eBooks

Theorien der Literatur V

2011
978-3-7720-5381-8
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Hubert Zapf

Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt damit eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für künftige Lehre und Forschung zu. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ,Theorien der Literatur' konzipiert. Auch der nun vorliegende fünfte Band behandelt sowohl unverzichtbare Grundlagen als auch aktuelle Perspektiven der Literaturtheorie und geht davon aus, dass diese beiden Pole keinen Gegensatz, sondern einen produktiven Zusammenhang bilden. Er enthält Studien zur sozialen Leistung von Literatur, die den Begriff der Funktionsgeschichte, die Verbindung von Literatur und Psychosomatik, das Konzept einer littérature engagée sowie Programme des Postkolonialismus und der Transkulturalität behandeln, gefolgt von Beiträgen zur Aktualität des Realismus- Konzepts aus rhetorischer und semiotischer Perspektive Weitere Aufsätze thematisieren Aspekte literarischer Kommunikation - von der Intentionalität literarischer Texte über die systemtheoretische Beobachtung von Literatur und die Buchkritik bis hin zur Bedeutung der Kategorien ,Spannung' und ,Atmosphäre' für die Literaturtheorie. Arbeiten zur Medialität und Narratologie der Literatur, die das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die mediale Qualitäten literarischer Einbildungskraft sowie die Theorie mittelalterlichen Erzählens in den Blick nehmen, beschließen den Band.

A. Francke Verlag Tübingen und Basel THEORIEN DER LITERATUR Grundlagen und Perspektiven BAND V Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Theorien der Literatur V Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Theorien der Literatur Grundlagen und Perspektiven BAND V Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Verarbeitung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8381-5 Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Winfried Fluck Lesen als Transfer. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 7 Marion Schmaus Literatur und Psychosomatik 33 Saskia Wiedner Engagement als Ethos der Literatur 53 Katja Sarkowsky „A Century of Strangers“: Postkolonialismus und Transkulturalität 75 Renate Lachmann Zwischen Fakt und Artefakt 93 Hans Vilmar Geppert „Morgens im Spielkasino“. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 117 Erik Redling Die Rückkehr des Subjekts: Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 141 Gerhard Plumpe Literatur als Kommunikation 159 Inhalt 4 Dieter Götz Vernünftig über Bücher reden 173 Jörg Wesche Spannungstheorien. Kultur- und literaturwissenschaftliche Perspektiven am Beispiel von Schillers Wilhelm Tell (1804) 185 Kaspar H. Spinner Atmosphäre als ästhetischer Begriff 201 Lothar van Laak Selbstgefühl und literarische Imagination. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Einbildungskraft um 1800 (Goethe, Moritz, Tieck) 217 Klaus Vogelgsang Zwischen Oral Poetry und Hörbuch - Mündlichkeit und Literatur 235 Freimut Löser Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 253 Die Beiträgerinnen und Beiträger 287 Vorwort Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Literaturtheorie in dem Sinn, wie sie von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstanden wird, ist nichts Abgehobenes oder nur Abstraktes, sondern stellt eine eigenständige, transdisziplinäre Form des Nachdenkens über Texte, kulturelle Prozesse, Symbolsysteme und Modelle menschlicher Selbstinterpretation dar. Sie ist daher in ihrer Bedeutung, wie die Literatur selbst, nicht auf den innerakademischen Bereich begrenzt, sondern potenziell von allgemeinerem Interesse. Das breite Spektrum von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, das sich mit ihr seit jeher verbunden hat und das sich im Repertoire klassischer Positionen von der Antike bis zur Moderne niederschlägt, hat sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal entschieden erweitert durch neuere Ansätze der Literaturtheorie, die sich im kritischen Dialog mit der Geschichte der Literaturtheorie herausgebildet haben und die mittlerweile zu wesentlichen Bezugspunkten eines zunehmend globalisierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses geworden sind. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ‚Theorien der Literatur‘ konzipiert, in der bislang vier Bände erschienen sind. Auch die Beiträge des nun vorliegenden fünften Bandes beziehen sich auf beide im Untertitel angesprochenen Seiten der literaturtheoretischen Debatte - auf ihre in lang zurückreichenden Reflexionsprozessen herausgebildeten Grundlagen und auf die in den vergangenen Jahrzehnten formulierten neuen Perspektiven, die oft unter Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen ästhetische Zeichenprozesse beleuchten und in ihren verschiedenen historischen, kulturellen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen herausarbeiten. Diese beiden Pole markieren ohnehin keinen binären Gegensatz, denn einerseits bleiben auch die innovativen Ansätze der neueren Zeit noch im Gestus des radikalen Neuaufbruchs auf die Geschichte der Begriffs- und Diskursbildung angewiesen, die sich mit der kulturellen Evolution der Literatur und Literaturtheorie entwickelt hat. Und andererseits entfalten die klassischen Positionen im Rahmen neuer Fragestellungen und interdisziplinärer Impulse teilweise eine erstaunliche Aktualität, die sie als unverzichtbaren Bestandteil auch gegenwärtiger Orts- und Funktionsbestimmungen von Literaturtheorie erscheinen lässt. Dieser Dialektik von Tradition und Innovation ist auch der fünfte Band der Reihe treu geblieben. Er beginnt mit vier Studien zur sozialen Leistung von Literatur, die den Begriff der Funktionsgeschichte, die Verbindung von Literatur und Psychosomatik, das Konzept einer littérature engagée sowie Programme des Postkolonialismus und der Transkulturalität behandeln. Es folgen zwei Beiträge, die die Aktualität des Realismus-Konzepts aus rhetorischer und semiotischer Perspektive untersuchen. Fünf Aufsätze thematisieren Aspekte literarischer Kommunikation: von der Intentionalität literarischer Texte über die systemtheoretische Beobachtung von Literatur 6 als Kommunikation und die Kommunikation über Literatur in der Buchkritik bis hin zur Bedeutung der Kategorien ‚Spannung‘ und ‚Atmosphäre‘ für die Literaturtheorie. Drei Arbeiten zur Medialität und Narratologie der Literatur, die das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die medialen Qualitäten literarischer Einbildungskraft sowie die Theorie mittelalterlichen Erzählens in den Blick nehmen, beschließen den Band. Wie die vorherigen Bände der Reihe, sind auch die vorliegenden Beiträge aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2009/ 10 und im Sommersemester 2010 an der Universität Augsburg stattfand. Zu den beteiligten Fächern gehören Anglistik und Amerikanistik, Germanistik und Slavistik sowie Europäische Kulturgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Frau Kathrin Heyng vom Francke Verlag für die vorzügliche Kooperation, insbesondere auch Andrea Heigl und Ines Maier für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben, sowie der Kurt-Bösch- Stiftung zugunsten der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Es ist beabsichtigt, die Reihe sowohl als Vorlesung als auch in Publikationsform fortzusetzen. Günter Butzer und Hubert Zapf Lesen als Transfer. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung Winfried Fluck 1. Der Funktionsbegriff als heuristische Kategorie Als akademische Disziplin ist die Literaturwissenschaft durch einen erstaunlichen Widerspruch gekennzeichnet: Zwar versteht sie sich als Wissenschaft von der Interpretation literarischer Texte, aber offensichtlich können sich ihre Vertreter niemals über die Interpretation auch nur eines einzigen literarischen Textes einigen. Das gilt nicht nur für schwierige, mehrdeutige oder enigmatische Texte wie Hamlet oder The Turn of the Screw, um die der Interpretationsstreit immer wieder von neuem wogt. Es gilt für praktisch alle literarischen Texte, mit denen es Literaturwissenschaftler zu tun haben. Unablässiger Dissens und oft forcierte Neuinterpretationen bilden die alltägliche Praxis literaturwissenschaftlicher Arbeit. Dieser Interpretationsstreit scheint nie an einem Endpunkt anzukommen und führt nie zu einem tragfähigen Konsens. Das Phänomen ist um so bemerkenswerter, als die Ablösung der im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert noch weithin impressionistisch verfahrenden Literaturkritik durch eine professionelle Literaturwissenschaft eigentlich mit dem Versprechen verbunden war - oder sich zumindest mit diesem Versprechen vor anderen Fächern legitimierte -, dass die Interpretation literarischer Texte nunmehr auf eine objektivere und wissenschaftlichere Basis gestellt werden würde. Doch hat die Professionalisierung der Literaturwissenschaft die Zunahme von Interpretationsdivergenzen weiter verstärkt und zwar ironischerweise gerade auch durch jene Strategien, die als Antwort auf das Problem entwickelt wurden. Die dominante Antwort auf das Problem des Interpretationsstreits ist der Überblick über Theorien und Methoden der Disziplin, mit dem eine Orientierungshilfe über die zur Auswahl stehenden Interpretationsansätze und ihr Erklärungspotential gegeben werden soll. Dabei werden bestimmte Annahmen über die Ursache fachlicher Interpretationsdivergenzen zugrunde gelegt. Im Fall des Methodenüberblicks besteht die Ausgangsüberlegung darin, dass man bisher noch nicht hinreichend methodisch verfahren sei, so dass ein dringender Klärungsbedarf darüber bestehe, welches die „richtigen“, d.h. gegenstandsadäquaten literaturwissenschaftlichen Methoden sind und wie sie korrekt anzuwenden sind. Dazu allerdings muss zunächst definiert werden, worin der Gegenstand der Literaturwissenschaft eigentlich besteht - was wiederum die Identifizierung von „spezifisch literarischen“ Merkmalen voraussetzt. Das Ziel dieser Art des Methodenüberblicks ist es, sich auf verbindliche Interpretationsregeln zu einigen, doch ist auf diese Weise keine für das Fach prakti- Winfried Fluck 8 kable Lösung gefunden worden. Im Gegenteil, der Interpretationsstreit hat sich ausgeweitet und ist nun auch zu einem Dissens darüber geworden, worin literaturwissenschaftlich angemessene Interpretationsverfahren eigentlich bestehen. Mit der zunehmenden Schwierigkeit, eine überzeugende Definition „spezifisch literarischer“ Merkmale zu finden, ist die Suche nach angemessenen Regeln der Interpretation daher einem Methodenpluralismus gewichen, in dem verschiedene Interpretationsansätze als potentiell komplementär angesehen werden. Meinungsverschiedenheiten über die angemessene Interpretation eines literarischen Textes kommen in dieser Sicht dadurch zustande, dass man in der Interpretation verschiedene Perspektiven einnehmen und dementsprechend auch jeweils andere Aspekte betonen kann (ja aus Gründen der Arbeitsökonomie vielleicht sogar betonen muss): Formalistische Ansätze konzentrieren sich auf die ästhetische Form des Textes, ideologiekritische Ansätze auf seinen ideologischen Gehalt, rezeptionstheoretische Ansätze auf seine wirkungsästhetischen Strategien, funktionsgeschichtliche Ansätze auf seine gesellschaftliche Funktion. Die Race and Gender Studies, die die amerikanische Literaturwissenschaft seit Jahren nachhaltig prägen, haben dem Race und Gender als basale Textkonstituenten und Interpretationsperspektiven hinzugefügt. Doch auch das Modell komplementärer Perspektiven geht am Kern des Problems vorbei. Zwei Feministinnen können beispielsweise völlig darin übereinstimmen, dass die Kategorie Geschlecht (Gender) eine zentrale Konstituente literarischer Texte darstellt und die Interpretation daher einer feministischen Perspektive folgen sollte. Sie können sich überdies sogar darüber einig sein, worin diese feministische Perspektive besteht (was keineswegs immer der Fall ist) - und dennoch kann die Umsetzung dieser Ausgangsprämisse zu völlig verschiedenen Interpretationen ein- und desselben Textes führen. Wir kennen zudem von uns selbst das Phänomen, dass wir einen literarischen Text plötzlich mit neuen Augen sehen, obwohl sich unsere fachliche Position nicht verändert hat. Der Methodenpluralismus verschiebt die Antwort auf das Problem des Interpretationsdissens lediglich auf eine andere Ebene, anstatt die Rolle der Methode in der Literaturwissenschaft noch einmal zu überdenken. Methoden können nicht per se Erkenntnis produzieren, sondern werden für die Untersuchung und Klärung einer bestimmten Fragestellung herangezogen, die ihnen logisch vorgeordnet ist und eine erkenntnisleitende Richtung gibt. Insofern stehen sie immer im Dienst umfassenderer Funktionshypothesen. 1 Ein weiterer Weg zur Erklärung literaturwissenschaftlicher Interpretationskonflikte ist der der Historisierung. Interpretationen sind Formen der Bedeutungszuweisung, und diese wird zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Handlungskontexten jeweils anders aussehen, so dass der viel versprechendste Weg, einen literarischen Text möglichst angemessen zu verstehen, darin gesehen werden kann, jene historische Entstehungssituation zu rekonstruieren, auf die er eine Antwort war. 1 Dieses Primat der erkenntnisleitenden Funktionshypothese gilt auch dort, wo Ansätzen nur noch bestimmte Teilelemente für einen eklektizistisch konzipierten Werkzeugkasten (toolbox) entnommen werden. Auch der Gebrauch dieser Teilelemente muss auf ein Erkenntnisziel ausgerichtet sein, für das Annahmen über die Funktion des Gegenstandes konstitutiv sind. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 9 Das ist die klassische Definition der Funktionsgeschichte, die in den 70er Jahren als eine Alternative zu marxistischen Widerspiegelungsmodellen entstand, und es erscheint in der Tat nach wie vor als sinnvoll, möglichst viel über den Entstehungskontext eines literarischen Werkes zu erfahren, um dessen Struktur und rhetorische Strategien in ihrer geschichtlichen Bedingtheit besser verstehen zu können. Letztlich kann jedoch eine historische Rekonstruktion, egal, ob sie aus marxistischer, systemtheoretischer oder einer anderen Perspektive erfolgt, nicht ausreichend sein, weil sie die über die Entstehungssituation hinausgehende Wirkung eines literarischen Textes nicht zu erklären vermag. Der Grund, warum wir heute noch Romane wie Madame Bovary oder Adventures of Huckleberry Finn lesen, liegt ja nicht primär darin, dass sie uns über die gesellschaftliche Realität und Kultur ihrer Entstehungszeit Auskunft geben können. Viele literarische Texte könnten das, die jedoch längst nicht mehr gelesen werden. Was marxistische, systemtheoretische und soziologisch ausgerichtete funktionsgeschichtliche Ansätze nicht zu erklären vermögen, ist, warum ein literarischer Text, der zu anderen Zeiten und unter gänzlich anderen Bedingungen entstanden ist, immer noch Resonanz findet bei Lesern und Leserinnen, die weit von jenen Zuständen entfernt sind, die damals herrschten und die Entstehung des Textes wesentlich bestimmt haben mögen. Wie ist es möglich, dass bestimmte literarische Texte - wie beispielsweise die von Jane Austen - weiterhin mit Begeisterung und Engagement gelesen werden, obwohl sich der historische Kontext längst verändert hat? Und wie sind jene Interpretationen einzustufen, in denen der Text aus heutiger Perspektive gelesen wird, also, bezogen auf den Entstehungskontext, „falsch“? Aus diesen Fragen geht bereits hervor, dass im Folgenden ein anderes Verständnis dessen präsentiert werden soll, was nach wie vor unter dem Vorzeichen des Begriffs Funktion beschrieben werden soll. 2 Sofern der Begriff Funktion auf eine Rekonstruktion „realer“ sozialer und historischer Wirkungszusammenhänge zielt, wird ein funktionsgeschichtlicher Ansatz jedoch immer vor dem Problem stehen, dass sich eine entsprechende Kausalität kaum belegen lässt - und zwar nicht nur, weil sich unmittelbare Konsequenzen nur in Ausnahmefällen nachweisen lassen. Funktionsgeschichtliche Ansätze, die literarische Texte als Antwort auf eine historische Problemkonstellation bzw. eine bestimmte soziale Situation verstehen, stehen zudem vor dem Problem der Rechtfertigung ihrer Wahl des historischen Bezugspunktes. Denn wenn davon ausgegangen wird, dass literarische Texte eine Antwort auf gesellschaftliche Probleme und Konflikte darstel- 2 Die folgende Darstellung eines funktionsgeschichtlichen Ansatzes, für den die Begriffe der ästhetischen Erfahrung, des Transfers und des kulturellen Imaginären zentral sind, stellt die Zusammenfassung einer Position dar, die in einer Reihe von Arbeiten entwickelt und ausführlicher dargestellt worden ist: Das kulturelle Imaginäre (Fluck 1997); „The Role of the Reader and the Changing Functions of Literature: Reception Aesthetics, Literary Anthropology, Funktionsgeschichte.“ (Fluck 2002a); „Ästhetische Erfahrung und Identität” (Fluck 2004); „Aesthetic Experience of the Image“ (Fluck 2003) und „Playing Indian. Media Reception as Transfer“ (Fluck 2007). Die vorliegende Fassung ist eine Fortschreibung des Aufsatzes „Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung“ (Fluck 2005). Winfried Fluck 10 len, dann beginnt der potentielle Dissens bereits mit der Wahl jener historischen Situation, die man als konstitutiv für den Text ansieht. Und dennoch ist es für die Literaturwissenschaft sinnvoll und notwendig, am Begriff der Funktion festzuhalten. Denn wann immer wir über literarische Texte sprechen, egal von welcher theoretischen Position aus das geschieht, können wir gar nicht anders, als eine Funktion vorauszusetzen. Da der literarische Text als fiktionaler Text erst durch eine so bisher nicht gegebene Kombination von Zeichen zustande kommt und insofern kein Äquivalent in einer Realität besitzt, die er lediglich abbildet, müssen wir unserer Interpretation eine Annahme darüber zugrunde legen, worauf er ausgerichtet ist. 3 Andernfalls würde seine spezifische Form der Textbildung keinen Sinn machen. Interpretation ist ein Akt der Bedeutungszuweisung, aber diese Bedeutungszuweisung kann immer nur auf der Basis einer Funktionshypothese über die Organisation des Zeichenmaterials erfolgen. Man kann mit anderen Worten nicht erst eine Struktur beschreiben und dann nach deren Funktion fragen; vielmehr gilt umgekehrt, dass die jeweils zugrunde gelegte Funktionshypothese die Wahrnehmung dessen prägt, was jeweils als Struktur des Textes angesehen wird. So gesehen ist ein funktionsanalytischer Ansatz nicht primär darauf angelegt, der Literatur eine soziale Funktion zurückzugewinnen, um ihr auf diese Weise gesellschaftliche Relevanz zuschreiben zu können, sondern es geht um den Nachweis, dass es einen Interpretationsansatz ohne Funktionshypothese nicht geben kann. 4 Wenn das aber 3 In meiner funktionsgeschichtlichen Studie Das kulturelle Imaginäre habe ich diesen Sachverhalt folgendermaßen beschrieben: „Einen fiktionalen Text zu interpretieren heißt demnach, einen Zusammenhang zu stiften zwischen Zeichen, die neu miteinander kombiniert sind und dadurch die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken. Die Literaturwissenschaft ist jene Wissenschaft, die die Untersuchung dieses Zusammenhangs zu ihrer Aufgabe macht. Sie tut dabei etwas in mehr oder minder systematischer Weise, worauf jeder Leser spontan angewiesen ist, nämlich der Lektüre eine Hypothese über den Zusammenhang jenes neuen Gebildes zugrunde zu legen. Das aber heißt, dass im Lektüreprozess alle Textelemente zumindest im Hinblick auf ihren Zusammenhalt als tendenziell funktional angesehen werden müssen. Die jeweilige Hypothese über diesen Zusammenhang muss nun aber letztlich eine über die Leistung bzw. Wirkung des Textes sein, denn es ist plausibel, davon auszugehen, dass das, was dem Text seinen Zusammenhang verleiht, jene Leistung ist, auf die er ausgerichtet ist, und dass es daher die interpretatorische Rekonstruktion dieser (impliziten) Funktion ist, die den besten Zugang zum Text und seiner ästhetischen Organisation eröffnet. Für die Fiktion, für die es […] streng genommen kein Realitätskriterium geben kann, gilt das in besonderem Maße, denn ohne eine derartige Funktionshypothese hätten wir keinen Anhaltspunkt darüber, was sie eigentlich sei“ (Fluck 1997: 13). 4 Um ein Beispiel aus meinem eigenen Arbeitsfeld heranzuziehen: Wolfgang Isers Wirkungsästhetik wird bisher fast ausschließlich im Hinblick auf das Konstrukt des impliziten Lesers diskutiert, ohne dabei mitzureflektieren, dass dieses Konstrukt in umfassendere Funktionshypothesen über das wahrnehmungsverändernde Potential der Literatur eingebunden ist und erst in diesem Zusammenhang Sinn macht als eine Theorie ästhetischer Erfahrung - die wiederum nur aus einer bestimmten Sicht der Moderne heraus verständlich ist. Anstatt in der Auseinandersetzung mit Isers Wirkungsästhetik zum hundertsten Mal aufzuzeigen, dass der implizite Leser nur ein „hypothetischer“ und daher leider noch kein „empirischer“ Leser ist, sollte die Analyse die entsprechenden Prämissen herausarbeiten und Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 11 der Fall ist, dann bemisst sich der Stellen- und Erklärungswert eines Interpretationsansatzes an seinen unterliegenden Funktionshypothesen, und es sollten dementsprechend nicht Methoden, sondern Funktionshypothesen verglichen und auf ihre Überzeugungskraft befragt werden. Das gilt auch für jene Ansätze, die den Begriff der Funktion vehement ablehnen, weil sie ihn einem kruden, literaturfeindlichen soziologischen Determinismus zuordnen, wie das z.B. in formalistischen Ansätzen oder der Dekonstruktion der Fall ist. Auch der interpretatorische Fokus auf eine disseminative Spur des Zeichens macht jedoch nur Sinn auf der Basis einer Annahme über die Funktion derartiger Formen der Dissemination in einem bestimmten kulturellen System; sich dabei vorrangig auf literarische Texte zu konzentrieren, impliziert zudem, dass der Literatur als Modell sprachlicher Selbstdekonstruktion eine besondere Aussagekraft und damit auch eine besondere Funktion zugesprochen wird. Anders wäre auch kaum zu erklären, warum dekonstruktivistische Ansätze im Ergebnis oft durch eine verblüffende Formelhaftigkeit gekennzeichnet sind, denn mit jeder der oft genialisch assoziativen Interpretationen muss letztlich die Funktionshypothese einer sprachlichen Selbstdekonstruktion des literarischen Textes bestätigt werden. Auch die These rhetorischer Selbstdekonstruktion oder, wie im Formalismus, die dezidiert „antifunktionalistische“ Annahme einer „Funktionslosigkeit“ des ästhetischen Objekts, stellen so gesehen Funktionshypothesen dar, die für die Richtung konstitutiv sind, die die Interpretation jeweils nehmen wird. Das Beispiel der Dekonstruktion ist auch geeignet, auf einen weiteren kritischen Einwand gegen den Gebrauch des Funktionsbegriffs einzugehen, den Vorwurf einer unzulässigen Sinnhomogenisierung und damit Sinnreduktion. Einen Text auf eine Funktion hin zu lesen, so das Argument, wird zwangsläufig alle Aspekte der Textbildung „funktional“ machen im Hinblick auf die implizierte oder postulierte Funktion und widerspricht damit unserer Einsicht in die Vieldeutigkeit literarischer Texte, in die inhärente Rhetorizität des Sprachmaterials und in den Bedeutungsüberschuss, der aus der Kombination verschiedener Codes entsteht. Wo derartige Homogenisierungen vorliegen, hängt das jedoch nicht mit dem Funktionsbegriff an sich zusammen, sondern mit bestimmten Funktionsmodellen. Meine Funktionshypothese kann ja auch in der Annahme bestehen, literarische Texte seien inhärent ambig oder inhärent dialogisch oder unvorhersehbar disseminativ. Auch in diesen Fällen wird sich meine Interpretation auf jene Textaspekte ausrichten, die meiner Funktionshypothese entsprechen, ohne dass damit notwendigerweise eine Sinnhomogenisierung verbunden sein muss. 5 Auch in einer zweiten Variante dieses Einwands - dem (an sich treffenden) Hinweis, dass literarische Texte in der Regel nicht mono-, sondern multifunkti- diskutieren, die diesem Konstrukt erst Sinn verleihen. Siehe dazu meinen Aufsatz „The Search for Distance“ (Fluck 2000). 5 Autorisierungen derartiger Interpretationen durch den Verweis auf Namen wie Empson, Bachtin oder Hillis Miller sind daher zugleich Versuche der Autorisierung bestimmter Funktionshypothesen, die allerdings selten als solche ausgewiesen werden. Es fällt leichter, sich hinter der Autorität eines etablierten Namens zu verstecken als herauszuarbeiten, welche Funktionshypothesen jeweils zugrunde gelegt werden. Winfried Fluck 12 onal sind - werden zwei Anwendungsebenen des Funktionsbegriffs als heuristischer Kategorie vermischt. Denn heuristisch gesehen fungiert die Setzung einer Funktion nicht anders als die mehrerer Funktionen oder die Annahme einer Multifunktionalität des literarischen Textes: Auch diese wird im Folgenden meine Interpretation leiten, denn ich kann meinen Blick immer nur auf das richten, was ich als spezifische Funktion bzw. als spezifisches Potential des literarischen Textes voraussetze. Man kann demnach davon ausgehen, dass der literarische Interpretationsgegenstand überhaupt erst durch eine Funktionshypothese konstituiert wird, egal, ob das bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt geschieht. Insofern verweist mein Gebrauch der Begriffe Funktionsanalyse und Funktionsgeschichte im Folgenden nicht auf eine bestimmte kultursoziologische Interpretationsmethode oder auf ein bestimmtes systemtheoretisches Gedankengebäude, sondern auf die Notwendigkeit, jenes System von Vorannahmen über die Funktion des literarischen Textes in die Analyse literarischer Texte mit einzubeziehen, durch die ein bestimmter literatur- oder kulturwissenschaftlicher Ansatz jeweils konstituiert wird - egal, ob es sich um den New Criticism oder den New Historicism, die Narratologie oder die Dekonstruktion, die Postcolonial Studies oder eine Diskursanalyse handelt. Literaturwissenschaft ist immer schon - und unvermeidlicherweise - Funktionsanalyse im Sinne einer Wissenschaft, die auf Vorannahmen über die Funktion ihres Gegenstandes beruht. Eine Analyse der Funktionshypothesen anderer Ansätze soll allerdings nicht das Thema dieses Aufsatzes sein. Vielmehr geht es mir im Folgenden darum, die Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Funktionshypothesen für die Literaturwissenschaft zum Ausgangspunkt zu nehmen, um über die Frage der Funktion literarischer Texte noch einmal von neuem im Rahmen einer Theorie der ästhetischen Erfahrung nachzudenken. Das Resultat ist eine Konzeptualisierung des Akts des Lesens (und damit auch der Interpretation) als Transferprozess - eine Beschreibung, aus der sich nicht nur eine Erklärung des eingangs beschriebenen Interpretationsdissens ergibt, sondern sich abschließend auch Folgerungen für die interpretatorische Praxis ableiten lassen. Dabei ist die Ausgangsüberlegung die, dass der literarische Text seine Funktionen nur über ihm eigene Kommunikationsbedingungen und -potentiale realisieren kann. Aus der hier vertretenen Perspektive besteht der Gründungsakt, durch den dem literarischen Text diese Kommunikationsmöglichkeiten erschlossen werden, in der Dominantsetzung der ästhetischen Funktion. 6 Auch soziale und poli- 6 Siehe Jürgen Pepers Beschreibung dieses Prozesses: „ÄSTHETISIEREN heißt, ein Etwas - Ding, Vorstellung, Lebenswelt - aus übergreifenden Einbeziehungen, die es funktionalisieren, herauszulösen, es möglichst eigenwertig, ‚phänomenologisch‘ zu sehen. […] Ästhetisieren heißt völlig wertfrei: den Gegenstand aus übergreifenden Funktionen und Sinnrastern lösen, positiv gesagt: den Gegenstand vereigentlichen, individualisieren, ihn emanzipieren“ (Peper 2002: 1). Auf diese Weise werden Aspekte des Gegenstandes freigesetzt, die bisher hinter anderen Funktionen versteckt waren: „‚Ästhetisierung‘ erweckt das ästhetische Potential eines Gegenstandes (Ding, Vorstellung), indem sie ihn selbstbezüglich sehen lässt, ihn aus seinen entmündigenden Funktionskontexten befreit, ihn emanzipiert“ (ebd.: xiii). Oder, in meiner Terminologie: Die Emanzipation von anderen Funktionen setzt die ästhetische Funktion frei, die in der Entpragmatisierung des Gegenstandes besteht - was nicht heißt, dass er seinen Bezug zur Wirklichkeit verliert, sondern dass sich ihm eigene und oft neue Möglichkeiten des Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 13 tische Funktionen können von literarischen Texten immer nur über die ästhetische Funktion realisiert werden. Somit müssen auch literarsoziologische oder diskursgeschichtliche Ansätze bei der Frage nach sozialen und politischen Funktionen in Betracht ziehen, dass der literarische Text diese Funktionen nur auf dem Weg über ästhetische Wirkungsstrategien umsetzen kann. 7 2. Eine Theorie ästhetischer Erfahrung Mit diesen Überlegungen sind wir an einem wesentlichen Punkt des Arguments angelangt. Denn das Problem des Interpretationsdissens lässt sich nicht überzeugend erklären, wenn man - zumeist stillschweigend und oft wie selbstverständlich - davon ausgeht, dass die Aufgabe der Literaturwissenschaft primär im Textverstehen liege. Wir unterziehen uns jedoch der Lektüre eines oft voluminösen Romans oder eines bewusst „uneindeutigen“ Gedichts nicht primär wegen eines Sinnversprechens, sondern wegen der ästhetischen Erfahrung, die diese Texte verschaffen können. Das ist einer der Gründe dafür, warum literarische Texte und ästhetische Objekte über ihren Entstehungszusammenhang hinaus wirksam bleiben können. Der Sinn des Textes mag längst „von gestern“ sein, und dennoch kann der Text für uns immer noch interessant sein, weil wir mit ihm Erfahrungen zu machen vermögen, die uns anderweitig nicht in gleicher Form möglich sind. 8 Es gilt somit in einem nächsten Argumentationsschritt zu klären, was im Zusammenhang dieses Arguments unter ästhetischer Erfahrung verstanden wird. Die zentrale Rolle, die diesem Konzept für die Erklärung der Wirkung literarischer Texte zukommt, ist ein Grund für die Beachtung, die die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers nach wie vor verdient. Isers Ansatz ist oft zur Rezeptionstheorie verkürzt oder als „Reader-Response Theory“ missverstanden worden; genau genommen handelt es Umgangs mit ihr eröffnen. In ihrem Aufsatz „Forms of Self-Implication in Literary Reading“ betonen Kuiken et.al. in ihrer Definition des Ästhetischen eine mögliche Konsequenz: „Readers may also experience aesthetic feelings, that is, the heightened interest prompted by formal components of a text (e.g. being struck by an apt metaphor, intrigued by an ironic description, captured by the rhythm of a verse)“ (Kuiken 174-5). Derartige ästhetische Erfahrungen werden jedoch erst dadurch möglich, dass die Sprache von anderen kommunikativen Funktionen freigesetzt wird und „um ihrer selbst willen“ betrachtet werden kann. Ästhetik wird somit im Folgenden nicht als eine Philosophie der Kunst verstanden, der es um die Beschreibung und Legitimation bestimmter künstlerischer Werte geht, sondern als eine Form sinnlicher Erfahrung, die durch bestimmte Kommunikations- und Wirkungsbedingungen möglich wird. 7 Siehe dazu meinen Aufsatz „Aesthetics and Cultural Studies“ (Fluck 2002). Der literarische Text wird hier somit als ein Text verstanden, der durch seine Fiktionalität gekennzeichnet ist. 8 Natürlich können auch historische Ereignisse oder soziale Phänomene Ausgangspunkt einer ästhetischen Erfahrung sein. Grundsätzlich unterscheiden sich literarische Texte von anderen Textsorten nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch die Entpragmatisierung des Gegenstandes, die eine Dominantsetzung der ästhetischen Funktion ermöglicht. Sozialkritisches Engagement oder politische Interventionen sind dadurch keinesfalls ausgeschlossen, aber im Fall des literarischen Textes und anderer ästhetischer Objekte müssen sie ihre Wirkung auf dem Weg über die ästhetische Erfahrung erreichen. Winfried Fluck 14 sich jedoch nicht um eine Theorie des Lesers, sondern um eine Theorie ästhetischer Erfahrung. Für die hier verfolgte Fragestellung ist dabei der Aufsatz „Representation: A Performative Act“ von besonderem Interesse, in dem es darum geht, unser Verständnis literarischer Darstellung von immer noch nachwirkenden mimetischen Erwartungen zu befreien, für die sich die Wirkung eines literarischen Textes aus der Analyse der Darstellungsebene ableiten lässt. Der Text bedarf jedoch, um Bedeutung und Wirkung zu erlangen, eines Rezipienten und ist insofern Teil eines Prozesses der Realisierung, den man als „performativ“ bezeichnen kann. Wolfgang Iser hat für das Verständnis dieses Prozesses der Realisierung durch den Leser einen wichtigen Hinweis gegeben. Der Leser eines literarischen Textes befindet sich für ihn in derselben Situation wie ein Schauspieler, der eine Rolle wie z.B. die Hamlets spielen soll. 9 Um Hamlet eine überzeugende Gestalt geben zu können, muss der Schauspieler zunächst von sich absehen und bereit sein, ein anderer zu werden. (Er kann nicht immer nur sich selbst spielen.) Aber dieser Rollenwechsel hat seine Grenzen darin, dass Hamlet nie gelebt hat und der Schauspieler ein historisches Vorbild insofern nicht einfach imitieren kann. Um die Figur zum Leben zu erwecken, muss er daher auf eigene Ressourcen - ein eigenes gestisches Ausdruckspotential, eigene Emotionen, ein eigenes Körperempfinden - zurückgreifen. In Isers Worten: „In order to produce the determinate form of an unreal character, the actor must allow his own reality to fade out. At the same time, however, he does not know precisely who, say, Hamlet is, for one cannot properly identify a character who has never existed“ (Iser 1993: 244). Da wir literarischen Charakteren wie Hamlet oder Huckleberry Finn noch nie begegnet sind und wissen, dass sie tatsächlich nie gelebt haben, müssen wir uns eine eigene Vorstellung von ihnen machen. 10 Diese Vorstel- 9 Siehe Isers Beschreibung: „In this respect the required activity of the recipient resembles that of an actor, who in order to perform his role must use his thoughts, his feelings, and even his body as an analogue for representing something he is not. In order to produce the determinate form of an unreal character, the actor must allow his own reality to fade out. At the same time, however, he does not know precisely who, say, Hamlet is, for one cannot properly identify a character who has never existed. Thus role-playing endows a figment with a sense of reality in spite of its impenetrability which defies total determination. [...] Staging oneself as someone else is a source of aesthetic pleasure; it is also the means whereby representation is transferred from text to reader“ (Iser 1993: 244). Vgl. dazu auch Bruce Wilshire, dessem Buch Role Playing and Identity das Hamlet-Beispiel möglicherweise entnommen ist: „It would follow, then, that the character Hamlet is real just insofar as we constitute ourselves by experiencing ourselves and speaking about ourselves through him - both as stage actors and as audience, or life actors; that is, when we experience ourselves and speak about ourselves through the proxy of Hamlet. The character’s reality is a function of our own reality as playing, experimenting, self-knowing beings“ (93). 10 Eine eindeutige Trennung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten kann es dabei nicht geben. Historische Romane besitzen beispielsweise historische Referenzen, haben als fiktionale Texte aber die Freiheit, vom verbürgten historischen Faktenmaterial abzuweichen. Werke der Geschichtsschreibung unternehmen andererseits immer wieder den Versuch, unsere bisherige Sicht der historischen Referenz zu revidieren und bedienen sich dazu auch fiktionaler Elemente. Und natürlich müssen wir auch eine historische Darstellung, beispielsweise von Abraham Lincoln, mit Hilfe unserer eigenen Vorstellung realisieren. Dennoch kann generell Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 15 lungsbildung erfolgt auf der Basis der Textvorgaben, aber sie ist zugleich darauf angewiesen, auf eigene Assoziationen und Gefühle zurückzugreifen, um diesen Textvorgaben mit Hilfe des eigenen Erfahrungshaushalts Gestalt zu geben: „The work only comes to life in being read, and what it signifies cannot be separated from what readers make of it“ (Felski 87). 11 Lesen ist ein Prozess der Transformation von abstrakten Schriftzeichen in eine anschauliche und bedeutungsvolle Vorstellungswelt, die erst durch einen Transfer von Bildern, Gefühlen und Körperempfindungen aus unserer eigenen Welt möglich wird. 12 Bärbel Tischleder hat die Unabdingbarkeit eines solchen Transfers am Beispiel eines Spielfilms verdeutlicht (und damit zugleich auch die Frage beantwortet, ob der imaginäre Transfer, von dem wir hier sprechen, nur bei der Lektüre literarischer Texte anzusetzen ist oder alle Fiktionen - also z.B. auch Spielfilme - umfasst): „So können wir uns nur dank eigener Erfahrungen vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn ein anderer über ein Fell streicht, sich verbrennt, leicht bekleidet im Schnee unterwegs ist oder schwere Koffer schleppt“ (Tischleder 2000: 78). Fiktionale Texte und andere ästhetische Objekte müssen somit durch einen Transfer von Seiten des Lesers bzw. Zuschauers realisiert werden und können erst über dessen Vorstellung Gestalt, Bedeutung und Wirkung gewinnen. Das ist nicht zu verwechseln mit einer bloßen Projektion. Der Leser bleibt an die Vorgaben des Textes gebunden, die der eigenen Vorstellungsbildung ständig Widerstand leisten - jeder Leser kennt wohl die Erfahrung, dass die eigenen Vorstellungen, die man von einer literarischen Figur wie beispielsweise Isabel Archer hat, während der Lektüre fortlaufend korrigiert werden müssen. 13 Aber trotz einer gemeinsamen Ausgangsbasis in gesagt werden, dass der fiktionale Text aufgrund der für ihn konstitutiven Merkmale der Entreferentialisierung und Entpragmatisierung, sowie der damit verbundenen Zunahme von Unbestimmtheitsstellen, einen wesentlich größeren Freiraum für diesen Prozess der Vorstellungsbildung eröffnet, in dem wir auch in weitaus größerem Maße auf unsere Einbildungskraft zurückgreifen können und müssen. 11 Zur Rolle, die bildliche Vorstellungen dabei im Transferprozess spielen, siehe Ellen Esrocks Studie The Reader’s Eye. 12 Ich ziehe dabei den Begriff des Transfers dem der Übertragung (Transferenz) vor, weil letzterer die Interaktion zwischen Text und Leser auf ein psychoanalytisches Modell festlegt, das die Realisierung des fiktionalen Textes im Akt des Lesens nicht umfassend erklären kann. Nicht jeder Akt der Realisierung in der Vorstellung muss ein Akt der Übertragung des verdrängten Unbewussten sein. 13 Insofern ist der Transfer, durch den der Text in der Vorstellung Gestalt gewinnt, keine Einbahnstraße. Es handelt sich vielmehr um ein Interaktionsverhältnis, in dem sich beide Seiten wechselseitig beeinflussen: Der Leser erweckt den Text zum Leben und wird ihn dabei unvermeidlicherweise rekonfigurieren, da die Realisierung bestimmte Schwerpunkte setzen muss. Der Text wiederum ist darauf angelegt, den Leser möglichst geschickt zu lenken und ihn dabei in einer bestimmten Subjektposition zu platzieren. Doch muss diese Subjektposition wiederum durch den Leser realisiert werden und kann dabei rekonfiguriert oder auch (ganz oder teilweise) abgelehnt werden. Auf diese Weise aber wird die vom Text geschaffene Subjektposition nicht mit der des Lesers identisch sein: „That is the reason why the identity constructed by the fictional text is actually more adequately described as a case of non-identity, Winfried Fluck 16 Shakespeares Text wird der von Wolfgang Iser vorgestellte Hamlet ein anderer sein als der von mir vorgestellte Hamlet, weil in der Realisierung der literarischen Figur zwangsläufig auf verschiedene imaginäre und körperliche Ressourcen zurückgegriffen wird. Das aber heißt, dass der fiktionale Text genau genommen zwei Dinge zugleich darstellt: eine mit Hilfe der literarischen Illusionsbildung geschaffene Welt des Textes und jene Vorstellungen, mit deren Hilfe der Leser der Darstellung Leben einhaucht und Bedeutung verleiht. Der Text braucht den Leser, um Gestalt anzunehmen, und umgekehrt braucht der Leser den Text, um bestimmte Vorstellungen, Gefühle, Stimmungen und Körperempfindungen artikulieren zu können, die sich in quasi parasitärer Weise an die Darstellung fremder Welten heften. Es ist diese Doppelungsstruktur, die als die eigentliche Quelle ästhetischer Erfahrung angesehen werden kann. Sie erlaubt es, imaginäre Anteile durch die Anbindung an einen literarischen Text zu artikulieren, sie qua literarischer Darstellung zu veräußerlichen und auf diese Weise zu einem Anschauungsobjekt zu machen, das einen reflexiven oder auch emotionalen Selbstbezug erlaubt. Wir stülpen dem literarischen Text nicht einfach unsere eigene Vorstellungswelt über, sondern lesen ja gerade, um anderen Welten zu begegnen. Aber diese anderen Welten können wir in unserer Vorstellung wiederum nur unter Rückgriff auf eigene Vorstellungen, Erfahrungen und Empfindungen konstruieren. Auf diese Weise kann sich der Leser auf eine Welt einlassen, die nicht die eigene ist und auf paradoxe Weise doch wiederum die seine. 14 Die Lektüre eines literarischen Textes versetzt den Rezipienten so gesehen zwischen zwei Welten. Sie eröffnet eine Dimension des Dazwischenseins und der Nicht-Identität und macht es dem Leser möglich, im Lektüreakt „wir selbst und zugleich jemand anders zu sein“ („both ourselves and someone else at the same time“) (Iser 1995: 244). Wir sind nicht mehr wir selbst, weil wir uns imaginär in andere literarische Welten hinein versetzen, aber wir gehen andererseits auch nicht völlig in diesen Welten und deren Charakteren auf. (Bei filmischen Großaufnahmen beispielsweise kommen wir anderen so nah wie nie zuvor und können dennoch zugleich immer in sicherer Distanz bleiben.) Wir wollen die Grenzen eigener Identität überwinden, aber nicht um den Preis, gänzlich ein anderer zu werden. 15 Wir mögen ein Bedürfnis verspüren nach der Identifikation mit einer Idealfigur, aber nicht um den Preis einer Selbstauslöschung. 16 Das ist besonders gut nachvollziehbar bei Genres, die „unter die Haut“ gehen, wie beim Thriller oder dem Horrorfilm. Wür- since it puts the reader in a state in-between two identities, with neither of whom it is entirely identical“ (Fluck 2008: 75). 14 Vgl. Wilshire: „Together with the actors we alienate ourselves as characters so that we can return to ourselves as persons. Hamlet is ourselves speaking to ourselves about our essential possibilities“ (99). 15 Insofern ist die Begegnung mit dem Anderen, die uns die Literatur erlaubt, immer auch die Begegnung mit einem von uns konstruierten Anderen, d.h. mit uns selbst. 16 Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Literatur spätestens seit dem Roman Don Quichote den möglichen Verlust dieser Distanz immer wieder zu ihrem Thema gemacht hat. Das geschieht jedoch bezeichnenderweise im Modus der Satire oder Ironisierung, durch die der Quixotismus oder auch der Bovarysmus als falscher Umgang mit der Literatur entlarvt werden sollen. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 17 den wir nicht ein reales Gefühl von Bedrohung empfinden, dann hätten diese Genres ihr Ziel verfehlt; aber gerade weil wir nicht völlig in der Fiktion aufgehen, sondern zugleich immer auch eine Distanz erhalten bleibt, sind wir überhaupt nur bereit, uns auf die Erfahrung dieser Bedrohung einzulassen. 17 Der literarische Text kommt diesem Zwischenzustand in idealer Weise entgegen, denn er erlaubt es - allein schon aufgrund der Modi der Vorstellungstätigkeit, die zu seiner Realisierung notwendig sind - zugleich innerhalb und außerhalb des Textes zu sein und somit in konstanter Bewegung zwischen dem Text und unseren eigenen Vorstellungen und Empfindungen. 18 Der Leser eines literarischen Textes ist somit ein Nomade, der im Lektüreakt in konstanter Bewegung ist zwischen verschiedenen Positionen. Linda Williams hat das im Hinblick auf das Kinoerlebnis treffend charakterisiert, gleiches kann aber auch von der Lektüreerfahrung gesagt werden: „The crucial lesson of fantasy is that the fantasist, like the spectator, does not necessarily identify in any fixed way with a character, a gaze, or a particular position, but rather with a series of oscillating positions […] its pleasures are the pleasures of mobility, of moving around among a range of different desiring positions“ (Williams 57). 19 Das gilt umso mehr, da der Transfer, mit dem der Leser oder Zuschauer den Text zum Leben erweckt, nicht nur einzelne - oder gar nur positive - Charaktere betrifft, sondern alle Aspekte des Tex- 17 Leser und Zuschauer entwickeln dabei ihre je eigenen Strategien, um mit der Bedrohung der eigenen Ich-Kontrolle umzugehen, von Vermeidungsstrategien durch selektive Ausblendung bis hin zur Routinisierung der Schockerfahrung. Beides vermag die völlige Immersion zu verhindern. 18 Eine Reihe von Studien zur Psychologie des Lesens, die in J.A. Appleyards Buch Becoming a Reader: The Experience of Fiction from Childhood to Adulthood zusammengefasst werden, bestätigen diese Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung. Im Akt des Lesens, so Appleyard, „we both identify ourselves with the characters, incidents, and themes of the work, but also keep them at a safe distance [...]“ (1991: 39). Wir können uns in der fiktiven Welt verlieren (Appleyard spricht von einem „abandonment to the invented occurrences“) und dennoch zugleich die Haltung des wertenden Betrachters einnehmen („the evaluative attitude of the onlooker“) (ebd.: 53-4). Siehe auch Catherine Gallaghers und Stephen Greenblatts Charakterisierung des Lektüreprozesses in Practicing New Historicism: „In a meaningful encounter with a text that reaches us powerfully, we feel at once pulled out of our own world and plunged back with redoubled force into it“ (2000: 17). In ihrer Studie Reading Cultures: The Construction of Readers in the Twentieth Century beschreibt Molly Travis den Lektüreprozess ebenfalls als eine Bewegung des „in-and-out“ und betont die zwanghafte Dimension dieses Prozesses: „I conceive of agency in reading as compulsive, reiterative role-playing in which individuals attempt to find themselves by going outside the self, engaging in literary performance in the hope of fully and finally identifying the self through self-differentiation. Such finality is never achieved, for the self is perpetually in process“ (1998: 6). 19 Innerhalb des Textes kann unsere Identifikation mit Charakteren wechseln und nur kurzfristig sein; zudem können wir uns zwischen den Perspektiven von Autor, Erzähler und denen der Charaktere bewegen. Diese Bewegung kann „dialogisch“ sein, aber auch unsystematisch und erratisch. An diesem Punkt werden narratologische Konzepte wie das der Fokussierung wichtig als nächster Schritt einer Ausdifferenzierung von Text-Leser Relationen. Formanalysen stehen somit keineswegs in einem Gegensatz zu den hier vorgebrachten Überlegungen, sondern vermögen sie zu konkretisieren und zu komplementieren. Winfried Fluck 18 tes umfasst. Jedem Zeichen muss vom Leser mit Hilfe der eigenen Vorstellung Gestalt und Bedeutung gegeben werden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es möglich sei, sich mit einem literarischen Charakter zu identifizieren, so kann damit noch nicht die ästhetische Erfahrung mit dem Text beschrieben werden, denn diese wird durch den Text insgesamt hervorgerufen und nicht nur durch einzelne seiner Charaktere. Man kann sich aber nicht mit „dem Text insgesamt“ identifizieren. Die Selbsterweiterung, die der literarische Text ermöglicht, geht daher weit über den Vorbildcharakter einzelner Charaktere, d.h. über einzelne Identitätsentwürfe, hinaus. Um den Text zum Leben zu erwecken, muss sich die Leserin eines sentimentalen Romans nicht nur die sentimentale Heldin vorstellen, die verführt wird, sondern zugleich auch den Verführer und sogar die selbstgerechte bürgerliche Welt, von der die gefallene Heldin verstoßen wird. 20 Und sie muss zu diesem Zweck jeweils auf eigene Vorstellungen und Empfindungen zurückgreifen. Die Lektüre führt auf diese Weise zur Ausdehnung der Interiorität der Leserin auf die gesamte fiktive Welt. Weil literarische Texte immer nur durch einen Transfer zwischen Leser und Text Gestalt gewinnen, können sie zugleich als Ort für die Artikulation von radikal subjektiven Erfahrungsdimensionen fungieren. Der den literarischen Text konstituierende Transfer kann auf diese Weise zu einer imaginären Selbstermächtigung der Leserin führen, aber nicht im vordergründigen Sinne einer narzisstischen Selbstidealisierung, sondern im Sinne einer imaginären Selbsterweiterung. 21 Wir gewinnen Erfahrungs-, Gefühls- und Selbstwertdimensionen hinzu, die uns bisher vorenthalten geblieben sind oder die wir zurückgewinnen wollen. 22 Es geht somit nicht um eine Expansion des Ich in Richtung Allmachtsphantasie, sondern um die Artikulation einer Potentialität der Leserin. 20 Carol J. Clover schreibt dazu: „We are both Red Riding Hood and the Wolf; the force of the experience, the horror, comes from ‚knowing‘ both sides of the story […]“ (Clover 1989: 95). Die oft zu findende, aber selten konkretisierte Charakterisierung der Fiktion als einem Ort, an dem auch innere Konflikte, z.B. zwischen der Artikulation oder Kontrolle eines Begehrens, dramatisiert werden können, gewinnt durch das Transfermodell neuen Gehalt. Auch dazu findet sich bei Clover eine interessante Beobachtung: „Observers unanimously stress the readiness of the ‚live‘ audience to switch sympathies in midstream, siding now with the killer and now, and finally, with the Final Girl“ (ebd.: 113). 21 In diesem Prozess der Selbsterweiterung spielt auch die Mediengeschichte, wie Marshall Mc- Luhan im Konzept der medialen Körperausweitung gezeigt hat, eine zentrale Rolle. Die Selbsterweiterung kann reichen von der Konversionserfahrung, die ein neues reflexives Verhältnis zu sich selbst begründet, bis hin zum Schock, durch den der Leser überwältigt und zumindest vorübergehend in seiner Ich-Kontrolle bedroht wird. Ästhetische Erfahrung kann nicht auf einen dieser Erfahrungsmodi festgelegt werden, sondern eröffnet ein breites Feld von Möglichkeiten zwischen gesteigerter Selbstreflexivität und immer intensiverer Immersion. Beides kann als Selbsterweiterung angesehen werden und sei es im zweiten Fall auch nur im Sinne einer Begegnung mit der eigenen Affektivität oder Körperlichkeit. 22 Siehe Wilshire, der aus phänomenologischer Perspektive über die Theatererfahrung schreibt: „I suggest that the bodily and communal fictive variation that is theatre supplies me with the communally constituted missing parts of my own experiencing body“ (26). Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 19 3. Der Artikulationseffekt der Fiktion In der Lektüre eines literarischen Textes wird es durch die Notwendigkeit eines Transfers möglich, Vorstellungen, Gefühle und Körperempfindungen zu artikulieren, die bisher gar nicht oder nicht hinreichend artikuliert werden konnten - sei es, weil sie im gegebenen gesellschaftlichen Umfeld noch tabuisiert sind, sei es, weil die Gesellschaft bisher kein gesteigertes Interesse an der Vorstellungs- und Gefühlswelt des Rezipienten gezeigt hat. Man sollte den Artikulationseffekt der Fiktion daher nicht modernistisch oder avantgardistisch auf sein Potential zur kulturellen Grenzüberschreitung oder „Schwellenerfahrung“ verengen. 23 Er ist weitergehender. Es ist in der Tat denkbar, dass die Leserin eines sentimentalen Romans „verbotene“ Phantasien in die Lektüre einbringt, aber es ist ebenso gut möglich, dass sie den Konflikt zwischen Versuchung und Tugendhaftigkeit primär als Kampf um die Anerkennung einer - heroisch mit sich selbst ringenden - Figur versteht, die bisher keine hinreichende Aufmerksamkeit gefunden hat. (Sentimentale Romane sind daher häufig Cinderella-Geschichten). 24 In beiden Fällen werden „unsichtbare“ imaginäre Anteile im literarischen Text untergebracht - eine Gratifikation, die mit jeder neuen Lektüre 23 Mein Verständnis von ästhetischer Erfahrung als imaginärer Selbsterweiterung steht - zumindest auf den ersten Blick - im Gegensatz zu drei gegenwärtig oft zu findenden Ansätzen, ästhetische Erfahrung zu definieren: als intensivierte Form von Erfahrung, wenn nicht gar als „Epiphanie“ (Gumbrecht 2003), als „transformatives“ Medium der Wahrnehmungsveränderung und „Schwellenerfahrung“ (Fischer-Lichte 2003) und schließlich als Quelle von Emergenz, Kreativität und kulturellem Wandel. Für alle diese Definitionsansätze gilt, dass sie ästhetische Erfahrung nicht als einen basalen Erfahrungsmodus beschreiben, sondern mit bestimmten positiven bzw. außergewöhnlichen Wirkungen gleichsetzen. Gewiss werden auf diese Weise Effekte benannt, die wünschenswert sind, aber als ein Modus des Umgangs mit fiktionalen Texten und ästhetischen Objekten kann die ästhetische Erfahrung damit nicht hinreichend beschrieben werden. Sie ist keineswegs auf Texte oder Objekte beschränkt, die uns durchrütteln oder auf dramatische Weise die Augen öffnen. Auch für diejenigen Manifestationen des Ästhetischen, die nicht zu einer Schwellenerfahrung führen, die aber den Großteil unserer Erfahrungen des Ästhetischen ausmachen dürften, gilt jedoch, dass sie qua Transfer realisiert werden müssen und auf diese Weise eine Erfahrung des Dazwischenseins begründen. Die genannten Definitionen des Ästhetischen bleiben letztlich einem modernistischen Bild heroischer Transgression oder Negation verbunden - und stehen damit vor dem ‚postmodernen‘ Problem, dass wir heute täglich mit einer Vielzahl von Formen der ästhetischen Erfahrung konfrontiert werden, die in der Regel nicht zu nennenswerten Formen der Persönlichkeitsveränderung führen. 24 Für Rachel Brownstein (1982) stellt die Literatur eine Form der Selbsterweiterung dar, durch die imaginär auch die eigene Bedeutung gesteigert wird. Das erklärt, warum der Hunger nach „erfundenen“ Geschichten in der Regel in den Phasen der Kindheit und Adoleszenz einsetzt und dort am intensivsten ist, ja gelegentlich sogar ausgesprochenen Suchtcharakter annehmen kann. In seiner Studie der Theatererfahrung betont Wilshire darüber hinaus die „alltägliche“ Dimension, die die imaginäre Selbsterweiterung haben kann: „Theatre thematizes and memorializes events of encounter that otherwise might fly by in our experience and get lost“ (238). „Through the proxy of theatre’s drama we discover actual and possible ‘dramas’ of everyday life in which we are tested and confirmed, both individually and collectively“ (240). Winfried Fluck 20 neuerlich aktiviert werden kann. 25 Eben hierin liegt die Erklärung dafür, dass literarische Texte fernab von ihrem Entstehungskontext immer noch Interesse finden und kulturelle Wirksamkeit entfalten können, obwohl die historische Problemlage selbst längst Geschichte geworden ist. Die Gratifikation literarischer Texte besteht darin, dass sie es uns qua Transfer erlauben, auf eine für andere nicht unmittelbar einsehbare und nachvollziehbare Weise imaginäre Anteile (und damit bisher nicht zum Ausdruck gebrachte Anteile der eigenen Interiorität) zu artikulieren. Unbestimmtheits- und Leerstellen auf der Darstellungsebene des Textes geben wichtige Anstöße für den Transferprozess des Rezipienten, aber sie können nicht die Brauchbarkeit bestimmter Texte für bestimmte Rezipienten erklären. Zur Realisierung eines ästhetischen Objekts in der Vorstellung bedarf es nicht nur der Einbildungskraft, sondern auch eines motivierenden Anknüpfungspunktes, der zum Ausgangspunkt für einen Transferprozess werden kann. Nach der Wiedervereinigung gab es beispielsweise eine kurze Phase in den neuen Bundesländern, in der das eigene Schicksal mit dem der amerikanischen Südstaaten verglichen wurde. Man stelle sich eine Leserin vor, die auf diesem Erfahrungshintergrund einen Roman wie Margaret Mitchells Gone With the Wind (Vom Winde Verweht) liest. Sie hat eigentlich kein besonderes Interesse am historischen Süden und kannte ihn aus offiziellen Sprachregelungen der DDR bisher nur als „Hort reaktionärer Kräfte“. Nun aber wird angesichts aktueller Erfahrungen eine neue Perspektive eröffnet - und damit auch eine neue Möglichkeit für Transferprozesse. Die strukturellen Analogien zwischen zwei „Zivilisationen im Niedergang“, die sich eigentlich für ideell überlegen halten, aber dennoch den materialistischen Invasoren nichts mehr entgegenzusetzen haben, können als Anknüpfungspunkt dafür dienen, analoge Erfahrungen - Gefühle von Kränkung und Demütigung, wie auch trotziger Selbstbe- 25 Das Imaginäre versteht Iser als „diffus, formlos, unfixiert und ohne Objektreferenz. Es manifestiert sich in überfallartigen und daher willkürlich erscheinenden Zuständen, die entweder abbrechen oder sich in ganz anderen Zuständlichkeiten fortsetzen. Deshalb ist auch das Fingieren mit dem Imaginären nicht identisch“ (Iser 1991: 21). Gedacht ist hier vor allem an jenen Strom flüchtiger, dekontextualisierter Assoziationen und Affekte, die unsere Erfahrungs- und Vorstellungswelt ständig begleiten und überfluten, ohne in einen Bedeutungszusammenhang integriert zu sein. Wie ich in meiner Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans, Das kulturelle Imaginäre, ausführe, ist es dabei sinnvoll, zwischen individuellem, „radikalem“ Imaginärem und kulturellem Imaginären zu unterscheiden: „Das kulturelle Imaginäre ist dabei beides: Ort imaginierter Bedeutungen, die zur Artikulation drängen und kulturellen Geltungsanspruch anmelden, und zugleich Fundus von Bildern, Affekten und Sehnsüchten, die das individuelle Imaginäre neuerlich stimulieren und in diesem Prozess unser Wirklichkeitsverständnis fortlaufend herausfordern. Denn der Zuschuß des Imaginären macht aus Wirklichkeit Möglichkeit, um aus imaginierter Möglichkeit neue Wirklichkeit entstehen zu lassen. In diesem Sinne bezieht sich die Analyse des kulturellen Imaginären auf einen Aspekt menschlicher Existenz, der gerade aufgrund seiner so oft kritisierten ‚irrealen‘ Dimension realitätsbildend ist und sich immer wieder als Antrieb für Redefinitionen von Wirklichkeit erweist, die im folgenden weitreichende institutionelle und soziale Konsequenzen haben“ (Fluck 1997: 21). Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 21 hauptung - zu artikulieren, sie auf „unsichtbare“ Weise im Text unterzubringen und auf diese Weise neuerlich zu bestärken. 26 Zwei einander völlig fremde Welten - die im Roman dargestellte Welt der Südstaaten und die einer Leserin in Leipzig - können auf diese Weise in der ästhetischen Erfahrung konvergieren und neuerlich bedeutungsvoll werden. Man mag sogar argumentieren, dass es gerade die Andersartigkeit der beiden Welten ist, die sich als besonders brauchbar für den Zweck imaginärer Selbsterweiterung erweist. Ein Grund dafür liegt in der Rolle, die strukturelle Analogien (einschließlich affektiver Affinitäten) im Transferprozess spielen. Das an sich strukturlose Imaginäre kann sich, so Sartre in seiner Studie des Imaginären, nur artikulieren, wenn es eine Analogie für die eigene Vorstellung und Empfindung findet, 27 wobei der Anknüpfungspunkt von strukturellen Ähnlichkeiten bis hin zu Stimmungsassoziationen reichen kann. 28 Für den Rezeptionsprozess heißt das, dass er in der Regel in segmentierter Form stattfindet: Er erlaubt uns Analogiebildungen zu jedem beliebigen Aspekt des Textes, so dass wir beispielsweise der Figur des Gangsters lediglich eine Haltung heroischer Gegenwehr entnehmen und den kriminellen Kontext ignorieren können. 