung aufzunehmen, wie schon im Katholischen Gesangbuch der Schweiz. Vielleicht auch Ein feste Burg ist unser Gott. Das Lied ist zwar kulturell die Marseillaise der Reformation gewesen, ein starkes Identitätssignal des Protestantismus, stellt aber theologisch meines Wissens einer katholischen Rezeption keine Hindernisse entgegen. 12 Angesichts der allgemeinen Entchristlichung verlieren die Unterschiede der Konfessionen an Gewicht. Katholiken und Protestanten sollten einander von ihren Reichtümern mitteilen und nach außen möglichst oft gemeinsam auftreten. Grenzfälle Vieles kann man den Gemeinden zumuten, wenn man es mit Geschmack und Überzeugungskraft vorbringt. Die Chance, Wie schön leuchtet der Morgenstern nach dreihundertjähriger Verschlechterungsgeschichte endlich wieder vollkommen urtextgetreu aufzunehmen, sollte man sich nicht nehmen lassen. In Lobe den Herren sollte man die Originalfassung wählen, also auch den Archaismus lob ihn mit Abrahams Samen nicht scheuen, theologisch, um die Rückbindung der Christen an das alte Israel nicht wegzuwischen, poetisch, um einen jener Widerhaken des Verstehens wiederherzustellen, die im Gemüt zu arbeiten pflegen. In bestimmten einzelnen Fällen scheint mir Urtexttreue nicht geboten. In dulci jubilo schließt in allen frühen Textzeugnissen mit einer Marienstrophe, 13 12 Das Lied findet sich denn auch im neuesten Erfurter Gotteslob-Anhang (2002), was zeigt, daß eine katholische Rezeption so unmöglich nicht sein kann. 13 Vgl. Geistliches Wunderhorn, S. 51 f. Vom Umgang mit alten Liedern 185 die jedoch textlich instabil ist und weder poetisch noch theologisch zwingend. Den wirklichen Urtext kennen wir nicht. Wir singen heute eine Fassung, die Michael Vehe 1537 aus dem protestantischen Klugschen Gesangbuch übernommen hatte, das die Marienstrophe weggelassen hatte. Zwar ging diese frühe ökumenische Einigkeit dann wieder für Jahrhunderte verloren, aber wir können hier von einem im 20. Jahrhundert überkonfessionell akzeptierten Text sprechen. Es gibt keinen Phantomschmerz um diese Lücke. Es wäre philologische Beckmesserei, diese Einigkeit aus Gründen, die wohl alle Welt für nur akademisch halten würde, zu zerstören. O Traurigkeit, o Herzeleid wird man weiterhin, wie seit Jahrhunderten, ohne die Judenstrophe präsentieren (Es muß da sein / aus Marmelstein / der Juden Herz gewesen …). Daß sie nicht antisemitisch motiviert ist, sondern theologisch und poetisch durchaus verteidigt werden kann, zeigt Alex Stock im Geistlichen Wunderhorn. 14 Dennoch haben manche Debatten in der letzten Zeit gezeigt, daß man hier auf verbrannter Erde argumentiert und der Nutzen der Urtexttreue (die Verstärkung des Motivs „hartes Herz“) geringer ist als der mögliche Schaden durch die nach derzeitiger Sachlage unweigerlich kommenden Mißverständnisse. Ähnlich steht es mit der Urfassung von Ein Haus voll Glorie schauet. Poetisch ist sie sicher stärker als die - immerhin passable - Neudichtung von Hans W. Marx im Gotteslob. Doch sind die Kulturkampf-Akzente nur schwer zu übersehen. Die militärische Metaphorik steht hier nicht ausreichend im Dienst spiritueller Dimensionen. Sie ist zu leicht mißbrauchbar im Sinne eines „heiligen Kriegs“ und würde, wenn auch vielleicht nicht mehr vom Protestantismus, so doch vom Islam allzu leicht als Kampfansage mißverstanden werden können. 15 Altes und Neues Was ist Tradition? Weitergabe und Anpassung zugleich. Nicht immer sind Urtextrestaurationen mit Tradition identisch, obgleich sie heute in vielen Fällen das Gebot der Stunde sind. Tradieren heißt nicht bewahren, sondern von Generation zu Generation anpassen, reparieren, weiterentwickeln, erneuern, anbauen, abreißen, umbauen, altes Fachwerk freilegen oder altes Fachwerk verputzen - alles auf dem selben Grundstück am selben Haus. Die produktiven Jahrhunderte des Kirchenlieds haben ohne Scheu umgebaut. Martin Luther hat nur weniges ganz neu gedichtet. Fast alle seine großen Lieder sind Bearbeitungen von Vorlagen. In der Regel haben sie diese Vorlagen reicher 14 Vgl. Geistliches Wunderhorn, S. 196. 15 Vielleicht steht es mit dem Michaelslied Unüberwindlich starker Held ähnlich, obgleich ich die Argumentation von Alex Stock nicht absolut zwingend finde. Vgl. Alex Stock, Und die alten Lieder singen, S. 30-35. Vom Umgang mit alten Liedern 186 gemacht. Das ist ein Kriterium. Bearbeitungen sind dann zu bejahen, wenn sie Bereicherungen bringen. Nichts ist schöner als eine überzeugende Übersetzung der christlichen Überlieferung in ein hochmodernes Gebäude. Wir sollten entschieden für das Neue sein, aber, solange die Bearbeitungen nicht stärker sind als ihre Vorlagen, ebenso entschieden für das Alte in seiner unverfälschten Textgestalt. Es ist heute notwendig, die alten Überlieferungen mit Macht zu pflegen, weil sie verloren zu gehen drohen. Anders als fundamentalistische Integralisten tut der Literarhistoriker das im Bewußtsein, daß die Sprache der alten Lieder nicht die unsere ist; das heißt auch, daß ihr Glaube nicht der unsere ist. Man hat keine Sache jenseits ihres Ausdrucks. Es ist nicht möglich, den Glauben der alten Lieder durch sprachliche Modernisierung in unsere Zeit hinüber zu retten. Wenn wir die Sprache ändern, verändern wir immer auch den Glauben. Es wird lange und tiefe Auseinandersetzungen geben zwischen „Traditionalisten“ und „Modernisten“. Eine glatte Lösung des Konflikts gibt es nicht. Gegen die Position der Traditionalisten spricht der unübersehbare Traditionsabriß. Der jungen Generation, die das neue Gesangbuch durch ihr Leben begleiten soll, ist das, wovon ich hier rede, fast völlig unbekannt, weil sie überhaupt kein Gesangbuch mehr begleitet. Meine damals neunjährige Tochter hat im Kommunionunterricht nicht ein einziges altes Lied gelernt, dafür aber etwa zehn neue geistliche Lieder, von denen keines im Gotteslob stand, das man ihr kaufte in Leder mit Goldschnitt. Sie wird die Nostalgie nicht kennenlernen, die vorkonziliar erzogene Christen noch umtreibt (oder sie wird das neue geistliche Lied nostalgisieren). Gegen die Position der Modernisten spricht die Substanzarmut ihres Bekenntnisses. Es ist aber unbestreitbar, daß ihre Ausdruckswelt die Herzen der meisten jungen Menschen leichter erreicht. Daher noch einmal mein Vorschlag: Bei den alten Liedern entschieden auf den Reiz des Alten setzen, bei den neuen entschieden auf Modernität. III. Interpretationen 18 Das deutsche Te Deum: „Großer Gott, wir loben dich“ Man muß es erlebt haben, mit welcher Urgewalt das Großer Gott, wir loben dich erdröhnen kann, zum Beispiel im katholischen Gottesdienst nach der Fronleichnamsprozession, beim Wiedereinzug in die Kirche, wenn alle Glokken läuten, die Orgel ihr äußerstes gibt und auch die, die sonst nur lustlos vor sich hin brummeln, aus voller Brust schmettern. Ein Erschauern angesichts der Größe Gottes oder ein Überwältigtsein vom „ozeanischen Gefühl“ 1 geht dann durch die Menge. Dieses Lied hat einen anderen Rang als die meisten übrigen Kirchenlieder, einen mächtigeren, umfassenderen, grundsätzlicheren, der es erlaubt, von einer Hymne zu sprechen. Es ist ein Erkennungslied der katholischen Kirche. Zur Hymne wurde das Lied jedoch auch im nationalen Sinne. Der Nationalismus hat ja viele religiöse Formen übernommen. In den meisten Fällen wurden dabei die zentralen Vorstellungen ausgetauscht, zum Beispiel Gott durch Kaiser oder Vaterland ersetzt, weil das religiöse Vokabular in der Regel einer nationalen Indienstnahme widerstand. Im Falle des Großer Gott wie auch des Ein feste Burg kam es jedoch nicht zu einem Austausch, sondern zu einer Unterwanderung der religiösen Worte. Sie war vorbereitet dadurch, daß bereits das altkirchliche Te Deum zur Feier siegreicher Schlachten hatte herhalten müssen. Händel schrieb ein Te Deum zur Schlacht von Dettingen 1743. Als „revolutionäres Tedeum“ bezeichnete Goethe die Marseillaise 2 , einem Sprachgebrauch folgend, für den „Tedeum“ ein Synonym für „Hymne“ war. Das Tedeum der Neufranken ist der Erstdruck der Marseillaise in Deutschland überschrieben. 3 Ein Te deum nach dem Sieg bei Leipzig findet 1 Den Begriff des „ozeanischen Gefühls“, in dem das Ich mit der Außenwelt verschwimmt, erläutert Siegmund Freud am Anfang seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur. 2 Belagerung von Mainz, Aufzeichnung vom 24. Juli 1793. Vgl. Untergang einer Reichshauptstadt. Johann Wolfgang von Goethe. Belagerung von Mainz. Ein Bilderbogen. Hg. u. kommentiert von Oliver Kemmann und Hermann Kurzke. Frankfurt: Societätsverlag 2001, S. 130. 3 Gesang- und Liederbuch für die Braunschweigischen Truppen, Braunschweig 1814, mit konsequenter Inanspruchnahme Gottes für die deutschen Interessen. Ein charakteristisches Detail aus diesem Tedeum ist die Art, wie das „martyrum candidatus exercitus“ - (das weißgekleidete Heer der Märtyrer, Zeile 9 des lateinischen Texts) ungeniert um „Winfelds- Kämpfer“ und deutsche Kaiser erweitert wird: Im Himmel ist gar große Freud’: die Märtyrer im weißen Kleid, / wer je für Recht und Glauben fiel, / der edlen Winfelds-Kämpfer viel, / die Kaiser aus dem Schwabenland / erheben Gottes Wunderhand; / wer Otto je und Heinrich hieß / erfreut sich noch im Paradies. Das deutsche Te Deum 190 sich in einem Truppenliederbuch von 1814. 4 Te Deum laudamus überschrieb Hermann Grieben ein Gedicht, das vor dem Krieg von 1870/ 71 an den siegreichen Geist der Befreiungskriege erinnert. 5 Das deutsche Te Deum dringt in viele nichtreligiöse Liedsammlungen vor, zum Beispiel in das ansonsten ganz profane Kriegsliederbuch für das deutsche Heer 1914. Daß es nicht absurd ist, dieses Lied in einen Zusammenhang mit Nationalhymnen zu bringen, zeigt schließlich auch die Tatsache, daß Großer Gott, wir loben dich noch in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts als schweizerische Nationalhymne vorgeschlagen wurde. 6 Bevor wir uns der nationalen Wirkungsgeschichte des deutschen Te-Deum-Liedes im einzelnen zuwenden, muß seine altkirchliche Vorgeschichte dokumentiert werden. Das alte Te Deum, auch Ambrosianischer Lobgesang genannt, weil man Ambrosius von Mailand für seinen Verfasser hielt, ist ein theologisch hochrangiger, in manchem dem Credo oder dem Gloria nahestehender Gesang aus dem 4. Jahrhundert. Der Text lautet 7 : 1 Te Deum laudamus te Dominum confitemur 2 Te aeternum Patrem omnis terra veneratur 3 Tibi omnes Angeli tibi caeli et universae potestates 4 Facsimile in Oh Freyheit! Silberton dem Ohre…“. Französische Revolution und deutsche Literatur 1789-1799, Ausstellungskatalog Marbach 1989, S. 210. 5 Vaterlandslieder, Leipzig 1889, S. 420. 6 Ulrich Ragozat, Die Nationalhymnen der Welt, Freiburg 1982, S. 216. 7 Der Text hier nach den ältesten Handschriften (mit kleinen Abweichungen vom liturgisch üblichen Text, zum Beispiel Zeile 21 „munerari“ statt „numerari“). Abgedruckt in dem von Hansjakob Becker und Reiner Kaczynski herausgegebenen Kompendium Liturgie und Dichtung, St. Ottilien 1983, im Kontext des informativen Aufsatzes Der Ambrosianische Lobgesang von Ruth Maringer (Band I, S. 275-301). Dort wird auch eine wörtliche Übersetzung gegeben: [1] Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir. [2] Dir, dem ewigen Vater, huldigt die ganze Erde. [3] Dir rufen die Engel alle, dir Himmel und Mächte alle zusammen, [4] Dir rufen Cherubim und Seraphim mit niemals endender Stimme zu: [5] Heilig, heilig, heilig, der Herr, der Gott der Scharen! [6] Voll sind Himmel und Erde von der Herrlichkeit deines Ruhmes. [7] Dich preist der glorreiche Chor der Apostel, [8] Dich die lobwürdige Zahl der Propheten. [9] Dich die leuchtende Heerschar der Märtyrer. [10] Dich bekennt die heilige Kirche über den ganzen Erdkreis hin, [11] Dich, den Vater unermeßlicher Majestät, [12] Deinen ehrwürdigen, wahren und eingeborenen Sohn [13] und auch den heiligen Tröster, den Geist. [14] Du König der Herrlichkeit, Christus. [15] Du bist des Vaters allewiger Sohn. [16] Du hast zur Errettung Menschengestalt angenommen, den Schoß der Jungfrau nicht gescheut, [17] Du hast den Stachel des Todes gebrochen und (damit) den Glaubenden die Reiche der Himmel geöffnet. [18] Du sitzt zur Rechten Gottes in der Herrlichkeit des Vaters. [19] Wir glauben, daß du als Richter einst wiederkommen wirst. [20] Dich bitten wir also, hilf deinen Dienern, die du mit kostbarem Blut losgekauft hast. [21] Laß uns mit deinen Heiligen der ewigen Herrlichkeit teilhaft werden. [22] Mach heil dein Volk, o Herr, und segne dein Erbe, [23] und leite sie und erhebe sie bis in Ewigkeit. [24] Alle Tage hindurch preisen wir dich [25] und loben deinen Namen immer und in alle Ewigkeit. [26] In Gnaden mögest du uns, o Herr, an diesem Tag ohne Sünde in deine Hut nehmen. [27] Erbarme dich unser, o Herr, erbarme dich unser. [28] Laß über uns dein Erbarmen geschehen, so wie wir auf dich gehofft haben. [29] Auf dich, o Herr, habe ich gehofft. In Ewigkeit werde ich nicht zugrunde gehen. Das deutsche Te Deum 191 4 Tibi Cherubim et Seraphim incessabili voce proclamant 5 Sanctus sanctus sanctus Dominus Deus Sabaoth 6 Pleni sunt caeli et terra maiestatis gloriae tuae 7 Te gloriosus Apostolorum chorus 8 Te Prophetarum laudabilis numerus 9 Te Martyrum candidatus laudat exercitus 10 Te per orbem terrarum sancta confitetur ecclesia 11 Patrem immensae maiestatis 12 Venerandum tuum verum et unicum (unigenitum) filium 13 Sanctum quoque Paraclitum Spiritum 14 Tu rex gloriae Christe 15 Tu Patris sempiternus es filius 16 Tu ad liberandum suscepturus hominem non horruisti virginis uterum 17 Tu devicto mortis aculeo aperuisti credentibus regna caelorum 18 Tu ad dexteram Dei sede(n)s in gloria Patris 19 Iudex crederis esse venturus 20 Te ergo quaesumus tuis famulis subveni quos pretioso sanguine redemisti 21 Aeterna fac cum sanctis tuis gloria munerari 22 Salvum fac populum tuum Domine et benedic haereditati tuae 23 Et rege eos et extolle illos usque in aeternum 24 Per singulos dies benedicimus te 25 Et laudamus nomen tuum in aeternum et in saeculum saeculi 26 Dignare Domine die isto sine peccato nos custodire 27 Miserere nostri Domine miserere nostri 28 Fiat Domine misericordia tua super nos quemadmodum speravimus in te 29 In te Domine speravi non confundar in aeternum. Der Text ist in drei Teile gegliedert. Den ersten Teil bildet der Gotteshymnus, der mit einer trinitarischen Doxologie, einem Lobpreis des dreifaltigen Gottes endet (Zeile 1-13). Den zweiten Teil bildet ein Christushymnus, der mit der Bitte um Teilhabe an der Erlösung endet (Zeile 14-21). Den dritten Teil bilden locker gereihte psalmodische Bitten und Ausrufe der Gemeinde. Die sprachliche Gestalt prägen verschieden lange, rhythmisierte Zeilen, die meistens durch Anaphern (gleichlautende Zeilenanfänge) und Parallelismen (ähnlicher Satzbau) zu Gruppen zusammengefaßt werden. Das Verfahren ähnelt dem des Psalters, dessen Verse ebenfalls nicht durch Strophen, sondern durch den Parallelismus membrorum gegliedert werden. Eine erste Gruppe bilden die Zeilen 1-4, eine Art Präambel, die mit Te beginnend dreifach den Gegenstand des Lobes (Deum, Dominum, Patrem), mit Tibi dreifach beginnend die Lobenden des Himmels aufzählt: die Engel, die Mächte, die Cherubim und Seraphim. Sie alle loben Gott, den Vater und Herrn. Sie rufen ohne Unterlaß, was in den Zeilen 5 und 6 steht: Sanctus Dominus Deus Sabaoth. Die Zeilen 7-10, hinter denen ein Doppelpunkt zu denken ist, zählen, erneut durch Te-Sätze rhythmisiert, die Lobenden der Erde auf: die Apostel, die Propheten, die Märtyrer und die ganze heilige Kirche. Was sie rufen, steht in den Zeilen 11-13; sie bekennen preisend den Vater, den Sohn Das deutsche Te Deum 192 und den Heiligen Geist (Patrem, filium, Spiritum). Von 14-19 folgen, nun mit Tu beginnend, als Zentrum des Textes Glaubensaussagen über das Erlösungswerk Christi, den ewigen Sohn des Vaters, der die Erniedrigung der Menschwerdung auf sich genommen hat, den König der Herrlichkeit, der den Schoß der Jungfrau nicht gescheut hat, den Stachel des Todes besiegt hat und dereinst als Richter wiederkommen wird. Die Zeilen 20 und 21 enthalten, mit quaesumus eingeleitet, die daraus folgende Bitte der Gemeinde, am Ende der Zeiten an der ewigen Herrlichkeit teilhaben zu dürfen. Die Zeilen 22-29, dem bisher strengen Aufbau nur locker verpflichtet und vielleicht später angefügt, enthalten liturgisch ritualisierte, meist aus dem Psalter stammende Schlußwendungen. Im Jahre 1768 8 brachte der katholische Priester Ignaz Franz das Te Deum in die gereimte Fassung, die dann einen ungeahnten Siegeszug durch die Gesang- und Liederbücher antreten sollte (Erstdruck 1772): 1 Großer GOTT, wir loben dich; HErr, wir preisen deine Stärke: Vor dir neigt die Erde sich, Und bewundert deine Werke. Wie du warst vor aller Zeit, So bleibst du in Ewigkeit. 2 Alles, was dich preisen kann, Cherubin- und Seraphinen Stimmen dir ein Loblied an; Alle Engel, die dir dienen, Rufen dir stäts ohne Ruh: Heilig, Heilig, Heilig zu! 3 Heilig! HErr GOtt Sabaoth! Heilig! Herr der Kriegesheere! Starker Helfer in der Not, 8 Datierung und Erstfassung nach Wilhelm Bäumker, Das deutsche Te Deum, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 15, 1900, S. 88-93. Näheres im entsprechenden, von Michael Fischer verfassten Artikel in www.liederlexikon.de. - Das Lied ist eine beachtliche Übertragungsleistung, die den unvermeidlichen Kompromiß zwischen Übersetzungsgenauigkeit und poetischer Qualität erst auf einem hohen Niveau eingeht. Als Problemzone sei dennoch vermerkt, daß das non horruisti virginis uterum (du hast den Schoß der Jungfrau nicht gescheut) der vernünftigen Prüderie des 18. Jahrhunderts wohl anstößig war. Franz läßt die Wendung einfach aus. Damit war die Provokation der zugleich „niedrigen“, aber durch die Jungfräulichkeit Mariens auch wieder einzigartigen Geburt Gottes im Menschen abgeschwächt. Diese Abschwächung war freilich die Bedingung für das spätere Vordringen des Liedes in die protestantischen Kirchen. Dort wäre eine Betonung der Jungfrauengeburt auf Widerstand gestoßen. Das aufklärerische Gesangbuch Berlin 1780 (der „Mylius“) greift an dieser Stelle auch in Luthers gereimte Übersetzung des Te Deum ein. Luthers Doppelzeile Der Jungfraw leib nicht hast verschmecht / Zurlösen [zu erlösen] das menschlich geschlecht (Weimarer Ausgabe 35, 459) wird getilgt zugunsten von du wardst, um unser Trost zu sein, ein Mensch, wie wir, doch sündenrein. Das deutsche Te Deum 193 Himmel, Erde, Luft und Meere Sind erfüllt von deinem Ruhm, Alles ist dein Eigenthum. 4 Der Apostel Christi Chor Der Propheten große Menge, Schickt zu deinem Thron empor Neue Lob- und Dankgesänge; Und die heil’ge Zeugenschaar, Lobt und preist dich immerdar. 5 Auf dem ganzen Erdenkreis Loben Große, und auch Kleine Dich GOtt Vater; dir zum Preiß Singt die heilige Gemeine, Die auch ehrt auf seinem Thron Deinen eingebohrnen Sohn. 6 Sie verehrt den Heilgen Geist, Welcher uns mit seinen Lehren Und mit Troste kräftig speist, Der, o König voller Ehren! Der mit Dir, Herr JEsu Christ, Und dem Vater ewig ist. 7 Du, des Vaters ewger Sohn, Hast die Menschheit angenommen, Und bist von des Himmels Thron Zu erlösen uns gekommen. Gnade hast du uns gebracht, Und vom Tode frey gemacht. 8 Nunmehr steht des Himmels Thür Allen, welche glauben, offen; Du stellst uns dem Vater für, Wenn wir kindlich auf dich hoffen, Endlich kömmst du zum Gericht; Zeit und Stunde weis man nicht. 9 Drum steh deinen Dienern bey, Welche dich mit Demuth bitten, Die dein Blut dort machte frey, Als du für uns hast gelitten; Nimm uns nach vollbrachtem Lauf Zu dir in den Himmel auf. 10 Sieh dein Volk in Gnaden an; Hilf uns, segne, HErr! dein Erbe; Leit es auf der rechten Bahn, Daß der Feind es nicht verderbe. Das deutsche Te Deum 194 Hilf, daß es durch Buß und Flehn, Dich im Himmel möge sehn! 11 Alle Tage wollen wir Dich und deinen Namen preisen, Und zu allen Zeiten dir Ehre, Lob und Dank erweisen. Gib, daß wir von Sünden heut Und von Lastern seyn befreyt. 12 HErr, erbarm! erbarme dich! Ueber uns, HErr, sey dein Segen! Deine Güte zeige sich. Gleichwie wir zu hoffen pflegen. Auf dich hoffen wir allein, Laß uns nicht verlohren seyn! Wer die heute gesungene Version kennt, wird sich vielleicht zuerst über das Herr der Kriegesheere in der dritten Strophe wundern. Es handelt sich jedoch lediglich um eine Übersetzung des hebräischen Sabaoth (Dominus Deus Sabaoth, Zeile 5 des lateinischen Texts); um eine stehende Formel also, die zwar ursprünglich reale Krieger Gottes meinte, sich aber im Verständnis von Ignaz Franz auf die himmlischen Heerscharen, also auf die Engel bezog. Um dem allzu naheliegenden Mißbrauch im Hinblick auf irdische Heere einen Riegel vorzuschieben, haben katholische Gesangbücher hier schon früh Varianten wie Geisterheere oder Himmelsheere. 