29 Texte der populären Kultur können daher als subversiv, aber genau so gut als ideologisch affirmativ beschrieben werden, je nach dem Textaspekt, der als Ausgangspunkt für die Analogiebildung dient. Oder, um ein anderes Beispiel heranzuziehen: Selbst noch in den konventionellsten amerikanischen Romanen des viktorianischen Häuslichkeitskults, den sog. domestic novels, finden sich impulsive Elemente der Auflehnung, die in der Rezeption aus dem Gesamtkontext herausgelöst werden 26 Dieser Prozess muss nicht bewusst ablaufen: „Our education, our upbringing, our social position predisposes us to certain cultural choices, yet there is often an unpredictability and surprise in the way that we feel ourselves claimed by some texts and left cold by others“ (Felski 76). 27 Siehe auch Isers Beschreibung der Rezeptionsaktivität, für die die Analogiebildung ebenfalls zentral ist: „In this respect the required activity of the recipient resembles that of an actor, who in order to perform his role must use his thoughts, his feelings, and even his body as an analogue for representing something he is not“ (Iser 1993: 244). Analogiebildung definiert Barbara Stafford als „establishing connections between seemingly unrelated, perhaps even incongruous phenomena“ (2). Zu dieser Verbindung gehört jedoch eine (imaginierte) Gemeinsamkeit: „Analogon [...] is the proportion or similarity that exists between two or more apparently dissimilar things…“ (8). 28 Als basale Form literarischer Darstellung ist die Metapher selbst bereits eine Form, die auf dem Prinzip der Analogiebildung aufbaut: „The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another“ (Lakoff / Johnson 5). Dieser Prozess der Analogiebildung prägt auch die Rezeption. In ihrem Aufsatz „Forms of Self-Implication in Literary Reading“ beschreiben Kuiken et.al. verschiedene Formen der Analogiebildung in der Rezeption durch Similes und Metaphern. 29 Wenn es in einem Schusswechsel Tote gibt, kann uns das dementsprechend kalt lassen, weil wir ganz darauf ausgerichtet sind, eine Analogie zur erfolgreichen Selbstbehauptung des Gangsters zu bilden. Der Tod eines Charakters kann uns andererseits zu Tränen rühren, wo er zur Analogie für ein himmelschreiendes Unrecht wird. Ein- und dasselbe Phänomen - der Tod eines Menschen - kann somit zum Ausgangspunkt sehr verschiedener Analogiebildungen werden. Winfried Fluck 22 können. Der Streit der feministischen Literaturwissenschaft darüber, ob dem Genre die Funktion ideologischer Zurichtung oder symbolischer Ermächtigung zukommt, hat wiederum seinen Grund darin, dass in der Interpretation jeweils Analogien zu unterschiedlichen Szenen und Aspekten des Textes gebildet werden. Tatsächlich sind die Möglichkeiten der Analogiebildung, die sich in der Lektüre eröffnen, nahezu unbeschränkt: Analogien können gebildet werden zwischen dem Leser und verschiedenen Charakteren, dem Leser und einzelnen Eigenschaften bestimmter Charaktere, oder auch zwischen dem Leserempfinden und spezifischen kinetischen bzw. sinnlichen Dimensionen des Textes, die von der Kleidung über die Gestik und bestimmte Körperschemata bis hin zu Stimmungen oder Raumdarstellungen reichen können. Ebenso kann die Analogiebildung auf einer Parallelität von Gefühlen beruhen 30 oder im Bezug auf das Sprachmaterial selbst. 31 Diese Möglichkeit zur praktisch unbegrenzten Analogiebildung vermag die erstaunliche Tatsache zu erklären, dass ein historischer Roman wie Gone with the Wind nicht nur in der amerikanischen Gegenwart immer noch Resonanz finden kann - obwohl diese doch von der Zeit des Bürgerkriegs und auch von der Entstehungszeit des Romans weit entfernt ist -, sondern auch in Ländern und Kulturen, in denen die Plantagenwelt der Südstaaten nicht zum kulturellen Imaginären gehört. 32 Es erklärt zweitens, warum verschiedene Leser und Interpreten ein- und denselben Text ganz verschieden lesen können, denn diese Leser werden je verschiedene Anknüpfungspunkte für ihre Analogiebildungen finden. Und es erklärt schließlich drittens, warum wir selbst ein und denselben Text immer wieder neu lesen können, denn zu verschiedenen Zeiten werden unterschiedliche Erfahrungen den Blick auf je andere Möglichkeiten der Analogiebildung lenken. 33 Dabei haben sich bestimmte Themen und Figuren als besonders 30 Siehe dazu das folgende Beispiel, das Kuiken et.al. aus ihrer empirischen Rezeptionsforschung geben: „For example, one respondent reflecting on an orange colored patch was reminded of a medicine once taken and, according to Bullough, was capable of ‘fusing the emotional memory with the present color-impression.’ [...] In both cases, resonance occurs between explicitly recalled personal memories and some portion of the world of the aesthetic object“ (Kuiken 181- 2). 31 Rita Felski spricht von der Möglichkeit einer „emotional, even erotic cathexis onto the sound and surfaces of words“ (Felski 63). Ein weiteres Feld eröffnet sich, wenn wir diese Überlegungen auf visuelle Darstellungen ausdehnen: „This brings me to the additional, novel claim that the visual arts are singularly suited to provide explanatory power for the nature and function of the analogical procedure“ (Stafford 3). 32 Vgl. Stafford: „Since no form of organization, no matter how encyclopedic, can give complete access to the diversity of existing or imagined things, analogy provides opportunities to travel back into history, to spring forward in time, to leap across continents“ (11). 33 Vgl. dazu die Kritik von Kuiken et.al. an ‚klassischen‘ empirischen Rezeptionsstudien: „Third, studies of reader personality (e.g., Holland 1975) and gender (e.g. Radway 1991) have examined the activities of actual readers to show how their sense of self influences the course of reading. However, they have been primarily concerned with the influence of enduring character traits - and less with the influence of fluctuations in the sense of self that occur during adult life. Moreover, because of their concern with stable personality characteristics, investigators in this tradition have seldom addressed changes in the sense of self […] that may occur through literary reading“ (Kuiken et. al. 174). Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 23 anschlussfähig erwiesen, weil sie in ihrer Sinnoffenheit ein weites Spektrum von Analogien eröffnen oder auch in ihrer überwältigenden Bedrohlichkeit auf besonders nachdrückliche Weise Ängste und Traumata evozieren. Dieser Vorgang der Analogiebildung ist nicht auf den Alltagsleser beschränkt. Obwohl dieser einen größeren Freiraum hat, während der professionelle Interpret einen plausiblen Begründungszusammenhang entwickeln muss, so kann das Phänomen der Analogiebildung auch in der Literaturwissenschaft als leitend angesehen und als ein Grund für die eingangs beschriebene Interpretationsvielfalt verstanden werden. Als Mark Twain seinen Roman Adventures of Huckleberry Finn schrieb, musste er sich an einem Punkt mit dem Problem der Rassenbeziehungen auseinander setzen und tat dies unter anderem in Kapitel 31 des Romans, in dem sich der junge, ungebildete Huck trotz seiner Südstaatensozialisation entschließt, gegen die konventionelle Moral zu verstoßen, seinen Gefährten Jim nicht zu verraten und damit nicht der Sklaverei auszuliefern. Für Lionel Trilling konnte diese Szene des Romans besonders bedeutungsvoll werden, als er seine einflussreiche Interpretation des Romans Ende der 40er Jahre schrieb, denn er sah in ihr eine Analogie für sein eigenes Bemühen um Unabhängigkeit von einer stalinistischen Linken. 34 Hier wird ein Grund erkennbar, warum Literatur trotz ihrer „Irrealität“ und scheinbaren Funktionslosigkeit immer wieder neue Leser und Interpreten findet. Im Gegensatz zu anderen Textsorten eröffnet sie ein nahezu unbeschränktes Feld von möglichen Analogien und schafft damit immer neue Möglichkeiten, eigene Vorstellungen und Empfindungen mit einem Text zu verbinden und ihnen auf diese Weise Anschaulichkeit und Autorität zu geben. Weil diese Analogiebildung spontan und kreativ geschehen kann und darin eine Dimension der Unvorhersehbarkeit besitzt, verleiht sie der Literatur eine quasi inhärent „experimentelle“ Dimension - eine Eigenschaft, die nicht nur dezidiert experimentelle Texte auszeichnet, sondern fiktionale Texte insgesamt charakterisiert. 5. Interiorität und der Mangel der Repräsentation Was aber ist der Antrieb für diesen Prozess unablässiger Analogiebildung? Warum streben wir überhaupt danach, eigene Erfahrungen und imaginäre Anteile mit Hilfe eines Transfers zu artikulieren und erleben ihre Artikulation als eine Form der Selbsterweiterung und Selbstermächtigung? Läuft das hier vorgestellte Erklärungsmodell nicht Gefahr, die gegenwärtig schlimmste aller literar- und kulturtheoretischen Sünden zu begehen, nämlich die, eine Art vor-diskursives Erfahrungssubstrat anzusetzen, das nach authentischem Ausdruck drängt? Eine solche Setzung wäre in der Tat theoretisch unhaltbar. Auch unser vermeintlich Innerstes ist durch ein kulturelles Imaginäres geprägt, das als Fundus für unsere Vorstellungs- und Gefühlswelt fungiert. Damit ist dennoch nicht gesagt, dass Diskurs und Interiorität identisch sind 34 Siehe dazu Jonathan Aracs Analyse in seinem Buch ‘Huckleberry Finn‘ as Idol and Target. The Functions of Criticism in Our Time. Für Arac beginnt die „ Hyperkanonisierung“ des Buches mit Trillings Interpretation in der Einführung zur Riverside-Edition. Winfried Fluck 24 - wobei Interiorität hier verstanden wird als ein Gemisch von bildlichen Vorstellungen, diffusen Stimmungen und Affekten bis hin zu körperlichen Empfindungen, das niemals vollständig dargestellt und zum Ausdruck gebracht werden kann. Zwar können wir uns immer nur über Sprache artikulieren, und auch die Einschreibung eigener imaginärer Anteile in einen literarischen Text stellt eine derartige Diskursivierung des Imaginären dar, das zudem bereits kulturell geprägt ist. Dennoch suchen wir nach immer neuen Möglichkeiten der Artikulation, denn das strukturlos-diffuse Imaginäre, das auf diese Weise veräußerlicht und sozialisiert wird, ist nicht mehr identisch mit dem Imaginären, das tatsächlich zum Ausdruck kommt. Einerseits erhält das diffuse Imaginäre eine Struktur und wird auf diese Weise darstellbar, 35 aber immer nur um den Preis seiner Reduktion. Wir sagen „Ich liebe Dich“ oder „Ich leide“ und können auf diese Weise unseren Zustand mitteilen, aber nur um den Preis, dass das ganze Ausmaß von Vorstellungen und Wünschen, Gefühlen und Stimmungen, das wir mit diesem Zustand verbinden, mit diesen Worten gerade nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Aus dieser Nicht-Identität ergibt sich der Antrieb zu immer neuen Versuchen, das radikale Imaginäre und das kulturelle Imaginäre doch noch deckungsgleich zu machen. Das, was fiktionale Texte so brauchbar macht als Medium der Artikulation - die Möglichkeit, imaginäre Anteile quasi unsichtbar an (sprachliche oder visuelle) Zeichen zu heften und ihnen auf diese Weise zum Ausdruck zu verhelfen - ist daher zugleich der Grund für die Unvollständigkeit und Unabschließbarkeit des Prozesses, der mit jeder Lektüre neuerlich stimuliert wird. Die Tatsache, dass die Rezeption eines fiktionalen Textes besondere Möglichkeiten der Analogiebildung eröffnet, macht die Fiktion einerseits eminent brauchbar für diese immer neuen Anläufe, aber es verleiht der Lektüreerfahrung andererseits auch eine Dimension des Provisorischen, denn die Analogie kann ja immer nur eine Annäherung sein: „Analogy, born of the human desire to achieve union with that which one does not possess, is also a passionate process marked by fluid oscillations. Perceiving the lack of something - whether physical, emotional, spiritual, or intellectual - inspires us to search for an approximating resemblance to fill its place“ (Stafford 2). Weil wir unser Inneres, einschließlich unseres Körperempfindens, auf diese Weise nie vollständig zum Ausdruck bringen können, drängen wir immer wieder aufs Neue zur Artikulation. Der fiktionale Text eröffnet für diese Suche nach Artikulation besondere Potentiale. Eine der stärksten Erfahrungen, die er vermitteln kann, ist die der Entdeckung unerwarteter Affinitäten. Lesen kann ein Abenteuer sein. Es eröffnet die Möglichkeit, uns in eine andere, fremde Welt einzuschreiben und kann auf diese Weise zur Erfahrung einer Selbsterweiterung und Selbstermächtigung beitragen. Zugleich gilt aber, dass durch das, was dieses Einschreiben begünstigt - das Faktum nämlich, dass es durch die parasitäre Anbindung an ein fremdes Zeichen 35 Absentes erlangt auf diese Weise eine Präsenz, wie Wilshire im Hinblick auf das Theater betont: „Theatre is a perceptual and physiognomic mode of giving presence to absence and concealment“ (31). Doch ist das, was Präsenz erlangt, nicht mit jenem Absenten identisch, das nach Präsenz drängt. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 25 erfolgt und somit keine explizite, sondern eine indirekte Artikulation darstellt -, zugleich ein Problem geschaffen wird, denn da anderen das ganze Ausmaß des Artikulationseffekts verborgen bleiben muss, können wir ihn immer nur im Prozess der ästhetischen Erfahrung erleben und ihn langfristig nur dadurch sichern, dass wir die durch fiktionale Texte vermittelte ästhetische Erfahrung immer wieder von neuem suchen. 36 So entsteht der Lesehunger, und welchen anderen Grund könnte es dafür geben, dass sich Menschen über Fernsehen, Film, Literatur und andere Medien der Vermittlung ästhetischer Erfahrung unablässig und jeden Tag von neuem fiktivem Material aussetzen, das genau genommen keinerlei Nutzen und Nährwert hat, also „funktionslos“ ist, von dem sie aber offensichtlich dennoch nicht lassen wollen? Der Grund für die unablässige Suche nach Artikulation liegt in der Unfähigkeit der Darstellung, unserer Interiorität vollen Ausdruck zu geben, und ästhetische Objekte können diesen Mangel immer nur um den Preis überbrücken, ihn im Prozess der Artikulation zugleich neuerlich zu stimulieren. 6. Die Suche nach Anerkennung Mit dieser Beschreibung des Rezeptionsprozesses stellt sich nun allerdings die Frage nach der Brauchbarkeit des Konzepts für einen funktionsgeschichtlichen Ansatz im weitergehenden Sinne. Bisher habe ich beschrieben, worin ich die Funktion literarischer Texte und anderer ästhetischer Objekte sehe und welche speziellen Artikulationsmöglichkeiten durch sie eröffnet werden, aber ich habe noch nichts über die Rolle dieses besonderen Darstellungspotentials in einem umfassenderen kulturellen und sozialen Kontext gesagt. Oder anders ausgedrückt: Auch die Beschreibung einer ästhetischen Funktion macht letztlich nur Sinn auf dem Hintergrund einer weitergehenden Annahme über die Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit, Relevanz oder Irrelevanz des Phänomens im Zusammenhang von Gesellschaft und Kultur. Auch ein funktionsgeschichtlicher Ansatz, der von einer Theorie der ästhetischen Erfahrung ausgeht, muss logischerweise mit einem umfassenderen kulturgeschichtlichen Erklärungsmodell verbunden sein, das es explizit zu machen gilt. 37 36 Kuiken et al. bezeichnen diese „Arbeit“ an einem Thema, Motiv oder Affekt als „expressive enactment“, d.h. als konstante Arbeit an der Modifikation und Optimierung des Artikulationseffekts. 37 Vgl. dazu Jürgen Peper: „Doch wenn Kulturtheorie ohne Kulturwissenschaften wie etwa Kunst- und Literaturgeschichte leer ist, dann sind Kunst- und Literaturgeschichte ohne eine orientierende Kulturtheorie blind. Beide sind aufeinander angewiesen“ (Peper 2002: x). Zum russischen Formalismus heißt es bei Peper dementsprechend: „Der russische Formalismus hat Literatur und Kunst die Eigenständigkeit eines sich entwickelnden Systems mit wirklichkeitsbildender Kraft zugestanden. Das war schon sehr, sehr viel. Aber das Woher und das Wohin dieser Entwicklung blieben unerkennbar. Statt einer zielgerichteten Entfaltung bot er nur das interessante, aber zielblinde Prinzip ständiger Entautomatisierung und Erneuerung der Wirklichkeitswahrnehmung durch innovative ästhetische Techniken an. Die äußere Geschichte blieb ausgeblendet“ (ebd.: xi). Winfried Fluck 26 Nehmen wir ein Beispiel, mit dem nicht nur die Unabdingbarkeit einer umfassenderen Funktionshypothese verdeutlicht werden kann, sondern auch die Differenz zu traditionellen funktionsgeschichtlichen Ansätzen. In einem Aufsatz mit dem Titel „Romance with America“ habe ich kürzlich die Geschichte des Faches Amerikastudien (einschließlich der Amerikanistik) auf eine neue und unorthodoxe Weise zu beschreiben versucht: nicht als Antwort auf Wissenslücken oder als Resultat einer systematischen Wissenssuche, sondern als Geschichte wechselnder imaginärer Besetzungen. Denn aus der hier vertretenen Perspektive lebt ein Fach, das sich mit literarischen Texten und anderen ästhetischen Objekten befasst, wesentlich von der imaginären Anziehungskraft seiner Gegenstände. In den deutschen Amerikastudien waren das anfangs die amerikanische Moderne und später die Postmoderne, danach, aber früher als in anderen Fächern, Medien und populäre Kultur, die eine kulturwissenschaftliche Ausweitung nahe legten, die das Fach für viele interessant machte. Diese Objekte spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, aber fragt man heute nach jenen Texten und Objekten, die Studierende am meisten faszinieren, dann stößt man unweigerlich auf die Themenfelder Ethnizität und Race (als Synonym für nicht-weiße Ethnien). Aus traditioneller funktionsgeschichtlicher Perspektive müsste das Phänomen der Dominanz ethnischer Literatur (im weiteren, race umfassenden Sinne) als Antwort auf ein wachsendes Problembewusstsein erscheinen, dass die ethnischen Minderheiten in den USA Diskriminierung und anderen gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen ausgesetzt waren (und immer noch sind). Die Erklärung dafür, warum ethnische Literatur in den gegenwärtigen Amerikastudien, auch hierzulande, so populär ist, würde dann darin liegen, dass sich Leser und Interpreten in einem politisch bewussten Akt für diese Minderheiten einsetzen. Dementsprechend würde eine Interpretation beispielsweise den ethnischen Roman daraufhin betrachten, inwieweit er die Lage der ethnischen Minderheiten angemessen darstellt, die verschiedenen Formen von offener und versteckter Diskriminierung aufzeigt und auf diese Weise zu einer Politik der Anerkennung beiträgt. Aus der hier verfolgten Perspektive würde sich dagegen die Frage stellen, welche Transfermöglichkeiten der ethnische Roman und die ethnische Kultur bieten. Man würde dann sehr bald darauf stoßen, dass es in diesen Romanen vor allem um das Drama von Missachtung und fehlender Anerkennung geht bzw. um die Transformation von scheinbarer Minderwertigkeit in Wert, von Diskriminierung zu Ermächtigung - etwas, was sich als emotionales Drama vom konkreten gesellschaftlichen Anlass ablösen lässt und besonders brauchbares und eindringliches Material für Analogiebildungen ergibt. Die Beschäftigung mit dem ethnischen Roman ist so gesehen mehr als nur ein politischer Akt, obwohl sie das auch sein kann. Sie ist immer auch eine Suche nach besonders eindringlichen Analogien für Erfahrungen von Missachtung und Kränkung einerseits, dem Wunsch nach imaginärer Selbstermächtigung über einen „Anderen“ andererseits. Diesem Anderen sind im ethnischen Roman in der Regel bestimmte nicht-bürgerliche Eigenschaften zu eigen, die dem weißen Leser verloren gegangen zu sein scheinen und die daher ideal geeignet sind für den Zweck einer imaginären Selbsterweiterung. Ansonsten wäre nicht nachvollziehbar, warum Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 27 der ethnische Roman eine derart breite Resonanz auch bei Lesern findet, für die er identitätspolitisch keine Funktion hat. Für eine funktionsgeschichtliche Interpretation aber würde das heißen, dass der Roman nicht nur als Darstellung einer gesellschaftlichen Problemlage bzw. als Antwort auf sie interpretiert wird, sondern dass darüber hinaus auch jene Elemente in der Interpretation in den Vordergrund rücken, die sich als besonders analogieträchtig erwiesen haben. Das Beispiel scheint mir gut geeignet, um auf weitergehende soziale und kulturelle Funktionen literarischer Texte (und anderer ästhetischer Objekte) hinzuweisen. Der Grund für unsere immer neuerliche Zuwendung zu literarischen Texten - das war bis zu diesem Punkt mein Argument - ist darin zu sehen, dass aus der nie ganz zu überbrückenden Nicht-Identität von sprachlicher Repräsentation und Interiorität ein Bedürfnis nach immer neuer Artikulation entsteht. Durch die ästhetische Erfahrung, die sie ermöglichen, stellen literarische Texte dafür besondere Möglichkeiten der imaginären Selbsterweiterung bereit. Eine alternative Möglichkeit, denselben Sachverhalt zu beschreiben, ist die, zu sagen, dass diese imaginären Anteile auf diesem Wege Anerkennung finden können, denn sie gewinnen Gestalt und Präsenz. Die Literatur kann als ein Pioniermedium für die Artikulation von Ansprüchen des Individuums angesehen werden, die auf diesem Wege in die Kultur eingebracht werden können. Diese Anerkennung findet auf zwei Ebenen statt: in der Artikulation des Imaginären, durch die dieses Gestalt gewinnt und eine Erfahrung von Selbsterweiterung verschafft, und auf einer weitergehenden kulturellen Ebene in der Anerkennung, die der Text findet. Sein symbolisches Kapital erweist sich in diesem Kontext auch für den individuellen Leser als nützlich. Man denke daran, wie wichtig es im Kulturbetrieb nach wie vor ist, auf der Höhe der Zeit zu sein und nicht „von gestern“. Wenn meine zentrale funktionsanalytische Prämisse stimmt, dass Interpretationen erst durch bestimmte Vorannahmen über den Gegenstand möglich werden, dann betrifft das auch Annahmen über weitergehende politische, soziale und psychische Funktionen. Auch hier gilt, dass es keinen Ansatz gibt, der ohne solche Annahmen auskommt. Der New Criticism beispielsweise macht erst wirklich Sinn, wenn man sein - südstaatlich geprägtes - Gesellschaftsverständnis einbezieht, in dem der Literatur eine bestimmte Rolle als Gegenwelt zu einer vom Materialismus bestimmten Gesellschaft der Moderne zukommt (die mit den Nordstaaten assoziiert wird). Die Konjunktur des Formalismus in der Literaturwissenschaft Nachkriegsdeutschlands war wesentlich von dem weitergehenden Ziel motiviert, die Literatur dem Zugriff der Ideologie zu entziehen. Ansätze, die von der Kritischen Theorie geprägt sind, gehen von einer Moderne der fortschreitenden instrumentellen Vernunft aus und analysieren Kultur im Hinblick darauf, inwieweit sie sich dieser systemischen Logik verweigert; der Poststrukturalismus hat dieses Gesellschaftsverständnis weiter radikalisiert. Dagegen wird vom Pragmatismus und den British Cultural Studies die Kreativität des Alltagshandelns betont, weil daraus die politische Hoffnung auf eine Winfried Fluck 28 selbstbestimmte und genuin demokratische Politik des common man bzw. der Arbeiterklasse abgleitet werden kann. 38 Meine eigenen Überlegungen zur gesellschaftlichen und kulturellen Funktion von Literatur lassen sich mittlerweile am besten mit dem Konzept einer Suche nach Anerkennung beschreiben, der sich durch die Literatur neue Möglichkeiten eröffnen. Dabei kann ich die Konturen des Arguments hier nur andeuten: Weil wir sonst nicht wüssten, wer wir sind, bedürfen wir der Anerkennung durch andere, und weil diese Anerkennung durch andere in der Moderne aus einer Reihe von Gründen immer instabiler und unzuverlässiger geworden ist, kommt der Kultur eine immer wichtigere Rolle für die Anerkennungssuche zu. 39 Dabei hat sie, wie gesehen, einen unschätzbaren Vorteil. Durch den Transfer, durch den wir literarische Texte und ästhetische Objekte zum Leben erwecken, kann die imaginäre Selbsterweiterung des Lesers indirekt und probeweise erfolgen. In der Kunst können Dinge artikuliert werden, die im „realen“ Leben nicht aussprechbar zu sein scheinen. Aber unabhängig davon, ob diese Funktionshypothese einer symbolisch erweiterten Anerkennungssuche qua Literatur und anderen ästhetischen Objekten als überzeugend erscheint oder nicht, verweist sie noch einmal auf den zentralen Aspekt des hier vorgestellten funktionsanalytischen Ansatzes: Interpretationen werden erst durch eine Reihe von Vorannahmen möglich, die wir uns nicht immer - in der Tat viel zu selten - vor Augen führen. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht dennoch gegeben und prägend sind. Die Literaturwissenschaft wird erst an jenem Punkt hinreichend selbstreflexiv werden, an dem sie ihre Interpretationsansätze zusammen mit diesen Vorannahmen analysiert. 7. Transfer als narrative Refiguration Wenn ein wesentliches Element der Rezeption literarischer Texte in imaginären Anteilen besteht, die durch einen Transfer zur Artikulation gelangen, dann stellt sich allerdings abschließend die Frage, was dann überhaupt noch Sinnvolles über den Interpretationsprozess gesagt werden kann. Was das Transfer-Modell zu erklären vermag, ist jenes Phänomen, von dem dieser Aufsatz seinen Ausgangspunkt nahm, nämlich die Frage, warum eine Interpretation nie identisch sein wird mit einer anderen und warum daher Interpretationsdivergenzen einen unvermeidlichen Bestandteil der Literaturwissenschaft darstellen. Besteht aber der Motor dieser Abweichung gerade in dem, was im Transfer-Prozess an „unsichtbaren“ imaginären Anteilen eingebracht wird, dann scheinen wir damit zugleich von jeder objektivierbaren Analyse und Diskussion dieses Prozesses abgeschnitten zu sein. Zwar können wir die 38 Eine umfassende, systematische Aufarbeitung dieser die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Ansätze fundierenden Gesellschaftsbegriffe steht noch aus. 39 Eine ausführlichere Darstellung dieses Sachverhalts und seiner Konsequenzen für die Interpretation der amerikanischen Literatur und Kultur findet sich in meinem Aufsatz „Tocqueville’s Legacy: Towards a Cultural History of Recognition“, der in der Zeitschrift Amerikastudien / American Studies erscheinen wird. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 29 Struktur des Prozesses mit Begriffen wie Transfer beschreiben, aber nicht seine Inhalte und auch nicht seine jeweils konkreten sozialen oder psychischen Funktionen, denn die Konsequenz meiner Beschreibung des Lektüreakts besteht ja gerade darin, dass dieser diese Funktionen in unvorhersehbarer, nicht selten idiosynkratischer Weise einlöst. Genau genommen ist ästhetische Erfahrung nicht kommunizierbar. Und dennoch können wir uns ihr auf sinnvolle Weise annähern, wenn wir nicht vom Text, sondern umgekehrt von dessen Rezeption als unserer Quelle ausgehen. Denn für diese Rezeption gilt, dass jede Beschreibung der durch den Transferprozess geprägten Realisierung des Textes zugleich als Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung fungiert. Das Objekt der ästhetischen Erfahrung ist weder auf der Ebene der Darstellung gegeben, noch in einem „inneren Zustand“ des Lesers, sondern in jenem intermediären Vorstellungsraum, in dem sich beide treffen und miteinander verbinden. Dieser Vorstellungsraum ist nicht direkt zugänglich, sondern nur indirekt in der Rezeption. Wo Leser oder professionelle Interpreten es unternehmen, ihre eigene Rezeption zu beschreiben, wird ein neuer, zweiter Text geschaffen, und diese narrative Refiguration kann als ein Dokument ästhetischer Erfahrung angesehen werden. Insofern kann die kritische Rezeptionsgeschichte eines Werkes auch als Fundus für die Analyse von Transferprozessen dienen. Und insofern muss die Rezeptionsgeschichte integraler Bestandteil der Literaturgeschichte bleiben und die Arbeitsteilung der Konstanzer Schule in die komplementären Perspektiven Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsästhetik erweist nachträglich noch einmal ihren guten Sinn. Rezeptionen sind unser einziger Zugang zur ästhetischen Erfahrung anderer. Die Geschichte der Rezeption eines literarischen Textes und die Leserforschung sind insofern beide integrale Bestandteile der Literaturwissenschaft. Sie bilden keinen Gegensatz und stellen Theorien ästhetischer Erfahrung nicht in Frage, sondern liefern ihnen wertvolles Material. Beide stellen Formen der Interpretation dar, die durch einen Transfer zustande kommen; beide bringen immer neue, unerwartete und darin „originelle“ Lesarten des Textes hervor, die diesen in einem neuen Licht erscheinen lassen; beide schaffen auf diese Weise einen Fundus von Möglichkeiten der Analogiebildung, durch die das imaginäre Anschlusspotential des literarischen Textes immer wieder von neuem ausgelotet und erweitert wird. Damit aber erscheint auch das eingangs aufgeworfene Problem der Interpretationsdivergenz in einem neuen Licht: Was anfangs aus der Perspektive einer sinnfixierten Textinterpretation als irritierende Proliferation erschien, kann nunmehr umgekehrt als erfreulich reichhaltiges Quellenmaterial verstanden werden. Winfried Fluck 30 Literaturverzeichnis Appleyard, J.A. 1991. Becoming a Reader: The Experience of Fiction from Childhood to Adulthood. New York: Cambridge UP. Arac, Jonathan. 1997. ‚Huckleberry Finn’ as Idol and Target. The Functions of Criticism in Our Time. Madison: U of Wisconsin P. Brownstein, Rachel M. 1982. Becoming a Heroine: Reading about Women in Novels. New York: Penguin. Clover, Carol J. 1989. „Her Body. Himself. Gender in the Slasher Film.“ In: Fantasy and the Cinema. James Donald (Hg.). London: BFI. 91-133. Esrock, Ellen J. 1994. The Reader’s Eye. Visual Imaging as Reader Response. Baltimore: Johns Hopkins UP. Felski, Rita. 2008. Uses of Literature. Oxford: Blackwell. Fischer-Lichte, Erika. 2003. „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung.“ In: Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Joachim Küpper und Christoph Menke (Hgg.). Frankfurt/ Main: Suhrkamp. 138-161. Fluck, Winfried. 1997. Das kulturelle Imaginäre: Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans, 1790-1900. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. -----. 2000. „The Search for Distance: Negation and Negativity in the Literary Theory of Wolfgang Iser.“ In: New Literary History 31: 1. 175-210. -----. 2002a. „The Role of the Reader and the Changing Functions of Literature: Reception Aesthetics, Literary Anthropology, Funktionsgeschichte.“ In: European Journal of English Studies, 6. 253-271. -----. 2002b. „Aesthetics and Cultural Studies.“ In: Aesthetics in a Multicultural Age. Emory Elliott, Louis Freitas Caton und Jeffrey Rhyne (Hgg.). Oxford, New York: Oxford UP. 79-103. -----. 2003. „Aesthetic Experience of the Image.“ In: Iconographies of Power. The Politics and Poetics of Visual Representation. Ulla Haselstein, Berndt Ostendorf und Peter Schneck (Hgg.). Heidelberg: Winter. 11-41. -----. 2004. „Ästhetische Erfahrung und Identität.“ In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 49: 1. 9-28. -----. 2005. „Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung.“ In: Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Marion Gymnich und Ansgar Nünning (Hgg.). Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. 29-53. -----. 2007. „Playing Indian. Media Reception as Transfer.“ In: Figurationen 2. 67-86; neu abgedr. in: American Studies as Media Studies. Frank Kelleter und Daniel Stein (Hgg.). Heidelberg: Winter, 2008. 73-92. -----. 2009. „American Studies and the Romance with America: Approaching America Through Its Ideals.“ In: Romance with America? Essays on Culture, Literature, and American Studies. Heidelberg: Winter. 87-104. Gallagher, Catherine und Stephen Greenblatt. 2000. Practicing New Historicism. Chicago: Chicago UP. Gumbrecht, Hans Ulrich. 2003. „Epiphanien.“ In: Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Joachim Küpper und Christoph Menke (Hgg.). Frankfurt/ Main: Suhrkamp. 203-222. Iser, Wolfgang. 1976. Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München: UTB. ---. 1989. „Representation: A Performative Act.“ In: Prospecting: From Reader Response to Literary Anthropology. Baltimore: Johns Hopkins UP. 236-61. ---. 1991. Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Funktionsgeschichte und ästhetische Erfahrung 31 Kuiken, Don, David S. Miall und Shelley Sikora. 2004. „Forms of Self-Implication in Literary Reading.“ In: Poetics Today 25: 2. 171-203. Lakoff, George und Mark Johnson.1980. Metaphors We Live By. Chicago: U of Chicago P. Peper, Jürgen. 2002. Ästhetisierung als Aufklärung: Unterwegs zur demokratischen Privatkultur. Eine literarästhetisch abgeleitete Kulturtheorie. Berlin: John F. Kennedy-Institut. Sartre, Jean Paul. 2004. The Imaginary. London: Routledge. Stafford, Barbara Maria. 1999. Visual Analogy. Consciousness as the Art of Connecting. Cambridge, MA.: MIT P. Tischleder, Bärbel. 2000. ‚Body Trouble’: Entkörperlichung, Whiteness und das amerikanische Gegenwartskino. Frankfurt/ M: Strömfeld. Travis, Molly. 1998. Reading Culture: The Construction of Readers in the Twentieth Century. Carbondale, Ill.: Southern Illinois P. Williams, Linda, 1994-95. „Review of Judith Mayne, Cinema and Spectatorship.“ In: Film Quarterly 48: 2. 56-7. Wilshire, Bruce. 1982. Role Playing and Identity. The Limits of Theatre as Metaphor. Bloomington: Indiana UP. Literatur und Psychosomatik Marion Schmaus I. Der psychosomatische Diskurs Die Psychosomatik oder die psychosomatische Medizin beginnt sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA als medizinische Fachdisziplin zu etablieren. Der Begriff ‚Psychosomatic Diseases‘ erhält ab 1957 einen eigenständigen Eintrag im Index Medicus. 1 Die Begrifflichkeit ‚psychisch-somatisch‘ (Heinroth) oder ‚somatischpsychisch‘ (Nasse) ist allerdings sehr viel älter. Sie entwickelt sich in der Debatte zwischen Psychikern und Somatikern in der frühen deutschen Psychiatrie der 20/ 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, in der über den Vorrang der Seele oder des Körpers in einer ganzheitlichen Behandlungspraxis gestritten wird. Die Verständigung über den leibseelischen Zusammenhang ist durch den Idealismus und die Naturphilosophie geprägt und sie bleibt auch im Weiteren an diesen Entstehungszusammenhang und den deutschsprachigen Raum gebunden. Im frühen 20. Jahrhundert werden der Begriff Psychosomatik und das entsprechende medizinische Verständnis beinahe ausschließlich von der Psychoanalyse getragen. Mit der historischen Zäsur des Nationalsozialismus vollzieht sich dann auch eine wissenschaftsgeschichtliche im Hinblick auf den psychosomatischen Diskurs. Die fast ausnahmslos jüdischen Psychoanalytiker werden verfolgt, getötet oder ins Exil vertrieben. Der bis dato deutschsprachige Diskurs institutionalisiert sich darum in den USA als eine medizinische Fachdisziplin. In Deutschland handelt es sich bei der Psychosomatik nach 1945 um eine Rückübersetzung aus dem Amerikanischen und um ein Wiederanknüpfen an Wissenschaftstraditionen, die während des Nationalsozialismus zum Schweigen gebracht und exiliert wurden. Thure von Uexkülls Habilitationsschrift Probleme und Moeglichkeiten einer Psycho-Somatik erscheint 1948, und Viktor von Weizsäcker entwickelt seinen Beitrag zur Psychosomatik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse. Die zeitgenössische psychosomatische Medizin vertritt mehrheitlich einen ‚holistischen‘ Ansatz jenseits des philosophischen Dilemmas von Dualismus und Monismus. Leib und Seele werden als eine untrennbare, systemische Einheit aufgefasst, deren Funktionsweise empirisch zu beobachten ist und therapeutisch modifizierbar 1 Vgl. Current List of Medical Literature 31 (1957), N. 1-4, S. II. In den vorherigen Jahrgängen ab 1951 war der Eintrag ‚Psychosomatic Diseases‘ nur als Verweis auf ‚Disease, physical-mental relationships‘ vorhanden. ‚Psychosomatic Medicine‘ wird erst 1960 in den Cumulated Index Medicus aufgenommen. Marion Schmaus 34 sei. Eine Definition dieses Holismus lautet: „The core postulate of the holistic viewpoint is that the notions of mind and body refer to inseparable and mutually dependent aspects of man“. 2 Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack sprechen von einem wissenschaftlichen Modell, das es erlaubt, „Hypothesen über ein wechselseitiges Einwirken seelischer Vorgänge auf körperliche und umgekehrt aufzustellen und zu erproben.“ 3 Grundlegend für ein solches Modell sei eine neue, systemtheoretische Definition von Körper und Seele. Unter dem Körper wird ein relativ geschlossenes, hierarchisch gegliedertes, arbeitsteiliges System - die Stoffwechselvorgänge im Körperinneren - verstanden. Mit der Seele entsteht ein offenes System, das durch seine Phantasietätigkeit eine Umwelt aufbaut und mit Bedeutung versieht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Psyche ist demnach „Produkt einer Phantasieentwicklung“, und seelische Funktionen sind diesem Modell zufolge schon auf der Ebene des vegetativen Lebens anzusetzen. Der Wechsel vom Körper zur Seele bedeutet einen Wechsel der Integrationsebene und einen ‚Bedeutungssprung‘ bzw. eine ‚Bedeutungskoppelung‘. Das Bedürfnis des Systems Körper nach Eiweiß, Mineralstoffen etc. übersetzt sich in eine als Nahrung deklarierte Bedeutung der Umwelt. Die Leib-Seele-Umwelt-Beziehungen stellen sich so als ein Ineinandergreifen und als Übersetzungsvorgänge zwischen gänzlich verschiedenen Handlungen oder Funktionen dar. Die Verwertung von Kohlenhydraten in Zellen wird mit einer Handlung gekoppelt, die einen Gegenstand in der Umwelt aufsucht und verzehrt oder zu diesem Zweck hoch komplexe sprachliche Interaktionen mit anderen Individuen unternimmt. „Die geheimnisvolle Grenze zwischen Körperlichem und Psychischem läßt sich so als Ergebnis einer - in der individuellen Entwicklungsgeschichte entstandenen - unübersehbar großen Anzahl von Bedeutungskoppelungen zwischen einem körperlichen und einem psychischen Systemanteil auffassen.“ 4 Durch Begriffe wie Phantasieentwicklung, Bedeutungskoppelung und Übersetzungstätigkeit scheint hinter diesem holistischen Ansatz zeitgenössischer Psychosomatik die Vorgeschichte eines psychosomatischen Diskurses durch, in dem sich Literatur, Philosophie und Medizin verbunden haben, im Vorhaben den ganzen Menschen in seiner sozialen Umwelt zu verstehen. Im Nachdenken über den Zusammenhang von Literatur und Psychosomatik geht es allerdings nicht allein darum die Vorgeschichte einer modernen medizinischen Fachdisziplin zu erzählen, sondern es soll ein Gesprächszusammenhang rekonstruiert werden, der wohl weder einzeldisziplinär noch je zu beenden sein wird: Der ganze Mensch ist empirisch nicht vollständig erfassbar, er bleibt eine 2 Zbigniew Jerzy Lipowski: „What Does the Word ‚Psychosomatic ‘ Really Mean? A Historical and Semantic Inquiry.“ In: Psychosomatic Medicine 46, 1984, H. 2, S. 153-171, S. 159. Eine allgemeinere philosophische Definition lautet: „Holism is the idea that the elements of a system have significance in virtue of their interrelations with each other.“ Samuel Guttenplan (Hg.): A Companion to the Philosophy of Mind. Oxford (UK), Cambridge (USA) 1995, S. 347. 3 Thure von Uexküll/ Wolfgang Wesiack: „Das Leib-Seele-Problem in psychosomatischer Sicht.“ In: Thure von Uexküll (Hg.): Lehrbuch der psychosomatischen Medizin. München, Wien, Baltimore 1979, S. 56-71, S. 68. 4 Ebd., S. 70. Literatur und Psychosomatik 35 Utopie. 5 Literatur und Ästhetik treten als Anwältin dieser Einsicht auf und rufen diese in erkenntnis- und sprachkritischen Gesten in Erinnerung. Mit Johann Gottfried Herders ästhetischer Programmschrift Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume von 1778 etwa könnte eine Geschichte des psychosomatischen Diskurses ihren Anfang nehmen. Dort wird das Erleben leibseelischer Ganzheit in den ästhetischen Erfahrungsraum verwiesen und zugleich formuliert, dass die schöne menschliche Gestalt „gleichsam nie ganz zu ertasten“ sei, wir „taste[n] gewissermaßen immer unendlich“. 6 Von einem psychosomatischen Diskurs - verstanden als interdisziplinäre Auseinandersetzung um den ganzen Menschen im Zeitalter der Erfahrungswissenschaften - kann erst im ausgehenden 18. Jahrhundert gesprochen werden. Die Bedingungen für das Nachdenken über die leibseelische Einheit Mensch verändern sich durch die Ausbildung der empirischen Wissenschaften Anthropologie, Psychologie und Psychiatrie zu dieser Zeit nachhaltig. Die jahrtausendealte humoralpathologische Ausrichtung der Medizin wandelt sich durch die neuen Erkenntnisse der Nervenphysiologie. Durch die Einführung wissenschaftlicher Standards von Beobachtung und Experiment sowie die Entdeckung des von Johann Christian Reil betitelten „Nerven-Menschen“ 7 vollzieht sich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Körper und Seele. Der in stetem Austausch mit seiner Umwelt befindliche humoralpathologische Körper wird nun von einem durch die festen Grenzen der Haut umschlossenen Körper abgelöst, der nur noch taktil mit der Außenwelt in Verbindung steht. Zugleich wird die Seele an- und ausgebaut, bis sie schließlich als Oberhaupt über den ganzen Menschen präsidieren darf. Beide Metaphernfelder, das architektonische und das politische, finden sich. Die Nerven erscheinen nun als Mittler zwischen Leib und Seele. Seele und Seelenorgan, das Gehirn, rücken in diesem Zuge in die Position einer Schaltzentrale dieses komplexen, systemisch arbeitenden Gefüges auf. Heilverfahren, die sich direkt an die Seele wenden, gewinnen an Bedeutung. Im Hinblick auf die psychosomatische Fragestellung kann Reils Konzeption ‚psychischer Kurmethoden‘ als zentrale therapeutische Neuerung des ausgehenden 18. Jahrhunderts festgehalten werden, seine Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803) skizzieren ein diesbezügliches Forschungsprogramm. Wie der 5 Auf die seit der Aufklärung erkenntnis- und wissenschaftskritische Dimension der Rede vom ganzen Menschen hat Dietrich Rössler aufmerksam gemacht: „Die Formel <g.M.> ist zunächst Postulat und darüber hinaus nicht ohne weiteres greifbar. Es liegt in ihrer Logik, daß sie selbst nicht Objektivierbarkeit beansprucht, da sie gegen die einzelwissenschaftliche oder einseitige Objektivation des M. gerade aufgeboten wird.“ Art. Mensch, ganzer. In: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5 (L-Mn). Basel 1980, Sp. 1106-1111, Sp. 1108. Emphatischer noch von Utopie zu sprechen, macht im Kontext der Literatur Sinn, die diesem Ungreifbaren eine virtuelle Bleibe schafft oder es zumindest als bleibende Mahnung präsent hält. 6 Johann Gottfried Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787. Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Hgg. von Jürgen Brummack/ Martin Bollacher. Frankfurt/ M. 1994, S. 314, 316. 7 Reil zeichnet den „Nerven-Menschen“ als Kunstwerk, Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803, S. 112. Marion Schmaus 36 Titel Rhapsodieen indiziert, besinnt sich Reil auch auf alte Formen psychischer Heil- Kunst im Wortsinn, die nun erfahrungswissenschaftlich systematisiert werden sollen. Dementsprechend spielen Sprach-, Musik- und Theatertherapie in seinem Text eine wichtige Rolle. In dieser Formierungsphase des psychosomatischen Diskurses wird die Verbindung von Kunst und Medizin sowohl innermedizinisch wie auch zwischen den Fakultäten diskutiert. 8 Es lassen sich fünf zentrale Elemente des psychosomatischen Diskurses festhalten: 1. Der ganze Mensch als Analysegegenstand und zugleich implizite Utopie; 2. Zeitkrankheiten als Phänomenologie psychosomatischer Krankheitsbilder; 3. Psychogenese der Krankheit und psychische Kurmethoden als wichtige therapeu ti sche Neuerung im ausgehenden 18. Jahrhundert; 4. Psychiker versus Somatiker als begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung der Psychosomatik in der psychiatrischen Debatte im frühen 19. Jahrhundert; und schließlich 5. die biographische Erkenntnis als charakteristische wissenschaftliche Methode, die Kranken- und Lebensgeschichte miteinander verbindet. II. Literatur und Psychosomatik Der vorliegende diskursanalytisch-kulturgeschichtliche Ansatz ist an der disziplinären Verschränkung von Medizin, Philosophie und Literatur im psychosomatischen Diskurs interessiert. Er beschränkt sich allerdings nicht allein auf die Machtanalytik der von Michel Foucault bis in die 70er Jahre praktizierten Methodik, sondern nimmt den konstruktiven, unter dem Vorzeichen einer Hermeneutik des Selbst formulierten 8 Zur Verbindung von Literatur und Anthropologie sowie Medizin siehe insbesondere die Melancholie-Studien: Raymond Klibansky/ Erwin Panofsky/ Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studie zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt/ M. 1990; Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968; Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt/ M. 1998; Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, Weimar 1997. Siehe im Weiteren: Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen 1993; Anke Bennholdt-Thomson/ Alfredo Guzzoni: Der ‚Asoziale‘ in der Literatur um 1800. Königstein/ Ts. 1979; Jutta Osinski: Über Vernunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklärung in der Gegenwart und im 18. Jahrhundert. Bonn 1983; Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989; Simon Richter: Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain. Winckelmann, Lessing, Herder, Moritz, Goethe. Detroit 1992; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999; Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. Zu Literatur und Medizin siehe: Rita Wöbkemeier: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart 1990; Dietrich von Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. 2 Bde. Hürtgenwald 1991, 2000; Walter Erhart: „Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Forschungsbericht.“ In: Scientia Poetica 1, 1997, S. 224-267; Bettina von Jagow/ Florian Steger (Hgg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005. Literatur und Psychosomatik 37 Impetus seines Spätwerks auf und arbeitet darum ebenso Formen der Ermächtigung durch Sprache und Schrift heraus. Literatur bleibt mithin nicht in ihrer Rolle als Gegendiskurs und also in einer binären Logik befangen, in der sie stets unterliegt. Sie soll in ihrer funktionellen Rollenvielfalt wahrgenommen werden. Der Austausch von Wissen, Codes und Begriffen zwischen den Disziplinen wird untersucht, also nach Jürgen Link eine ‚Interdiskursivitätsanalyse‘ vorgenommen. Es lässt sich die „für die Moderne grundlegende Dialektik zwischen Diskursspezialisierung und interdiskursiver Reintegration des durch Spezialisierung produzierten Wissens“ 9 verfolgen. Spezialisierung und Reintegration sind dabei keineswegs einseitig in den Wissenschaften oder der Literatur beheimatet. Beide Domänen, Literatur und Wissen, sind durch einen historisch anwachsenden Spezialisierungs- und Reintegrationsdruck gekennzeichnet. Die psychosomatische Fragestellung fordert Interdiskursivität in besonderem Maße heraus; die Wahrnehmung des ganzen Menschen bringt diskursive Vernetzungen ebenso hervor wie disziplinäre Konkurrenz. Und im Weiteren ist die mediale Produktivität der Psychosomatik festzuhalten. Es entstehen hybride Sprach-, Text- und Kunstformen sowie neue Genres, wenn der leibseelische Zusammenhang zur Darstellung gebracht oder therapiert werden soll. Essay, Fallgeschichte, Zeitschrift, Krankenblatt, Gutachten sowie Singspiel, Bildungsroman, Tragikomödie, Autobiographie, Drama und Novelle wären zu nennen. Es bedarf des Zusammenspiels verschiedener Textformen und Gattungen, um dem modernen Menschen ganzheitliche Erfahrungsräume zugänglich zu machen, um Affektabfuhr zu ermöglichen, um Einsicht in eine Krankheit zu liefern oder um exaktes Wissen von der Leib-Seele-Interaktion zu generieren. Kulturwissenschaft wird hier dezidiert als Kulturgeschichtsschreibung ausgelegt, nach dem Dilthey-Motto: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte“. 10 Mit Wilhelm Dilthey und Sigmund Freud als Ahnherren dieser Form von Kulturgeschichtsschreibung wird das Geschichtenerzählen ethisch qualifiziert. Die Psychoanalyse bringt im Blick in die Vergangenheit ein zwar schmerzhaftes, aber heilsames Wissen hervor, sie formuliert die Gleichung von Verstehen und Heilung. Dilthey begreift die Kultur eines Zeitalters analog zur Person als konkrete, lebendige Einheit und Strukturzusammenhang. In kulturellen Objektivationen sedimentiert sich eine ästhetische und ethische Qualität des Zusammenhängens - etwa von Körper und Seele oder von Individuum und Gesellschaft -, die im verstehenden Nachvollzug abgelesen werden kann. Kulturgeschichte ist so programmatisch auch Ästhetik- und Ethikgeschichte. Die Verbindung von Psychopathologie und Literatur, von Wahnsinn und Dichtung ist alt, wie u.a. der antike Topos vom ‚Furor poeticus‘ belegt. Im 18. Jahrhundert erlangt die Verbindung jedoch eine neue Qualität, insofern sie nun in pragmati- 9 Jürgen Link: „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik.“ In: Jürgen Fohrmann/ Harro Müller (Hgg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/ M. 1988, S. 284-307, S. 285. Link geht davon aus, dass „der literarische Diskurs struktural-funktional wie generativ am ehesten als auf spezifische Weise elaborierter Interdiskurs“ zu begreifen ist, ebd., S. 286. 10 Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. VIII. 6. Aufl. Göttingen 1991, S. 226. Marion Schmaus 38 sche Handlungszusammenhänge einrückt und empirisch erprobt wird. In der Aufklärung erscheint die Literatur bzw. die Kunst insgesamt gemeinsam mit dem ihr spezifischen Vermögen der Einbildungskraft als eine Krankheitsursache ersten Ranges. Entsprechende Krankheitsbilder sind etwa die Lesesucht, das Werther-Fieber, die Theatromania und die Empfindsamkeits-Krankheit. Auch die religiösen Wahnbildungen werden auf eine pathologische Einbildungskraft zurückgeführt. Die Literatur entwickelt angesichts dieser Problemlage verschiedene Strategien: Sie akzeptiert die Diagnose und erfindet Therapien aus ihrem eigenen Bestand. Pathographie und Kunsttherapie sind Resultate dieses Bemühens. Goethes an Schiller adressierte Äußerung vom 25. November 1797 führt ins Zentrum der Literatur und Ästhetik der Goethezeit: „Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet“. 11 Zwischen Pathographie und Therapie bleibt der Literatur als eine weitere Funktion allerdings auch die Konkurrenz zu den empirischen Wissenschaften. Sie wendet sich zum Gegenangriff und unterzieht ihrerseits das vernünftige Zeitalter einer scharfen Kritik. So erscheint in Herders Ästhetik der vergeistigte europäische Gelehrtenkörper als ein Sinnbild des kulturellen Verfalls. Abgrenzung und Austausch zwischen Literatur und Wissenschaft lässt sich im Folgenden anhand der Fallgeschichte des Delinquenten Johann Christian Woyzeck veranschaulichen. Die Erkenntnismethode, die sich hier literarisch und wissenschaftlich allmählich herausbildet, verschränkt die Krankenmit der Lebensgeschichte und lässt sich als biographische oder genetische Methode bezeichnen. In der Auffassung der Krankheit als Telos des Lebens und in der ganzheitlichen Wahrnehmung des Patienten, d.h. gleichermaßen seiner inneren und äußeren Geschichte, beerben Psychologie, Psychiatrie und Forensik die Literatur in ihren methodischen und darstellerischen Qualitäten. Seit Christian Friedrich von Blanckenburg 1774 in seinem Versuch über den Roman das Genre auf die Darstellung der Geschichte eines „wirklichen, einzelnen Menschen, eines wahren lebenden Individuums“ 12 verpflichtet hat, verfeinert die Literatur in verschiedenen Genres, im psychologischen Roman, im Bildungsroman, in der literarischen Autobiographie und in der Fallgeschichte ihre Techniken der Darstellung des Menschen in seiner psychophysischen Befindlichkeit und in seinem Milieu. So prägt sie Wahrnehmungsweisen vor, die für eine Wissenschaft wie die Psychosomatik, die sich dem Menschen als einem psycho-bio-sozialen Phänomen 13 annehmen will, von Interesse ist. 11 Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919, Bd. IV/ 12, S. 361. 12 Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz 1774. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Ernst Lämmert. Stuttgart 1965, S. 458. 13 Uexküll und Wesiack nehmen den Menschen als „somato-psycho-soziales Phänomen“ wahr, Lipowski spricht von „biopsychosocial“ und Meyer/ Lamparter von einem „bio-psychosozialen Modell“, Thure von Uexküll/ Wolfgang Wesiack: „Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde.“ In: Uexküll, Lehrbuch der psychosomatischen Medizin (wie Anm. 3), S. 7-21, S. 9; Lipowski, „What Does the Word ‚Psychosomatic’ Really Mean? A Historical and Semantic Inquiry“ (wie Anm. 2), S. 154; Adolf-Ernst Meyer/ Ulrich Lamparter: Literatur und Psychosomatik 39 Schließlich kann sich Literatur aber auch als eine Metareflexion über Urteilsstrukturen der Wissenschaft und der eigenen Tradition verstehen. Dies ließe sich - wie nun skizziert werden soll - an Georg Büchners Woyzeck zeigen. Das Dramenfragment nimmt zum psychiatrisch-forensischen Woyzeck-Diskurs, zu den Naturwissenschaften der Zeit und zu den eigenen Gattungsbezügen eine Haltung methodischkritischer Distanz ein und entwickelt eine alternative Form, Individualität ganzheitlich zur Sprache zu bringen, ohne sie zum Fall zu machen. Damit rückt die Literatur in Konkurrenz zur Wissenschaft als Methodenreflexion. III. Psychiker versus Somatiker: Der Fall Woyzeck Mit Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck und dem ihm zugrunde liegenden historischen Fall des am 27. August 1824 auf dem Marktplatz in Leipzig hingerichteten Johann Chrisian Woyzeck nähern wir uns der Geburtsstunde des Begriffs ‚Psychosomatik‘. Als erstes Dokument, das das Wort beinhaltet, gilt das Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung (1818) von Johann Christian August Heinroth. In Gestalt des Adjektivs ‚psychisch-somatisch‘ taucht es dort auf. Im zweiten praktischen Teil des Lehrbuchs ist unter § 313 zur Schlaflosigkeit zu lesen: „Gewoehnlich sind die Quellen der Schlaflosigkeit psychisch=somatisch, doch kann auch jede Lebenssphaere fuer sich allein den vollstaendigen Grund derselben enthalten. Wir schlafen schon in gesunden Tagen nicht, wenn ein Gegenstand unser Interesse lebhaft beschaeftigt; eben so flieht uns der Schlaf, wenn ein Blut= ein Nerven= ein Haut= ein Unterleibs=Reiz uns in bestaendiger Aufregung erhaelt; wenn beyderley Einfluss zusammentrifft: desto schlimmer.“ Später werden die Therapiemöglichkeiten einer Melancholie aufgrund der „tiefen, psychisch=somatischen Wurzeln des Uebels“ 14 eingeschränkt. Wenige Jahre danach, 1822 wird Friedrich Nasse bereits sehr viel programmatischer von einer neu zu gründenden Disziplin mit dem möglichen Namen „Psycho=Somatologie“ oder „Psycho=Physiologie“ sprechen. Sie sei ein Teilbereich der Anthropologie, genauer gesagt deren dritter, mit dem „Ganzen der Menschennatur“ befasster Teil. Teil eins handelt von der „Naturgeschichte des Menschen“, Teil zwei von „Psychologie und Physiologie“. Diese neue Wissenschaft soll jene Lücke schließen, die sowohl durch die Trennung der alten Fakultäten, wonach die „Seele den Philosophen, der Leib den Aerzten“ 15 gehört, als auch durch die Scheidung der modernen, erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Disziplinen Psychologie und Physiologie bislang offen gelassen wurde. „Vorwort.“ In: Adolf-Ernst Meyer/ Ulrich Lamparter (Hgg.): Pioniere der Psychosomatik. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte ganzheitlicher Medizin. Heidelberg 1994, S. 1-7, S. 3. 14 Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Zwey Theile. Leipzig 1818, Zweyter oder praktischer Theil, S. 49f., 222. 15 Christian Friedrich Nasse: „Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit.“ In: Zeitschrift fuer psychische Aerzte, mit besonderer Beruecksichtigung des Magnetism 5, 1822, S. 1-35, S. 1f., 11f., 15f., 27. Marion Schmaus 40 Heinroth wird als prominenter Vertreter der Psychiker in die Psychiatriegeschichtsschreibung eingehen, Nasse als Somatiker. Es handelt sich um zwei alternative Auffassungen vom ganzen Menschen, die im Hinblick auf ihre Grundannahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele und im Hinblick auf Krankheitsursachen, Symptome sowie Therapien vieles gemeinsam haben, in ihrer wissenschaftlichen Methodik und dem Berufsprofil hingegen differieren. Es ist weitgehend ein theoretischer Dissens, der noch keine therapeutisch-praktischen Konsequenzen zeitigt. Für die Patienten gibt es in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts nur einen Seitenzweig der Psychiatrie, in dem die Frage Psychiker oder Somatiker tatsächlich zu einer von Leben und Tod wird, und das ist die Gerichtspsychiatrie. Am medizinisch-juristischen und literarischen Fall Woyzeck lässt sich dies verfolgen. Die wichtigsten Eckdaten zum Prozessverlauf seien hier angemerkt. 16 Am 2. Juni 1821 ersticht der 41jährige entlassene Soldat und arbeitslose Friseur Johann Christian Woyzeck seine zeitweilige Geliebte Johanna Christiane Woost. Auf Antrag der Verteidigung wird der Leipziger Stadtphysikus, Hof- und Medizinalrat Johann Christian August Clarus mit einer psychologischen Begutachtung des Angeklagten betraut. Nach fünf Gesprächen mit Woyzeck legt Clarus am 16. September ein Gutachten mit dem Ergebnis vor, er habe kein Merkmal gefunden, „welches auf das Daseyn eines kranken, die freye Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden, Seelenzustandes zu schließen berechtige.“ 17 Nachdem Sachverständige Bedenken gegen das am 11. Oktober 1821 verhängte Todesurteil äußerten, wird das Verfahren 1822 wiedereröffnet und Clarus mit einem zweiten Gutachten beauftragt, das Woyzeck erneut für zurechnungsfähig erklärt. Aufgrund dieses Gutachtens wird Johann Christian Woyzeck am 27. August 1824 öffentlich auf dem Marktplatz von Leipzig hingerichtet. Seit 1790 hatte man in dieser Stadt keine Hinrichtungen mehr vorgenommen. 18 Clarus’ zweites Gutachten war in Gestalt einer behördlich genehmigten Publikation 1824 gleichsam als Flugschrift zur Hinrichtung veröffentlicht worden, 1825 wurde es erneut in der renommierten Zeitschrift für die Staatsarzneikunde von Adolph Henke publiziert. Dieses zweite Gutachten wurde zum Ausgangspunkt einer regel- 16 Ausführlich siehe hierzu: Johann Christian August Clarus: „Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmässig erwiesen.“ In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 1825, 4. Ergänzungsheft, S. 1-97. Wiederabdruck in: Hans Mayer: Georg Büchner Woyzeck. 14. Aufl . Frankfurt/ M., Berlin 1993, S. 75-126, S. 79- 82; Burghard Dedner (Hg.): Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Stuttgart 2000, S. 161-166; Georg Büchner: Woyzeck. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Marburger Ausgabe Bd. 7.2. Hg. von Burghard Dedner. Darmstadt 2005, S. 350-354. 17 Johann Christian August Clarus: „Früheres Gutachten des Herrn Hofrath Dr. Clarus über den Gemüthszustand des Mörders Joh. Christ. Woyzeck, erstattet am 16. Sept. 1821. Nebst einem Vorworte des Herausgebers.“ In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 1826, 5. Ergänzungsheft, S. 129-149, S. 148. 18 Darauf verweist Clarus in seinem Vorwort, vgl. „Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmässig erwiesen.“ In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 1825, 4. Ergänzungsheft, S. 1-97. Wiederabdruck in: Mayer, Georg Büchner Woyzeck (siehe Anm.16), S. 76. Literatur und Psychosomatik 41 rechten Woyzeck-Debatte, in der sich Psychiker und Somatiker, liberale und restaurative Justiz gegenüberstanden. 19 Als dezidiert somatische Äußerung ist das Gegengutachten von Carl Moritz Marc zu werten, der Clarus vorwirft, eine tatsächliche körperliche Erkrankung Woyzecks übersehen zu haben. Als Psychiker schaltet sich Heinroth, der Namensgeber der Psychosomatik, in die Woyzeck-Debatte ein. Der Fall des trunksüchtigen Woyzeck, der seine Geliebte ermordet hat, bietet Heinroth die ideale Anwendung, um seinen Begriff von selbstverschuldeten Seelenstörungen als Resultat eines ‚lüderlichen‘ Lebenslaufes und ‚verwilderter Sitten‘ publik zu machen. Im Streitfall Woyzeck profilieren sich zwei einander überschneidende Themenkomplexe. Mit den Schriften von Marc und Heinroth entwickelt sich die Auseinandersetzung zu einer somatisch-psychischen Grundsatzdebatte, bei der die Wechselwirkung von Erkrankungen des Körpers und der Seele zur Disposition steht. Und zugleich sind es die spezifischeren Krankheitsbilder von psychischen Partialerkrankungen und ihre möglichen Konsequenzen hinsichtlich der Frage der Zurechnungsfähigkeit, die zu einer grundsätzlichen Verhandlung über die Willensfreiheit führen. Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Georg Büchner mit dem forensischen Woyzeck-Diskurs gut vertraut war - das zeigt die minutiöse Einarbeitung der Gutachten in das Drama. Büchners Umgang mit dem Woyzeck-Material ist im Detail durch äußerste Genauigkeit gekennzeichnet, so werden die Symptome des historischen Woyzeck sorgfältig nachgezeichnet und wörtliche Rede aus den Clarus- Gutachten zitiert. In den Grundstrukturen weist es jedoch unter Ausnützung der durch den Gattungswechsel von der Prosa der Gerichtsgutachten zum Drama sich bietenden Möglichkeiten massive Abweichungen auf. Die Dramatisierung Woyzecks kann als Ermächtigung der Woyzeck-Stimme gelesen werden, die gleichsam aus den diskursiven Umstellungen der Gerichtspsychiatrie, den Deutungen von Clarus, Marc, Heinroth u.a., befreit wird und nun wieder für sich selbst sprechen darf. In diesem Zuge werden nicht allein die Diskursbedingungen und Urteilsstrukturen der Forensik beleuchtet, sondern die moderne Auffassung des Menschen in der disziplinären Vielfalt von Wissenschaft, Militär, Religion, Moral und Kunst. In seinem ästhetischen Kommentar im Zusammenhang mit dem Geschehen um Woyzeck vollzieht Büchner eine Demokratisierung des Diskurses, die mit zwei grundlegenden Strategien arbeitet: einmal mit der Aufwertung unterlegener Sprecherpositionen, und einmal mit der Abwertung von Autoritäten. Dies gelingt Büchner, indem er die sich erst nach Woyzecks Hinrichtung entspinnende gerichtspsychiatrische Debatte in die Handlungszeit des Dramas hineinverlegt. Es werden uns die letzten zwei, drei Tage vor dem Mord und dieser selbst geschildert. Das führt zur paradoxen Lage, dass Woyzeck den Agenten der Gerichtspsychiatrie in Gestalt von Doktor und Professor 19 Zum Folgenden siehe: Georg Büchner: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt/ M. 2002, Bd. I, S. 714-729 (Kommentar); Dedner, Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck, (siehe Anm. 16), S. 167-177; Büchner, Woyzeck. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile (siehe Anm. 16), S. 333-349; Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt/ M., Bern, New York 1985, S. 10-19, 45-49, 55-58. Marion Schmaus 42 gleichsam schon vor der begangenen Tat in die Hände fällt. Dies lässt sich als literarische Realisierung von Foucaults Diktum lesen: Die Justiz, Kriminologie, Psychiatrie und das Gefängnis habe im 19. Jahrhundert „den ‚Kriminellen’ vor dem Verbrechen und letzten Endes sogar unabhängig vom Verbrechen“ 20 geschaffen. Tathergang und Urteil werden in Büchners Drama so ineinander geschoben, dass zwischen beiden ein ursächlicher Zusammenhang besteht. So ergeht das Urteil, die Diagnose des Doktors „aberratio mentalis partialis“, 21 vor dem begangenen Mord, und der Menschenversuch an Woyzeck, das Ernährungsexperiment des Doktors, kann wiederum ursächlich für die Erkrankung und den Mord (mit-)verantwortlich gemacht werden. Durch die Darstellung von Woyzecks Weg zur Tat und gleichzeitiger Schilderung der Verurteilungen entsteht im dramatischen Präsens eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die weitaus komplexere Wirkungszusammenhänge in Szene setzt als die forensische Debatte. Büchners dramatische Darstellung tritt in bewusste Konkurrenz zur forensischen, indem nicht die Biographie des einzelnen erzählt wird, sondern die Geschichte von Erfahrungsstrukturen, die Subjekt und Objekt, Täter und Opfer gleichermaßen prägen. So bleiben die als Individuen gezeichneten Figuren des Stücks, Woyzeck und Marie, ohne Vergangenheit, hingegen wird die Geschichte von Krankheitsbildern, Berufen, sozialen Ordnungen, wissenschaftlichen Einstellungen, Versuchsanordnungen und Methoden berichtet. Dies lässt sich exemplarisch an den Doktor-Szenen veranschaulichen. Dort zeigt sich als ein weiteres Charakteristikum von Büchners Umgang mit dem Woyzeck-Material, die Einarbeitung neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse aus den 1830er Jahren. Die zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich veraltete gerichtspsychiatrische Debatte der 20er Jahre wird durch Aufnahme der von Charles Bell, Johannes Müller u.a. vorgelegten Erkenntnisse zum Reflexbogen aktualisiert. Der Mensch zeigt sich als Reflexwesen. In seiner Dissertation hatte sich Büchner selbst an dieser Grundlagenforschung beteiligt, indem er z.B. den Irisreflex der Flussbarben untersuchte. 22 Den rasanten naturwissenschaftlichen Fortschritt der 1830er Jahre hat Büchner in den beiden überlieferten Doktor-Szenen seines Dramenfragments zur Darstellung gebracht, nach der Poschmann-Ausgabe handelt es sich um die Szenen 2,6 und 3,8. Hier wird eine Auseinandersetzung zwischen Doktor und Woyzeck geschildert, in der ersterer seine wissenschaftliche Hilfskraft und sein Versuchsobjekt Woyzeck an seine vertraglichen Pflichten gemahnt. An Woyzeck wird ein Ernährungsexperiment - eine Erbsendiät - durchgeführt, das durch Harnproben kontrolliert werden soll. Der naturwissenschaftlich-medizinische Fortschritt wird in diesen Szenen in die Figur des Doktors hinein verlegt. Dieser wandelt sich binnen weniger Zeilen vom Naturphilosophen und Psychiker zum somatisch orientierten Empiriker. Mit seinem in 2,6 skizzierten Sammelprojekt - Woyzeck wurde beauftragt, „Frösche“, „Laich“, 20 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/ M. 1994, S. 324. 21 Die Werke Georg Büchners werden im Folgenden nach der Ausgabe zitiert: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt/ M. 2002, hier Bd. I, 210. 22 Siehe hierzu ausführlich Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). Tübingen 2009, S. 246-256. Literatur und Psychosomatik 43 „Süßwasserpolypen“, „Hydra, Vestillen Cristatellen“ (I, 196) zu besorgen - verfolgt der Doktor „naturkundlich-klassifikatorische Interessen des 18. Jahrhunderts (Linné, Buffon)“. 23 Sein moralisierender Ton zu Beginn der Szene, „Die Welt wird schlecht sehr schlecht“, und die unbedingte Koppelung des Menschseins an die Willensfreiheit verorten ihn im Lager der Psychiker. Beides, Moral und Willensfreiheit, führt er gegen Woyzeck zu Felde, der, anstatt wissenschaftlich verwertbar beim Doktor zu urinieren, „auf die Straß gepißt hat“. Woyzeck beruft sich diesbezüglich auf seinen natürlichen Drang, „wenn die Natur aus ist“, den der Doktor jedoch als „Aberglaube“ nicht gelten lässt. Auch der „musculus constrictor vesicae“ sei „dem Wille unterworfen“. Eine so prosaische Angelegenheit wie der Blasenschließmuskel gibt dem Doktor Gelegenheit zu einem emphatischen Plädoyer: „Woyzeck der Mensch ist frei, im Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit“ (I, 195f.). Man kann bei diesen Äußerungen an den Büchner aus eigener Anschauung bekannten Gießener Naturphilosophen Wilbrand denken, dem sich die „Herrschaft des geistigen Lebens“ auch an der „Verdauung“ 24 und Entleerung zeigt. Aber auch Heinroth kommt in den Sinn, dem in seinen Begriffsspekulationen zum Fall Woyzeck jegliche Form der Aktivität zum Indiz der Willensfreiheit und mithin der Zurechnungsfähigkeit wurde und dem ergo auch das Urinieren zu solchen Aussagen animieren müsste. Allerdings lässt sich in den Doktor-Szenen auch eine besondere somatische Pointe erkennen. Denn die hier vorgenommene Korrelation von Pissen und Willensfreiheit erinnert an psycho-physiologische Analogieverhältnisse von Intelligenz und Kopf, Gefühl und Brust, Begehren und Unterleib, die u.a. Nasse vertreten hat und denen zufolge „das Willensvermögen sich hauptsächlich durch die Ganglien und Nervengeflechte des Unterleibs kund gäbe.“ 25 Während Woyzeck also in korrekter Sprache der Somatiker seinen Unwillen gegen das Experiment unter Zuhilfenahme des Unterleibs zum Ausdruck bringt, antwortet der Doktor anfänglich in der Sprache der Psychiker mit dem Hinweis auf die vernünftige Willensfreiheit. Die Doktor-Szenen forcieren so die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen als satirisches Darstellungsmittel, indem Woyzeck und Doktor in gegenläufigen Entwicklungsschritten aneinander vorbeireden und der Figur des Chiasmus gemäß die Rollen tauschen: Woyzeck schreitet vom natürlich-somatischen Ausdruck mit dem Wunsch, im Buch der Natur zu lesen, zur älteren Naturphilosophie zurück, während der Doktor vom anfänglichen Psychiker zum modernen Somatiker mutiert in seiner Diagnose von Woyzecks partiellem Wahnsinn. Darüber hinaus kann das Plädoyer für die Willensfreiheit auch auf die zeitgenössische Forensik zurückgeführt werden, die in ihr gerade in Abgrenzung zum Tier das Wesen des Menschen sah. 26 23 Dedner, Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck (siehe Anm. 16), S. 177. 24 Johann Bernhard Wilbrand: Physiologie des Menschen. Gießen 1815, zit. nach Dedner, Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck (siehe Anm. 16), S. 180. 25 Franz Amelung: „Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten.“ In: ders./ Friedrich Bird (Hgg.): Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten. Bd. 1. Darmstadt, Leipzig 1832, S. 110-290, S. 118. 26 Vgl.: „Durch Vernunft und Freiheit erhebt sich der Mensch über das Thier“, Adolph Henkel, zit. nach Dedner, Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck (siehe Anm. 16), S. 40. Marion Schmaus 44 Und schließlich lässt sich im Kontext der Szenen 2,6 und 3,8 auf den Wandel in der physiologischen Forschung in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Ausscheidungsfunktionen aufmerksam machen. Verschiedentlich wird noch das ältere Galensche Modell vertreten, demzufolge alle Verrichtungen des vegetativen und animalischen Lebens vom Gehirn kontrolliert werden, das Gehirn sogar als ‚Ausscheidungsorgan‘ zu apostrophieren ist. Als fortschrittlicher erweisen sich die Annahmen eines autonomen vegetativen Nervensystems, das alle grundlegenden Vitalfunktionen auch unabhängig vom Gehirn trägt und mit den Ganglien eigenständige Nervenzentren besitzt, die als ‚kleine Gehirne‘ durch den Körper geistern. Erst eine technische Neuerung, das Mikroskop, brachte in den 30er Jahren dann für Johannes Müller, Remak, Henle und Volkmann letztliche Klarheit über die Mikrostruktur der Nerven und damit auch über die funktionelle Unabhängigkeit des vegetativen vom Zentralnervensystem, aber auch über deren Verbindung. Noch ohne Mikroskop, sondern nur mit einer „loupe“ (II, 114) in der Hand, war Georg Büchner in seiner Dissertation über das Nervensystem der Flussbarben genau an dieser Verbindung interessiert, für deren genaue Bestimmung fehlte ihm jedoch die technische Ausstattung. In seinem Drama ist der Doktor besser ausgerüstet, neben der Lupe wird in 2,6 auch ein Mikroskop erwähnt. Der Wandel vom Galenschen Modell zum komplexeren kleidete sich in theologisch-politische Metaphorik. Laut Charles Bell hat sich seit Galens Zeit die Hypothese gehalten, „that the brain presides over the body“. 27 Mit den ‚kleinen Gehirnen‘ verbanden sich also auch ein Aufstand des Körpers und eine Demokratisierung dieses monarchischen Prinzips. Das Streitgespräch des Doktors mit Woyzeck über den Harndrang, in dem der eine den Willen auch zum Herrscher über den Blasenschließmuskel erklärt, während der andere die Weisheit der Natur bemüht, lässt sich also ebenso im Hinblick auf diesen zeitgenössischen Disput in der Physiologie lesen. In seiner Fürsprache für die Natur beweist Woyzeck sogar leib-seelisches rhetorisches Geschick, indem er nicht allein die Wort-, sondern auch die Körpersprache verwendet. Insbesondere die überarbeitete Fassung der Szene (3,8) akzentuiert diese zeichentheoretische Dimension. Anlass des Gesprächs ist ja, dass Woyzeck im „auf die Wand pissen“ seiner Natur freien Lauf gelassen hat und mit dieser Äußerung als bezahltes Versuchsobjekt, das seinen Urin beim Doktor abzuliefern hat, einen Vertragsbruch nach Wort und Schrift begangen hat. Dieser hält ihm vor: „Ein Mann von Wort“, „Ich hab’s schriftlich, den Akkord in der Hand“. Durch die auffällige Sprach- und Schriftmetaphorik wird Woyzecks auf der Wand hinterlassene Nachricht zumindest im äußeren Kommunikationssystem des Dramas als ein in natürlichen Zeichen formulierter Einspruch gegen die Versuchsanordnung des Doktors lesbar. In Johannes Müllers Handbuch der Physiologie erscheint das „unwillkürliche Harnlassen“ als natürliche Reaktion „nach zu langem Zurückhalten des Harns“, 28 wozu Woyzeck per Vertrag ver- 27 Zit. nach Edwin Clarke/ Leon S. Jacyna: Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts. Berkeley, Los Angeles, London 1987, S. 29. 28 Johannes Müller: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Bd. 1. Coblenz 1834, S. 334. Literatur und Psychosomatik 45 pflichtet worden ist. Der Körper verweigert sich so dem Experiment. Auch im inneren Kommunikationssystem des Dramas wird diese Weigerung dann von Woyzeck verbal aufgenommen und weitergeführt: „Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt“, und zwar unter gleichsam strategischer Mitsprache des Körpers: „Aber mit der Natur ist’s was andres, sehn sie mit der Natur er kracht mit den Fingern das ist so was, wie soll ich doch sagen“. Mit seiner anschließenden Geste „legt d. Finger an d. Nase“ (I, 209f.) lenkt er die Aufmerksamkeit schließlich auf ein Sinnesorgan, das in besonderem Maße dazu geeignet scheint, die von ihm vorgetragene ‚Naturphilosophie‘ zu unterstützen. Die intertextuellen Bezüge dieser Szene zu Büchners Dissertation legen dies nahe. Denn dort galt sein besonderes Interesse zwei Nerven, Vagus und Trigeminus, die als ‚einfachste‘ Nerventypen Grundlage aller spezialisierteren sind. Sie haben „ihre Funktion“ darin, „das vegetative Leben mit dem animalen Leben zu verbinden“ (II, 567), und sie sind in unterschiedlichen Graden der Feinabstimmung für den Austausch mit der Welt und deren Erkenntnis verantwortlich. Woyzecks Körper ist in Szene 3,8 klüger als sein Kopf und dessen Ausdrucksvermögen. Wo ihm die adäquaten Worte noch fehlen, da weisen die Finger den Weg. Vom unteren Ausscheidungsorgan über die Hand an die Nase gleiten sie den Körper hinauf und wiederholen auf diese Weise die vom Physiologen Büchner postulierte Sublimierung vom Vagus zum Trigeminus. Im Zuge dieses Vorgangs verfeinert sich auch die Rede Woyzecks von der kruden Verteidigung des Harndrangs zu einem auch vom Doktor zugestandenen subtileren Philosophieren über die Natur, „Woyzeck, er philosophirt wieder.“ Mit dem Fingerzeig an die Nase, bei der Artikulation des Wunsches, im Buch der Natur zu lesen, deren Zeichen zu entziffern, profiliert sich Woyzeck zum einen als Naturphilosoph alter Schule in Konkurrenz zum Doktor: „was für Figurn die Schwämme auf d. Boden wachsen. Wer das lesen könnt“. Zum anderen führt er auch ein alternatives, modernes Erkenntnismodell und ein alternatives Versuchsszenario vor Augen. Es handelt sich um eine Erkenntnis, bei der Hand und Kopf, körperliche und gedanklich-sprachliche Artikulation gemeinsam Schritt halten, und um eine Versuchsanordnung, in der Innen- und Außenperspektive, Teilnahme und Beobachtung nicht getrennt werden. Woyzeck philosophiert über die Natur, während er selbst in Naturprozessen begriffen ist, und zeigt gestisch auf die Zusammengehörigkeit der niederen und subtileren Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Artikulationsorgane. Diese Form physiologischer Selbsterkenntnis findet in der Zeit weite Verbreitung. Schon 1822 rät Charles Bell in seinem Vortrag vor der Royal Society seinen Zuhörern, um die bei der Atmung, dem Sprechen und dem Gesichtsausdruck tätigen Nerven und Muskeln kennen zu lernen, doch einfach Hand an sich zu legen: „By placing the hand upon the neck, we may be sensible that the mastoid muscle has two motions. […] In snuffing or smelling, if we place the fingers on the portions of the mastoid muscles which are attached to the sternum, we shall find every little motion of the nostrils accompanied with corresponding actions of the sternal portions of the muscles in the neck.“ 29 Mit dem Finger an der Nase weist 29 Charles Bell: „Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression. Being a continuation of the paper on the Structure and Marion Schmaus 46 Woyzeck gestisch den Doktor auf Selbstversuche als adäquateren Weg experimenteller Forschung. Woyzecks Lektion in Sachen Wissenschaft wird vom Doktor jedoch nicht angenommen, sondern als „schönste aberratio mentalis partialis“ pathologisiert. Und Woyzeck wird erneut auf das Versuchsobjekt und die der medizinischen und militärischen Disziplin gemäße Rede, das „Ja wohl“ (I, 210), reduziert. In allen drei genannten Fällen, auf Naturphilosoph, Psychiker oder auf die physiologische Debatte über die verschiedenen Modelle von Nervensystemen hin gelesen, verortet sich der Doktor jedenfalls im Kontext der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts mit seinen Aussagen zur Willensfreiheit im nicht mehr zeitgemäßen Lager derer, die Wissenschaft, sei es der Natur oder der Seele, noch unter dem Dach der Philosophie betreiben. In der überarbeiteten Fassung der Szene (3,8) findet eine Umakzentuierung statt, indem das in 2,6 genannte Sammelprojekt des Doktors wegfällt und nun eher Woyzeck, auch durch die stärker ausformulierte leibseelische Sprach- und Schriftmetaphorik, als alternativer Naturphilosoph erscheint. Die Wandlung des Doktors in 3,8 wird so deutlicher auf jene vom Psychiker zum Somatiker konzentriert. Innerhalb weniger Zeilen mutiert er vom Verfechter der Willensfreiheit zu einem somatisch orientierten experimentellen Forscher. Die Wissenschaftskritik in Büchners Woyzeck setzt damit bei den Grundfunktionen des Lebens an: Essen und Ausscheiden sowie in anderen Szenen Abwehr und Trinken, und führt so die Auswirkungen moderner wissenschaftlicher Wahrnehmung im Alltag vor. Die forensische Woyzeck-Debatte um die Zurechnungsfähigkeit und der psychiatrische Widerstreit zwischen Psychikern und Somatikern um die Wechselwirkung von Leib und Seele werden in Büchners Woyzeck durch die eingearbeitete physiologische Grundlagenforschung gleichsam geerdet. Die zeitgenössische Nervenlehre verbindet, was in den Clarus-Gutachten noch unverbunden blieb: Umwelteinfluss, Ernährungsfrage und Wahnsinn. Für das literarische Werk Büchners von besonderem Interesse sind die Studien von Charles Bell über die Nerven, durch die Ausscheidung, Atmung, Gestik, Mimik und Sprache zusammengefügt sind. Alle Austauschprozesse eines Individuums mit seiner Umwelt, von den körperlichen Verrichtungen über den gestisch-mimischen Ausdruck bis zur Wortsprache, sind systemisch aufeinander bezogen, und so gerät tatsächlich ein ganzheitliches Ausdrucksgeschehen in den Blick. Als Zeichenleser und als Zeichenschaffender ist der Mensch Bestandteil des Naturprozesses. Einfachste natürliche Verrichtungen gehören in den Rahmen einer kontinuierlichen natürlich-kulturellen Semiose. Insbesondere der überarbeitete Entwurf der Doktor-Szene macht diesen Gradualismus deutlich, indem Pissen und Essen in der Sphäre von „Wort“-Bruch, Moral, ökonomischem Tauschhandel, natürlichem Bedürfnis und Willensfreiheit, von „Character“ und „Structur“, von „auf die Wand pissen“ und „schriftlich[em] Akkord“ (I, 209f.) verhandelt werden. Büchners Drama führt in diesem Vorgang einer Re-Naturierung der Kultur das Menschsein auf die grundlegendsten Lebensvollzüge zurück: Essen und Trinken, Sexualität und Functions of the Nerves.“ In: Philosophical transactions of the Royal Society of London 2, 1822, S. 284- 312, S. 296. Literatur und Psychosomatik 47 Fortpflanzung, leibseelische Ausdrucksakte und Abwehrmechanismen. Ästhetik erscheint wieder als Fundamentallehre sinnlicher Wahrnehmung: Hören, Sehen, Riechen, Tasten und Schmecken erlangen in Woyzeck außergewöhnliche dramatische Präsenz. Im Besonderen sind es die Übergänge zwischen Leib und Seele, die psychosomatischen Zustände, die hier interessieren. In seiner naturwissenschaftlichen Arbeit analysiert Georg Büchner diese Übergänge im Zusammenspiel von vegetativem und animalem Nervensystem, in der Analogie von Hirn- und Spinalnerven, durch die Akte der Verdauung, Zeugung, Atmung und Sprache miteinander verbunden werden. In seiner Philosophie-Vorlesung hat Büchner diesen Erfahrungsbereich, der sich jenseits von Descartes’ Dualismus von res cogitans und res extensa eröffnet, begrifflich skizziert: „Doch erfahren wir in uns noch Manches, was sich weder auf den Körper, noch die denkende Substanz allein bezieht und aus der innigen Vereinigung von beiden entspringt, als Appetit, Hunger, Durst, Gemütsbewegungen, die nicht bloß im Denken bestehen, als die Bewegung zur Freude, Traurigkeit, Liebe, endlich alle Empfindungen, als des Schmerzes, Kitzels, des Lichts, der Farben, Töne, Gerüche e.c.t.“ (II, 208) Im Woyzeck schließlich werden diese leibseelischen Erfahrungen nicht nur literarisch gestaltet, sondern sie sind durch die eingearbeiteten philosophischen und naturwissenschaftlichen Kontexte auch in ihrer historisch-sozialen Strukturiertheit erkennbar. Die naturwissenschaftlichen Methoden werden in Büchners Drama also nicht nur einer scharfen Kritik ausgesetzt, sondern sie finden ihre Umsetzung auch in einer „literarischen Physiologie“. Deren konstruktives Verhältnis zu den Wissenschaften hat Günter Oesterle festgehalten: „Die Kunst - und das gilt beispielsweise für Jean Paul und Georg Büchner - gibt die naturwissenschaftlichen Beobachtungsmethoden kritisch der Lächerlichkeit preis und erschließt sich gleichwohl literarisch eine Darstellungsart, die sich der Öffnung der Naturwissenschaften für Fragen des sozialen Lebens verdankt.“ 30 Zu dieser „literarischen Physiologie“ gehört die konsequente Verschränkung von Natur- und Kulturprozessen. Genauer gesagt werden wechselseitig natürliche Vorgänge in ihrer diskursiven Strukturiertheit gezeigt und Kultur auf ihre materielle, natürliche Basis zurückgeführt. Die leibseelische Existenz des Menschen ist der Ort dieses Umschlags von Kultur in Natur und umgekehrt. In den 1820er und 30er Jahren wird das Leib-Seele-Problem in seinem erfahrungswissenschaftlichen Zuschnitt auf den Begriff gebracht. Die psychosomatische Fragestellung ist so Dreh- und Angelpunkt von Büchners Drama, der vorausgehenden Woyzeck-Debatte und der naturwissenschaftlichen Diskurse. Am exemplarischen Fall von Büchners Woyzeck zeichnet sich zwischen dem psychosomatischen Diskurs und der Literatur ein produktives Wechselverhältnis ab: Literatur als Psychosomatik und Psychosomatik als Literatur. Die literarische Aussageweise wird als ein besonders komplexes psychosomatisches Ausdrucksgeschehen 30 Günter Oesterle: „Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ‚voie physiologique‘ in Georg Büchners Woyzeck.“ In: Georg Büchner Jahrbuch 3, 1983, S. 200-239, S. 201. Marion Schmaus 48 lesbar. Im Austausch von Literatur und diesem spezifischen wissenschaftlichen Netzwerk wird Kultur auf ihre natürliche Basis zurückgeführt und Naturprozesse zeigen sich in ihrer diskursiven Strukturiertheit. So kann von einem Wissen der Literatur gesprochen werden, das es erlaubt, sie in Augenhöhe und in Konkurrenz zu den Wissenschaften wahrzunehmen. Spezifische Erkenntnis- und Darstellungsmethoden können als literarischer Beitrag zum psychosomatischen Diskurs ausgewiesen werden. Zwei zentrale Aspekte, die Selbstreflexivität und die erkenntniskritische Selbstbescheidung, seien hier hervorgehoben. Erstere entwickelt sich aus der historischen Zwangslage der Literatur im 18. Jahrhundert, durch die Pathologisierung von Einbildungskraft und Literatur in der Aufklärung. Sie wird genötigt, sich als Patient und Arzt in einem wahrzunehmen, und diese Einsicht erweist sich als erkenntnistheoretisch ertragreich und als erster Schritt auf dem Weg zur Genesung. Der zweite Aspekt, die erkenntniskritische Selbstbescheidung, ist exemplarisch in Herders Formulierung festgehalten, die Menschengestalt sei „gleichsam nie ganz zu ertaste[n]“, wir „taste[n] gewissermaßen immer unendlich.“ 31 Sie verweist auf die strukturelle Relativität der literarischen Aussageweise und gibt dieser zugleich eine progressive Auslegung. Im Hinblick auf die psychosomatische Fragestellung heißt dies, die Literatur bewahrt das Wissen um die Unabschließbarkeit der begrifflichen Bemühungen um den ganzen Menschen und bildet so einen starken Kontrapunkt zum Fortschrittsoptimismus der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert ebenso wie jenem der derzeitigen Hirnforschung oder Gentechnologie. Gegenüber dem Alleinvertretungsanspruch einzelner Erfahrungswissenschaften wird im Hinblick auf den ganzen Menschen ein ästhetisch-ethischer Vorbehalt formuliert. Bei Herder und Büchner führt dies im Besonderen zu einer Kritik experimenteller Forschung, der die Individualität des ganzen Menschen notwendig entgeht und deren potentiell letale Konsequenzen vor allem Büchners Woyzeck in aller Radikalität zur Schau stellt. Büchners Drama betreibt Interdiskursivitätsanalytik, indem die psychiatrischen, forensischen, theologischen, moralischen Diskurse zum Fall zitierend und kommentierend in den Blick geraten und in Form einer Metareflexion auf ihre bio-psycho-sozialen Grundlagen befragt werden. Die Perspektive, aus der diese kritische Arbeit allerdings betrieben wird, ist eine utopisch-politische, die mit den Stichworten Ermächtigung der Woyzeck-Stimme und Demokratisierung des Diskurses angedeutet wurde. Büchners literarischer Umgang mit dem Wissen seiner Zeit kann so zum Vorbild für eine Literaturwissenschaft werden, die sich beiden Aspekten verpflichtet fühlt: Interdiskursivitätsanalyse und d.h. die Literatur in ihren disziplinären Verstrickungen wahrzunehmen, in denen sie als Aufnehmende, Gebende und Kritikerin erscheint, sowie eine ethische Ausrichtung der Wissenschaft, die die Literatur in ihrer Ermöglichungsfunktion wahrnimmt. 31 Herder, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787 (wie Anm. 6), S. 314, 316. Literatur und Psychosomatik 49 Literaturverzeichnis Amelung, Franz: „Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten.“ In: ders./ Friedrich Bird (Hgg.): Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten. Bd. 1. Darmstadt, Leipzig 1832, S. 110-290. Anz, Thomas: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989. Bell, Charles: „Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression. Being a continuation of the paper on the Structure and Functions of the Nerves.“ In: Philosophical transactions of the Royal Society of London 2, 1822, S. 284-312. Bennholdt-Thomson, Anke/ Guzzoni, Alfredo: Der ‚Asoziale’ in der Literatur um 1800. Königstein/ Ts. 1979. Blanckenburg, Christian Friedrich von: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz 1774. Faksimiledruck mit einem Nachwort von Ernst Lämmert. Stuttgart 1965. Braungart, Georg: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. Büchner, Georg: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt/ M. 2002. Büchner, Georg: Woyzeck. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Marburger Ausgabe Bd. 7.2. Hg. von Burghard Dedner. Darmstadt 2005. Clarke, Edwin/ Jacyna, Leon S.: Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts. Berkeley, Los Angeles, London 1987. Clarus, Johann Christian August: „Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmässig erwiesen.“ In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 1825, 4. Ergänzungsheft, S. 1-97. Wiederabdruck in: Hans Mayer: Georg Büchner Woyzeck. 14. Aufl . Frankfurt/ M., Berlin 1993, S. 75-126. Clarus, Johann Christian August: „Früheres Gutachten des Herrn Hofrath Dr. Clarus über den Gemüthszustand des Mörders Joh. Christ. Woyzeck, erstattet am 16. Sept. 1821. Nebst einem Vorworte des Herausgebers.“ In: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 1826, 5. Ergänzungsheft, S. 129-149. Cumulated Index Medicus. Washington 1960ff. Current List of Medical Literature. Washington 1941-1959. Dedner, Burghard (Hg.): Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Stuttgart 2000. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Bd. VIII. 6. Aufl. Göttingen 1991. Engelhardt, Dietrich von: Medizin in der Literatur der Neuzeit. 2 Bde. Hürtgenwald 1991, 2000. Erhart, Walter: „Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Forschungsbericht.“ In: Scientia Poetica 1, 1997, S. 224-267. Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/ M. 1994. Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919. [Nachdruck: München 1987] Guttenplan, Samuel (Hg.): A Companion to the Philosophy of Mind. Oxford (UK), Cambridge (USA) 1995. Heinroth, Johann Christian August: Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Zwey Theile. Leipzig 1818. Herder, Johann Gottfried: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787. Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Hgg. von Jürgen Brummack/ Martin Bollacher. Frankfurt/ M. 1994. Marion Schmaus 50 Jagow, Bettina von / Steger, Florian (Hgg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Göttingen 2005. Klibansky, Raymond/ Panofsky, Erwin/ Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studie zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt/ M. 1990. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Link, Jürgen: „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik.“ In: Jürgen Fohrmann/ Harro Müller (Hgg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/ M. 1988, S. 284-307. Lipowski, Zbigniew Jerzy: „What Does the Word ‘Psychosomatic’ Really Mean? A Historical and Semantic Inquiry.“ In: Psychosomatic Medicine 46, 1984, H. 2, S. 153-171. Meyer, Adolf-Ernst/ Lamparter, Ulrich: „Vorwort.“ In: Adolf-Ernst Meyer/ Ulrich Lamparter (Hgg.): Pioniere der Psychosomatik. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte ganzheitlicher Medizin. Heidelberg 1994, S. 1-7. Müller, Johannes: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Bd. 1. Coblenz 1834. Nasse, Christian Friedrich: „Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit.“ In: Zeitschrift fuer psychische Aerzte, mit besonderer Beruecksichtigung des Magnetism 5, 1822, S. 1-35. Oesterle, Günter: „Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ‚voie physiologique’ in Georg Büchners Woyzeck.“ In: Georg Büchner Jahrbuch 3, 1983, S. 200-239. Osinski, Jutta: Über Vernunft und Wahnsinn. Studien zur literarischen Aufklärung in der Gegenwart und im 18. Jahrhundert. Bonn 1983. Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803 [Unveränderter Nachdruck: Amsterdam 1968] Reuchlein, Georg: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt/ M., Bern, New York 1985. Richter, Simon: Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain. Winckelmann, Lessing, Herder, Moritz, Goethe. Detroit 1992. Rössler, Dietrich: Art. Mensch, ganzer. In: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5 (L-Mn). Basel 1980, Sp. 1106-1111. Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. Schmaus, Marion: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). Tübingen 2009. Thomé, Horst: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland’. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen 1993. Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. Uexküll, Thure von/ Wesiack, Wolfgang: „Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde.“ In: Thure von Uexküll (Hg.): Lehrbuch der psychosomatischen Medizin. München, Wien, Baltimore 1979, S. 7-21. Uexküll, Thure von/ Wesiack, Wolfgang: „Das Leib-Seele-Problem in psychosomatischer Sicht.“ In: Thure von Uexküll (Hg.): Lehrbuch der psychosomatischen Medizin. München, Wien, Baltimore 1979, S. 56-71. Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, Weimar 1997. Literatur und Psychosomatik 51 Wöbkemeier, Rita: Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart 1990. Engagement als Ethos der Literatur Saskia Wiedner I. Engagement und littérature engagée L’écrivain est en situation dans son époque: chaque parole a des retentissements. Chaque silence aussi. Je tiens Flaubert et les Goncourt pour responsables de la répression qui suivit la Commune parce qu’ils n’ont pas écrit une ligne pour l’empêcher. Ce n’était pas leur affaire, dira-t-on. Mais le procès de Calas, était-ce l’affaire de Voltaire? La condamnation de Dreyfus, était-ce l’affaire de Zola? L’administration du Congo, était-ce l’affaire de Gide? 1 Mit diesen Gedanken eröffnet Jean-Paul Sartre den im Oktober des Jahres 1945 erschienenen ersten Band der Zeitschrift Les Temps modernes, als deren Herausgeber er mit Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty firmiert. Hier formuliert er das Programm einer Zeitschrift, deren Ziel es sein soll, im Hinblick auf die politische, soziale und kulturelle Situation seiner Zeit den literarischen Diskurs zu beleben. Am Ende des Vorworts erhält das Programm seinen Namen - littérature engagée - und es wird zugleich darauf verwiesen, dass das der Literatur eigene, die Ästhetik, nicht zugunsten des Politischen aufgegeben werden darf: „[...] dans la ‚littérature engagée‘, l’engagement ne doit, en aucun cas, faire oublier la littérature“. 2 Der 1947 in den Temps modernes und 1948 im zweiten Band der Situations publizierte Essay Qu’est-ce que la littérature? führt das Konzept der littérature engagée näher aus. Die dort dargelegte Konzeption einer engagierten Literatur muss - sowohl in Frankreich als auch in Deutschland - als der Bezugspunkt jeder nachfolgenden Diskussion über das literarische Engagement gesehen werden. Eine semantische Klärung des Begriffsfeldes s’engager/ engagement bringt Ergebnisse, die ein grundlegendes Verständnis im Hinblick auf das Konzept der littérature engagée ermöglichen. Der Trésor de la langue française erklärt s’engager für den Kontext der Philosophie als eine Teilnahme, die durch eine den tiefen Überzeugungen entsprechende Wahl geschieht und durch welche die Konsequenzen der eigenen Handlung für das jeweils zeitgenössische soziale, politische, intellektuelle oder religiöse Leben übernommen werden. 3 Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass der Begriff des 1 Jean-Paul Sartre, „Présentation des Temps modernes“, in: ders., Situation II, Paris: Gallimard, 1999 (Erstv. 1948, renouvelé en 1975), S. 13. 2 Ebd. S. 29. 3 Trésor de la langue française. Dictionnaire de la langue du XIX e au XX e siècle (1789-1960), Paris: Éd. du Centre National de la Recherche Scientifique, 1979, S. 1110: „[s’engager: cela veut dire] partici- Saskia Wiedner 54 Engagement (engager/ s’engager) ursprünglich aus dem Bereich der Rechtsprechung kommt. Hier bezeichnet er einen schriftlichen oder mündlichen Vertrag, durch welchen die Person sich verpflichtet. 4 In diesem Sinne verwendet ihn auch Jean-Jacques Rousseau in seinen Lettres écrites de la Montagne und in diesem Sinne ist er auch seiner politischen Theorie in Du contrat social zu Grunde gelegt. 5 Rousseaus Formulierung eines „libre engagement de celui qui s’oblige“ 6 beinhaltet wesentliche Komponenten des politischen wie auch des literarischen Engagements. Zum einen wird hier auf die Disponibilität, die Freiheit eines autonomen Subjekts verwiesen, das diese im Hinblick auf eine Pflicht freiwillig aufgibt um sich dieser Pflicht ganz zu verschreiben. Zum anderen impliziert Rousseaus Formulierung das ethische Moment der Wahl, die vom Individuum getroffen werden muss und die Wesentliches über den Zweck aussagt, um dessen Willen die Disponibilität aufgegeben wird. Ein solches Verständnis des Engagements verweist auf die zentrale Position des Subjekts, die im Hinblick auf den Engagement-Begriff Jean-Paul Sartres von Bedeutung ist. Die französische Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders Gabriel Marcels philosophische Überlegungen mit dem Titel Être et avoir (1935) und Emmanuel Mouniers Manifeste au service du personnalisme (1936) arbeiten die Vorstellung eines „engagement personnel“ weiter aus. Wie später Sartre wertet Mounier den Einzelnen gegen das Diktat des Kollektivs auf, indem er die authentische, freie Person (la personne) gegen ein vom Kollektiv geprägtes und determiniertes Individuum (l’individu) stellt: C’est cette vie intime de la Personne, vibrant dans tous nos actes, qui est le rythme solide de l’existence humaine. Elle seule répond au besoin d’authenticité, d’engagement, de plénitude que le matérialisme marxiste et le naturalisme fasciste cherchent à fixer dans les réalisations objectives de l’homme. Elle est irremplaçable. 7 per, par une opition conforme à ses convictions profondes et en assumant les risques de l’action, à la vie sociale, politique, intellectuelle ou religieuse de son temps.“ 4 Trésor de la langue française, S. 1110: „Contrat oral ou écrit par lequel une personne engage ses services“. 5 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social ou Principes du droit politique, Paris: Bibliothèque Nationale, 1894, S. 33: „Afin donc que le pacte social ne soit pas un vain formulaire, il renferme tacitement cet engagement, qui seul peut donner de la force aux autres: que quiconque refusera d’obéir à la volonté générale y sera contraint par tout le corps; ce qui signifie autre chose sinon qu’on le forcera d’être libre: car telle est la condition qui, donnant chaque citoyen à la patrie, le garantit de tout dépendance personnelle; condition qui fait l’artifice et le jeu de la machine politique, et qui seule rend légitimes les engagements civils, lesquels sans cela seraient absurdes, tyranniques et sujets aux plus énormes abus.“ 6 Jean-Jacques Rousseau, „Lettres écrites de la Montagne“, in: ders, Œuvres completes de Jean-Jacques Rousseau, Bd. III, Paris: Chez Furne, 1835, S. 64: „Qu’est-ce qui fait que l’état est un? C’est l’union de ses membres. Et d’où nait l’union de ses membres? De l’obligation qui les lie. Mais quel est le fondement de cette obligation? […] quel fondement plus sûr peut avoir l’obligation parmi les hommes, que le libre engagement de celui qui s’oblige? “ 7 Emmanuel Mounier, Manifeste au service du personnalisme, Paris: Éd. du Seuil, 1961 und 2000, S. 51f. Engagement als Ethos der Literatur 55 Mouniers Ansatz konzentriert sich auf la personne als die wesentliche Antriebskraft des Engagements und nimmt zugleich all diejenigen politischen Bewegungen ins Visier, die versuchen, sie nach ideologischen Maßstäben zu formen und in ihren Werten zu bedingen. Erst der in L’Être et le néant dargelegte Engagement-Begriff Sartres greift bewusst existenzphilosophische Kategorien der ersten Generation von Existentialisten auf. Sartre rekurriert sowohl auf Søren Kierkegaards Begriff des Wagnisses (le risque), der Gefahr (le danger) und des Ernstes (le sérieux) als auch auf Karl Jaspers’ Vorstellung des Wagnisses und nicht zuletzt auf Heideggers Kategorie der Entschlossenheit, von der es in Sein und Zeit heißt: „Die Entschlossenheit ist ihrem ontologischen Wesen nach je die eines jeweiligen faktischen Daseins. Das Wesen dieses Seienden ist seine Existenz. Entschlossenheit „existiert“ nur als verstehend-sich-entwerfender- Entschluss.“ 8 Heidegger versteht faktisches Dasein, Existenz als Entschlossenheit und zugleich als willentliche Gerichtetheit des Daseins auf Welt, die die daseinsmäßige Bezeugung des eigentlichen Seinkönnens darstellt. 9 „Jeder Versuch einer grundsätzlichen Interpretation des Phänomens der littérature engagée bedarf des vorherigen Rückgangs auf Sartres Definition des Begriffs engagement in L’Être et le néant“ schreibt Henning Krauß in seiner Studie Die Praxis der „littérature engagée“ im Werk Jean-Paul Sartres 1938-1948. 10 Sartre unterscheidet in seiner phänomenologischen Ontologie, zwischen einem engagement premier, das als ein spontanes, von einem unreflektierten Bewusstsein (conscience irréfléchie) geprägtes In-der-Welt-Sein verstanden werden muss und einem bewussten engagement. Diesem geht ein dégagement, ein Bewusstwerdungsprozess (prise de conscience) voraus, der ausgelöst wird durch ein „Auftauchen“ des Menschen aus seinem bisher unreflektierten Handeln und Handlung damit zum Gegenstand von Reflexion werden lässt. In Angst erkennt das Individuum sein In-die-Welt-geworfen-Sein und seine totale Freiheit, denn seine Existenz ist dem Sein vorgängig durch keinen Wert bestimmt oder legitimiert: „L’existence précède l’essence“ 11 . Aus dieser Erkenntnis entsteht die Notwendigkeit eines neuen, bewussten Engagements, dessen Ziel es ist, Welt zu verändern und das sich unter Rückgriff auf die Husserlsche Intentionalität versteht. Das Dasein des Menschen in der Welt ist neben einem Dasein in Situation (êtreen-situation) - womit bei Sartre ein Dasein in Geschichte gemeint ist - ein Für-anderesein (être-pour-autrui), das grundsätzlich einen konflikthaften Charakter aufweist. Auf der Ebene der Ontologie kann diese Konfliktsituation, die zwischen dem subjektiv sich erfahrenden, sich in die Zukunft entwerfendem Ich (pour-soi) und dem objektivierenden Blick des anderen, in welchem Ich zum en-soi erstarrt nicht aufgelöst werden. 12 Das sich setzende Bewusstsein geht somit immer auf den „Tod“ des anderen. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 18 2001, S. 298. 9 Ebd. S. 267. 10 Henning Krauß, Die Praxis der ‚littérature engagée‘ im Werk Jean-Paul Sartres 1938-1948, Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 1970, S. 11. 11 Jean-Paul Sartre, L’Existentialisme est un humanisme, Paris: Gallimard (Nagel, 1945), 1996, S. 39. 12 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’Être et le néant. Essai d’Ontologie phénoménologique, Paris: Gallimard, 1943, S. 392-400. Saskia Wiedner 56 An dieser ontologischen Problematik setzt die Vorstellung der littérature engagée an: „Sartre war sich der Tatsache bewusst, dass die in L’Être et le néant vorgelegte Ontologie einer Ethik als notweniger Ergänzung bedarf, legte indessen mit Qu’est-ce que la littérature? nur eine Ethik des Schreibens und Lesens vor“ 13 stellt Krauß fest. Die vielzitierte Literaturtheorie des Existentialismus ist demnach in ihrem Kern eine Ethik. Sie proklamiert eine mögliche Überwindung der philosophischen Problematik des Antagonismus miteinander konkurrierender Freiheiten durch die Kunst, genauer die Literatur, den Roman. Der Engagement-Begriff, wie er in Qu’est-ce que la littérature? und auch in L’Existentialisme est un humanisme ausgeführt wird, steht in großer Nähe zur Ethik Kants. Sartre geht in seinem Ansatz davon aus, dass durch die individuelle Entscheidung die ganze Menschheit (l’humanité) gestaltet wird und in der Folge die individuelle Wahl auch mit Blick auf die gesamte Menschheit vom Einzelnen verantwortet werden muss: Si l’existence, d’autre part, précède l’essence et que nous voulions exister en même temps que nous façonnons notre image, cette image est valable pour tous et pour notre époque tout entière. Ainsi, notre responsabilité est beaucoup plus grande que nous ne pourrions le supposer, car elle engage l’humanité entière […]. Ainsi je suis responsable pour moimême et pour tous, et je crée une certaine image de l’homme que je choisis; en me choisissant, je choisis l’homme. 14 Sartres Radikalisierung des Kantschen Imperativs vollzieht sich, indem er die totale Verantwortung der Handlung auf das Individuum konzentriert, dessen Ziel die Errichtung der Cité des fins, das „Reich der Zwecke“ 15 sein soll. Der Lebensentwurf des Einzelnen wird so zum Lebensentwurf der Gemeinschaft, die Zweckgerichtetheit seiner Handlung, in der der Mensch niemals bloß Mittel sein soll, macht die existentialistische Philosophie Sartres zu einer Lehre des Humanismus - L’Existentialisme est un humanisme. Die Vorstellung, dass die freie Entscheidung jedes Einzelnen einen Entwurf von Gemeinschaft bietet, steht in krassem Gegensatz zur faktischen Dominanz totalitärer Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sowohl der Faschismus als auch der Kommunismus fordert von seinen Anhängern ein Engagement in Form einer vollkommenen Aufgabe der individuellen Freiheit und die Unterordnung des Einzelnen im Hinblick auf ein politisches und ideologisches Ziel. Heftige Kritik an der Instrumentalisierung des Einzelnen wird in der Folge in zahlreichen Werken 13 Henning Krauß, „Existentialistische und absurde Literatur“, in: Peter Brockmeier/ Hermann Wetzel (Hg.), Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 3: Von Proust bis Robbe-Grillet, Stuttgart: Metzler, 1982, S. 217-264, hier S. 229; vgl. dazu auch Henning Krauß, Die Praxis der ‚littérature engagée‘ im Werk Jean-Paul Sartre 1938-1948, S. 14f. Sartre gedachte diese Lücke mit einer Moral zu schließen, die allerdings unvollendet bleibt und 1983 posthum von Arlette Elkaïm-Sartre unter dem Titel Cahiers pour une morale herausgegeben wurde. 14 Jean-Paul Sartre, L’Existentialisme est un humanisme, Paris: Gallimard, 1996, S. 32f. 15 Rudolf Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlass, Hildesheim: Olms, 1961, S. 463 [Reich der Zwecke]: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“ Engagement als Ethos der Literatur 57 existentialistischer Autoren laut. Eine derjenigen Autorinnen, die sich intensiv mit dieser Problematik auseinandersetzt, ist Simone de Beauvoir. 16 In ihrem einzigen Drama Les Bouches inutiles (Die unnützen Mäuler, UA Paris 1945) inszeniert sie das Verhältnis von Engagement und Verantwortung einer Gemeinschaft gegenüber in ihr lebenden Gruppen, die diese aufgrund ihrer desintegrativen Vorstellung abwertet und ausstößt. Bereits der Titel wirft in seiner Metonymie die Frage nach dem Nutzen des Einzelnen für die Ziele der Gemeinschaft auf. Die Handlung des Dramas ist im 16. Jahrhundert angesetzt; dennoch lassen sich strukturelle Bezüge zur Nachkriegszeit daraus ableiten, in der versucht wird, eine Antwort auf die durch den Weltkrieg aufgeworfene Frage nach dem Wert des Menschen zu finden. Zum Inhalt des Dramas: Die kleine Stadt Vaucelles, die sich in einer Revolution gegen ihren Verwalter aufgelehnt und demokratische Strukturen eingeführt hat, wird von feindlichen Truppen belagert. Die angeforderten alliierten Truppen treffen nicht ein und Lebensmittel werden knapp. In dieser Situation beschließt der Rat der Stadt, sich eines Teiles der Bevölkerung, seiner „unnützen Mäuler“, zu entledigen. Als Legitimation für das Auswahlkriterium wird der Ausnahmezustand herangezogen: Frauen, Kinder und Greise sollen aus der Stadt gejagt werden. Weit davon entfernt diese Entscheidung hinzunehmen, suchen die Frauen das Gespräch. Das Argument der freien Wahl entlarvt den Plan des Rates als totalitäre, der vorrevolutionären Herrschaftsstruktur verwandte Maßnahme. Das Drama schließt gut, die Gemeinschaft bleibt durch die notwendigen und freiwilligen Opfer aller bestehen. Les Bouches inutiles zeigt eine Gemeinschaft, die durch eine Krisensituation in ihrem Fortbestehen in Frage gestellt ist. Um zu überleben wird der Kreis der gemeinschaftsfähigen Mitglieder neu definiert und damit der Wert des Einzelnen im Hinblick auf seine Position in der hierarchischen gegliederten Herrschaft, die ihre Mitglieder mit struktureller Macht ausstattet, neu festgelegt. Doch selbst in diesem Machtgefüge gelingt es den Ohnmächtigen, ihr unveräußerliches Recht auf einen freien Lebensentwurf zu behaupten. Ihr Ziel bleibt dabei die Rettung der idealen Gemeinschaft, der Cité des fins. Beauvoir illustriert in Les Bouches inutiles ein Engagement-Verständnis, das dem parteipolitischen Engagement im Rahmen totalitärer Regime widerspricht. Dieses Engagement baut auf das freie Individuum, das in jedem Moment seine Wahl neu mit Wert versehen kann, indem es in ihrem Sinne handelt und das über die Mittel entscheidet, welche im Hinblick auf ein Ziel einzusetzen sind. Die Kritik der existentialistischen Philosophie und Literatur ist in ihren zeitgenössischen Kontexten zweifelsfrei zu verorten. Obwohl besonders Jean-Paul Sartre und zahlreiche Schriftsteller in seinem Umfeld mit der Idee des Sozialismus sympathisierten, kritisierten sie zunehmend die von der stalinistischen Machtpolitik vorangetriebene Ausbreitung totalitärer Strukturen sowohl auf der Ebene des parti communiste français als auch im Bereich der Ideologie. Dass Sartres Engagement- Verständnis von der kommunistischen Partei als ein Affront betrachtet wurde, liegt 16 Unter anderem behandelt Simone de Beauvoir diese Problematik in ihrem Essay Pour une morale de l’ambiguïté (1947). Saskia Wiedner 58 damit auf der Hand. Auf das Heftigste wurde er von Parteiintellektuellen wie Roger Garaudy und seinem einstigen Schüler Jean Kanapa angegriffen. Sartre hingegen bringt seine Überzeugung zu diesem Thema in Qu’est-ce que la littérature? unumwunden zum Ausdruck: „Wenn man jetzt fragt, ob der Schriftsteller, um die Masse zu erreichen, seine Dienste der Kommunistischen Partei anbieten soll, antworte ich, nein; die Politik des Stalinistischen Kommunismus ist mit der redlichen Ausübung des literarischen Berufs unvereinbar.“ 17 Mit Georg Lukács wendet sich der orthodoxe Marxismus kritisch gegen Sartres Engagement-Begriff: „[…] dass die grundlegende menschliche Beziehung zur Welt die Situation des vis-à-vis de rien ist“ 18 mit diesen Worten kritisiert Lukács in seiner Schrift Existentialisme ou marxisme? (1948) das Menschenbild des Existentialismus. Jean-Paul Sartre hatte am 29. Oktober 1945 einen programmatischen Vortrag mit dem Titel L’Existentialisme est un humanisme gehalten, wodurch die existentialistische Philosophie schlagartig an Popularität gewann. Lukács Abhandlung erscheint zwei Jahre nach der Publikation von L’Existentialisme est un humanisme im selben Verlag und ist als ein marxistisches Dementi des Existentialismus und seines Engagement- Verständnisses zu lesen. Lukács kritisiert die Fetischisierung des Nichts, die der Existentialismus als „die ontologische Lösung des Seins, als wirklich Existierendes“ 19 postuliert sowie die Subjektzentriertheit der existentialistischen Philosophie. 20 Mit seinem geschichtsphilosophischen Ansatz - Literatur wird hier als Ausdruck einer Ontologie des gesellschaftlichen Seins verstanden - ist die Negation des Seins für Lukács Ausdruck einer im Niedergang begriffenen kapitalistischen Gesellschaft. Der Existentialismus nach (Heidegger und) Sartre versteht das In-die-Welt-geworfensein, d.h. das Nichts und die Negationskraft, die der Mensch durch sein Auftauchen in der Welt darstellt, als grundlegend für sein Engagement. Dagegen plädiert Lukács im Sinne der marxistischen Lehre für ein Verständnis des Seins als einer das Bewusstsein bestimmenden Materialität, woraus sich ein positives Engagement- Verständnis, im Sinne einer von der Idee des Marxismus getragenen, revolutionären Umarbeitung von Welt ableitet. Sartres versuchte Annäherung an den parti communiste français - und damit auch der Versuch sich dem Dilemma einer Existenz en rupture de classe zu entwinden - manifestiert sich in der terminologischen Umschreibung des Engagement-Konzepts, die allerdings um 1956 wieder aufgegeben wird. Im Hinblick auf den Rezipienten entwickelt Sartre in Qu’est-ce que la littérature? ein Drei-Phasen-Modell. Während der littérature de l’exis die Aufgabe der Kritik am bürgerlichen Publikum zukam, sollte die littérature de la praxis die durch die Revolution zu einem authentischen Selbstverständnis kommende Arbeiterklasse ansprechen und Anregungen zur Veränderung der gesellschaftlichen Struktur im Hinblick auf eine société sans classes liefern. In Sartres 17 Jean-Paul Sartre, „Qu’est-ce que la littérature? “, zit. nach Annie Cohen-Solal, Sartre. 1905-1980, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1988, S. 453. 18 Georg Lukács, Existentialismus oder Marxismus? , Berlin: Aufbau-Verlag, 1951, S. 43. 19 Ebd. S. 45. 20 Vgl. Helmut Peitsch, „Engagement“, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von Fritz Haug, Bd. III, Berlin/ Hamburg: Argument, 1997, Spalte 371-384, hier Spalte 371. Engagement als Ethos der Literatur 59 Werk findet sich diese Zäsur um 1948 und manifestiert sich in seinem Drama Les Mains sales (1948). 21 In einem dritten Schritt wird die Idee Leo Trotzkis aufgegriffen: die littérature totale bezeichnet die Kunst in der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft, eine Kunst, die sich nicht mehr im Zustand der Entfremdung befindet, weil sie ideologisch affirmativ den herrschenden Schichten das Wort redet, sondern die ihren eigenen Gesetzen gehorchen darf. Die Theoretisierung des Engagement-Begriffs in Qu’est-ce que la littérature? expliziert einerseits das historisch-gesellschaftliche Engagement des Schriftstellers und damit die Subjetgebundenheit gesellschaftlicher Praxis und verweist andererseits auf die der Literatur inhärente subversive Kraft, die ihr Potenzial durch die Rezeption entfaltet. Während Sartre sich im Namen der Kunst vom französischen Kommunismus abwendet, existiert eine breite Schicht von zeitgenössischen französischen Schriftstellern, welche die Ideologie und Politik der Partei legitimierenden „offizielle[n]“ sowjetischen Kunst unterstützen. Unter dem Vorsitz Maxim Gorkis findet 1934 in Moskau Le Premier congrès de l’Union des Écrivains Soviétiques statt, der die sowjetische Kunst auf den „réalisme socialiste“ festlegt. Im darauffolgenden Jahr wird Paris zum Schauplatz des Congrès International des Écrivains pour la défense de la culture, der u.a. von Ilja Ehrenburg, André Malraux, Paul Nizan, André Gide und Louis Aragon organisiert und durchgeführt wurde. Raymond Aron deutet in der Retrospektive diese Unterwerfung der französischen Linken unter die Gesetze des „sowjetischen Absolutismus“ als eine Folge der Suche der Intellektuellen nach einer „Ersatzreligion“, denn die kommunistische Ideologie wird durch ihre teleologische Zusammenschau, die „nicht […] dem Individuum, sondern dem Kollektivmenschen seinen gerechten Anteil im geschichtlichen Jenseits, d.h. in der Zukunft“ 22 verspricht, in ihrer Autorität legitimiert. II. Ideengeschichte der engagierten Literatur Von der möglichen subversiven Wirkung der Literatur auf die polis wusste bereits Platon, wie das zehnte Buch der Politeia bezeugt, in dem der Philosoph vorschlägt, die Dichter aus der Stadt zu verbannen, um die Ordnung der Gemeinschaft nicht zu stören. Von da an lassen sich in jeder Epoche Beispiele für Literatur finden, die kritisch auf ihre Zeit Bezug nimmt und bestehende Ordnungsgefüge, Vorstellungen, Traditionen und Rituale in Frage stellt. Allerdings muss differenziert werden, durch welche Mittel und zu welchen Zwecken Literatur, bzw. Autoren sich engagieren. Im Hinblick auf das Engagement-Verständnis lässt sich Literatur generell unter drei Gesichtspunkten betrachten: 1) ontologisches Kriterium: Literatur, die sich, indem sie in der Welt ist, als engagiert versteht 2) politisch-historisches Kriterium: Literatur, die auf konkrete historische Ereignisse reagiert und 3) gattungsspezifisches Kriterium: Gattungen, wie z.B. die Satire, das Manifest, das Flugblatt, die Flugschrift und 21 Vgl. Henning Krauß, Die Praxis der „littérature engagée“ im Werk Jean-Paul Sartres 1938-1948, S. 150. 22 Raymond Aron, Opium für Intellektuelle (franz. L’Opium des intellectuels), übersetzt von Klaus Peter Schulz, Köln/ Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1957, S. 341. Saskia Wiedner 60 das Pamphlet, die per se als engagiert gelten können. Es versteht sich von selbst, dass engagierte Literatur fast nie durch ein einziges Kriterium charakterisiert werden kann. Meist treffen zwei, wenn nicht alle drei Merkmale auf ein Phänomen engagierter Literatur zu. Weitere Gliederungsversuche beziehen sich auf eine historische Entwicklung des Engagements. So unterscheidet z.B. Denis Benoît in Littérature et Engagement de Pascal à Sartre 23 zwei Formen des Engagements: 1) ein Engagement- Begriff, der speziell an der Figur Sartre festgemacht wird. Er bezieht sich auf eine Literatur, die sich mit politischen und sozialen Fragen auseinandersetzt und die zum Aufbau einer neuen Welt, wie sie seit der russischen Revolution 1917 angekündigt wird, beitragen will; 2) eine engagierte Literatur, deren Grenzen weitaus fließender verlaufen und als deren wichtige Autoren u.a. Voltaire, Victor Hugo, Émile Zola, Charles Péguy, André Malraux und Albert Camus genannt werden. Diese Literatur beschäftigt sich damit, aus ihrer Warte die Organisation der Cité zu betreiben und verteidigt universelle Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit. 24 In der Funktion des directeur de conscience - ein Begriff, der sich aus dem 17. Jahrhundert herleitet und dort den Hausgeistlichen bezeichnet, der für die Wahrung christlich-religiöser Werte zuständig war - wirken die Äußerungen des Intellektuellen in der bürgerlichen Öffentlichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts orientierend. Nicht selten werden sie als ethische Norm angesehen. In politischen Krisenzeiten, in welchen Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit bedroht sind, wird das Wort des Intellektuellen zum politischen Instrument im Kampf um diese Werte. Exemplarisch für alle politischen Stellungnahmen der République des Lettres sei hier auf den „offenen Brief“ an den Präsidenten der III. Republik mit dem Titel J’accuse…! verwiesen, der am 13. Januar 1898 in der Zeitschrift Aurore von Émile Zola publiziert worden war. Dieser Brief trägt eine Anklage gegen die politische Trägerschicht seiner Zeit vor, die, so die Meinung Zolas, in der Diskussion um den jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus versagt hatte. Zolas Intervention zeitigte ihre Wirkung nicht nur in der politischen Situation seiner Zeit, sondern vor allem im literarischen und kulturellen Feld, das in der Auseinandersetzung zwischen Maurice Barrès, Ferdinand Brunetière und Émile Zola, Octave Mirabeau und Anatole France in anti-dreyfusards und dreyfusards aufgeteilt wurde. Das dabei von den dreyfusards gebrauchte Schimpfwort „intellectuel“ verweist auf die Unzulänglichkeit des Schriftstellers, sich politisch zu engagieren und kritisiert dessen Engagement als Kompetenzüberschreitung. 