9 Die protestantische Singtradition hält bis 1945 häufig an den Kriegesheeren fest. Während die im katholischen Bereich stärker entwickelte Angelologie (Engellehre) schon früh eine Vergeistigung der Stelle erlaubte, bleibt die hebräische Urbedeutung im stärker philologisch orientierten protestantischen Bereich ein Einfallstor für eine an der Legitimation von Kriegen interessierte Rezeption. Die strophische Form bot mehr Platz als die stichisch-psalmodische des Originals. Der deutsche Text ist deshalb wortreicher als der lateinische. Er enthält einige kleine Zusätze. Während der lateinische Hymnus bis Zeile 13 nur die Tatsache und die Teilnehmer des Lobes aufzählt, gibt Franz in den ersten drei Strophen auch Gründe für das Lob an: die Stärke Gottes, seine Werke, die Hilfe in der Not. Er ergänzt Himmel und Erde um die Luft und die Meere - aus kosmischen werden so geographische Bilder. Er betont wie viele Lieddichter des leistungsstolzen 18. Jahrhunderts den Gedanken der Schöpfung, des mächtigen Gottes, dem alles gehört. Der Ambrosianische 9 Geisterheere zum Beispiel im Gesangbuch Konstanz 1812 (innerhalb einer auch sonst stark veränderten Fassung), im Gesangbuch des Bistums Limburg (mindestens seit 1838 und bis 1945), Himmelsheere, nach vereinzelten früheren Belegen (zum Beispiel Katholisches Gesangbuch für den öffentlichen Gottesdienst im Bißthume Würzburg; oder Sammlung älterer und neuerer Kirchengesänge [etc.], Würzburg 1828) generell seit der Einheitslied- Fassung von 1947. Das deutsche Te Deum 195 Lobgesang betonte demgegenüber den Gedanken der Erlösung (Zeilen 14- 21), sie, nicht die Schöpfung, ist der tiefste Grund des Lobes. Das Lied dringt bereits Ende des 18. Jahrhunderts in die katholischen Gesangbücher ein; von der Mitte des 19. Jahrhunderts an findet es sich dort regelmäßig. Die evangelische Rezeption beginnt in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts und setzt in größerem Umfang erst im letzten Viertel desselben ein; fast regelmäßig findet sich das Lied in den protestantischen Gesangbüchern etwa seit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. 10 Der textliche Hauptunterschied zwischen der katholischen und der protestantischen Rezeption ist, daß die katholischen Gesangbücher in ihrer Mehrzahl alle oder fast alle Strophen drucken, die protestantischen fast immer nur eine Auswahl. 11 Das Auswahlverhalten beider Kirchen ist ganz unterschiedlich. Die bei weitem häufigste protestantische Version besteht aus den Strophen 1-3 und 10-12. 12 Die Kürzung bewirkt eine Entchristlichung. Nach dem Eingangslobruf der Strophen 1-3 (die den Zeilen 1-6 des lateinischen Originals entsprechen) erfolgt sogleich ein Sprung in den Schlußteil, zu den Bitten und Psalmversen (denn 10-12 entspricht 22-29 im Lateinischen), also zum unwichtigsten Teil des ursprünglichen Textes. Damit ist das theologische Herzstück herausgebrochen (die Christologie, die Erlösungslehre). An seinen Platz tritt faktisch der Gedanke der Nation. Die Kürzung führt dazu, daß gleich nach dem Gotteslob vom Volk die Rede ist: Sieh dein Volk in Gnaden an. Die „Volk“-Strophe wird so zur Zielstrophe des Textes. Damit war einem nationalistischen Verständnis Tür und Tor geöffnet. Der Wegfall der theologischen Mißbrauchssicherung in den mittleren Strophen erlaubte es allzuleicht, unter Volk nicht das (übernationale) Volk Gottes zu verstehen, sondern das deutsche Volk, unter dem Feind in derselben Strophe nicht den Satan, sondern zum Beispiel die Franzosen. 13 Die katholische Tradition war, als weltweit-römische, dem Nationalismus gegenüber nicht ganz so anfällig. Jedenfalls hat sie diese Bearbeitungstendenzen nicht mitgemacht. Wenn dort das Lied gekürzt wurde, dann in der 10 Diese Aussagen basieren auf der Durchsicht von rund sechzig Gesangbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine präzise Darstellung der Rezeptionsgeschichte und der zahlreichen Varianten bedürfte jedoch angesichts der regionalen Zersplitterung der Gesangbuchtradition eines noch weit größeren Aufwandes. 11 Alle zwölf Strophen drucken die evangelischen Gesangbücher in Schlesien, was mit der schlesischen Herkunft des Liedes zusammenhängen dürfte. 12 Eine Auswahl wichtiger Belege: Evangelisches Gesangbuch (Brandenburg), Berlin 1884 (u. ö.), Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen (Dortmund 1911), Gesangbuch für die Provinz Sachsen und Anhalt, Halle 1931, Evangelisches Gesangbuch für das Großherzogtum Hessen, Darmstadt 1930, Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, 1940. Im hessischen Gesangbuch Darmstadt 1917 stehen zehn Strophen; es fehlen 7 und 8; auch hier gibt es also eine Tendenz gegen die theologischen Kernstrophen. 13 Der Feind ist im übrigen eine Zutat von Ignaz Franz. Im lateinischen Text kommt er nicht vor. Das deutsche Te Deum 196 Regel auf theologisch reflektiertere Weise, nämlich weniger auf Kosten des Mittelteils als auf Kosten des Schlusses, unter anderem auf Kosten der Volk- Strophe. Je radikaler evangelischerseits gekürzt wird, umso deutlicher zeigt sich der latente Nationalismus der Strophenauswahl, denn die vom Ursprungstext her gesehen relativ unwichtige Volk-Strophe (= 10) wird beinahe nie gestrichen. Es gibt zum Beispiel die Strophenfolgen 1,2,10,12 14 oder sogar 1, 10, 12 15 und, bezeichnenderweise in einem Gesangbuch der deutschen Christen, 1, 10, 11, 12. 16 Das auffallende Kürzungsverhalten ist nicht das einzige Indiz für die nationalistische Umdeutung des Volk-Gottes-Begriffs. Es kommt auch zu Textänderungen. Seit dem ersten Weltkrieg wird eine Variante der Schlußzeilen der zehnten Strophe immer häufiger. Offenbar störte nämlich der fromme Schluß der Volksstrophe die nationalistische Lesart. Anstelle der demütigen Rede vom „Himmel“, wo man durch Buß und Flehn zur Anschauung Gottes gelangen könnte, findet sich nun in den Zeilen 5 und 6 der Strophe die für das Volk viel schmeichelhaftere Aufforderung Wart und pfleg es in der Zeit / heb es hoch in Ewigkeit! 17 Die Zeile stammt aus Luthers gereimter Übersetzung des Te Deum. Auf diese Weise wurde das Lied zugleich der Reformation angenähert und dem Nationalismus dienstbar gemacht. Eine Stelle, die ursprünglich den Anteil am Erlösungswerk Christi meinte (Zeile 13 des lateinischen Originals), war durch das Ausfallen des christologischen Mittelteils frei geworden und konnte nun die nationalistische Umdeutung begünstigen. Von besonderem Interesse sind die Militärgesangbücher. Ein katholisches von 1906 enthält alle zwölf Strophen, eines von 1937 die Strophen 1-3, eines von 1942 1-3 und 10. 18 Das Evangelische Militärgesangbuch von 1935 enthält wie üblich 1-3 und 10-12. 19 Die radikalste Lösung aber steht im Evangelischen Feldgesangbuch des zweiten Weltkriegs. 20 Es enthält die Strophen 1,3 14 Sang und Klang für die christliche Jugend, Leipzig o. J. (CVJM, ca. 1910) 15 Deutsches Liederbuch, Berlin 7 1915. 16 Gesangbuch der kommenden Kirche. Bremen o. J. (1939) 17 Zum Beispiel Darmstadt 1917, Sachsen 1931, Bayern 1940, Rheinland 1930, Thüringen 31929, Gesangbuch der kommenden Kirche 1938. In den katholischen Quellen vor 1945 nur im Militärbereich belegt (zum Beispiel Katholisches Gesang- und Gebetbuch für die Kriegsmarine, Freiburg o. J. [1942]), jedoch 1947 in die Fassung als Einheitslied eindringend. Die Variante hat außer der nationalen auch eine konfessionelle Note gehabt. Die Vorstellung, man könne durch Buß und Flehn in den Himmel kommen, wurde protestantischerseits wohl als katholische Werkgerechtigkeit gedeutet - als könne man durch eigene Leistungen und nicht nur durch die unverdiente Gnade Gottes gerettet werden. Deshalb drangen die Lutherzeilen wohl gerade an dieser Stelle ein. 18 Katholisches Militär-Gebet- und Gesangbuch, Berlin 1906, dasselbe Berlin 1937; Katholisches Gesang- und Gebetbuch für die Kriegsmarine, Freiburg o. J. [1942]. 19 Evangelisches Militär-Gesang- und Gebetbuch, Berlin 1935. Die Folge 1, 3, 10-12 im (evangelischen) Gesangbuch für die Kriegsmarine, Oldenburg o. J. [ca. 1942]. 20 Evangelisches Feldgesangbuch, Berlin o. J. [ca. 1942]. Das deutsche Te Deum 197 (mit einer antisemitischen Variante 21 ) und 11, sowie anstelle der Volks-Strophe zwei neugedichtete: Alle Lande, Herr, sind dein, dein, o Gott, sind alle Meere. Dir soll drum befohlen sein, unser Leben, unsre Ehre; strecke segnend deine Hand über unser Vaterland. Dort, wo unsre Fahnen wehn, seis zu Lande, seis zu Meere, laß die Treue Schildwach stehn, sei uns selber Waff ’n und Wehre! Losungswort sei allzugleich: „Treu zu Führer, Volk und Reich.“ Nach dem zweiten Weltkrieg wird die Lage endlich bereinigt. Großer Gott wird zum Einheitslied. Das Evangelische Kirchengesangbuch schließt sich landesweit einer mit den Katholiken abgestimmten zwölfstrophigen Fassung an. 1974 kommt es mit dem katholischen Einheitsgesangbuch Gotteslob zu einer erneuten, theologisch begründeten Revision 22 , die eine elfstrophige Fassung zum Ergebnis hat. Das neue Evangelische Gesangbuch (seit 1993) übernimmt sie und verzichtet dabei auch wieder auf die Lutherzeilen in der zehnten Strophe. Die Geschichte des politischen Mißbrauchs einer kirchlichen Hymne hat damit ihr Ende gefunden. 21 Das hebräische Wort Sabaoth (Heerscharen) störte den Bearbeiter, er schrieb deshalb in I,2 Heilig, Herr, allmächt’ger Gott. Solche relativ unauffälligen Retuschen waren damals nicht selten. Im deutsch-christlichen Gesangbuch der kommenden Kirche wird in Luthers Aus tiefer Not zum Beispiel das Wort Israel ausgemerzt. Aus So tu Israel rechter Art wird So tu das Volk von rechter Art (einer schon früher, zum Beispiel Darmstadt 1917 folgenden Variante folgend), aus der Israel erlösen wird wird der sein Volk erlösen wird. So wird das Gottesvolk als deutsches Volk deutbar. 22 Die Strophen 5 und 6 werden im Gotteslob so zusammengezogen, daß die trinitarische Formel des lateinischen Textes (dort Zeilen 11-13) verdeutlicht wird: Dich, Gott Vater auf dem Thron, / loben Große, loben Kleine. / Deinem eingebornen Sohn / singt die heilge Gemeinde, / und sie ehrt den Heilgen Geist, / der uns seinen Trost erweist. Dabei geht freilich das Formelement der Zwölfstrophigkeit zugrunde. Zu den übrigen Varianten dieser Fassung: Redaktionsbericht zum Einheitsgesangbuch „Gotteslob“, Paderborn 1988, S. 646. 19 Die Marseillaise der Reformation: „Ein feste Burg ist unser Gott“ Es war Friedrich Engels, der Luthers Lied Ein feste Burg die Marseillaise der Reformation nannte. 1 Bis heute wird es in den meisten evangelischen Kirchen wenigstens einmal im Jahr, am Reformationstag, gesungen. Der Text ist 2 : Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. Der alt böse Feind mit Ernst er’s jetzt meint; groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd ist nicht seinsgleichen. Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muß er behalten. Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen. Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, 1 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, Frankfurt / Wien 1968, Band I, S. 351. Das Zitat lautet wörtlich „die Marseillaise des 16. Jahrhunderts“, bezieht sich aber eindeutig auf die Reformation. 2 Hier nach dem in Orthographie und Zeichensetzung modernisierten Text im Evangelischen Gesangbuch (seit 1993). Der Urtext in der Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers (Band 35) oder in Gerhard Hahn, Martin Luther. Die deutschen Lieder, Tübingen 1967. Die ersten Drucke tragen Überschriften wie Der 46. Ain trost Psalm oder Der XLVI. Psalm / Deus noster refugium et virtus etc., akzentuieren also den biblischen, nicht irgendeinen Zeitbezug. Die Marseillaise der Reformation 199 tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’: . ein Wörtlein kann ihn fällen. Das Wort sie sollen lassen stahn und kein’ Dank dazu haben; er ist bei uns wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: laß fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben. Das Lied entstand zwischen 1526 und 1529, der älteste Druck datiert von 1529. Luther hat also die Auseinandersetzung mit den Schwärmern und mit dem Bauernkrieg bereits lange hinter sich. Sie sind nicht der Entstehungshintergrund, ebensowenig wie der Wormser Reichstag von 1521 oder gar die Confessio Augustana von 1530. Ein aktueller Anlaß, früher immer wieder behauptet, um das Lied für den Konfessionskampf tauglich zu machen, ist nicht erweisbar. In der Leseordnung des 16. Jahrhunderts war es kein Triumphlied, sondern ein Bußlied. Sein liturgischer Platz war ursprünglich nicht der Reformationstag, sondern der dritte Sonntag der Fastenzeit. 3 Es handelt sich um eine freie Bearbeitung des 46. Psalms. Aus ihm klingen zum Beispiel die Verse 2 und 3 an. Sie lauten in Luthers eigener Übersetzung: GOtt ist vnser Zuuersicht und Stercke / Eine Hülffe in den grossen Nöten / die vns troffen haben. Darumb fürchten wir vns nicht / wenn gleich die Welt vntergienge / Vnd die Berge mitten ins Meer süncken. (Biblia, Wittenberg 1545, Reprint München 1974). Der Psalm ist eschatologisch. Er beschreibt die Geborgenheit der Kinder Gottes, wenn die Welt untergeht. Luthers Text ist sprachlich viel kriegerischer. Aus der Zuversicht wird die feste Burg mit Wehr, Waffen und Rüstung, aus dem Gott des Friedens (Der den Kriegen steuret in aller welt / Der Bogen zubricht / Spies zuschlegt / vnd Wagen mit fewr verbrend, Psalmvers 10) wird ein Gott des Krieges, aus den Heiden (Psalmvers 7) werden Feinde, wird schließlich der Teufel (der Fürst dieser Welt, 3. Strophe). Der sprachliche „Militarismus“ ist jedoch geistlicher, nicht weltlicher Natur. Die Bilder des Krieges sind wahrscheinlich von Paulus inspiriert, der im 6. Kapitel des Epheserbriefs von der „Rüstung Gottes“ spricht, vom „Panzer der Gerechtigkeit“ und vom „Schild des Glaubens“, der die „feurigen Geschosse des Bösen“ auszulöschen vermag, vom „Helm des Heils“ und vom „Schwert des Geistes“: „Zieht die Rüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels widerstehen könnt.“ (Eph 6,11) 3 Robert Leicht, Die verkehrte Titelmelodie. Martin Luthers Choral Ein feste Burg - Symbol für die Verzerrung der Reformation, in: Süddeutsche Zeitung 5./ 6. 3. 1983. Die Marseillaise der Reformation 200 Weitere biblische Quellen des Textes sind Johannes 16,11 (für er ist gericht’), Hiob 41,24 (für Auf Erd ist nicht seinsgleichen) und eine Randglosse Luthers ebendort, die den Leviathan, das mythische Ungeheuer aus dem Buche Hiob, als Fürst dieser Welt, mithin als den Teufel identifiziert. Eine Grundvorstellung des Liedes ist Hiob inmitten der Anfechtung, der Hilfe seines Gottes gewiß, eine andere die Sicherheit, daß der Teufel schon gerichtet ist, wie es am Ende der Zeiten offenbar werden wird. Luther hat das Lied nicht oder nicht in erster Linie kirchenpolitisch aktuell, sondern eschatologisch verstanden. „Die feste Burg, das ist nicht das reformatorische Heerlager, sondern das himmlische Jerusalem.“ (Walter Jens 4 ) Die Kinder Gottes dürfen furchtlos sein, denn die Macht des Teufels ist, vom Ende her gesehen, nichtig. Auf ihre eigene Kraft brauchen sie sich zwar nichts einzubilden (Mit unsrer Macht ist nichts getan, / wir sind gar bald verloren). Ihre Sicherheit ist vielmehr gegründet auf die Erlösungszusage Jesu (Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ), sie ist die schützende Burg. Und wenn die Welt voll Teufel wär - wir fürchten uns nicht. Der Glaube ist stärker als die Angst. Er macht frei. Frei ist, wer an nichts hängt und nichts zu verlieren hat. „Wer sich verläßlich geliebt weiß, kann selbstlos sein. Denn er braucht nicht mehr aus der Angst um sich selbst zu leben“ (Peter Knauer 5 ). Der Glaubende ist von nichts mehr abhängig, mit nichts erpreßbar: Nehmen sie den Leib / Gut, Ehr, Kind und Weib: / Laß fahren dahin, / sie habens kein Gewinn. Auch dann und gerade dann, wenn wir nichts Irdisches mehr sind und haben: das Reich muß uns doch bleiben, in Gott sind wir geborgen, auch nach dem Tode und am Ende der Welt. Erst die Wirkungsgeschichte hat den endzeitlichen Charakter eliminiert und aus dem Zuversichtspsalm des Glaubenden ein selbstbewußtes Bekenntnislied gemacht, eine trotzige Behauptung des Protestantismus gegen seine Feinde. Die kriegerische Sprache des Textes bot Einfallstore für die verschiedensten Aktualisierungen. Mochten Luthers Anhänger die Türken, die Papisten oder die Schwärmer, die verweltlichten Kirchenpolitiker oder die aufrührerischen Bauern, die Genußmenschen der Renaissance, die radikal asketischen Bilderstürmer, die „Rottengeister“ 6 oder den Endkampf Christi 4 Walter Jens in seiner Interpretation in Band VIII (Frankfurt 1984) der von Marcel Reich- Ranicki herausgegebenen Frankfurter Anthologie (zuerst FAZ 29, 10, 1983). 5 Peter Knauer, Unseren Glauben verstehen, Würzburg 1986, S. 19. 6 Eine Art Konkretisierung der Feinde findet sich 1531 in Luthers Auslegung des 46. Psalms: „Wir aber singen jn Gott zu lobe, das er bey uns ist, und sein wort und die Christenheit wunderbarlich erhelt wider die hellischen pforten, widder das wüten aller Teuffel, der Rottengeister, der welt, des fleisches, der sunden, des todes etc.“ Vgl. dazu die beiden wichtigen Interpretationen von Gerhard Hahn (in: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes, München 1981, S. 267-283) und Markus Jenny (Neue Hypothesen zur Entstehung und Bedeutung von Ein feste Burg, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 9, 1964, S. 143-152). Die Marseillaise der Reformation 201 gegen den Teufel ins Visier nehmen: das Geheimnis des Liedes ist es, daß jede dieser Lesarten plausibel wirkt. Es kann jeder seine Feinde einsetzen, jede Zeit an ihre jeweiligen Gegner denken. Die Bekennende Kirche sang es gegen die Nationalsozialisten 7 , die Deutschen Christen aber sangen es gegen Juden und Kommunisten 8 : Das Reich muß uns doch bleiben - das eschatologische Gottesreich oder das Dritte Reich? Die ältere Wirkungsgeschichte bezeugt, daß man schon früh den politischen Mißbrauch fürchtete. Im 17. und 18. Jahrhundert findet sich in vielen Gesangbüchern die unmißverständliche Klärung Das Reich Gott’s muß uns bleiben. 9 Im übrigen bleibt der Text, gemessen am Schicksal anderer Kirchenlieder, ziemlich stabil. 10 Die Autorschaft Luthers und die hervorgehobene Funktion als Erkennungssignal des Protestantismus führten offenbar zu einer Art Kanonisierung, die vor Eingriffen schützte. Einen Tiefpunkt seiner Wirkung erreichte das Lied in den Jahrzehnten um 1800. Die Gesangbücher der Aufklärungszeit drängten es an den Rand 11 , 7 Helmut James Graf von Moltke schreibt am 10. Januar 1945 aus dem Gefängnis Tegel an seine Frau, er hätte in seinem Schlußwort beinahe zu Freisler gesagt: „Ich habe nur eines zu meiner Verteidigung anzuführen: nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben.“ (Bericht aus Deutschland. Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel, Berlin 111971, S. 67). 8 Antisemitisch inspiriert ist die Variante der Herr, unser Gott statt der Herr Zebaoth (im Gesangbuch der kommenden Kirche, Bremen 1939; „wir singen deutsch, auch als Christen nur deutsch“, heißt es in der Vorrede des Landesbischofs Heinz Weidemann), oder der Retter in Not (im Evangelischen Feldgesangbuch des zweiten Weltkriegs, im Chorliederbuch für die Wehrmacht, Leipzig 1940, im Gesangbuch für die Kriegsmarine, Oldenburg ca. 1942). 9 Zu den wichtigsten Belegen zählen die auflagenstarken Gesangbücher PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Übung der Gottseligkeit / In Christlichen und trostreichen Gesängen […] (Frankfurt am Main 1665, 1. Auflage 1644) und Geistliche und liebliche Lieder […] von Johann Porst […] (Berlin 1777, 1. Auflage 1722). (Fundort: Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, wie auch die meisten der im folgenden erwähnten älteren Quellen). Ferner Altmärkisch- und Prignitzisches Gesang-Buch, Salzwedel 3 1802; Auserlesenes und vollständiges Gesangbuch [für Kursachsen], Dresden 1725 (Bibliothek St. Georgen, Frankfurt). 10 Häufig sind metrische Glättungen (Nehmen sie uns den Leib) und kleine syntaktische Verdeutlichungen. Eine fünfte Strophe, endend Der helff vns frölich / Amen, die dem Reich die hervorgehobene Stellung als Schlußakzent nimmt, findet sich relativ häufig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, zum Beispiel in den späteren, um Lutherlieder erweiterten Auflagen des Lobwasser-Psalters (Psalter und Psalmen Davids / Nach Frantzösischer Melodey in Teutsche Reymen artig gebracht […] Durch Ambrosium Lobwasser […] (Frankfurt am Main 1619), im Leipziger Gesangbuch (Sammlung christlicher Gesänge […], Leipzig 1796), im Neuen Braunschweigischen Gesangbuch, Wolfenbüttel 1887; im Mühlhausischen Gesangbuch, Mühlhausen 1739. 11 Im Gesangbuch zur Beförderung der öffentlichen und häuslichen Andacht, Straßburg 1808, wird es in den Anhang verdrängt, der „auf Verlangen mehrerer Mitglieder der Gemeinde“ dem Hauptteil beigefügt wurde und offenbar hauptsächlich beim Volk beliebte, aber den aufklärerischen Theologen nicht genehme Lieder enthält. Die Marseillaise der Reformation 202 strichen es ganz, 12 oder dichteten es um. 13 Der Aufstieg des Liedes zur Marseillaise des Protestantismus ist erst das Ergebnis einer Restauration, die, von den Romantikern vorbereitet, 14 in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in breitem Umfang einsetzt. Dem Altdeutsch-Holprigen der Sprache, das die Aufklärung noch verabscheute, wachsen nunmehr Nostalgiereize zu. Gegen welsche Glätte und Gefälligkeit stilisiert sich das Deutsche als holzschnittartig, aber tief. Als „Kriegslied des Glaubens“ und „Schlachtlied der Streiter der Braut Christi“ 15 bereitet sich Ein feste Burg in der Epoche des deutschen Nationalismus und Imperialismus auf eine militärische Karriere vor. Es findet sich von nun an stets in den Militärgesangbüchern 16 , meistens an prominenter 12 Der sogenannte Mylius, das erste bedeutende, unter Friedrich dem Großen zwangseingeführte Aufklärungsgesangbuch, enthält das Lied nicht (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königl. Preuß. Landen, Berlin 1780, „verlegts August Mylius“). Von den über dreißig Luther-Liedern behält es lediglich fünf, und diese in radikal bearbeiteten Fassungen. 13 Im Gesang- und Liederbuch für die Braunschweigischen Truppen, Braunschweig 1814, findet sich folgende, für den Krieg gegen Frankreich taugliche Fassung: 1. Ein’ feste Burg ist unser Gott, / ein’ gute Wehr und Waffen: / Er hilft uns frei aus aller Noth, / und will uns Ruhe schaffen. / Was trotzt der alte Feind, / der’s bös mit uns gemeint? / sein grausam Macht und List / des Satans Rüstung ist; / auf Erd’n ist nicht sein’s Gleichen! 2. M i t u n s r e r Macht ist nichts gethan, / wir sind gar bald verloren: / es streit’t für uns der rechte Mann, / der uns aus Gnad’ erkoren: / sein ist die ganze Welt: / Er ist unser Held, / Herr Zebaoth, / der große, starke Gott. / der muss das Feld behalten: 3. Und wenn die Welt voll Teufel wär’, / und wollten uns gar verschlingen; / mit Gott zum Kampf, du treues Heer! / dir muss der Sieg gelingen! / Der helfen will und kann / den rufen wir an / von Gottes Muth entbrannt / stehn wir für’s Vaterland, / Sein Arm ist Wehr dem Schwachen. 4. Sie sollen das Land wohl lassen stehn; / Gott hob die gute Sache! / des Feindes Trotz müss untergehn, / viel Blutschuld schrie um Rache; / der Herr hält Weltgericht, / er schont den Sünder nicht! / und ob er pocht und dräut, / der Herr ist’s, der befreit; / sein Recht wird er behalten. 5. Preis, Lob und Ehr’ dem höchsten Gott, / dem Vater aller Gnaden: Er macht’ den Feind zu Schand’ und Spott, / und wird uns fürder rathen: / sein großer, starker Geist / uns Freiheit verheißt! / Ihm Herz und Blut geweiht! / der uns vom Joch befreit, / Der helf ’ uns fröhlich: Amen. 14 Das Lied steht in Des Knaben Wunderhorn (1806) von Achim von Arnim und Clemens Brentano, unter dem Titel Kriegslied des Glaubens in einer stark veränderten Fassung (Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Kritische Ausgabe, Stuttgart 1987, Nr. I,112). 15 Des Knaben Wunderhorn, a. a. O.; Evangelisches Kirchen-Gesangbuch oder Sammlung der vorzüglichsten Kirchen-Lieder theils in alt-kirchlicher Gestalt […] theils in abgekürzter und überarbeiter Form, Halle 1842 (eines der ersten Produkte der nachaufklärerischen Restauration). 16 Eine kleine Auswahl nicht nur geistlicher Quellen aus dem Umkreis der letzten Kriege: Braunschweigisches Militär-Gesangbuch, Braunschweig 1870; Feldgesangbuch für die evangelischen Mannschaften des Heeres, Berlin 1897; Kriegsliederbuch für das deutsche Heer, Berlin 1914; Deutsches Liederbuch, Berlin 71915; Soldaten-Liederbuch, Leipzig o. J.; Evangelisches Militär-Gesang- und Gebetbuch, Berlin 1935; Chorliederbuch für die Wehr Die Marseillaise der Reformation 203 Stelle. Es dringt ins Kommersbuch vor. 17 Auch die Sozialdemokraten wollen auf die Kraft des Liedes im Kampf der Arbeiterbewegung nicht verzichten, sie singen Ein feste Burg ist unser Bund. 18 In der Liturgie nationalsozialistischer Feierveranstaltungen hat es seinen festen Platz. 19 In den ersten Jahren der NS-Bewegung findet es sich sogar in Parteiliederbüchern. 20 Der Erfolg des Liedes im wilhelminischen Reich ließ im deutschen Katholizismus Bedarf an einem entsprechenden Gegenstück erwachsen. Die Funktion des Ein feste Burg übernahm im katholischen Bereich das Kirchweihlied Ein Haus voll Glorie schauet. Wahrscheinlich im Jahre 1873 dichtete Joseph Mohr den folgenden, schon bald darauf weit verbreiteten Text: 21 Ein Haus voll Glorie schauet Weit über alle Land’, Aus ew’gem Stein erbauet macht, Leipzig 1940; Evangelisches Feldgesangbuch, Berlin ca. 1942; Gesangbuch für die Kriegsmarine, Oldenburg ca. 1942; noch Die Fanfare. Volks- und Marschlieder, Hamburg 1968 (11956), nicht mehr im Liederbuch der Bundeswehr (Ausgaben 1963 und 1976). 17 96.-99. Auflage 1910, noch 156. Auflage 1966. Schon vorher steht es in Alte und neue Studentenlieder, Leipzig 1847. 18 Im Sozialdemokratischen Liederbuch (Ausgabe Cassel 1903) steht folgende Kontrafaktur von Jacob Audorf (erste von vier Strophen): Ein’ feste Burg ist unser Bund / Durch eigne Kraft geschaffen; / Er wurzelt fest auf Felsengrund, / Im Sturm ein sichrer Hafen. / Ob auch die Woge braust, / Drob Keinem von uns graust; / Hoch, hoch das Schlachtpanier! / Darunter kämpfen wir / Für unsre Menschenrechte. 19 Zur Eröffnung eines Landeskirchentags verordnete das Landeskirchenamt Hannover am 23. August 1933 einen Festakt, in dem sich Kirche und Staat zueinander bekennen mit folgender Liturgie: Gemeinsamer Gesang des Liedes: Ein feste Burg ist unser Gott, 1. und 2. Strophe, Ansprache des Herrn Landesbischofs, Gemeinsamer Gesang des Liedes: Nun danket alle Gott, 1. und 3. Strophe, Ansprache des Herrn Oberpräsidenten, Gemeinsamer Gesang des Horst-Wessel-Liedes, 1. Strophe Ansprache […] Gemeinsamer Gesang des Deutschland-Liedes, 1. Strophe. (aus: Kirchliches Amtsblatt für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 30. Stück, 25. August 1933, S. 153; den Hinweis auf die Stelle verdanke ich Richard Faber.) - Grundprinzipien der NS-Liturgie kann man einem Buch von Hermann Roth entnehmen: Die Feier. Sinn und Gestaltung, Leipzig 1939. Dort findet sich eine Modell-Ansprache zum 30. Januar (dem Gedenktag der Machtergreifung), die in das Schlußzitat Das Reich muß uns doch bleiben mündet. Daß hier nicht das Gottesreich gemeint ist, geht aus dem Kontext unzweideutig hervor. 20 Zum Beispiel im Hitler-Liederbuch der Nationalsozialistischen Revolution, Sulzbach o. J. [1933]; im Liederbuch der N.S.-Frauenschaft, o. O., o. J. [ca. 1937] - beide Male zusammen mit Großer Gott wir loben dich. 21 Joseph Mohr, Psälterlein. Katholisches Gesang- und Gebetbuch, Regensburg 1891. Näheres zur Geschichte des Liedes und zur Neufassung im Werkbuch zum Gotteslob, Band VII, Freiburg 1978, S. 251-254, ferner Rebecca Schmidt: Gegen den Reiz der Neuheit. Katholische Restauration im 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke-Verlag 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, Band 15), S. 175-184. Die Marseillaise der Reformation 204 Von Gottes Meisterhand. Gott! wir loben dich; Gott! wir preisen dich; O laß im Hause dein Uns all geborgen sein! Gar herrlich ist’s bekränzet Mit starker Türme Wehr, Und oben hoch erglänzet Des Kreuzes Zeichen hehr. Gott! wir etc. Wohl tobet um die Mauern Der Sturm in wilder Wut; Das Haus wird’s überdauern, Auf festem Grund es ruht. Gott! wir etc. Ob auch der Feind ihm dräue, Anstürmt der Hölle Macht: Des Heilands Lieb’ und Treue Auf seinen Zinnen wacht. Gott! wir etc. Dem Sohne steht zur Seite Die reinste der Jungfraun; Um sie drängt sich zum Streite Die Kriegsschar voll Vertraun. Gott! wir etc. Viel tausend schon vergossen Mit heil’ger Lust ihr Blut; Die Reihn stehn fest geschlossen In hohem Glaubensmut. Gott! wir etc. Auf! eilen liebentzündet Auch wir zum heil’gen Streit; Der Herr, der’s Haus gegründet, Uns ew’gen Sieg verleiht. Gott! wir etc. Wie bei Luther überwiegen Bilder aus dem Kriegs- und Festungswesen (Türme, Zinnen, Mauern, die Reihen fest geschlossen, Blut vergießen, heilger Streit, ewger Sieg). Auch hier ist ursprünglich die Kirche im Bilde der eschatologischen Gottesstadt auf dem Berge gemeint, aber keine wirksame Sicherung gegen weltlichen Mißbrauch eingebaut. Auch hier geht es gegen den „Feind“ und die „Hölle“. Auch hier kämpft Jesus mit, katholische Verstärkung bringt darüberhinaus die heilige Jungfrau. Auch hier bleiben die Die Marseillaise der Reformation 205 Feinde unbestimmt. Aus dem Entstehungskontext (Kulturkampf) sind sie wohl zu denken als Protestanten, Liberale und Atheisten. Der Kampf gegen Bismarcks Konfessionspolitik und gegen die Folgen der Aufklärung, gegen Religionskritik, Wissenschaftspositivismus, Darwinismus und Marxismus verursachte damals ein lautes Feldgeschrei des politischen Katholizismus in Deutschland. Aber auch hier ist das mit dem Text so wenig verbunden, daß er zu allen Zeiten gegen jeden beliebigen Feind machtbewußte Zuversicht verleihen kann. Auch hier war, obwohl das Römisch-Konfessionelle sicher überwiegt, eine nationale Lesart einzuzeichnen. Das Haus voll Glorie ist dann Deutschland oder die deutsche Kirche im Kampf um das Reich. Es überrascht nicht, daß das Lied häufig in Militärgesangbüchern zu finden ist. 22 Es scheint ja auch dem Schlachtentod hohen Sinn zu geben, obgleich Joseph Mohr bei den Tausenden, die mit heil’ger Lust ihr Blut vergossen haben (6. Strophe), wohl die christlichen Märtyrer im Sinn hatte und nicht die deutschen Soldaten. Das ganze Vokabular ist dem machtbewußten Staatsverständnis des wilhelminischen Reiches eng verwandt und überträgt es auf die Kirche. Die Bearbeiter des heute gültigen katholischen Einheitsgesangbuchs Gotteslob (seit 1975) hielten das Lied deshalb für nicht mehr tragbar. Eine Umdichtung wurde in Auftrag gegeben. Aus dem Krieg macht sie Frieden, aus der Festung ein Zelt, aus den entschlossenen Kämpfern das wandernde Gottesvolk. Es geht nun unmißverständlich um die heilige Stadt am Ende aller Tage. Die Feinde sind ganz verschwunden, 23 auch die Hölle gibt es nicht mehr. So relativ gelungen die Neudichtung sein mag - zur (beibehaltenen) ersten Strophe und zur marschartigen Melodie paßt der sanfte Text nicht mehr, die Einheit des Liedes ist zerstört. 22 Katholisches Militär- Gebet- und Gesangbuch, Berlin 1937, Katholisches Gesang- und Gebetbuch für die Kriegsmarine, Freiburg o. J. [1942]. 23 Die neuen Strophen lauten: 2. Auf Zion hoch gegründet / steht Gottes heilge Stadt, / daß sie der Welt verkündet, / was Gott gesprochen hat. / Herr, wir rühmen dich, / wir bekennen dich; / denn du hast uns bestellt / zu Zeugen in der Welt. 3. Die Kirche ist erbauet / auf Jesus Christ allein. / Wenn sie auf ihn nur schauet, / wird sie in Frieden sein. / Herr, dich preisen wir, / auf dich bauen wir; / laß fest auf diesem Grund / uns stehn zu aller Stund. 4. Seht Gottes Zelt auf Erden! / Verborgen ist er da; / in menschlichen Gebärden / bleibt er den Menschen nah. / Herr, wir danken dir, / wir vertrauen dir; / in Drangsal mach uns frei / und steh im Kampf uns bei. 5. Sein wandernd Volk will leiten / der Herr in dieser Zeit; / er hält am Ziel der Zeiten / dort ihm sein Haus bereit. / Gott, wir loben dich, / Gott, wir preisen dich. / O laß im Hause dein / uns all geborgen sein. Daß der alte Text trotzdem noch Liebhaber hat, zeigt seine Aufnahme ins Österreichische Kommersbuch, Innsbruck 1984. Die Marseillaise der Reformation 206 Zurück zu Luther. Ein Paradefall des nationalistischen Mißbrauchs ist die Rezeption seines Liedes im ersten Weltkrieg. 24 Ein feste Burg wirkte als zuversichtverleihendes Kampflied. Die kriegerischen Bilder Luthers ließen sich ohne allzu große Textbeugungen auf den Kampf gegen Engländer, Russen und Franzosen beziehen. Am 1. August 1914 sang eine ungeheure Volksmenge das Lied zum Auszug der Truppen, desgleichen bei der Eroberung von Antwerpen. 1915 steht es im Kriegsalmanach des Insel-Verlags. Das Reformationsjubiläum von 1917 aktivierte die Allianz von Protestantismus und deutschem Krieg. Zu Kaisers Geburtstag 1917 gratulierte der Evangelische Kirchenausschuß mit den Wendungen: „Gegen eine Welt von Feinden“ erklinge das Lied Ein feste Burg überall; die Gesinnungen des Liedes verbürgten „treues Festhalten an Kaiser und Reich und die Kraft zu siegreichem Durchhalten“. Texte des Liedes wurden an die Truppen verteilt, lagen zuhauf in den Bahnhöfen, wanderten zu den Gefangenen in die Lager des Feindes. Das Lied wurde zum Inbegriff des deutschnationalen Luthertums. In dessen Verständnis war Martin Luther die trotzige Kraftnatur, die sich gegen Rom auflehnt, als Vorbild des Kampfes der Deutschen gegen die „Welschen“. Realisiert man seine biblisch-eschatologische Bestimmtheit nicht mehr, dann werden viele Wendungen des Liedes zu Leerstellen, in die die verschiedensten Aktualisierungen eindringen können. Das ist an sich nichts Schlechtes. Die meisten klassischen Texte verfügen über solche Leerstellen, die jeder Zeit neue Deutungen gestatten. Diese Art Vieldeutigkeit ist eine Voraussetzung für Klassizität. Als belastend werden die Leerstellen erst empfunden, wenn der Vorgang der Aktualisierung durchschaut wird. „Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist“, so schreibt Hans-Georg Gadamer, „zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation“ 25 . Wer die Wirkungsgeschichte studiert hat, kann den Text nicht mehr unbefangen singen. Die geradlinige Überzeugtheit, mit der Gläubige verschiedenster Couleur an den Leerstellen jeweils ihre eigenen Feinde eingesetzt haben, hat im Rückblick gesehen auch 24 Die folgenden Informationen hauptsächlich aus Hartmann Grisar, Luthers Trutzlied „Ein feste Burg“ in Vergangenheit und Gegenwart, Freiburg 1922, S. 27-42. Zur Ergänzung zwei Fundstücke aus der auflagenstarken und beliebten Liller Kriegszeitung. In der Nummer vom 21. 11. 1916 steht eine gereimte Kampferzählung unter dem Titel Das Reich muß uns doch bleiben. In der Nummer vom 21. 2. 1916 steht der folgende Spruch auf einer Kriegspostkarte: Und wenn die Welt voll Teufel waer’, Samt Englaendern, Franzosen Der Hoelle ganzes wildes Heer Uns stuermisch wollt’ umtosen, Steh’n wir doch fest und treu im Feld, Uns zwingt allein der Tod. Wir Deutsche fuerchten auf der Welt Nichts anderes als Gott. 25 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 285. Die Marseillaise der Reformation 207 etwas Naives. Sie geschieht ja auch meistens mit gutem Gewissen, „unschuldig“. Es handelt sich nur selten um bewußte oder gar böswillige Manipulation, sondern um ein unreflektiertes, spontanes Entdecken neuer Gehalte in den alten Sprachhülsen. Den Texten wird, wenn man das Seine in ihnen gefunden hat, eine erfreuliche Aktualität bescheinigt, während aktuell doch nur die eigene Gestimmtheit ist. Wenn das gute Gewissen zu solch naiver Inanspruchnahme verlorengegangen ist, nähert sich die Wirkungsgeschichte ihrem Ende im Historismus. Ein Text, dessen Wirkungsmechanismen endgültig erkannt sind, ist tot. Heute scheint Ein feste Burg wieder, wie in der Aufklärungszeit, auf einem Tiefpunkt seiner Wirkung angelangt zu sein. 26 Das hat verschiedene Gründe. Die bisherigen Wirkungsmechanismen funktionieren offensichtlich nicht mehr. Es fehlen klar konturierte Feinde; auf Gleichgültigkeit ist Trotz nicht die richtige Antwort. Die ideologiekritische Ausgefuchstheit und aufgeklärte liberale Toleranz von heute führen dazu, daß dem Standpunkt der Feinde oft ein relatives Recht zugebilligt wird. Auch die Freiheit der Kinder Gottes ist in Verruf gekommen. Sie erscheint, ideologiekritisch betrachtet, als Verinnerlichung - wo das materiell Zustehende verweigert wird, soll das Individuum mit innerer Freiheit statt mit Gegenwehr reagieren. Haben die, die Gut, Ehr, Kind und Weib dahinfahren ließen, ein gutes Beispiel gegeben? Die Erfahrung, daß zu viele Märtyrer zwar guten Glaubens, aber im Dienst der falschen Sache starben, wie die begeisterten Jünglinge, die sich, das Deutschlandlied auf den Lippen, 1914 bei Langemarck in den Tod stürzten, beeinträchtigt die Zeugniskraft des Martyriums und die Akzeptanz des Nehmen sie den Leib ganz erheblich. Die Wirkungsgeschichte hat das Lied zerstört. Zu oft waren es irdische Reiche, in deren Interesse das Lied gesungen wurde, nicht das Reich Gottes. Im eschatologischen Geist des Originals ließe es sich freilich noch singen. Aber wo ist der Glaube, der solches Singen tragen könnte? Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird Ein feste Burg zunehmend Gegenstand von Parodien. In Brechts Hitlerchorälen, 1934 erschienen, steht eine parodistische Kontrafaktur, die die deutschnationale Belastung des Liedes kritisch ins Visier nimmt, sofern als Sänger das faschistisch betörte Volk zu denken ist, es aber im übrigen vor allem in seinem Formularcharakter benützt, durch ironische Übernahme der Position des verführten Volkes, das den Marxismus als den alten, bösen Feind bekämpfen zu sollen glaubt und Hitler als den Retter des Kapitalismus vor dem Kommunismus begrüßt. Die erste Strophe lautet: 27 26 Das bezeugen auch die in bezug auf die heutige Verwendbarkeit des Liedes sehr skeptischen Interpretationen in Band VIII der Frankfurter Anthologie (a. a. O., von Walter Jens, Peter Rühmkorf, Kurt Marti und Adolf Muschg). 27 Bertolt Brecht, Werke, Band XI, Berlin / Frankfurt 1988, S. 222. Die Marseillaise der Reformation 208 Ein große Hilf war uns SEIN Maul Ein gute Wehr und Waffen ER nannt den Feind und war nicht faul Ihn uns vom Hals zu schaffen. Der Feind stand im Land Kommune war genannt! Vernunft und viel List Sein grausam Rüstzeug ist Dagegen ist kein leicht Reden. Ein neues Lied von der festen Burg sang Erich Fried nach dem Tod von Ulrike Meinhof: Ein feste Burg ist unser Stammheim, / ein gute Wehr und Waffen. 28 28 Erich Fried, So kam ich unter die Deutschen. Gedichte, Hamburg 1977. Der vollständige Text hat den Wortlaut: Ein neues Lied von der festen Burg Hier soll nicht das alte Kirchenlied verspottet werden. Im Gegenteil; die Gewalt, die seinen Worten angetan wird, soll nur vor der Gewalt warnen, die - wieder und immer noch - Menschen angetan wird. Ein feste Burg ist unser Stammheim, ein gute Wehr und Waffen. Doch auch in der festen Burg zu Mannheim hat der Tod Gefangne betroffen. Herr Bender traut Gott, das Recht nimmt seinen Trott. Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist es geht auch über Leichen. Mit Freiheit hat das nichts zu tun, die ist gar bald verloren. Der rechte Mann streit’ für uns nun, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer ist da? Es ist das BKA, der Herr Horst Herold, der ist so gut wie Gold: das Reich soll er erneuern. Und wenn das Land voll Leichen wär, verhungert und erschossen, das ist kein Fleck auf unsrer Ehr: Das warn ja nur ‚Genossen‘! - Nehmen wir den Leib, Beruf, Ehr, Kind und Weib: Das sind doch unsre Feind’. Mit Ernst ist’s jetzt gemeint: Ihr Urteil wolln wir fällen. Denn wer die Macht hat, hat das Recht und soll den Geist regieren. Und wer das frech beschimpft als schlecht Die Marseillaise der Reformation 209 Die Basis des Texts ist die deutschnationale Lesart. Die feste Burg ist der Polizeistaat. Er hat sich mit dem Leviathan verbündet. Gott und der Teufel, verkörpert in Stammheim und BKA (Fragst Du, wer ist da? / Es ist das BKA), gehen gegen Ulrike vor. Erich Fried versichert zwar in einer Vorbemerkung, er wolle nicht das alte Lied verspotten. Trotz dieser Vorbemerkung ist sein Gedicht, so schlecht es übrigens ist, implizit doch eine Hinrichtung des Luther-Lieds, dessen Sprachhülsen er für geeignet hält, den Polizeistaat darzustellen. Das muß freilich nicht das letzte Wort sein. den können wir ruinieren. Die Meinung der Welt, wie sauer sie sich stellt, sie kümmert uns nicht, wir halten streng Gericht: Stammheim muß uns doch bleiben. 20 Advent und Depression: „O Heiland reiß die Himmel auf“ Deutschland ist ein Jammertal. Landauf, landab wird gejammert. Eine Lähmung liegt auf dem Land, eine tiefsitzende Freudlosigkeit. Die psychiatrische Diagnose lautet: Depression. Altmodischer: Melancholie. Melancholie ist, nach Sigmund Freud, gekennzeichnet durch den Verlust der Liebesfähigkeit, die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstwertgefühls. Sie ist auf Dauer gestellte Trauer, die einen Verlust nicht verwinden kann. Was haben wir Unentbehrliches verloren, daß wir so melancholisch wurden? An den materiellen Verhältnissen kann es im Ernst nicht liegen. Gejammert wird auf hohem Niveau - darüber, daß man nur ein Prozent Wachstum zu erwarten hat, nicht etwa über dreißig Prozent Rückgang. In Brasilien oder Simbabwe sind die Menschen arm, aber fröhlich, das erzählen jedenfalls deutsche Reisende mit erstaunten Augen. Das soll um Gottes willen keine Apologie der Armut sein, nur ein Hinweis auf Selbstverständlichkeiten. Überall fehlt Geld, so der Chor der Jammernden. Das soll nicht bestritten werden, ist aber kein zureichender Grund für Depressionen. Die deutsche Geistesgeschichte kannte früher etliche radikale Antworten auf die Frage, wie mit Verlusten umzugehen sei. Zu den Extremisten zählt in dieser Hinsicht Martin Luther: Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr, Kind und Weib: / laß fahren dahin, / sie haben’s kein Gewinn, / das Reich muß uns doch bleiben. So steht es in der Schlußstrophe von Ein feste Burg ist unser Gott. Alles kann dir genommen werden, so wie Hiob alles genommen wurde außer dem Leben, und du bleibst doch vor Gott absolut wertvoll, ein Bürger seines Reiches. Was sorgt sich der Mensch? „Betrachtet die Vögel des Himmels“, sagt Jesus in der Bergpredigt, „sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Unser Bundesadler ist kein solcher Vogel des Himmels, sondern eine fette Henne, er fliegt nicht, sondern sitzt und mantelt, hält seine Beute fest. Die Bergpredigt empfiehlt stattdessen metaphysische Sorglosigkeit. Frei bist du nicht, wenn du alles hast, sondern wenn man dir nichts mehr nehmen kann. „Um das Gewicht einer jeden Last, die wir abwerfen, muß unsere Kraft doch wachsen! “ (Reinhold Schneider) Diogenes lebte zufrieden in seinem Faß. Dagobert Duck pflegte in einigen frühen Micky-Maus-Heften ein Faß mit Hosenträgern anzuziehen, wenn er pleite war. Es kann nicht schaden, wenn ein reiches Land einmal eine Weile im Faß geht. Depression ist Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Überforderung, Utopieverlust. Advent ist Hoffnung und gläubige Erwartung. Advent ant- Advent und Depression 211 wortet auf Klagestress und ziellose Trauer mit der Hoffnung auf den Erlöser. Komm, tröst uns hier im Jammertal, singen wir passend in der vierten Strophe des Adventslieds O Heiland, reiß die Himmel auf. Singen wir? Wer singt hier eigentlich? Der Dichter oder Herausgeber der frühesten Quelle erläutert, das Lied spreche davon, „wie heftig die heiligen Patriarchen und Propheten nach Christo verlangt“. Andere Drucke des Liedes im 17. Jahrhundert tragen die Überschrift „Seufzen der Altväter in der Vorhöll“. Es handelt sich insofern um ein Rollengedicht, nicht wir seufzen, sondern die Altväter; wir können uns allenfalls in sie hineinversetzen - in die alttestamentlichen Patriarchen und Propheten, die nach uraltem Glauben in der Vorhölle schmachten, einer Art Buß- und Wartesaal, wo sie auf den Messias harren. Singend vereinen wir unsere Stimmen mit denen Abrahams, Isaaks und Jakobs, vor allem aber mit der des Jesaja, von dem die wichtigsten Quellen für das Lied stammen: „O daß du die Himmel zerrissest und herabstiegest“ - „Eherne Pforten werde ich sprengen und eiserne Riegel brechen“ - „Tauet hernieder, ihr Himmel, und die Wolken mögen den Gerechten regnen“ - „Es wird sich die Erde und die Wüste freuen und aufjubeln die Einöde und blühen wie eine Lilie“ - „Und es wird ein Reis hervorgehen aus der Wurzel Jesse“ (Jes 64,1; 45,2 und 8; 35,1; 11,1). 