25 Zolas 23 Benoît Denis, Littérature et engagement de Pascal à Sartre, Paris: Éd. du Seuil, 2000. 24 Vgl. Ebd. S. 17f. 25 Die Entstehung und Entwicklung des Intellektuellen ist Gegenstand zahlreicher Studien geworden und gehört seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - nicht zuletzt im Hinblick auf die eigene Standortbestimmung - zu den immer wieder bearbeiteten Themen der Schriftsteller. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Arbeiten von Christophe Charle, Naissance des „intellectuels“ 1880-1900, Paris: Éd. de Minuit, 1990, ders., Les intellectuels en Europe au XIX. siècle. Essai d’histoire comparée, Paris: Éd. du Seuil, 2001, Pascal Ory/ François Sirinelli, Les Intellectuels en France de l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris: Perrin, 2004 (Neuauflage), Michel Winock, Le Siècle des intellectuels, Paris: Éd. du Seuil, 1997 (dt. Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz: UVK, 2 2007) erwähnt. Engagement als Ethos der Literatur 61 Engagement bewirkt eine Öffnung des literarischen Feldes hin zu politisch-sozialen Ereignissen und ihrer Trägerschicht, dem Bürgertum. Diese Öffnung ist nicht ohne die rasche Entwicklung des medialen Sektors denkbar. Die Presse und mit ihr der moderne Journalismus etablieren sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als „vierte Gewalt“ im Staat und nehmen verstärkt Einfluss auf die öffentliche Meinung und auf politische Entscheidungen. 26 Während sich mit Zolas Engagement eine Essenz des politischen Engagements herausbildet, hatte sich in Deutschland in der Zeit des Vormärz und der sich anschließenden Märzrevolution eine sehr aktive Generation von Schriftstellern etabliert, die eine engagierte Literatur im Hinblick auf konkrete national-politische Ziele verfasste. Im Zuge des lebhaft geführten politischen Diskurses widerfährt dem Begriff ‚Tendenzliteratur‘ - der vormals alle Literatur meinte, die auf Beeinflussung der Meinung im Hinblick auf politische, soziale, religiöse, sittliche oder ideologische Themen zielte, eine Bedeutungsverengung. Besonders ab der Jahrhundertwende bedeutet die Tendenzhaltigkeit eines Werkes besonders in den Augen ihrer konservativ-bürgerlichen Gegner eine Minderung der ästhetischen Qualität von Literatur. Vor dem Hintergrund des nationalpolitischen Verortungswillens seiner Zeit schreibt Heinrich Heine das Gedicht „Die Tendenz“, worin er auf die Gefahren propagandistischer Parteinahme hinweist und die Tendenzdichtung als ein Genre deklariert, das nicht allein das Verständnis von Dichtung prägen darf. Neben den vaterländischen Gesängen muss immer noch die ernsthafte Dichtung das Herzstück der Dichtung sein: „Blase, schmettre, donnre täglich, / Bis der letzte Dränger flieht - / Singe nur in dieser Richtung, / Aber halte deine Dichtung / Nur so allgemein als möglich“ 27 . Der dringende Rat Heines, die Dichtung auf universelle Bedeutungen abzustellen, dabei allerdings nicht das (nationale und) politische Engagement aus dem Auge zu verlieren, kommt Sartres Verständnis von engagierter Literatur nahe. Die Naturalisten in Deutschland sehen sich, was ihr sozialkritisches Engagement anbelangt in der Tradition des Vormärz. Die Parteinahme der, zumeist aus bürgerlichen Schichten stammenden Schriftsteller des Naturalismus für die Arbeiter führt aber letztendlich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft und der eigenen Position. Die sogenannte „Tendenzkunst-Debatte“ 28 , die in Deutschland in den Jahren 1910 bis 1912 ihren Höhepunkt erreichte, proklamiert eine sich den Einflüssen der modernen Kulturindustrie entwindende Kunst, die als notwendiges Durchgangsstadium eine „proletarische Tendenz“ hinnehmen müsse, um in der klassenlosen Gesellschaft zur „sozialistischen Kunst“ werden zu können. 26 Géraldine Muhlmann, Une Histoire politique du journalisme (XIX e - XX e siècle), Paris: P.U.F., 2004, S. 2f. 27 Heinrich Heine, „Die Tendenz“, in: Heinrich Heine. Werke, Bd. II, hrsg. und kommentiert von Stuart Atkins, München: Beck, 1978, S. 527. 28 In der Forschungsliteratur findet sich auch der Begriff „Sperber-Debatte“, da sie 1910 durch Feuilleton-Beiträge des holländischen Dramatikers Hermann Heijermans (Heinz Sperber) ausgelöst wurde. Vgl. dazu Tendenzkunst-Debatte 1910-1912. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären Sozialdemokratie, hrsg. und eingeleitet von Tanja Bürgel, Berlin: Akademie-Verlag 1987, S. xi. Saskia Wiedner 62 Dass der Schriftsteller es ohne Weiteres nicht vermag, seine bürgerliche Intellektuellenexistenz in eine proletarische Intellektuellenexistenz umzuformen, bezeugt ein Beitrag von dem Lehrer und Dramatiker Otto Ernst, der als Sohn eines Zigarrenarbeiters aus proletarischen Verhältnissen stammte und quasi von außen das Dilemma der bürgerlichen Intellektuellen verfolgte. Mit dem Argument, dass jeder Autor einen sozialen Standpunkt habe, der als Tendenz nur von dem Rezipienten wahrgenommen wird, der diese sozialen Interessen nicht vertritt, verspottet Otto Ernst (in seinem gleichnamigen Werk) die „Scheu vor der Tendenzdichtung“ des deutschen Bürgertums. 29 Bereits um 1850 wird der Begriff der Tendenzliteratur mit der Arbeiterliteratur in Verbindung gebracht. 30 Neben den Vertretern des Naturalismus, wie beispielsweise Émile Zola, Maxim Gorkij und Gerhard Hauptmann, macht es sich auch der sogenannte aktivistisch-propagandistische Expressionismus von Ernst Toller zur Aufgabe, die Welt des Arbeiters und sein Leben darzustellen, nicht zuletzt deshalb, um durch diese Aufklärung eine Verbesserung der Situation der Arbeiter zu erwirken. 31 Auch Georg Lukács greift in die Diskussion um die Tendenzdichtung ein und betont, wie zuvor bereits Otto Ernst, deren Relativität: Tendenzkunst hat ihre Wurzel im bürgerlichen Klassenbewusstsein. [...] Das heißt in der bürgerlichen Literaturtheorie, was heute sogar offiziell anerkannt wird, erscheint als ‚tendenzmäßig‘ jenes Schriftwerk, dessen Klassengrundlage und Klassenziel der herrschenden Richtung - klassenmäßig - feindlich ist; die ‚eigene Tendenz‘ ist also keine Tendenz, nur die gegnerische. 32 Tendenz wird von Lukács als „Forderung, ein Sollen, ein Ideal, das der Schriftsteller der Wirklichkeit gegenüberstellt“ 33 betrachtet und unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von Sartres Verständnis der littérature engagée. Im Sinne der bürgerlichen Kunstauffassung des 19. und frühen 20. Jahrhunders ist die Tendenzlosigkeit das Ideal der Kunst. Allein die ungünstigen Umstände, wie eine Verschärfung der Klassengegensätze, zwingen ihr, so Lukács, die Tendenz auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich überall in Europa die avantgardistischen Bewegungen formiert, um den ästhetischen und den politischen Wert der Kunst neu zu diskutieren. Besonders die Intellektuellen, die sich und ihre Literatur dem sozialen und politischen Engagement verschrieben hatten, avancierten dabei zur Zielscheibe der konservativ-reaktionären Autoren, die ihnen den Verrat an den Werten der geistigen Elite vorwarfen. Moderne Kunst und Literatur wird bereits im Deutschland der 1920er Jahre als Ausdruck eines „Kulturbolschewismus“ beschimpft. In Frankreich beklagt Julien Benda in seinem Buch La Trahison des clercs 29 Otto Ernst, „Die Scheu vor der Tendenzdichtung“, in: Magazin für die Literatur des In- und Auslandes, Jg. 59, 1890; siehe dazu auch Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende, München: Beck, 1998, S. 109. 30 Siehe Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kröner, 7 1989, S. 926-927. 31 Ebd. S. 927. 32 Georg Lukács, „Tendenz oder Parteilichkeit“, in: ders., Schriften zur Literatursoziologie, Neuwied (u.a.): Luchterhand, 1970, S. 111. 33 Ebd. S. 113f. Engagement als Ethos der Literatur 63 (1927/ 1946) den Verrat der Intellektuellen an den absoluten und universalen Werten. Wortmächtig verurteilt er deren Hingabe an „politische Leidenschaften“ und bezeichnet ihre Abkehr von der Kunst als „Einbruch auf dem Gebiet der Moralität“ 34 : Heute [hingegen] demonstrieren Namen wie Mommsen, Treitschke, Ostwald, Brunetière, Barrès, Lemaître, Péguy, Maurras, D’Annunzio, oder Kipling, dass die clercs den politischen Passionen mit allen Merkmalen der Leidenschaftlichkeit frönen: mit Tatendrang und mit der Gier nach unmittelbaren Resultaten, mit bornierter Zielstrebigkeit, die Argumenten unzugänglich ist, mit Maßlosigkeit, Hass und fixen Ideen. Der moderne clerc überlässt es nicht länger dem Laien, in die politische Arena hinabzusteigen. Eine staatsbürgerliche Gesinnung hat er sich zugelegt und lässt sie voll durchschlagen; stolz ist er auf diese Gesinnung, und sein Schrifttum strotzt vor Verachtung für den, der sich ins künstlerische oder wissenschaftliche Schaffen zurückzieht und an den Leidenschaften der polis kein Interesse findet. 35 Tatsächlich hatten sich die Intellektuellen der Generation Sartre in ihren Romanen, der Résistancelyrik und im Journalismus dem Kampf gegen den erstarkenden Faschismus verschrieben. Anti-faschistische Bündnisse, wie der Front populaire waren nicht nur Austragungsort der politischen Diskussion, sondern avancierten zum Zentrum der intellektuellen Debatte. Dabei wird „Aktualität“ für das literarische Engagement sowohl im Hinblick auf die journalistische Produktion - bezeichnenderweise publiziert Albert Camus seine Zeitschriftenartikel in Sammelbänden mit dem Namen Actuelles - als auch im Hinblick auf die Ästhetik des Romans zu einem bedeutenden Faktor. Engagierte Schriftsteller begeistern sich für den Journalismus, da er als manifestation immédiate den zeitlichen Abstand zwischen historischem Ereignis und wertender Stellungnahme auf ein Minimum reduziert. Es ist also nicht verwunderlich, Übereinstimmungen zwischen dem journalistischen Schreiben und dem Erzählstil existentialistischer Romame zu finden. In ihrer Untersuchung zur historischpolitischen Entwicklung des Journalismus vom 19. ins 20. Jahrhundert erwähnt Géraldine Muhlmann Auszüge aus den Aufzeichnungen der Journalistin Caroline Rémy de Guebhard (1855-1929), die durch ihre journalistischen Stellungnahmen zur affaire Dreyfus als Séverine bekannt wurde. In diesen Kommentaren, die in zentralen Punkten an aktuelle Entwicklungen des amerikanischen Journalismus anschließen, kann ein Funktionswechsel journalistischen Schreibens ausgemacht werden, der auch noch in der Erzählperspektive des existentialistischen Romans nachgewiesen werden kann: „Le grand thème au cœur de l’écriture de Séverine, c’est l’opposition du témoin, cet observateur qui voit l’événement et, dans cette proximité, le ressent avec son corps tout entier, au journaliste traditionnel, qui en parle à distance.“ 36 Die Vor- 34 Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen (franz. La Trahison des clercs), München: Hanser, 1978, S. 112. 35 Ebd. S. 113f. 36 Géraldine Muhlmann, Une histoire politique du journalisme (XIX e -XX e siècle), S. 35. Das Konzept des „témoin“ will die traditionelle reflektierende Beobachtung des Journalisten durch ein quasi physisches Eintauchen in das Ereignis ersetzen und leitet daraus die Legitimation seines Saskia Wiedner 64 stellung vom Schriftsteller als Zeitzeugen und als Zeugen seines eigenen Lebens macht Simone de Beauvoir in einführenden Worten zu ihren autobiographischen Schriften deutlich: Il faut évidemment s’entendre sur mon impartialité. Un communiste, un gaulliste raconteraient autrement ces années; et aussi un manœuvre, un paysan, un colonel, un musicien. Mes opinions, convictions, perspectives, intérêts, engagements sont declarés: ils font partie du témoignage que je porte à partir d’eux. Je suis objective dans la mesure, bien entendu, où mon objectivité m’enveloppe. 37 Simone de Beauvoirs autobiographischen Schriften 38 sowie ihre Reiseberichte lassen sich als Zeugnis einer Epoche lesen. Die literarisch geformte Lebenswirklichkeit stellt nicht mehr nur auf der strukturellen Ebene der Erzählung Parallelen mit der Lebenswirklichkeit her, sondern will darüber hinaus durch den - von Adorno so heftig kritisierten - existentialistischen „Jargon der Eigentlichkeit“ den „goût d‘Histoire“ 39 einholen. Um dem Rezipienten mit seiner ganzen Existenz in die Romanhandlung hineinzuziehen, bedarf es eines glaubwürdigen realistischen Erzählens. Der Roman soll Lebenswirklichkeit in ihrer Brutalität und Vergänglichkeit authentisch darstellen. Durch ästhetische Mittel will Sartre die Aktualität in die Erzählung zurückholen und dem dort dargestellten Ereignis „[...] sa brutale fraîcheur, son ambiguïté, son imprévisibilité“ 40 durch die écriture zurückgeben. Das Einholen von Lebenswirklichkeit erfolgt durch ein realistisches Erzählen, wie es Sartre in den Essays zu Mauriac 41 , Faulkner 42 und Dos Passos 43 diskutiert und durch den aus dem Wahrheitsanspruchs ab: „Si le témoin est fiable, c’est parce qu’il est celui qui se laisse saisir par l’événement, sans chercher à le contrôler par volonté“ (Muhlmann S. 36). 37 Simone de Beauvoir, La Force des choses, Paris: Gallimard, 1963, S. 10. 38 Von der Intention der Zeitzeugenschaft ist der erste Band der Autobiographie Simone de Beauvoirs auszunehmen. Die Mémoires d’une jeune fille rangée (1958) werden vorwiegend unter dem Aspekt der Konstituierung des Bildes der Schriftstellerin Simone de Beauvoir geschrieben. Vgl. Simone de Beauvoir, La Force de l’âge, Paris: Gallimard, 1960, S. 12. 39 Jean-Paul Sartre, „Qu’est-ce que la littérature? “, S. 227: „L’historicité reflua sur nous; dans tout ce que nous touchions, dans l’air que nous respirions, dans la page que nous lisions, dans celle que nous écrivions, dans l’amour même, nous découvrions comme un gout d’Histoire, c’est-àdire un mélange amer et ambigu d’absolu et de transitoire.“ Vgl. dazu auch Simone de Beauvoir, „Mon experience d’écrivain (Conférence donnée au Japon, le 11 octoblre 1966)“, in: Claude Francis/ Fernande Gontier, Les Écrits de Simone de Beauvoir. La Vie - l’écriture. Textes inédits ou retrouvés, Paris: Gallimard, 1979, S. 439-457, hier S. 451: „Mais dans le roman aussi nous trouvons cette part du savoir [Simone de Beauvoir bezieht sich hier auf die Tatsache, dass die Darstellung des Erlebten (l’expérience vécue) durch Daten, Namen und reale Ereignisse gestützt werden muss, S.W.]; elle n’est pas moins considerable dans une œuvre de fiction; il s’agit en tout cas, à travers le savoir le plus vaste possible, de communiqué ce qui est directement incommunicable: le goût de mon siècle, le goût de ma vie, quelquechose qui est impossible à render d’une manière directe.“ 40 Ebd. S. 226. 41 Jean-Paul Sartre, „M. François Mauriac et la liberté“, in: ders., Situations I. Critiques littéraires, Paris: Gallimard, 1947, S. 43-69. 42 Jean-Paul Sartre, „Sartoris par W. Faulkner“, ebd. S. 9-17. 43 Jean-Paul Sartre, „A propos de John Dos Passos et de 1919“, ebd. S. 18-31. Engagement als Ethos der Literatur 65 Autor-Leser-Pakt hervorgehenden Rezeptionsakt, in dem der Leser das Erzählte quasi zum Leben erweckt. 44 Wie die phänomenologische Ontologie in ihren Grundzügen konstruktivistisch angelegt ist - l’existence précède l’essence - so sieht auch die littérature engagée eine konstruktivistische Neuschöpfung von Welt vor. Das Engagement-Verständnis wird besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Diskussionsgegenstand, wenn es darum geht, Standorte im literarischen und politischen Feld zu verhandeln. Einen Kristallisationspunkt findet die intensive - nicht nur in Deutschland geführte - Diskussion um engagierte Literatur und die politische Position des Schriftstellers in dem von Hans-Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch. Das 1965 erstmals publizierte Kursbuch knüpft an die 1964 stattfindende Debatte von Jean-Paul Sartre und Claude Simon an und nimmt diese in Teilen als Programm auf. Sätze wie: „Was bedeutet die Literatur in einer Welt, die hungert? Wie die Moral, muss auch die Literatur allgemein verständlich sein. Der Schriftsteller muss sich also auf die Seite der größeren Zahl, der zwei Milliarden Hungernden stellen, wenn er sich an alle wenden und von allen gelesen werden will. Anderenfalls dient er einer privilegierten Klasse und ist ein Ausbeuter wie sie“ 45 werden zum grundlegenden Impuls für das Anliegen der Zeitschrift, einer kritischen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Konflikten und Missständen. Der Engagement-Begriff Sartres wird dabei von Enzensberger abgelehnt. Unter Rekurs auf Adorno favorisiert Enzensberger die Poesie als Medium des Engagements und beschreibt ihre gesellschaftliche Funktion als Verweigerung, anarchisch-subversive Kritik und Antizipation im Modus der Verneinung. 46 Relative Prominenz erlangte auch der Schlagabtausch zwischen Hans-Magnus Enzensberger und Peter Weiss, in welchem letzterer Enzensberger den Mangel an einer eigenen, klar umrissenen politischen Positionierung vorwarf. Enzensberger hingegen kritisiert den Bekenntnischarakter der Argumente Peter Weiss’ sowie deren politische Wirkungslosigkeit und sieht sich selbst als Vertreter eines Realismus, der eine linksintellektuelle Gesinnungsethik ablehnt: 47 Es ist nicht jedermanns Sache, mit Bekenntnissen um sich zu schmeißen. Da Peter Weiss und andere mich auffordern, Farbe zu bekennen, so erwidere ich: Die diversen Seelen in ihrer und in meiner Brust sind weltpolitisch nicht von Interesse. Die moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir 44 Simone de Beauvoir, „Mon expérience d’écrivain“, S. 453f: „Il faut que par le ton, par le style, par la manière dont je [Simone de Beauvoir] parle dont je raconte, il faut que je charme, que je séduise, que je retienne la liberté du lecteur; que librement il reste là à m’écouter et à faire de son côté ce travail de création qui lui appartient.“ 45 Yaak Karsunke, „Kurs wohin? “, in: Über Hans-Magnus Enzensberger, hrsg. von Joachim Schickel, Frankfurt a. M.: 1970, S. 186-194, hier S. 186. 46 Vgl. Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Sp. 375. 47 In diesem Sinne äußert sich auch Sartre, wenn er in Qu’est-ce que la littérature? auf die Tatsache hinweist „[…] qu’on ne fait pas de bons livres avec de bons sentiments“ (Sartre, S. 105). Saskia Wiedner 66 verhasst. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit. 48 Die Diskussion um das Kursbuch 49 und um die Position der Schriftsteller im Deutschland der 1960er Jahre bleibt nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. 1968 mischt sich der italienische Intellektuelle und Übersetzer Enzensbergers, Franco Fortini, in die Debatte ein und kritisiert in seiner Theorie der Vollmacht die Tatsache, dass Literatur in Deutschland ein distanziertes Verhältnis zu Politik lediglich vortäuscht, eine Entwicklung, die er vom Faschismus bis in die Gegenwart nachweist. 50 III. Kritik an Jean-Paul Sartres Konzept der littérature engagée Selten ist ein Buch derart oberflächlich gelesen und missverstanden worden […] wie Sartres Schrift ‚Was ist Literatur? ‘, selten ist ein Begriff derart missdeutet worden wie der der ‚engagierten Literatur‘, den man als Losung einer das Wesen der Kunst verratenden Tendenzliteratur angriff. 51 Vor dieser Feststellung unternimmt Traugott König, Übersetzer des opus magnum L’Être et le néant (dt. Das Sein und das Nichts) und ausgewiesener Sartre-Kenner, eine défense des Sartreschen Engagement-Begriffs. König sieht die littérature engagée zu Recht einer Literatur entgegengesetzt, deren Ziel es ist, Kunst im Dienste der Politik zu instrumentalisieren, und deren extreme Ausformung in der Propagandaliteratur zu finden ist. Das Missverständnis, dass es sich bei der littérature engagée um eine Form von Literatur handle, die den Kunstcharakter des Werks zu Gunsten der politischen Einflussnahme preisgibt oder die aufgrund ihrer Inhalte als eine Apotheose des Inhumanen zu betrachten ist, wurde in den 1970er Jahren grundlegend revidiert. Immerhin findet sich in Qu’est-ce que la littérature? auch folgender Satz: „[…] bien que la littérature soit une chose et la morale une tout autre chose, au fond de l’impératif esthétique nous discernons l’impératif moral“ 52 , der die Vorstellung einer Verbindung von ästhetischer und moralischer Aufforderung postuliert. Der Leser soll durch den ästhetischen Zuschnitt des Stoffes in die Situation der in der Literatur geschilderten „monde avec ses injustices“ hineinversetzt werden und aus der in der Folge empfundenen Empörung eine moralische Konsequenz ziehen. In der gegen- 48 Hans-Magnus Enzensberger, „Peter Weiss und andere“, in: Über Hans-Magnus Enzensberger, hrsg. von Joachim Schickel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970, S. 246-251, hier S. 251. 49 Yaak Karsunke skizziert in seinem Beitrag von 1969, Kurs wohin? , kritisch die Entwicklung des Kursbuchs und stellt fest, dass die Zeitschrift nun endlich einen Kurs in Richtung Effektivität gefunden zu haben scheint. 50 Vgl. dazu Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Sp. 374f sowie, Franco Fortini, Verifica dei poteri (dt. Die Vollmacht. Literatur von heute und ihr sozialer Auftrag), Milano: Mondadori, 1969. 51 Traugott König, „Sartres Begriff des Engagements“, in: Neue Rundschau 91 (1980), H. 4, S. 9- 62, hier S. 39. 52 Jean-Paul Sartre, „Qu’est-ce que la littérature? “, S. 105. Engagement als Ethos der Literatur 67 seitigen Anerkennung der Freiheit von Autor und Leser wird das literarische Kunstwerk zu einem „acte de confiance dans la liberté des hommes“ 53 . In seinem Engagement-Essay unternimmt Theodor W. Adorno eine Bestandsaufnahme der Diskussion um engagierte Literatur und l’art-pour-l’art. Engagierte Kunst bleibt, so Adorno, politisch vieldeutig und zielt damit in ihrer Wirkung an einer konkreten historischen Situation vorbei. Lediglich eine „rücksichtslose Autonomie de[s] Werke[s]“ verhindert eine Anpassung der Kunst und ihren Verschleiß durch Faschismus und Kulturindustrie, die alles Kulturelle zu ersticken drohen. Adornos Ausführungen wenden sich explizit gegen das Engagement als ein der Kunst wesensfremdes Element; er urteilt hier als Soziologe, denn in Zeiten des Faschismus und des Völkermordes haftet Literatur, will sie in dieser historischen Situation Stellung nehmen, Engagement als ein Makel an: Die sogenannte künstlerische Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes, der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei’s noch so entfernt, das Potential, Genuss herauszupressen. Die Moral, die der Kunst gebietet, es keine Sekunde zu vergessen, schliddert in den Abgrund ihres Gegenteils. 54 Die vielzitierte Feststellung, es sei unmöglich, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, ist in der oben aufgeführten Passage implizit enthalten. Adornos Kritik am Engagement entsteht und muss vor dem Hintergrund historischer Ereignisse und einer bürgerlichen Gesellschaft gesehen werden, die Kunst zu ihren Zwecken instrumentalisiert. Die mains sales der Intellektuellen, die in Zeiten des Faschismus das literarische Feld gegen das politische weit öffneten und eine Überformung literarisch-ästhetischer Strukturen durch politisch-ideologische zuließen, können als ein weiteres Beispiel für das Diktum aus den Minima Moralia gelten, wo es heißt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ 55 In den Jahren 1962 bis 1964 spricht sich Adorno für eine autonomieästhetische Position nicht nur von Literatur, sondern von Kunst allgemein aus, ein Kunstideal, das er besonders in den Kompositionen Arnold Schönbergs realisiert sieht, denn nur „in der Verselbständigung der Kunst gegen das Reale [ist] ihr polemisches apriori enthalten“. 56 Adorno skizziert an dieser Stelle das Verhältnis von Kunst und gesellschaftlicher Totalität als ein voneinander zu trennendes. Kunst muss - will sie adäquat verstanden werden - an ihrem autonomen Status als Kunstwerk festhalten, ohne sich jedoch von ihrer fundamentalen Gesellschaftlichkeit zu lösen. 57 Das Spätwerk des Philosophen, die Ästhetische Theorie, welche 1970 posthum publiziert wurde, zeigt hingegen eine deutliche Abmilderung seines apodiktischen Urteils über engagierte Literatur. 53 Ebd. S. 105. 54 Theodor W. Adorno, „Engagement“, in: ders., Noten zur Literatur, Bd. III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 126f. 55 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 43. 56 Theodor W. Adorno, „Engagement“, S. 110. 57 Vgl. dazu Andreas Pradler, Das monadische Kunstwerk. Adornos Monadenkonzeption und ihr ideengeschichtlicher Hintergrund, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 129f. Saskia Wiedner 68 Eine Position des ‚désengagement‘, wie sie Adorno in den Noten zur Kunst für die Literatur der ersten Nachkriegszeit vorsieht - auch Roland Barthes zeigt in seinem Essay „Écrivains et écrivants“, dass das désengagement die wahre authentische Form des literarischen Engagements ist 58 -, ist nach Sartres Verständnis der littérature engagée nicht möglich. Weil die littérature engagée auch immer eine littérature située ist, also in einem und für einen historischen Kontext geschriebene Literatur, vermag sie diesem, wie auch den gesellschaftlichen Umständen nicht zu entkommen: Aujourd’hui, tout est changé, le silence même prend un sens redoutable. A partir du moment où l’abstention elle-même est considérée comme un choix, puni ou loué comme tel l’artiste, qu’il le veuille ou non, est embarqué. Il ne s’agit pas en effet pour l’artiste d’un engagement volontaire, mais plutôt d’un service militaire obligatoire. Tout artiste aujourd’hui est embarqué dans la galère de son temps. 59 Albert Camus lässt in seiner Rede an der Universität von Upsala am 14. Dezember 1957 - vier Tage zuvor hatte er den Literatur-Nobelpreis erhalten - keinen Zweifel daran, dass der Schriftsteller, dass Literatur, indem sie historisch situiert ist auch engagiert ist. Wie Sartre verwendet auch Camus das être embarqué in einem Pascalschen Sinne und verweist auf die ontologische Qualität des In-der-Welt- Seins. 60 Dieses, so betont Camus, ist ein In-Geschichte-sein, dem der Schriftsteller nicht entkommen kann und das ihn verpflichtet. Von Camus stammt auch die Definition von Engagement als einem „double jeu d’une œuvre et d’une vie“, die auf eine „Duplizität des Engagements“ 61 verweist. Demnach wird engagierte Literatur in ihrer Aussage erst glaubwürdig, wenn sie einen authentischen Hintergrund ihres Appells aufweisen kann. In der Diskussion zu seinem Vortrag L’Existentialisme est un humanisme beantwortet Sartre dieses Thema im Hinblick auf den Existentialismus wie folgt: Si on a une théorie d’engagement, il faut s’engager jusqu’au bout. Si vraiment la philosophie existentialiste est avant tout une philosophie qui dit: l’existence précède l’essence, elle doit être vécue pour être vraiment sincère. Vivre en existentialiste, c’est accepter de payer pour cette doctrine, et non pas l’imposer dans des livres. 62 Es ist also selbstverständlich, dass die Protagonisten der littérature engagée den Beweis für die Authentizität ihres Engagements nicht nur ihren Romanen und philosophischen Schriften antraten, sondern sich bewusst den Gefahren subversiver politischer Tätigkeit aussetzten: Albert Camus ist Herausgeber der Résistancezeitschrift Combat, 58 Vgl. dazu Roland Barthes, „Écrivains et écrivants“, in: ders., Œuvres complètes, tome II: Livres, textes, entretiens. 1962-1967, nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éd. du Seuil, 1993/ 94, S. 403-410. 59 Albert Camus, „Conférence du 14 décembre 1957“, in: ders., Discours de Suède, Paris: Gallimard, 1967, S. 26. 60 Jean-Paul Sartre, „Qu’est-ce que la literature? “, S. 145: „[...] je dirai qu’un écrivain est engagé lorsqu’il tâche à prendre la conscience la plus lucide et la plus entière d’être embarqué, c’est-àdire lorsqu’il fait passer pour lui et pour les autres l’engagement de la spontanéité immédiate au réfléchi. L’écrivain est médiateur par excellence et son engagement est la mediation.“ 61 Benoît Denis, Littérature et engagement, S. 48. 62 Jean-Paul Sartre, L’Existentialisme est un humanisme, S. 83. Engagement als Ethos der Literatur 69 André Malraux engagiert sich als Journalist in Vietnam gegen das französische Kolonialsystem, David Rousset ist einer der Gründer des trotzkistischen Parti ouvrier internationaliste (POI) und Sartre gründete die linke Bewegung Socialisme et liberté. Während es Sartre nicht gelang, sein Projekt des engagierten Romans - die Chemins de la liberté - fertig zu stellen, war sein Bemühen im Bereich des Dramas umso fruchtbarer. Die von Michel Contat und Michel Rybalka unter dem Titel Pour un théâtre de situations zusammengestellten Schriften weisen Sartres dramatisches Werk als eine littérature engagée aus, die didaktisch eingängig eine existentialistische Ethik formuliert. Am 12. November 1947 wird in der Zeitschrift La Rue ein Artikel Sartres gedruckt, der das Programm des engagierten Theaters liefert und in welchem es unter anderem heißt: Mais s’il est vrai que l’homme est libre dans une situation donnée et qu’il se choisit luimême dans et par cette situation, alors il faut montrer au théâtre des situations simples et humaines et des libertés qui se choisissent dans ces situations. [...] Ce que le théâtre peut montrer de plus émouvant est un caractère en train de se faire, le moment du choix, de la libre décision qui engage une morale et toute une vie. 63 Die Verbindung von Situation, Freiheit, Verantwortung und Engagement, wie sie die Figuren im théâtre de situations exemplarisch darstellen, ist konstitutiv für Sartres Konzeption der littérature engagée und lässt sich eingehend am sogenannten „offenen Schluss“ seiner Dramen (wie auch seiner Romane) aufweisen. In diesem Sinne illustriert besonders das Drama Les Mouches (UA Paris 1943) sowohl den Engagementals auch den Freiheitsbegriff: La tragédie est le miroir de la Fatalité. Il ne m’a pas semblé impossible d’écrire une tragédie de la liberté, puisque le Fatum antique n’est que la liberté retournée. Oreste est libre pour le crime et par-delà le crime: je l’ai montré en proie de la liberté comme Œdipe est en proie à son destin. Il se débat sous cette poigne de fer, mais il faudra bien qu’il tue pour finir, et qu’il charge son meurtre sur ses épaules et qu’il le passé sur l’autre rive. Car la liberté n’est pas je ne sais quel pouvoir abstrait de survoler la condition humaine: c’est l’engagement le plus absurde et le plus inexorable. Oreste poursuivra son chemin, injustifiable, sans excuses, sans recours, seul. Comme un héros. Comme n’importe qui. 64 Das Ende des Dramas zeigt Orest als freien Menschen, der sich einer offenen Zukunft in dem Wissen zuwendet, seine conditio humana, die in Form des Fatums an ihn herantritt, auf sich zu nehmen. Mit diesem freien Entschluss bannt er dessen determinierende Macht. Nicht die Freiheit dem Schicksal zu entkommen, sondern die Freiheit, dieses durch bewusstes Handeln zu dem seinen zu machen und sich diesem zu verpflichten, ist die einzige Freiheit, die Orest haben kann, die Freiheit, zu der er verurteilt ist, denn „[…] l’homme est condamné à être libre“ 65 . Die Zukunft erscheint nicht mehr als eine vor- oder fremdbestimmte. Das mythologische Bild des Atridenfluchs in Les Mouches dient Sartre in seiner philosophischen Umdeutung dazu, 63 Jean-Paul Sartre, Pour un théâtre de situations, textes rassemblés, établis, présentés et annotés par Michel Contat et Michel Rybalka, Paris: Gallimard, 1973 und 1992, S. 20. 64 Jean-Paul Sartre, Pour un théâtre de situations, S. 267. 65 Jean-Paul Sartre, L’Existentialisme est un humanisme, S. 39. Saskia Wiedner 70 die Verbindung von Freiheit und Engagement herauszustellen. Indem Orest sein Schicksal als Nachkomme der Atriden auf sich nimmt, befreit er das Volk von Mykene von dem ihm auferlegten Bußritual, das die Menschen in ständiger Furcht gefangen hielt: Oreste: […] À présent, je suis des vôtres, ô mes sujets, nous sommes liés par le sang, et je mérite d’être votre roi. Vos fautes et vos remords, vos angoisses nocturnes, le crime d‘Égisthe, tout est à moi, je prends tout sur moi. Ne craignez plus vos morts, ce sont mes morts. Et voyez: vos mouches fidèles vous ont quittés pour moi. […] Je veux être un roi sans terre et sans sujets. Adieu, mes hommes, tentez de vivre: tout est neuf ici, tout est à commencer. 66 Orest hat das Volk von der Kollektivschuld befreit. Zum Zeichen dafür umschwärmen die Erynnien, die im Stück als Fliegen um die Menschen kreisten, nunmehr allein ihn. Die Öffnung der Situation am Ende des Dramas besteht zum einen in der Befreiung des Volkes von einer, jede Zukunft determinierenden Vergangenheit, zum anderen in der prise de conscience und dem bewussten Handeln Orests, der den ihm auferlegten Atridenfluch annimmt und diesen transzendiert. Somit setzt sich das Subjekt (und damit das Bewusstsein) als unhintergehbare Größe. Die Vorstellung einer „offenen Situation“ zielt hier natürlich auf den dramatischen und didaktischen Effekt des Stücks. In L’Être et le néant gibt Sartre ein differenzierteres Bild der Situation, die niemals vollkommen offen, also unstrukturiert ist, sondern durch das Vergangene und/ oder das Gegebene immer schon gewisse Vorgaben in sich birgt. 67 Das Drama schließt mit dem Ausblick auf einen neuen Anfang; die tragödienübliche Katastrophe, der Mord an Ägisth, wird durch den Neubeginn und die Konzentration auf Oreste engagé, deutlich abgemildert. Im Gegensatz zum offenen Schluss des existentialistischen Dramas und Romans steht das Ende des Tendenzromans. Louis Aragons von 1949 bis 1951 entstandene historisch-politische Großerzählung Les Communistes 68 illustriert, wie die Erzählung in einer ausweglosen (historischen) Situation zu einem Ende kommt. Der letzte Band der Communistes schließt mit dem Hinweis, dass die deutschen Truppen im Sommer 1940 vor Paris stehen, bereit, die französische Hauptstadt zu besetzen. In Opposition zum Sartreschen „tout est neuf ici, tout est à commencer“, das die existentialphi- 66 Jean-Paul Sartre, „Les Mouches“, in: ders., Théâtre complet, éd. publ. sous la dir. de Michel Contat, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 2005, S. 1-70, hier S. 69f. 67 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’Être et le néant, S. 533: „Ces remarques doivent nous apprendre que la situation, produit commun de la contingence de l’en-soi et de la liberté, est un phénomène ambigu dans lequel il est impossible au pour-soi de discerner l’apport de la liberté et de l’existant brut. De même, en effet, que la liberté est échappement à une contingence qu’elle a à être pour lui échapper, de même la situation est libre coordination et libre qualification d’un donné brut qui ne se laisse pas qualifier n’importe comment.“ 68 Louis Aragon, Les Communistes, 5 Bde., (Bd. I: Février-septembre 1939; Bd. II: Septembrenovembre 1939; Bd. III: Novembre 1939 - mars 1940; Bd. IV: Mars-mai 1940; Bd. V: Mai-juin 1940), in: ders, Œuvres romanesques complètes, Bde. III-IV, éd. publ. sous la dir. de Daniel Bougnoux, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 2003/ 08. Engagement als Ethos der Literatur 71 losophische Adaption der Orestie beschließt, steht die Allmacht der Histoire in Les Communistes: „Là-haut, derrière la fenêtre entrouverte, il fait un soir lourd, Cécile et Jean sont assis épaule contre épaule. Il tient ses petites mains frêles, ses doigts à lui croisés avec les doigts de Cécile, comme s’ils disaient à deux une seule prière. Une prière? À qui l’adressent-ils aujourd’hui? C’est donc fini. Ils le savaient.“ 69 Während Orest sich entschließt zu handeln, verharren die Protagonisten Aragons hilflos, fallen zurück in die Passivität. Der fünfte Band endet mit dem Sieg der Geschichte, deren numinose Macht nicht einmal mehr von Gebeten der Menschen beschworen werden kann: „Les Communistes, a-t-on dit, est le livre de l’écrasement des hommes par l’Histoire et de la recherche acharnée par les hommes de leurs propres chemins dans l’Histoire.“ 70 Die Ausweglosigkeit der historischen Entwicklung wird dabei durch die Erzählperspektive in ihrer Wirkung unterstrichen. Bewusst setzt Aragon hier einen Wechsel von auktorialer und personaler Erzählperspektive ein, der die militärischen Bewegungen und das Innenleben der Protagonisten synoptisch ineinandersetzt und damit die Machtlosigkeit des Einzelnen gegen die historischen Ereignisse unterstreicht. Aragons Roman liefert eine aus der Perspektive der Kommunistischen Partei ideologisch überformte Sicht der Ereignisse in Frankreich im Sommer 1940. Diese wird vor den tagespolitischen Ereignissen der Jahre 1950 insofern relevant, als sie die Botschaft vermittelt, dass der Einzelne gegen die Geschichte machtlos ist. Allein mit der Hilfe der kommunistischen Partei, die die Befreiung der Arbeiter und die Abschaffung der Bourgeoisie vorsieht und sich als Verwalter der Geschichte begreift, kann der Einzelne auf sinnvolle Weise in der Geschichte tätig werden. Die Tendenzhaltigkeit vom Les Communistes besteht in der restlosen Deutung der historischen Situation, der militärischen Niederlage Frankreichs gegenüber dem faschistischen Deutschland und in der Etablierung der Partei als einzige heilbringende Kraft. Diese bestimmt das Bewusstsein der Protagonisten und schreibt sie in ihrem Sein fest. Dagegen eröffnet der Mythos in Sartres Drama, der existentiale Grunderfahrungen zum Ausdruck bringt, Möglichkeiten im Umgang mit Lebenswirklichkeit. Diese werden in der Perspektive einer existentialen Moral gezeigt, der Moral Orestes, die es dem Einzelnen verwehrt, auf vorgegebene Deutungen und Lösungen zurückzugreifen und ihn auffordert, sich in jeder Situation neu zu erfinden: „[…] je suis condamné à n’avoir d’autre loi que la mienne […] chaque homme doit inventer son chemin.“ 71 69 Louis Aragon, Œuvres romanesques complètes, Bd. V, S. 612. 70 Louis Aragon, Œuvres romanesques complètes, Bd. IV, S. 1355. 71 Jean-Paul Sartre, „Les Mouches“, S. 65. Saskia Wiedner 72 Literatur: Raymond Aron, Opium für Intellektuelle (franz. L’Opium des intellectuels), übersetzt von Klaus Peter Schulz, Köln/ Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1957. Theodor W. Adorno, „Engagement“, in: ders., Noten zur Literatur, Bd. III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 109-135. Ders., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. Louis Aragon, Œuvres romanesques complètes, Bde. III-IV, éd. publ. sous la dir. de Daniel Bougnoux, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 2003/ 08. Roland Barthes, „Écrivains et écrivants“, in: ders., Œuvres complètes, tome II: Livres, textes, entretiens. 1962-1967, nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éd. du Seuil, 1993/ 94, S. 403-410. Simone de Beauvoir, Pour une morale de l’ambiguïté, Paris: Gallimard, 1947. Dies., La Force de l’âge, Paris: Gallimard, 1960. Dies., La Force des choses, Paris: Gallimard, 1963. Dies., „Mon experience d’écrivain (Conférence donnée au Japon, le 11 octoblre 1966)“, in: Claude Francis/ Fernande Gontier, Les Écrits de Simone de Beauvoir. La Vie - l’écriture. Textes inédits ou retrouvés, Paris: Gallimard, 1979. Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen (franz. La Trahison des clercs), München: Hanser, 1978. Tanja Bürgel (Hg.), Tendenzkunst-Debatte 1910-1912. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären Sozialdemokratie, Berlin: Akademie-Verlag 1987. Albert Camus, „Conférence du 14 décembre 1957“, in: ders., Discours de Suède, Paris: Gallimard, 1967, S. 23-70. Christophe Charle, Naissance des „intellectuels“ 1880-1900, Paris: Éd. de Minuit, 1990. Ders., Les intellectuels en Europe au XIX. siècle. Essai d’histoire comparée, Paris: Éd. du Seuil, 2001. Annie Cohen-Solal, Sartre. 1905-1980, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1988. Benoît Denis, Littérature et engagement de Pascal à Sartre, Paris: Éd. du Seuil, 2000. Rudolf Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlass, Hildesheim: Olms, 1961. Hans-Magnus Enzensberger, „Peter Weiss und andere“, in: Über Hans-Magnus Enzensberger, hrsg. von Joachim Schickel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970. Otto Ernst, „Die Scheu vor der Tendenzdichtung“, in: Magazin für die Literatur des In- und Auslandes, Jg. 59, 1890. Franco Fortini, Verifica dei poteri (dt. Die Vollmacht. Literatur von heute und ihr sozialer Auftrag), Milano: Mondadori, 1969. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 18 2001. Heinrich Heine, „Die Tendenz“, in: Heinrich Heine. Werke, Bd. II, hrsg. und kommentiert von Stuart Atkins, München: Beck, 1978. Yaak Karsunke, „Kurs wohin? “, in: Über Hans-Magnus Enzensberger, hrsg. von Joachim Schickel, Frankfurt a. M.: 1970. Traugott König, „Sartres Begriff des Engagements“, in: Neue Rundschau 91 (1980), H. 4, S. 9- 62. Henning Krauß, Die Praxis der ‚littérature engagée‘ im Werk Jean-Paul Sartres 1938-1948, Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 1970. Ders., „Existentialistische und absurde Literatur“, in: Peter Brockmeier/ Hermann Wetzel (Hg.), Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 3: Von Proust bis Robbe-Grillet, Stuttgart: Metzler, 1982, S. 217-264. Georg Lukács, Existentialismus oder Marxismus? , Berlin: Aufbau-Verlag, 1951. Engagement als Ethos der Literatur 73 Ders., „Tendenz oder Parteilichkeit“, in: ders., Schriften zur Literatursoziologie, Neuwied (u.a.): Luchterhand, 1970. Emmanuel Mounier, Manifeste au service du personnalisme, Paris: Éd. du Seuil, 1961 und 2000. Géraldine Muhlmann, Une Histoire politique du journalisme (XIX e - XX e siècle), Paris: P.U.F., 2004. Pascal Ory/ François Sirinelli, Les Intellectuels en France de l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris: Perrin, 2004. Helmut Peitsch, „Engagement“, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von Fritz Haug, Bd. III, Berlin/ Hamburg: Argument, 1997, Spalte 371-384. Andreas Pradler, Das monadische Kunstwerk. Adornos Monadenkonzeption und ihr ideengeschichtlicher Hintergrund, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social ou Principes du droit politique, Paris: Bibliothèque Nationale, 1894. Ders., „Lettres écrites de la Montagne“, in: ders, Œuvres completes de Jean-Jacques Rousseau, Bd. III, Paris: Chez Furne, 1835. Jean-Paul Sartre, L’Être et le néant. Essai d’Ontologie phénoménologique, Paris: Gallimard, 1943. Ders., „Les Mouches“, in: ders., Théâtre complet, éd. publ. sous la dir. de Michel Contat, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 2005, S. 1-70. Ders., L’Existentialisme est un humanisme, Paris: Gallimard (Nagel, 1945), 1996. Ders., Situations I. Critiques littéraires, Paris: Gallimard, 1947. Ders., „Présentation des Temps modernes“, in: ders., Situation II, Paris: Gallimard, 1999 (Erstv. 1948, renouvelé en 1975). Ders., Pour un théâtre de situations, textes rassemblés, établis, présentés et annotés par Michel Contat et Michel Rybalka, Paris: Gallimard, 1973 und 1992. Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende, München: Beck, 1998. Trésor de la langue française. Dictionnaire de la langue du XIX e au XX e siècle (1789-1960), publié sous la dir. de Paul Imbs, tome VII, Paris: Éd. du Centre National de la Recherche Scientifique, 1979. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kröner, 7 1989. Michel Winock, Le Siècle des intellectuels, Paris: Éd. du Seuil, 1997 (dt. Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz: UVK, 2 2007). „A Century of Strangers“: Postkolonialismus und Transkulturalität Katja Sarkowsky Postkoloniale Theorien und Postkoloniale Studien sind mittlerweile fest etabliert; seit sich spätestens mit der Publikation des Bandes The Empire Writes Back 1989 der Begriff ‚postkolonial‘ auch in den Literaturwissenschaften durchgesetzt hat, ist das Feld nicht nur durch den Prozess der akademischen Institutionalisierung gegangen, sondern wurde immer wieder kritischen und affirmativen Bestandaufnahmen unterworfen. Nach 20 Jahren eines intensiven Etablierungsprozesses, mit allen damit verbundenen Vorteilen und Problemen, stellt sich vielfach die Frage nach einer möglichen theoretische Überholung des Konzeptes in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, nach einer möglichen ‚Erschöpfung‘ des Postkolonialismus als eines Paradigmas zur Analyse gegenwärtiger globaler Machtkonstellationen (Agnani 2007, 633). Gleichzeitig sehen andere Theoretiker den Postkolonialismus sogar noch weiter an Bedeutung gewinnen; beispielsweise Robert Young, einer der frühen Protagonisten und Historiker des Feldes, definiert in seinem programmatischen Beitrag „What is the Postcolonial? “ Postkolonialismus und postkoloniale Theorie als einen in postkolonialer Erfahrung verwurzelten Transformationsprozess, der nach wie vor andauert. Im Gegensatz zu vielen Kritikern sieht er die akademische Etablierung postkolonialer Studien als eine produktive Intervention ‚radikal differenter‘ Perspektiven und damit als eine nach wie vor zentrale und grundsätzliche Infragestellung ‚westlicher‘ Wissensproduktion mit weitreichender Wirkung: „Postcolonialism offers a language of and for those who have no place, who seem not to belong, of those whose knowledge and histories are not allowed to count. It is above all this preoccupation with the oppressed, with the subaltern classes, with minorities in any society, with the concerns of those who live or come from elsewhere, that constitutes the basis of postcolonial politics and remains the core that generates its continuing power“ (Young 2009, 14). Für Young stellt der Postkolonialismus eine produktive Verbindung der Analyse objektiver Prozesse mit subjektiven Erfahrungen dar - daher die Wichtigkeit literarischer Produktion für das Feld der postkolonialen Studien, denn in der Literatur manifestiere sich, so Young, subjektive postkoloniale Erfahrung (2009, 16). Dabei trägt hier der Postkolonialismus geradezu Züge eines Heilsversprechens: „Postcolonialism listens. […] Postcolonialism starts from the world as people experience it“ (17). Die von Young und anderen vertretene Variante des Postkolonialismus/ postkolonialer Theorie als eines theoretischen Allroundskonzepts und eines politischen Allheilmittels wird nicht nur von marxistischen Kritikerinnen und Kriti- Katja Sarkowsky 76 kern mit Skepsis bis hin zur Ablehnung betrachtet (z.B. Ahmad 1994). War die Infragestellung einer oft vereinfachten Machtstruktur von Kolonialherren und Kolonisierten und einer entsprechenden Sicht auf kulturelle Prozesse früh ein wichtiger Bestandteil der Kritik an postkolonialen Ansätzen, so hat sich in den letzten Jahren mit dem Begriff der Transkulturalität ein Konzept etabliert, das gezielt kulturelle Transformationsprozesse als zwar nicht unabhängig von gesellschaftlichen Machtstrukturen, aber zumindest als nicht auf sie festgelegt zu analysieren sucht. Transkulturalität ist, mit Heinz Antor, das „Ergebnis eines Jahrhunderte alten und im Zeitalter der Globalisierung drastisch beschleunigten Prozesses der kulturellen Hybridisierung […], der sowohl aus der extremen Binnendifferenzierung immer komplexer werdender moderner Kulturen als auch aus deren sich stetig weiter verzweigenden externen Vernetzungen resultiert und immer weiter andauert“ (Antor 2006, 29). Theoretiker des Postkolonialismus haben die Transkulturalität längst für die postkolonialen Studien vereinnahmt; in diesem Rahmen geht allerdings oft, wie z.B. in der bereits zitierten Bestandsaufnahmen von Young, die (durchaus produktive) Spannung verloren, die das Verhältnis der Konzepte mit Blick auf das ihnen jeweils zugrunde liegende Kulturverständnis kennzeichnet. Dabei scheinen auf den ersten Blick der Postkolonialismus, vor allem in seiner literaturwissenschaftlichen Ausprägung, und das Konzept der Transkulturalität nahtlos aneinander anzuschließen: Die anglophonen Gegenwartsliteraturen bietet viele Illustrationen für transkulturelle Prozesse, und vor allem in den postkolonialen Literaturen finden sich genügend Beispiele für Texte, deren Charaktere sich zwischen verschiedenen Kulturen bewegen, deren Autorinnen und Autoren sich nicht in nationalliterarische Schemata pressen lassen, und deren Ästhetik sich unterschiedlicher kulturellere Repertoires bedient. Die in Antors Definition hervorgehobene Hybridisierung und Binnendifferenzierung sowie die damit einhergehenden Verunsicherungen werden in der folgenden - vielzitierten und mittlerweile gezielt didaktisch eingesetzten 1 - Passage aus Zadie Smiths Roman White Teeth anschaulich in Szene gesetzt: „This has been the century of strangers, brown, yellow, and white. This has been the century of the great immigrant experiment. It is only this late in the day that you can walk into a play ground and find Isaac Leung by the fish pond, Danny Rahman in the football cage, Quang O’Rourke bouncing a basketball, and Irie Jones humming a tune. Children with first and last names on a direct collision course. Names that secrete within them mass exodus, cramped boats and planes, cold arrivals, medical checkups. It is only this late in the day, and possibly only in Willisden, that you can find best friends Sita and Sharon, constantly mistaken for each other because Sita is white (her mother liked the name) and Sharon is Pakistani (her mother thought it best - less trouble). Yet, despite all the mixing up, despite the fact that we have finally slipped into each other’s lives with reasonable comfort (like a man returning to his lover’s bed after a midnight walk), despite all this, it is still hard to admit that there is no one more English than the Indian, no one more Indian than the English. There are still young white men who are angry about that; 1 So findet sich der folgende Ausschnitt bereits in Arbeitsmaterialien für Schulen, z.B. in Schwarz 2006. Ich danke Ingola Seger für diesen Hinweis. Postkolonialismus und Transkulturalität 77 who will roll out at closing time into the poorly lit streets with a kitchen knife wrapped in a tight fist“ (Smith 2000, 271-272). Dieses Zitat verweist auf gesellschaftliche Konstellationen, in diesem Fall in Großbritannien, in denen Kultur und individuelle kulturelle Zugehörigkeit nicht oder nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Die Passage bezieht sich somit indirekt auf (freiwillige und unfreiwillige) Migrations- und Austauschprozesse, die sich zwar seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschleunigt haben, die aber bereits im Kontext der europäischen Expansion und des Imperialismus im größeren Maßstab begannen und davon maßgeblich geprägt sind. Diese Situation wie auch die literarischen Werke, die diese gesellschaftliche Situation reflektieren und verhandeln, haben seit den 1960er Jahren zu der Herausbildung theoretischer Herangehensweisen geführt, die versuchen, die spezifischen Bedingungen dieser Literaturen, ihrer Themen und ästhetischen Strategien zu fassen. Dies waren vor allem seit den 1980er Jahren die unterschiedlichen und teils auch widersprüchlichen Ausprägungen des bereits angesprochenen Postkolonialismus. Seit der Jahrtausendwende ist nun die bereits angedeutete Entwicklung in den Postcolonial Studies zu beobachten, die Graham Huggan kritisch mit dem Begriff transcultural turn bezeichnet hat (2006). Die Einordnung dieser Entwicklung in die lange Reihe der turns - linguistic, performative, spatial, religious etc. - suggeriert eine gewisse Skepsis gegenüber dem theoretischen Newcomer ‚Transkulturalität‘. Postkoloniale Theorien haben von Anfang an versucht, kulturelle Pluralität und Verflechtungen zu erfassen und kritisch in den Kontext der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbes zu stellen, und diese Konzepte sind alles andere als obsolet. An Huggans Skepsis anknüpfend möchte ich in diesem Beitrag daher das Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Kulturkonzepten in den Mittelpunkt stellen und fragen: Inwieweit stellt dieser transcultural turn etwas grundsätzlich Neues dar? Greift er mit dem modischen ‚trans-‘ nur auf ein momentan gut vermarktbares Präfix zurück - wie bis vor ein paar Jahren das ‚post‘ - oder findet hier eine ernsthafte, interdisziplinär inspirierte Paradigmenverschiebung statt? Im Folgenden werde ich die theoretischen Fragen, auf die ich mich konzentriere, vor allem auf das Feld der anglophonen postkolonialen Literaturen beziehen. Das heißt, es geht mir hier nicht um den globalen Kontext der Postcolonial Studies, den Young in seinem eingangs zitierten Text meint, sondern spezifischer um postkoloniale Kulturkonzepte und Transkulturalität in der anglistischen Literaturwissenschaft. Zunächst werde ich einige einflussreiche Konzepte der postkolonialen Theorie mit Blick auf das ihnen zugrunde liegende Kulturmodell und in Hinsicht auf diejenigen Aspekte diskutieren, die zur gegenwärtigen Attraktivität des Konzeptes der Transkulturalität geführt haben. Postkoloniale Theorien sind kein einheitliches Gebilde und teilweise höchst widersprüchlich, daher wird dies notwendigerweise selektiv und reduktiv sein. Daran anschließend werde ich das Konzept von Transkulturalität, wie es der Jenaer Philosoph Wolfgang Welsch formuliert hat, kritisch diskutieren - ein Konzept, das zwar bislang vor allem in der deutschsprachigen Anglistik und Kulturwissenschaft rezipiert wurde, das aber zunehmend auch international an Gewicht gewinnt. Abschließend möchte ich vor dem Hintergrund der eben Katja Sarkowsky 78 formulierten Fragen einige Überlegungen dazu anstellen, was das Potential dieses Ansatzes im Gegensatz zu älteren Konzepten kultureller Pluralität und Verflechtung für die Literaturanalyse sein könnte. 1. Kulturkonzepte in postkolonialen Theorien Die drei Konzepte, die ich im Folgenden diskutieren möchte, können verkürzt als Kulturnationalismus, als Writing-Back Paradigma und als Hybridisierung bezeichnet werden. Auch wenn sie durchaus in eine zeitliche Entwicklungsfolge eingeordnet werden können - der Kulturnationalismus als eng verknüpft mit den Entkolonisierungsbewegungen vor allem in Afrika, das Writing Back-Paradigma als Ansatz der späten 1980er Jahre und die Hybridität als Konzept der 1990er Jahre - und sich eine zunehmende Auflösung kultureller Grenzen abzeichnet, die oft mit einer theoretischen ‚Weiterentwicklung‘ assoziiert wird, so ist dieser Eindruck einer Zeitlinie doch teilweise irreführend: Alle drei Konzepte, wenn auch in unterschiedlicher Weise, sind, wie zu zeigen sein wird, durchaus noch aktuell. Worauf es mir im Folgenden ankommt ist es, das jeweils zugrunde liegende Verständnis von Kultur herauszuarbeiten, um es dann in einem nächsten Schritt mit dem Konzept der der Transkulturalität in Verbindung zu bringen. Kulturnationalismus Durch ihren engen Bezug zu antikolonialen Widerstandsbewegungen haben viele Ausprägungen postkolonialer Theorien einen stark nationalen Bezugsrahmen, der das Ringen um nationale Unabhängigkeit widerspiegelt; das gilt für die ‚erste‘ Entkolonisierungsphase des 19. Jahrhunderts, als die sog. settler colonies Kanada, Australien und Neuseeland weitgehende Unabhängigkeit von Großbritannien erhielten, vor allem aber für die Unabhängigkeitsbewegungen in Asien, Afrika und der Karibik Mitte des 20. Jahrhunderts. Zwar wird im Kontext dieser Bewegungen - politisch und später auch akademisch - Nationalkultur meist als ein diskursives Konstrukt anerkannt, strategisch wird sie jedoch oft zur unhinterfragbaren Basis für den antikolonialen Widerstand und den postkolonialen Gesellschaftsaufbau definiert; eine Art des ‚strategischen Essentialismus‘, wie Gayatri Spivak diese Position genannt hat (1990, 11). Das gilt zum einen für die Literaturkritik; wie Ashcroft et al. konstatieren: „The development of national literatures and criticism is fundamental to the whole enterprise of post-colonial studies“ (1989, 17). Zum anderen gilt es für die Verknüpfung von Literatur und Nation im unmittelbaren Dekolonisierungskontext. Für Frantz Fanon beispielsweise ist im afrikanischen Kontext die Wiederentdeckung und positive Neubewertung ‚traditioneller‘ afrikanischer Kulturen ein wichtiger Ausgangspunkt für den Unabhängigkeitskampf, weil sie zu einer Wiedergewinnung kulturellen Selbstbewusstseins beiträgt. So schreibt er in „On National Culture“ über die psychologische Wirkung des Kolonialismus: „Colonialism is not satisfied merely with holding a people in its grip and emptying the native’s brain of Postkolonialismus und Transkulturalität 79 all form and content. By a kind of perverted logic, it turns to the past of the oppressed people, and distorts, disfigures, and destroys it“ (1990, 169). Aber das Wiedererstarken von Traditionen als Antwort auf diese Wirkung des Kolonialismus genügt für Fanon nicht, da es letztendlich nur das Stereotyp perpetuiere, afrikanische oder gar ‚schwarze‘ Kultur sei ein statisches, homogenes Gebilde. Es ist daher die Herausbildung von Nationalkultur, die auf lange Sicht eine im umfassenden Sinn unabhängige Postkolonialität ermögliche. Nationalliteratur ist dabei ein mobilisierender und identitätsstiftender Teil dieser Kultur, der wenig mit der Zelebrierung von Tradition zu tun hat und daher nicht über bestimmte kulturelle Inhalte definiert ist. Nationalkultur und -literatur sind vielmehr als ständige Transformationsprozesse zu verstehen, die sich für Fanon über ihre politische Funktion definieren. Nationale Kultur wird hier also nicht als ‚rein‘ oder notwendigerweise homogen verstanden, aber dennoch durch ihre Funktion für den Unabhängigkeitskampf und den Aufbau der Nation als definierbar und essentiell abgrenzbar. 2 Diese Abgrenzbarkeit ist somit nicht so sehr deskriptiv, sondern vor allem präskriptiv. 3 Trotz aller Kritik, die am Konzept des Kulturnationalismus geäußert wurde - sein impliziter oder expliziter Essentialismus; die neuen Ausschlussmechanismen, die er produziert; die Grundannahme abgrenzbarer Nationalkulturen -, und trotz signifikanter Verschiebungen in der postkolonialen Theoriebildung hat das Modell der postkolonialen Nationalliteratur mit all den Widersprüchen, die sich hier finden gerade im Bereich der postkolonialen oder Neuen Englischen Literaturen stark nachgewirkt - als politisches Konzept, aber auch als analytischer Ansatz. Im kanadischen Kontext findet sich diese kulturnationalistische Herangehensweise beispielsweise in den 1970er Jahren. In Survival. A Thematic Guide to Canadian Lit e rature benennt Margaret Atwood survival als das aus ihrer Sicht zentrale, gar definierende Thema kanadischer Literatur. Ihr Konzept ist, und das ist charakteristisch für den Kulturnationalismus, sowohl ein analytisches als auch ein normatives: Neben der Identifizierung des Themas an sich in der Literatur skizziert sie vier ‚Opferpositionen‘ - vom Opfer, das sich nicht als solches erkennen kann oder will bis hin zum ehemaligen Opfer, das diesen Status überwunden hat. Diese Positionen sind einerseits das Ergebnis einer Literaturinterpretation; andererseits stellen sie eine literarische und kulturelle Entwicklungslinie hin zur Autonomie dar, nicht unähnlich der, die Fanon für afrikanische Literaturen postuliert hat. Dabei definiert Atwood Kanada zugespitzt als eine Kolonie und ordnet ihr Modell somit in einen Entkolonisierungskontext ein wenn sie schreibt: 2 Diese Position ist auch als critical nationalism bezeichnet worden (Ashcroft et al. 2000, 91). 