1. O Heiland, reiß die Himmel auf, Herab, herab vom Himmel lauf, Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, Reiß ab, was Schloß und Riegel für. 2. O Gott! ein Tau vom Himmel gieß, Im Tau herab, O Heiland, fließ. Ihr Wolken brecht und regnet aus Den König über Jakobs Haus. 3. O Erd schlag aus! schlag aus, O Erd! Daß Berg und Tal grün alles werd. O Erd herfür dies Blümlein bring, O Heiland aus der Erden spring. 4. Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, Darauf die Welt all Hoffnung stellt, O komm! ach komm! vom höchsten Saal, Komm, tröst uns hie im Jammertal. 5. O klare Sonn, du schöner Stern, Dich wollten wir anschauen gern. O Sonn, geh auf: ohn deinen Schein In Finsternis wir alle sein. 6. Hie leiden wir die größte Not, Vor Augen steht der ewig Tod. Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland. Advent und Depression 212 Die Bilder der ersten Strophe sind rücksichtslos und gewalttätig, so stark ist die Sehnsucht. Der kommende Messias soll nicht pfleglich umgehen mit den Himmeln, er soll sie aufreißen, die Türen aus den Angeln treten, allerschnellstens herabrennen. Das Bild der zweiten ist sanft; der Erwartete wird befruchtend sein wie Regen in der Dürre: Fließ herab im Tau, du König Israels! Die dritte träumt inbrünstig davon, daß die tauerquickte Wüste aufgrüne, der Same aufgehe, die Blume der Erlösung entspringe. Klagend fragt die vierte: Wann endlich geschieht das? Wo bleibst du? Komm doch endlich, komm herab vom Himmelssaal und tröste uns Jammernde! Finsternis herrscht in der fünften, umso strahlender ersteht die Vision der klaren Sonne, des schönen Sterns. Die sechste faßt die ganze Bitternis und die ganze Sehnsucht zusammen: Hie leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod. Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland. Der Erstdruck des Liedes, das dem Jesuiten Friedrich von Spee zugeschrieben wird, findet sich in einem Büchlein mit dem Haupttitel Das Allerschönste Kind in der Welt, das 1622 in Würzburg erschien. O Heiland, reiß die Himmel auf wurde ursprünglich als Katechismuslied geschrieben und diente dazu, Auszubildenden das Geheimnis der Menschwerdung Gottes zu erklären. Den sprachlosen und unbeschreiblichen Binnenraum dieses Geheimnisses umrankt das kunstvoll verrätselte Titelblatt in fünf Sprachen und drei Schriften: Es beginnt mit einem hebräischen Psalmzitat (deutsch „Der Schönste“), dann folgt die italienische („Il più bello“) und die deutsche Übersetzung („Das Allerschönste Kind“). „Margarita in Concha“, die Perle in der Muschel (in den nächsten Zeilen des Titelblatts), ist ein altüberliefertes Sinnbild für das Verhältnis von Gottheit und Menschheit in Jesus. Das griechische „Ho Mysterion“ wird deutsch mit „Wunder über Wunder“ wiedergegeben. Danach wird eine Stelle aus dem Kolosserbrief zitiert, die wieder vom Geheimnis spricht, „welches von Ewigkeit und Alters her verborgen war, jetzt aber seinen Heiligen offenbart worden ist, denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses unter den Heiden sei“. Der Glaube, daß der Messias wirklich schon gekommen sei vor zweitausend Jahren und uns erlöst habe, fällt heute aus den verschiedensten Gründen schwer. Leichter fällt es, sich mit dem Seufzen der Altväter zu identifizieren, die noch nach Erlösung flehen. Die gebräuchliche christliche Lesart wendet das Lied ins Eschatologische und bezieht es auf die Wiederkunft Christi am Jüngsten Tage. Nun liegt es nicht jedem, ganz buchstäblich anzunehmen, daß der Menschensohn, wie es im Lukasevangelium heißt, auf den Wolken des Himmels kommen wird mit großer Macht und Herrlichkeit. Aber die mythischen Botschaften als Metaphern zu lesen ist auch dem Intellektuellen erlaubt. Anderes als bildhaftes, uneigentliches Sprechen von Gott kommt uns ohnehin nicht zu. Man singe das Lied als Metapher für die Sehnsucht nach Befreiung aus der Depression. Das ist erst einmal etwas ganz Profanes, Advent und Depression 213 aber es ist doch ein Zugang. Jürgen Habermas, der sich selbst zu den „religiös Unmusikalischen“ zählt, hat 2001 in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels überraschend davon gesprochen, die säkulare Seite solle „ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ bewahren. Er fuhr fort: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich noch immer der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens - jenes Unrecht an den unschuldig Mißhandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht.“ Es folgt der erstaunliche Satz: „Die verlorene Hoffnung auf Auferstehung hinterläßt eine spürbare Leere.“ Die Auferstehung hatte einmal dem nicht mehr ungeschehen zu machenden Leid eine Perspektive geboten, eine Wiedergutmachung außerhalb der Raumzeit des irdischen Lebens. Daß ohne sie Leere sich breitmacht (und nicht etwa beglückende Vernünftigkeit) zeigt mindestens, daß die Auferstehung nicht einfach ein entbehrliches Phantasma war. Aus der Tatsache, daß erlittener Schmerz nicht unerlitten gemacht werden kann, schließt Habermas zwar nicht auf die positive Wahrheit religiöser Lehren, aber zumindest auf einen Ausdrucksbedarf; er stellt fest, daß es Bereiche gibt, für welche die säkulare Welt keine Ausdrucksformen bereitstellt, weshalb man gut daran tut, die religiösen Ausdrucksformen nicht einfach auf die Müllhalde zu fahren, jedenfalls nicht, solange man keine besseren hat. Das Schöne Kind ist Margarita in Concha, die Perle in der Muschel, Gott in Menschengestalt. Warum nicht auch das metaphorisch lesen, nicht als theologischen Lehrsatz, sondern als Suche nach dieser Perle des Göttlichen in jedem Menschen? Gott als Metapher oder als Kommunikationsfigur zu lesen ist keine Profanation, sondern eine Zugangserleichterung. Religion ist nicht nur Offenbarung, sondern immer auch ein Produkt kultureller Tätigkeit. Denn zur Depression tragen auch der bleierne Materialismus und Reduktionismus bei, der alles Hohe aus dem Niederen erklärt und den Menschen als eine Art bioelektrisches Auto ohne Fahrer definiert. Bei aller Aufgeklärtheit, mit der solche Thesen daherkommen, bewirken sie faktisch eine Selbstentmündigung. Es ist nicht antiaufklärerische Regression, sondern aufgeklärte Kulturarbeit, das fressende Loch der Depression durch religiöse Formung beherrschbar zu machen. O komm! ach komm! vom höchsten Saal, / Komm, tröst uns hie im Jammertal. 21 Geschichte einer Verwilderung: „O komm, o komm, Emanuel“ 1. O komm, o komm, Emanuel! Nach Dir sehnt sich Dein Israel. In Sündenjammer weinen wir und flehn und flehn hinauf zu Dir. Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 2. O komm, Du wahres Licht der Welt, das unsre Finsternis erhellt! Wir irren hier in Trug und Wahn; o führ uns auf des Lichtes Bahn! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 3. O komm, Du holdes Himmelskind, so hehr und groß, so mild gesinnt! Wir seufzen tief in Sündenschuld; o bring uns Deines Vaters Huld! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 4. O komm, Erlöser, Gottes Sohn, und bring uns Gnad von Gottes Thron! Die Seele fühlt hier Hungersnot; o gib uns Dich, lebendig Brot! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 5. O komm, o komm, Gott Sabaoth, Du unser Hort in aller Not! Mit Jesses neuem Herrscherstab treib weit von uns die Feinde ab! Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. 6. O komm, o komm, Emanuel, befrei’ Dein armes Israel! Die Sünde schloß die Himmelstür; Du öffnest sie, wir jubeln Dir. Freu dich, freu dich, o Israel! Bald kommt, bald kommt Emanuel. Geschichte einer Verwilderung 215 Dieses Lied gehörte zu den vielen starken, später nie wieder überbotenen religiösen Erlebnissen meiner Jugendzeit, die ich in den 1950er und frühen 1960er Jahren im bayerischen Schwaben zubrachte. Es drückte, mit seiner wehmütigen Melodie, mit seinen Klagelauten und mit seinen sehnsüchtigen Anrufungen, die Quintessenz meiner Adventsstimmung aus, die sich aus allerlei schwer bestimmbaren Elementen zusammensetzte: einem Gefühl von Bedürftigkeit, Unverstandenheit, Dunkelheit, Einsamkeit, jugendlichem Durst der Seele und allgemeiner Klage über die conditio humana, das sich verband mit einer vagen Hoffnung auf Fülle und Freiheit, Licht und Verstehen, Nahrung und Trost. Es war nicht der Sündenjammer (1,3), was mich plagte, sondern der Jammer des Menschseins überhaupt. Zum Singeerlebnis gehörte die Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche. Man sang das Lied nicht zu Hause, um den Adventskranz versammelt, sondern mit Hunderten anderer Einsamer und Durstiger, als anonymer Bestandteil des armen Israel (6,2). Bei diesem Lied (bei kaum einem sonst) gelang mir die Identifikation mit Israel mühelos. Nach Dir sehnt sich Dein Israel! (1,2): In der Menge der Flehenden geborgen wurde singend unmittelbar evident, daß wir Christen nicht fertig Erlöste sind, sondern immer noch mit Israel auf den Messias warten. Daß hier die Fassung aus dem Augsburger Nachkriegsgesangbuch Laudate, das von 1948 bis 1975 in Gebrauch war, 1 an die Spitze gestellt wurde, hat hauptsächlich die erwähnten biographischen, kaum qualitative Gründe. Zugleich decke ich damit eine Verlegenheit zu: Unter den zahlreichen Fassungen, die man in Gesangbüchern des 20. Jahrhunderts findet, gibt es keine „beste“, hält keine einer kritischen Prüfung auf sprachliche, poetische und sachliche Konsistenz stand. Die Überlieferung des Liedes präsentiert durchgehend Mixturen aus Bruchstücken verschiedener Herkunft und verschiedener Sinnrichtung, verquirlt mit anonymen Zutaten, welche die Ausgangsidee des Liedes in der Regel nicht stärken, sondern verwischen. Versuchen wir, die wichtigsten Entwicklungsadern herauszupräparieren. 1. Als theologische und bildliche Ausgangsidee sind die seit dem frühen Mittelalter überlieferten O-Antiphonen zu betrachten: Sieben alttestamentliche, an Christus, der jedoch nicht genannt wird, gerichtete Rufe, die sich aus der Bildlichkeit der Messiaserwartung speisen: 2 O Weisheit aus dem Mund des Höchsten! O Führer des Hauses Israel! O Wurzelsproß Jesse! O Schlüssel Davids! O Aufgang des ewigen Lichts! O König der Völker! O Emmanuel! 1 Hier in der Ausgabe: Laudate. Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Augsburg, München/ Kempten 1962. 2 Näheres bei Ulrich Gabriel Heil: Gott, send herab uns deinen Sohn, in: Kirchenlied im Kirchenjahr, hrsg. v. Ansgar Franz, Tübingen 2002, S. 87-96, dort der vollständige Text in deutscher Sprache. Der lateinische Originaltext findet sich im Breviarium Romanum. Geschichte einer Verwilderung 216 2. Daraus schuf ein Anonymus im 17. Jahrhundert einen lateinischen Hymnus. 3 Er läßt mit den Strophenanfängen (übersetzt) Komm, Emanuel, Komm, o Wurzelsproß aus Jesse, Komm, o Aufgang, Komm, davidischer Schlüssel und Komm, Adonai den Bezug auf die O-Antiphonen noch gut erkennen. Der Refrain ist jeweils Gaude, gaude, Emmanuel / Nascetur pro te, Israel. (Freu dich, freu dich! Emanuel / wird für dich geboren werden, Israel.) Das Verhältnis von Strophe und Refrain ist das einer Wechselrede. In der Strophe fleht das Volk Israel um Emanuel, im Refrain antwortet Gott Vater: Ja, er wird kommen, freu dich, Israel. 3. Das deutschsprachige Lied ist eine Übertragung dieses lateinischen Hymnus. Es beginnt seine Karriere in einem Münsteraner Gymnasialgesangbuch, das Hermann Ludwig Nadermann im Jahr 1810 herausgegeben und größtenteils auch verfaßt hat. 4 Der Text lautet dort: 1. O komm, o komm, Emanuel, Es sehnt nach dir sich Israel! In Angst und Jammer weinen wir, Und fleh’n, und fleh’n hinauf zu dir. „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock’ und jauchze Israel! “ 2. O komm, du wahres Licht der Welt, Und schein’ in diese Dunkelheit! Wir irren hier in Trug und Wahn, Du bist es nur, der helfen kann. „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock’ und jauchze Israel! “ 3. O komm, du holdes Himmelskind, Des neuen Bundes Opferlamm! Wir seufzen tief in Sündenschuld; Du bringst uns deines Vaters Huld. „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock’ und jauchze Israel! “ 4. Erlöser, Heiland, Gottessohn, Wir hoffen Gnade nur durch dich! Verschlossen ist des Himmels Thor! Du nah’st und öffnest uns das Thor! „Bald kommt er, dein Emmanuel, Frohlock’ und jauchze Israel! “ 3 Die Entstehungs- und frühe Fassungsgeschichte des Liedes wirft allerdings einige Fragen auf, die hier nicht geklärt werden können. Den lateinischen Text findet man auf der Internetseite http: / / www.hymnsandcarolsofchristmas.com. 4 Geistliche Lieder, nebst einigen Gebeten und Litaneyen, zum gottesdienstlichen Gebrauche des Münsterischen Gymnasium. Mit Erlaubniß der Obern. Münster, bey Friderich Theissing. 1810. Eingesehen wurde das Exemplar der Dom- und Diözesanbibliothek Köln, das bei dem Lied handschriftlich den Verfasserhinweis „Nadermann“ enthält. Geschichte einer Verwilderung 217 Von den einst sieben Angerufenen sind wörtlich nur noch Emanuel und Oriens (Aufgang des Lichts) vorhanden. Die Jesse- und die Adonai-Strophen sind restlos verschwunden. Vom Schlüssel Davids bleibt nur noch die Metapher vom Öffnen und Schließen (4,3-4). Generell verschwindet das dezidiert Alttestamentliche der O-Antiphonen zugunsten von neutestamentlichen Christusprädikaten: Erlöser, Heiland, Gottes Sohn, des neuen Bundes Opferlamm und Himmelskind. Dadurch wird die Identifikation mit der Sprecherrolle Israel erheblich geschwächt. Geblieben ist die Licht-Strophe, deren Metaphorik im aufklärerischen Zeitgeist um 1810 beliebt war und, diesem Standard folgend, gegen Trug und Wahn in Stellung gebracht wird - wovon in den lateinischen Quellen keine Rede ist. Erstmals taucht die Sünde auf (3,3). Poetisch kommt Nadermann mit den paarweise gereimten achtsilbigen Zeilen der lateinischen Vorlage nicht gut zurecht. Er verzichtet auf den ersten Paarreim und weicht dadurch die relativ strenge, durch ihre Statik und Symmetrie eindrucksvolle Form auf. Auch die litaneiartige Einheitlichkeit der jeweils ersten Zeile kann er nicht durchhalten. Häufig kommt es, um die erforderliche Silbenzahl zu erreichen, zu Doppelungen (und fleh’n und fleh’n), pleonastischen Füllwörtern (frohlock’ und jauchze) und identischen Reimen (Thor - Thor). Die Gottesantwort Bald kommt er, dein Emanuel ist bis an den Rand der Komik mißglückt. 4. Die nächste Station der Liedgeschichte ist Heinrich Bone, 5 der mit seinem Restaurationsgesangbuch Cantate (Mainz 1847) etliche vergessene Lieder wieder in die Tradition einzuspeisen vermochte. Darunter sind auch mehrere Neuübertragungen lateinischer Hymnen. Bone ist ein Mann mit Bildung, Können und Geschmack. Er folgt nicht den Nadermannschen Spuren, sondern besinnt sich auf die lateinische Vorlage und bringt sie optimal zur Geltung: 1. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! In Angst und Elend liegen wir Und seufzen weinend nur nach dir. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 2. Ach komm, o komm, Emanuel, Befrei dein armes Israel! Mit Jesse’s neuem Herrscherstab Treib weit von uns die Feinde ab. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 5 Näheres über Heinrich Bone findet man in dem Buch von Rebecca Schmidt: Gegen den Reiz der Neuheit. Katholische Restauration im 19. Jahrhundert, Tübingen 2005. Geschichte einer Verwilderung 218 3. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! Geh auf, o Sonn! Mit deiner Pracht Zerstreu den Nebel und die Nacht! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 4. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! Mit Davids Schlüssel niedersteig, Schließ auf, schließ auf das Himmelreich! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. 5. Ach komm, o komm, Emmanuel, Befrei dein armes Israel! Komm, starker Gott, Gott Sabaoth, Mach frei dein Volk von aller Noth! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emanuel. Statik und Symmetrie des lateinischen Liedes werden hier hervorragend umgesetzt. Den die O-Antiphonen abschließenden und zusammenfassenden Emanuel-Ruf verwendet Bone geschickt als rahmenartige, in allen Strophen gleichbleibende Bitte (Befrei dein armes Israel! ), auf die der Refrain tröstend antwortet: Bald kommt, bald kommt Emanuel! Vier der sechs Verszeilen stehen damit fest. Lediglich das Verspaar 3-4 gibt Raum für Variation. Hier fügt Bone immerhin vier der sieben O-Rufe ein: Wurzel Jesse, Aufgang des Lichts, Davids Schlüssel und Führer Israels. Das streng alttestamentliche, noch durch keine christliche Erlösung verwischte Bild bleibt gewahrt. Die Struktur einer litaneiartigen Folge von statischen Klagerufen, auf die echoartig die Trostzusage antwortet, erfüllt das Grundanliegen des Liedes überzeugend. 5. Nadermanns Lied hatte inzwischen eine ganz vorzügliche Melodie gefunden 6 und begonnen, sich im nordrhein-westfälischen Raum zu verbreiten. Andererseits war Bones Text fraglos besser. Einmal Eingesungenes läßt sich jedoch nur schwer vertreiben. Bone wird nirgends komplett übernommen. Stattdessen durchmischen sich die Texte. Bones Formulierungen dringen insbesondere in die Nadermannschen Schwachstellen ein. Schon bald kristallisiert sich eine im Kölner Raum bis zum Kölner Gotteslob stabile Fassung heraus, die wir hier nach dem Kölner Gesangbuch von 1887 wiedergeben. Sie besteht aus drei Schichten: Nadermann (recte wiedergegeben), Bone (kursiv) und anonymen Bearbeiterzutaten (fett): 6 Die Melodiegeschichte von O komm, o komm Emanuel ist ein Thema für sich und kann hier nicht entfaltet werden. Jedenfalls ist die Melodie sehr alt (17. Jahrhundert), anders als in den Quellenangaben der Gesangbücher vermerkt, die meistens Düsseldorf 1838 angeben. Geschichte einer Verwilderung 219 1. O komm, o komm, Emmanuel, Nach dir sehnt sich dein Israel! In Sünd’ und Elend weinen wir Und fleh’n und fleh’n hinauf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 2. O komm, du wahres Licht der Welt, Das unsre Finsternis erhellt, Geh auf, o Sonn, mit deiner Pracht, Zerstreu den Nebel und die Nacht. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 3. O komm, du holdes Himmelskind, Und rett’ uns vor dem Fluch der Sünd’! Wir seufzen tief in schwerer Schuld, O bring uns deines Vaters Huld. Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 4. O komm, Erlöser, Gottes Sohn, Und bring uns Gnad von Gottes Thron! Mit Davids Schlüssel niedersteig, Schließ auf, schließ auf das Himmelreich! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! 5. Komm, starker Gott, Gott Sabaoth, Mach frei dein Volk von aller Not! Mit Jesses neuem Herrscherstab Treib weit von uns die Feinde ab! Freu dich, freu dich, o Israel, Bald kommt, bald kommt Emmanuel! Man sieht, daß der Bone-Anteil von Strophe zu Strophe zunimmt, wobei am Ende zwei Verspaare aus verschiedenen Bone-Strophen zu einer neuen Strophe zusammengefaßt werden. Die Bearbeitereingriffe sind in erster Linie metrisch orientiert. Sie ergänzen die bei Nadermann fehlenden Reime. Einen inhaltlichen Akzent setzen sie allerdings mit dem Begriff Sünde, den sie an zwei Stellen einfügen. Insgesamt entsteht ein Zwittergebilde mit sehr schwammigen Konturen. Strophe 1 entspricht noch der alttestamentlichen Messiaserwartung, mit einer Akzentverschiebung Richtung Sünde. Auf die Strophen 2 und 3 fällt das Licht des christlichen Weihnachtsfests. Die Strophen 4 und 5 versammeln den Restbestand der O-Antiphonen und wirken angehängt. In Strophe 5 ändert sich überdies die Kommunikationssituation: Nicht mehr Christus als Messias wird herbeigefleht, sondern Gott Sabaoth, der Herr der Heerscharen, nicht Geschichte einer Verwilderung 220 mehr der Sohn, sondern der Vater. Damit ist auch die Antwort Gottes im Refrain logisch hinfällig. 