3 Die historische Ironie ist hier freilich schwer zu übersehen, sind doch die postkolonialen Staaten Afrikas im Zuschnitt ihrer politischen Grenzen ein koloniales Produkt, eine Tatsache, die viele postkoloniale Auseinandersetzungen innerhalb dieser Staaten und über die Landesgrenzen hinweg mit verursacht oder zumindest beeinflusst hat, mit meist katastrophalen Folgen für die Bevölkerung. Ebenso bedeutete der Status als postkoloniale Nation nicht automatisch eine grundsätzliche Veränderung von Machtstrukturen - auch nach dem Abzug der Kolonisatoren etablierten sich autoritäre und diskriminierende Strukturen. Siehe z.B. Antor 2010, 9; Ashcroft 2010, 72. Katja Sarkowsky 80 „Let us suppose, for the sake of argument, that Canada as a whole is a victim, or an ‚oppressed minority,‘ or ‘exploited‘. Let us suppose in short that Canada is a colony. A partial definition of a colony is that it is a place from which a profit is made, but not by the people who live there: the major profit from a colony is made in the centre of empire. […] Of course there are cultural side-effects which are often identified as ‘the colonial mentality,’ and it is these which are examined here; but the root cause for them is economic“ (1972, 36). Atwoods Kulturnationalismus beruht, wie der Fanons, auf der Grundannahme einer klaren Abgrenzbarkeit von Nationalkultur und -literatur und deren politischen und identitätsstiftenden, antikolonialen Funktion. 4 Neueren Datums, nämlich aus dem Kontext der Identitätsdiskussionen und des Wiedererstarkens ethnischen Bewusstseins ist ein letztes Beispiel, der tribal nationalism der sich in den Schriften vieler indigener Theoretikerinnen und Theoretiker findet. Bereits der in Kanada etablierte Begriff der ‚First Nations‘ für autochtone Gruppen signalisiert einen politischen Anspruch, der mit einer - strategischen oder essentiellen - Gleichsetzung von Nation, Bevölkerung, Territorium, Sprache und Kultur einhergeht. Die Lakota-Kritikerin und Schriftstellerin Elizabeth Cook-Lynn formuliert einen tribalen Kulturnationalismus als klaren Auftrag für indigene Autorinnen und Autoren, ein Auftrag, dem viele in ihrer Einschätzung des kommerziellen Erfolges willen nicht oder nicht mehr nachkommen. Diese „postcolonial incoherence“ (1996, 83) führt für Cook-Lynn dann zu einer gefährlichen Fehleinschätzung des Status indigener Gruppierungen, sowohl bei der Mehrheitsbevölkerung, als auch in indigenen Kontexten selbst, die sich massiv auf das Projekt der politischen und kulturellen Dekolonisierung auswirken: „that tribes are not nations, that they are not part of the Third World perspective vis-à-vis colonialism, and that, finally, they are simply ‘colonized’ enclaves in the United States, some kind of nebulous sociological phenomena. It is crucial to understand that such an assessment is in direct opposition not only to the historical reality of Indian nations in America, but also to the contemporary work being done by tribal governmental officials and activists, politicians, and grassroots intellectuals to defend sovereign definition in the new world“ (1996, 82). Der Nationenbegriff, den Cook-Lynn zugrunde legt, ist eng verbunden mit einer klar abgrenzbaren (tribalen) Kultur. Mit Ernest Renan definiert sie die Nation als ein ‚spirituelles Prinzip‘ (87) 5 , stärker als bei Atwood und vergleichbar der von Fanon vertretenen Auffassung ist der Kulturnationalismus für Cook-Lynn ein normatives Projekt im Kontext kultureller und politischer Dekolonisierung. 4 Der Kulturnationalismus zeigt somit direkt oder indirekt Gemeinsamkeiten mit dem Herder‘schen Konzept von Kultur und Nation auf, wie er es u.a. 1774 in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit formuliert hat; ich komme an späterer Stelle im Kontext der transkulturellen Kritik auf diesen Entwurf zurück. 5 Cook-Lynn anerkennt allerdings die Ironie, die in dieser Referenz steckt wenn sie schreibt: „Unfortunately, Renan’s discourse turns out to be an argument for colonization rather than the nationalism which indigenous peoples have imagined and asserted for generations“ (1996, 88). Postkolonialismus und Transkulturalität 81 In allen drei Beispielen ist nicht nur Kultur und vor allem Literatur ein zentrales Element des Entkolonisierungsprozesses und des Ringens um Unabhängigkeit, sondern Kultur wird und muss vor diesem Hintergrund als abgrenzbar konzipiert werden, im direkten oder indirekten Rückgriff auf Kultur- und Nationenbegriffe des 18. und 19. Jahrhunderts. Mit einigen - auch grundsätzlichen - Verschiebungen hat sich dieses Verständnis von Kultur als abgrenzbar und im nationalen Kontext identitätsstiftend auch in einigen neueren postkolonialen Ansätzen erhalten. Dies ist mit Einschränkung auch der Fall in denjenigen Theorien, die sich, wie das sog. Writing Back Paradigma, maßgeblich aus dekonstruktivistischen Ansätzen speisen. Writing Back-Paradigma Das Konzept des writing back trug maßgeblich dazu bei, den Begriff postcolonial in der Literatur- und Kulturwissenschaft in den späten 1980er Jahren zu etablieren. Formuliert wurde er von Bill Ashcroft, Gareth Griffith und Helen Tiffin in ihrem kontroversen und einflussreichen Buch The Empire Writes Back. Darin definieren sie postkolonial mit Bezug auf „all the culture affected by the imperial process from the moment of colonization to the present day. This is because there is a continuity of preoccupation through the historical process initiated by European imperial aggression. We also suggest that it is most appropriate as the term for the new cross-cultural criticism which has emerged in recent years and for the discourse through which this is constituted“ (Ashcroft et al. 1989, 2). Im Gegensatz zu Theorien, die sich vor allem auf Kritiker wie Fanon berufen, nehmen Ashcroft, Griffith und Tiffin Abschied von einem notwendigerweise nationalen Bezugsrahmen; das Projekt in Empire ist dezidiert komparatistisch ausgerichtet. Zudem wird postcolonial von Anfang in direkten Bezug zu cross-cultural gesetzt, nicht nur im Hinblick auf die Literaturkritik, sondern auch auf eine der zentralen literarischen Strategien, die die Autoren identifizieren, nämlich der genannten Strategie des writing back. Generell sieht dieser Ansatz postkoloniale Literatur als Antwort und Reaktion auf die literarischen Traditionen des kolonialen Zentrums. Spezifischer - und anschaulicher - bezeichnet es auch die Strategie des unmittelbaren rewritings kanonischer Texte; so z.B. Jean Rhys‘ Wide Sargasso Sea (1966) als ‚postkoloniale Antwort‘ auf Charlotte Brontë’s Jane Eyre oder J.M. Coetzees Roman Foe (1986) als rewriting von Defoes Robinson Crusoe. Dieser Prozess des postkolonialen ‚Zurück-‘ oder ‚Gegenan-Schreibens‘ wird von Ashcroft, Griffith und Tiffin als eine Strategie des Widerstandes und der Subversion identifiziert, die epistemologische Grundannahmen eines eurozentrischen Weltbildes radikal in Frage stellt: „A characteristic of dominated literatures is an inevitable tendency towards subversion, and a study of the subversive strategies deployed by post-colonial writers would reveal both the configurations of domination and the imaginative and creative responses to this condition. Directly and indirectly, in Salman Rushdie’s phrase, the ‘Empire writes back’ to the imperial ‘centre’, not only through nationalist assertion, proclaiming itself central and Katja Sarkowsky 82 self-determining, but even more radically by questioning the bases of European and British metaphysics, challenging the world-view that can polarize centre and periphery in the first place“ (1989, 33). The Empire Writes Back steht hier deutlich im Kontext einer dekonstruktivistisch ausgerichteten Literaturwissenschaft (Schulze-Engler 2004, 7), die scheinbar klare Grenzen immer wieder in Frage stellt. 6 Wie bereits aber in der Festlegung auf die Subversion sich abzeichnet, wird in Empire jedoch deutlich - trotz der in diesem Konzept angelegten Überschreitung kultureller Grenzen und teils im Widerspruch zu den dekonstruktivistischen Ansätzen -, dass die grundlegende kulturelle Trennlinie zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten bzw. zwischen Europa und dem europäisch geprägten Nordamerika einerseits und den asiatischen und afrikanischen Ländern andererseits verläuft. „What each of these literatures has in common beyond their special and distinctive regional characteristics is that they emerged in their present form out of the experience of colonization and asserted themselves by foregrounding the tension with the imperial power, and by emphasizing their differences from the assumptions of the imperial centre. It is this which makes them distinctly post-colonial“ (Ashcroft et al. 1989, 2) Die Abgrenzung postkolonialer von anderen Literaturen ist eine aus historischen Bedingungen erwachsene, keine essentielle. Dennoch läuft diese Kategorisierung auf Basis der Kolonisierungserfahrung auf Festlegung kultureller Differenz hinaus, nämlich zwischen (ehemaligen) Kolonialherren und (ehemaligen) Kolonisierten. Kulturelle Verflechtungen werden sehr wohl gesehen, haben aber im Rahmen dessen, was die Autoren als postkoloniale Strategien identifizieren, eine eindeutige Rolle, nämlich die des Widerstandes - eine Lesart, die die grundlegende Gegenüberstellung von colonizer und colonized intakt lässt und auch die kulturelle Abgrenzbarkeit in diesem Rahmen voraussetzt. Das heißt, auch wenn sich dieses Modell in vielem grundsätzlich von Konzepten wie dem Fanons unterscheidet, so bleibt doch ein dichotomes Verständnis von Kulturen erhalten, das Binnendifferenzierung konzeptionell nicht berücksichtigt und das mit Blick sowohl auf historische Konstellationen als auch auf kulturelle Bezüge statisch und kontextunsensibel bleibt. Nichtsdestotrotz gibt es in den postkolonialen Theorien bereits von Anfang an Konzepte, die explizit versuchen, die Durchlässigkeit von Kulturen zu fassen, und diese Konzepte sind, im Gegensatz zu den eben dargestellten, zumindest in ihrer Entstehung sehr kontextgebunden. So haben beispielsweise das sprachwissenschaftliche Konzept der Kreolisierung, das sich vor allem auf die sprachlichen Entwicklungen in der Karibik bezieht, oder der Begriff der Transkulturation, wie er von Fernando Ortiz bereits in den 1940er Jahren ebenfalls für den karibischen Kontext entwickelt wurde (Ortiz 1995 [1947]), durchaus Bezugserweiterungen erfahren, blei- 6 Die Diskussion um das Verhältnis von Postmoderne und Postkolonialismus dominierte in den späten 1980er und den 1990er Jahren viele Aspekte der theoretischen Debatte innerhalb der postkolonialen Literaturwissenschaft. Eine Skizzierung dieser Auseinandersetzungen würde hier zu weit und vom eigentlichen Thema der Kulturkonzepte weg führen; verwiesen sei daher exemplarisch auf Appiah 1992. Postkolonialismus und Transkulturalität 83 ben aber tendenziell eher an ihren Entstehungskontext gebunden. Homi Bhabhas Konzept der Hybridität schließlich, formuliert in den frühen 1990er Jahren, ist zwar ebenfalls eng an den Kontext gebunden, auf den sich Bhabha ursprünglich bezog, die britische Kolonialherrschaft in Indien, hat aber stärker als die anderen genannten Ansätze eine Bedeutungserweiterung erfahren, die den Entstehungskontext gelegentlich vergessen lässt. Hybridität Im Folgenden werde ich nur auf das Konzept der Hybridität eingehen, das vermutlich der einflussreichste dieser postkolonialen Entwürfe kultureller Pluralität war und ist. Zum Begriff der Transkulturation, der sich angesichts der Verschiebung, um die es mir hier geht, unmittelbar anzubieten scheint, komme ich an späterer Stelle zu sprechen. Homi Bhabhas Theorie der Hybridität ist eng verknüpft mit der Ambivalenz der britischen Kolonialherrschaft in Indien (Bhabha 1994, 112). Zwar ist diese klar von einem politischen Machtgefälle gekennzeichnet. Dennoch sind für Bhabha Kolonialherren und Kolonisierte in einen Prozess gegenseitiger kultureller Konstituierung eingebunden, der nicht ausschließlich durch die (im Kolonialismus forcierte) Kulturbegegnung als solche zu Stande kommt, sondern auch durch den Zivilisierungs- und damit verknüpften pädagogischen Anspruch der Briten in Indien (Bhabha 1994, 106). Dabei ist die kulturelle ‚Reinheit‘, also die Abgrenzung und das Bestehen auf ontologisch fundierte Grenze zwischen britisch-europäischer und indischer Kultur, eine Obsession der Kolonialherren - kulturelle Beeinflussung darf nur monodirektional stattfinden, zum Beispiel durch die Implementierung des britischen Schulsystems, christliche Missionierung oder die Verbreitung der englischen Sprache. Dieser Blick auf kulturelle Prozesse, so Bhabha, ist eine Illusion, eine Wunschvorstellung geboren aus Angst: denn der Kolonialismus verändere nicht nur die Kolonisierten und deren Kultur, sondern auch die Kultur der Kolonisatoren: „A contingent, borderline experience opens up in-between colonizer and colonized. This is a space of cultural and interpretive undecidability produced in the ‘present’ of the colonial moment“ (Bhabha 1994, 206). Diese Offenheit des kulturellen Zwischenraumes macht kulturelle Prozesse unkontrollierbar und produziert unerwartete, die Abgrenzung und Abgrenzbarkeit zwischen den Kulturen in Frage stellende Effekte. 7 Das Konzept der Hybridität unterminiert somit die Möglichkeit der Gegenüberstellung ethnischer und kultureller Gruppen als homogene Einheiten grundsätzlich (Bhabha 1994, 207). Hybridität bei Bhabha ist als Prozess kultureller Formierung zu verstehen, in dem die Kriterien zur Identifizierung von ‚Differenz‘ nicht von vorneherein feststehen, sondern ständig neu ausgehandelt werden (müssen) in einem dis- 7 ‚Kultur‘ selbst ist gar ein Effekt; Bhabha schreibt: „To see the cultural not as the source of conflict - different cultures - but as the effect of discriminatory practices - the production of cultural differentiation as signs of authority - changes its value and the rules of recognition“ (1994, 114). Katja Sarkowsky 84 kursiven Raum, den er „Third Space of enunciation“ nennt (1994, 37). Bill Ashcroft bezieht dies direkt auf die Herausbildung kultureller Identität (individuell wie kollektiv) wenn er schreibt: „Cultural identity always emerges in this contradictory and ambivalent space [the Third space of enunciation], which for Bhabha makes the claim to a hierarchical ‘purity’ of cultures untenable“ (Ashcroft et al. 2000, 118). 8 Dieser ‚Dritte Raum‘ ist somit gleichzeitig auch die Voraussetzung für die Artikulation einer nicht-statischen, nicht bereits in ihren Kategorien festgelegten kulturellen Differenz: „the theoretical recognition of the split-space of enunciation may open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity“ (Bhabha 1994, 38). 9 Bhabhas Verständnis von Hybridität betont somit die inhärente Heterogenität von Kulturen, also deren Binnendifferenzierungen; Kulturen werden als poröse Konstellationen begriffen, die sich in einem kontinuierlichen Transformationsprozess befinden. Gleichzeitig, und das ist zentral für diesen Begriff, wird Hybridität dezidiert als Phänomen einer spezifischen kolonialen Konstellation verstanden, der der britischen Kolonialherrschaft auf dem indischen Subkontinent. Das heißt, Hybridität bei Bhabha unterminiert zwar den Reinheits- und Absolutheitsanspruch der Kolonialherren (Ashcroft 2000, 110, 118) und ist somit subversiv, ist aber dennoch immer eingebunden in die Hierarchie von Kolonisierenden und Kolonisierten. 10 2. Transkulturalität Angesichts dieses theoretischen Hintergrundes stellt sich nun die Frage, was in Abgrenzung von Ansätzen, die bereits von einem Verständnis von Kulturen als durchlässig ausgehen, das aktuelle Konzept der ‚Transkulturalität‘ zusätzlich leisten soll und kann. Ich darf noch einmal an die zentralen Aspekte der Definition von Transkulturalität erinnern, die ich eingangs zitiert habe: im Kontext der Globalisierung beschleunigte Prozesse kultureller Hybridisierung; diese Prozesse als Resultat einer extremen Binnendifferenzierung komplexer Gesellschaften einerseits und intensivierter externer Vernetzungen andererseits (Antor 2006, 29). Dabei ist es wichtig sich vor Augen zu führen, dass der gegenwärtige Erfolg dieses Begriffs in den Postcolonial Studies und in den Neuen Englischen Literaturen im Kontext theoretischer Entwicklungen steht, die auch mit der Übernahme von Ansätzen aus den Sozialwissenschaften zu tun haben, vor allem mit dem Konzept des Transnationalismus und der radikalisierten oder multiplen Moderne(n) (z.B. Beck 8 Ashcroft und seine Ko-Autoren setzen allerdings Bhabhas Verständnis von Hybridität mit dem Konzept der Transkulturalität weitestgehend gleich, eine Identifizierung, die ich offensichtlich nicht teile. 9 Wie für andere Kritikerinnen und Kritiker ist auch für Bhabha der Multikulturalismus insofern problematisch, als er kulturelle Differenz immer schon festschreiben, reifizieren muss, um in eine entsprechende Politik umgesetzt werden zu könne. Siehe auch Bennett 1998. 10 Für eine detaillierte Diskussion von Bhabhas Hybriditätskonzept siehe z.B. Fludernik 1998, Young 1990. Postkolonialismus und Transkulturalität 85 2002, Giddens 1990). Diese Konzepte sind einerseits auf beschleunigte Globalisierungsprozesse und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Nationalstaats in vielen Entscheidungsbereichen zurückzuführen; andererseits hängen sie mit dem Versuch zusammen, die ausschließliche Identifizierung des ‚Westens‘ mit der Moderne, bzw. der Moderne mit westlichen Modellen abzulösen durch ein Verständnis von Moderne und Modernisierung als eines vielschichtigen und differenzierten kulturellen und politischen Prozesses (Ashcroft 2009; m. E. Parry 2009; Schulze-Engler in Vorbereitung, Welz 2009). Der Begriff der Transkulturalität bezieht sich also im Gegensatz zu den zuvor genannten postkolonialen Begrifflichkeiten dezidiert auf einen globalisierten Kontext, der nationalstaatliche Bezugsrahmen zu relativieren sucht, ohne deswegen die ‚Nation‘ für obsolet zu erklären. 11 Es geht eher um den Versuch, die zunehmende Ausdifferenzierung von Akteuren und Handlungsspielräumen sowie gesellschaftliche Binnendifferenzierungen zu berücksichtigen (Beck 1998, 9; Schulze-Engler 2006, 43). Zudem versucht der Begriff der Transkulturalität Abstand zu schaffen von dem im Postkolonialismus immer vorausgesetzten hierarchischen Kolonialverhältnis (Schulze-Engler 2009, xi). Das ist auch einer der Gründe, warum der Begriff der Transkulturation hier nicht die Rolle spielt, die man vermuten könnte. Denn auch die Transkulturation, wie sie beispielsweise von Mary Louise Pratt definiert wurde, setzt immer schon ein durch den Kolonialismus klar vorgegebenes Machtgefälle voraus. „Ethnographers have used this term to describe how subjugated or marginal groups select and invent from materials transmitted to them by a dominant or metropolitan culture. While subjugated peoples cannot readily control what emanates from the dominant culture, they do determine to varying extents what they absorb into their own, and what they use it for. Transculturation is a phenomenon of the contact zone“ (1992, 6). Ist der Prozess der Transkulturation also das Produkt eines Austauschs in einer ungleichen Machtkonstellation, so ist bereits auch die ‚Kontaktzone‘ selbst als Raum der Begegnung von der Asymmetrie kolonialer Beiziehungen geprägt: Für Pratt ist die Kontaktzone „the space of colonial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict“ (1992, 6). In den postkolonialen Debatten spielt dieses Verständnis von Transkulturation durchaus eine wichtige Rolle; allerdings setzt sich die Diskussion um Transkulturalität, wie sie gegenwärtig geführt wird, in einigen zentralen Punkten von dieser Lesart kultureller Transformationsprozesse ab. Der Begriff der Transkulturalität, wie er in den Postkolonialen Studien und in den Neuen Englischen Literaturen im deutschsprachigen Raum rezipiert wird, beruft 11 Ein Beispiel für einen solchen Ansatz und dessen Umsetzungsmöglichkeit stellen Brydon 2010 oder Kamboureli/ Miki 2007 dar. Hier wird jeweils - mit Bezug auf Kanada - versucht, die Wechselwirkung nationaler und transnationaler bzw. globaler Perspektiven auszuloten und produktiv zu nutzen. Katja Sarkowsky 86 sich maßgeblich auf den Jenaer Philosophen Wolfgang Welsch. Bei Welsch ist Transkulturalität ursprünglich ein deskriptiver Begriff, der der Durchlässigkeit und Vermischung von Kulturen Rechnung zu tragen versucht. Diese Durchlässigkeit ist sowohl historisch zu beobachten als auch ein Phänomen der Gegenwartsgesellschaft. Welsch grenzt sich mit seinem Begriff der Transkulturalität vor allem vom bereits erwähnten Kulturkonzept Herders ab: das der Kultur als ‚Kugel‘ oder Monade. 12 Dieses Verständnis von Kultur, das eine quasi naturwüchsige Verbindung von Volk, Sprache und Territorium in der Nation annimmt und Kulturbegegnung als ein Aufeinandertreffen abgeschlossener Einheiten entwirft, wird, so Welsch, gegenwärtigen komplexen Gesellschaften mit ihrer wachsenden internen Heterogenität und ihrer zunehmenden externen Vernetzung nicht gerecht (Welsch 1999, 194). Welsch grenzt in diesem Kontext die Transkulturalität von den verwandten Begriffen der Inter- und Multikulturalität ab; ‚Multikulturalität‘ bezeichnet für ihn kulturelle Pluralität innerhalb einer Gesellschaft, während ‚Interkulturalität‘ die Koexistenz kulturell unterschiedlicher Gesellschaften sieht, also kulturelle Pluralität zwischen Gesellschaften (1999, 196). Sowohl die Interals auch die Multikulturalität operieren offensichtlich mit einem Verständnis von Kultur als pluralisiert, aber beide sieht Welsch dennoch verhaftet in dem Herder‘schen Grundmodel: Kulturen stehen hier trotz der angelegten Grenzüberschreitung einander als Einheiten gegenüber - die vielleicht nicht homogen sind, deren Unterschiede nach außen jedoch wichtiger sind als eventuelle interne Heterogenität. Welsch sieht dies als eine modifizierte Form des Herder’schen Monadenmodels, die der Situation, die sie zu fassen sucht, nicht gerecht werden kann, da sie zumindest implizit von Abgrenzbarkeit und Unvereinbarkeit der Kulturen ausgeht (1999, 194). Transkulturalität hingegen stellt genau dies in Abrede, geht stattdessen von dynamischen Vermischungen und Verflechtungen aus, die starre Gegenüberstellungen unmöglich machen: „Transkulturalität will, dem Doppelsinn des lateinischen transentsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind“ (Welsch 2010, n.p.) Jenseits der eigentlichen Kulturanalyse hat dies Auswirkungen auf die Funktion von Kulturtheorie: Gerade interkulturelle Theorien haben sich sehr oft dezidiert das ‚Fremdverstehen‘ und die Kulturvermittlung zur Aufgabe gesetzt. Im Kontext der Transkulturalität rücken nun andere Aspekte in den Vordergrund: „Die wichtigste Aufgabe der Kulturtheorie besteht also nicht mehr vorrangig darin, Verständnis für die Unterschiedlichkeit von Kulturen zu wecken, um so einen interkulturellen 12 In Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit schreibt Herder 1774: „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“ (509). Für Welsch manifestiert sich hier maßgeblich Herders Konzept von Kultur als abgegrenzt und abgrenzbar. Seine Lesart dieses Zitats ist nicht unumstritten. Siehe z.B. Löchte 2005, 128. Postkolonialismus und Transkulturalität 87 Dialog zwischen ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Kultur zu ermöglichen, sondern neue Beschreibungsmuster für das zu entwickeln, was man in der Kulturanthropologie als ‚Kultur der Kulturen‘ bezeichnet hat“ (Schulze-Engler 2006, 44). Sowohl für Interkulturalität als auch für Multikulturalismus gibt es selbstverständlich eine Reihe von Definitionen, die auch das Verhältnis der Begriffe zueinander jeweils anders fassen (Antor 2006). Wichtig für das Spannungsverhältnis zwischen Postkolonialismus und Transkulturalität, um das es mir hier geht, ist Welschs Insistieren auf Transkulturalität als interner und externer kultureller Verflechtung, die, und hier liegt einer der grundsätzlichen Unterschiede zu den postkolonialen Hybriditäts- und Transkulturationsmodellen, nicht von vorneherein schon in bestimmten Machtkonstellationen verortet sind. Diese Verflechtungen sieht Welsch sowohl auf der Makroebene der Gesellschaft als auch auf der Mikroebene des Individuums; auf der Makroebene geht es dabei also sowohl um die externe kulturelle Vernetzung von Gesellschaften als auch um deren interne kulturelle Hybridität, während die Mikrobene die individuelle kulturelle Formation „durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen“ meint. „Wir sind kulturelle Mischlinge“, konstatiert Welsch, „die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork-Identität“ (2009, 5). Allerdings, so wird aus Welschs Ausführungen deutlich, ist sein Transkulturalitätsbegriff extrem weit und damit problematisch: Wenn alles und jede/ r ‚transkulturell‘ ist, verliert der Begriff schnell seinen Erklärungswert. Für die differenzierte Analyse literarischer Texte und natürlich umso mehr gesellschaftlicher Prozesse ist ein begriffliches Instrumentarium von Nöten, das es erlaubt, die Spezifizität der jeweiligen Prozesse zu erfassen - inhaltlich, ästhetisch, politisch und historisch. In der Adaption des Welsch’schen Transkulturalitätsbegriffs in den Neuen Englischen Literaturen findet diese notwendige Einengung und Spezifizierung des Begriffs durchaus statt. Die Adaption knüpft an ein sich wandelndes Kulturverständnis in der Kulturanthropologie an: Dabei geht es nicht mehr nur darum, was Kultur mit Menschen macht, sondern vielmehr was Menschen mit Kultur machen, um Kultur als sinn- und identitätsstiftend, aber von Menschen aktiv gestaltet und angepasst (Hannerz 1992, 3): „As actors and network of actors, they [human beings] are constantly inventing culture or maintaining it, reflecting on it, experimenting with it, remembering it or forgetting it, arguing about it, and passing it on. There are not only static distributions of factual knowledge but also different ways of doing things with meanings, likewise unevenly spread out among people and situations“ (Hannerz 1992, 17). Das heißt in der Folge, hier verändert sich nicht nur der Status der kulturellen Akteure, sondern auch das Verständnis von Kultur als solcher, bis hin zu einer Verschiebung - wie bereits mit Schulze-Engler angedeutet - von Kulturen zu Kultur. „Kultur lässt sich nicht länger als Ansammlung territorialer Container verstehen, sondern erscheint als global vernetzte Gemeinschaftsressource, aus der sich Individuen und soziale Gruppen bedienen, um ihre spezifischen kulturellen Eigenarten Katja Sarkowsky 88 auszuformen“ (Schulze-Engler 2006, 46). 13 Dieser Rückgriff auf Kultur im Singular als Gemeinschaftsressource ist u.U. widersprüchlich und unterliegt konstantem Wandel. Genau diese Widersprüchlichkeit ist es, die die kulturellen Aushandlungsprozesse, wie literarische Texte sie inszenieren, kennzeichnet: Literatur kann diese Widersprüche aufzeigen und in Szene setzen ohne sie auflösen oder versöhnen zu müssen. Dies gilt sowohl für individuelle wie auch für kollektive Prozesse. Daher steht bei der Übernahme von Welschs Konzept der Transkulturalität vor allem die Vielschichtigkeit kultureller Verflechtungen und die systematische Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene im Vordergrund. Andere Aspekte, wie beispielsweise seine terminologische und konzeptionelle Absage an die Inter- und Multikulturalität werden so nicht mitgetragen (Schulze-Engler 2006, 45, 47). Das liegt u.a. an einem bereits herausgestellten Merkmal des Welsch’schen Konzepts, das gleichzeitig einen Vorteil und einen Nachteil darstellt: Im Gegensatz zu den postkolonialen Ansätzen wird im Kontext der Transkulturalität erst einmal kein Machtverhältnis, z.B. zwischen Kolonialherren und Kolonisierten oder zwischen ethnischen Gruppen vorab angenommen. Der Vorteil hierbei ist, dass es kein vorgefertigtes Muster für die Analyse transkultureller Prozesse gibt und dass damit diese Prozesse auch nicht per se ‚subversiv‘ sein müssen; die notorische und in manchen Modellen fast schon reflexhafte Festlegung postkolonialer Texte auf Widerstand und Subversion, der sowohl den postkolonialen Kulturnationalismus als auch das Writing Back Paradigma (und m.E. auch Hybriditätskonzepte) kennzeichnen ist so nicht möglich. Gleichzeitig - und das ist der Nachteil - denkt Welsch Machtverhältnisse gar nicht systematisch mit; sein Diktum ‚alles ist transkulturell‘ verliert nicht nur die jeweilige Spezifik transkultureller Prozesse aus den Augen, sondern verschleiert auch den Zwangscharakter vieler dieser Prozesse. Das ist einer der Gründe warum für viele Kritiker ‚Transkulturalität‘ nicht den Multikulturalismus oder den Interkulturalismus ablöst, sondern als eine wichtige Ergänzung zu sehen ist - ‚inter‘ tendiert zwar dazu, Binnendifferenzierungen und hierarchisierungen zu ignorieren, ist aber dafür eher noch als das ‚trans‘ in der Lage, analytisch dem Machtgefälle zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen Rechnung zu tragen. Der Begriff ‚transkulturell‘ steht dann auch „vor allem für ein dynamisches Verständnis von Kultur und für die Einsicht, dass sich das kritische Potential von Literatur nicht nur im Hinblick auf das Außenverhältnis zwischen verschiedenen Literaturen entfaltet, sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem Innenleben kultureller Gemeinschaften“ (Schulze-Engler 2006, 48). Stellt man nun das Konzept der Transkulturalität postkolonialen Konzepten kultureller Verflechtungen gegenüber, so wird deutlich, dass die Durchlässigkeit kultureller Grenzen weitergehend konzipiert ist als beispielsweise in den postkolonialen Hybriditätsansätzen. Entscheidend jedoch ist, so wurde deutlich, die Frage der Macht: Im Gegensatz zu allen vorgestellten postkolonialen Ansätzen geht das Kon- 13 Schulze-Engler bezieht sich hier ebenfalls auf Hannerz, der diese Gemeinschaftsressource als „pool of culture“ bezeichnet (Hannerz 1992, 49). Postkolonialismus und Transkulturalität 89 zept der Transkulturalität nicht von vorab gesetzten Machtstrukturen, z.B. Kolonialstrukturen aus. Dies ermöglicht kontextspezifischere Analysen, auch und gerade mit Blick auf innergesellschaftliche Konstellationen. Ein weiterer zentraler Aspekt ergibt sich aus dem eingangs konstatierten globalen Bezugsrahmen: Durch die enge konzeptionelle Verknüpfung des Konzeptes der Transkulturalität mit Globalisierungsprozessen wird ihr Anschluss an ein Kulturkonzept deutlich, das von Kultur nicht oder nicht nur als verortet ausgeht, sondern das Kultur als mobil begreift. Das mag erst einmal selbstverständlich klingen angesichts der Tatsache, dass auch in postkolonialen Theorien Hybridisierungsprozesse als Ergebnis von Kulturkontakt gesehen werden, der zwangsläufig auf Mobilität und freiwilliger wie erzwungener Migration beruht. Aber was sich hier grundsätzlich verändert ist das Verständnis von Kultur und Raum. Was der Kulturanthropologe James Clifford für seine eigene Disziplin formuliert, gilt durchaus auch für die postkolonialen Studien: „Dwelling was understood to be the local ground of collective life, travel a supplement; roots always precede routes“ (1997, 3). Für viele postkoloniale Kritiker, wie beispielsweise den bereits zitierten Bill Ashcroft, ist Kultur verortet; Kolonialismus zerstört diese Verortung, produziert Entwurzelungen unterschiedlicher Art - der koloniale (und moderne) Raum ersetzt in diesem, also Ashcrofts, Modell den präkolonialen (und traditionellen) Ort: „In many cases, ‚place‘ does not become an issue in a society’s cultural discourse until colonial intervention radically disrupts the primary modes of its representation aby separating ‚space‘ from ‚place‘“ (2000, 161). 14 Während nun unbestritten ist, dass der Kolonialismus räumliche Konstellationen nachhaltig veränderte - durch Eroberungen, Grenzziehungen, Vertreibungen, Enteignungen, Migrationsbewegungen etc. - nimmt diese Sichtweise eine fast schon statische Verbindung von Ort und Kultur für gegeben; Verortung ist die Norm, Bewegung die - erzwungene oder freiwillige - Ausnahme. Das mit der Transkulturalität verknüpfte Verständnis von Kultur hingegen verschiebt diese Sichtweise: „Practices of displacement might emerge as constitutive of cultural meanings rather than as their simple transfer or extension. [...] Cultural centers, discrete regions and territories, do not exist prior to contacts, but are sustained through them, appropriating the restless movements of people and things“ (Clifford 1997, 3). Hier ist der Kulturkontakt also nicht die Begegnung zwischen fest etablierten kulturellen oder regionalen Einheiten, sondern der Kulturkontakt schafft diese vielmehr. Ähnlich wie bei Welschs Konzept der Transkulturalität ist hier sicher auch Vorsicht geboten in Hinsicht auf die Spezifizität von Prozessen und Mobilität; die anfangs zitierte Passage aus Zadie Smiths White Teeth führt dies auch noch einmal anschaulich vor. Dennoch scheint mir die Sicht auf Bewegung, travel von Menschen, Ideen, Gütern als sinn- und kulturstiftend eine zentrale Verschiebung von Grundannahmen zu 14 Ashcroft stellt dies dezidiert mit Giddens in den Kontext der Modernisierung, der ‚Entleerung‘ des Raumes in der Moderne; so schreibt Giddens: „The advent of modernity increasingly tears space away from place by fostering relations between ‘absent’ others, locally distant from any given situation of face-to-face interaction“ (1990, 18). Siehe auch Ashcroft 2001, 124-156. Katja Sarkowsky 90 sein, die für die Analysen im Bereich der postkolonialen Literaturen unerlässlich ist, will man nicht in etablierten Dichotomien verharren. Um auf meine Ausgangsfragen zurückzukommen, inwieweit der ‚transcultural turn‘ etwas grundsätzlich Neues für das Feld der neuen englischsprachigen Literaturen darstellt: Zumindest mit Blick auf die Grundannahmen von ‚Kultur‘ scheint mir hier durchaus eine Paradigmenverschiebung vorzuliegen. Allerdings wäre es verfehlt, nun - wie das z.B. bei Welsch geschieht - Transkulturalität als den neuen ‚cover-all‘ Begriff zu deklarieren. Wenn die eingangs zitierte Passage von Robert Young den Postkolonialismus als theoretisches Allheilmittel proklamiert, so ist nicht damit gedient, nun die Transkulturalität als das Konzept zur Analyse kultureller Prozesse in der Gegenwart (und teilweise auch bezogen auf die Geschichte) zu stilisieren. Gleichzeitig ist auch nicht damit getan, Transkulturalität einfach als nebensächliche Ergänzung in die postkolonialen Studien zu integrieren; dafür ist die Verschiebung des Kulturbegriffs zu fundamental und wirkt sich auf zu vielen Ebenen - ästhetisch, strukturell, politisch - zu nachhaltig aus. Vielmehr muss es darum gehen, erst einmal diese Verschiebungen genauer auszuloten, um dann mit diesem Kulturbegriff oder auch mit unterschiedlichen Kulturbegriffen historische und gegenwärtige Machtkonstellationen und kulturelle Prozesse wie sie in diesem ‚century of strangers‘ in literarischen Texten verarbeitet, reflektiert und mitgestaltet werden, kritisch verorten und bewerten zu können. Bibliographische Referenzen Agnani, Sunil et al. „Editors’ Column: The End of Postcolonial Theory? A Roundtable with Sunil Agnani, Fernando Coronil, Gaurav Desai, Mamadou Diouf, Simon Gikandi, Susie Tharu, and Jennifer Wenzel, “ in: PMLA 122.3 (2007), 633-650. Ahmad, Aijaz. In Theory: Classes, Nations, Literatures. London: Verso, 1994. Antor, Heinz. „From Postcolonialism and Interculturalism to the Ethics of Transculturalism in the Age of Globalization,“ in: From Interculturalism to Transculturalism. Mediating Encounters in Cosmopolitan Contexts. Heidelberg: Winter, 2010. 1-13. ---. „Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität: Perspektiven für interdisziplinäre Forschung und Lehre,“ in: Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und Interdisziplinäre Praxis. Hg. H. Antor. Heidelberg: Winter, 2006. 25-39. Appiah, Anthony Kwame. „The Postcolonial and the Postmodern,“ in: In My Father’s House. Africa in the Philosophy of Culture. Oxford: Oxford UP, 1992. 137-157. Ashcroft, Bill. „Transnation,“ in: Rerouting the Postcolonial. New Directions for the New Millennium. Eds. Janet Wilson et al. New York: Routledge, 2010. 72-85. ---. „Alternative Modernities: Globalization and the Post-Colonial,“ in: Ariel 40.1 (2009), 81- 105. ---. Post-Colonial Transformations. London: Routledge, 2001. ---, Gareth Griffith, Helen Tiffin. The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London: Routledge, 1989. Beck, Ulrich. Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Frankfurt: Suhrkamp, 2002. ---. „Vorwort,“ in: Perspektiven der Weltgesellschaft. Hg. Ulrich Beck. Frankfurt: Suhrkamp, 1998. 7-10. Postkolonialismus und Transkulturalität 91 Bennett, David. „Introduction,“ in: Multicultural States. Rethinking Difference and Identity. New York: Routledge, 1998. 1-25. Bhabha, Homi. The Location of Culture. London: Routledge, 1994. Brydon, Diana. „Cracking Imaginaries. Studying the Global from Canadian Space,“ in: Rerouting the Postcolonial. New Directions for the New Millennium. Hg. Janet Wilson et al. New York: Routledge, 2010. 105-117. Clifford, James. Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge: Harvard UP, 1997. ---. The Predicament of Culture. Twentieth-Centry Ethnography, Literature, and Art. Cambridge: Harvard UP, 1988. Cook-Lynn, Elisabeth. Why I Can’t Read Wallace Stegner and Other Essays. A Tribal Voice. Madison: University of Wisconsin Press, 1996. Fanon, Frantz. „On National Culture,“ The Wretched of the Earth. London: Penguin, 1990 [1963]. 166-199. Fludernik, Monika. „The Constitution of Hybridity: Postcolonial Interventions,“ in: Hybridity and Postcolonialism: Twentieth-Century Indian Literature. Hg. Monika Fludernik. Tübingen: Stauffenburg, 1998. 19-53. Giddens, Anthony. The Consequences of Modernity. Stanford: Stanford UP, 1990. Hannerz, Ulf. Transnational Connections. Culture, People, Places. London: Routledge, 1996. ---. Cultural Complexity. Studies in the Social Organisation of Meaning. New York: Columbia UP, 1992. Herder, Johann Gottfried. Sämtliche Werke V. Hg. Bernhard Suphon. Berlin 1877-1913. Huggan, Graham. „Derailing the ‘trans’? Postcolonial Studies and the Negative Effects of Speed,“ in: Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und Interdisziplinäre Praxis. Hg. H. Antor. Heidelberg: Winter, 2006. 55-62. Kamboureli, Smaro, Roy Miki (Hg.). Trans.Can.Lit. Resituating the Study of Canadian Literature. Ottawa: Wilfried Laurier Press, 2007. Löchte, Anne. Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee in Ideen, Humanitätsbriefe und Aderastea. Würzburg: Königshausen 2005. Ortiz, Fernando. Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar. Durharm & London: Duke UP, 1995 [1947]. Parry, Benita. „Aspects of Peripheral Modernisms,“ in: Ariel 40.1 (2009), 27-55. Pratt, Mary Louise. Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London: Routledge, 1992. Schulze-Engler, Frank. Shared Worlds: Experiences of Globalized Modernity in African, Asian and Caribbean Literatures in English. Liverpool: Liverpool UP, in Vorbereitung. ---. „Introduction,“ in: Transcultural English Studies. Theories, Realities, Fictions. Hg. F. Schulze- Engler, S. Helff. Amsterdam: Rodopi, 2009. ix-xvi. ---. „Von ‘Inter’ zu ‘Trans’: Gesellschaftliche, kulturelle und literarische Übergänge,“ in: Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und Interdisziplinäre Praxis. Hg. H. Antor. Heidelberg: Winter, 2006. 41-53. ---. „Theoretical Approaches: Commonwealth Literature - New Literatures in English - Postcolonial Literature,“ in: Postcolonial Theory. The Emergence of a Critical Discourse. A Selected and Annotated Bibliography. Hg. Dieter Riemenschneider. Tübingen: Stauffenburg, 2004. 1- 14. Schwarz, Helmut (Hg.). New Context. Ausgabe B (Bayern). Berlin: Cornelsen, 2006. Spivak, Gayatri Chakravorty. „Criticism, Feminism, and the Institution,“ in: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues. Hg. Sarah Harasym. New York: Routledge, 1990. 1-16. Stein, Mark. Black British Literature: Novels of Transformation. Columbus: Ohio State UP, 2004. Katja Sarkowsky 92 Welsch, Wolfgang. „Was ist eigentlich Transkulturalität? “ Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Differenz. Hg. L. Darowska, T. Lüttenberg, C. Machold. Transcript Verlag 2010. Online unter http: / / www2.uni-jena.de/ welsch/ ---. „Transculturality - The Puzzling Form of Cultures Today,“ in: Spaces of Culture: City, Nation, World. Hg. M. Featherstone, S. Lash. London: Sage, 1999. 194-213. Online unter http: / / www2.uni-jena.de/ welsch/ Papers/ transcultSociety.html Welz, Gisela. „Multiple Modernities: The Transnationalization of Cultures,“ in: Transcultural English Studies. Theories, Realities, Fictions. Hg. F. Schulze-Engler, S. Helff. Amsterdam: Rodopi, 2009. 37-57. Young, Robert. „What is the Postcolonial? “ in: Ariel 40.1 (2009), 13-25. ---. White Mythologies. Writing History and the West. New York: Routledge, 1990. Zwischen Fakt und Artefakt Renate Lachmann I In neueren Debatten, in denen sich die Wiederkehr des Realen als Gegenstand der Literaturwissenschaft ankündigt, sind zwei Aspekte miteinander verflochten: Einerseits geht es um einen Paradigmenwechsel in Text-Analyse und -Interpretation. Dabei gilt es, dem Real-Substrat in literarischen Texten nachzuspüren, zumal die Prozeduren des Strukturalismus und Poststrukturalismus kaum von einem Interesse an den konkreten Konturen des Realen ausgegangen waren. Andererseits geht es um eine Literatur, die als Biographie, Autobiographie, Erlebnisbericht etc. das Faktische, das Reale bedrohlich vorführt, nachgerade ein neues Rezeptionsmuster provoziert und zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Darstellung, Fakt und Artefakt, Dokument und Fiktion aufdrängt. Die Diskussion um das Reale ist kontrovers: Der Rede vom entgleitenden Realen, seiner Undefinierbarkeit, ja Unsagbarkeit wird mit dem Verweis auf die Beunruhigung, die von seinem plötzlichen Erscheinen ausgeht, begegnet - das Reale als immer Abwesendes und das Reale als Störung, oder: das Reale, das sich nicht ‚realisieren‘ lässt, und das Reale, das sich in Texten gewaltsam einprägt - dies sind die beiden Positionen. Das Reale, gleich, ob es als das Wahre oder als das Unwahrscheinliche, Unmögliche, Phantastische interpretiert wird, ist zudem ein immer anderes, abhängig von den Denkkonventionen einer Zeit, dem Wirklichkeitsbegriff und nicht zuletzt dem Literaturbegriff. Die Vorstellungen, die man sich vom Realen macht, sind auf Darstellungsmodi angewiesen, die auf Ähnlichkeit abzielen und sich auf eine bestimmte Topik verlassen. Denn es sind die Topoi, an denen ein Kollektiv mit derselben Erfahrung partizipiert, die dem Realen und seiner Deutung im literarischen Diskurs einen Platz einräumen. Und dennoch, das jähe Auftreten des Realen als Schreckensbild tatsächlicher Verhältnisse, als Schilderung von Tod und Chaos, kann die Topik realistischer Fiktion aufbrechen. Zugespitzt: der Einbruch des Realen in die Fiktion treibt den Realismus (im Sinne einer Schreibweisenkonvention) aus, so wie zuvor der Realismus das Reale in der Fiktionalisierung zum Verschwinden gebracht hat. Das Reale als Neuorientierung in der Literaturbetrachtung und das neue Realistische als Befund der Gegenwartsliteratur sind Gegenstände mit poetologischer Vorgeschichte: die Realismus-Diskussion des 19. Jahrhunderts, die Forderung einer Faktenliteratur, bzw. Faktographie in der postrevolutionären Literaturtheorie russischer Avantgardisten in den 20er Jahren und die Diskussion um die Kategorien des Wahrscheinlichen und ihre Rolle in der erzählenden Literatur im französischen Renate Lachmann 94 Strukturalismus der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts lassen sich als Vorstufen befragen, ebenso wie literarische Texte, die Ausnahmezuständen, Geschehnissen ohne Präzedenz gewidmet sind, und die Rezeption immer schon mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion beschäftigt haben. Die Realismusprogrammatik des 19. Jahrhunderts (gegen das Verdikt Hegels, dass Literatur die ausdifferenzierte Wirklichkeit zu erfassen nicht mehr imstande sei) entwickelte einen Literaturbegriff, in dem Begriffe wie Nachahmung und Wahrscheinlichkeit bestimmend sind und die generelle poetologische Empfehlung gilt, zwischen dem Idealisieren der Wirklichkeit in ihrer phänomenalen Komplexität und deren bloßer Reproduktion die Balance zu halten. In der Unterscheidung von idealistischer und realistischer Phantasie, von der alle aus dem Idealismus kommenden Literaturkritiker/ Theoretiker, die mit der ‚neuen‘, d.h. der realistischen Schreibweise, konfrontiert sind, ausgehen, gehören Typisieren und das Herstellen „harmonischer Zusammenhänge“ zum Idealistischen, während der Realismus dem Individuellen, den Einzelheiten zugetan ist. Auch das Hässliche wird zugelassen, was die idealistische Phantasie allerdings zunächst „läutern“ muss 1 . Um das Absinken in „das Gemeine und Platte“ zu verhindern - eine Gefahr, die Wilhelm Traugott Krug in einem ästhetischen Realismus sieht, dessen Vertreter sich der puren Naturnachahmung, einer von aller Idealität entkleideten Natürlichkeit verschrieben haben, schlägt einen „ästhetischen Synthetismus“ vor, der das „idealische“ mit der Beachtung der „Gesetzmäßigkeit der Natur“ zu verbinden erlaube, „damit die Kunst nicht zur Unnatur werde“. 2 Friedrich Theodor Vischer spricht in seiner Theorie des Romans 3 (240-241) vom „Schauplatz der prosaischen Wirklichkeit“ als Gegenstand der Literatur. Der Dichter erscheint als „selbstbewußter Erfinder und fingiert frei den Hauptinhalt“. Aber es geht durchaus um die „erfahrungsmäßig erkannte Welt“, „die wunderlose Welt“, das „Zuständliche, rein Menschliche.“ Der Roman soll „Sitten, Gesellschaft, Kulturformen einer ganzen Zeit und darin das Allgemeine“ darstellen (240-241). In Vischers Theorie wird das aus der rhetorischen und poetologischen Tradition ererbte Problem der Konkurrenz von Phantasie und Mimesis behandelt und damit auch dasjenige des Spannungsverhältnisses zwischen Fakt und Artefakt (vor)formuliert. Die Objektivität des Naturschönen und die Subjektivität des inneren Bildes der Phantasie können versöhnt werden, wenn das Objekt als „Richtmaß für die Wahrheit der Nachahmung seiner ewigen Grundformen“ fungiert und wenn sich die „eigentliche Phantasie“ „aus der Willkür und dem Taumel der bloßen Einbildungskraft“ löst und quasi gezügelt durch die Beachtung der „Bestimmtheit“ des Gegenstandes zu „ihrem idealbildenden Akte“ kommt. Nicht einmal eine „Blättergruppe“ oder eine „Faltenmasse“ könne aus der puren Erinnerung gestaltet werden, geschweige denn ein „Ganzes, eine Handlung, menschliche Verhältnisse und Sitten“ - „da wollen Studien jeder Art gemacht sein“. Beobachtung und Vergleich der Gegenstände, 1 Moriz Carriere, „Idealistische und realistische Phantasie“ (1859), in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hrsg. v. Gerhard Plumpe, Stuttgart 1985, S. 83-87. 2 Wilhelm Traugott Krug, „Ästhetischer Realismus“ (1832), ebd., S. 69-70. 3 Friedrich Theodor Vischer, Theorie des Romans (1857), Auszüge, ebd., S. 240-247; ders., „Kunst und Naturnachahmung“ (1851), ebd., S. 70-72. Zwischen Fakt und Artefakt 95 „scharfe Anschauung“, die Forderung des Objekts und das Drängen der Phantasie bilden einen Widerspruch, der „nur im fertigen Kunstwerk“ aufgehoben, „getilgt“ werden kann (70-71). Das Artefakt nimmt das Faktische gewissermaßen auf, ohne seine Konturen zu verwischen, so ließe sich die Vischersche Argumentation für die Interpretation von Texten des 20. Jahrhunderts aufnehmen, wobei der „idealbildende Akt“, der bei Vischer einer ‚Normal‘-Wirklichkeit zu gelten scheint, einen anderen Index erhält, wenn es um die Darstellung von ‚Ausnahmezuständen‘ geht. In den russischen Realismus-Kontroversen, in denen die Argumente der deutschen, französischen und englischen Kritik mitklingen, spielt die Ablösung von einem obsolet gewordenen Paradigma, dem des Sentimentalismus, eine entscheidende Rolle bei der Berufung auf eine von empfindsamer Rhetorik befreiten Stilistik im Dienste einer neuen Literatur der Fakten. Diese wird (die deutsche idealistische Terminologie aufnehmend) als der „idealen Dichtung“ entgegengesetzte „reale Dichtung“ beschworen - auch der Begriff ‚Natürliche Schule‘ taucht auf - der die Beschreibung des Hässlichen, der sozialen Niederungen einschließt und eine sozialkritische Note zulässt, die das Ästhetische überlagert. Die Weiterentwicklung der aus Frankreich rezipierten Physiologischen Skizze führt zur Minimierung des fiktionalen Moments, d.h. zum Verzicht auf ein Sujet, eine Heldenfigur, zum Einsatz einer unliterarischen, antibelletristischen milieuorientierten Sprache. Der Skizzenschreiber gibt sich als Berichterstatter, der seine Gegenwart als sozial determinierte und die von ihm beobachteten Menschen (Kleidung, Verhalten, Beruf, Sprechmanieren) als Sozialtypen vorstellt. ‚Real’-Effekte werden durch Abbau der konventionellen Mittel erzeugt, die mit der Vorstellung ‚Literatur‘ (Belletristik, izjaš nye iskusstva) verknüpft sind. Die Gefahr einer nur kopierenden Nachahmung, Abbildung (podrazanie), bzw. Widerspiegelung (otrazenie) wird mit dem Begriff der Sinngebung (osmyslenie), den der führende Literaturkitiker des russischen Realismus, Vissarion Belinskij, einführt, gebannt 4 (Nun bleibt es bekanntlich nicht bei der Skizze, der russische realistische Roman wächst weit darüber hinaus und führt nicht nur zu Kontroversen bezüglich der Personendarstellung, der Beschreibungsverfahren und der Themenwahl, sondern auch bezüglich des Realitätskonzepts.) Trotz der theoretischen Differenzen in den die einzelnen Nationalliteraturen betreffenden Debatten über eine realistische Fiktion, scheinen folgende Punkte eine gewisse Verbindlichkeit erlangt zu haben: der Anschluss an eine poetologische Tradition der Wahrscheinlichkeit, ein inbezug auf die differenzierten aristotelischen Bestimmungen etwas eingeschränktes Mimesiskonzept, die Unterscheidung zwischen Herstellung einer sinnvermittelnden Sicht auf eine in ihren Einzelheiten und in ihrem Allgemeinen wahrgenommenen Wirklichkeit (sozial, politisch), adäquate Modi der Darstellung: wie Erzählen und Beschreiben, Typisieren und Individualisieren, Distanz zur bloßen Reproduktion der Wirklichkeit bei gleichzeitigem Abbau von idealisierenden Tendenzen, gemäßigter Einbezug wissenschaftlicher, insbesondere naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Doch die Programmatik des Realismus, die mithin weitgehend aufklärerischen Posi- 4 Zur Realismus-Diskussion in Russland vgl. Renate Lachmann, Die Zerstörung der schönen Rede. Historische Tradition und Konzepte des Poetischen, München 1993, S. 284-306. Renate Lachmann 96 tionen verpflichtet ist, wird durch die Rückkehr überwunden geglaubter Diskurse unterlaufen. Das Antiaufklärerische des Geheimwissens, des wieder aufgelebten Mesmerismus und des Spiritismus verändert den das Erfahrbare, Beschreibbare, Offensichtliche verfolgenden Darstellungsmodus. Das Unmögliche, Gegenrationale und Irreale macht dem realistischen Diskurs zu schaffen. Hier kann man vom Eindringen des Phantastischen in die von der realistischen Fiktion bearbeitete normale Lebensweltlichkeit sprechen, die auf eine Legitimationstopik angewiesen ist, die zwischen den Polen erklärbar/ unerklärbar, wahrscheinlich/ unmöglich zu vermitteln versucht. Nicht nur das Phantastische beunruhigt die realistische Fiktion, sondern auch eben jenes flüchtige Reale, das plötzlich aufzutauchen scheint. Dazu kommen Bekundungen einzelner Autoren, die das Phantastische weniger als literarisches Phänomen, denn als das Reale selbst (Kategorien vermischend) betrachten. In einem eher katastrophistischen Verständnis gilt die Realität schlechthin als das Unwahrscheinliche, Unmögliche, Phantastische. Dostoevskij, der Zeitungsleser und Interpret sensationeller Verbrechen, nimmt hier eine extreme Position ein. Allerdings hat er ausschließlich eine Realität der Normverstöße, des Abweichenden, der Anomalie und des Monströsen im Sinn, der er durch Verfahren (des Hyperbolischen) zu begegnen versucht, die den Schreibweisen des Realismus in vielem widersprechen. Auch Autoren des 20. Jahrhunderts bezeichnen die Gräuel, deren sie Zeugen geworden sind, als phantastisch; sie erscheinen ihnen als Affront gegen das Wahrscheinliche, Erwartbare, Glaubwürdige und Mögliche. Der Realismusbegriff, von dem die Rede war, verliert in den Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts nicht nur wegen der Wiederkehr antiaufklärerischer Diskurse seine begriffliche Kontur, sondern gerät durch das Aufkommen des Mediums der Photographie in eine gänzlich neue ästhetische und erkenntnistheoretische Aspekte berührende Diskussion über Fragen der Kopie, der Abbildung, Gestaltung. Mit andern Worten, die Problematik des Realistischen und Realen wird, vermehrt um die des neuen Mediums, weiter vererbt. In den Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts lassen sich wiederholt Versuche ausmachen, den Begriff Realismus zu umkreisen. Roman Jakobson hat im Kontext formalistischer Theorie 1921 in seinem Aufsatz „Über den Realismus in der Kunst“ 5 den Zusammenhang zwischen Realismusvorstellung und Wahrscheinlichkeitszuschreibungen zum Ausgangspunkt der Argumentation gewählt. Letztere sieht er als epochen- und genrespezifisch bestimmt, wobei er Autorintentionen und Lesererwartungen als unterschiedliche Instanzen in Anschlag bringt. (Wer die Wahrscheinlichkeit in Racine erkenne, sehe sie nicht bei Shakespeare, heißt es). Für einen entscheidenden Irrtum hält er die Annahme, dass es der sogenannte realistische Roman des 19. Jahrhunderts sei, der den Realismus par excellence repräsentiere. Entscheidend für ihn ist die Konventionalität (uslovnost’) der Verfahren, die die Realität immer zu einer „figurativen“ verändere (real’nost’ - figural’na). Der Verzicht auf erwartbare, vertraute und die Einführung neuer Verfahren - er argumentiert im Sinne der formalistischen These von der Ablö- 5 „O chudožestvennom realizme“. Russisch-deutsch in: Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, hrsg. v. Jurij Striedter, München 1969, S. 372-391. Zwischen Fakt und Artefakt 97 sung der Systeme - könne den Eindruck von Realismus erwecken. Das Durchbrechen der Konvention (er spricht von Deformation, Šklovskij wird es Verfremdung nennen), der Verstoß gegen das Wahrscheinliche (pravdopodobnoe), das die ‚Neuerer‘ praktizieren, kann als „stärkere Annäherung an die Realität gewertet werden“: die Traditionalisten hingegen wollen das pravdopodobnoe als den eigentlichen Garanten für die Wiedergabe von Realität aufrecht erhalten. Für die einen bedeute die Aufdeckung der Verfahren, dass auf das Gemachte, das Kunstwerkhafte der Literatur verwiesen wird, während deren Motivierung (motivirovka), also Verschleierung, eine Realitätsillusion erzeuge, die wiederum die anderen zufrieden stelle. Jakobson geht es darum, die Relativität der Realismuskriterien herauszustellen, womit es ihm gelingt, den Begriff selbst nahezu zu verflüchtigen. 6 Rigoroser und grundsätzlicher in der Forderung nach der Präsentation des Realen ist der Dokumentarismus der russischen postrevolutionären Faktographie der 20er Jahre - avantgardistisch von der Programmatik her 8 . Diese gegen die ‚bürgerliche‘ Belletristik auftretende literatura fakta betreibt die Minimierung des ‚literarischen‘ fiktionalen Moments, die Negativierung des Sujets, verurteilt ausgedachte Personenkonstellationen und realistische, d.h. mimetisch orientierte Lebenslaufgeschichten (Mimesis, Widerspiegelung verlieren ihre Bedeutung als Kategorien). Hier ist die Gegenposition der restaurativ an den klassischen Realismus anknüpfende sozialistische Realismus, der mit Devisen wie Widerspiegelung, Parteilichkeit, Volkstümlichkeit allerdings andere Ziele als der klassische verfolgt und den positiven Helden favorisiert. Den Faktographen geht es nicht um eine Monumentalkunst der Revolution, nicht um das epische Werk. Sergej Tretjakov fragt ironisch in „Der neue Lev Tolstoj“ in Literatura fakta 7 (29): „Wo sind unsere roten Homers und roten Tolstojs“. Die Zeitung sei das neue Epos und die Zeitungsleute, die anonyme Masse der Zeitungsmacher, seien der kollektive Tolstoj der roten Gegenwart. N. užak setzt sich mit dem „überkommenen“ Realismus auseinander, den er rein klassenspezifisch als adligen und als Realismus der aus unadligen Schichten Stammenden, der Razno incen, qualifiziert. So erscheint Turgenev als Adelsrealist mit einer eingeschränkten Weltsicht, passiv, reflektiv, sein Schreiben als ohne lebenstärkende Funktion, ausgerichtet auf das ‚Schöne‘ im Sinne der Belletristik. Im Gegenzug wird der Realismus der Razno incen als eigener neuer Typ des Realismus herausgestellt, der sich mit der traditionellen Wahrscheinlichkeit („der Grundlage der alt-realistischen Ästhetik“) nicht zufrieden gebe: es geht hier um die žutkaja pravda, die hässliche Wahrheit, um die Verachtung auf Schönheit reflektierender literarischer Formen, die vermeintlich dem eigentlichen Leben zugewandt sind. užak sieht in dem Skizzenschreiber (und Romanautor) Gleb Uspenskij Verfahren, die den (russischen) Realismus des 19. Jahrhunderts von Grund auf erschüttert hätten, und konstruiert einen Antagonismus zweier Realismen, zweier Wirklichkeitskonzepte, zweier Ästhetiken. Skizze statt Novelle (mit fiktivem Sujet), das Leben statt seiner Imitation, die Wahrheit 6 Es gibt poetologische Devisen, nach denen man des Realen auf eine gesteigerte Weise habhaft werden kann. Im russischen Kontext sind es die Symbolisten, die vom Realen zum Realeren aufbrechen: a realibus ad realiora. Das Reale als das ontologisch Eigentliche, das jenseits allen Scheins, aber im Verborgenen liegt, erhält hier eine religiöse Färbung. 7 Literatura fakta, hrsg. v. N. F. užak, Moskau 1929, S. 29. Renate Lachmann 98 statt der Wahrscheinlichkeit, das sind die Desiderate. Aber es bedurfte einer Radikalisierung, denn es genügte dem faktographischen Programmatiker noch nicht, dass einige zeitgenössische Autoren (vornehmlich aus der Gruppe der Serapionsbrüder) Dokumente in ihre Texte montierten, da letztere sich als reine Imitate darstellten. Jurij Tynjanov, der formalistische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, der mit echten Dokumenten, mit Archivmaterial wie ein Historiker umgeht, gilt dagegen als einer, der „rabotaet na fakte“ (‚auf‘ dem Faktum arbeite) und sich mit seinen Biographien entschieden von der Belletristik wegbewege. Die neue Literatur der Fakten bedeutet im Sinne einer (immer noch) Revolutionseuphorie „Kunst als Lebenbauen“ (žiznestroenie). „Die neue Wissenschaft von der Kunst“ (der Begriff Ästhetik wird verworfen) empfiehlt die Realität durch Umgestaltung, perestrojka, zu verändern (hier wird perestrojka auf Marx’ Dialektik bezogen), das eben sei die Aufgabe der literatura fakta. Tretjakov, der einen seiner faktographisch intendierten Texte, das von ihm so benannte Biointerview mit einem chinesischen Studenten mit dem Titel Den-Schi-Chua 8 kritisiert, weil das Interview-Objekt doch wieder zu einer Heldenfigur geraten sei, empfiehlt als Antidotum die „Biographie des Dings“ (69). Desiderate seien Bücher mit Titeln wie Wald, Brot, Kohle, Eisen, Flachs, Papier, Fabrik. Osip Brik, Formalist und Anhänger der faktographischen Idee, tritt für die Abschaffung der „schöpferischen Persönlichkeit“ ein, im Grunde plädiert er für das Verschwinden des Autors. Viktor Šklovskij, der Theoretiker des Sujets und der Gesetze der Narration, fordert in seinem Beitrag, „K technike vne-sjužetnoj prozy“ (Zur Technik der sujetlosen Prosa) die Zerschlagung des Sujets. Das Sujet, argumentiert er, habe nichts mit dem historischen Faktum zu tun, es deformiere die Realität (222). Faktum ist das Ding (als Gemachtes, Gegenständliches), das Leben konkreter Personen und das Ereignis. Das Erfahrene, Erlebte und hernach in unterschiedlichen Formen der Wiedergabe als Erinnertes Erscheinende interessiert die Faktographen (es sei denn als ereignisnahe Reportage) weniger als das Dokument, das als Zeugnis - „so ist es gewesen“ - fungiert. 