6. Als Beispiel für die Lage in den Diözesangesangbüchern der Nachkriegszeit werfen wir einen kurzen Blick auf die eingangs wiedergegebene Augsburger Fassung. Ihre Quellenangabe lautet „Bone Cantate“, aber sie speist sich in Wirklichkeit dominant aus Nadermann. Von Bone stammen lediglich der Refrain und die Verspaare 5,3-4 und 6,1-2. Wieder gibt es zahlreiche Bearbeiterzutaten, so vor allem die Reimergänzungen 3,2 und 4,2, das Wort Sündenjammer (1,2), das Adjektiv hold (3,1), das Verspaar 4,3-4 (Hungersnot - lebendig Brot) und das Schlußverspaar 6,3-4: Die Sünde schloß die Himmelstür; Du öffnest sie, wir jubeln Dir. Der Jubel verdrängt hier vorzeitig die Klage, der Messias wird nicht mehr erwartet, sondern ist schon da und öffnet gerade die Tür des Himmels. Das Wort Sünde kommt gleich drei Mal vor und bildet mithin einen starken Akzent. Im Gesamtbild sieht man ein Volk in Sündenjammer weinend, in Trug und Wahn irrend, in Sündenschuld seufzend und seelisch hungernd, das nach einem Erlöser ruft. Trotz aller Mischungen und Inkonsequenzen bleibt ein Grundimpuls des Liedes erhalten, der sich am Schluß in dem wirkungsstarken Boneschen Verspaar verdichtet: O komm, o komm, Emanuel, befrei dein armes Israel! Das Lied ist schwer beschädigt, aber nicht zerstört. 7. Zum Abschluß noch ein Blick auf die Lage im Gotteslob. Sie ist komplex, um nicht zu sagen: chaotisch. Das Lied konnte in den Stammteil nicht vordringen, befindet sich aber in 15 von 29 Diözesananhängen in immer neuen Mischungen und Fassungen, versehen mit fast stets unzutreffenden Quellenangaben. Die dafür verantwortlichen Prozesse als Reichtum katholischer Tradition zu bezeichnen wäre euphemistisch. Es handelt sich eher um Verwilderung und Verwahrlosung, um die Verfallsgeschichte eines religiösen Idioms, dessen ausgewaschenen Vokabeln mittlerweile jede Trennschärfe abgeht. Wenn ich für ein kommendes neues Gesangbuch eine Fassung vorschlagen müßte, würde ich die Neuübersetzung von Hansjakob Becker empfehlen, die von Bone ausgehend auf eine Eingangsstrophe alle sieben O-Antiphonen in einer theologisch und poetisch gelungenen Form folgen läßt. Sie ist dialogisch: In den ersten vier Zeilen jeder Strophe spricht Israel, im Refrain spricht Emanuel. Der Dialog greift Offb 22, 17 und 20 auf: „Wer hört, der rufe: Komm! “ - „Der dies bezeugt, spricht: ‚Ja, ich komme bald! ‘“ 1. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! In Angst und Elend liegen wir Und flehn voll Sehnsucht auf zu dir. Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 2. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Geschichte einer Verwilderung 221 Komm, Weisheit aus des Schöpfers Mund, Tu deiner Weisheit Weg uns kund! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 3. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Komm, ‚Ich-bin-da‘, im Flammenlicht Erscheine, rette, säume nicht! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 4. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Komm, Wurzel Jesse, gottgesandt, als Hoffnungszeichen allem Land! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 5. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Komm, Schlüssel Davids, tritt hervor, schließ auf der Sünde schweres Tor! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 6. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Komm, Sonne, Glanz der Ewigkeit, bring Licht in unsre Dunkelheit! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 7. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Komm, Friedenskönig, Schlußstein du, führ, was getrennt, der Einheit zu! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 8. O komm, o komm, Emmanuel, mach frei dein armes Israel! Komm, ‚Gott-mit-uns‘, enttäusch uns nicht, Ersehnter, zeig dein Angesicht! Freu dich, freu dich, o Israel, bald komm ich, dein Emmanuel! 22 Vom Kuß des Kindes: „Es kommt ein Schiff“ Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein’ höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort. 2. Das Schiff geht still im Triebe, es trägt ein teure Last; das Segel ist die Liebe, der Heilig Geist der Mast. 3. Der Anker haft’ auf Erden, da ist das Schiff am Land. Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt. 4. Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein, gibt sich für uns verloren; gelobet muß es sein. 5. Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muß vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel, 6. danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn, das ewig Leben erben, wie an ihm ist geschehn. Dieses Gedicht ist wie eine hölzerne Gliederpuppe, die immer wieder repariert, ergänzt und übermalt wurde, mit wechselndem Geschick. Es stammt aus dem frühen fünfzehnten Jahrhundert und liegt vor uns in einer Fassung des siebzehnten. Wir betrachten es erst so, wie es heute dasteht und wirkt, und tragen dann Schicht für Schicht ab, um zu seinem ursprünglichen Kern zu gelangen. Was sich bis heute leicht mitteilt, ist der stille Tonfall der schlichten, vierzeilig kreuzgereimten Strophen, der so gut mit dem Bild des hoch beladenen Schiffes harmoniert, das, von einem sanften Wind getrieben, fast lautlos näherkommt und in der dritten Strophe vor Anker geht. Es ankert auch in der Seele, und wer bis dahin mitgeht, hat schon etwas Wohltuendes erfahren. Vom Kuß des Kindes 223 Das Bild ist verführerisch, aber es trägt nur das halbe, nicht das ganze Gedicht. Die Strophen 4 bis 6 setzen völlig neu ein. Verklammert mit 1 bis 3 sind sie nicht metaphorisch, sondern spirituell, durch die Theologie, die das tragende Gerüst stellt, ohne das die Bauteile auseinanderfallen würden. Es handelt sich um einen allegorischen, einen sinn-bildlichen Text. Die Bilder haben keinen Eigenwert. Sie sind nur um der Deutung willen da. Das ist dem heutigen poetischen Empfinden fremd, das gerne beim einlaufenden Schiff verweilen möchte. Wer aber bereit ist, die Bildebene zu verlassen, wird eingeladen in die Theologie. Schon die ersten drei Strophen wollen den Leser dort haben, weil ihre zweiten Hälften jeweils schon wegstreben vom Bild zur Bedeutung - von der Schiffsladung zu Gottes Wort, vom Segel zur Liebe, vom Mast zum Geist, vom Anker schließlich zur Fleischwerdung des Wortes. Die letztere Wendung meint nicht nur die Geburt des historischen Jesus, sondern etwas Jederzeitiges. Gottes Liebe will in uns allen inkarniert, das heißt wörtlich „eingefleischt“ werden. Sie will geboren werden und in uns wirklich werden, und zwar so, daß sie nicht nur ein bloßer Gedanke ist, sondern daß sie verschmilzt mit dem Körper, den Sinnen und den Trieben des leidgeplagten Menschenwesens, das sich aus der Tierheit nur mühsam emanzipiert. Mit der Ankunft des Gottessohns kommt es zu sich selbst, empfängt es jedenfalls eine hohe Idee seiner selbst. Die Strophe 4 formuliert das, im Niveau merklich abfallend, ins gebräuchliche Weihnachtsdeutsch um. Irgendein imaginärer Puppenrestaurator hat sie einst hinzugefügt, um die rätselhafte Last des Schiffes näher zu erläutern. Die Strophen 5 und 6 wechseln erneut den Ton und wenden sich mit einer heute befremdlichen Logik an ihre Hörer: Wer das Kind küssen will, lehren sie, muß erst mit ihm leiden. Die Argumentation gehört zu einer Ergänzung, die der protestantische Pfarrer, Dichter und Mystiker Daniel Sudermann 1626 vornahm, als er das Gedicht, das er „unter des Herren Tauleri Schriften“ gefunden haben will, nach seinem Geschmack zurechtbrachte. Kratzen wir auch die Sudermannschen Farbschichten ab, dann nähern wir uns dem (nicht erhaltenen) spätmittelalterlichen Ursprungstext, der wohl nicht von Johannes Tauler stammt, sondern erst in die Zeit von etwa 1400 bis 1450 datiert. Sein stabiler Kern ist das Bild vom Schiff. Wenn das Jesuskind in den ältesten Quellen überhaupt genannt wird, dann mit einer ganz anderen, viel angenehmeren Folge als bei Sudermann. Wer das Kind auf seinen lieblichen Mund küßt, der wird gesund, heißt es in einem Druck um 1600. Er wird ein großes Gelüst empfangen, lautet die lockende Schlußpointe in der frühesten erhaltenen Quelle (um 1450). Von Pein und Marter ist vor Sudermann nirgends die Rede. Als innerster Kern kommt ein Marienlied zutage. Das Schiff, das die kostbare Fracht trägt, ist Maria. Sie ist zugleich die Königin, die es schickt, und außerdem, so eine Handschrift um 1470, eine wundersame Blume: eine Vom Kuß des Kindes 224 edle Rose, ein Zweig aller Seligkeiten und eine schöne Zeitenlose. Sie bringt des Vaters ewiges Wort, vom Wind der Liebe getrieben, ohne Bedingung; ohne Leidensforderung ist ihr Weihnachtsangebot der Kuß auf den Mund des Kindes. Das ist, mag es der Theologie auch zweideutig erscheinen, immerhin ein liebliches Geschenk der Poesie. 23 Preußische Sentimentalität und Sehnsucht nach Erlösung: „Zu Bethlehem geboren“ Herzopfer 1. Zu Bethlehem geboren Ist uns ein Kindelein. Das hab ich auserkoren, Sein eigen will ich sein. Eia, eia, Sein eigen will ich sein. 2. In seine Lieb versenken Will ich mich ganz hinab; Mein Herz will ich ihm schenken Und alles, was ich hab. Eia, eia, Und alles, was ich hab. 3. O Kindelein, von Herzen Dich will ich lieben sehr: In Freuden und in Schmerzen Je länger mehr und mehr. Eia, eia, Je länger mehr und mehr. 4. Dazu dein Gnad mir gebe, Bitt ich aus Herzensgrund, Daß ich allein dir lebe Jetzt und zu aller Stund. Eia, eia, Jetzt und zu aller Stund. 5. Dich, wahren Gott, ich finde In meinem Fleisch und Blut, Darum ich fest mich binde An dich, mein höchstes Gut. Eia, eia, An dich, mein höchstes Gut. 6. Laß mich von dir nicht scheiden, Knüpf zu, knüpf zu das Band: Die Liebe zwischen beiden Nimmt hin mein Herz zum Pfand. Eia, eia, Nimmt hin mein Herz zum Pfand. Preußische Sentimentalität und Sehnsucht nach Erlösung 226 Nie habe ich meinen Vater singen hören außer an Weihnachten, und auch da nur ein einziges Lied: Zu Bethlehem geboren. Er sang es leise und rauh, aber richtig und ausdrucksvoll, mit einem Hauch von Wehmut, und unbeschreiblich rührend war es für mich, wenn der sonst ernste und schweigsame, jeglichem Pathos abholde Mann, der sich nach jeder Strophe verlegen räusperte, am Beginn der zweiten tief einsetzte mit In deine Lieb versenken will ich mich ganz hinab, wie er dann die Stimme ansteigen ließ zum Mein Herz will ich dir schenken und Dein eigen will ich sein, und wie der sonst Preußisch- Strenge, auf Leistung und Pflicht Gestellte in das wiegende Eia, eia eine behutsame und gar nicht unbeholfene Zärtlichkeit zu legen wußte. Wer es wörtlich nähme, das Lied, er wäre verloren. Wer dies Kindlein anschaut mit Augen, wird nichts anderes mehr uneingeschränkt wichtig nehmen können. Der Singende verspricht oder verlobt sich dem Kinde ja ganz und gar, will ihm alles schenken, was er hat, ihm sein Herz hinopfern. Sterben würde er für das Kind! Er hat es auserwählt, sich ihm anvertraut, bedingungslos, und was auch immer es von ihm verlangen wird, er wird es tun. Des Kindes Name wird nicht genannt, obgleich ihn jeder weiß - aber der Radius des Liedes wäre enger, wenn das Wort „Jesus“ darin vorkäme. Jede Kindlichkeit ist eine Art Göttlichkeit, nicht nur die des Jesuskindes. Immer enthält Kindlichkeit ein Erlösungsversprechen. Mag geschehen, was will, Liebes oder Leides, dieser aus der Welt Gefallene schaut entrückt und entzückt auf das Kind. Der Aufklärer nennt das religiösen Wahn und tut pflichtbewußt seine Arbeit an der Verbesserung der Welt. Er ist wie Martha, die ein ordentliches Haus führt, und nicht wie Maria, die verschwenderisch Jesu Füße salbt mit kostbarer Narde und danach mit ihrem Haar trocknet (im 12. Kapitel des Johannesevangeliums). Martha ist vernünftig, Maria aber liebt. Die Liebenden wissen, daß eine noch so sehr verbesserte Welt das tiefste Begehren niemals befriedigen kann. Der früheste bekannte Druck des Liedes findet sich im Geistlichen Psalter, dem Kölner Jesuitengesangbuch von 1638. Als Autor gilt der 1635 in Trier verstorbene Friedrich von Spee. Wirklich gesichert ist das freilich nicht, die katholische Liedproduktion war damals, anders als die evangelische, wesentlich anonym, man gab das vom Geist Geschenkte an die Gemeinschaft der Glaubenden weiter, ohne Autoreneitelkeit und ohne Copyrightansprüche geltend zu machen. Auch der Text steht nicht gänzlich fest. Die Strophen vier bis sechs, die das Verlöbnis in ein Gebet münden lassen, fallen poetisch ab gegenüber den drei ersten. Es wäre denkbar, daß sie nachträglich ergänzt wurden, vielleicht um die unbedingte Liebe zu jenem Kindlein (und alles, was ich hab! ) inkarnationstheologisch einzufangen (Strophe 5), sie als korrekte Lehre von der weihnachtlichen Menschwerdung Jesu zu erläutern und so zu domestizieren. Auch in der weiteren Fassungsgeschichte sind die Zusatzstrophen weniger fest, werden nicht auswendig beherrscht, ganz oder teilweise weggelassen und Preußische Sentimentalität und Sehnsucht nach Erlösung 227 oft verändert. Nach relativ breiter Präsenz in katholischen Gesangbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts wird Zu Bethlehem geboren von aufgeklärten Liedreformern im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts fast überall ausgemustert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das Lied im Zuge einer romantisch inspirierten Restauration allmählich wieder in die Tradition eingespeist, mit so nachhaltigem Erfolg, daß es in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auch die Konfessionsgrenze überwindet und heute in evangelischen wie in katholischen Gesangbüchern gleichermaßen präsent ist. Unser Alltagsleben ist der aufgeklärten Rationalität verpflichtet, die das Lied verstoßen wollte. Daß das nicht gelang, zeigt, daß es ein tiefwurzelndes Bedürfnis gibt, die horizontale Flächigkeit des vernünftigen Lebens durch eine „unvernünftige“ Vertikale zu transzendieren. Unstillbar ist in einer Welt voller Gewöhnlichkeit die Sehnsucht nach dem Absoluten. Der Aufklärer schämt sich der Rührseligkeit, aber vielleicht ist die Sentimentalität sein Bestes, vielleicht verrät sie seine geheime Ahnung, daß der Mensch von viel höheren Gipfeln als denen der Wissenschaft um sich schauen könnte, wenn er erlöst wäre. 24 Erich Kästner: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“ (Nach der Melodie: „Morgen, Kinder, wird’s was geben! “) Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! Nur wer hat, kriegt noch geschenkt. Mutter schenkte euch das Leben. Das genügt, wenn man’s bedenkt Einmal kommt auch eure Zeit. Morgen ist’s noch nicht so weit. Doch ihr dürft nicht traurig werden. Reiche haben Armut gern. Gänsebraten macht Beschwerden. Puppen sind nicht mehr modern. Morgen kommt der Weihnachtsmann. Allerdings nur nebenan. Lauft ein bißchen durch die Straßen! Dort gibt’s Weihnachtsfest genug. Christentum, vom Turm geblasen, macht die kleinsten Kinder klug. Kopf gut schütteln vor Gebrauch! Ohne Christbaum geht es auch. Tannengrün mit Osrambirnen - lernt drauf pfeifen! Werdet stolz! Reißt die Bretter von den Stirnen, denn im Ofen fehlt’s an Holz! Stille Nacht und heil’ge Nacht - weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht! Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld! Morgen, Kinder, lernt fürs Leben! Gott ist nicht allein dran schuld. Gottes Güte reicht so weit … Ach, du liebe Weihnachtszeit! Erich Kästner kannte die Armut und er kannte die Reichen. Als Kind der Dresdner Neustadt lebte er zwischen Proletariat und Millionariat, pendelte zwischen der armseligen elterlichen Dachwohnung in der Königsbrücker Straße und der prächtigen Villa seines schwerreichen Onkels Franz Augustin am vornehmen Albrechtsplatz, wo die Kinder durch den Dienstboteneingang Erich Kästner 229 bis in die Küche durften, aber weiter nicht. Diese Erfahrung prägte ihn ein Leben lang. Er verarbeitete sie mal idyllisch - dann entstanden Bücher wie Pünktchen und Anton oder Drei Männer im Schnee, wo die Reichen die Armen umarmen -, mal satirisch - dann entstanden Gedichte wie dieses chemisch gereinigte Weihnachtslied. Es erschien zuerst 1927 in der Weihnachtsnummer des Neuen Tage-Buchs und ist typisch für den frühen Kästner: flott und frech, spöttisch bis höhnisch, nicht süß, sondern gesalzen, salopp und redensartlich, das traditionelle Wörterbuch der Lyrik erweiternd um unromantische Vokabeln wie „Osrambirnen“ und umgangssprachliche Wendungen wie „drauf pfeifen“. Kästner will die Sentimentalitäten brechen, die mit Weihnachten verbunden sind, die Lügen abräumen und Illusionslosigkeit an ihre Stelle setzen. Zynisch zerfetzt er deshalb die Lieder und Sentenzen der Weihnachtszeit (Morgen, Kinder, wird’s was geben, Morgen kommt der Weihnachtsmann, Stille Nacht, heilige Nacht, Gottes Güte reicht so weit). Er verachtet das auf Weihnachtsmärkten vom Turm geblasene Christentum. Erich Kästner verstand sich als Aufklärer. Seinem Werk fehlt jeder religiöse Bezug von Rang. Sein Anliegen ist nicht die Erneuerung des Christentums. Es geht in seinem Weihnachtslied nicht um die Menschwerdung Gottes. Es geht lediglich um ein verlogenes Fest, bei dem die Reichen Gänsebraten haben und die Armen leer ausgehen. Kästner, damals 28, wäre gern ein Revolutionär gewesen, aber zwei Seelen, ach, wohnten in seiner Brust, er war halt auch ein Musterschüler, der es mit der Gesellschaft am Ende doch nicht verderben wollte, und brachte es deshalb nur, wie Walter Benjamin treffend pointierte, zur linken Melancholie. Der drohende Unterton des Gedichts wirkt seltsam gebremst, er findet nicht zu einer befreienden Handlung und sucht sein Ziel nicht in einer sozialen Rebellion, sondern verbleibt im unpolitischen Raum bloßer Veränderungen der moralischen Haltung. Seine Appelle lauten: Werdet klug! Werdet stolz! Lernt fürs Leben! Lacht! Und: Beklagt euch nicht bei Gott, denn der wird euch nicht helfen. Die Anspielung auf Psalm 36,6 („Deine Güte reicht so weit der Himmel ist“) will Gott nicht loben, sondern zu verstehen geben, daß die Weite Seiner Güte leider so groß bemessen ist, daß sie ihren Mantel verstehend über alles deckt, auch über die Ungerechtigkeit. Die Satire ist der schwarze Spiegel der Utopie, denn sie erstrebt das Gegenteil dessen, was sie beschreibt. Die Utopie dieses Gedichts ist nicht der soziale Umsturz. Dem Werdet stolz! zum Trotz lebt in ihm die sehnsüchtige Begehrlichkeit, morgen werde es auch für die armen Kinder was geben, eine Puppe, einen Lichterbaum und einen Gänsebraten. Es zehrt von der unvernünftigen und doch nie aussterbenden, weil gelegentlich und ausnahmsweise und vereinzelt auch in Erfüllung gehenden Hoffnung, daß dieses Jahr einmal die Reichen nicht nur sich gegenseitig, sondern auch die Armen beschenken werden. 25 Remetaphorisierung der Eschatologie: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ Ein Geistlich Brautlied von der Stimm zu Mitternacht / und von den klugen Jungfrauen / die ihrem himmlischen Bräutigam begegnen / Matth. 25 Wachet auf / ruft uns die Stimme/ Der Wächter sehr hoch auf der Zinne/ Wach auf du Stadt Jerusalem. Mitternacht heißt diese Stunde/ Sie rufen uns mit hellem Munde/ Wo seid ihr klugen Jungfrauen? Wohlauf / der Bräutgam kommt/ Steht auf / die Lampen nehmt/ Halleluja. Macht euch bereit / zu der Hochzeit/ Ihr müsset ihm entgegen gehen. Zion hört die Wächter singen/ Das Herz tut ihr vor Freuden springen/ Sie wachet und steht eilend auf. Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig/ Von Gnaden stark / von Wahrheit mächtig: Ihr Licht wird hell / ihr Stern geht auf. Nun komm du werte Kron Herr Jesu Gottes Sohn/ Hosianna. Wir folgen all zum Freudensaal Und halten mit das Abendmahl. Gloria sei dir gesungen/ Mit Menschen und Englischen Zungen/ Mit Harfen und mit Zimbeln schön. Von zwölf Perlen sind die Pforten An deiner Stadt / wir sind Consorten Der Engel hoch um deinen Thron/ Kein Aug hat je gespürt/ Kein Ohr hat mehr gehört/ Solche Freude. Des sind wir froh / io / io Ewig in dulci jubilo. Remetaphorisierung der Eschatologie 231 Trompetenstöße, strahlend, nachtverscheuchend, unwiderstehlich ermunternd, froh und lockend: ein Lied wie frische Farben und reine Luft, alles Trübe und Zweideutige weicht, und durch mein ganzes Wesen / ward’s unaussprechlich klar. So klar wie im Wald, den Eichendorff besingt (O Täler weit, o Höhen), der Zuflucht bietet vor der geschäftigen Welt. Was für Philipp Nicolai Glaubenswirklichkeit war, ist heute entrückte Romantik. Das Lied löst Sehnsucht aus nach einer traumverhangenen Welt, in der es Städte gibt wie in Tausendundeiner Nacht, mit perlengeschmückten Toren, hohen Zinnen und Wächtern, die mit hellem Munde rufen. Was rufen sie? Wach auf, du Stadt Jerusalem! Erste Fremdheit kommt auf, jedenfalls, wenn einer genau hinhört. Wo seid ihr klugen Jungfrauen? Verlegenheit mischt sich ein, eine ferne Erinnerung meldet sich: ja, das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen. Der Bräutgam kommt. Verdrießlichkeit will sich dazugesellen, denn Frommes wird augenscheinlich gefordert; von Jesus, der die Zionsstadt ehelicht, will das aufgeklärte Gemüt nichts wissen. Aber das Lied ist doch so schön! Nähern wir uns ihm von dieser, von der ästhetischen Seite. Die erste Strophe versetzt uns unversehens auf einen fernen Schauplatz. Eine Hochzeit steht bevor, ein Weckruf ergeht um Mitternacht, auffordernd, ungeduldig: Die Lampen nehmt! Auf, ihm entgegen! Die zweite Strophe wechselt die Blickrichtung. Ein Beobachter erzählt, daß der Ruf eilends befolgt wurde und der lange Erwartete gekommen ist. Unvermittelt reißt die Wahrnehmungsoberfläche auf, wird mehrdimensional. Die Jungfrauen treten auf einmal kollektiv als „Zion“ auf. Aus Brautjungfern werden sie zur Braut selbst. Zion ist die Gottesstadt auf dem Berge, die sich dem Herrn vermählt, in kühner Kombination des Jungfrauengleichnisses (Matthäus 25) mit einer prophetischen (Jesaia 62) und einer apokalyptischen Vision (Offenbarung 21). Wir erleben alles aus nächster Nähe mit, denn im Abgesang kehrt die Strophe ins szenische Präsens des Liedanfangs zurück: Wir folgen all zum Freudensaal und halten mit das Abendmahl. Erst jetzt wird der Bräutigam identifiziert: Herr Jesus. Er kommt nicht in der Knechtsgestalt, nicht gering wie einer von uns, sondern als Gottes Sohn und gekrönter Herrscher, stark von Gnade, mächtig von Wahrheit. Er geht auf wie ein Stern. Sogar die Lampen brennen jetzt heller. Wir alle, die zum Mahl geladen sind, jubeln in der dritten Strophe, denn wir sind Consorten, Glücksgenossen, der Engel. Ausgelassenes Entzücken greift um sich, bringt nur noch abgerissene Juchzer zustande: Io, io! Was kein Auge je sah und kein Ohr hörte, entzieht sich auch der Sprache, die sich ins Lateinische flüchtet, ins Zitat des Mystikerliedes „In dulci jubilo“, um das Unsagbare anzudeuten. (Heute ist der Schluß abgeschwächt zu Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für. Auch die Consorten mußten einer leichter verständlichen Wendung weichen.) Vom alltäglichen Lampenöl bis zu einem Glück, das sprachlos macht, reicht der Raum dieses Liedes. Es öffnet, es macht frei, es weitet den Blick Remetaphorisierung der Eschatologie 232 bis ins Unendliche. Das unbedingt Strahlende, das ihm eigen ist in Text und Melodie, zieht nach oben, läßt alle Erdenschwere zurück. Wer es hört oder singt, fühlt sich wie im Himmel. Ein Himmel ist unverzichtbar. Wo es keinen Himmel gibt, herrscht die bare Zahlung allein. Das Lied träumt uralte Menschheitsträume: von der Stadt Gottes, in der alle zum Liebesmahl geladen sind, von sozialer Harmonie und Paradiesesglück, von unaussprechlicher Lust und hochzeitlicher Erfüllung. Die gegenwärtige Theologie neigt dazu, die Bilder der Eschatologie so lange zu destillieren, bis nur noch klares Wasser in den Kolben rinnt. Übrig bleibt ein aufgeklärtes Nichts. Vermeintlich aus dem Schlaf der Vernunft erwacht, reibt sich die Menschheit verdutzt die Augen, denn nicht in der Höhe, sondern in der Tiefe findet sie sich wieder, als törichte Jungfrau, die zum Mahl nicht zugelassen ist. Mit dem Bann des Mythos ging auch seine orientierende Kraft verloren. Die Erfahrungen der Geschichte warnen allerdings davor, Mythen wiederherstellen zu wollen. Der verordnete Mythos hat noch allemal unfrei gemacht. Anders ist es mit der Kunst. Der Poet hat es leichter als der Wissenschaftler. Im Spiel der Kunst ist eine Remetaphorisierung der Eschatologie möglich und zulässig. Die beziehungsreichen Bilder des Himmels und der Hölle, des Gerichts und der Ewigkeit können stellvertretend stehen für hohe Ziele, für tiefe Schrecken, für Verantwortlichkeit des Lebens und für die unabweisbare innere Empörung gegen die Vorstellung, mit dem Tod sei alles aus. Der Glaube an die Ewigkeit ist das Lampenöl, das alles Streben speist, das mehr will als das eigene Wohl. Philipp Nicolai wußte noch, was das ewige Leben sei. Das half ihm in verzweifelter Zeit. In Unna, wo er Pfarrer war, herrschte 1597 die Pest. Zeitweise gab es täglich zwanzig bis dreißig Beerdigungen. Aber Nicolai ließ sich nicht vom Grauen überwältigen, sondern schrieb sein Trostbuch Freudenspiegel des ewigen Lebens, erschienen 1599 in Frankfurt. Der Untertitel verspricht eine Gründtliche Beschreibung deß herrlichen Wesens im ewigen Leben / sampt allen desselbigen Eygenschafften und Zuständen. Im Anhang stehen vier Lieder, an erster Stelle Wie schön leuchtet der Morgenstern, an zweiter Wachet auf, ruft uns die Stimme. Nicolai wäre mit einer nur ästhetischen Auslegung seines Liedes gewiß nicht einverstanden gewesen. Der Himmel ist nicht, so schreibt er ausdrücklich, „ein irdisch Paradeiß / noch ein campus Elysius, oder weltlich FrewdenFeld / vnnd FreuwdenLand / davon die Poeten fabulieren / sondern ein FreuwdenOrt / dergleichen kein Auge gesehen / kein Ohr gehöret / vnnd kein menschlich Hertz erfahren hat“. Wir haben uns zu bescheiden. Ein ästhetischer Zugang zur Religion ist nicht die Religion selbst. Aber er ist besser als die nihilistische Wüste, die sich als Ergebnis der Massenaufklärung ausbreitet. Das Lied hat im Evangelischen Gesangbuch seinen liturgischen Platz am Toten- oder Ewigkeitssonntag, dem letzten im Kirchenjahr. Legt man die Remetaphorisierung der Eschatologie 233 Rollen danach fest, dann gilt der Weckruf des Wächters den Verstorbenen. Das Thema des Liedes ist dann die Auferstehung der Toten, die nun, so Nicolai im „Freudenspiegel“, aus dem Reich des Glaubens in das Reich des Schauens kommen. Im katholischen Gesangbuch steht das Lied in der Rubrik Advent. Im einen Fall bezieht es sich eschatologisch auf die Wiederkunft des Herrn am Ende der Zeiten, im anderen adventlich auf sein weihnachtliches Kommen in unsere Welt. Im einen Fall spricht es zu den Toten, im anderen zu den Lebenden. Aber jedes Ende ist ein Anfang, jedes Jahr wiederholt sich der Zyklus von Geburt und Tod, Auferstehung und Wiederkunft. Die Pulsschläge des Kirchenjahrs rhythmisieren das Leben und helfen, dem Schrecken der Leere eine Kultur der ersten und letzten Dinge entgegenzuhalten. 26 Mähen im Dreivierteltakt: „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ Erntelied Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, Hat Gewalt vom höchsten Gott; Heut wetzt er das Messer, Es schneidt schon viel besser, Bald wird er drein schneiden, Wir müssen’s nur leiden. Hüte dich, schöns Blümelein! Was heut noch grün und frisch da steht, Wird morgen schon hinweggemäht: Die edlen Narzissen, Die Zierden der Wiesen, Die schön Hyazinthen, Die türkischen Binden. Hüte dich, schöns Blümelein! Viel hunderttausend ungezählt, Was nur unter die Sichel fällt, Ihr Rosen, ihr Lilien, Euch wird er austilgen. Auch die Kaiserkronen, Wird er nicht verschonen. Hüte dich, schöns Blümelein! Das himmelfarbe Ehrenpreis, Die Tulipanen gelb und weiß, Die silbernen Glocken, Die goldenen Flocken, Sinkt alles zur Erden Was wird daraus werden? Hüte dich, schöns Blümelein! Ihr hübsch Lavendel, Rosmarein, Ihr vielfärbige Röselein. Ihr stolze Schwertlilien, Ihr krause Basilien, Ihr zarte Violen, Man wird euch bald holen. Hüte dich, schöns Blümelein! Mähen im Dreivierteltakt 235 Trotz! Tod, komm her, ich fürcht dich nit Trotz, eil daher in einem Schnitt. Werd ich nur verletzet, So werd ich versetzet In den himmlischen Garten, Auf den alle wir warten. Freu dich, du schöns Blümelein! Es ist nicht anders: Wir alle müssen sterben und wollen doch nichts davon wissen. Es ist leicht gesagt, man solle den Tod nicht verdrängen. Aber kann man überhaupt leben, wenn man seiner ständig gedenkt? Muß man ihn nicht verdrängen? Der Tod ist doch keine Neurose, die durch fleißiges Erinnern, Besprechen und Durcharbeiten aufgelöst werden könnte! Er entmachtet doch all unser dilettantisches Tun. Während du redest, um die Angst zu vertreiben, wetzt er das Messer und treibt dich in die Enge, hilflos ahnst du, er werde dich zur Strecke bringen, er umkreist dich in einer immer enger werdenden Spirale, es schneidt schon viel besser. Es ist ein Schnitter, der heißt Tod. Mit lapidarer Majestät setzt das Lied ein. Hat Gewalt vom höchsten Gott. Es gibt daran nichts zu rütteln, nichts zu diskutieren. Wuchtig fallen die Sätze, wie Beilhiebe, wie Guillotinenmesser, unentrinnbar. Man wird euch bald holen. Bald wird er drein schneiden. Euch wird er austilgen. Sinkt alles zur Erden. Wird er nicht verschonen. Wie ohnmächtig ist dagegen Lessings gutgemeinter Versuch (in Wie die Alten den Tod gebildet), den Menschenschnitter als schönen Jüngling zu imaginieren, der eine Fackel senkt. Der Humanist wollte Freund Hein lieblich und tadelte das schaurige christliche Gerippe mit seinen martialischen Requisiten. Das Lied weiß nichts von solchen Harmlosigkeiten. Es mäht. Viel Hunderttausend ungezählt / Was nur unter die Sichel fällt, singt Lucile am Ende von Georg Büchners Drama Dantons Tod, bevor sie sich dem Henker ausliefert. Auf das große Warum des Sterbens hat sie keine andere Antwort als das Wir müssens nur leiden. Doch ihre Liebe versüßt die Bitternis. Es gibt so etwas Verrücktes wie den Liebestod. Die Guillotine ist ein stiller Todesengel, eine liebe Wiege, eine Totenglocke. Lucile stirbt aus freiem Willen. Trotz! Tod, komm her, ich fürcht dich nit / Trotz, eil daher in einem Schnitt! Sie stirbt ihrem Geliebten nach, den die Sichel schon hinweggemäht hat. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses großen Gedichts, daß es trotz allem nicht grausam wirkt. Es spricht von einer Selbstverständlichkeit, nicht von einer speziellen Brutalität. Der Tod ist kein Mörder. Er ist ein Beauftragter, der seine Pflicht tut, und das nicht ohne eine gewisse Kultur. Er vollzieht sein Geschäft gravitätisch tanzend im Dreivierteltakt. Melodie und Versmaß setzen langsam und elegisch ein, nehmen dann Tempo auf, bis die schwerfällige, von Runde zu Runde absinkende Drehung im abrupten Sichelfall endet: Hüte dich, schöns Blümelein! Der Tod ist dabei guter Laune, so wie bei Alfred Mähen im Dreivierteltakt 236 Döblin in Berlin Alexanderplatz, wo er den Mantel rollt und lacht und strahlt und singt: O ja, o ja! Die Gesellschaft ist eine Wiese. Die Wiese rauscht erwartungsvoll. Die Menschen sind Gras, „das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.“ (Psalm 90) Die einzelnen Pflanzen sind die Stände und Gruppen, ohne daß es auf sie genau ankäme. Das Lied, das ursprünglich sechzehn Strophen mit mehr als vierzig Blumen hat, ist in Des Knaben Wunderhorn geschickt auf sechs Strophen mit sechzehn Blumen zusammengezogen, die den gleichen Zweck erfüllen. Die zahlreichen Kräuter sollen ja nur den Erwartungsdruck erhöhen, der endlich ins erlösende Freu dich mündet. Am Schluß spricht ein mutiges Blümlein. Es fordert den großen Tod heraus. Komm her, ich fürcht dich nit. Das Machtgefälle kehrt sich plötzlich um. Der bisher so übermächtige Schnitter entpuppt sich als Diener. Er verpflanzt die Blume in einen viel schöneren Garten. Freu dich, du schöns Blümelein! Von einem unbekannten Autor im Jahr 1637 geschrieben, in der Zeit des dreißigjährigen Krieges, weiß das Lied, wovon es spricht. Es setzt eine Todeserfahrung voraus, die von der des zwanzigsten Jahrhunderts nicht weit entfernt ist. Es lebt vom gleichgültigen Sicheln der Todesmaschine und von der Angstlust, im Zerschnittenwerden sei Hoffnung. Der Schnitter Tod gehört zum Vollzugspersonal des Endgerichts. Er gleicht dem Todesengel der Johannes-Apokalypse, der eine scharfe Sichel führt. Er tut dem ein Gutes, den er wegmäht. Wann er mich wegfretzet, heißt es drastisch im barocken Original, so werd ich versetzet / ich will es erwarten / in himmlischen Garten. Dort ist es schöner, als es je auf Erden sein kann. 27 Die Festung räumen: „Tu auf, tu auf du schönes Blut“ Zwischen November 1627 und November 1628 hat Spee als Seelsorger in Köln gewirkt und aus wöchentlichen spirituellen Übungsaufgaben für eine geistliche Tochter allmählich ein Werk mit geistlichen Betrachtungen, betitelt Güldenes Tugend-Buch, in einer ersten Fassung zusammengestellt. Vermutlich entstand damals, spätestens um 1630 herum, das Lied Tu auf, tu auf du schönes Blut, das, als Spee Anfang der Dreißiger Jahre seine Gedichte und Lieder zusammenzustellen begann, leicht verändert als Lied Nr. 12 in die Gedichtsammlung Trutz-Nachtigall aufgenommen wurde. Die Überlieferungssituation ist kompliziert, aber solide. Der frühesten Fassung am nächsten kommt die Düsseldorfer Handschrift des Tugendbuchs (von fremder Hand ca. 1641-43). Zwei Autographen aus dem Jahr 1634 überliefern zweifelsfrei die von Spee für die Trutz-Nachtigall gewünschte, leicht veränderte Textfassung. 1 Für die Überlieferungsgeschichte maßgebliche Textzeugen sind ferner posthum der Gesangbuch-Erstdruck im Geistlichen Psalter (Köln 1638) und die Pariser Trutz-Nachtigall-Handschrift um 1640, die beide bereits die Melodie überliefern, und die Erstdrucke von Trutz-Nachtigall und Tugend- Buch, beide aus dem Jahre 1649. Der Tugend-Buch-Text lautet: 2 Ermanung zur Buß Thu auff, thu auff du schönes Blut, Sich Gott zu dir will kehren: O Sünder greiff nun hertz vnd muth, Hör auff die Sünd zu mehren: Wer buß zur rechten zeit verricht Der soll gewißlich leben: Gott will den todt des Sünders nicht, Wan willtu dich ergeben? 1 Es handelt sich um die Straßburger Handschrift, eine Art Konzeptfassung, und die Trierer Handschrift, eine Reinschrift, beide von Spees eigener Hand. Alles Nähere zur Quellenlage steht detailliert im Kommentarteil der kritischen Ausgabe (Friedrich Spee von Langenfeld, Trutz-Nachtigall, hrsg. v. Theo G. M. van Oorschot, Bern 1985). Künftig abgekürzt: TrN. 2 Friedrich Spee von Langenfeld, Güldenes Tugend-Buch, hrsg. v. Theo G. M. van Oorschot. München 1968, S. 327. Künftig abgekürzt: GTB. Die Festung räumen 238 Vergebens ist all rath vnd that, Was wiltu länger saumen? Es sey nun gleich früh oder spat, Die Festung mustu raumen: O armes kind, o Sünder blind Wem wiltu widerstreben? Dein stärck verschwind gleich wie der wind: Laß ab: es ist vergeben. Thu auff, thu auff, sag dir fürwahr, Gott läst mit ihm nicht schertzen: Dein arme seel steht in gefahr, Vnd wird dich ewig schmertzen: Kehr wider, o verloren Sohn, Reiß ab der Sünden banden. Ich schwer dir bey dem Gottes thron, Die gnad ist noch fürhanden. Geschwind, geschwind, all vhr vnd stund Der Todt thut auff vns eilen: Ist vngewiß, wan er verwund Mit seinen schnellen pfeilen: Wen er nicht find in gnadenzeit, Wär nützer nie geboren: Wer vnbereit von hinnen scheidt, Ist ewiglich verloren. O Ewigkeit, O Ewigkeit, Wer wird dich können messen! Seynd deiner doch schon allbereit Die menschen kind vergessen: O Gott, vom hohen himmel gut, Wan wird es besser werden? Die welt noch immer schertzen thut, Kein sinn ist mehr auff Erden. Ein um eine Seele Besorgter spricht, nicht direkt Spee selbst, aber sein Rollen- Ich als Seelsorger. Er ermahnt ein schönes Blut, im konkreten Fall war es ursprünglich eine junge Frau, 3 zur Buß, verallgemeinert einen Sünder dazu, daß er die Burg seines Hertzens Christo einraume. 4 Der Tonfall ist beschwörend, besorgt, warnend und mahnend, um rechtzeitige Einsicht flehend. Wer buß z u r r e c h t e n z e i t verricht / der soll gewißlich leben. Um diese rechte Zeit geht es. Gedenke des Todes! lautet die ernste Botschaft: all vhr und 3 Näheres Theo G. M. van Oorschot, Friedrich Spee von Langenfeld. Zwischen Zorn und Zärtlichkeit, Göttingen 1992, S. 36 f. 4 Der Titel der TrN-Fassung lautet: Ermahnung zur Buß an den Sünder daß er die Burg seines Hertzens Christo einraume. (TrN S. 70) Die Festung räumen 239 stund / der Todt thut auff vns eilen. Die Sorge gilt dem schönen Blut: dem jungen Menschen, adrett, vital und lebenslustig, von allen geliebt, ohne Gedanken an den Tod. Auftun soll er die Burg seines Herzens, denn Gott will einkehren. Das Blut soll sich ergeben, kapitulieren, die Festung räumen, und zwar bedingungslos. „O Sünder, vnd o Sünderin! “ mahnt Spee im Güldenen Tugend-Buch, „was haltest so hart versperret und verriglet die feste burg deines verstockten hertzens? Warumb offnest nicht dem Himmel Fürsten JESU Christo, der so freundlich dich vom Creutz ermahnet? “ 5 Was geschieht, wenn nicht geöffnet wird? Auch dann geht die Festung verloren. Dein stärck verschwind gleich wie der wind, die Mauern werden nicht halten. Werden sie Christus nicht geöffnet, dann wird ein anderer schneller sein: Der grimmig Tod mit seinem Pfeil, wie es in einem anderen Lied der Zeit heißt, der Tod als Jäger mit schnellen oder, in einer anderen Fassung, bleichen Pfeilen. Dann ist man ohne Christus verloren: Wen er - der Tod - nicht find in gnadenzeit, wär nützer nie geboren: Wer unbereit von hinnen scheidt, ist ewiglich verloren. 6 Das Tu auf wird beschwörend wiederholt in der dritten Strophe, und in der vierten noch einmal unterstrichen: Geschwind, geschwind. In der Schlußstrophe wechselt die Kommunikationssituation, der Seelsorger spricht nicht mehr die Sünderin an, sondern die Ewigkeit und Gott selbst, und stimmt eine sehr allgemeine Klage über den Weltmenschen an, der die Ewigkeit vergißt und sein Leben unter Geschwätz und Scherzen zubringt. Das Lied schließt, wie häufig bei Spee, ohne Beruhigung, ohne Trost. Wirkungsgeschichte Die Gesangbuchwirkung des Liedes geht 1638 vom auflagenstarken Kölner Geistlichen Psalter (bzw. später Psälterlein) aus und verbreitet sich von dort aus im Laufe des 17. Jahrhunderts über den westlichen Teil des katholischen Deutschland, ist aber nicht flächendeckend. Im 18. Jahrhundert geht das Lied allmählich wieder verloren. Im 19. Jahrhundert kehrt es zurück, jedoch in veränderten Gestalten, deren häufigste die Fassung Tu auf, tu auf o Sünderherz ist, eine Nachdichtung von Heinrich Bone (zuerst in: Cantate, Mainz 1847) unter Verwendung älterer Bestandteile 7 , die in der Folgezeit mit alten und neuen Partikeln versetzt in zahlreichen verschiedenen Mischungen auftaucht. 5 GTB S. 327. 6 Der Wunsch, besser nie geboren zu sein, begegnet verschiedentlich im Alten Testament, z. B. Hiob 3, 3; Hiob 10, 18; Jeremias 20, 14-18. 7 Die Kreuzstrophe findet sich bereits als Schlußstrophe in Deutsche katholische Gesänge aus älterer Zeit. Eine Anthologie, Frankfurt am Main 1833, mit dem Quellenhinweis Katholisches Gesangbüchlein … aus verschiedenen Gesangbüchern ausgezogen …, Lüt- Die Festung räumen 240 Der ursprüngliche Text kommt (leicht überarbeitet) erst durch die Sammlung Kirchenlied von 1938 wieder zur Geltung, dann aber auch zu großem Erfolg, denn gleich darauf, 1947, zählt das Lied zu den Einheitsliedern der deutschen Bistümer und gerät infolgedessen in nahezu alle Diözesangesangbücher der Nachkriegszeit. Das Gotteslob macht dieser Karriere ein Ende, verbannt das Tu auf aus dem Stammteil. Lediglich 5 von (rund 30) Regionalanhängen überliefern es weiter (Berlin, Köln Osnabrück, Regensburg, Salzburg), ein weiterer behält die Fassung Sünderherz. In der neuesten Generation der Anhangsanhänge taucht es allerdings nicht selten wieder auf, davon einmal (Diözese Würzburg) in der Sünderherz-Fassung. Eine evangelische Überlieferung ist mir nicht bekannt. Wäre sie möglich? Es gibt ja evangelische Lieder mit ganz ähnlichem Akzent auf der Sterbestunde. Das Lied Wer weiß, wie nahe mir mein Ende von Ämilie Juliane Reichsgräfin von Schwarzburg-Rudolstadt bittet um ein Sterben in Bußfertigkeit: Laß mich beizeit mein Haus bestellen, daß ich bereit sei für und für. Spee freilich ist grundsätzlicher und strenger. Von Trost und Erlösung ist in seinem Lied kaum die Rede. Christus kommt nur im Umfeld vor, im Text selbst nicht. Katholische Veräußerlichungen mögen ein übriges getan haben, um eine evangelische Rezeption zu blockieren - eine Aufforderung lediglich zu regelmäßiger Beichte und Kommunion oder zum rechtzeitigen Empfang der Sterbesakramente konnte darin gesehen werden. Die Veränderungsgeschichte fokussiert die Problemstellen eines Textes. Wir greifen drei Einzelprobleme heraus. „Wen“ oder „Wann“? Mit Ausnahme der Straßburger Trutz-Nachtigall-Handschrift schreibt die frühe autographe oder autornahe Überlieferung: ist ungewiß, w a n n er verwundt, während der Geistliche Psalter 1638 und der Trutz-Nachtigall- Erstdruck 1649 ist ungewiß, w e n er verwundt schreiben. 8 Das Wann ist als lectio difficilior zweifellos besser gegenüber dem banalen wen, denn der Tod wird natürlich jeden verwunden. Das Wann allein zielt auf das, worauf es ankommt: das Bereitsein zur rechten Zeit. Trotzdem hat sich als Folge der Leitfossil-Wirkung von Köln 1638 (für die Frührezeption) und Trutz- Nachtigall 1949 (für die Rezeption im 20. Jahrhundert) die schwächere Lesart durchgesetzt. zemburg 1783. Die anderen drei Strophen entsprechen den Strophen 1, 4 und 5 bei Spee. Die Änderungen des Liedes scheinen als Erweiterungen zu beginnen. Die Kreuzstrophe ist eine christologische Zusatzstrophe. Zusatzstrophen (insgesamt vier) finden sich auch im Allgemeinen Gesangbuch, Mainz 1683 (Notenausgabe, die einige Jahre ältere Erstausgabe ohne Noten konnte bisher bibliographisch nicht ermittelt werden). 