9 Wenn es weder Held noch Sujet, Bilder, Realitätsillusion, Wahrscheinlichkeitsstrategien geben darf, ist auch ein Empathieverbot, zumindest -verzicht gegeben. Die Konfrontation mit dem Faktischen tritt an die Stelle der Empathie. Das Konzept des Faktographischen schließt das Moment der Zerstörung ein (Zerstörung der schönen Rede, Zerstörung der Realitätsillusion, des Abbildlichen, Nachbildlichen, Mimetischen); es ist ein gegen das Fiktionale, die realistische Fiktion gerichteter Ikonoklasmus. Keine Ähnlichkeit mit der Realität ist gefordert, sondern diese selbst als Dokument, als Faktum, das sich selbst ins Wort setzt. Diese Präsenz, Leben, Unmittelbarkeit, besser: Unvermitteltheit, anstrebende poetologische Konzeption führt zur Privilegierung von Genres wie Skizze, wissenschaftliche Monographie, Faktenmontage, Biographie als „Arbeit am lebendigen Menschen“ (z.B. das Lebens Puškins, aus seinen Alltagstexten, Rechnungen, Notizen montiert), Memoiren, Au- 8 Deutsch in der Übersetzung von Alfred Kurella, Berlin 1932. 9 Die Frage des Dokumentarischen bestimmt auch die Realismusdebatte in Die Linkskurve (1929- 1932) sowie die Auseinandersetzung mit der Position von Georg Lukács („Erzählen oder Beschreiben“). Zwischen Fakt und Artefakt 99 tobiographie, Tagebuch, Protokolle von Gerichtsverhandlungen, Parteiversammlungen, Korrespondentenberichte. Die Faktographen, denen immer an der Analyse des Ereignisses und des Sich- Ereignenden lag, haben allerdings den von Šklovskij vorgeschlagenen (letztlich von Tolstoj stammenden) Begriff der Verkettung, sceplenie, zugelassen, der die Einzelfakten auf eine Weise zu organisieren erlaubt, dass ein Verstehen realer Verhältnisse möglich wird und das entgleitende Lebendige festzuhalten vermag. („Leben“ ist ein die gesamte faktographische Poetik der 20er Jahre prägender, semantisch stark aufgeladener Begriff). Die Montage wird zum zentralen Verfahren, das ein ausdrücklich nicht narratives Sujet erzeugt, vielmehr als Ereigniscollage ohne einen linearen Zusammenhang bildende Elemente erscheint. Ebenso wie die These der frühen Photographie-Interpreten, die Natur schreibe sich selbst, die Photographie sei ein nicht von Menschenhand gemachtes Bild, ist auch diejenige der Faktographen, die Realität schreibe sich selbst, nicht nur unterlaufen, sondern invertiert worden, wie die Texte der Faktographen in der Folge gezeigt haben. Auch Autoren, die am Faktographie- Konzept teihaben, lassen ständig dessen Überschreitung erkennen. Anders gelagert ist die französische Diskussion in Band 11 der Communications von 1968, in der es sowohl um das Problem des Wahrscheinlichen als auch um die Spannung zwischen dem Referentiellen und der Ästhetik (hier der Beschreibung) geht. In Flauberts Un coeur simple hebt Roland Barthes 10 ein Beschreibungsmoment hervor, das in der narrativen Struktur des Textes auffällt (es handelt sich um die Erwähnung eines Barometers, das über einem Klavier hängt). Es erscheint als ein Detail, das ohne sinntragende Funktion in die Konstruktion des Textes eingefügt ist, mithin ein „détail inutile“, ein unvermitteltes Reales (87). Das détail inutile steht in der Argumentation für eine Poetik des „référent“, aus dem das signifié ausgetrieben ist, also für das Reale. „La ‚représentation‘ pure et simple du ‚réel‘“, die nackte Erzählung erscheine als eine „résistance au sens“ und bestätige die mythische Opposition zwischen dem Gelebten, Lebendigen und dem Intelligiblen. Die Resistenz des réel gegenüber der Struktur sei im récit fictif eingeschränkt, es folge hier einem Modell, das den Erfordernissen des Intelligiblen entspricht; aber dieses selbe réel werde zur „référence essentielle dans le récit historique“, der gezwungen sei mitzueilen, „wie es gewesen ist“. Zunächst entsteht der Eindruck, als plädiere Barthes für die Möglichkeit einer solchen Real-Poetik, doch nimmt er eine eher ironische oder kritische Haltung zu den Verfahren der Authentifizierung des réel ein, wie sie durch Photographie, Reportage, Ausstellungen, Besichtigung historischer Stätten versucht werde (88). Alles, kommentiert er, zeige sich und werde so gezeigt, dass man meine, das réel genüge sich selbst, könne jede Idee von Funktion dementieren und brauche nicht in eine Struktur integriert zu werden, so als ob das „avoir-été-là“ der Dinge ein ausreichendes Prinzip der Sprache sei. Er nennt dies eine „illusion référentielle“. In dem Moment, in dem man meine, dass die Details das Reale direkt denotieren, täten sie nichts anderes, als es zu bezeichnen (signifier). Zugespitzt formuliert er: „La carence 10 Roland Barthes, „L’effet de réel“, in: Communications. Recherches sémiologiques: Le vraisemblable 11 (1968), S. 84-89. Renate Lachmann 100 même du signifié au profit du seul référent devient le signifant même du réalisme: il se produit un effet de réel, fondement de ce vraisemblable inavoué qui forme l’esthétique de toutes le œuvres courantes de la modernité“. 11 Dem klassischen Wahrscheinlichen, das vom Realen nicht tangiert wurde, stellt er das neue Wahrscheinliche gegenüber, in dem das Reale ‚vorgibt‘, nicht zur Struktur zu gehören. Barthes verdeutlicht hier die Rolle des konventionellen Wahrscheinlichen als einer wandelbaren, von der öffentlichen Meinung bestimmte, den jeweils geltenden Normen folgende Instanz, die genreabhängig ist und strengen Regeln folgt. Von einem triadischen Zeichenbegriff ausgehend bestimmt er das neue, unklassische Wahrscheinliche als ausschließlich vom référent in dieser konnotativen Funktion bestimmt: „Ce nouveau vraisemblable est très différent de l’ancien, car il n’est ni le respect des ‘lois du genre’, ni même leur masque, mais procède de l’intention d’altérer la nature tripartite du signe pour faire de la notation la pure rencontre d’un objet et de son expression.“ (88) Barthes hat allerdings einen weiter gehenden Schritt im Sinn, der aus der Debatte um das réel eigentlich herausführt: denn eine radikalere Prozedur sieht er in der „Entleerung des Zeichens“, in der gänzlichen Entfernung, einem Wegschieben des Objekts im Kontext einer generellen Infragestellung der Repräsentation: „La désintégration du signe - qui semble bien être la grande affaire de la modernité - est certes présente dans l’entreprise réaliste, mais d’une façon en quelque sorte régressive, puisqu’elle se fait au nom d’une plénitude référentielle, alors qu’il s’agit au contraire, aujourd’hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu’à mettre en cause, d’une façon radicale, l’esthétique séculaire de la ‘représentation’“ (88-89). Weder bei Jakobson noch bei Barthes werden die Antipoden des Wahrscheinlichen und deren Vorgeschichte miteinbezogen: das Unwahrscheinliche als das Unmögliche, Irreale, Phantastische (nunmehr als Kategorien des literarischen Diskurses, nicht als Vokabeln der Identifikation mit dem Realen) fehlen in der Argumentation. Die genannten Gegenbegriffe spielen jedoch in der rhetorischen Tradition und der davon mitbestimmten literaturkritischen und theoretischen Tradition vor der Realismus-Diskussion des 19. Jahrhunderts eine ernstzunehmende Rolle, da es auch hier um den Realitätsanspruch, genauer: die Realitätswirkung der Fiktion geht. Aristoteles’ Sätze zum Wahrscheinlichen, Glaubhaften einerseits und zum Unmöglichen andererseits in seinen beiden technai haben die Definitionen in der rhetorischen/ poetischen Tradition nachhaltig geprägt. 12 Das Unmögliche, dessen Darstellung als Fehler gilt, wird wirkungsästhetisch durch seinen Effekt legitimiert: „Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleich- 11 Joachim Küpper greift in Balzac und der Effet de Réel, Amsterdam 1986 Barthes’ Argumentation auf: „Indem Barthes nicht mehr von literarischem ‚Realismus‘, sondern von Texten redet, die einen „effet de réel“ erzeugen, hat er die Problematik des Wirklichkeitsbezuges derartiger Texte von allen unvermittelten abbildtheoretischen Implikationen gelöst, die dem überkommenen Begriff unvermeidlich anhaften, und sie im Bereich der Textstrukturen und der von ihnen konditionierten Rezeption situiert.“ (S. 13) und analysiert aus dieser Perspektive Balzacs Colonel Chabert und Curé de village. 12 Aristoteles, Poetik, griechisch-deutsch, übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Zwischen Fakt und Artefakt 101 wohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht, […], wenn sie so entweder dem betreffenden Teil selbst oder einem anderen Teil ein stärkeres Moment der Erschütterung verleiht [ekpletikoteron].“ (Poet. 25, 1460b). Es gibt weitergehende Formulierungen in der Poetik, in denen Unmögliches und Wahrscheinliches einerseits und Mögliches und Unglaubhaftes andererseits zusammengeführt werden: „Das Unmögliche [adynata], das wahrscheinlich [eikota] ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen [dynata], das unglaubwürdig [apithana] ist.“ (Poet. 24, 1460b). Und nochmals, nunmehr ohne den Begriff des Wahrscheinlichen: „Was die Erfordernisse der Dichtkunst betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist [pithanon adynaton] den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist [apithanon kai dynaton]“(Poet. 25, 1461b). 13 Die pointierten Formulierungen bringen in die das Reale/ Realistische betreffende Frage einige Unruhe herein: wenn das Unmögliche als Wahrscheinliches und Glaubwürdiges gilt und gegen das Mögliche, das unglaubwürdig (und vermutlich unwahrscheinlich) ist 14 , ausgespielt wird, verrückt das die (auf Aristoteles aufbauende) klassische Position und lässt sich als Vorformulierung für eine Poetik auffassen, die sowohl das Unmögliche, weil es eingetreten ist, als wahrscheinlich und glaubwürdig darstellen muss, als auch das Möglich-Gewordene, das für unglaubwürdig und unwahrscheinlich gegolten haben mag. (Mit andern Worten: das Unsagbare der Ereignisse des 20. Jahrhunderts lässt sich unter darstellungspoetischem Aspekt auf zweifache Weise sehen). Präziser als in den späteren Realismus-Programmen werden in der antiken Lehre Strategien aufgerufen, die das ‚direkte Erleben‘ des Dargestellten als etwas Tatsächlichen, also Realen bewirken sollen. Es wird der phantasia des Rhetors anheimgestellt, die Hörer so zu beeindrucken, dass sie das verbal vorgestellte Geschehen als ein reales miterleben, ja dass sie zu einer Augenzeugenschaft 15 gezwungen werden. Ein 13 Das pithanon adynaton ist deshalb glaubhaft, weil es auf ein in der Zukunft Mögliches verweist (eine Science-Fiction-Antizipation). Dies wird in der Rhetorik, wo Mögliches und Unmögliches als Rede-Topoi besprochen werden, noch deutlicher (Rhet. II, 1391b). Dieser liberale adynaton- Begriff hat zunächst - bis in die Romantik - keine Karriere gemacht. In den Meditationes von Alexander G. Baumgarten, in denen die Idee alternativer Welten, figmenta heterocosmica, zugelassen wird, gehört der Begriff des impossibile, terminologisch als figmenta utopica gefasst, nicht zum Inventar der gutgeheißenen Verfahren. 14 Vgl. die Formulierung in Boileaus Art poétique (3, 48): „le vrai peut quelquefois n’être pas vraisemblable“. In die Poetiken des 18. Jahrhunderts sind diese Ideen nicht aufgenommen worden. Vgl. die Definition in Johann Jacob Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen von 1740, Stuttgart 1955. Bodmer operiert mit dem Begriff des Abenteuerlichen, um den Bereich der Verstandesentzogenheit, des Unmöglichen jenseits aller Restriktionen zu bestimmen: „Die Wahrscheinlichkeit ist ohne Fehl in der Poesie eben so nothwendig, als die Wahrheit in der Historie […] und wie der Historicus, wenn er dieser verfehlet, zum Lügner wird, so wird der Dichter, der seinen ungemeinen Erfindungen den Schein des Wahren mitzutheilen versäumet, stat verwundersam abentheuerlich.“(S. 143). Vgl. zu dieser Problematik Renate Lachmann, Erzählte Phantastik, Frankfurt/ M. 2002, S. 29-78. 15 Vgl. Heinrich Lausbergs Begriff der „fingierten Augenzeugenschaft“ § 811, die durch enargeia, evidentia, perspicuitas, repraesentatio erzeugt werden kann (Termini Quintilians). Handbuch der literarischen Rhetorik, 2. Aufl., München 1973. Renate Lachmann 102 Schlüsselbegriff hier ist enargeia. 16 Aristoteles’ Verweis auf den Effekt der ekplexis (Erschütterung, Bestürzung), der durch die Darstellung des Unmöglichen hervorgerufen werden kann, taucht auch in Pseudo-Longins wirkungsbezogener Rhetorik Peri hypsous 17 auf und wird hier mit einem zweifach bestimmten phantasia-Begriff eingeführt und im Kontext des enargeia-Konzepts entwickelt. Zum einen bedeutet phantasia jeden Gedanken, der einen sprachlichen Ausdruck hervorbringt (also eine Vorstellung, die dem Sprechen vorausliegt, ein inneres Bild, das verbal umgesetzt, geäußert wird), zum andern die Fähigkeit, „das, was man sagt, in Begeisterung und Leidenschaft [hyp‘ enthousiasmou kai pathou] vor sich zu sehen und es den Zuhörern vor den Blick [hyp‘ opsin] zu stellen“ (15,1-2). Vermittels eines intensiven Gefühls, besser einer Gefühlsenergie, die die Wahrheit der Aussage, ihren Realitätsbezug, außer Acht lässt, sollen Hörende auf eine Weise affiziert werden, dass sie das in der Rede entworfene Bild quasi vor sich sehen. Die freigesetzte Energie schafft eine durch nichts als die Wortbild-Gewalt begründete Evidenz. Dieses Vergegenwärtigungspotential, das der Redefiguren zu seiner Realisierung bedarf, wird durch eine Zweigliederung spezifiziert und gewissermaßen gebändigt, wobei es um die Relation von Hören und Sehen, Hörern und zum Sehen veranlassenden Rednern geht. Eine Phantasie der Rhetorik, rhetorike phantasia, wird von einer Phantasie für die Poeten, para poietais, unterschieden und funktional differenziert: Poetisches Ziel ist die ekplexis, rhetorisches die enargeia. Die Macht der Rede einerseits, die den Willen der Hörer in der Vergegenwärtigung einschränkt, und die das Unmögliche phantasierende Rede andererseits, die den Rahmen des rhetorisch Zulässigen überschreitet, markieren den Positiv- und Negativpol auf der Bewertungsskala der phantasia. Die ekplexis bedarf keiner Begründung durch Sachverhalte und Beweisführung. Im Traktat geht es bekanntlich in der Hauptsache um die Erzeugung des hypsos, und das leisten die Schemata, deren übermäßiger Gebrauch den Eindruck von Betrug, Täuschung, paralogismos, herbeiführen kann. Eine Maskierung der Schemata, um ihre Künstlichkeit - also ihre mangelnde Gründung im Realen - zu verbergen, wird durch den pathosnahen Effekt des Erhabenen erreicht. Die Phantasie als (eine) Quelle des Erhabenen, die, jede Überzeugung übersteigend, Bewunderung und Entzücken hervorruft, erhält die Aufgabe einer Verschleierungsstrategie. Auch in der lateinischen Tradition, deren Begrifflichkeit Nina Otto diskutiert (S. 103-123), figuriert das Vor-Augenstellen als wesentliches Verfahren - in Ciceros 16 Zum enargeia-Begriff in der antiken Theorie vgl. Nina Otto, Enargeia. Untersuchung zur Charakteristik alexandrinischer Dichtung, Stuttgart 2009, die auf die enge Verbindung zwischen enargeia und phantasia hinweist und phantasia als ein aus der stoischen Philosophie in die Dichtungstheorie übernommenen erkenntnistheoretischen Begriff diskutiert (S. 67). In stoischer Philosophie avanciere phantasia zum „Herzstück der Erkenntnistheorie“; die kataleptike phantasia sei das „Wahrheitskriterium der Stoa“. 17 Pseudo-Longinus, Vom Erhabenen, übers. v. Reinhard Brandt, Darmstadt 1983. Vgl. Manfred Fuhrmann, Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, Longin, Darmstadt 1992, S. 177 mit Verweis auf Quint. Inst. or. 8,4. - Vgl. die Interpretation von Ulrich J. Beil, „Rhetorische ‚Phantasia‘“, in: Arcadia 28, (1993), S. 225-255. Zur Spezifik des an den phantasia-Begriff gekoppelten „Vergegenwärtigungs-Konzepts“ bei Pseudo-Longin vgl. auch Susi Frank, Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die Longinsche Tradition, München 1999. Zwischen Fakt und Artefakt 103 rhetorischen Schriften erscheint es unter der Bezeichnung „inlustris explanatio. […] sub aspectum paene subiectio“ (De oratore 3, 202), bei Quintilian als „subiectio sub oculos“ (Inst. 9, 2, 40) und als „demonstratiio, res ante oculos esse videatur“ in der Rhetorica ad Herennium (4, 55, 68). Davon unterschieden ist die Terminologie in Ciceros philosophischen Schriften, in denen die Termini: evidentia, perspicuitas figurieren. 18 Der Begriff enargeia, evidentia wird in diesen Traktaten nicht mit dem ausdrücklichen Anspruch verbunden, das Reale als Reales vorzustellen, sondern geht mit der Empfehlung an die Kunst zusammen, ein Fiktives als Reales vor Augen zu stellen, d.h. zu vergegenwärtigen, und jene Augenzeugenschaft zu erzeugen, die allein die ekplexis zuwege bringt. Zwar argumentiert Barthes, die Rhetorik aufrufend, im Kontext seiner réel-Diskussion, indem man vorgebe, dem référent sklavisch zu folgen (d’une façon esclave), könne vermieden werden, dass die realistische Beschreibung in eine „activité phantasmatique“ hinein gezogen werde. Er beruft sich dabei auf die hypotyposis, ein Synonym für enargeia: „la rhétorique classique avait en quelque sorte institutionnalisé le fantasme sous le nom d’une figure particulière, l’hypotypose, chargée de ‘mettre les choses sous le yeux de l’auditeur’, non point d’une façon neutre, constative, mais en laissant à la représentation tout l’éclat du désir (cela faisait partie du discours vivement éclairé, aux cernes colorés: l’illustris oratio“ und führt aus: „en renonçant déclarativement aux contraintes du code rhétorique, le réalisme doit chercher une nouvelle raison de décrire“ (78), jedoch, ließe sich einwenden, es ist ja just der effet de réel, der durch die Privilegierung des référent eine Art Vergegenwärtigung zu schaffen vermag, der Kurzschluss von expression und référent erzeugt diesen Effekt, der immer eine „illusion référentielle“ ist. Für die Faktographen hingegen übernimmt das Dokument die Rolle der Vergegenwärtigung, ja ist selbst diese Vergegenwärtigung. Um dem Verdacht zu entgehen, es handle sich hierbei um die Fabrizierung eines Effekts, muss der Faktenschreiber den Verfahrenscharakter der Vergegenwärtigung ausklammern. Die Qualifizierung des Realen als Dokument lässt die Opposition von Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem obsolet erscheinen. II In der Geschichte des russischen Realismus aus der Sicht der Faktographen werden Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von 1860/ 61, mit keinem Wort erwähnt. Vom Autor (aus heutiger Sicht unnötigerweise) als Handschriftenfund legitimiert, sind die Aufzeichnungen der Erfahrungsbericht des Opfers und Zeugen Dostoevskij, der als politischer Sträfling eine mehrjährige Haftstrafe in Sibirien verbüßte. Was die Beschreibung von Strafmaßnahmen, des Kollektivlebens, der Zwangsarbeit angeht, könnte man durchaus von einer frühen Einlösung der Faktographieforderung sprechen. Dostoevskij wollte (in den Worten seines Erzähler-Protagonisten Gorjan ikov) „unser ganzes Gefängnis und alles, was ich dort in diesen Jahren durchlebt habe, in einem einzigen anschaulichen und scharfen Bild 18 Hierzu nochmals Otto, ebd. Renate Lachmann 104 vorstellen“ 19 und dies trotz der Darstellungsskepsis, die ihn befiel angesichts der ungeheuren Vielfältigkeit des Wirklichen. Das Faktische des Lagergeschehens, das Dostoevskij bearbeitet, wird in dem Maße in einen fiktionalen Diskurs überführt, d.h. in ein Artefakt transponiert, in dem die Zeichnung von Porträts der Verbannten, eine von Ivan Turgenev mit Dantes Inferno verglichene Badehausszenerie ins Spiel kommen, bei der sich die durch Hand- und Fußfesseln Behinderten ent- und bekleiden und im Sicht verstellenden Dampf mit Ruten peitschen, oder Lebensgeschichten in der Sprache der einfachen Erzähler stilisiert werden und Einzelpersönlichkeiten zu Helden nie versiegender Menschlichkeit, die Opfer und Henker einschließt, avancieren, und das Sujet narrativ üppig entfaltet wird und damit Spannung erzeugt und Empathie abnötigt. Alexander Herzen nennt Dostoevskijs Text ein „carmen horrendum“. Die Aufzeichnungen liefern nicht nur einen (spannenden) Lagerbericht - Prototyp aller folgenden Berichte dieser Art - sondern auch eine Psychographie der verbannten Strafgefangenen, die deren Verbrechen nachgeht und Verhaltensweisen nach der Tat (Reue, Gewissenlosigkeit) zum Gegenstand moralischer Reflexion macht. Die Erzeugung des Scheins des Wahren, die Wahrscheinlichkeit, ist, obgleich es um das ‚scheinlose‘ Reale geht, mit dem Einhalten der Genreregeln verbunden, die die Autobiographie vorgibt. Dostoevskij zieht als sich selbst bezeugender Zeuge keine Dokumente heran. Bei der Wiedergabe des Sprechverhaltens der Mithäftlinge rekurriert er vermutlich auf seine Notizen, aber es bleibt fraglich, ob eine solche Wiedergabe als ‚authentisch‘ qualifiziert werden kann. Die tatsächliche Augenzeugenschaft wird von der fiktiven überlagert. Die Leser des 19. Jahrhunderts hingegen, ganz im Sinne des von Jakobson postulierten Relativismus in der Realismus- Rezeption, haben hier zweifellos nicht nur ein Artefakt, ein carmen horrendum, sondern auch den reinen Erfahrungsbericht zur Kenntnis genommen. 20 Dem skizzierten faktographischen Programm steht der 1926 erschienene Erzählband Die Reiterarmee von Isaak Babel 21 auf den ersten Blick näher. Babel hat als Kriegsberichterstatter am Feldzug der Kosakenarmee teilgenommen, von Juni bis September 1920 das Schicksal der heruntergekommenen, weitgehend chaotisch geführten Kosaken-Armee geteilt und ist Zeuge ungeheuerlicher Gewalttaten geworden. Eine sehr viel später einsetzende historische Beschäftigung mit dem unrühmlichen Feldzug der Rotarmisten zeigt die Detailgenauigkeit der Babelschen Darstellung, was das Realsubstrat angeht (die Aktionen der Roten Kavallerie unter dem „roten General“ Budjonnyj, Massaker, Plünderung, Vergewaltigung, pogromartige Überfälle auf die jüdische Bevölkerung). Dennoch, Babels Texte haben gerade da, wo sie von der erschütternden Begegnung mit extremer Grausamkeit und einem unvergleichlichen Ausnahmezustand künden, mehr mit Erlebnis als mit Bericht zu tun, es geht weniger um Dokumentation als um Deutung des Geschehenden. Babel 19 Fedor M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Zapiski iz mertvogo doma), übers. v. K. Rahsin, Dostojewskij-Gesamtausgabe, Bd. 3, München, Zürich 1977. 20 Dostoevskijs Darstellung der sibirischen Haftbedingungen ist die erste ihrer Art - vergleichbar der Rolle, die der Roman von Alexander Solschenizyn, Ein Tag im Leben des Ivan Denisovi , als Schilderung des Gulag für die sowjetische Öffentlichkeit gespielt hat. 21 Isaak Babel, Die Reiterarmee (Konarmija), übers.v. Peter Urban, Berlin 1994. Zwischen Fakt und Artefakt 105 verstößt damit nicht nur gegen die Genreforderung (Skizze, Bericht) der Faktographen, sondern auch gegen die verordnete Norm eines (am Realen keineswegs orientierten) die Kriegshandlungen idealisierenden offiziellen Realismus. Der Störung der Norm, die sich Babel erlaubt, begegnet man mit dem Vorwurf der ‚schlechten Karikatur‘, der ‚Dekadenz‘. Sein Normverstoß richtet sich gegen das Wahrscheinliche, das als Statthalter für das glorifizierte Reale zu gelten hätte. Babels Genreüberschreitung der faktographischen Skizze besteht in einer Schreibweise, die man als Faktopoesie bezeichnen könnte. Sie arbeitet mit einem expressionistischen Imaginarium - der Begriff ‚ornamentale Prosa‘ wurde dafür geprägt - in das Berichtfragmente und Reflexionsmomente eingelagert sind, wobei die Abfolge der einzelnen Passagen einer Montagetechnik entspricht, die auch die Syntax des Erzählbandes zur Gänze bestimmt. 22 Weg nach Brody Wir ritten einem heroischen Sonnenuntergang entgegen. Seine kochenden Ströme ergossen sich über die buntgestickten Handtücher der Bauernfelder. Die Stille wurde rosig. Die Erde lag, wie ein Katzenbuckel, bewachsen mit dem schimmernden Fell des Getreides. Auf die Anhöhe geduckt, lag das Kaff Klekotow. Dahinter erwartete uns die Vision des totengleichen und gezackten Brody. Aber bei Klekotow platzte uns krachend ein Schuß ins Gesicht. Hinter einer Hütte hervor schauten zwei polnische Soldaten. Ihre Pferde waren an Pflöcken festgebunden. Die Anhöhe heraufgeritten kam feldmarschmäßig eine leichte Batterie des Feindes. Die Kugeln strichen wie am Faden die Straße entlang. Vorwärts! — sagte Afonjka. Und wir ergriffen die Flucht. Oh, Brody! Die Mumien deiner zerstampften Leichen haben mich angehaucht mit ihrem unwiderstehlichen Gift. Schon spürte ich die Todeskälte deiner Augenhöhlen, in denen die Träne gefror. Und nun — trägt rüttelnder Galopp mich fort vom zerkerbten Stein deiner Synagogen... Brody, August 1920 23 III Die Wahrscheinlichkeitsdiskussion, das Konzept der energeia, des adynaton, die Dokumentempfehlung der Faktographen, Empathie und Empathieverzicht bestimmen 22 Vgl. meine Analyse der semantischen und Laut-Instrumentierung der Erzählung „Notizen zu Isaak Babels ‚Perechod erez Zbru ‘“, in: Voz’mi na radost’. To Honour Jeanne van der Eng- Liedmeier, Amsterdam 1980, S. 183-192. 23 Babels das Kriegsgeschehen von Frontabschnitt zu Frontabschnitt verfolgendes Tagebuch lässt in vielen Einträgen erkennen, dass er Fakten aus einer rein literarischen Perspektive notiert, wobei auch Beschreibungsdesiderate, quasi auf Metaebene, angeführt werden. (Isaak Babel, Tagebuch 1920, hrsg. u. übers. v. Peter Urban, Berlin 1990, S. 56). Mit Sicherheit unterscheiden sich diese Einträge von den Lageberichten, die er als Korrespondent dem Krasnyj Kavallerist zu liefern hatte. Vgl. Nachwort zu Babels Tagebuch von Peter Urban. Renate Lachmann 106 die Texte aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen es um die Darstellung der exorbitanten Geschehnisse geht, die zur Realität der Vernichtungslager gehörten, d.h. Texten die sich einem anderen Realen zuwenden, das außerhalb des konventionell Darstellbaren, ja des Vorstellbaren liegen und den Topos der Unsagbarkeit, bzw. das Paradox vom ‚Unsagbaren, von dem so viel die Rede ist’, zu bestätigen scheinen. Das Wahrscheinliche, den Normen Entsprechende, Erwartbare einerseits und das Unwahrscheinliche, Unmögliche lassen sich angesichts der historischen Geschehnissen gewidmeten Texte weder auf die Tradition der klassischen Rhetorik/ Poetik zurückführen noch mit dem unklassischen vraisemblable verrechnen, von dem Barthes spricht; die Sätze von Aristoteles hingegen gewinnen Gewicht. Anders als bei den Aufzeichnungen des Zeugen und Opfers Dostoevskij und des Zeugen und Teilhabers am Kriegsgeschehen Babel geht es bei Texten von Danilo Kiš und Vladimir Sorokin, deren Themen Terror und Tod in den deutschen Vernichtungs- und den sowjetischen Straflagern sind, nicht um primäre Zeugenschaft, da sie keine Zeugen und keine Überlebenden der Lager sind. Danilo Kiš, dessen Vater in Auschwitz umgekommen ist, widmet einen Teil seines Werks dessen spurlosem Verschwinden. Seine Prätexte sind autobiographische Berichte und Dokumente. Sorokin ist in der Sowjetunion aufgewachsen, Berichte über den Gulag sind ihm ebenso bekannt wie solche über die deutschen Vernichtungslager. 24 Kiš privilegiert Verfremdungsverfahren, das Oszillieren zwischen authentischem und fiktivem Dokument, Strategien der Über- und der Unterrepräsentation, wobei Katalogtechniken unterschiedlicher Art eingeführt werden; Sorokin bedient sich Verfahren der Groteske, die auf eine das Skandalöse einkalkulierende Verrückung der Realien in Horror-Phantasmen zielen. Kiš hat sich mit zwei Modellen des Dokumentarischen auseinander gesetzt: mit dem Dokumentarismus der russischen postrevolutionären Faktographie, von dem die Rede war, und mit den Ficciones von Borges. Die Auseinandersetzung mit dem Borges-Modell ist nachhaltiger. Kiš distanziert sich von der ludistischen Erudition, die die fiktiven Dokumente, die enzyklopädischen Heterotopien und Atopien in Borges’ Texten bestimmt. Borges setzt sie ein, um die Kontingenz des Faktischen zu denunzieren und im Verwirrspiel, das seine Logophantasmen anzetteln, die Möglichkeit/ Unmöglichkeit anderer Welten aufleuchten zu lassen; Kiš dagegen beharrt auf der Fatalität des vom Faktischen diktierten fiktiven Dokuments, insistiert auf der Faktizität des Möglichen, der Möglichkeit des Faktischen, das auf skandalöse Weise glaubhaft und wahrscheinlich geworden ist. Allerdings argumentiert er mit der Möglichkeit eines Wechselspiels zwischen Dokument und Phantasie (Phantastik). In seinem poetologischen Traktat Homo poeticus heißt es: „Die solide Materie der Phan- 24 Danilo Kiš wurde 1935 in Subotica, an der ungarisch-serbischen Grenze, geboren, in den 70/ 80 Jahren wurde er in Frankreich, nachdem er in Serbien einer ideologisch begründeten Hetzkampagne ausgesetzt war, durch seine Gulag- und Holokaust-Texte bekannt; 1989 ist er in Paris gestorben. Vladimir Sorokin, der 1955 bei Moskau geboren wurde und - nach etlichen Auslandsaufenthalten, unter anderm als Stipendiat in Berlin - in Moskau lebt, gilt als Skandal- und Kultautor der russischen Gegenwartsliteratur. Zwischen Fakt und Artefakt 107 tasie kommt dem Dokument gleich, sofern es seine Überzeugungskraft betrifft“. 25 Das fiktive und das authentische Dokument gehören zu demselben semantischen Feld, wobei das Fiktive das Authentische durch eine „tiefere Authentizität“ übertrumpfen kann. Das fiktive Dokument substituiert das reale, indem es dessen „blasse Glaubwürdigkeit auf eine das Phantastische berührende Weise steigert.“ Mit dem Oxymoron „Authentische Fabeln“, das er in demselben Kontext einführt, bestimmt Kiš das Material für seinen Erzählband Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch (Grobnica za Borisa Davidovi a, 1976) 26 , dessen Prätexte die Erfahrungsberichte von Opfern des Gulag sind. Das Phantastische, von dem Kiš spricht, nimmt Züge einer wertenden Kategorie an. Es funktioniert nicht als Entwurf alternativer Welten, sondern ist Dokumentation entgleister Realität. Es geht bei Kiš nicht nur um eine mehr oder weniger transparente Kombination von Faktographie und Fiktion, sondern auch um eine komplizierte Semantik fingierter Dokumente, die dem Wissen ums Faktische entstammen, und es geht um die Herstellung eines Artefakts. Die poetische Energie Kišs betrifft das Faktum, das, wie er formuliert, „auf die Gnade wartet, in eine Form gebracht zu werden“. 27 Das gilt auch für seinen Roman Die Sanduhr (Peš anik, 1972), den er in Homo poeticus charakterisiert: Sanduhr ist vor allem ein Dokument, oder eine Rekonstruktion, wie Sie wollen. Aber vergessen wir nicht, Sanduhr ist außerdem eine Welt für sich, eine Struktur, wie man heute sagen würde, also eine Welt mit eigenen literarischen Gesetzen, und Dokument und Rekonstruktion dienen dazu, die Fenster zu dieser Welt zu öffnen, die Schlüssel zu ihrer Tür zu finden. 28 An die Stelle des Scheins des Wahren tritt das Wahre der Lagerberichte - als das Skandalöse. Hier geht es aber nicht um die unnötigen Details, die das Reale als selbstbezügliches zu verbürgen vorgeben, Barthes’ „illusion référentielle“, sondern um Details, die wahr sind und nichts vorgeben können. Kišs ambivalente Bearbeitungen des Faktischen basieren entweder auf Pseudo-Dokumenten oder lassen sich auf eine Weise auf ein tatsächliches Dokument ein, dass dieses ins Fiktive umzuschlagen scheint. Er nutzt die beiden konträren semantischen Möglichkeiten des Dokuments; zum einen: am Realen teilzuhaben, Spur zu sein, und zum andern: dem Realen mit einer Struktur der Ähnlichkeit zu begegnen. Es lässt sich zeigen 29 , wie Kiš authentisches Material oder Berichte von Augenzeugen (mit ihrer mnemonisch problematischen Verlässlichkeit) transformiert, indem er sie auf ihre ‚Essenz‘ reduziert. Die politischen Morde in der Stalinzeit, die Lebensläufe der Täter und Opfer werden rekonstruiert, indem deren Faktizität auf ein fiktives Personenensemble übertragen 25 Danilo Kiš, Homo poeticus, hrsg. v. Ilma Rakusa, München 1990. 26 Danilo Kiš, Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch (Grobnica za Borisa Davidovi a), übers. v. Ilma Rakusa, Frankfurt/ M. 1987. 27 Vgl. die Thesen in „Parabase“ (Kap. 2) in der Kiš gewidmeten Nummer von LiteraturMagazin 41 (1998), S. 44-59. 28 Homo poeticus, S. 166-167. 29 Vgl. das Kapitel „Fakt und Fiktion“ in: Katharina Wolf-Grießhaber, Des Iltisses Kern. Zur Sinnproduktion in Danilos Kišs‚ Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch‘, Münster 2001, S. 153-185. Renate Lachmann 108 wird. Kiš verfremdet seine Quellen, im Sinne seines Diktums von der „tieferen Authentizität“. In Die Anatomiestunde, einem weiteren poetologischen Traktat (1978) 30 , heißt es: „Das literarische Verfahren, das ich in Grabmal angewandt habe, ist nur ein Aspekt der Verfremdung (im formalistischen Sinn). Dabei geht es um die Überführung einer Form der reinen Phantasie in eine Form der non-fiction, des Dokumentarischen.“ Umgekehrt beharrt Kiš auf der Wiedergabe dokumentarischer Formen durch Formen reiner Imagination (119). Und er behauptet, dass die Phantasie „falsche“ Dokumente in „echte“ verwandle, und dass die „literarischen Fakten durch ‚historisches‘ Material, die historischen durch literarisches Material abgestützt werden“ (114). In den die Lagergeschehnisse betreffenden Geschichten, die Kiš aus den autobiographischen Berichten von Karl Steiners 7000 Tage in Sibirien, Alexander Solzenicyns Archipelag Gulag oder Evgenija Ginsburgs Gratwanderung exzerpiert, tritt die Doppelfunktion des Dokuments deutlich hervor. Das Dokument ist Substitution des Faktischen, mit dem es durch eine beklemmende Similarität verbunden bleibt, und es hat an bestimmten Punkten durch rekonstruierende Verfahren Anteil an tatsächlichen Ereignissen. Während das Dokumentarische im Falle seines dem Vater gewidmeten Romans Die Sanduhr prekär bleibt - es gibt keinerlei Dokument, das den Tod des Verschwundenen in Auschwitz belegen könnte; das nackte Faktum besteht darin, dass der Vater deportiert wurde und nicht mehr zurückkehrte - bekundet der Sohn-Erzähler das gelebte Leben des Vaters mit der Aufzählung seines aus (historischen) Dokumenten bestehenden Nachlasses und zitiert am Ende des Romans in serbokroatischer Übersetzung einen ungarisch geschriebenen Brief seines Vaters an dessen Schwester. Die phantastische Transformation des Dokuments und das gleichzeitige Negieren des Erfindens als einer literarischen, legitimierbaren Praxis sind die beiden Eckpunkte der Kišschen Poetik und dessen, was er die „Po-Ethik“ des Schreibens nennt. Kiš bezieht sich an einigen Stellen seiner poetologischen Beobachtungen auf Vladimir Nabokov, dessen Umgang mit den Dokumenten, beginnend mit denjenigen, die seine Biographie betreffen (Speak Memory) und Technik der Leserfalschlenkung, der Auslegung trügerischer Fährten, der fingierten Beichte ihn als Verfahren interessiert haben, wenngleich er sich kritisch davon absetzt. In Nabokovs Poetik ist die Fälschung der poetische Akt, der das Bestehende verwandelt, das Evidente in Zweifel zieht und mit der Erfindung von Ähnlichkeit dem Unmöglichen eine alternative Existenz verschafft. Die Fiktion erscheint als falsches Geständnis. Beispielhaft führt er in seinem Roman Verzweiflung (Despair, Ot ajanie) 31 die Verschränkungen von Fakt und Artefakt vor: er lässt seinen Protagonisten die Planung und Durchführung eines Verbrechens, quasi autobiographisch, erzählen, und denunziert zugleich den Bericht darüber als literarischen, als Fiktion. Etwas als wirklich und tatsächlich zu behaupten und gleichzeitig dessen Wirklichkeits- und Tatsächlichkeitsstatus im Zwielicht erscheinen zu lassen, macht die semantische Bewegung dieses metapoe- 30 Danilo Kiš, Anatomiestunde, übers. v. Katharina Wolf-Grießhaber, München 1998. 31 Ich beziehe mich auf die russische Ausgabe, Ann Arbor 1978 (Zitate in meiner Übersetzung). Zwischen Fakt und Artefakt 109 tisch zu lesenden Romans aus. Es geht um die Konstruierbarkeit beliebiger alternativer Welten und die Pseudohaftigkeit aller Festlegungen. „Wie leicht ist es, sich etwas auszudenken“, sagt Hermann, dem es leicht fällt, ein fiktives Faktum durch ein anderes zu ersetzen. Er hebt „die leichte, inspirierte Lügenhaftigkeit“ hervor, die Fähigkeit, die Welt in eine Fälschung, eine Parodie auf sich selbst zu verwandeln. Der prekäre Status der Realität ist bei Nabokov ein eher hoch artifiziell inszeniertes Thema, das sich besonders im Motiv der fingierten Beichte, des falschen Geständnisses zeigt. Während Hermann (Schreiber und Verbrecher) in Verzweiflung ein fiktives/ faktisches Verbrechen schriftlich bekennt, ohne dass Nabokov hier eine Spur von Realsubstrat durchscheinen lassen würde, erzählt Kiš eindringlich in Ein Grabmal die Geschichte des erzwungenen Geständnisses des inhaftierten Kommunisten, Revolutionärs und Bombenlegers Novskij, die eine beklemmende Ähnlichkeit mit sowjetischen Bräuchen einer parteikonformen, unter Folter erreichten Selbstanklage und Selbstvernichtung hat. 32 Kiš folgt hier seinem Programm einer ambivalenten Dokumentpoetik - seine konkreten Prätexte sind eine Episode aus Steiners Sibirienbericht und die Berichte über die Moskauer Schauprozesse. Während Nabokovs semantische Prozedur die paradoxe Moral der Fiktion aufdeckt, lässt Kiš die Fiktion als eine Realität erscheinen, die vermittels eines falschen Selbstzeugnisses hergestellt wird. Wie zu Borges ist Kišs Bezug zu Nabokov ambivalent, denn er verwirft die „literarische Erfindung“ angesichts des Vorgegebenen, zugleich aber legitimiert er, wie erwähnt, die ‚phantastische‘ Überhöhung des Dokumentarischen. 33 Seit Gulag und Holokaust, so legt Kišs Poetologie nahe, hat sich die Literatur einschneidend verändert. Thanatographie, nicht Biographie, erscheint als die Schreibweise des 20. Jahrhunderts, die der Erfahrung der gewaltsamen Tode gilt, die den gewöhnlichen, den menschlichen Tod verdrängt haben. 34 In Ein Grabmal erscheint die intertextuelle Beziehung, die Kišs Text mit der Autobiographie Karl Steiners verbindet, als die einer Transposition der abgeklärten, fast stoischen Schreibweise des einstigen Lagerinsassen in eine semantische Konstruktion, deren Kern das „Grabmal“ ist. Boris Dawidowitsch Novskij, der im Straflager des sibirischen Norilsk umkommt, gehört in die Geschichte der grablos Gebliebenen. Kiš übernimmt mit seinem Textmonument die Rolle der griechischen Kenotaph-Erbauer. Aus Elementen verschiedener Lagerberichte stellt er die Kompositfigur Nowskij her, die für die ungezählten historischen spurlos verschwundenen Personen stehen kann. In Die Sanduhr, einem der drei dem Gedächtnis des ebenfalls grablos gebliebenen Vaters gewidmeten Romane, werden quasi faktographische Mini-Genres montiert, die als Verhöre, Gerichtsverhandlungsprotokolle, Reisebeschreibungen und Selbstaussagen der Hauptfigur (die darin selbst zum Autor wird) erscheinen; diese fungieren als 32 Zu Geständnis und Folter vgl. Sylvia Sasse, Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München 2009. 33 Vgl. dazu auch Tatjana Petzer, Geschichte als Palimpsest. Erinnerungsstrukturen in der Poetik von Danilo Kiš, Jüdische Studien, Bd. 8, hrsg. v. Dorothee Gelhard, Frankfurt/ M., Berlin et al 2008, S. 87-168. 34 Vgl. Lachmann, „Danilo Kišs Thanatographie: Non omnis moriar“, in: Thanatologien, Thanatopoetik. Wiener Slawistischer Almanach 60 (2007), S. 433-454. Renate Lachmann 110 strukturelle Motivation für die Aufzählung von Dingen, Aufzählung von Fakten (Handlungen, Ereignissen), für die Berichte über Erlebtes, für die erschütternden Bekenntnisse der Todesangst. Aufzählen erscheint als Dokumentieren und umgekehrt. Die Dinge in Listen und Katalogen, geordnet oder chaotisch, sind die eigentlichen Garanten des Realen. 35 Von diesen den Roman intermittierend skandierenden Genres unterscheidet sich ein knappes Textstück, das als einzelnes Kapitel gekennzeichnet ist und durch eine verfremdungspoetische Strategie auffällt. Kiš ‚verarbeitet hier ein historisches Faktum: das 1942 in Novi Sad an der jüdischen und serbischen Bevölkerung verübte Massaker ungarischer Pfeilkreuzler (der Gesinnungsgenossen deutscher Faschisten). Ungezählte Personen wurden auf offener Straße erschlagen, viele an das Ufer der Donau geführt, wo sie exekutiert und ihre Leichen in die weitgehend zugefrorene Donau geworfen wurden, bis das ausgeschlagene Eisloch überfüllt war und die Aktion abgebrochen wurde. Kiš reduziert die Metzelei auf die Darstellung des spektakulären Falls eines im Schnee zurückgelassenen Gehirns: Das Gehirn von Herrn Freud, dem Oberarzt. Ein Klumpen gefrorenen, gallertigen Fleisches, völlig intakt, wie ein am Stück serviertes Lammhirn (im Restaurant Danubius in Wien, 1930). Der Schnee ringsum von schweren Stiefelabsätzen und Nagelschuhen zertrampelt, schien nur gerade hier ein wenig geschmolzen, neben diesem Gehirn, auf dem man Windungen wie auf einer Nuß sowie ein Netzwerk von Kapillaren erkennen konnte. Das Gehirn lag im Schnee, an der Ecke zwischen der Mileti - und der Griechenschule- Straße, und ich hörte genau, wie jemand sagte, wem, das heißt wessen Schädel dieses Gehirn gehört hatte. Das Gehirn von Herrn Freud, dem Oberarzt, lag wie eine kleine Insel im Schnee, zwischen zwei Furchen von Fußspuren, eine der Schädeldecke entrissene Intelligenz (so reißt man Muscheln aus ihrer harten smaragdfarbenen Schale), eine bebende Hirnmasse, zitternd im Schnee wie in einem Eisschrank - nicht das Gehirn eines Schwachsinnigen im Glasbehälter, sondern das Gehirn eines Genies (ich wußte ja, wem es gehört hatte), konserviert, geschützt im Inkubator der Natur, damit sich daselbst (im Inkubator), von allen körperlichen Fesseln befreit, eine düstere Perle entwickle: die materialisierte, kristallisierte Idee. 36 Der Name, den der Oberarzt aus Novi Sad mit dem Wiener Psychoanalytiker teilt, legitimiert die befremdlichen Assoziationen, die sich der Erzähler erlaubt. Das Gehirn, ein Bildkondensat, ist Kišs Pathosformel im Sinne von Warburgs „gebändigtem Affekt“. Die Bändigung durch künstlerische Gestaltung entspricht dem Diktum von der Gnade der Form. Die Metaphern, die neue semantische Ketten bildenden Vergleiche, die dunklen Andeutungen wecken den Deutungsimpuls des Lesers. 37 Eine Formulierung in Ciceros Partitiones oratoriae wirkt wie eine Illustration der Verfahren, 35 Vgl. dazu Lachmann, „Zur Poetik der Kataloge bei Danilo Kiš“, in: Wortkunst. Erzählkunst. Bildkunst. Festschrift für Aage A. Hansen-Löve, Die Welt der Slaven, 30 (2008), S. 296-309. 36 Danilo Kiš, Die Sanduhr, übers. v. Ilma Rakusa, München 1984, S. 65. 37 Zur Interpretation dieser Passage vgl. Dagmar Burkart, „Die Postmodernität der Literatur bei Danilo Kiš“, in: Wiener Slawistischer Almanach, Sammelbände 10, (2001), S. 57-67; Katharina Wolf-Grießhaber, „Der zerstückelte und gemarterte Körper in Danilo Kišs Peš anik“, in: Wiener Slawistischer Almanach 57 (2006), 243-256; Tatjana Petzer, „Die ‚kalten Tage‘ im Werk von Danilo Kiš“, in: LiteraturMagazin 41 (1998), S. 113-120. Zwischen Fakt und Artefakt 111 die Kiš hier anwendet. „Anschaulich (inlustris, vgl. enarges) ist die Rede, wenn man nach ihrem Gewicht ausgewählte Wörter verwendet, übertragene und übertreibende Wörter, Attribute, Verdoppelungen und Synonyme und überhaupt Wörter, die nicht zum Gesamttenor und zur nachahmenden Darstellung des Sujets (imitatione rerum) im Widerspruch stehen. Diese Art der Rede ist es nämlich, die etwas geradezu plastisch vor Augen (ante oculos) stellt. Dieses Sinnesorgan wird nämlich dabei am meisten angesprochen, doch auch die übrigen, und am meisten kann der Verstand selbst beeindruckt werden.“ (Cic. Part. 20). 38 Kišs „Vergegenwärtigung“, die fingierte Augenzeugenschaft, zu der das Bild nötigt, erzeugt Bestürzung, ganz im Sinne der ekplexis. Letztere bedarf, wie angedeutet, keiner Begründung durch Sachverhalte und Beweisführung. Doch haben wir es mit einem tatsächlichen, einem historischen, mehrfach bezeugten Fall zu tun: das Reale ist hier quasi in der Realie, dem zerschmetterten Gehirn des Oberarztes, in die Präsenz gezwungen. Der zitierte Passus ist stilistisch markiert als Gegengewicht zu der im gesamten Text durchgehaltenen rigorosen Pathosvermeidung, die Kiš mit Figuren des Nichtexpressiven, der Andeutung, also Figuren der Unterrepräsentation aufrecht erhält. Das gilt insbesondere für das erwähnte Massaker an der Donau, die sog. „kalten Tage“, das durch die Litotes, d.h. die invertierte Hyperbel, unterrepräsentiert bleibt. Dazu gehört die Weigerung, die ungeheuerlichen Geschehnisse in ihrem Verlauf darzustellen. Die „tiefere Authentizität“ als eine Art ‚Anmaßung‘, das Geschehen mithilfe fiktiver Dokumente besser zu verstehen und darstellen zu können, schließt für ihn eine Bändigung des Sprachlichen ein. Einen Exzess im Sprachlichen hingegen präsentieren die Texte von Vladimir Sorokin. Die Berichte über Gulag und die deutschen Vernichtungslager haben die Voraussetzung für eine Schreibweise des Extremen geliefert. Formen der Aufarbeitung der Vergangenheit im postsowjetischen Russland sind vorwiegend in der Kunst- und Literaturszene entwickelt worden. Es sind Verfahren der Demontage. Im Zentrum der Demontage, die im „Moskauer Konzeptualismus“ und in der „Soz-Art“ stattfindet 39 , stehen die Ikonen der Machthaber, die Embleme der Sowjetunion, sozialistische Idiomatik, die Repräsentationsformen und die Medien, wobei nicht nur deren Propaganda-Funktion aufgedeckt wird, sondern auch so etwas wie eine Reinigung stattfindet. Eine radikale Katharsis betreibt Sorokin, der sich mit der Demontage allein nicht zufrieden gibt, sondern mit einer ‚totalitären‘ Geste einen kulturellen Ikonoklasmus durchführt. Sorokin ist ein Meister der Stilsimulation, ein Stilartist, der von Gogol über Turgenev bis Nabokov russische Erzählmanieren fabrizieren kann. Es geht um die Zerstörung (nicht nur die Subversion) der heilen Welt der Literatur und der Kultur, für die sie steht, die sie ausmacht, artikuliert etc. Daher müssen die literarischen Texte durch ihre Simulierung quasi vertilgt, verzehrt und in ihrer Pervertierung ad absur- 38 Cicero, Partitiones oratoriae, übers. v. Karl Bayer, München 1994, vgl. dazu Otto, a.a.O., S. 105. 39 Vgl. Sylvia Sasse, Texte in Aktion, Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München 2003, S. 189-292. Renate Lachmann 112 dum geführt werden. Sorokins Entwurf grotesker Ornamente der Perversion, der Gewalt-Debauchen, des Exzesses ist katastrophistisch und von exaltierter Blutrünstigkeit. Im Roman Roman (mit dem Titelhelden Roman) wird ein Simulakrum, diesmal ein großformatiges, vorgeführt, es ist dasjenige eines narrativ ausholenden, üppig beschreibenden Romans des russischen 19. Jahrhunderts à la Turgenev, vertraute Sujets werden im vertrauten Milieu entfaltet: Ein großflächiges Tableau an Personen mit Spezialcharakteristiken ist entfaltet, ein Apogeum des Glücks in eloquenter Stilistik vorbereitet. Genau an dieser Stelle holt der Autor zu seinem ikonoklastischen Schlag aus. Er lässt seinen Helden Roman in einem Rausch, der ohne psychologische Motivierung bleibt, das den Roman bevölkernde Personal niedermetzeln. Die Abschlachtung wird im Einzelfall preziös und mit genauer Bezeichnung der variierenden Methoden geschildert. Darauf folgt die systematische Niedermetzelung des gesamten Dorfes, samt Kleinkindern und Säuglingen. Hier nun wird die Stilistik der variierenden Ausschmückung drastisch reduziert: die in monotoner Syntax gehaltene Wiederholung der mit der Axt gleichsam rituell ausgeführten Kopf-oder Rückenspaltungsgesten erzeugt einen lähmenden Effekt, führt zur Abstumpfung. Steigerungen werden aufgebaut: die Gedärme, hernach die Köpfe der Geschlachteten werden in die Dorfkirche (die zuvor der Hochzeitszeremonie diente) gebracht, Manipulationen mit Altar, Weihwasserbecken und Sakramentalien werden vorgeführt, pagane Opferriten am russisch-christlichen Ort, monströse Blasphemie. Die zerstückelten Leichen werden zu Brei gestoßen, auch Tatjana, die reine Braut, wird geköpft, ausgeweidet, gehäutet und dem Brei beigemischt. Der durch Ausscheidungen des Akteurs (Exkremente, Urin, Sperma) vermehrte Brei wird von diesem auf den eigenen Körper geschmiert, verspeist, ausgeschieden, nochmals verspeist - verdoppelte Anthropophagie. Die Sätze schrumpfen auf Subjekt und Prädikat zusammen: Auf den letzten zehn Seiten werden nurmehr der Akteur, Roman, und seine Körperaktionen genannt: „Roman kroch. Roman schrie. Roman schlug. Roman rieb. Roman drückte. Roman leckte. Roman wackelte. Roman lutschte. Roman weinte. Roman spuckte. Roman schauderte. Roman stöhnte. Roman zuckte. Roman starb“. 40 Sorokins schriller Akt von Auto-Vandalismus trifft die Literatur als solche, ihre Abschlachtung ist die Pointe des Romans Roman. Vorgeführt wird ein Befreiungsschlag gegen das Genre Roman. Es ist der Versuch, gegen die Allmacht eines Genres anzuschreiben, das wie kein anderes zur Bildung religiöser, politischer, sozialer Mythen in Russland beigetragen hat, und als dessen potenzierte Verlängerung der diktatorische Utopismus des sozialistischen Realismus gelten mag, womit auch die konventionellen dem Realen gewidmeten Schreibweisen gemeint sind. Mit der Hypostasierung des Abjekten, der ‚anomalen‘ Gewalt und einer pointiert perversen Sexualität überschreitet Sorokin die Tradition der Gräueldarstellung und des Obszönen und lässt die Groteske zur sprachlichen Obsession werden. 41 Dabei 40 Vladimir Sorokin, Roman, übers. v. Thomas Wiedling, Zürich 1995, S. 684. 41 Zur Groteske-Problematik vgl. Lachmann „Der Bachtinsche Groteskebegriff und die postsowjetische Literatur (Am Beispiel Vladimir Sorokin)“, in: Kulturrevolution 48 (2004), S. 44-52. Zwischen Fakt und Artefakt 113 geht es offenbar nicht darum, in der Artikulation der Marter-Phantasien die Grenzen der Sprache zu erkunden, sondern darum, die radikale Gleichgültigkeit der Sprache zu demonstrieren. Einer Sprache, in der es kein Unaussprechliches gibt: Die ungeheuerlichste Monstrosität findet ihr Vokabular und ihren Satzbau. Angesichts einer traumatisierten Gesellschaft und einer traumatisierten Sprache (die über den Gulag publizierten Erlebnisberichte stellen dies nachhaltig heraus) verlangen die Texte Sorokins offensichtlich nach allegorischer Lektüre, doch können sie darin nicht zur Ruhe kommen: die Schreib-Ekstasen, aus denen sie hervorgehen, lösen die Texte aus interpretatorischer Einkreisung und lassen sie aus den Lesekonventionen heraustreten. (Die Lektüre ist eine Art Folter). Sorokin schockiert mit der Gnadenlosigkeit der Form, aus der seine hypertrophen Artefakte hervorgehen. Hypertrophie erscheint hier als Auslegung von Form, sprachlicher affektbezogener Exzess macht den Topos der Unsagbarkeit obsolet. Das Unmögliche (hier dezidiert als ein Modus des Phantastischen eingesetzt) fungiert als Repräsentation des Unvorstellbar-Faktischen, d.h. mithilfe des Unmöglichen wird der Versuch unternommen, das Unvorstellbare, in dem sich das Reale verbirgt, einzuholen und es zu übertrumpfen. Oder anders: es handelt sich um die Unkenntlichmachung des Realen, bzw. seine Dissimilarisierung. Kiš beharrt auf Similarität. Die Gnade der Form angesichts des Undarstellbaren, auf die er sich verlässt, ist die Ermöglichung seines thanatographischen Artefakts. Verfahren der Litotes, der Verfremdung, der raffenden und expandierenden Aufzählung, in die das Reale einzubrechen scheint, und das Imaginarium von Verhängnis und Untergang dienen seiner Herstellung. Das Schreiben über das Exorbitante der Vernichtungslager kennt keine Alternativen, wie sie dem Realismus in allen seinen Varianten zur Verfügung stehen, die Wahlfreiheit ist eingeschränkt durch die Unwiederholbarkeit der Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Und es geht auch nicht mehr um Interpretation oder um den Versuch, die Sinngebundenheit der Ereignisse vorzuführen, wie sie den (normal-)realistischen Roman bestimmen. Dennoch wird hier ein Bemühen um Repräsentation deutlich (trotz deren Krise, die Barthes in seiner Diagnose des Real-Effekts benannt hat), die von Motiven wie Erinnern, Aufklären, Katharsis geleitet ist. Dies gilt auf zweifellos unterschiedliche Weise für die von direkter Zeugenschaft ‚betroffenen‘ Schreibenden und die anderen, die vom aus dokumentarischen Berichten geschöpftem Faktenwissen affiziert sind. Es ist das Problem der Repräsentationsform, der Sprache, mit dem erstere, die sich zur Darstellung ‚gezwungen‘ sehen, konfrontiert sind. Das geht aus vielen Äußerungen von Primo Levi, Jorge Semprun, Imre Kertész hervor. 42 Tadeusz Borowski, der Autor der Erzählungen 43 , die von Auschwitz handeln, fasst dies präzis 42 Vgl. Veronika Zangl, Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen. Tatsachen. Geschichten, München 2009, S. 179-214. 43 Tadeusz Borowski, Die steinerne Welt. Erzählungen, übers. v. Vera Czerny, Nachwort v. Andrzej Wirth, München 1970. Polnische Neuauflage der Erzählungen Wybór Opowiada , Warschau 1994. Wirth zitiert ein weiteres Diktum Borowskis: „… ich könnte auch lügen, mich der ural- Renate Lachmann 114 in eine poetologische Formel: es gehe beim Schreiben über Auschwitz um die Übersetzung aus der eigentlichen Sprache in die alltägliche, denn er, der Überlebende, könne doch über das Todeslager nicht in einer „fremden Sprache“ berichten, da ihm niemand glauben würde. Die „fremde Sprache“ wäre die dem Gegenstand einzig angemessene. Die fremde Sprache wäre eine den Unbetroffenen gänzlich unbekannte, mit eigener Syntax und Semantik, vor allem mit eigener Lexik. Der Schreibprozess wird, da diese fremde Sprache unvermittelbar ist, als ein Übersetzungsvorgang in die gewohnte Sprache deutlich, der dem Unsagbaren zum Ausdruck verhilft. Die Übersetzung aus der fremden Sprache ist zugleich die Übersetzung eines ‚fremden Genres‘ in ein bekanntes, das narrativ organisiert ist, über Erzähler verfügt, Verfahren der Beschreibung anwendet, Autobiographisches in eine Novellenstruktur kleidet. Bachtin liefert in seinen Aufzeichnungen der 60-70er Jahre eine Formulierung, die wie ein Kommentar hierzu und, gedanklich zugespitzt, zur Rolle des Dokuments lesbar ist: Die Suche des Autors nach dem „eigenen Wort“ bedeute oft die Absage an das Roman-Genre und dessen Substitution durch die Montage von Dokumenten. Er nennt dies eine „Form des Schweigens“ 44 , womit das Verstummen der Erzählerstimme gemeint ist, die dann, wenn sie nicht der literarischen Konvention folgen kann, sprachlos wird vor dem Realen (denn kein literarisches Verfahren kann für das Reale bürgen). Literatur Aristoteles, Poetik, griechisch-deutsch, übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Babel, Isaak, Die Reiterarmee (Konarmija), übers.v. Peter Urban, Berlin 1994. Ders., Tagebuch 1920, hrsg. u. übers. v. Peter Urban, Berlin 1990. Bachtin, Michail, Zapisi 60-70 godov, Sobranie so inenij, T. 5., Moskau 1996. Barthes, Roland, „L’effet de réel“, in: Communications. Recherches sémiologiques: Le vraisemblable 11 (1968), S. 84-89. Beil, Ulrich J., „Rhetorische ‚Phantasia‘“, in: Arcadia 28, (1993), S. 225-255. Borowski, Tadeusz, Die steinerne Welt. Erzählungen, übers. v. Vera Czerny, Nachwort v. Andrzej Wirth, München 1970. Burkart, Dagmar, „Die Postmodernität der Literatur bei Danilo Kiš“, in: Wiener Slawistischer Almanach, Sammelbände 10, (2001), S. 57-67. Carriere, Moritz, „Idealistische und realistische Phantasie“ (1859), in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hrsg. v. Gerhard Plumpe, Stuttgart 1985, S. 83-87. Cicero, Partitiones oratoriae, übers. v. Karl Bayer, München 1994. užak, N.F. (Hg.), Literatura fakta, Moskau 1929. Dostojewskij, Fedor M., Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Zapiski iz mertvogo doma), übers. v. K. Rahsin, Dostojewskij-Gesamtausgabe, Bd. 3, München 1977. Frank, Susi, Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die Longinsche Tradition, München 1999. Fuhrmann, Manfred, Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, Longin, Darmstadt 1992. ten Mittel bedienen, die der Literatur gegeben sind, wenn sie sich den Anschein gibt, die Wahrheit zu sagen; aber dazu fehlt mir die Phantasie.“ (S. 203). 44 Michail Bachtin, Zapisi 60-70 godov, Sobranie so inenij, T. 5., Moskau 1996. Zwischen Fakt und Artefakt 115 Kiš, Danilo, Anatomiestunde, übers. v. Katharina Wolf-Grießhaber, München 1998. Ders., „Parabase“ (Kap. 2), in: LiteraturMagazin 41 (1998), S. 44-59. Ders., Homo poeticus, hrsg. v. Ilma Rakusa, München 1990. Ders., Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch (Grobnica za Borisa Davidovi a), übers. v. Ilma Rakusa, Frankfurt/ M. 1987. Ders., Die Sanduhr, übers. v. Ilma Rakusa, München 1984. Krug, Wilhelm Traugott, „Ästhetischer Realismus“ (1832), in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hrsg. v. Gerhard Plumpe, Stuttgart 1985, S. 69-70. Küpper, Joachim, Balzac und der Effet de Réel, Amsterdam 1986. Lachmann, Renate, „Zur Poetik der Kataloge bei Danilo Kiš“, in: Wortkunst. Erzählkunst. Bildkunst. Festschrift für Aage A. Hansen-Löve, Die Welt der Slaven, 30 (2008), S. 296-309. Dies., „Danilo Kišs Thanatographie: Non omnis moriar“, in: Thanatologien, Thanatopoetik. Wiener Slawistischer Almanach 60 (2007), S. 433-454. Dies., „Der Bachtinsche Groteskebegriff und die postsowjetische Literatur (Am Beispiel Vladimir Sorokin)“, in: Kulturrevolution 48 (2004), S. 44-52. Dies., Erzählte Phantastik, Frankfurt/ M. 2002. Dies., Die Zerstörung der schönen Rede. Historische Tradition und Konzepte des Poetischen, München 1993. Dies., „Notizen zu Isaak Babels ‚Perechod erez Zbru ‘“, in: Voz’mi na radost’. To Honour Jeanne van der Eng-Liedmeier, Amsterdam 1980, S. 183-192. Lausberg, Heinrich, Handbuch der literarischen Rhetorik, 2. Aufl., München 1973. Otto, Nina, Enargeia. Untersuchung zur Charakteristik alexandrinischer Dichtung, Stuttgart 2009. Petzer, Tatjana, Geschichte als Palimpsest. Erinnerungsstrukturen in der Poetik von Danilo Kiš, Jüdische Studien, Bd. 8, hrsg. v. Dorothee Gelhard, Frankfurt/ M., Berlin et al 2008. Dies., „Die ‚kalten Tage‘ im Werk von Danilo Kiš“, in: LiteraturMagazin 41 (1998), S. 113-120. Pseudo-Longinus, Vom Erhabenen, übers. v. Reinhard Brandt, Darmstadt 1983. Sasse, Sylvia, Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München 2009. Dies., Texte in Aktion, Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München 2003. Sorokin, Vladimir, Roman, übers. v. Thomas Wiedling, Zürich 1995. Striedter, Jurij (Hg.), Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München 1969. Vischer, Friedrich Theodor, Theorie des Romans (1857), Auszüge, in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hrsg. v. Gerhard Plumpe, Stuttgart 1985, S. 240-247. Ders., „Kunst und Naturnachahmung“ (1851), in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hrsg. v. Gerhard Plumpe, Stuttgart 1985, S. 70-72. Wolf-Grießhaber, Katharina, „Der zerstückelte und gemarterte Körper in Danilo Kišs Peš anik“, in: Wiener Slawistischer Almanach 57 (2006), S. 243-256. Dies., Des Iltisses Kern. Zur Sinnproduktion in Danilos Kišs‚ Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch‘, Münster 2001. Zangl, Veronika, Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen. Tatsachen. Geschichten, München 2009. „Morgens im Spielkasino“. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert Hans Vilmar Geppert Beginnen wir an einem Punkt, dem Anfang eines nun wirklich „Großen Werkes“ der Literatur, 1 an dem zugleich in sehr sprechender, verdichteter Weise Bausteine einer Epochentheorie, der Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert versammelt sind: Vers la fin du mois d’octobre dernier, un jeune homme entra dans le Palais Royal au moment ou les maisons du jeu s’ouvraient, conformément à la loi qui protège une passion essentiellement imposable. Sans trop hésiter, il monta l’escalier du tripot désigné sous le nom de numéro 36. (10.579) 2 Gegen Ende Oktober des vergangenen Jahres betrat ein junger Mann das Palais Royal genau in dem Moment, an dem die Spielkasinos geöffnet werden dürfen, entsprechend dem Gesetz, das diese für den Staat einträgliche Leidenschaft beschützt. Ohne lange zu zögern stieg er die Treppe zum Saal Nr. 36 hinauf. 3 Das Verhalten des jungen Mannes ist so genau lesbar wie die Umgebung und die Situation in der er sich befindet: Es handelt sich, das versteht man als erstes, um einen süchtigen Spieler, der morgens keine Minute länger warten kann. 4 Liest man den ursprünglichen Titel der Szene mit, Le dernier Napoléon, das hieße „Die letzte Goldmünze“, dann erkennt man auch die Verzweiflung, die diesen Spieler treibt. Wenig später wird sein unschuldiges, fast engelhaftes Gesicht den zerstörten anderen Gestalten am Spieltisch entgegengesetzt: ein enttäuschter, desillusionierter Romantiker. Natürlich wird er auch seinen letzten Besitz verlieren: Selbstmord oder ein ganz neues Lebensund, weitergedacht, Wirklichkeits-Experiment, das ist die Frage? Und diese Frage ist ernst: Die Szene markiert in Balzacs Oeuvre nichts Geringeres als einen Anfangspunkt kontinuierlicher Arbeit an dem Großprojekt Comédie 1 Vgl. Verf., „Honoré de Balzac, ‚La comédie humaine‘“. In: Günter Butzer/ Hubert Zapf (Hrsg.), Große Werke der Literatur XII (in Arbeit, vorauss. 2011). 2 Im Text zitiert wird die Ausgabe: Honoré de Balzac, La comédie humaine. Édition de la Pléiade, hrsg. von P.-G. Castex, 12 Bde., Paris 1976-1981, nach Band und Seitenzahl. 3 Alle Übersetzungen stammen, sofern nicht anders vermerkt, vom Verfasser. 4 In der ersten Fassung dieser Szene stand noch „drei Uhr nachmittags“. Die zweite, im Ganzen kürzere Fassung für den Romananfang betont dagegen ausdrücklich die Trostlosigkeit, ja „la franche horreur / das unverstellt Schreckliche“ eines Spielkasinos „am Morgen“; vgl. Balzac, La comédie humaine, Bd. 10, S. 1232 und S. 59. Hans Vilmar Geppert 118 humaine, auch wenn Gesamtplan und Titel erst später hinzukommen werden. 5 Das Erzählexperiment des Autors setzt das Lebensexperiment des Romanhelden fort, genauer, es tritt an dessen Stelle. Auch die Realität, die hier entworfen wird, hält immer neuer Befragung stand. Zeit und Ort der Handlung sind genau angegeben. „Napoléon“, das ist jetzt nur noch eine Geldmünze, verweist aber zurück auf eine prägende Gestalt und Epoche der französischen Geschichte. Gesetz, Steuer, Geld: Staat und Gesellschaft sind in kleinen, aber genauen Indizien präsent. Das Glücksspiel ist für Balzac die Metapher einer prinzipiell als krisenhaft begriffenen Realität. So könnte man weiter lesen. Denn fast alles an dieser kleinen Szene ist beispielhaft bedeutsam für die Epoche des literarischen Realismus, nicht nur bei Balzac, einem der, vielleicht dem wichtigsten Vertreter dieser Erzähltradition, sondern weit darüber hinaus und durchaus in europäischer Perspektive. Wie lässt sich das theoretisch, also in reflektierter, kohärenter und begründbarer, zumindest in plausibler Verallgemeinerung fassen? Ich möchte dazu, die bisher genannten Stichworte aufgreifend und fortführend, eine Reihe von Thesen vorstellen: 6 These 1: Realismus als Familienähnlichkeit. Dass man von verdichteten, beispielhaften Szenen wie dieser hier ausgehen kann, ja muss, legt den Umkehrschluss nahe, dass es sich bei der Form bzw. Poetik dieses Erzählens theoretisch nicht um ein geschlossenes oder gar vollständiges System handeln kann 7 - was systematische Analyse natürlich nicht ausschließt -, sondern um eine Familienähnlichkeit. 8 Auch wenn die wesentlichen Charakteristika der Epoche erst zusammen gesehen deren Physiognomie sichtbar machen, muss kein Kennzeichen immer bei allen Vertretern nachweisbar sein. Und alle bleiben variabel und in immer neuer Entwicklung begriffen. These 2: Realismus als Erkenntnis-Kunst. Der „Ernst“, von dem eingangs die Rede war, lässt sich durchaus mit dem aristotelischen „Spoudaioteron“, der „philosophischen Ernsthaftigkeit“ zusammen sehen, die die „Mimesis“ auszeichnet. 9 Realismus ist Erkenntnis-Kunst. Seine Ästhetik hat epistemologische Funktion. 10 Aber 5 Zur Entstehung des Textes vgl. Balzac, La comédie humaine, Bd. 10, S. 1252 ff. 6 Vgl. ausführlicher Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994. 7 Was man „hochgestochen […] ‚Romantheorie‘ oder ‚Realismustheorie‘“ nennt, tritt „eher unsystematisch und unrigoros“ auf, bis hin zur „provokativen, zur Schau getragenen Beliebigkeit“ (in Stendhals Definition der Mimesis); „wir dürfen aber trotzdem von einem damals gängigen Grundkonsens reden“, Martin Swales, Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen. Berlin 1997, S. 16 und S. 19. 8 Es gibt keine „geschlossene Einheit“, sondern Gemeinsamkeiten, die sich „verändern“, voneinander „entfernen“, auf verschiedene neue Kontexte und Einflüsse „reagieren“ und so fort (Hugo Aust, Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2006, S. 8/ 9, vgl. S. 90 ff.). 9 Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 28. 10 Zu den Erkenntnis- und sprachbzw. zeichentheoretischen Voraussetzungen dieses Realismusbegriffs vgl. Verf., Der realistische Weg, S. 21-230; zu weiteren erzähltheoretischen Vo- Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 119 seine Erkenntnis ist nicht auf „Dinge“ gerichtet. Die Vorstellung: Da gibt es etwas, z.B. einen Stuhl, ein Pferd oder einen Wald, oder ein Spielkasino am frühen Morgen - und diese „Dinge“ werden dann beschrieben, abgebildet oder wieder gespiegelt (und das sei dann immer „Illusion“), dieses Modell greift zu kurz. Einerseits ist es immer klar, dass es sich um Fiktion handelt, ja oft um bewusste Kunst, wenn man will um „Poesie“. Andererseits ist das „Wie“ der Erkenntnis, der „-ismus“ des Realismus entscheidend, auch und gerade wenn raum-zeitlich nachprüfbare Realia, wie z.B. schon der Ort dieses Spielkasinos bei Balzac, durchaus zu „realistischen Fiktionen“ gehören können. Und drittens handelt es sich auch beim wesentlichen Gegenstand realistisch-narrativer Erkenntnis nicht eigentlich um „Dinge“ oder auch um „Fakten“ - die ja selbst immer ein „gemachtes“ Konstrukt sind - oder Zustände. Es gilt eher: These 3: Das Reale des Realismus ist immer eine gesellschaftlich-historische Welt. Balzac z.B. spricht hier sogleich den Zusammenhang an von Gesetz, Steuer, persönlichem Lebensunterhalt (der letzte Besitz), Alltagsgewohnheiten bis hin zur Kleidung („Monsieur, votre chapeau, s’il vous plait? / Mein Herr, bitte ihren Hut? “, so setzt die Personenrede ein), oder z.B. zum guten, bürgerlich taktvollen Benehmen, seinen Selbstmord nach dem verzweifelten Glücksspiel auf den Abend zu verschieben, damit die Leute nicht so erschrecken. Anders gesagt: Das Stichwort „Bürgerlicher Realismus“ ist völlig berechtigt und benennt für das 19. Jahrhundert einen schlechthin prägenden Zug dieser epochalen „Familienähnlichkeit“. 11 Aber, und das scheint mir sehr wichtig, diese „bürgerliche Welt“ ist nur die notwendige, nicht die hinreichende Voraussetzung realistischen Erzählens. Das „Bürgerliche“ des Realismus prägt das Interesse, lenkt die Erzählarbeit, aber es bedeutet keinesfalls einfach Identifikation. Zugespitzt gesagt: Eine bürgerliche gesellschaftlich-historische Welt ist Objekt realistischen Erzählens, und liefert oft dessen „Code“ 12 an Verhaltensgewohnheiten und gesellschaftlich konventionalisierten Merkmalen, z.B. eben das Geld oder die Kleidung oder etwa das Motiv der Reise - davon später -, aber sie ist nicht dessen Subjekt. Das „Subjekt“ dieses Erzählens dynamisiert sich zu einem experimentellen Entwurf. Und auch seine „Idee“ definiert ein Verständnis von „bürgerlich“ radikal hinaus über die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts, so sehr diese als Inhalt und Gegenstand, ja als Widerstand die realistische Literatur prägt. Einerseits - die aufklärerische und weltbürgerliche Tradition der französischen Literatur macht das nur besonders deutlich - ist es die offene Dynamik dieser bürgerlichen Welt, auch ihr Möglichkeitssinn, auch ihre Chance an Vernunft, was diese Autoren interes- raussetzungen vgl. Verf., „Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung“. In: Günter Butzer/ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 4, Tübingen und Basel 2009, S. 305-337. 11 So z.B., allerdings auf die deutsche Literatur beschränkt, Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848 -1900. Tübingen und Basel 2003. 12 „Code sur code, dit le réalisme“ / „Code über Code, genannt Realismus“ (Roland Barthes, S/ Z. Paris 1970, S. 61; Roland Barthes spricht von „kulturellen Codes“, die den realistischen Text zum Prospekt eines „großen Buches der Kultur machen“, vgl. ebd. ff.). Hans Vilmar Geppert 120 siert. Und andererseits kann man sagen - und auch hier ist die französische Literatur das klarste Beispiel: These 4: Der Realismus sieht die Bourgeoisie seiner Zeit als krisenhafte Wirklichkeit. Das Glücksspielmotiv zieht sich durch die Comédie humaine. Und es ist von Anfang an eine, wenn nicht die Metapher einer krisenhaften Realität. Andere typische Krisenmetaphern dieser Epoche wären etwa die beliebig informierende, wenn nicht gar käufliche Zeitung (Balzac - in unserem Beispielroman wird wenig später eine Zeitung gegründet 13 -, George Eliot, 14 George Gissings New Grubb Street, 1891), der regel- und harmonielose Wildwuchs von Bauten in Stadtansichten, 15 das Durcheinander von Menschen beim Blick aus dem Fenster (ein häufiges Motiv, bedeutsam geworden z.B. durch Wilhelm Raabes „Federansetzung“ 16 ) oder lediglich Lärm (wie etwa am Anfang von Gustave Flauberts Madame Bovary, 1856, und L’Éducation sentimentale / Lehrjahre des Herzens, 1869), oder Schutt und Müll (z.B. in Charles Dickens’ Our Mutual Friend, 1865), oder der beliebige Inhalt des Schaufensters eines Trödlerladens (immer ja auch ein Spiegel, in dem z.B. Thomas Hardys Jude, in Jude the Obscure, 1895, sein eigenes, von seiner Frau „entsorgtes“ Portrait, 17 und Theodor Fontanes Lene in Irrungen, Wirrungen, 1888, sich und hinter ihrem Rücken ihren früheren, jetzt glücklich verheirateten Geliebten 18 plötzlich wahrnehmen müssen). Man kann sagen: Bei aller Faszination, die die Großstadt z.B. für Balzac, Dickens oder Fontane ausstrahlt, sie ist als solche für diese realistischen Erzähler so gut wie immer ein Ort der Krise. Im Plan der Comédie humaine ist Paris ganz einfach die Hölle, das „Inferno“, das der „neue Dante“ durchquert, und in dem viele seiner Romanhelden bleiben müssen: „Je suis en enfer, et il faut que j’y reste / Ich bin in der Hölle, und da muss ich bleiben“ (3.158), sagt Rastignac (Le père Goriot, 1835), eine Lieblingsgestalt seines Autors. These 5: Fortdauernde Auseinandersetzung mit der Romantik. „Un jeune homme entra / Ein junger Mann kam herein“: Einen Augenblick lang, hier fast nur 13 Ein Zeitungs- und Journalisten-Roman ist der im Mittelpunkt der Comédie humaine stehende Dreiteiler Les illusions perdues / Verlorene Illusionen (1837-1843). 14 Die Schönheit von „Miss Brooke had […] the impressiveness of a fine quotation from the Bible, - or from one of our elder poets, - in a paragraph of to-day’s newspaper“. So beginnt George Eliots (Mary Ann Evans) Roman Middlemarch (1871; hrsg. von D. Carroll, Oxford: Clarendon 1986, S. 7). 15 Zu Beispielen und ihrer kennzeichnenden Bedeutung vgl. Verf., Der realistische Weg, S. 1 ff. und S. 155-169; zu nennen wären hier z.B. auch immer wieder Theodor Fontanes Berliner Romane: Man denke etwa an die katastrophale „Verhaltens-Krise“ in Effi Briest (1893). 16 Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse (1857) beginnt mit einem Blick aus einem Berliner Fenster und dem Satz: „Es ist eigentlich eine böse Zeit“. (Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Bd.1, hrsg. von K. Hoppe u.a., Freiburg, Braunschweig und Göttingen 1951, S. 12). 17 Thomas Hardy, Jude the Obscure. The New Wessex Edition. Hrsg. von T. Eagleton und P.N. Furbank, London 1974, S. 93. 18 Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, Bd. 2, München 1971, S. 415. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 121 für einen winzigen Moment, tritt dieser junge Mann „rein“ und unschuldig aus seiner noch ganz „weißen“, fiktiven Vorgeschichte ein in eine krisenhafte und zerstörerische gesellschaftliche Realität. Wenig später wird das unterstrichen: „Une âme encore innocente / Seine Seele war noch unschuldig“, ein „secret génie / ein verborgenes Genie“ leuchtet in seinen Augen, „le jeune homme se présentait là comme un ange sans rayons, égaré dans sa route / der junge Mann sah an diesem Ort aus wie ein Engel ohne Flügel, der von seinem Wege abgekommen war“ (10.58-62). 19 Der erste Hauptteil des Romans wird ausführlich, in der Form einer Confessio - eines der vielen Beispiele für die französische Werther-Rezeption (Werther ist in Frankreich der Inbegriff eines Romantikers) - die idealistische Jugend des Romanhelden nachtragen, seine unbedingte Suche nach der Harmonie von Seele und Natur, ja von Poesie und Wirklichkeit, und beider mit einer unbedingten Idee von Humanität. Und die Enttäuschung dieser Suche kann deren Unbedingtheit nicht widerlegen. Das ist prägend und wird es lange bleiben. Diese jungen Männer, die in Balzacs Oeuvre immer neu in die destruktive bourgeoise Realität „eintreten“ - allerdings mit äußerst variablem Resultat -, haben alle ihr Leben als Romantiker begonnen und werden in ihrem Herzen, so sehr sie dies manchmal bis zum Zynismus verbergen, Romantiker bleiben. Aufmerksame Leser, wie z.B. Marcel Proust 20 oder der junge Georg Lukács (Die Theorie des Romans, 1916), 21 oder Theodor W. Adorno (über das Romantisch-„Musikalische“ bei Balzac) 22 haben das schon immer so gesehen. Es gilt, natürlich mit vielerlei Graden der Intensität und Abwandlung, für alle Autoren des „Realismus“ im 19. Jahrhundert. Die Auseinandersetzung mit der Romantik bleibt prägend. Und deren sozusagen „transzendentaler“ Kern, das Postulat einer Konvergenz von humaner Idee und Realität, wird nie wirklich aufgegeben, nicht von Flaubert - man kann nur an etwas verzweifeln, was man nicht aufgeben kann -, nicht von Raabe (man denke an seinen „Schlussroman“ Die Akten des Vogelsangs, 1896, dessen Held Don Quijotte und Werther in einem ist), selbst nicht von Hardy, schon gar nicht von Fontane, bis hin zu Zola. These 6: Realismus und Autobiographie. „Un jeune homme entra / Ein junger Mann tritt ein in die Welt“: Wie immer man sein Verhalten später und durchaus 19 Die erste Fassung dieser Szene war noch deutlicher im Sinne einer „Desillusions-Romantik“ erzählt gewesen. Vgl. Balzac, La comédie humaine, Bd. 10, S. 1232-1235. 20 Marcel Proust, Contre Saint-Beuve. Hrsg. von P. Clarac, Paris 1971, S.265/ 266: Äußerlich kalt und ehrgeizig trage Rastignac schweigend und lächelnd immer noch den Roman seiner Jugend in sich. 21 Dass „hinter jeder einzelnen Erzählung [ein] lyrischer Hintergrund fühlbar wird […] naiv und unproblematisch, […] was ihn zur Romantotalität unausreichend macht“, Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied und Berlin 1963, S. 111. 22 „Der Allmensch, das transzendentale Subjekt gleichsam, das hinter Balzacs Prosa zum Schöpfer, dem der in zweiter Natur verhexten Gesellschaft sich aufwirft, ist wahlverwandt dem mythischen Ich der großen deutschen Philosophie und der ihr korrespondierenden Musik, das alles was ist aus sich selbst heraus setzt,“ Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur. Bd. 2, Frankfurt 1961, S. 24. Hans Vilmar Geppert 122 kritisch bewerten mag, dieser junge Mann ist in wichtigen Charakterzügen und Erlebnismomenten Balzac selbst. Realistisches Erzählen wächst wesentlich aus der Autobiographie heraus, wobei es diese allerdings sogleich und dann immer weiter experimentell variiert und verfremdet. Balzac, der Teile seiner eigenen Vita immer wieder neu umgeschrieben und sie immer neuen Personenentwürfen unterlegt hat - z.B. in La peau de chagrin und auch sonst oft die Liebe zu einer „großen Dame ohne Herz“ -, und der diese Vita eben und vor allem ganz alternativ weitererzählt, auch sein Leben kannte ja Alternativen, ist dafür vielleicht nur das ausführlichste Beispiel. Auch das eigentümliche Motiv, dass der Roman im Grunde mit dem Tod des Romanhelden beginnt - am Ende der ersten Szene, ursprüglich ja einer Kurzgeschichte, schaut er vom Brückengeländer hinab in die Seine -, dieser „offen gebliebene Selbstmord“ lässt sich vielleicht mit solch experimenteller Verfremdung der Autobiographie zusammen sehen. Auf alle Fälle kehrt das Motiv immer wieder: Geradeheraus erzählt - „il mourut par la seule force de la pensée / er starb allein durch die Kraft des Gedankens“, und ein „anderer“ Erzähler, „l’autre“, beginnt das Erzählexperiment von neuem: „C’était un homme qui donnait dans le faux / Das war jemand, der sich falsch entwickelte“ -, also ganz direkt als Folge von Tod und Neuanfang, wie etwa in einer Vorstufe zu Flauberts L’Éducation sentimentale / Lehrjahre des Herzens, 23 oder mehrfach symbolisch variiert: „Todes-Ort“, Grabdekor und eine Art von „Sturz ins Nichts“ („inconsciousness closed the scene“), wie am Ende des ersten Kapitels von Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), 24 oder als Projektion des Todes auf einen „Stellvertreter“: „[This dead child] was myself“, wie an einem Wendepunkt (das Ende von Kapitel 9) in Charles Dickens David Copperfield (1849/ 1850), 25 oder als vielfach variiertes Leitmotiv von „Tod und Auferstehung“ des Romanhelden („am […] Ostermorgen“ etc.) an den Anfängen von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (in der Erstfassung 1854/ 1855) 26 - was immer an psychologischen und tiefenpsychologischen Motivationen vorher gehen oder hinzu kommen mag (Narzissmus, Melancholie, je aktuelle Situation), es zeigt sich immer zugleich ein sehr bewusster, spielerisch variierender, experimenteller Umgang mit eben der eigenen Autobiographie. These 7: Realismus als Gedankenexperiment. Experimentell verfährt dieses Erzählen nicht nur darin, hier freilich besonders klar, dass es die zugrunde gelegte Autobiographie immer verfremdet und überschreitet. Genauso überschreitet es ganz allgemein bürgerliche Realität. Es setzt sie voraus, nimmt sie zum Gegenstand, aber 23 Gustave Flaubert, Novembre (1842; Gustave Flaubert, Oeuvres complètes. Édition nouvelle d’après les manuscrits inédits de Flaubert par la Société des Études littéraires françaises. 15 Bde., Paris 1971-1974, Bd. 11, S. 673). 24 Charlotte Brontë, Jane Eyre. Hrsg. von Q.D. Leavis, Harmondsworth 1966, S. 47. 25 Charles Dickens, David Copperfield. Hrsg. von Trevor Blount, Harmondsworth 1966, S. 187; bezeichnenderweise steht am Anfang dieser Episode der Wunsch Davids: „I wish I had died“ (ebd., S. 162). 26 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, 3. Aufl., München 1969, S. 12. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 123 identifiziert sich nicht mit ihr. Nach derselben Logik nutzt realistische Literatur, und hier wird alles vielleicht noch klarer, historische Realien und Fakten, gibt sie aber nicht einfach wieder. Der historische Roman, der in dieser Epoche blüht und bis in die Postmoderne hinein etwas „Realistisches“ behält, ist wesentlich experimentelle, also fiktional entwerfende, „um-erzählte“ Geschichte. 27 Realismus ist ein Gedankenexperiment mit historisch-gesellschaftlicher Realität, darunter auch mit der je eigenen Biographie: ein fiktionales, narratives Experiment, nicht eine Widerspiegelung, aber auch nicht lediglich eine Illusion. Flapsig formuliert: „-Ismus“, der narrativkonstruktive Vorgang, ist die Voraussetzung von „Real“. 28 Die Form eines realistischen Erzählens - dazu gehören wesentlich auch „indexikalische“ Verweise aus der Fiktion heraus und von ihr bedingt auf Realien (vgl. unten These 15) -, der realistische Diskurs selbst ist die Voraussetzung seines Wirklichkeitsanspruchs. Auch „Poetischer“ wäre so gesehen die Voraussetzung von „Realismus“. 29 Und dieses „poetische“, fiktionale, manchmal spielerische Erzählexperiment ist „ernst“ gemeint, ein Experiment der Erkenntnis, wenn sie wollen, ein Experiment, das seine Wahrheit, besser, seine Wahrheiten sucht. Wie geht es vor, was für Wahrheiten kann es allenfalls suchen? These 8: Individualisierung. „Ein junger Mann und sein letztes Geldstück“ - das sind sofort zwei wichtige Erzählgrößen und typische Inhalte dieser realistischen Literatur: die immer neu verfremdete Autobiographie und das Geld. Beide werden jeweils konsequent individualisiert. Individualisierung, die Konzentration auf das immer neu Einzelne, so dass dieses Einzelne immer das letzte Wort hat, ist ein prägendes Erzählverfahren des realistischen narrativen Gedankenexperiments. Dass Balzac oder z.B. Dickens (das Trauma des vernachlässigten Kindes) ihre Autobiographie, oder doch Teile daraus, in immer neu anderer Individualisierung erzählen, haben wir schon angemerkt. Die immer neuen Namen, die David Copperfield erhält, von „Davie“ über „boy“, einfach „Copperfield“, „Master Copperfield“, „Mister Copperfield“, dann „Daisy“ bis „Doady“ und „Trott“ korrespondieren durchaus etwa mit der immer neuen Definition von „Grün“ im Namen des Grünen Heinrich, 27 Vgl. Verf., Der Historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen und Basel 2009, S. 50 ff., S. 150-213 (zum gerade auch für eine Realismustheorie paradigmatischen, differenzierten Zusammenhang von Fiktion und Historie) und S. 299 ff. 28 In diesem Sinne wäre Wolfgang Isers Theorie der „Grenzüberschreitung“ zwischen dem „Imaginären“, dem „Fiktiven“ und dem „Realen“, das selbst immer ein phänomenologisches Konstrukt ist (Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt 1993, va. S. 18-51), diese „Triade“ wäre als inklusive Opposition aufzufassen: Alles „Reale“ ist auch fiktiv und imaginär, aber nicht alles „Fiktive“, das immer ein „Imaginäres“ voraussetzt, erhebt Realitätsanspruch, so wie das „Imaginäre“ zwar den allgemeinen „Ermöglichungsgrund“ (ebd. S. 51) aller „Akte des Fingieren“ bildet, aber nicht immer zur Fiktion formuliert und als „Reales“ behauptet und konstruktiv begründet, zumindest plausibel werden muss. 29 Die zeitgenössische Programmatik, etwa die zum „poetischen Realismus“, auch die Selbstdeutungen der Autoren, all das ist in hohem Maße selbst interpretationsbedürftig, oft apologetisch eng oder konventionell eingekleidet. Ich gehe hier bewusst nicht darauf ein. Hans Vilmar Geppert 124 von „unreif“, „hoffnungserfüllt“, „Außenseiter“ (wegen seiner auffälligen Jacke), „vatergeschädigt“ (es ist des fehlenden Vaters Farbe, die Heinrich auftragen muss) 30 bis zu „närrisch“ und „tot/ wiedergeboren“ („und es ist auf seinem Grab ein recht frisches und grünes Gras gewachsen“). 31 Und schließlich, sofern man den Roman so liest, ergibt sich die letzte Bedeutung von „grün“ als: „Der grüne Heinrich wird als sein Buch weiter leben“ („um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln“). 32 All das ähnelt durchaus beispielsweise auch den wechselnden, aber jeweils ein Erzählthema, eine Deutungsperspektive individualisierenden Bedeutungen von „ER“ in Jane Eyre: „air“, also z.B. „Luft“ (ihr Bedürfnis nach Freiheit), „air“ als „Musikstück“ (die emanzipatorische und therapeutische Bedeutung von Kunst), „air“ als „Gesichtsausdruck“ (gesellschaftliche Rollen, Konventionen, Falschheiten), oder etwa „heir“, „Erbin“ (Erbschaftsbetrug durch Janes Ziehfamilie ist Teil der Handlung), „Eire“, „Irland“ (damals fast ein Synonym für „Armut“), französisch gelesen „ère“, „Zeitalter“ (für das diese Geschichte repräsentativ ist), deutsch gelesen „er“ (der jedem „er“ gleichwertige Glücks- und Bildungsanspruch der Frau) usw., um nur ein paar der auffälligsten Beispiele zu nennen. Diese Individuen müssen sich immer neu entdecken und definieren. Auch bei Motivwiederholungen geht das individualisierende, neue Konstellationen entwerfende Moment immer weiter als die Typisierung. Das so wichtige Glücksspielmotiv beispielsweise wird bei Balzac nie einfach nur wiederholt. Balzacs Lieblingsgestalt Rastignac etwa wird beim Glücksspiel rechtzeitig aufhören können, der alte Wucherer Grandet z.B. spielt prinzipiell auch nicht das harmloseste Glücksspiel mit (Eugénie Grandet, 1833, vgl. 3.1051), Lucien Chardon dagegen (der Held der Illusions perdues / Verlorene Illusionen, 1837-1843, eine Art traumatisches „anderes Ich“ Balzacs), der sich de Rubempré nennt - sein Leben ist ein immer wieder schmerzlich zu neuer Individualität sich korrigierender, und immer mehr sich entleerender Fehlentwurf -, wird der Spiel-Sucht nicht nur verfallen („le Jeu […] devait trouver en lui l’une de ses victimes / Das Spiel sollte in ihm eines seiner Opfer finden“, 5.417), er wird das verlorene Glücksspiel gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs noch radikaler als männliche „Kurtisane“, also durchaus im Verkauf seiner selbst an noch mächtigere Spieler fortsetzen. So könnte man noch lange weitererzählen. Dass Vautrin, der Bankier der Unterwelt, und der reiche Baron von Nucingen, der in großem Stil Anlagebetrug betreibt - beides mutet heute ja ganz aktuell an -, dass sie in der letzten Phase von Luciens Leben zu diesen mächtigen Spielern gehören werden (im Roman Splendeurs et misères des courtisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen, 1838-1847), ist bezeichnend; und diese Entwicklung ist im Grunde bereits in jenem „letzten Goldstück“ angelegt, das am Anfang der Comédie humaine gestanden hatte. Nicht nur ist Geld, Glücksspiel und Verbrechen bei Balzac eng verbunden. Wer, wohl oder minder komparatistisch an seinem Oeuvre orientiert, auch andere 30 Dass es in seiner Biographie einen Stiefvater gab, hat Keller für den Grünen Heinrich beispielsweise unterschlagen. 31 Der Schluss der Erstfassung von 1844/ 1845, Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, 3. Aufl., München 1969, Bd. 1, S. 768. 32 Das Ende der Zweitfassung von 1880, Gottfried Keller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 1125. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 125 Literaturen liest, entdeckt im Kleinen diese Verbindung vielleicht auch beispielsweise in der Gestalt des geschäftstüchtigen „Meierlein“ in der Jugendgeschichte des Grünen Heinrich, oder in den immer neuen Kombinationen von Erbschafts- und Treuhand- Betrug, wie sie die englische Literatur des 19. Jahrhunderts, beispielsweise bereits Jane Eyre durchziehen. 33 Das Geld selbst wird im Mittelpunkt „realistischer“ Handlungs-Konflikte immer individualisierend erfasst. Es interessiert zentral nicht als System von Kapital, Rendite, Zins usw., sondern es geht immer um ein „Stück“ Geld, einen Sack, einen Haufen, oder eben um eine einzelne letzte Goldmünze -, oder, und sehr oft, umgekehrt um ein „Loch“ an Schulden. Das Geld ist, wie Roland Barthes sagt, für die realistische Literatur „eine metonymische Störung“. 34 Nicht dass die Autoren es nicht besser wissen, es weiß dies ja sogar Dickens’ Mister Micawber (aus David Copperfield); es gibt hier immer wieder ökonomisch und kapitalsystematisch sehr informierte Randbereiche („la qualité c’est les écus“/ „die Qualtät [meines durch Überdüngung massenhaft produzierten, aber geringwertigen Weines], das sind die Taler [die sein Verkauf einbringt]“, sagt der alte Séchard in Balzacs Illusions perdues, 1837, 5.226), aber das steht nicht im Mittelpunkt der Konflikte. Noch bei Fontane sprechen in Effi Briest (1893) das Bündel Banknoten, das dem Abschiedsbrief der Mutter beiliegt - noch dazu ist „von des Vaters Hand der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet“ 35 -, oder die dringend benötigte Mitgift in Irrungen, Wirrungen, letztlich ja auch in Der Stechlin (1898), diese Geld-Summen sprechen dieselbe Erzählsprache wie das „Stück Geld“ am Anfang der Comédie humaine. Und darin unterscheidet sich diese Epoche radikal vom europäischen Naturalismus, wo etwa bei Zola 36 oder Gissing oder Verga zentral immer wieder Dramen von Investition, Rendite, Spekulation und so fort erzählt werden. Die Individualisierung des Geldes ist eine prägende „Familienähnlichkeit“, sicher auch eine Grenze, des europäischen Realismus. These 9: Ein Realismus kann verschiedene Formen integrieren. Noch einmal: Mehr als „Familienähnlichkeiten“ kann diese Epochentheorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert nicht benennen. Das heißt im Umkehrschluss: Einzel- 33 Man kann „Eyre“, sprich „ER“ ja auch als „heir“ / „Erbe“ lesen; und um ihr Erbe wird Jane im Roman ja tatsächlich betrogen. Und solches Verhalten („air“ / [betrügerisches] „Mienenspiel“) charakterisiert eben durchaus „l’ère“ / „das Zeitalter“ (der Bourgeoisie) im 19. Jahrhundert: eine mikrostrukturelle, aber präzise Aussage. 34 Roland Barthes, S/ Z. Dt. von Jürgen Hoch, Frankfurt 1987, S. 44, vgl. ebd. ff. (Eine Metonymie ist eine Figur, bzw. ein Tropus „pars pro parte“, ein „Einzelnes“ steht für ein anderes, nexal bzw. indexikalisch mit diesem verbundenes „Einzelnes“, z.B. der Name „Ford“ für ein Auto aus der von Henry Ford gegründeten Fabrikation. So steht bei Balzac das „letzte Goldstück“ im Kontext des Glücksspiels für die Verzweiflung des Romanhelden). 35 Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, Bd. 4, München 1973, S. 253. 36 Émile Zolas Roman L’Argent / Das Geld (1891), ein Roman über die Börsen-Spekulation, ist hier schlechthin paradigmatisch. Hans Vilmar Geppert 126 ne Werke und Werkteile können ganz „unähnlich“ sein. 37 „Realistisch“ ist immer vor allem und letztlich nur der Gesamtdiskurs, und er kann ganz verschiedene Stile, Schreibweisen, Realitätsentwürfe, Erzähl- und Argumentationsformen und so fort integrieren. Das gilt immer, und für Balzac ist es sofort evident: Le dernier Napoléon wurde, was man der ursprünglichen Kurzgeschichte nicht sofort ansehen kann, Teil eines weithin phantastischen Romans mit dem rätselhaften Titel La peau de chagrin; wobei schon „chagrin“ zunächst doch wohl „Kummer“ bedeutet; hier aber ist es der Name einer orientalischen Rasse von Eseln. Deutsche Übersetzungen titeln z.B. Die persische Eselshaut, aber auch verdeutlichend Die gefährlichen Wünsche oder Der Talisman. Schon die ganz verschiedenen Übersetzungen sind sprechend. Es geht um einen bösen Märchenzauber, dass der „Talisman“, die „Eselshaut“ dem Romanhelden jeden Wunsch erfüllt, aber um den Preis eines mit jedem erfüllten Wunsch verkürzten Lebens. Dieser Roman wurde von Balzac später in die Abteilung Études philosophiques / Philosophische Studien eingeordnet, in denen - sehr vereinfacht gesagt -, die Idee sich über die Realität erheben soll. So folgt der Roman z.B. nach der „Architektur“ der Comédie humaine auf jene Études de moeurs / Sittenstudien, denen er seiner Entstehung nach vorhergeht, und in deren Zentrum die schonungslos untersuchte Pariser Gesellschaft steht. Doch genau in diese zentrale „étude de moeurs“ bzw. „Sittenstudie“ von Paris hatte er mit seinem Anfang „morgens im Spielkasino“ so klar und bedeutsam eingeführt. Seine Entstehung macht ihn zur Hypothese für weitere „Studien“, die Einordnung in das Gesamtwerk zu einer Antwort auf sie. Wie soll man ihn verstehen? Man muss sich auf den Argumentationsweg des Gesamtwerks einlassen. Und nicht nur die Teile dieses Romans sind sehr heterogen: Phantastische Teile, karnevalistische Verwirrungen, dann fiktiv-autobiographische Jugend-Bekenntnisse, romantische Naturstimmungen, Sehnsuchtsphantasien und identitäts-philosophische Entwürfe, ein Liebesroman um eine „herzlose Schöne“ - eine bekannte Balzac- Obsession -, Pseudo-Idyllen, Alltags-Parabeln, die so wichtige Metapoetik, also erzählte Reflexions-Modelle von Dichtung und Kunst und so fort. Und nicht nur findet man dieselbe Vielfalt in größerem wie in verkleinertem Maßstab in der ganzen Comédie humaine immer wieder. Es gilt hier auch ein Prinzip immer neuer Versuchsanordnung, das kreisende Variationen, Komplementärgeschichten, Engführungen, Disseminationen und vieles mehr kennt. Balzac mag hier ein extremer Fall sein. Aber Vergleichbares gilt etwa auch für das dynamisch-gegenläufige Ineinander, z.B. von Satire, Tragik, Komik, Gefühl und Ratio, in dem Kellers Der grüne Heinrich (Erstfassung 1845) und Die Leute von Seldwyla (1846) einander kommentieren. 38 Sie sind jahre- 37 Und daraus folgt auch die weitere, allgemein theoretische Einsicht, dass es im Gesamtverlauf der Literaturgeschichte viele „Realismen“ geben kann und gegeben hat, den „Realismus“ der frühen Neuzeit beispielsweise oder den Brechts oder den in vielfältigen Formen der Gegenwartsliteratur. 38 Man muss allerdings von der ursprünglichen Anordnung der Erzählungen des Ersten Teils der Leute von Seldwyla ausgehen; dann variierte Pankraz der Schmoller satirisch den subjektiven Idealismus des Grünen Heinrich bis zum Beginn der Jugendgeschichte; die ursprünglich folgende Erzählung Frau Regel Amrain und ihr Jüngster bildet sehr klar einen Gegenentwurf zur unglücklichen Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 127 lang nahezu parallel entstanden. Oder es gilt für die Kreis- und Klammer-Struktur, in der Theodor Fontane zwischen 1881 und 1888 drei Geschichten von „Effi Briests armen Schwestern“ ausarbeitete: Stine (begonnen 1881), Irrungen, Wirrungen (begonnen 1882), Cécile (begonnen1884, erschienen 1886), dann wieder Irrungen, Wirrungen (erschienen 1887), und zuletzt Stine (erschienen1889/ 1890, aber schon 1881 begonnen). Diese drei Erzählungen umkreisen einander gewissermaßen, kontrastieren, variieren, ergänzen, kommentieren einander und erzählen einander konzeptionell weiter. All das ist der Arbeitsweise Balzacs, seinem immer wieder neu beginnenden Wirklichkeits-Experiment durchaus verwandt. Wie auch immer, gegenüber der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Teile, die der realistische Diskurs integrieren kann, gilt umso mehr die nächste These: These 10: Literarischer Realismus ist immer und nur die Funktion eines längeren, kontinuierlichen Erzählens, oft die eines Gesamtwerks. Darin äußert sich der aristotelische „Ernst“ dieser Erkenntnis-Kunst. Das Gedankenexperiment mit Realien braucht Umfang, Dauer und Kontinuität. Nicht immer den Umfang der Comédie humaine, aber beispielsweise den der vier Werkstufen von Flauberts Éducation sentimentale / Lehrjahre des Herzens (1836-1870), oder die lange Arbeit Kellers am Grünen Heinrich, die in frühen Aufzeichnungen schon 1843 belegt ist, zwischen 1849 und 1855 zum Roman selbst und nach vielen Ablegern und Variationen zur tief greifenden Neubearbeitung von 1879/ 1880 führte, oder - um nur besonders deutliche Beispiele zu nennen, belegen lässt sich jetzt ja nicht viel - die unbestreitbare Reflexionskontinuität in Wilhelm Raabes Spätwerk, insbesondere in seiner Braunschweiger Trilogie (1879-1896), sein immer neues „Resignieren“, also experimentelles „Wieder- Bezeichnen“ der gesellschaftlichen und menschlichen Krisen seiner Zeit. „Das Wahre ist das Ganze“: Das Postulat G. W. F. Hegels (aus dem „philosophischen Roman“ Phänomenologie des Geistes, 1807), 39 gilt, allerdings in einem eher „links-hegelianischen“, offenen Sinn („das Wahre sei das Ganze“), „Totalität […] als Funktionszusammenhang“, 40 auch für den literarischen Realismus. Sozialisation des Grünen Heinrich, die mit dem Ausschluss aus der Schule ihren ersten Höhepunkt findet; Romeo und Julia auf dem Dorfe (der Grüne Heinrich tritt dort selbst sozusagen auf: „ein junger Bursche […], der eine grüne Manchesterjacke trug und einen zerknitterten Strohhut, um den er einen Kranz von Ebereschen oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte“ [Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 119], was natürlich an die „grünende Dornenkrone“ Heinrichs erinnert) wäre das tragische Gegenstück zur immer nur vorübergehenden, ja scheinhaften Geborgenheit in Dorf und Natur am Beginn des Zweiten Bandes des Grünen Heinrich; Die drei gerechten Kammacher variiert parodierend den Roman der drei Künstlerfreunde und Nebenbuhler in München; Spiegel das Kätzchen bildete dann ein (metapoetisches) Märchen, eine „Spiegelung“ der Macht und Therapie-Funktion des Erzählens, der ja auch für den Grünen Heinrich, insbesondere dann in der Zweitfassung entscheidende Bedeutung zukommt. 39 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Johannes Hoffmeister, 6. Aufl., Hamburg 1952, S. 21. 40 „Den Totalitätscharakter der Gesellschaft, den zuvor die klassische Ökonomie und die Hegelsche Philosophie theoretisch dachten, hat er [Balzac] schlagend aus dem Ideenhimmel zur sinnlichen Evidenz herabzitiert. Keineswegs bleibt jene Totalität bloß extensiv, die Physiologie Hans Vilmar Geppert 128 These 11: Eine „Proto-Moderne“ als Voraussetzung des Realismus. Am Anfang steht für dieses Erzählen die Krise. Es beginnt immer wieder mit einer experimentellen Auflösung von Bedeutungen und Orientierungen: Das Glücksspiel am Anfang der Comédie humaine, 41 die Ich-Krise des Grünen Heinrich vor Beginn der Jugendgeschichte, der beiläufig bedeutsame Lärm am Beginn von Madame Bovary - hierher gehört auch das „charivari“-Element in ihrem sprechenden Namen 42 -, Effi Briests berühmtes „nervöses Zittern“, auf das noch einzugehen sein wird, man könnte noch viele weitere Beispiele anführen. Und hier ergibt sich nun ein Aspekt, den ich erst recht nur als These vorstellen und nicht weiter irgendwie belegen kann: Gerade in der Darstellung, insbesondere in der Metapoetik von Krisen, die immer wieder Anfangs- oder Wendepunkte der Handlung und des Diskurses bedeuten, stößt das realistische Erzählen auch immer wieder zu „proto-modernen“ Texten vor. Realismus, wie er sich mit romantischen Traditionen produktiv auseinandersetzt, so setzt er auch zumindest Punkte jener eigentlich modernen Sprach- und Zeichen-Autonomie voraus, wie sie ja prinzipiell bereits von der Romantik gefordert und oft auch entwickelt worden war: Abstraktionen (z.B. von Farben in Jane Eyre’s „red room“), Impressionismen (z.B. Gesteinsfarben, Alpenschnee, Bergsee und blauer Himmel am Anfang des Grünen Heinrich), Karnevalisierungen (wie regelmäßig an den Anfängen der Romane Flauberts), symbolistische, also trans-empirische Bedeutungs-Verdichtungen (z.B. wenn Emma Bovary ihren Brautstrauß verbrennt, und eine „Wolke von schwarzen Schmetterlingen fliegt auf“), „epiphanies“ und „mémoires involontaires“ (sowohl Joyce als auch Proust waren intensive Flaubert-Leser), oder Texte, die aus späterer Sicht schon imagistisch, oder expressionistisch, surrealistisch oder kubistisch wirken. These 12: Die (induktive) Offenheit des „Weges“. Aber die Realisten erkennen nur die Krisen-Bedeutung jener „Proto-Moderne“, so wie wir diese ja auch erst retrospektiv zu lesen vermögen. So entstehen keine „offenen Kunstwerke“, 43 oder doch in einem gegenüber der Moderne - z.B. Dostojewski, Proust, Joyce, Dos Passos, Döblin, Gide, Faulkner, um in der Tradition der Comédie humaine zu bleiben - deutlich engeren Sinn. Die Offenheit des realistischen Erzählens ist nicht die eines Raumes, sondern die eines Weges, und oft die eines gewundenen oder sprunghaften des gesamten Lebens in seinen verschiedenen Sparten […]. Sie wird intensiv als Funktionszusammenhang. In ihr tobt die Dynamik: daß nur als ganze, durchs System hindurch, die Gesellschaft sich reproduziert,“ Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Bd. 2, S. 21. Allerdings gesteht Adorno diese Einsicht wohl Balzac zu, nicht aber dem literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts, den er auch bei Balzac als auf anschauliche Darstellung etc. verengt sieht. 41 „Je finissais par douter de la valeur nominale des paroles et des idées / zuletzt zweifelte ich daran, dass Worte und Ideen noch etwas bedeuteten“ (10.159), mit solchen Geständnissen endet die nachgetragene Vorgeschichte der Krisensituation und Verzweiflungstat, mit der der Roman beginnt. Erinnern sie nicht vorgreifend z.B. an Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (entstanden um 1900)? 42 Vgl. unten These 18. 43 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (1962). Dt. von Günter Memmert, Frankfurt 1973. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 129 oder Schleifen nehmenden oder sich verzweigenden Weges. Auch das lässt sich natürlich nur in Untersuchungen von einem gewissen Umfang zeigen. Zwei kleine Modelle metapoetischer Selbstreflexion dieses Erzähl-Weges möchte ich gleichwohl vorstellen: Das kleinste „Mikro-Modell“ eines „realistischen Weges“ wäre vielleicht, und durchaus selbstironisch, was bei einem Reflexions-Modell nicht überrascht, die kleine Schlangenlinie, die Balzac aus Laurence Sternes Tristram Shandy (1760-1767) übernommen hat - übrigens ein weiterer Hinweis auf eine „Proto-Moderne“, diesmal auf eine tendenziell weit voraus weisende erzählerische Autonomie -, und die, dem Roman La peau de chagrin, also dem eigentlichen Beginn der Comédie humaine vorangestellt, ganz neue Bedeutung erhält (vgl. 10.3). Einerseits ist dies sicher eine visuelle bzw. graphische Krisenmetapher. Die Schlangenlinie ist isoliert gesehen ein kleines lineares Labyrinth, ein ins leere führender Weg. So wird die totale Erfüllbarkeit der Wünsche, konsequent verallgemeinert, der romantisch unbedingten Wünsche und Postulate, deren Lähmung bedeuten. Zugleich aber weist diese Schlangenlinie voraus auf das ganze große, eben hier beginnende Erzählexperiment, 44 ja auf nichts Geringeres als das Lebenswerk Balzacs. So wird das kleine lineare Zeichen, und sei es noch so hypothetisch, zum Entwurf eines gewundenen, aber kontinuierlich zu verfolgenden Erzählweges, der als ganzer, ja, sich in seine durchdachte Rezeption fortsetzend, aus dieser Krise heraus führen könnte. Erstaunlich präzise vergleichbar ist dem die „Zeichensprache“ eines zunächst ganz anders aussehenden mikro-strukturellen, realistischen Reflexionsmodells. Das Labyrinth, das Keller seinen Grünen Heinrich statt eines geplanten Bildes zeichnen lässt, zeigt dessen psychische Krise an - auch die seines Autors -, es signalisiert die Krise seiner, genauer, beider Malerlaufbahn, übrigens auch die eines „Abbildungs- Realismus“; liest man weiter, so bezeichnet es - man kann darin ja auch ein „Spinnennetz“ sehen - bereits die Krise einer bourgeoisen, allein am Egoismus und am Geld orientierten Wirtschaft (der „künstliche Ernährungsverkehr“); aber das Labyrinth hat genau betrachtet dann doch die Form eines vielfach gewundenen Weges, der, mit entsprechender Konsequenz verfolgt, aus der Krise heraus führen könnte: Wenn die Summe der Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dieser unsinnigen Mosaik erforderlich war, verbunden mit Heinrichs gesammeltem Talente, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte er ein Meisterwerk liefern müssen. 45 Das wäre auch ein Vorsatz, den Keller auf seine eigene literarische Arbeit bezogen haben könnte. Wie bei Balzac führt der Erzählweg des Autors aus der Krise, dem Labyrinth des Romanhelden hinaus. 44 Balzac soll zuerst (vgl. den Kommentar S. 10.1221) einen Handlungskern entworfen haben, in dem die tödliche Gefahr nur in der Einbildung des Romanhelden besteht, weil ihm das Schrumpfen der Eselshaut böswillig so suggestiv gedeutet wurde. Aber er wäre trotzdem daran gestorben. Eine „erzählende Aufklärung“ hätte die phantastische Gefahr eben gerade nicht beseitigt, bzw. nur für die Leser. 45 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 560/ 561. Hans Vilmar Geppert 130 These 13: Kritischer Moralismus. Die Realisten fassen einen offenen Zeichenraum als Krise auf - als die Chance eines „offenen Kunstwerks“ sieht ihn erst die Moderne -, eine Krise des Wiss- und Darstellbaren, und ihre spezifische Erzählform kann als eine Art Kompass begriffen werden, der sie immer wieder aus dieser Krise herausführt, genauer: den sie ihren Lesern als Orientierung anbieten. Ein solcher Kompass des realistischen Erzählens verbindet Mikro-Strukturen, wie Roman-Titel, oder Schlüssel-Metaphern mit Großformen wie letztlich einem ganzen Oeuvre. Welches wären Orientierungs-Impulse dieses typisch „realistischen“ Erzählens, von denen sich behaupten ließe, dass sie auch zentrale Züge dieser „Familienähnlichkeit“ ausmachen? Da Thesen hierzu eher klar als innovativ sein sollten, möchte ich viele davon mehr oder weniger lediglich nennen. Die bereits genannte Individualität der Charaktere und Szenen lässt sich beispielsweise verallgemeinern zur betonten Singularität der Repräsentation. Das jeweils Einzelne hat im Realismus immer wieder das letzte Wort. Auch in ihrer Auseinandersetzung mit der bourgeoisen Realität ihrer Zeit - „bürgerlich“ ist für das 19. Jahrhundert ein notwendiges Attribut, reicht aber nicht hin, diese Literatur zu charakterisieren - gehen diese realistischen Erzähler singularisierend vor. Das bedeutet anders gesagt, kurz, allgemein, aber nicht falsch: Sie stehen in der skeptischen Tradition der Aufklärung, wie sie beispielsweise eben der französische Moralismus verkörperte. Der Schlüsselbegriff Balzacs Études de moeurs, „Sitten-Studien“, „Untersuchung von Gewohnheiten“, „Erzählungen davon, wie Menschen sich verhalten“, ist hier schlechthin prägend. Die Realisten sind kritische Moralisten. Sie prüfen immer wieder neu in ihren anschaulichen, fiktiven Gedanken-Experimenten, prüfen anhand von individuellen Beispielen gesellschaftlich geprägtes Verhalten. Die großen Themen dieser Literatur haben genau dies gemeinsam: Wie werden Kinder be- und misshandelt, gebildet und verbildet? Welche Chancen haben Frauen, deren Identität missverstanden wird, missverstanden aufgrund welcher Vorgaben? Wie können Talent oder gar Genie, wie kann ethische Integrität, wie können genuin aufklärerische Intentionen sich behaupten in einer Welt, die alles in Geld übersetzt? Für jede Frage gibt es beispielsweise Balzac-Romane. Welche Wirkungen haben starre Moral, so z.B. immer wieder rigide, oft geheuchelte Religion auf Individuen, die dem unterworfen werden (ein regelmäßiges Thema in der englischen Literatur)? Wie verträgt sich praktiziertes Recht (besonders Erbrecht, Vertragsrecht, Prozessrecht) mit Gerechtigkeit? Was lehren Kriminalfälle über Verursacher, Opfer, Täter, Verfolger und - im weitesten öffentlichen, die Leser einschließenden Sinne - auch „Richter“? Man braucht solche Themen nur zu nennen, um die These eines „kritischen Moralismus“ - sie ist ja durchaus nicht neu - zumindest plausibel zu machen. These 14: Die Krise der Bilder - Bilder der Krise. Die Realisten sehen Systeme kritisch. Aber sie misstrauen - auch das zeigt ihren „singularisierenden“ Zugriff - sie misstrauen auch offener Beliebigkeit. Mögliche Bedeutungen von Bildern sind unendlich offen. Das hat für die realistische Literatur etwas Gefährliches. Die eindrucksvollsten Bilder und Metaphern im literarischen Realismus sind Bilder von Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 131 Krise und Gefahr: Balzacs Glücksspiel-Metapher, Emma Bovarys „Brautstrauß der anderen“, die Szenerie um des „Effi, komm“ bei Fontane - sowie solche eindrucksvollen Bilder auftauchen, bezeichnen sie gefährliche Situationen. Du sollst dir kein Bildnis machen? Das wäre zu eng gesehen für diese Literatur. Du sollst Bildern nicht vertrauen, folge Perspektiven, Spuren und Wegen! Das wäre ein Lehrsatz dieser Weltsicht. Dass sie in Bildern zu leben suchen, die sie sich von der Welt machen, und in Bildern leben müssen, die die Welt sich von ihnen und ihresgleichen gemacht hat, das ist ein Problem, das immer wieder Frauen im Roman des 19. Jahrhunderts gemeinsam haben: Madame Bovary, Dorothea Brooke (in George Eliots Middlemarch, 1871/ 1872, eigentlich eine Pflichtlektüre auch für Germanisten, die sich ernsthaft für den Roman des 19. Jahrhunderts interessieren), Effi Briest oder etwa Isabelle Archer (in Henry James’ Roman mit dem sprechenden Titel The Portrait of a Lady, 1881 - das „Portrait“, das „Bild“ als Verführung, Täuschung und Selbsttäuschung), um nur die wichtigsten zu nennen. 46 Aber dies ist nun auch wieder so ein „weites Feld“, auf das ich in einer solchen These nur hinweisen kann. These 15: Indexikalischer Realismus. Gegenüber der „Krise der Bilder“ setzt die realistische Literatur auf Perspektiven, Spuren, Symptome, Bedeutungsnetze und eben vor allem Bedeutungswege. Realistisches Erzählen ist wesentlich Zeigekunst, Deixis, indexikalische Figur. 47 Davon geprägt war bereits die genaue Hinweis- Konstellation: „ein junger Mann frühmorgens im Spielkasino“, denn so entstand eben ihre Aura von enttäuschtem Idealismus, Verzweiflung, Spielsucht, Zeit und Ort, Gesetz und Konvention und schließlich der Sprache des Geldes, eines individualisierten und völlig verantwortungsfreien Geldes, eben eines ent-historisierten, kommerzialisierten „Napoléon“. Indices sind „Aufmerksamkeitsvektoren“. 48 Es war so gesehen durchaus angebracht, die letzten Thesen: „Traue nicht den Bildern, folge den Spuren! “, als eine Art von Gebot zu formulieren. Das hängt eng mit der These zusammen, dass realistische 46 Ganz anders die Heldinnen bei Jane Austen, die ihren menschlichen und ihren gesellschaftlichen Wert miteinander in Einklang bringen müssen, und die dies zuletzt auch können. Und wiederum ganz anders stellen sich die naturalistischen, an der Gesellschaft „leidenden“ Frauen dar, wie Thomas Hardys Tess of the d’Urbervilles (1891) oder die weibliche Protagonistin in George Gissings The Odd Women (1893), oder Émile Zolas Renée Rougon (La Curée, 1874) und Gervaise Macquart (L’Assommoir, 1877), die zur Welt nicht in einem Verhältnis wechselseitiger Täuschung stehen, sondern von ihr vergewaltigt werden. Und Kate Chopins Edna Pontellier (The Awakening, 1899) oder Theodore Dreysers Sister Carrie (1900) oder die jungen Frauen in Giovanni Vergas Romanen (I Malavoglia, 1881; Mastro-Don Gesualdo, 1889) haben sich genau gesehen nie, oder doch nur ganz vorübergehend, Illusionen gemacht. Sie sehen die Widersprüche, in denen sie leben müssen, oder nicht leben können, wie sie sind. Interessanterweise sind sie darin so etwas wie die europäischen Schwestern von Fontanes Cécile, Lene oder Stine (Vgl. oben These 9) - und letztlich dann auch von Effi nach ihrem „Sturz“. 47 Nicht zuletzt gehen „historische“ Zeit-, Orts-, Spuren- und Quellenangaben auf Indices zurück, vgl. Verf., Der historische Roman, S. 160 f. 48 Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt 1977, S.157, vgl. S. 58 ff. Hans Vilmar Geppert 132 Erzähler kritische Moralisten sind - für aufmerksame Leser. Études de moeurs („kritische, also differenzierende Studien zu Sitten und Gewohnheiten der Zeit, also zur bürgerlichen Alltagswelt“), wenn der größte Teil der Comédie humaine so überschrieben ist, dann ist das nicht nur ein Programm für die ganze Epoche, ein Programm, das freilich, wie gesagt, vieles Abweichendes einschließen kann, sondern es ist immer auch ein Appell, der auf die „impliziten Leser“ dieser Literatur zielt. Und es ist der Indexikalismus des realistischen Erzählens, der möglichen Lesern ihre Perspektive zuweist. Sie schauen den Personen und Erzählern über die Schulter. Und sie können, und sollen auch, mehr sehen und „lesen“ als diese: Effi, als sie seiner [Innstettens] ansichtig wurde, kam in ein nervöses Zittern; aber nicht auf lange, denn im selben Augenblicke fast, wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr näherte, wurden an dem mittleren der weit offen stehenden und von wildem Wein überwachsenen Fenstern die rotblonden Köpfe der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein: „Effi, komm.“ 49 Man weiß, wie wichtig für Fontane selbst diese Szene, eine Schlüsselszene des Anfangs von Effi Briest (1893) war. 50 Die Leser sollen und können alle hier gelegten Spuren, Hinweise und Perspektiven „lesen“. Das „Zittern“ ist ein Symptom, das Effi selbst nicht verstehen kann, das die anderen Personen nicht bemerken, und das nur die Leser deuten können. Es weist nur für sie über den Rahmen der Szene hinaus. Bisher war Effi möglichst immer in Bewegung gewesen, man sah sie am liebsten turnen, schaukeln und herumrennen. Jetzt protestiert ihr Körper gegen die neue Situation; und allein die Leser können diese als Bedrohung und Zwang „lesen“. 51 Welche Konventionen, Projektionen, was für „Sitten“ haben dahin geführt? Was kündigt sich mit diesem „Zittern“ an, was bedeutet es, wenn es später im Roman wiederkehren wird? Wir können und sollen dies als „étude de moeurs“ lesen, also genau und „kritisch untersuchen“. Wäre diese Szene „treu“ verfilmt, müsste hier die Einstellung (immer ein deiktisches System) 52 zwischen „ansichtig wurde“ und „kam in“ wechseln: von „Halbtotale auf Innstetten“ zu „Gegenschuss auf Effi“, dann „Fahrt zurück, auf den zur Bildmitte sich bewegenden Innstetten“, dann „Schwenk nach oben zum Fenster hinter Effi“. Diese „Zeigekunst“ markiert ein „davor“ und ein „dahinter“, eine Grenze im Raum und in der Zeit. Die Szene ist so aufgebaut, dass Effi sich nicht umdrehen kann. So wird nicht nur das „Zittern“, sondern auch das Bild des Fensters - ein architektonisches Zeichen, das „hinaus“ weist und hier von etwas „Wildem“ und von potenzierter „Kindheit“ erfüllt ist - zu einem Bild der Krise. Das „Naturkind“ 49 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, S. 18. 50 Vgl. ebd. S. 701/ 702: „Das musst du schreiben“ (im Brief an Hans Hertz vom 2. März 1895). 51 In Rainer Werner Fassbinders Film Fontane Effi Briest (1974) stehen sich Effi und Innstetten in dieser Szene stumm und fremd und quälend statisch gegenüber, und dann erstarren alle vollends zur Fotoeinblendung und dem „off“ gesprochenen Text der Verlobungsanzeige. Vgl. Verf., „‚Nicht so wild Effi! ‘. Vier Verfilmungen eines weiten literarischen Felds“. In: Verf., Literatur im Mediendialog. München 2006, S. 107-127. 52 Vgl. z.B. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotk. 2. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2000, S. 185 ff. und 500 ff. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 133 in ihr wird Effi gefährlich werden. Aber auch das Bild selbst bedeutet Krise und Gefahr. Und natürlich bedeutet das „Effi, komm“ für aufmerksame Leser, erst recht bei der Zweitlektüre, genau gelesen, ein „Effi, geh“. Die Perspektiven und Verweise, die ja noch viel weiter führen, als hier gezeigt werden kann, fordern die Leser zu Fragen, Gegenreden und eigenem Weiterdenken auf. Das wird besonders deutlich, wenn wenig später an diese Szene erinnert wird: [Innstetten] war es […], als säh’ er wieder die rotblonden Mädchenköpfe zwischen den Weinranken und höre dabei den übermütigen Zuruf: „Effi, komm.“ Er glaubte nicht an Zeichen und Ähnliches, im Gegenteil, wies alles Abergläubische weit zurück. Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten nicht los, und [so] war es ihm beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall gewesen. 53 Wer spricht? Diese Frage sucht einen „kommunikativen Index“, der auf Sprecher und Adressaten der Erzählrede weist. Der Erzähler leiht dem schweigenden Innstetten seine Stimme und konfrontiert ihn mit der prüfenden Aufmerksamkeit der Leser. Innstetten erkennt zwar das Krisenhafte der Situation, wird es aber ganz in seinem eigenen Interesse deuten: „Effi muss erzogen, ja diszipliniert werden“. 54 Paradoxerweise, was aber aus seiner Sicht schlüssig ist, wird er dazu genau so etwas „Abergläubisches“ einsetzen, seinen „Angstapparat aus Kalkül“, 55 was er jetzt „weit zurück“ weist. Es ist allein Sache der Leser, den „kleinen Hergang“, der „doch mehr als ein bloßer Zufall“ war, auch aus Effis Sicht zu deuten, und ihr, die hier hilflos zitternd verstummt ist, eine „lesende Stimme“ zu leihen. These 16: Behauptende Symbolik. Die Wiederholung macht die Szene um das „Effi, komm“ zum literarischen Symbol, aber zu einem indexikalisch generierten, man kann auch sagen, betont lediglich erzählten Symbol. Seine Bedeutung ist eine immer nur behauptete (assertorische), allerdings eine, die kontinuierlich verfolgt werden kann, ein weitreichend bedeutsamer Text, der die Perspektiven von Autor, Erzähler, Personen und Leser mit einschließt und - sehr wichtig - immer auch die Möglichkeit metapoetischer Selbstreflexion eröffnet. Wie auch immer, der „assertorische“ (falsifizierbare) Modus dieser „realistischen“ Symbolik zeigt sich daran, dass das „Zeichen […] ‚Effi, komm‘“ einander negierenden Bedeutungen zugeordnet werden kann, ja muss. Schon jetzt bedeutet es bereits beim Rückblättern, erst recht bei der Zweitlektüre: „Effi, geh“. Und wenn das „Effi, komm“ viele Seiten später wieder kehrt im Telegramm der Eltern, das die bereits kranke, „gefallene“ Effi tatsächlich nach Hause ruft, dann hat sich seine Bedeutung - die relationale Semantik von „kommen“ wird durch den Kontext definiert - endgültig negativ geklärt. Die 53 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, S. 21. 54 In der Verfilmung durch Wolfgang Luderer Effi Briest (1969) schaut Innstetten noch vor der ersten Begegnung durch das Fenster geradezu sadistisch streng auf die „ganz reizende“ Kindfrau Angelica Domröse. 55 Ebd. S. 134; vgl. auch etwa S. 172: „der große Erzieher [, der] mit dem Spuk und ihrer Furcht“ rechnet. Hans Vilmar Geppert 134 Heimkehr ist „nur Schein“. 56 War am Romananfang der Weg zurück in ein unbeschwertes, wenn auch durchaus widersprüchliches Leben verwehrt, so gibt es jetzt nur noch den Weg in einen von diesen Widersprüchen befreienden Tod. Was ist die Bedeutung dieses „Effi, komm“? Allein die Leser können sie lesen, und nur indem sie dieses „Zeichen“ in der Folge seiner Behauptungen und Negationen überblicken. Wohin hätte Effi „kommen“ sollen? Erlauben Sie eine Zwischenüberlegung! Auch die Zeichen und Symbole der bürgerlichen Lebenswelt, die die Realisten ausführlich und oft differenziert nutzen, deuten sie erzählerisch-diskursiv lediglich „assertorisch“, als je singulare Behauptungen und Negationen. Für das Geld, vielleicht das bürgerliche Orientierungs-Medium schlechthin, haben wir das bereits gesehen. Vergleichbares gilt etwa für die Kleidung. Ich erinnere nur an die Jacke des Grünen Heinrich, die ihn gerade dann, wenn alle zu den vormilitärischen Übungen der Schule grün gekleidet sind, aber seine Jacke immer eine Spur zu hell oder zu dunkel ist, erst recht zum Außenseiter macht. Balzacs Lucien Chardon (der Held des für die Comédie humaine zentralen Romans Les illusions perdues / Verlorene Illusionen, 1837-1843) gibt für einen neuen Anzug das Geld aus, von dem er ein Jahr lang in Paris leben wollte, um seinen Anspruch auf den Namen „de Rubempré“ und seine Zugehörigkeit zur großen Welt zu bekunden; aber gerade so macht er auf sich aufmerksam und wird erst recht verstoßen. George Eliots Dorothea Brooke kleidet sich, als ob sie ein Gelübde abgelegt hätte, so auszusehen wie niemand sonst. Emma Bovary öffnet nachts dem Notarzt die Tür zum Bauernhaus ihres Vaters in einem „Merino-Kleid mit drei Reihen von Rüschen“. Jedesmal ist es die individuelle Auslegung, ja das individuell Unpassende der „Systeme der Mode“, das interessiert. Auf feine, aber deutliche Weise widersprüchlich ist auch Effi Briest bei ihrem ersten Auftreten angezogen: Effi trug ein blau- und weißgestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. 