8 Textkritische Details bis 1649 nach Friedrich Spee, Trutz-Nachtigall, hrsg. v. Theo G. M. van Oorschot, Bern 1985, S. 360 f., zusätzlich eingesehen wurde der dort nicht berücksichtigte Geistliche Psalter in der Ausgabe Köln 1638. Die Festung räumen 241 Schönes Blut Schon der erste Gesangbuchdruck, dem dann zahlreiche folgen, 9 hat edles Blut, verschiebt also den Akzent von einem schönen Menschen auf einen ranghohen Menschen. Das Bild der Burg mag diese Änderung veranlaßt haben. Die Stoßrichtung des Liedes wird dadurch etwas spezieller, auf adelige oder anderswie hochrangige Menschen bezogen. Die Wortbedeutung von „edel“ im Sinne von „innerem Adel“, Seelenadel war damals zwar bereits häufig anzutreffen, ist aber hier nicht anwendbar. „Edles Blut“ steht hier vielmehr leicht ironisch für „hohes“, „feines“ oder „stolzes“ Blut. 10 Sünderherz, verirrtes Schaf 11 , Menschenherz 12 , betörtes Herz 13 : die vielen Eingriffe zeigen, daß im 19. Jahrhundert auch Blut als Problem empfunden wurde. Das Wort „Blut“ ist in diesem Zusammenhang 14 pars pro toto für Volk, Sippe, Abstammung, dann singularisiert im Sinne von „Mensch“, wobei stets ein junger Mensch gemeint ist. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm werden „ein junges Blut“, ein „frommes“, ein „fröhliches“, ein „leichtes“, „edles“, und ein „junges schönes“ Blut als Beispiele genannt. Die Wendung „ein schönes Blut“, die der Barockzeit geläufig gewesen sein mag, wird heute nicht mehr verstanden. Das war der Hauptgrund der Streichung des Liedes aus dem Gotteslob. Fragt man nach, so erhält man in der Tat als Antwort in der Regel abwegige Vermutungen, die meistens auf das Blut Christi zielen. Allerdings weiß das Unterbewußtsein vielleicht mehr als das Tagesbewußtsein. Das „Blut auftun“ läßt wohl doch auch etwas Richtiges assoziieren, ein Fließen lassen und Preisgeben. Rezeptionsästhetisch gesehen sind dunkle Stellen produktive Zonen, die den Leser zur Deutungstätigkeit anregen und seine Phantasie in Gang setzen. Das großartige, vieldeutige Initium Tu auf, du schönes Blut ist durch das Wegbrechen sprachlicher und bildlicher Kontexte eine kühne Metapher geworden, ein andeutungsreicher Hermetismus. Schönes Blut hat ein viel reicheres Konnotationsumfeld als zum Beispiel verirrtes Schaf. Wir erleben Spees Lied auch bei gleichem Wortlaut völlig anders als seine Zeitgenossen im 17. Jahrhundert, weil wir zu jedem Wort andere Kontexte einbringen. Es gibt Stellen, die wir nur schwach realisieren. Das Wort „Sünder“ hat heute sicher weniger Kraft als damals - die Melodie hilft, darüber 9 Bis z. B. Katholisches Gesang- und Gebetbuch für das Bisthum Ermland, Braunsberg 1878. 10 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band III, Artikel „edel“, Leipzig 1862. 11 Gesang- und Gebetbuch für die Diöcese Trier. Herausgegeben von dem Bischöflichen General-Vicariat. Zweite revidirte Stereotyp-Ausgabe, Trier 1871. 12 Laudate. Katholisches Andachtsbuch zum Gebrauche bei dem öffentlichen Gottesdienste im Bisthum Augsburg. Auf bischöfliche Anordnung. Mit einem Titelkupfer. Prachtausgabe, Augsburg 1859. 13 Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Münster. Neu herausgegeben im Jahre 1932 auf Anordnung des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs Johannes, Münster 1932. 14 Grimm, DW II, Leipzig 1860, Sp. 173 f., Artikel „Blut“, Bedeutung Nr. 8. Die Festung räumen 242 hinwegzusingen. Andere Stellen hingegen, zum Beispiel die Festungsmetaphern, lassen sich reaktivieren und in moderne psychologische Kontexte einbringen. Man kann das für illegitim halten. Der Literaturwissenschaftler muß aber zunächst davon ausgehen, daß jede Textrezeption so verfährt. Jeder Text wird mit der gegenwärtigen Erfahrung kontextiert - womit auch sonst? Der Religionswissenschaftler könnte ergänzen, daß die Neukontextierung eines alten Liedes von Kraft, nicht von Schwäche zeugt. Die wissenschaftliche Rekonstruktion des Urkontexts schafft ja noch keinen Glauben. Sie setzt vielmehr oft dann ein, wenn der Glaube verloren ist. Tu auf, tu auf, o Sünderherz Heinrich Bones Liedbearbeitung wird hier in der Fassung Mainz 1865 gegeben, wie sie bis 1950 in Gebrauch war. Tu auf, tu auf, o Sünderherz! Gott will bei dir einkehren. Er hält dir vor all seinen Schmerz; Laß ab, sein Leid zu mehren! Wer Buß’ zur rechten Zeit verricht’t, Der soll in Wahrheit leben. Gott will den Tod des Sünders nicht; Wann wirst du dich ergeben? Tu auf, dein Heil steht in Gefahr; Wag’s nicht, mit Gott zu scherzen! Mach deine Sünden offenbar, Tu Buß’ aus ganzem Herzen! Erheb dich, o verlorner Sohn, Zerreiß der Sünde Banden! Verderben ist der Sünde Lohn; Noch ist die Gnad’ vorhanden. Tu auf, tu auf! All Gut und Geld, Was kann’s, o Mensch, dir frommen? Was hilft all Ehr’ und Lust der Welt, Wenn einst dein End’ wird kommen? Wenn nach so kurzem Freudenblick Du ewig gingst verloren: Sag’, wär’s dann nicht ein großes Glück, Wenn nie du wärst geboren? Tu auf, tu auf! Sieh deinen Gott Mit ausgespannten Händen Am Kreuzesstamm in Angst und Not für dich sein Leben enden! Der harte Fels zerspaltet sich, Die Festung räumen 243 Sonn’, Mond und Stern erbleichen; Soll denn allein, o Sünder, dich Dein Jesus nicht erweichen? 15 Die Burgmetaphorik verschwindet, wird ersetzt durch Herz als Wohnung Gottes. Jesu Erlösungstat am Kreuz wird in der vierten Strophe wirkungsvoll in Szene gesetzt - sicher eine theologische Korrektur des nach Verlust seines Ursprungskontexts jesuslosen Speeschen Liedes. Das wegschauende Herz soll genötigt werden: Er hält dir vor all seinen Schmerz. Es soll nicht härter sein als die zerreißenden Felsen (Mt 27, 52) bei Jesu Tod. Das Todesmotiv wird vorsichtig ins Eschatologische verschoben. Die Zeile Sonn’, Mond und Stern erbleichen zitiert Mt 24, 28, die Verkündigung der Wiederkunft Christi. Ferner konkretisiert Bone das Buße tun im Sinne der kirchlichen Beichte: Mach deine Sünden offenbar. Der Tod verliert poetisch an Gewicht. Er ist abstrakter (dein End) und hat keine Pfeile mehr. Bei Spee war er noch eine personifizierte Macht: Der Tod tut auf uns eilen. Stattdessen gewinnt die Sünde. Das Sünderherz steht auch von der Melodie her an betonter Stelle. Das Lied greift jetzt alle an, nicht mehr nur die Jungen und Schönen. Die Sünderherz-Fassung ist allgemeiner, pragmatischer, kirchlicher und theologischer. Sie ist nicht schlecht. Die ungetröstete Härte des Speeschen Originals aber ist in der heutigen Rezeptionssituation der Sünderherz-Fassung dennoch überlegen. Das Argument: Er hält dir vor all seinen Schmerz wird heute in Ermangelung des dazugehörigen Glaubens nicht als zugkräftig empfunden. Die rhetorischen Fragen am Ende von Strophe 3 und Strophe 4 sind eben nur rhetorische Fragen. Spee aber macht kein Wortgeplänkel, sondern sagt mit düsterer Härte: Wen er nicht find in gnadenzeit, wär nützer nie geboren. Die Festungsmetaphorik kommt der heutigen Identitätspsychologie entgegen. Denn der Erfolgsmensch der Gegenwart ist selbstverständlich eine solche Festung. Er gibt sich keine Blöße, ist niemals weich, niemals persönlich. Er ist gepanzert, nicht mit Eisen und Leder, aber mit Masken und Rollen, hinter denen das wahre Ich, das ja stets arm und verletzlich ist, sich perfekter verbirgt als früher der Ritter hinter seinem Blech. Büßen, jenes heute unmöglich scheinende Wort, es bekommt metaphorisch Farbe. Büßen heißt die Türen aufmachen, die Mauern schleifen, aus den Rollen fallen. Aus Festungen werden Menschen. Alte Kämpfer werden weich. Das Starre der Masken zerfließt, das Eis der Vorsicht schmilzt, die Träne quillt. Dem, der die Burg seines Herzens auftut, verspricht Spee nicht die Gunst der Leute. Sie neigen dazu, solche Gelöstheit zu mißbrauchen und in der geöffneten Burg herumzutrampeln. Aber auch für die, die nicht darauf warten, daß Christus in die Burg ihres Herzens einziehe, für die, denen Christus egal ist, stimmt doch immer noch so viel, daß auch sie ster- 15 Katholisches Gebet- und Gesangbuch für die Diözese Mainz, Mainz 1865. Die Festung räumen 244 ben werden und daß ihnen in der letzten Stunde die Leute egal sein sollten. Dann endlich könnten sie loslassen. Spätestens dann, wenn alle Rücksichten sinnlos werden, könnte sich die Seele lösen. Im Tod zerfließen die mühsam errichteten Eispanzer des Ich, er ist ein Alkahest wie die Liebe, er wirft die Festungsmauern der Individuation nieder. Büßen heißt das Herz waschen; im Weinen, so heißt es in einem ambrosianischen Hymnus (Aeterne rerum conditor), wird die Schuld gelöst. 28 Das Angesicht erheben: „Morgenglanz der Ewigkeit“ Morgen-Andacht 1. Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpften Lichte, Schick uns diese Morgenzeit Deine Strahlen zu Gesichte Und vertreib durch deine Macht Unsre Nacht. 2. Die bewölkte Finsternis Müsse deinem Glanz entfliegen, Die durch Adams Apfelbiß Uns, die kleine Welt, bestiegen. Daß wir, Herr, durch deinen Schein Selig sein. 3. Deiner Güte Morgentau Fall auf unser matt Gewissen: Laß die dürre Lebensau Lauter süßen Trost genießen Und erquick uns, deine Schar, Immerdar. 4. Gib, daß deiner Liebe Glut Unsre kalten Werke töte Und erweck uns Herz und Mut Bei entstandner Morgenröte, Daß wir, eh wir gar vergehn, Recht aufstehn. 5. Laß uns ja das Sündenkleid Durch des Bundes Blut vermeiden, Daß uns die Gerechtigkeit Mög als wie ein Rock bekleiden Und wir so vor aller Pein Sicher sein. 6. Ach! du Aufgang aus der Höh, Gib, daß auch am jüngsten Tage Unser Leichnam aufersteh Und, entfernt von aller Plage, Sich auf jener Freudenbahn Freuen kann. Das Angesicht erheben 246 7. Leucht uns selbst in jener Welt, Du verklärte Gnadensonne; Führ uns durch das Tränenfeld In das Land der süßen Wonne, Da die Lust, die uns erhöht, Nie vergeht. Es waren schöne glänzende Zeiten, als ein Sinnhorizont die weite Lebenslandschaft überwölbte. Eine Art Neid kann aufkommen auf den Reichtum an Deutungsbeziehungen, der einst die Welt zusammenhielt. Davon existieren nur noch Bruchstücke, der große Zusammenhang ist zerstört, die christliche Glaubenskultur fast verflogen, ihr Charme verschüttet, ihre Sprache untergegangen. Wie Findlinge aus grauer Vorzeit liegen Wortfügungen wie Adams Apfelbiß, Sündenkleid oder Gnadensonne auf den heutigen Kommunikationswegen herum. Dazu kommt die sonderbar steife Eleganz der vielgliedrigen Sätze, die sich in eine schlichte liedhafte Strophe von je fünfeinhalb Kurzzeilen hineinbequemen müssen. Dem spontanen Verständnis erschließt sich das Gedicht nicht. Man muß ein bißchen Aufwand treiben. Natürlich ist es ganz rational, den Morgen für eine bestimmte Tageszeit zu halten und für nichts sonst. Aber diese profane Sicht ist bereits das Ergebnis einer Entzauberung der Welt. Wenn man sie für einen Augenblick wiederverzaubern dürfte! Bei Christian Anton Philipp Knorr von Rosenroth, der dieses Gedicht um 1680 für eine häusliche Morgenandacht schrieb, ist der Morgen viel mehr als nur der Morgen. Über die sichtbare Welt spannt sich eine unsichtbare. Unsere kleine Welt ist nur der Mikrokosmos zu einem Makrokosmos. Im Morgenglanz der Ewigkeit bricht nicht nur ein kleiner physikalischer, sondern auch ein grandioser metaphysischer Tag an. Der Glanz ist nicht nur gewöhnliches Tageslicht, er ist vielmehr Licht vom unerschöpften Lichte. Vom unerschöpften: Das ist in einem schönen Wortspiel das unerschaffene und das unerschöpfliche Licht zugleich - also nicht weniger als Gott selbst, denn Gott ist Licht, und jedes Erdenlicht (auch das elektrische) ist Abglanz vom Urlicht. Jeder Sonnenaufgang erinnert deshalb an die Ewigkeit, jeder Tagesanbruch verweist auf den jüngsten Tag, an dem die Toten auferstehen, nachdem sie durch die Nacht des irdischen Lebens gegangen sind. In jener Welt scheint der Messias Christus als verklärte Gnadensonne, die uns aus dem Tränenfeld, das sonst unsere Wohnstätte bildet, in das Land der süßen Wonne führt, in dem die Lust nie vergeht (Strophe 7). Es ist durchaus eine Provokation, das Leben nach dem Tode so radikal zu privilegieren gegenüber demjenigen vor dem Tode. Letzteres erscheint als Nacht, als bewölkte Finsternis, die uns Menschen als Folge von Adams Apfelbiß umschattet. An dieser Stelle darf man nicht aussteigen, mit einem „So’n Blödsinn! “ auf den Lippen. Knorr treibt die Sache mit manieristischer Raffinesse auf eine einsame Spitze (auf den Apfelbiß), aber es geht nicht um einen absurden Vorfall (den Apfelappetit von Adam und Eva), sondern ums Das Angesicht erheben 247 Ganze. Ob man die Sündenfallmythe wörtlich nimmt oder nur als eine Legende betrachtet, die nachträglich eine Erklärung für das Böse in der Welt sucht - sie läuft auf jeden Fall darauf hinaus, daß der Mensch (jeder Mensch! ) sich als ein Wesen vorfindet, das immer wieder, egal ob aus gutem oder aus bösem Willen, Leid zufügt, und insofern unausweichlich als Sünder betrachtet werden muß, auch wenn dieser Begriff heute aus dem Verkehr gezogen ist. Jener Morgenglanz macht ihm seine Mängelhaftigkeit bewußt, erinnert ihn aber zugleich an seine hohe Bestimmung und bietet ihm Hilfen an, sie zu erreichen. Jede morgendliche Einzelheit hat ihren spirituellen Sinn. Schon das Aufstehen ist doppeldeutig und meint zugleich das Auferstehen des inneren Menschen. Gegen die Morgendepression hilft der Morgentau, er erquickt unsere Dürre und weckt unser mattes Gewissen (Strophe 3). Die aufgehende Sonne wärmt nicht nur thermisch, sondern ihre Liebesglut setzt unser Kalkulieren außer Kraft (tötet unsere kalten Werke) und belebt Herz und Mut (Strophe 4). Und wenn wir uns ankleiden, dann mögen wir doch den Rock der Gerechtigkeit wählen, den die Gnade uns anbietet, nicht das Sündenkleid (Strophe 5). Der Glaube an die Erlösung durch des Bundes Blut (das Opfer Christi, das den Bund mit Gott erneuert hat) scheint dahin, aber läßt sich das hohe christliche Menschenbild nicht dennoch bewahren? Bewegungsunfähig steckt der Mensch fest im Schlick des materialistischen Weltbilds, starr zur Erde ist sein Blick gerichtet. Kann er sein Angesicht noch irgendwie erheben, damit der Glanz jenes Lichtes es treffe? 29 Ex oriente lux: „Fern im Osten wird es helle“ Fern im Osten wird es helle, Graue Zeiten werden jung; Aus der lichten Farbenquelle Einen langen tiefen Trunk! Alter Sehnsucht heilige Gewährung, Süße Lieb in göttlicher Verklärung! Endlich kommt zur Erde nieder Aller Himmel selges Kind, Schaffend im Gesang weht wieder Um die Erde Lebenswind, Weht zu neuen ewig lichten Flammen Längst verstiebte Funken hier zusammen. Überall entspringt aus Grüften Neues Leben, neues Blut; Ewgen Frieden uns zu stiften, Taucht er in die Lebensflut; Steht mit vollen Händen in der Mitte, Liebevoll gewärtig jeder Bitte. Lasse seine milden Blicke Tief in deine Seele gehn, Und von seinem ewgen Glücke Sollst du dich ergriffen sehn. Alle Herzen, Geister und die Sinnen Werden einen neuen Tanz beginnen. Greife dreist nach seinen Händen, Präge dir sein Antlitz ein, Mußt dich immer nach ihm wenden, Blüte nach dem Sonnenschein; Wirst du nur das ganze Herz ihm zeigen, Bleibt er wie ein treues Weib dir eigen. Unser ist sie nun geworden, Gottheit, die uns oft erschreckt, Hat im Süden und im Norden Himmelskeime rasch geweckt, Und so laßt im vollen Gottes-Garten Treu uns jede Knosp und Blüte warten. Ex oriente lux 249 Parfümierte Schlichtheit Fern im Osten wird es helle: eine reiche Formel, unbestimmte Erwartungen weckend. Ex oriente lux - aus dem Osten kommt das Licht. Jeder Morgen birgt ungezählte Möglichkeiten. Wie schön ist das halb vergessene Wort Morgenland! Man denkt an Bethlehem und die drei Weisen, an 1001 Nacht, an Ali Baba und Sindbad den Seefahrer, an Indien als Geburtsland der Poesie. Man denkt nicht an Erdöl, Hamas oder Sperrzaun. Der Ton des Gedichts ist innig, schlicht und fromm. Auf vier Zeilen, vierhebig und kreuzgereimt, im anheimelnden Volksliedton, folgt ein fünfhebiger Paarreim mit sententiösen Zusammenfassungen. Aber die Schlichtheit wirkt nicht natürlich wie etwa bei Eichendorff, sondern seltsam parfümiert, besprüht mit einem Hauch nazarenischer Manieriertheit. Der Verfasser ist Friedrich von Hardenberg, der sich den Künstlernamen Novalis, der Neuland Rodende, gab. Novalis ist kein Landpastor. Ein Raffinierter erprobt hier die Reize der Einfalt. Ein Moderner kultiviert alte Sehnsüchte und bläst längst verstiebte Funken zusammen. Ein Intellektueller überredet sich zum kindlichen Glauben: Du darfst nicht zweifeln, du mußt mitgehen, mußt der suggestiven Melodie folgen wie die Blüte dem Sonnenschein, mußt beweisen, daß du das noch hast: Andacht und Frömmigkeit. Gib dich zufrieden und sei stille. Jetzt ist nicht die Zeit zu debattieren. Jetzt ist Singen angesagt und stille Verzückung. Jeder Einwand hat zu verstummen. Die Wunden bluten zwar weiter, aber seltsam friedlich und schmerzlos. Dem gequälten Menschen verheißt der Sänger die Erfüllung aller Träume. Die graue Nacht wird enden, mit ihr enden Alter, Müdigkeit und Tod. Der Tag wird licht und farbig sein. Alle Bitternis kann der vergessen, der aus der lichten Farbenquelle des Lebens den tiefen Lethetrunk tut. Im Flüssigen löst sich jede Verhärtung, jede Grenze, jeder Widerstand, jeder Krampf. Wer eintaucht in die Lebensflut, wird weich und willig und hat keine Feinde mehr. Süße Lieb empfängt er in göttlicher Verklärung. (Der aufgeklärte Geschmack muckt noch einmal kurz auf.) Das morgendliche Leben ist nicht nur Farbe und Licht, Liebe und Flut, es ist auch Wind und Funke und Feuer - das pfingstliche, nicht das Kriegs- und Höllenfeuer, die feurigen Zungen aus der Apostelgeschichte sind gemeint, die bewirken, daß jeder jeden tief versteht, daß die Menschen nicht mehr palavern, sondern künden, daß sie nicht mehr diskutieren, sondern dichten und im Dichten die Welt erneuern: Schaffend im Gesang weht wieder um die Erde Lebenswind. Wie denn, wo denn, was denn? fragt spöttisch der Realist. Aber Novalis läßt sich nicht beirren. Er spricht mit visionärer Sicherheit, als könne es gar nicht anders kommen: Alle Herzen, Geister und die Sinnen werden einen neuen Tanz beginnen. Sein Vokabular ist nicht originell, es ist sogar ein wenig abgenutzt, und dennoch hat das Gedicht etwas Bezwingendes. Aber man Ex oriente lux 250 muß hingabebereit sein, muß eintauchen in seine weiche Flut, deren Wellen sich zum Dank anschmiegen wie lauter augenblicklich sich verkörpernde zarte Busen … Bisher haben wir ganz davon abgesehen, daß es sich doch offensichtlich um ein Weihnachtslied handelt, das zweite der Geistlichen Lieder, ersonnen 1799. Geht es nicht doch hauptsächlich um das Jesuskind? Ja und nein. Sein Name fällt nicht. Der Knabe in der Krippe zu Bethlehem ist unbestimmt erweitert und entgrenzt. Er ist aller Himmel selges Kind, er ist der belebende Hauch der Poesie, man findet ihn in allem, was lebt, überall ist er, wo Altes verjüngt, Starres verflüssigt, Stein durchblutet, Totes verlebendigt wird, überall, wo Eis schmilzt. Er ist Wind, Flut, Feuer, Jugend, Leben, Tanz, ewiger Frieden, Ehe, Liebe, Süßigkeit, aus Urtiefen stammende, jegliches Leiden stillende göttliche Gewährung. Das ist nicht ganz die Sprache der kirchlichen Dogmatik. Von der beachtlichen Gesangbuch-Karriere anderer geistlicher Lieder des Novalis blieb dieses ausgeschlossen. Es galt als latent pantheistisch, die Inthronisation der Poesie zur Rechten Gottes wurde kirchlich mißbilligt, die erste Zeile wirkte fremd. Das abendländische Christentum der Aufklärung erinnerte sich nicht mehr gern an seinen Ursprung im Osten. Das Lied erschien ihm schwärmerisch auf eine anstößige, fast frivole Weise. Ein vernünftiger Christ glaubt nicht an so große Wunder. Er hat schon zu viele Enttäuschungen hinter sich. Er wittert das Überspannte und mißtraut. In der Tat war Novalis kein naiv gläubiger Mensch. Er hat die Kraft des Glaubens bewundert und deshalb nach Möglichkeiten gesucht, die Wirkungen des Glaubens methodisch zu erzeugen. Er definierte Genie als das Vermögen, von eingebildeten Gegenständen wie von wirklichen zu handeln. Die Supposition des Ideals sei die Methode, es zu finden. „Glauben ist die Operation des Illudierens.“ Was im Leben meistens nicht gelingt, könnte doch im Gedicht gelingen! Der Gottesgarten, mit dem es endet, ist das Paradies. Fern im Osten wird es helle ist eine Imagination der Erlösung. Der grimmig Tod mit seinem Pfeil 239 Der Herr bricht ein um Mitternacht 145 Der Menschen Heil ein kleines Kind 45 Der Mond ist aufgegangen 21, 29, 184 Der Tag der ist so freudenreich 144 Deutschland, Deutschland über alles 58, 61, 64 ff. Deutsch-Österreich, du herrliches Land, wir lieben dich! 61 Die Fahne hoch 64, 70 Die ganze Welt, Herr Jesu Christ 181 Die goldne Sonne voll Freud und Wonne 29 Die Himmel erheben des Ewigen Ehre 27 Die Seele Christi heilge mich 102, 142 f. Die Sonne tönt nach alter Weise 91 ff. Dir, dir, Jehova, will ich singen 146 Dir, dir, o Höchster, will ich singen 145 Du hast Gott in der ganzen Welt 142 Du meine Seele singe 30 Du sagst, ich bin ein Christ 143 Ein feste Burg ist unser Gott 28, 30, 75, 79, 157, 181, 184, 189, 198-209, 210 Ein feste Burg ist unser Stammheim 208 Ein Haupt hast du dem Volk gesandt 80 Ein Haus voll Glorie schauet 82, 185, 203, 205 Ein Kind geborn zu Bethlehem 144 Ein Kindelein so lobelich 144 Eins ist not, ach, Herr, dies eine 146 Erhalt uns, Herr, die Obrigkeit 54, 157 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort 153 f. Ermuntre dich, mein schwacher Geist 117-127, 131 Erneure mich, o ewigs Licht 146 Es fähret heute Gottes Sohn 142 Es fiel ein Himmels-Thawe 45 Es freu der Fürst des Landes sich 54 Ach wann wird doch endlich kommen 46 Ach weh ach weh 142 Aeterne rerum conditor 244 Allein Gott in der Höh sei Ehr 28, 141 Alles meinem Gott zu Ehren 82 Allmächtger Herr der Heere 83 Allons, enfants de la patrie 66 f. Als ich bei meinen Schafen wacht 46 Amen, Gott Vater und Sohne 146 Auf bleibet treu und haltet fest 80 f. Auf meinen lieben Gott trau ich 141 Auf, gläubige Seelen 183 Auf, Seele, auf und säume nicht 146 Auf, Triumph, es kommt die Stunde 146 Auferstanden aus Ruinen 66, 71 Aus tiefer Not schrei ich zu dir 54, 72, 78, 93, 140, 143, 153, 156, 184 Ave Maria klare 45 Befiehl du deine Wege 31, 78, 103 Brich an, du schönes Morgenlicht 118, 129f Brüder, zur Sonne, zur Freiheit 70 f. Christ ist erstanden 23, 81, 140, 152 Christ ist erstanden! Aus der Verwesung Schoos 87 f. Christ ist erstanden! Freude dem Sterblichen 88 Christe, wahres Seelenlicht 146 Christum wir sollen loben schon 144 Christus der ist mein Leben 78 Coelos ascendit hodie 142 Da Jesus an dem Kreuze stund 144 Dank dir, Gott, dein Vatersegen 96 Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampf genossen all! 70 Der du von dem Himmel bist 85 Der Gott, der Eisen wachsen ließ 80 f. Liedregister Liedregister 252 Es glänzet der Christen inwendiges Leben 35, 106, 146 Es ist ein Ros entsprungen 23, 173 Es ist ein Schnitter, der heißt Tod 234- 236 Es kommt ein Schiff geladen 175, 178, 222-224 Fern im Osten wird es helle 248-250 Fest soll mein Taufbund immer stehen 82 f. Freu dich du Himmelskönigin 82 Frisch auf, mein Volk, mit Trommelschlag 70 Für dich sei ganz mein Herz und Leben 24, 82 Geh aus mein Herz und suche Freud 34 Geleite unsre Heere, o Mutter treu und mild 83 Gen Himmel aufgefahren ist 142 Getreue Führer gib uns, Gott 76 Gib dich zufrieden und sei stille 249 God save the King 56 f., 66 Gott der Vater wohn uns bei 141 Gott erhalte, Gott beschütze 60 f., 65 Gott ist gegenwärtig 27 Gott sei Dank in aller Welt 143, 146 Gott Vater, dir befehlen wir unser Vaterland 80, 83 Gott wills machen, daß die Sachen 142 Gott, erhalte Franz den Kaiser 58 f., 64 Gottes Güte reicht so weit 229 Großer Gott, wir loben dich 27, 72, 79 f., 83, 93, 189-197 Haß der Welt 146 Heil dir im Siegerkranz 56 Herr segne unsre Waffen 80 Herr über Tod und Leben 98 Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer 48, 176 Herr, wie du willst, so schicks mit mir 78 Herz und Herz vereint zusammen 34 Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen 33 Heut triumphieret Gottes Sohn 141 f. Ich bete an die Macht der Liebe 24, 76, 80, 82 Ich bin ein rechtes Rabenaas 100 Ich hab in Gottes Herz und Sinn 143 Ich hatt einen Kameraden 76 Ich sehe dich in tausend Bildern 163 Ich weiß, dass mein Erlöser lebt 143 Ich will dich lieben, meine Stärke 34, 41 f., 48, 142, 147 Ihr Christen, hoch erfreuet euch 180, 183 Ihr Kinderlein kommet 175 In dieser Nacht 82 In dulci jubilo 35, 140, 173, 181, 184 Ist das der Leib, Herr Jesu Christ 180 Jauchzt, alle Lande, Gott zu Ehren 92 Jesu clemens, pie Deus 142 Jesu du allerliebster Herr 46 Jesu perpetuo cuius delicio 146 Jesu, Herr der Herrlichkeit 146 Jesus ist das schönste Licht 146 Kennt ihr das Land? Auf Erden liegt es nicht 91 Komm in mich, du 48 Komm Schöpfer Geist, kehr bei uns ein 82 Komm Sterblicher betrachte mich 142 Komm, Heil’ger Geist kehr bei uns ein 82 Kommet lobet ohne End’ 82 Kommt her zu mir spricht Gottes Sohn 141 Kündet allen in der Not 145 Land der Berge, Land am Strome 64 Laßt uns das Kindlein wiegen 46 Laßt uns erfreuen herzlich sehr 45 Liebe, die du mich zum Bilde 143 Liebster Jesu, liebstes Leben 146 Lobe den Herren 28, 30, 79, 93, 142, 144 f., 184 Lobe den Herren, o meine Seele 146 Lobt Gott, ihr Christen alle gleich 170 Macht hoch die Tür 29, 144-147, 175 Maria breit den Mantel aus 82 Liedregister 253 Maria wahre Himmels Freud 45 Maria zu lieben 183 Meerstern ich dich grüße 82 Mein Gmüt ist mir verwirret von einer Jungfrau zart 98 Mein Herz das brinnt in Lieb entzündt 47 Mein Zuflucht alleine 45 Mir nach, spricht Christus, unser Held 23, 76, 80, 144, 147, 181 Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen 82 Mitten wir im Leben sind 155, 181 Morgen Kinder wird’s was geben! 228 f. Morgen kommt der Weihnachtsmann 229 Morgenglanz der Ewigkeit 144 f., 183, 245-247 Morgenstern der finstern Nacht 147 Mutter dich rufen wir 83 Nun bitten wir den heiligen Geist 144 Nun danket all und bringet Ehr 54 Nun danket alle Gott 28 ff., 203 Nun komm, der Heiden Heiland 153, 175 Nun laßt uns den Leib begraben 159, 180 Nun lob mein Seel 141 Nun ruhen alle Wälder 20 f., 30, 38, 81, 141 O Deutschland, hoch in Ehren 80 O du fröhliche 175 O du Herzog meiner Liebe 146 O du Lamm Gottes unschuldig 82 O du Liebe meiner Liebe 143 O Haupt voll Blut und Wunden 33, 78, 98, 140 O Heiland, reiß die Himmel auf 23, 82, 210-213 O heilge Seelenspeise 183 O Jesu liebster Jesu o Trost der Seelen mein 47 O Kind o wahrer Gottessohn 46 O komm, o komm, Emanuel 214-221 O Traurigkeit, o Herzeleid 144, 185 O Vater, Berater 81 O when the Saints 176 Oben am deutschen Rhein 57, 67 Ohren gabst du mir 176 Rot Front, Rot Front! ertönet es aus der Kämpfer Mund 70 Rufst du, mein Vaterland 57 Schalom chaverim 176 Schlaf mein Kindlein schlaf mein Söhnlein 46 Sei gesegnet ohne Ende 62, 64 Seid zufrieden, liebe Brüder 142 Sieh hier bin ich Ehrenkönig 142 Siehst du im Osten das Morgenrot 64 Singt dem Herrn nah und fern 146 Sollt ich meinem Gott nicht singen 143 Sonne der Gerechtigkeit 145 Stille Nacht, heilige Nacht 229 Tauet Himmel den Gerechten 47 Tochter Zion, freue dich 175 Triumph, Triumph des Herrn Gesalbter sieget 146 Tu auf, tu auf, du schönes Blut 178, 237-244 Tu auf, tu auf, o Sünderherz 239, 242 Unüberwindlich starker Held 76, 185 Vater ich rufe dich 80, 83 Veni redemptor gentium 44, 175 Verleih uns Frieden gnädiglich 141, 144 Verschwunden ist die finstre Nacht 94 Vom Himmel hoch, da komm ich her 23 Von guten Mächten treu und still umgeben 176 Wach auf mein Herz und singe 141 Wach auf, du Geist der treuen Zeugen 146 Wach auf, wach auf, du deutsches Land 54, 76, 78, 174 Wachet auf, ihr faulen Christen 146 Wachet auf, ruft uns die Stimme 23, 34, 140, 230-233 Wachet, wachet auf ihr Töchter Zion 146 Wahrer Gott wir glauben dir 82 Liedregister 254 Warum betrübst du dich mein Herz 141 Was Gott tut, das ist wohlgetan 78, 143 f. Was ist des Deutschen Vaterland? 53 We shall overcome 176 Wem Gott will rechte Gunst erweisen 81 Wenn ich ihn nur habe 34, 165-168 Wer ist ein Mann? Wer beten kann 76, 80 Wer ist wohl wie du 146 Wer nur den lieben Gott läßt walten 32, 78 Wer schafft das Gold zu Tage 70 Wer überwindet, soll vom Holz genießen 146 Wer weiß, wie nahe mir mein Ende 240 Wie lange soll ich dann 146 Wie schön leuchtet der Morgenstern 34, 39, 48, 93, 144, 156, 175, 181, 184, 232 Wie soll ich dich empfangen 184 Will ich in mein Gärtlein gehn 101 Wir grüßen dich im Schlachtgesang 83 Wir kommen, Helfer, dir Gesang 98 Wir schwören heut aufs neue 81 Wir treten zum Beten 80 f. Wir, der Erde Pilger, sind 155 Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet 68 f. Wunderschön prächtige 82, 183 Zieh an die Macht, du Arm des Herrn 76 Zu Mantua in Banden 69 Claudius, Matthias 29, 86 Cochem, Martin von 150 Corner, David Gregor 140, 142, 146, 148 Cramer, Johann Andreas 86, 91, 143, 158 Crasselius, Bartholomäus 146 Crueger, Johann 123 f., 132, 136, 148 Crüger, Johann s. Crueger, Johann Decius, Nikolaus 77, 140 Denis, Michael 91 Dierks, Manfred 20, 38 Diogenes 210 Diterich, Johann Samuel 54, 86, 91, 124, 128, 143, 154, 158 Döblin, Alfred 236 Dörr, Friedrich 145 Drese, Adam 146 Dreves, Guido Maria 45, 144, 180, 182 Eckart, Dietrich 174 Eckermann, Johann Peter 35, 85 Eichendorff, Joseph von 15, 80, 87, 159, 231, 249 Eisler, Hanns 71 Engels, Friedrich 198 Enzensberger, Hans Magnus 176 Erk, Ludwig 16, 140 Fallersleben, Heinrich Hoffmann von 65, 155 Fischer, Albert Friedrich Wilhelm 134, 139 Fischer, Michel 41 Flaubert, Gustave 44 Fleming, Paul 154 Fontane, Theodor 158 Francke, August Hermann 146 Franz, Ansgar 180, 215 Franz, Ignaz 79, 91, 192, 195 Freiligrath, Ferdinand 71 Freisler, Roland 201 Ambrosius 190 Ameln, Konrad 101 Anacker, Heinrich 93 Angelus Silesius 11, 23, 34, 41 f., 102, 142 ff., 147, 182 Arndt, Ernst Moritz 53, 76, 80 Arndt, Johann 117 Arnim, Achim von 16, 101, 202 Audorf, Jacob 69 Augustin, Franz 228 Bach, Johann Sebastian 130 Bauer, Ludwig 80 Bäumker, Wilhelm 90, 139, 140-146, 192 Becher, Johannes R. 71 Becker, Hansjakob 42, 220 Behrenbeck, Sabine 50 Benedikt XVI. 17 Benjamin, Walter 32, 229 Benn, Gottfried 158, 176 Bertram, Ernst 93 Bienemann, Kaspar 78 Birken, Sigmund von 154 Blum, Robert 70 Blumenberg, Hans 37 Boehm, Ottokar 56 Böhme, Franz Magnus 140 Bollhagen, David 127, 133 Bone, Heinrich 16, 45 ff., 82, 144, 151, 180, 183, 217-220, 239, 242 Bonhoeffer, Dietrich 176 Bortnjanski, Dimitri 24 Brecht, Bertolt 158, 207 Brentano, Clemens 16, 87, 101, 202 Bröger, Karl 93 Büchner, Georg 158, 235 Buhl, Conrad 86 Claas, Arno 85 Claudius, Hermann 93 Namenregister Namenregister 256 Freud, Sigmund 25, 27, 36, 42 f., 189 Freylinghausen, Johann Anastasius 124, 128, 134, 138-151 Fried, Erich 208 f. Fugger, Dominik 41, 154 Gadamer, Hans-Georg 206 Gambs, Christian Carl 86, 96 Geissel, Johannes von 183 Gellert, Christian Fürchtegott 27, 86, 91, 143, 155, 158, 167 George, Stefan 80, 104 Gerhardt, Paul 14, 21, 23, 29 f., 33, 54, 78, 81, 103, 140 ff., 155, 158, 176 Gesius, Bartholomäus 142 Goethe, Johann Wolfgang von 35, 39 f., 85-94, 189 Gottsched, Johann Christoph 154 Grass, Günter 111 Grautoff, Otto 101 Grieben, Hermann 190 Grimm, Jakob 241 Grimm, Wilhelm 241 Grisar, Hartmann 206 Gruber, Sabine 87 Grünwald, Georg 141 Gryphius, Andreas 154 Gschwend, Kolumban 146 Habermas, Jürgen 104, 108, 213 Hahn, Gerhard 198, 200 Händel, Georg Friedrich 175, 189 Hansen, Hans Jürgen 55 ff., 65 Hardenberg, Friedrich von s. Novalis Haschka, Lorenz Leopold 58, 66 Haßlocher, J. A. 143 Haufe, Eberhard 130 Haydn, Joseph 58, 62, 66 Heermann, Johann 33 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 159 Heil, Ulrich Gabriel 215 Heine, Heinrich 31, 91, 158 Heitmeyer, Erika 141-143 Held, Heinrich 143, 146 Henkys, Jürgen 130, 176 Herder, Johann Gottfried 16, 132, 137, 155, 160 Herold, Melchior Ludolf 143, 148 Herrnschmidt, Johann Daniel 142, 146 Heydenreich, August Ludwig Christian 158 Hitler, Adolf 77 f., 82 Hofer, Andreas 69 ff. Holz, Arno 158 Janssen, Sandra 36 Jenner, Edward 95 f. Jenny, Markus 145, 200 Jens, Walter 200, 207 Johannes Paul II. 17 Junffermann, Wilhelm 141 Jung, Carl Gustav 20-38 Just, Augustin Coelestin 167 Kadelbach, Ada 20 Kaiser Franz 60 Kaiser Franz Josef I. 60 Kaiser, Gerhard 51, 57 Kästner, Erich 228 Keller, Gottfried 26, 28 Kemmann, Oliver 189 Kernstock, Ottokar 62 ff. Kiesselbach, Nikolaus 86 Kleist, Heinrich von 71 Klepper, Jochen 176 Klopstock, Friedrich Gottlieb 86, 91, 143, 155, 167 Knapp, Albert 140 Knauer, Peter 200 Knorr von Rosenroth, Christian Anton Philipp 246 Kohlbrenner, Franz Seraph von 91 Körner, Theodor 76 f., 80, 83 Krueger, Johann s. Crueger, Johann Krüger, Johann s. Crueger, Johann Krummacher, Hans-Henrik 117 Kurzke, Herbert 226 Kurzke, Hermann 26, 55 f., 104, 180, 189 Labonté, Thomas 144 Lassalle, Ferdinand 68 f., 71 Lavater, Johann Kaspar 91, 143, 167 f. Layriz, Friedrich 140 Namenregister 257 Leicht, Robert 199 Lobwasser, Ambrosius 132, 201 Lübeck, Vincent 130 Luise, Königin von Preußen 71 Luther, Martin 14, 23, 31, 54 f., 78 f., 93, 104, 107, 140 f., 143, 152 f., 155-159, 175-177, 183, 192 f., 198-200, 204, 206, 210 Mann, Thomas 13, 20, 23, 25, 26, 31, 36 f., 100 f. Maringer, Ruth 190 Marot, Samuel 128 Marquard, Odo 17 Marramao, Giacomo 51f . Marti, Kurt 207 Marx, Hans W. 185 Marx, Karl 43 Mastiaux, Kaspar Anton von 90 f., 140, 143, 148 Meier, Heinrich 86 Meinhof, Ulrike 208 Miersemann, Wolfgang 138, 146 Mohr, Joseph 16, 144, 180, 203 Moltke, Helmut James Graf von 201 Monninger, Dorothea 130 Mosen, Julius 69 Moser, Tilmann 21 ff., 33, 35 Mozart, Wolfgang Amadeus 64, 176 Müller, Manfred 146 Müller, Stephan Christoph 140 Muschg, Adolf 207 Mylius, August 128, 135 f., 154, 157, 192, 202 Nadermann, Hermann Ludwig 216-220 Napoleon 59 Neander, Joachim 93, 142 Nehring, Johann Christian 145 Neumark, Georg 78 Nicolai, Philipp 23, 140, 175, 231 f. Nietzsche, Friedrich 17, 34, 104 Novalis 27, 34 f., 50 ff., 86, 159, 161-171, 249-250 Nützenadel, Alexander 50 Ohland, Hermann 93 Oorschot, Theo G. M. van 237 f., 240 Oser, Friedrich 76 Parduhn, Arno 64 Pascal, Blaise 35 Paul VI. 109 Petersen, Johann Wilhelm 142 Poliander (Johannes Gramann) 141 Popp, Reinhard 63 Porst, Johann 103, 124, 127 f., 136, 201 Praßl, Franz Karl 146 Ragozat, Ulrich 190 Reich, Christa 85, 145 Reich-Ranicki, Marcel 200 Reisiger, Hans 44 Renan, Ernest 170 Renner, Karl 61 Richter, Christian Friedrich 142, 146 Riedel, Wolfgang 50 Riehm, Heinrich 45 f., 145 Riethmüller, Otto 76 Rilke, Rainer Maria 158 Rist, Johann 117, 119, 123 f., 127, 129, 131, 154 Ritzsch, Gregor 142 Rodigast, Samuel 78, 143 Roth, Hermann 203 Rousseau, Jean-Jacques 127 Rube, Johann Christoph 145 Ruberg, Uwe 117 Rudloff, Ortwin 85, 96 Rühmkorf, Peter 207 Ruopp, Johann Friedrich 146 Ruppel, Paul Ernst 176 Sacer, Gottfried Wilhelm 142 Sauer-Geppert, Waltraud-Ingeborg 156 Schäfer, Christiane 183 Scheffler, Johannes s. Angelus Silesius Scheidgen, Andreas 154 Scheitler, Irmgard 42, 117, 147 Schemelli, George Christian 135 Schenkendorf, Max von 129 Schiller, Friedrich 10, 86, 94, 131 Schings, Hans-Jürgen 127 Schlageter, Albert Leo 70 f., 84 Schlegel, Friedrich 15, 42, 165, 167 Namenregister 258 Schlegel, Johann Adolph 39 Schleiermacher, Friedrich 42, 128, 137, 157, 169 Schlosser, Fritz 180 Schmid, Christoph von 91 Schmidt, Bernhard 128, 169 Schmidt, Eberhard 118, 130, 145 Schmidt, Rebecca 144, 180, 182, 217 Schmolck, Benjamin 142 Schneider, Reinhold 210 Schöne, Albrecht 51 f., 90 Schröder, Johann Heinrich 146 Schwarzburg-Rudolstadt, Ämilie Juliane Reichsgräfin von 240 Senitz, Elisabeth von 143 Sennett, Richard 38 Seuffert, Josef 144 Shakespeare, William 94 Sölle, Dorothee 51 Spee, Friedrich von 23, 76, 180, 212, 226, 237 ff., 240 f., 243 Stefan, Hans-Jürg 21 Stock, Alex 179 f., 182, 185 Sturm, Julius 80 Sudermann, Daniel 223 Tauler, Johannes 223 Tersteegen, Gerhard 14, 24, 27, 76, 82 Tucher, Gottlieb Freiherr von 140 Tümpel, Wilhelm 134 Turin, Ernst Xaver von 91 Uhland, Ludwig 76 Vehe, Michael 83, 155 f. Vesper, Will 92 f. Wackernagel, Philipp 16, 140 Wagner, Richard 17 Walter, Johann 76 Weber, H. 26 Wehner, Josef Magnus 93 Weidemann, Heinz 93 Weigelt, Horst 138, 143 Weiße, Michael 180 Weissel, Georg 146 Wennemuth, Heike 85 Wessel, Horst 70, 203 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 91 Weyl, Josef 80 Wittenberg, Andreas 54, 76 f. Zelter, Carl Friedrich 40 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 34, 134 Zwischen allen Stühlen Nachwort und Nachweise Die Hymnologie war einmal eine angesehene Wissenschaft. Das Kirchenlied, insbesondere das evangelische, zählte zum Urgestein der deutschen Identität. Die Germanistik und die Volkskunde, die Theologien beider Konfessionen, die Musik-, Buch- und Geschichtswissenschaft wetteiferten um Innovationen in dieser Disziplin. Heute könnte sie Paradigma einer interdisziplinären Kulturwissenschaft sein. Meinen Versuchen, eine Entwicklung in diese Richtung anzustoßen, war jedoch universitär nur wenig Erfolg vergönnt. Das Thema hat sich von den Aromen, mit denen es im 19. und frühen 20. Jahrhundert gepudert wurde, nicht wirklich erholen können. Wer es ergreift, stellt sich ins akademische Abseits. Anstatt alle angesprochenen Fächer in ein Boot zu bekommen, landet man zwischen allen Stühlen. Sei’s drum. Soll mich jedenfalls nicht davon abhalten, das hymnologische Pferd einmal in einigen Gangarten vorzureiten. Ich habe mich oft und in unterschiedlichen wissenschaftlichen, journalistischen und praktischen Genres zum Thema Kirchenlied und Gesangbuch geäußert, aber das ist kaum aufgefallen, weil es an so verstreuten Plätzen geschah. In diesem Buch nun habe ich eine Reihe dieser Arbeiten zusammengeführt und unter redaktioneller Mithilfe von Christiane Schäfer so überarbeitet, gekürzt und konzentriert, daß dabei zwar keine Kirchenliedgeschichte (oder doch nur eine sehr fragmentarische), aber vielleicht doch eine aus der Geschichte begründete kulturelle und religiöse Standortbestimmung in Sachen Kirchenlied herauskam. Remythisierung. Eine Art Manifest erschien zuerst in der Zeitschrift Fuge. Journal für Religion und Moderne. Heft 3, 2008, S. 39-52. Kirchenlied und Psychoanalyse wurde 2000 für eine internationale Tagung geschrieben und erschien in dem von Thomas Sprecher herausgegebenen Buch Das Unbewußte in Zürich. Literatur und Tiefenpsychologie um 1900, Zürich 2000, S. 73-94. Purifizierung und Re-Erotisierung war bisher ungedruckt und entstand aus einem Beitrag zu einer Tagung über Erotik im Kirchenlied. Nationalhymnen sind säkularisierte Kirchenlieder entstand für eine Tagung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie in Ljubljana und erschien zuerst in Kirchenlied und nationale Identität, hrsg. v. Cornelia Kück und Hermann Kurzke, Tübingen 2003, S. 1-22. Der Gott der Schlachten findet sich zuerst gedruckt in einem von Reto Sorg und Stefan Bodo Würffel herausgegebenen Band mit dem Titel Gott und Götze in der Literatur der Moderne, München 1999, S. 235-244. Goethe im Gesangbuch entstand als Gabe für Zwischen allen Stühlen 260 einen geschätzten Kollegen: Peter Ensberg und Jürgen Kost (Hrsg.): Klassik- Rezeption. Festschrift für Wolfgang Düsing. Würzburg 2003, S. 213-224. Ein Freundschaftszeugnis ist auch Die Pockenschutzimpfung im Kirchenlied. In: Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856. Für Günter Oesterle. Hg. v. Roland Borgards, Almut Hammer und Christiane Holm. Würzburg 2006, S. 297-301. Kirchenliedzitate in ‚Buddenbrooks‘ war bisher ungedruckt, unterhält aber Beziehungen zu meiner Thomas Mann-Biographie. Auch Zur Mythologie des Singens, ursprünglich eine Predigt im Universitätsgottesdienst vom 28. April 2002 (Mainz, Christuskirche), erscheint hier erstmals. Die katholische Liturgie einst und jetzt war einmal ein Feuilletonbeitrag für die FAZ (dort unter dem Titel Gebt einander ein Zeichen des Friedens am 3. 9. 1988). Ermuntre dich, mein schwacher Geist ist übernommen aus Andreas Solbach (Hrsg.): Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005, S. 157-176. Die katholische Rezeption des Freylinghausenschen Gesangbuchs findet sich in: Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch (Hrsg.): „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch, Tübingen: Niemeyer 2008, S. 539-552. Kirchenlied und Literaturgeschichte, hier stark gekürzt, steht zuerst im Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 35, 1994/ 95 (erschienen 1996), S. 124-135. Illudieren ist eine ebenfalls stark gekürzte Fassung des Beitrags „Religion muß gemacht und hervorgebracht werden.“ Die Geistlichen Lieder des Novalis. In: Säkularisierung und Sakralisierung. Hrsg. von Michael Fischer und Christian Senkel, Tübingen 2004, S. 61-76. Das Evangelische Gesangbuch von 1993 entstand zuerst als Rezension für das Feuilleton der FAZ und erschien dort unter dem Titel Nach mehr als vierzig Jahren: Das neue überaus reiche evangelische Kirchengesangbuch am 7. 12. 1993. Vom Umgang mit alten Liedern wurde zuerst unter dem Titel Das Liedgut der Tradition veröffentlicht in: Gotteslob-Revision. Probleme, Prozesse und Perspektiven einer Gesangbuchreform. Hrsg. v. Hermann Kurzke und Andrea Neuhaus, Tübingen 2003, S. 155-164. Die Liedstudien über Großer Gott, wir loben dich und Ein feste Burg ist unser Gott erschienen zuerst in meinem Buch Hymnen und Lieder der Deutschen, Mainz 1990, S. 163-209. O Heiland, reiß die Himmel auf war ursprünglich eine adventliche Abendunterhaltung und findet sich zuerst gedruckt in meinem Unglaubensgespräch. Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben (mit Jacques Wirion), München 2005 u. ö., S. 153-158. Es kommt ein Schiff ist ein Beitrag für die Frankfurter Anthologie (FAZ 20. 12. 2008). Zu Bethlehem geboren entstand als Weihnachtsbeitrag für die Mainzer Allgemeine Zeitung (dort 23. 12. 2002) und erschien dann erweitert in Herzstücke. Texte, die das Leben ändern. Ein Lesebuch zu Ehren von Karl-Josef Kuschel zum 60. Geburtstag. Düsseldorf: Patmos 2008, S. 78-80. Erich Kästners Weihnachtslied wurde ausgelegt für die Mainzer Allgemeine Zeitung (24. 12. 2005). Der erste Druck von Wachet auf, ruft uns die Stimme erfolgte im Dezember 1999 in der FAZ. Das Lied Zwischen allen Stühlen 261 vom Schnitter erschien als Interpretation für die Frankfurter Anthologie unter dem Titel Wir müssen’s wohl leiden in der FAZ vom 25. 11. 2000. Tu auf, tu auf, du schönes Blut stammt aus Kirchenlied im Kirchenjahr. Fünfzig neue und alte Lieder zu den christlichen Festen. Hrsg. v. Ansgar Franz. Tübingen 2002, S. 181-191. Morgenglanz der Ewigkeit und Fern im Osten wird es helle entstanden ursprünglich als Interpretationen für die Frankfurter Anthologie und erschienen zuerst in der FAZ vom 23. 12. 2006 bzw. 9. 10. 2004. Mainz, im Mai 2010 Hermann Kurzke