57 Man sieht an ihrer Kleidung - und der weitere Kontext von Raum, Bewegungen, Personen und Gesprächen macht es natürlich noch deutlicher -, dass Effi hier im Übergang zwischen Gegensätzen leben darf: Mädchen (Kleid) und jungenhaft (Matrose), Kind (Kittel, „Hänger“) und junge Frau (Taille), „wild“ und gehorsam, „Naturkind“ und adeliges Fräulein, frei sich bewegend und in ein geordnetes Leben eingeschlossen, sexuell neugierig 58 und „zitternd“, von Fürsorge, durchaus Liebe und Unverständnis zugleich umgeben und so fort. Wie auch immer: Das „Effi, komm“ weist auf ein ungezwungenes Leben in Widersprüchen und Übergängen hin, das für Effi ganz einfach leben können bedeutet. Effi ist nicht „edel“ und „gut“. Es ist ihr lebendig-widersprüchlicher Charakter, der sie so charmant macht. Und nur die Leser können letztlich die Idee dieses Lebens verstehen und mit Effi dieses die Widersprü- 56 Ebd. S. 277/ 278. 57 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 4, S. 8. 58 „Setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoß und reite hopp, hopp“, ebd. S. 9. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 135 che formulierende, die Widersprüche überbrückende Gespräch führen, das die Gesellschaft ihr verweigert. These 17: Die Konsensperspektive realistischen Erzählens. Die Gesprächs- Struktur der Erzählkunst Fontanes wird, bezieht man Perspektive und Stimme impliziter Leser mit ein, zu einem Konsensangebot. Gerade wenn etwa in Effi Briest intime Gespräche geführt werden - Innstetten und Wüllersdorf nach Roswithas Brief, die Eltern Briest am Romanende - oder im Falle der inneren Monologe (z.B. wenn Effi nicht ihre „Schuld“, wohl aber den Zwang zum Lügen bereut), sollen die Leser diese fortsetzen und weiter argumentieren. Autor und Leser müssen letztlich das Verständnisgespräch führen, das die Gesellschaft Frauen wie Effi verweigert. Hebt die Gesprächskultur in Der Stechlin - ich erinnere an das Interpretationspotential der Werkkontinuität - gewissermaßen den Autor-Leser-Diskurs aus Effi Briest in die Welt der Romanpersonen? Auf alle Fälle teilen der alte Stechlin, Graf Barby, der Pastor oder die schöne Melusine die Gedanken und Überzeugungen ihres Autors in weit höherem Maße als etwa die Eltern Briest oder Innstetten. Der „Revolutionäre Diskurs“ 59 zwischen dem Pastor und Melusine kreist um Entscheidungen für eine mögliche gesellschaftliche Zukunft, die auf freie, bessere Einsicht und weitest möglichen, zwangfreien Konsens gründen. Diese Personen denken und reden so, wie Fontane erzählt. Hier gilt es freilich auch die Skepsis nicht zu übersehen, die stets im Spiele bleibt. Die Konsensperspektive auf die Möglichkeit einer human sinnvollen, einer humaneren Wirklichkeit ist für die realistische Literatur, in der Tradition der skeptischen Aufklärung Kants formuliert, eine regulative, bzw. pragmatische Idee (vergleichbar und verwandt der „Idee der Glückseligkeit“): eine Idee als ein allgemein voraussetzbarer Zweck, aber eben nur ein Zweck, keine theoretische oder ethische Gewissheit, 60 also - und das scheint mir nun sehr wichtig -, eine Idee, die einerseits auch scheitern kann, die andererseits so aber auch ihren Irrealis bzw. die Aporie ihrer Verwirklichung erträgt. Ein richtiger Zweck wird dadurch noch nicht widerlegt, dass er nicht ausgeführt wird. „Das Neue, das im ‚revolutionären Diskurs‘ gefordert wird, hätte das Bessere sein können“: So ließe sich durchaus ein Nachwort für Fontanes Der Stechlin überschreiben. Dass eine Konsensperspektive in der Konsequenz realistischen Erzählens, in seiner logica utens, seinem praktizierten diskursiven Denken impliziert ist, muss hier wohl lediglich als These stehen bleiben. Aber dass ein solches Verständigungs- und Konsens-Modell hier immer wieder reflektiert wird, lässt sich zumindest skizzieren. Im Mittelpunkt der Comédie humaine steht deren Architektur zufolge der Roman Les illusions perdues / Verlorene Illusionen (1837 - 1844), dessen eigene Mitte wiederum ein Großstadt-Roman ist. Hier kommen viele antagonistische Weltentwürfe zusammen. 59 Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 5, S. 274. 60 Immanuel Kant, Grundlegung zu Metaphysik der Sitten. Hrsg. von K. Vorländer, 3. Aufl., Frankfurt 1965, S. 33 ff. (Paragraph 414 ff.). Für diese Theorie eines literarischen Realismus gab allerdings die produktive Rezeption Kants durch C. S. Peirce die entscheidende Anregung. Hans Vilmar Geppert 136 Drei davon weisen über das, was die Großstadt Paris für Balzac bedeutet, die Krise in Permanenz, hinaus. Geradezu eine ideale „innere Gegenwelt“ zu ihr, insbesondere zu einer ihrer Hauptkrankheiten, so Balzac, dem Zeitungswesen, bildet „Le Cénacle“: ein Kreis, eine Art Loge von genialen und fleißigen jungen Wissenschaftlern, Philosophen, Dichtern und Künstlern, die ohne Zwang, offen und selbstlos ihre Gedanken austauschen und einander helfen: Ils pouvaient tout penser et se tout dire sur le terrain de la science et de l’intelligence. […] L’estime et l’amitié faisaient régner la paix entre les idées et les doctrines les plus opposées. / Sie vermochten alles zu begreifen und sich mitzuteilen, was die Wissenschaft und das Denken betraf. Wechselseitige Hochachtung und Freundschaft ließen die gegensätzlichsten Ideen und Lehren friedlich aufeinander treffen. (5.318) Dies ist ein klares Modell für die Möglichkeit, nicht freilich eine reale Macht - „personne ne pensait aux réalités de la vie / niemand dachte an die Realitäten des Lebens“ (5.319) -, jenes freien, vernünftigen Konsens der Bestinformierten, wie er, so meine Überzeugung, das ideale, und zugleich skeptisch eingerahmte Ziel realistischen Erzählens bildet. Dem entspricht ein anderer, davon ganz unabhängiger Weltentwurf, den Balzac vorstellt. Und diese Korrespondenz mag zunächst überraschen. Der Großverbrecher Vautrin, der Bankier der Unterwelt, vollzieht in seiner letzten „Inkarnation“ (am Ende des Romans Splendeurs et misères des courtisanes / Glanz und Elend der Kurtisanen, 1847) so etwas wie eine „pragmatische Wende“. Bei seinem ersten Auftreten hatte er das wahre Gesicht, so Balzac, der französischen Bourgeoisie gezeigt, brutal und gierig, ohne Maske. Aber gerade er wird sich zuletzt als Kriminalkommissar in den Dienst des Rechts stellen: „Je veux me nommer la Justice / mein Name sei Gerechtigkeit“ (6.921). Und die aufgeklärte Justiz ist dem Rechtsstaat, einer Konsensidee, verpflichtet. Und von einer dritten Seite schließlich nähert sich in Illusions perdues dieser regulativen Idee eines vernünftigen Konsens der Bildungsroman des chemischen Erfinders David Séchard - geistig gehört auch er zum „Cénacle“ -, der nach langem „Leiden“ etwas allgemein Wertvolles entwickelt, freilich etwas, das, skeptisch gesehen, wertvoll vor allem werden könnte, ein Papier auf pflanzlicher Basis. Seine Erfindung bringt David persönlich nichts, Spekulanten und Betrüger jagen sie ihm ab. Aber sie geht in die Ökonomie der Nation ein - heute würde man vielleicht sagen: auch in ihre Ökologie - „comme la nourriture dans un grand corps / wie die Nahrung in einen großen Körper“ (5.732). Und ein preiswertes Papier, was immer das Risiko dieser Erfindung sein mag, ist ein aufklärerisches Medium, zumindest seiner Möglichkeit nach Medium universaler Kommunikation und Verständigung. These 18: Der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts ist fähig, seine eigene Aporie zu erzählen. Das zeigt sich sehr deutlich am Ende dieser Epoche in so ausweglos pessimistischen Romanen, beides von ihren Autoren explizit geplante „Abdankungen“, wie Thomas Hardys Jude the Obscure (1895) oder Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896): Erzählungen von der Möglichkeit eines sinnvollen Lebens, wie die Welt es hätte notwendig brauchen können, aber real nicht zuließ. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 137 Die grundsätzliche Prämisse möglicher eigener Aporie zeigt sich bemerkenswert klar ja eben schon auch am allerersten Anfang von Balzacs Comédie humaine, damit gewissermaßen am Anfang der ganzen Epoche, wenn in Le dernier Napoléon der lange zukünftige Erzählweg durch dieses Oeuvre mit einem „suicide retardé“, einem „verzögerten Selbstmord“ beginnt. Der Autor freilich, der am konsequentesten die Aporie realistischer Weltgestaltung als Prinzip dieser Weltgestaltung, die Aporie des Realismus realistisch erzählt, ist Flaubert. Schon der Romantitel Madame Bovary, eine Kontamination aus „bovin / ochsenhaft dumm“, „ovarium / weiblich“ und „charivari / sinnloser Lärm“, signalisiert, dass diese Romanheldin, die ja noch, im Gegensatz etwa zu Effi Briest, lediglich ihren fremden „anderen“ Namen tragen darf, nie eine „wirkliche“, ihr Selbstverständnis und ihre Ansprüche an die Welt erfüllende Chance, genauer, eine die Idee ihres Autors spiegelnde Chance gehabt haben wird. Und Flauberts anderer großer Roman L’Éducation sentimentale / Lehrjahre des Herzens hat als End- und Höhepunkt dieser „Lehrjahre“ eine leere halbe Seite, „le grand blanc“, ein „großes weißes Nichts“, in dem allein noch das leere Dahinfließen der Zeit zu hören ist. Die Szene davor hatte den idealistischen Freund und alternativen Doppelgänger des Romanhelden, einen von mehreren, fallen sehen, bedeutsamerweise „les bras en croix“, 61 „die Arme zum Kreuz ausgebreitet“, erschossen von einem anderen früheren Freund, dem dogmatischen Revolutionär, der zur faschistoiden Gegenpartei des Staatstreichs von 1850 übergewechselt war. Und dem leeren Schweigen folgt eine Art Todesreise: Il voyagea. Il connut la mélancolie des paquebots, les froids réveils sous la tente, l’étourdissement des paysages et des ruines, l’amertume des sympathies interrompues. Il revint. […] Des années passèrent; et il supportait le désoeuvrement de son intelligence et l’inertie de son coeur. 62 Er reiste. [Das französische passé simple zieht eine unbestimmt lange, wiederholte Tätigkeit zu einem einmaligen, abgeschlossenen Ereignis zusammen.] Er kannte [vollkommen und endgültig] die Melancholie der Frachtschiffe, das kalte Erwachen unter einem Zelt, die Betäubung durch Landschaften und Ruinen, die Bitterkeit unterbrochener Sympathie. Er kam zurück. […] Jahre vergingen [endlos lang]; und er ertrug es, dass sein Verstand untätig war und sein Herz leer. 61 Gustave Flaubert, Oeuvres. Hrsg. von A. Thibaudet und R. Dumesnil, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1952, S. 448. 62 Ebd., S. 448/ 449. Hans Vilmar Geppert 138 Literatur Adorno, Theodor W., Noten zur Literatur. Bd. 2, Frankfurt 1961. Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Aust, Hugo, Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2006. Balzac, Honoré de, La comédie humaine. Édition de la Pléiade, hrsg. von P.-G. Castex, 12 Bde., Paris 1976-1981. Barthes, Roland, S/ Z. Dt. von Jürgen Hoch, Frankfurt 1987. Ders., S/ Z. Paris 1970. Becker, Sabina, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848 -1900. Tübingen und Basel 2003. Brontë, Charlotte, Jane Eyre. Hrsg. von Q.D. Leavis, Harmondsworth 1966. Dickens, Charles, David Copperfield. Hrsg. von Trevor Blount, Harmondsworth 1966. Eco, Umberto, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt 1977. Ders., Das offene Kunstwerk (1962). Dt. von Günter Memmert, Frankfurt 1973. Eliot, George, Middlemarch. Hrsg. von D. Carroll, Oxford 1986. Flaubert, Gustave, Oeuvres complètes. Édition nouvelle d’après les manuscrits inédits de Flaubert par la Société des Études littéraires françaises, 15 Bde., Paris 1971-1974. Ders., Oeuvres. Hrsg. von A. Thibaudet und R. Dumesnil, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1952. Fontane, Theodor, Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hrsg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger, 7 Bde., München 1970- 1984. Geppert, Hans Vilmar, „Honoré de Balzac, ‚La comédie humaine‘“. In: Günter Butzer/ Hubert Zapf (Hrsg.), Große Werke der Literatur XII (in Arbeit, vorauss. 2011). Ders., „Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung“. In: Günter Butzer/ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 4, Tübingen und Basel 2009, S. 305-337. Ders., Der Historische Roman. Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen und Basel 2009. Ders., Literatur im Mediendialog. München 2006. Ders., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994. Hardy, Thomas, Jude the Obscure. The New Wessex Edition. Hrsg. von T. Eagleton und P.N. Furbank, London 1974. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Johannes Hoffmeister, 6. Aufl., Hamburg 1952. Iser, Wolfgang, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt 1993. Kant, Immanuel, Grundlegung zu Metaphysik der Sitten. Hrsg. von K. Vorländer, 3. Aufl., Frankfurt 1965. Keller, Gottfried, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hrsg. von Clemens Heselhaus, 3. Aufl., München 1969. Lukács, Georg, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied und Berlin 1963. Nöth, Winfried, Handbuch der Semiotik. 2. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2000. Proust, Marcel, Contre Saint-Beuve. Hrsg. von P. Clarac, Paris 1971. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert 139 Raabe, Wilhelm, Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, Bd.1, hrsg. von K. Hoppe u.a., Freiburg, Braunschweig und Göttingen 1951. Swales, Martin, Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen. Berlin 1997. Die Rückkehr des Subjekts: Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur Erik Redling 1. Einleitung Als Lehrender wird man von den Studierenden, die eine Hausarbeit schreiben, oft gefragt: „Muss ich bei diesem Thema den Autor 1 auch mit berücksichtigen? “ Sie meinen damit, inwieweit die Biographie des Autors oder das, was er konkret über das Werk gesagt hat, für die Interpretation wichtig ist. Es erheben sich also Fragen wie die, ob das Werk nur eine Bedeutung hat, nämlich die, über die der Autor explizit Auskunft gibt. In der Literaturtheorie wird die gleiche Frage etwas präziser gestellt: Hat das Werk nur die Bedeutung, die der Autor intendiert hat? Die Antwort lautet meistens: Nein. Heute nehmen die meisten Literaturwissenschaftler an, dass es mehrere Bedeutungen eines Werkes geben kann. Aber welche davon können oder sollten wir auf den Autor bzw. auf dessen Intention zurückführen? Diese Fragen sind eigentlich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts kritisch diskutiert worden. Zunächst konzentrierte sich die Literatur- und die philosophische Verstehenstheorie auf die Intentionalität des Autors, später wurde dann das Paradigma der werkimmanenten Interpretation vorherrschend, und schließlich wurden die vielfältigen Bedeutungen, welche die Leser dem Werk geben können, in den Vordergrund gerückt. In den 1970er und 1980er Jahren war es in akademischen Kreisen sogar en vogue, vom so genannten „Tod des Autors“ (so ein Aufsatztitel von Roland Barthes) zu sprechen. Das Werk von Wolfgang Iser, vor allem sein Buch Der Akt des Lesens (1976), fasste die Beteiligung aller drei Komponenten, des Autors, des Werks und des Lesers in eine zusammenhängende Theorie. Demnach baut der Autor intentionale Leerstellen in den fiktiven Text ein, welche die Leser erfassen und interpretierend füllen können. Somit entfaltet sich die Wirkungsästhetik des Textes erst in der kommunikativen Interaktion zwischen Text und Leser. Bevor jedoch diese unterschiedlichen Ansätze, die entweder die Intention des Autors oder des Werkes oder des Lesers in den Mittelpunkt rücken, genauer vorgestellt werden, soll gezeigt werden, dass man den Autor nicht einfach wegdiskutieren kann. Oft haben Autoren literarische Texte für einen ganz offensichtlichen und 1 Bei der Verwendung der männlichen grammatischen Form, wenn etwa die Rede von Autor, Leser und Literaturwissenschaftler ist, sind Frauen immer mitgemeint. Erik Redling 142 bestimmten Zweck geschrieben, vor allem dann, wenn sie eigene politische oder gesellschaftliche Ziele verfolgten. Beispielsweise fällt bei dem Gesellschaftssatiriker Jonathan Swift auf, dass er immer bestimmte politische Gegner oder tagespolitische Vorkommnisse kritisiert. So prangert er in seiner Schrift „A Modest Proposal for Preventing the Children of Poor People from Being a Burthen“ (1729) mit scharfen Spitzen die Zustände im englisch regierten Irland an und schlägt satirisch vor, dass Kinder als Nahrungsmittel und Exportschlager dienen könnten (52-58). Bei Biographien und Autobiographien wird die Beschreibung des intendierten Zieles oft schwieriger. Zwar erzählt ein Autor ein Leben, das man in vieler Hinsicht mit Fakten aus der Wirklichkeit vergleichen kann, aber die Zusammenstellung der Ereignisse und der Ton ihrer Darstellung lassen oft ganz andere Absichten vermuten als eine objektive Darstellung der Fakten. Vielmehr kann der Autor Selbstrechtfertigung, Selbstlob, Selbststilisierung, Angriff auf Gegner, die Propagierung neuer ästhetischer Vorstellungen, etc. im Sinn haben. Damit kommen wir dem eigentlichen Problem näher. Was ist, wenn es keine Selbstäußerungen des Autors zu seinem Werk gibt, oder wenn diese offensichtlich zu einseitig auf einen bestimmten Zweck hin ausgerichtet sind. Wie kann man dann die Intention des Autors in einem Werk erkennen? Hierzu gab es um 1950 und später ganz unterschiedliche Antworten von Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Literaturtheoretikern, die die Probleme des Intentionalismus, also das Postulat, dass es beim Textverstehen primär auf die Autorintention ankommt, sahen. Im Folgenden wird diese Gegenbewegung mit der Bezeichnung „Anti-Intentionalismus“ rubriziert und in drei Ansätze unterteilt: 1. Hans-Georg Gadamer, der die „Meinung“ (Intention) des Autors beim hermeneutischen Verstehen eines Textes ausschließt, 2. William Wimsatt und Monroe Beardsley, die von einem anderen Intentionalitätskonzept als Gadamer ausgehen, aber wie er den Text in den Vordergrund stellen, und 3. die Poststrukturalisten Roland Barthes und Michel Foucault, die eine weitere Wegbewegung vom Autor befürworten. Barthes spricht vom „Tod des Autors“ und verwirft indirekt Gadamers Vorstellung von Textverstehen als einem Prozess, der auf die „Meinung“ des Textes hin abzielt. Foucault hingegen betrachtet die Interpretation von Texten als eine historische Analyse von Regeln und Mechanismen von Diskursen, die eine „Autorfunktion“ aufweisen. So nützlich diese wissenschaftliche Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, indem sie die drei Komponenten des Lesens - den Autor, dann den Text und schließlich den Leser - nacheinander in ihren Funktionen für das Textverstehen hinterfragte und gegebenenfalls verneinte, soll doch als Gegenpol ein Vertreter der Linguistik vorgestellt werden, der in der gleichen Zeit im Rahmen der Pragmatik die Intentionalität des Sprechers betont. Gemeint ist der Sprachphilosoph John Searle, der neben John Austin zum Vater der Sprechakttheorie wurde. Schließlich wird die heutige Situation diskutiert, in der Texte oft durch Intermedialität und Intertextualität gekennzeichnet sind. Zum Beispiel wird man angesichts von Jazzgedichten mit der Frage konfrontiert, welche Rolle die Intentionalität eines Autors spielt, wenn er ein bestimmtes Lied von einem Jazzmusiker als Gedicht wie- Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 143 dergibt. Des Weiteren soll kurz die Intentionalität des Lesers oder Interpreten behandelt werden, wenn er absichtlich einen literarischen Text mit einem völlig anderen Text (oder einer Theorie) verbindet. 2. Die Anti-Intentionalisten: Gadamer, Wimsatt und Beardsley, Barthes und Foucault 2.1 Hans-Georg Gadamer und die Hermeneutik des Gesprächs Gadamers Hermeneutik (abgeleitet von gr. hermeneúein, „deuten“, „erklären“) weicht von vornherein vom personenbezogenen Begriff „Intention“ (lat. intentio, „Absicht“) ab, weil er die Vorgänge des Textverstehens ohne einen Rückgriff auf die Autorintention erklärt. Bei Personen hingegen fragt er weiterhin nach ihrer Intention. Gadamer folgt in der Begriffswahl Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey, die es allerdings durchaus für ihre Aufgabe hielten, die Sprecherintention freizulegen. 2 So erklärt Friedrich Schleiermacher (1768-1834), dass es das Ziel jeglicher hermeneutischen Anstrengung sei, „die Rede eines andern richtig zu verstehen“ (Hermeneutik und Kritik 75). Schleiermacher postuliert weiter: „Gesucht wird dasselbe im Gedanken, was der Redende hat ausdrücken gewollt“ („Allgemeine Hermeneutik“ 1276), also seine Intention. Um diesen Verstehensprozess, der auf die Sprecherintention abzielt, zu beschreiben, greift Schleiermacher auf ein Frage-und-Antwort- Schema zurück, das bereits seit der Antike als Modell für Verstehensprozesse galt: Das Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks („Rede“ und Text) ist auf Fragen angewiesen, die wiederum Gegenfragen und Rückfragen nach sich ziehen können. „Verstehen“ ist daher ein prinzipiell unabschließbarer Frage-und-Antwort Prozess und die Hermeneutik damit eine Anleitung zur „Kunst des Fragens“ (Körtner 12). Wilhelm Dilthey (1833-1911) übernimmt die Schleiermacher’sche Hermeneutik, fokussiert aber auf das Verstehen als einen psychologischen Einfühlungsprozess, in dem den geistigen Vorgängen eines Autors nachgespürt werden soll. Die Abwendung vom Autor wird in Deutschland durch Gadamer eingeleitet, der in seinem zweibändigen Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) die „seelische Verfassung des Autors“ (Bd. 1, 297) mit der „Subjektivität des Meinens“ (Bd. 2, 76) gleichsetzt (Tietz 62). Mit diesem so genannten „Psychologismus“ will sich Gadamer, vor allem bei schriftlichen Texten, nicht zufrieden geben. Er behauptet: Beim Verstehen von Schriftlichem bewegen wir uns in einer Dimension von Sinnhaftem […], das in sich verständlich ist und als solches keinen Rückgang auf die Subjektivität des anderen motiviert. Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, dies Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine geheimnisvolle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn ist. (Wahrheit und Methode, Bd. 1, 297) 2 Eine sehr gute Einführung in die Hermeneutik im Allgemeinen und in Gadamers Werk im Speziellen bietet Jean Grondin, Hermeneutik (Stuttgart: UTB, 2009). Erik Redling 144 Deshalb unterscheidet er ausdrücklich zwischen dem, „was der Verfasser tatsächlich im Sinn hatte“ (Bd. 1, 378), also der Autorintention, und dem, was der Text „meint“, „sagt“ und „spricht“ (Tietz 63). Dabei macht er den Text zum Subjekt, dessen Sinn „in sich verständlich ist“, und entwickelt daraufhin eine Hermeneutik, welche den Text als eine bestimmte Meinung verstehen will. Es muss hier darauf verzichten werden, Gadamers hermeneutische Theorie in ihrer Differenziertheit nachzuzeichnen, und daher konzentriert sich die folgende Diskussion nur auf die Hauptpunkte, die den Deutungsprozess betreffen: Gadamer setzt zunächst voraus, dass sich der Interpret des eigenen „Vorverständnisses“ oder „Vorurteils“ bewusst werden soll: Wer verstehen will, wird sich der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung von vornherein nicht überlassen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören - bis etwa diese unüberhörbar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt. Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche ‘Neutralität’ noch gar Selbstauflösung voraus, sondern schließt die abhebbare Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und derart in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen. (Wahrheit und Methode, Bd. 2, 60-61) Durch dieses Innewerden des eigenen Vorurteils wird für den Interpreten die eigene Meinung erkennbar, was es ihm ermöglicht, in ein Spiel mit der „sachlichen Wahrheit“ des Textes einzutreten: Er kann sich nun vom Text „etwas sagen lassen“. Dabei spricht für Gadamer der Text, nicht der Autor. Aufbauend auf dieser Grundannahme, sich vom Text etwas sagen zu lassen, entwickelt Gadamer das Verstehensmodell des „Hermeneutischen Zirkels“, welches das Gespräch zwischen Interpret und Text ausbaut und das Prinzip des „Vorgriffs auf Vollkommenheit“ (Wahrheit und Methode, Bd. 1, 300) bedingt. Nach Gadamer setzt der Verstehensprozess voraus, dass die Äußerungen des Textes wahr sind - die „vollkommene Wahrheit“ (Bd. 1, 299) - und ferner, dass der Text „eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt“ (Bd. 1, 299). Erst die Bejahung dieser beiden Hypothesen ermöglicht eine tragfähige Verständigung zwischen dem vorliegenden Text und dem Interpreten. Der Interpret muss zusätzlich den „historischen Horizont“ des Textes beachten, der es ihm erlaubt, den Text mit seinem gegenwärtigen Verstehenshorizont in Bezug zu setzen: „Im Vollzug des Verstehens geschieht eine wirkliche Horizontverschmelzung, die mit dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung vollbringt“ (Bd. 1, 311-12). Erst diese Verschmelzung der beiden Horizonte - historischer Text und gegenwärtiger Leser - lässt die „Teilhabe am gemeinsamen Sinn“ zu. Gadamers Bedingungen für ein tragendes Verständnis zwischen Text und Leser wurden im Poststrukturalismus insbesondere von Jacques Derrida skeptisch hinterfragt, der Annahmen wie etwa die Wahrheit und die Einheitlichkeit des Textes kritisierte. Um diese Annahmen zu „dekonstruieren“, priorisiert Derrida u.a. das Miss- Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 145 oder Andersverstehen und schreibt beide Möglichkeiten (Verstehen und Missverstehen) in ein Spiel von Differenzen ein, das ein richtiges Verstehen einer (wahren) Meinung - wie Gadamer es proklamiert - als unmöglich erscheinen lässt. Aus dieser verstehensskeptischen Sichtweise ist Gadamers hermeneutische Theorie problematisch, obwohl auch er die Autorintention als Bezugspunkt für Textverstehen abgeschafft hatte. 3 2.2 „The Intentional Fallacy“ von William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley Die Ausklammerung des Autors vom Interpretationsprozess steht auch im Mittelpunkt von Wimsatts und Beardsleys einflussreichem Aufsatz „The Intentional Fallacy“ (dt. „Der intentionale Fehlschluss“, 1946). Im Unterschied zu Gadamer gehen sie jedoch von einer anderen Intentionalitätsidee aus: Sie definieren die Autorintention als „the design or plan of the author“ (Wimsatt und Beardsley 1) und nicht als die vom Autor intendierte Bedeutung, und versuchen die bisherige Vorgehensweise der Literaturwissenschaft folgendermaßen auf den Punkt zu bringen: Anhand des Textes sei der Plan rekonstruiert worden, den der Autor angeblich für sein Werk hatte, um anschließend zu beurteilen, ob der Autor seinen Plan erfolgreich umgesetzt hat. Zwar ist - so Wimsatt und Beardsley - der Autor der Produzent des Textes, aber es wäre ein „intentionaler Fehlschluss“, wenn Literaturwissenschaftler den „Erfolg“ des Werks anhand der Autorintention (hier: Plan) beurteilen würden: „the design or intention of the author is neither available nor desirable as a standard for judging the success of a work of literary art“ (1; Hervorh. E.R.). Der Fokus sollte nur auf dem Text („the poem itself“) liegen, der weder dem Autor noch dem Literaturkritiker gehört: The poem is not the critic’s own and not the author’s (it is detached from the author at birth and goes about the world beyond his power to intend about it or control it). The poem belongs to the public. (3) Die Beurteilung eines literarischen Werks bedarf keiner externer Evidenzen („external evidence“) wie etwa der Kommentare des Autors über das eigene Gedicht, die er in Tagebüchern und Briefen an Freunde hinterlassen hat: „The evaluation of the work of art remains public; the work is measured against something outside the author“ (6; Hervorh. E.R.). Stattdessen soll die Evaluation und die Deutung des Kunstwerks („the meaning of a poem“, 6) anhand von textinternen Evidenzen geschehen: through the semantics and syntax of a poem, through our habitual knowledge of the language, through grammars, dictionaries, and all the literature which is the source of dictionaries, in general through all that makes a language and culture (6) Mit ihrer These, dass das Kunstwerk autonom sei und die Beurteilung und Deutung des Werkes anhand von Textmerkmalen geschehen solle und nicht anhand der Autorintention und biographischer Details des Autors, bereiteten Wimsatt und Beards- 3 Eine sehr hilfreiche Zusammenfassung der Kernaussagen des Postrukturalismus und der Dekonstruktion (Jacques Derrida) findet sich in Hubert Zapf, Kurze Geschichte der angloamerikanischen Literaturtheorie (München: Fink, 1996) 189-204. Erik Redling 146 ley den Weg für die vielfältigen „werkimmanenten“ Interpretationen des New Criticism vor. 2.3 Der Tod des Autors: Roland Barthes und Michel Foucault Nachdem Wimsatt und Beardsley in den USA und Gadamer in Deutschland den Text in den Vordergrund gestellt hatten, brachte Roland Barthes die dritte Komponente des Leseverständnisses - den Leser - ins Gespräch mit der Behauptung, dass dessen Interpretationsmöglichkeiten nicht mehr an den Autor gebunden seien: „Die Geburt des Lesers“, so Barthes, „ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors“ (Barthes 193; Hervorh. i. Orig.). In seinem Aufsatz „Der Tod des Autors“ („La mort de l’auteur“, 1968) bestreitet Barthes nicht die Existenz von empirischen Autoren, die einzelne literarische Werke produzieren. Vielmehr verfolgt er die Strategie, die Kontrolle der Autoren über ihre Texte und den Textsinn zu beenden, und führt zu diesem Zweck die Unterscheidung zwischen Autor und Schreiber („scripteur“) ein. Im Kontrast zum historischen Autor, der in der Vergangenheit des von ihm hervorgebrachten Werks verankert bleibt (also im „Vorher“), wird der moderne Schreiber [scripteur] im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre. Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben. (189; Hervorh. i. Orig.) Damit verschwindet der Autor hinter seinem Nachfolger, dem chronisch „modernen“ Schreiber. Zusätzlich spricht Barthes dem Autor jegliche individuelle Kreativität ab. So ist ein literarisches Werk nicht das Produkt eines kreativ-originellen Akts, sondern das Ergebnis einer rein kompilatorischen Aktivität, nämlich ein „Gewebe von Zitaten“: Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welche die ‘Botschaft’ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur. (190; Hervorh. i. Orig.) Typisch für die Postmoderne und deren Skepsis gegenüber einem „transzendentalen Signifikat“ (Derrida 85) wird die Einheitlichkeit des Sinnzusammenhangs des Textes, von der Gadamer ausgeht, nur noch eine von vielen Vorstellungen zum Text. Solche vom Autor zusammengestellten „Gewebe von Zitaten“ bedingen eine neue Verstehensmethode, die weder von der angenommenen Anwesenheit des Autors noch von dessen Intention abhängt. Statt den vom Autor festgelegten Sinn zu „entziffern“ („dechiffrer“), besteht die Aktivität des Lesers darin, die vielfältigen und immer neuen Sinnzusammenhänge des Textgewebes zu „entwirren“. In seinem Aufsatz „Was ist ein Autor? “ („Qu’est-ce que c’est l’auteur? “, 1969) greift Foucault, ohne ihn explizit zu erwähnen, Roland Barthes’ Ausspruch vom „Tod des Autors“ auf und argumentiert, dass die Verwendung von Begriffen wie Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 147 „Werk“ und „Schreiben“ noch Spuren des Autorbegriffs manifestieren und somit die Abschaffung des Autors blockieren bzw. sein Fortleben sogar sichern. Ausgehend von Samuel Becketts Sentenz „Wen kümmert’s, wer spricht? “ schlägt Foucault vor, Texte nicht mehr auf die Autorintention hin zu analysieren, da solche Analysen die Bedeutungsvielfalt der Texte limitieren: „Der Autor,“ so Foucault, „ist das Prinzip der Sparsamkeit in der Vermehrung von Bedeutung“ (Foucault 228). Statt den Autor und dessen Intention zu privilegieren, sollen die variablen und komplexen Funktionen von Texten innerhalb eines Diskurses (also: einer Gruppe von Aussagen, die zu einem Formationssystem gehören) untersucht werden. Der Autor wird dabei nicht mehr als „geniale[r] Schöpfer“ (Foucault 227) eines Werks betrachtet, sondern als eine Autorfunktion aufgefasst, die konventionell konstruiert wird, um Einheiten mit gemeinsamen Merkmalen zu konzipieren. Es gilt aus historischer Sicht diskursanalytisch aufzuzeigen, wie die Autorfunktion diese Einheiten in einem Diskurs ordnet und reguliert. Foucaults Beispiel ist der Autorname (z.B. Shakespeare), der dazu dient, eine gewisse Anzahl von Texten zu einer Einheit zusammenzuschließen und, innerhalb eines Diskurses, von anderen Werk-Einheiten abzugrenzen: Man könnte schließlich auf die Idee kommen, daß der Autorname nicht wie der Eigenname vom Inneren eines Diskurses zum realen, äußeren Individuum geht, sondern daß er in gewisser Weise an die Grenze der Texte drängt, daß er sie zuschneidet, ihren Kanten folgt, daß er ihre Seinsweise offenbart oder wenigstens daß er sie kennzeichnet. Er macht das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar [...]. Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft. (210-11) Im Vordergrund der Analysetätigkeit steht nach Foucault die Autorfunktion, welche die Regulierungs- und Ausschlussmechanismen eines Diskurses sichtbar und damit analysierbar macht. Am Ende seines Aufsatzes entwirft er sogar die Utopie einer Gesellschaft, in deren Diskursen die Autorfunktion verschwunden sein wird. Aus seiner historisch relativierenden Sichtweise ist daher der Autorbegriff ein veraltetes, obsolet gewordenes Konzept, das nicht mehr zeitgemäß ist, denn „Wen kümmert’s, wer spricht? “ Foucault sieht in der Autorfunktion eine Möglichkeit, die einengende Intention eines bestimmten Autors oder die einengende Funktion einer bestimmten Interpretation, wie sie Gadamer vorschwebt, auszuklammern. Für die poststrukturalistischen Autoren Barthes und Foucault ist eine am empirischen Autor festgemachte Interpretation nicht mehr vorschreibbar. Dieser Entwicklung in der Literaturkritik von einer bestimmten Intention eines Autors, die jedoch unterschiedlich definiert wird, hin zur Vielfalt der Leserinterpretationen und Autorfunktionen wird im Folgenden als Gegenpol die in der gleichen Zeit neu entstandene linguistische Forschung zur Sprechakttheorie gegenübergestellt. Sie geht von Alltagstexten aus und hat immer weiter in die Textanalyse eingewirkt. Neben John Austin war es besonders John Searle, der diese Entwicklung beeinflusst hat. Erik Redling 148 3. Der Gegenpol: Intentionalität und Sprechakttheorie bei John Searle Austin und Searles Sprechakttheorie („speech act theory“) basiert auf der Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen Sprache und Handeln besteht. Searle hat 1963 Austins erste Kategorien der „speech act theory“ überarbeitet und Kriterien erstellt für die Zuweisung einer Sprecherintention zu einem Satz, die den nichtsprachlichen „background“ und Kontext berücksichtigen. So kann der Satz „can you type this letter“ unterschiedliche Intentionen aufweisen, die aber aus den jeweiligen Bedingungen ablesbar sind, etwa aus der Autorität des Sprechers: Wenn dies der Chef zu einem Untergebenen sagt, gilt es als Befehl; wenn es ein Freund zu einem anderen sagt, gilt es als Bitte; wenn keine Schreibmaschine in der Nähe ist, als Frage usw. In der gesprochenen Sprache genügen oft schon Vorstufen zur eigentlichen Frage, z.B. „was machst Du heute Abend“, um einen Vorschlag oder eine Bitte („Könnten wir zusammen ausgehen? “) zu unterbreiten. Falls solche Sequenzen im Text erscheinen, kann man Schlüsse auf die dahinterstehende Intention ziehen. Searle hat diese Unterscheidung zwischen dem Text und seiner Illokution (Sprechintention) immer weiter ausgebaut. 4 In seinem 1983 veröffentlichten Buch Intentionality stellte Searle die den Sprechakten implizit zugrunde liegende Intentionalität in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen zur Relation von Sprache, Geist und Gehirn. Seine Intentionalitäts-Theorie wird gegenwärtig bei der Textanalyse und der Erforschung künstlicher Intelligenz verwendet. Searle selbst entfachte eine Kontroverse mit dem Poststrukturalisten Jacques Derrida, in der er sich explizit gegen die Anti-Intentionalisten aussprach. 5 Natürlich sind literarische Texte nicht Alltagsgespräche und aufgrund ihrer Fiktionalität schwieriger zu verstehen, aber es ist interessant zu beobachten, dass Searle darauf besteht, dass gesprochene und geschriebene Kommunikation personale Sprechpartner und Intentionalität voraussetzen. In einem Interview, das am 26. August 2009 in seinem Büro an der University of California, Berkeley, stattfand, habe ich ihn gebeten, auf das Problem der Intentionalität kurz einzugehen. Es folgen zwei kurze Auszüge: E.R.: When you published your work on speech acts, were you already interested in intentionality and is there a development or a progression? John Searle: The way it worked was this. When I wrote Speech Acts [1969, E.R.], I used intentionalistic notions like belief and intention and desire and so on. I used those freely. I used those as if I was entitled to use them, but I knew then that that’s like borrowing money from the bank. Eventually, you have to explain: What is a desire? What is an intention? What is a belief? You have to answer the question: What is intentionality? So I began working on that really after I had written Speech Acts and I started going very seriously on it after 1975 and then it occurred to me … there is a theory of intentionality implicit in the theory of speech acts. It’s already there. I didn’t have enough sense to see that 4 Als Einführung zu Austin und Searles Sprechakttheorie besonders brauchbar ist Wolfram Bublitz, Englische Pragmatik: Eine Einführung (Berlin: Erich Schmidt, 2001) 55-134. 5 Vgl. insbesondere John Searle, „Literary Theory and Its Discontents“, New Literary History 25.3 (1994): 637-67. Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 149 when I first wrote Speech Acts. So I knew someday I would have to write a book about intentionality. I didn’t know what the theme of the book would be and then I suddenly realized there is a theory of intentionality already implicit in the theory of speech acts and I just spelled it out. Sein Konzept von „background” (Hintergrund der Situation, der Personen, der Kompetenzen, etc.) als wesentliches Hilfsmittel für die Erkennung von intentionalen Sprechakten erklärt Searle folgendermaßen: E.R.: Now let us continue and talk […] about your concept of background and how does that relate to your theory of intentionality. John Searle: Well, if you look at how language works, what you find is that the sentence by itself doesn’t tell you how to interpret it. Even if you know the meaning of a sentence, you find that the same literal meaning will have different applications in different contexts. And you see this with common verbs like cut or run. And the right way to understand that, I want to say, is […] meanings never come in isolation. There is always a bunch of other meanings and other intentional states that surround it that enables us to interpret any predictable meaning. But, and this is the important point, even if you make a list of all these other intentional states or all these other meanings, all the same you need something more than that. In order to use and understand language, you need a set of abilities, a set of ways of coping with the world and Wittgenstein is still the best author on the background. Especially his book on certainty is largely about what I call the background. So now then, I want to extend that and say, ‘Well, not only do you need the background to account for the understanding of sentences. You really need it to understand the application of intentional states generally.’ So, the fact that I know that somebody believes that Barack Obama is president of the United States … well, there are a whole lot of other things that make that belief function the way that it does and those involve what I call the background. E.R.: And it’s pre-intentional or… John Searle: Well it’s pre… I used that term, but I’m made nervous by it cause it suggests that it’s temporal, that it somehow comes before it. That’s not what I mean. What I mean is foundational that the intentionality only functions given this set of background abilities. 6 Es war nicht erstaunlich, dass Searle im Gespräch auf die Verwischung von Textbedeutung und die Vernachlässigung des Autors in der Postmoderne etwas verschnupft reagierte und anregte, nach implizierten Intentionen zu suchen. Die Arbeit mit dem Konzept der Intentionalität soll nun anhand von intermedialen Texten, nämlich Jazz-Gedichten, vorgestellt werden, um meine These - „Die Rückkehr des Subjekts und der Intentionalität“ - in die Diskussion einzubringen. 7 6 Interview mit John Searle vom 26. August 2009 in Berkeley, CA. Videomitschnitt im Besitz des Autors. 7 Seit den späten 1990er Jahren ist eine differenzierte Diskussion über die Themen „Autorintention“ und „Autorkonstrukte“ beobachtbar, die auch den historischen Autor als möglichen Bezugspunkt für Textinterpretationen wieder mit einschließt: Vgl. z.B. William Irwin, The Death and Resurrection of the Author (Westport, CT: Greenwood P, 2002) und Fotis Erik Redling 150 4. Intermediale Texte am Beispiel von Jazz-Gedichten: Intentionale Metaphern und Verstehen als Übersetzen Jazz-Gedichte weichen von anderen Gedichten dadurch ab, dass sie meist Jazzmusik und verbale Aussagen vereinen und somit intermedial sind. Sie zu verstehen verlangt häufig die zusätzliche Kenntnis etwa des Musikstils (z.B. Blues, Bebop, Free Jazz). Andererseits ergeben diese poetischen Texte auch ohne diese Musikkenntnisse einen Sinn. Das bedeutet, dass unterschiedliche Leser die Gedichte unterschiedlich verstehen können. Die einen Leser bleiben sozusagen auf der wörtlichen Ebene stecken, die anderen können eventuell die Absicht des Autors erkennen, die Jazzmusik eines Musikers kreativ in eine schriftliche Form zu transformieren. Damit werden dem Autor möglicherweise zwei unterschiedliche Absichten unterstellt, die, je nachdem, wie der Text gestaltet ist, durchaus nachweisbar sein können. Deutlich wird jedoch, dass sich eine Interaktion zwischen Text und Leser entwickelt, die sich von einem Gespräch zwischen Text und Leser - wie Gadamer den Verstehensprozess konzeptualisiert - unterscheidet. Ein Problem bei der Analyse von Jazzgedichten ist: Wie kann man nachweisen, dass ein Autor tatsächlich eine bestimmte Musik oder ihren Stil nachkreieren will und wie kann man im Gegensatz zu Literaturwissenschaftlern, die Elemente auflisten, wie Texte Musik „imitieren“, die eigenständige Kreativität des Autors und des Lesers hervorheben? 8 Es existiert bereits eine Studie, die mimetisch-imitative Entsprechungen von Schrift und Musik untersucht: So definiert Werner Wolf in seinem Werk The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality die Musikalisierung der Literatur als „the imitation of music in narrative texts“ (51). Diese Definition ist allerdings aus meiner Sicht problematisch: Nicht nur gibt es keine direkte mimetische Entsprechung von Schriftzeichen und musikalischen Noten, weil die Poeten die Schriftzeichen oft idiosynkratisch verwenden, um ganze Melodien, Rhythmen oder eine bestimmte Tonlage anzudeuten. Das Besondere ist Jannidis et al., Hrsg., Rückkehr des Autors: Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Tübingen: Niemeyer, 1999). 8 Der griechische Begriff mimesis ist seit der Antike höchst umstritten und Ausgangspunkt für zahlreiche Debatten in der Literaturtheorie: vgl. hierzu Gunter Gebauers und Christoph Wulfs hervorragende Übersicht zur Diskussion über den Mimesisbegriff in Mimesis: Kunst - Kultur - Gesellschaft (Hamburg: Rowohlt, 1992). Heutzutage unumstritten ist jedoch die Annahme, dass es sich bei der Beziehung zwischen ‘Realität’ und ‘Fiktion’ nicht um eine rein ‘imitative’ Relation handelt (hier wird der griechische Begriff mimesis im engeren Sinn von lat. imitatio gebraucht). Umso überraschender ist die Beobachtung, dass intermediale Relationen wie etwa zwischen Musik und literarischen Texte immer noch als mimetisch-imitativ konzeptualisiert werden (vgl. Werner Wolf). Im Folgenden verwende ich den Begriff „Mimesis“ als Hyperonym für eine „Rhetorik der imitatio“, d.h. für alle Begriffe, die Autorinnen und Autoren verwenden, um einen imitativen Bezug zwischen verschiedenen Medien zu beschreiben (z.B. „imitieren“, „repräsentieren“ und „widerspiegeln“). Hier - wie in meiner Habilitationsschrift From Mimesis to Metaphor: Intermedial Translations in Jazz Poetry - plädiere ich für einen Wechsel von einer mimetischen zu einer kognitiv-metaphorischen Sichtweise von Intermedialität, durch die erst die vielfältigen metaphorischen Bezüge zwischen unterschiedlichen Medien erkannt und untersucht werden können. Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 151 auch, dass Wörter auf zwei verschiedene Weisen zu verstehen sind, einmal als Teil einer Musik und zum anderen als Teil des sprachlichen Sinnzusammenhangs, wobei die Musikalität häufig durch zusätzliche Veränderungen der Wörter wie Groß- und Kleinschreibung, Kursivsetzung und eine bestimmte typographische Anordnung der Verse angedeutet wird. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass Jazzgedichte eine Vielfalt von Möglichkeiten aufweisen, Jazzmusik darzustellen. Das Spektrum reicht von Gedichten, die über Jazzmusik berichten und beispielsweise Größen des Jazz wie Louis Armstrong, Charlie Parker, Miles Davis und John Coltrane erwähnen, bis hin zu lyrischen Texten, die spezifische Elemente der Jazzmusik darstellen. Dazu gehören etwa Improvisation (z.B. durch irregulär fragmentierte Verse), die Melodie eines Jazzstückes, Tempo, Rhythmus, Lautstärke (z.B. durch Groß- und Kleinschreibung), Tonfarben und Stimmung („mood“). Bei einer Untersuchung der Gedichte vom letztgenannten Typus rücken unweigerlich zwei miteinander verknüpfte Themen in den Vordergrund der Aufmerksamkeit: Intermedialität und Kreativität. Um nun die kreative Absicht des Poeten aufzuzeigen, die ein Leser, der sie zu erkennen sucht, tatsächlich erschließen kann, ist die Metapherndefinition von George Lakoff und Mark Johnson hilfreich. Sie gehen davon aus, dass in der Sprache Aussagen aus einer bestimmten Domäne (Beispiel: Liebe) metaphorisch oft über Begriffe aus einer anderen Domäne (Beispiel: Reise) erklärt werden: „Wir stehen an einem Scheidewege in unserer Beziehung“ oder „unsere Wege trennen sich“. Lakoff hat diese Sichtweise auch auf Disziplinen wie Mathematik und Philosophie erweitert. Warum sollte die Metapherntheorie also nicht geeignet für die Beschreibung von kognitiver Transformation von Musik in die Schriftform sein? „Understanding one kind of thing in terms of another“ (Lakoff und Johnson 5) ist Lakoff und Johnsons allgemeine Definition der Metapher. Sie unterscheiden damit zwischen einer konzeptuellen Metapher („conceptual metaphor“) - z.B. LOVE IS A JOURNEY - und einem metaphorischen Ausdruck („metaphorical linguistic expression“) - z.B. „Unsere Wege trennen sich“, wobei der metaphorische Ausdruck die konkrete Manifestation einer konzeptuellen Metapher ist. Dabei ist zu beachten, dass in der konzeptionellen Metapher (Großbuchstaben) der zu verstehende Begriff (hier: LOVE) zuerst steht. Ausgehend von dieser Theorie können die zwei Medien Musik und Schrift als zwei unterschiedliche konzeptuelle Domänen und der Verstehensprozess als ein kognitives „Übersetzen“ betrachtet werden. 9 Anhand des Jazzgedichts „Bud Powell“ von Lawson Fusao Inada lassen sich die Vorteile einer metaphorisch-übersetzenden Sichtweise der Intermedialität aufzeigen: 9 Statt Lakoffs und Johnsons Metaphern „mapping“ und „projection“ für den kognitiven metaphorischen Prozess zu verwenden, bevorzuge ich die Metapher „Translation“, um den kognitiven Verstehensprozess einer konzeptuellen Metapher zu beschreiben. Demnach ist die „Übersetzung“ des Mediums „Musik“ in das Medium „Schrift“ ein intermedialer metaphorischer Prozess, der zugleich transformativ und kreativ ist. Erik Redling 152 Bud Powell “Parisian Thoroughfare” Shops gleaming wares, windows streaming with the streets of commerce as fragrance from a nearby bakery fills and gilds the air burgeoned to the brim with birds, butterflies, blossoms, rising and falling calls of children quickening the courtyards, women whisking walks in the sunlit briskness of rhythm propelling, pulsing the entire populace, the entire thoroughfare into action after the night’s refreshing rain promising spring thick with brilliance, the surprising turn of events where everything turns out happy … (“Hey, cut it, man! ”) (Inada 83; Fettdruck und Unterstreichung E.R.) Wenn man entsprechend der ersten Interpretationsmöglichkeit, also der wörtlichen Folge des Textes, das Gedicht liest, wird man die Kursivsetzung des Textes zwar zur Kenntnis nehmen, aber deren mögliche Bedeutung unberücksichtigt lassen, wenn man glaubt, das Gedicht im Wortsinn verstanden zu haben. Wie der Untertitel des Gedichts andeutet, gibt das Gedicht Eindrücke von einer Pariser Durchgangsstraße wieder. Wenn man jedoch im Sinne eines zweiten Interpretationsversuchs erkennen möchte, ob Inada das Jazzstück „Parisian Thoroughfare“ des Jazzpianisten Bud Powell 10 kreativ in eine Schriftform transformiert, dann wird eine kognitivmetaphorische Interpretation miteinzubeziehen sein. Die während des Übersetzungsvorganges von Musik zum Text vollzogenen kognitiven Metaphern nenne ich „intentionale Metaphern“, weil ich von der Annahme ausgehe, dass Inada diese absichtlich durchgeführt hat. Eine Tabelle soll das komplexe Zusammenspiel von typographischen Hinweisen, Klang, intentionalen Metaphern, wörtlicher und figurativer Bedeutung sowie Konnotationen verdeutlichen: 10 Vgl. Bud Powells „Parisian Thoroughfare“ (Bud Powell: 1951-1953, Chronogical Classics, 2004), das am 1. Mai 1951 in den WOR Studios (New York) aufgenommen wurde. Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 153 Autor Leser JAZZ MUSIK IST KURSIV / GESPROCHENE SPRACHE IST NICHT KURSIV (und in Klammern) Umkehrung der Metapher: KURSIVER TEXT IST JAZZ MUSIK POWELLS „PARISIAN THOROUGHFARE“ IST INADAS GEDICHT „BUD POWELL“ (außer der letzte Vers) Umkehrung der Metapher POWELLS IMPRESSIONISTISCHER STIL IST EINE SERIE VON IMPRESSIONEN (einer Person, die wahrscheinlich eine Straße in Paris entlang geht, siehe Untertitel) Umkehrung der Metapher EINE MELODISCHE IMPRESSION IST DIE AL- LITERATION EINES KONSONANTEN IN EI- NEM VERS (siehe unterstrichene Konsonanten) Umkehrung der Metapher DIE WIEDERHOLUNG VON NOTEN IST EINE WIEDERHOLUNG VON PHONEMEN (siehe Fettdruck) Umkehrung der Metapher Ansteigende / Abfallende Tonfolgen werden beschrieben (5. Vers; wörtliche Bedeutung: „rising and falling“) Wörtliche Bedeutung löst im Kontext von Musik eine Vorstellung des Auf und Ab der Melodie aus (insbesondere wenn der Leser das Stück kennt). Schnelleres Tempo wird durch „quickening“ angedeutet (6. Vers; wörtliche und figurative Bedeutung) Im Kontext von Musik löst das Wort „quickening“ die Vorstellung aus, dass hier das Tempo beschleunigt wird. „HAPPY“ IST UPBEAT MOOD („happy“ im letzten Vers) Umkehrung der Metapher Wie diese Analyse zeigt, ermöglicht die Annahme einer Autorintention die Sichtweise, dass das Gedicht Inadas zahlreiche intentionale Metaphern manifestiert und er eine höchst kreative Translation des Jazzstücks „Parisian Thoroughfare“ in ein Gedicht durchgeführt hat. Das Gedicht „Bud Powell“ als eine Imitation des Jazzstücks zu sehen greift meiner Meinung nach zu kurz und verhindert die Entdeckung der metaphorischen Dimension des Gedichtes. Eine metaphorische Sichtweise hingegen erlaubt dem Leser die Identifizierung der kognitiven Metaphern, die Umkehrung der erkannten Metaphern und, im Rahmen eines komplexen Zusammenspiels von Klang, wörtlicher und figurativer Bedeutung (wie auch Spekulationen und Konnotationen), die Schaffung eines imaginären Musikstücks. Dieser kreative Verstehenspro- Erik Redling 154 zess geht weit über ein Eins-zu-Eins-Verhältnis von Signifikant und Signifikat (wie etwa in Saussures Semiotik beschrieben) hinaus. So laden die kursiv gedruckten Zeilen den Leser ein, die Signifikanten nicht nur mit ihren denotativen Signifikaten, sondern gleichzeitig mit der imaginativ-figurativen Bedeutung (Musik) zu verknüpfen (KURSIVER TEXT IST JAZZ MUSIK). Überdies erlaubt die von Vers zu Vers unterschiedliche Alliteration eines Konsonanten (z.B. „b“ im 4. Vers, „c“ im 6. Vers, „w“ im 7. Vers und „p“ im 9. Vers; siehe oben), sie nicht nur als Onomatopoesie zu begreifen, sondern insbesondere auch als eine kreative Form, die einzelnen und in sich kohäsiven Vers-Impressionen voneinander abzugrenzen. Zudem ermöglicht der Jazzkontext, „rising and falling“, „quickening“, „propelling“ etc. als Musikbeschreibungen zu erkennen, die wiederum bei der Imaginierung des Stücks helfen. Diese kognitiven Verstehensprozesse bei der Produktion und ästhetischen Rezeption von Jazzgedichten involvieren nicht ein passives Subjekt, das nach Gadamer Verstehen „erleidet“, sondern sie bedingen ein aktives, intermedial übersetzendes Subjekt. Dies betrifft sowohl den Autor als auch den Leser. Zum Schluss soll noch gezeigt werden, wie die Idee von einer „intentionalen Metapher“ auch als eine Interpretationsmethode dienen kann, mittels derer der Interpret zwei unterschiedliche Texte bzw. einen Text und eine Theorie absichtlich in ein Korrespondenz-Verhältnis setzt. 5. Die Intention des Lesers: Die Intentionale Metapher als Methode Während der Fokus der Intentionalitäts-Debatte auf der Sprecherbzw. Autorintention lag, soll im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die Leserintention gerichtet werden. Das Ziel ist zu zeigen, dass ein Text mit Hilfe einer Intentionalen Metapher mit Bedeutung „angereichert“ werden kann. Als Quelldomäne für den Verstehensbzw. Übersetzungsprozess dient das Gedicht „Out of the Cradle Endlessly Rocking“ (1859) von Walt Whitman. Der Sprecher des Gedichts beschreibt rückblickend, wie er als kleiner Junge den Lauten eines Spottdrossel-Paars („mocking bird“) - den „Two feather’d guests from Alabama“ - lauscht und diese in Sprache übersetzt: „And every day I, a curious boy, never too close, never disturbing them, / Cautiously peering, absorbing, translating“ (Whitman 389; Hervorh. E.R.). Eines Tages kommt die weibliche Spottdrossel nicht mehr zurück und der Junge übersetzt den vermeintlich pathoserfüllten Gesang der männlichen Spottdrossel in menschliche Sprache. Weinend fragt der Junge das Meer nach dem einen Wort „superior to all“ und übersetzt das Geräusch der auslaufenden Wellen als Antwort auf seine Frage: „Death, death, death, death, death“ (Whitman 393). Dieses Wort, zusammen mit der Arie der männlichen Spottdrossel, sind - so der Sprecher - die Auslöser, dass er zum Dichter wurde. Als Zieldomäne der Übersetzung dient der Bereich Blues und Jazzlyrik, der getrennt von Whitmans Lyrik zu sehen ist. Whitman war ein Liebhaber der Oper, und Blues-Texte und insbesondere Jazzlyrik, die erst in den 1920er aufkam, waren ihm Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 155 sicherlich unbekannt. Nichtsdestotrotz kann der Interpret intentional und systematisch einige kognitiv-metaphorische Korrespondenzen zwischen den beiden Bereichen - Whitmans Gedicht und Jazzliteratur / Blues - schaffen: 1. Das Übersetzen des Vogelgesangs in gesprochene bzw. geschriebene Sprache korrespondiert mit der Übersetzung von Jazzmusik in das Schriftmedium (vergleichbar mit Lawson Fusao Inadas Gedicht „Bud Powell“). 2. Whitmans Kursivsetzung des „Spottdrossel-Gesangs“ korrespondiert mit der Kursivsetzung der Jazzmusik in Jazzgedichten (wie in Inadas Gedicht): And every day I, a curious boy, never too close, never disturbing them, Cautiously peering, absorbing, translating. Shine! shine! shine! Pour down your warmth, great sun! While we bask, we two together. (Whitman 389) 3. Die klagenden Oh-Ausrufe des übersetzten Vogelgesangs korrespondieren mit den klagenden Oh-Ausrufen, die häufig in Blues-Stücken vorkommen: 1. Oh-Ausrufe in Whitmans Gedicht: Shake out carols! Solitary here, the night's carols! Carols of lonesome love! death's carols! Carols under that lagging, yellow, waning moon! O under that moon where she droops almost down into the sea! O reckless despairing carols. (Whitman 391) 2. Oh-Ausrufe in „Standing Around Crying“ von Muddy Waters (i.e. McKinley Morganfield): 11 1. Strophe: Oh baby, look how you got me standin’ ’round crying. Oh baby, look how you got me standin’ ’round crying. Lord I love you little girl, you're always resting on my mind. Die bei der intentionalen Metapher entstehende Bedeutung ist weder im Gedicht („O under that moon ... / O reckless ...“) noch in den Blues-Lyrics („Oh, baby, ... / 11 Vgl. die erste Strophe von Muddy Waters Blues-Lied „Standing Around Crying“ (Fathers and Sons, Chess, 2001), das am 21. April 1969 in Chicago aufgenommen wurde. Erik Redling 156 Oh, baby, ...“) zu verorten, sondern sie liegt dazwischen und ist ein hybrides Konstrukt. Sie entsteht im Übergang von einem Text zum anderen, und zwar im Moment der Verknüpfung beider Bereiche. Um diese Eigenschaft von Bedeutung zu beschreiben, möchte ich den Begriff „transitiv“ (lat. transitus = Übergang) einführen. Bedeutung ist demnach eine transitive Energie, die während des Übersetzungsvorgangs entsteht. Die intentionale Metapher (als Methode) führt zur Schaffung bzw. zur „Anreicherung“ eines Textes mit Bedeutung und nicht etwa zur „Ent-deckung“ von Bedeutung, die sich „im“ Text befindet, wie die visuell-orientierten metaphorischen Ausdrücke „Bedeutungsebene“, „Bedeutungsschichten“ und „Inhalt des Textes“ suggerieren. 12 Was ich mit meinem Konzept der „Intentionalen Metapher“ bewirken möchte, ist eine Öffnung des Spektrums an Interpretationsmöglichkeiten, um - je nach Text - auch die Autorbzw. Leserintentionalität miteinzubeziehen. Dieses Spektrum wurde m. E. durch die theoretischen Diskussionen über „Autor“ und „Autorintention“ in der Postmoderne eingeschränkt, da der Autor insgesamt als Bezugspunkt für Interpretationen in Verruf geraten war. Bei bestimmten Werken sind die vorher genannten theoretischen Ansätze äußerst hilfreich: z.B. kann Gadamers Hermeneutik herangezogen werden, um philosophische Texte wie etwa sein Werk Wahrheit und Methode zu verstehen. Barthes’ Ansicht, dass der Leser den Text „entwirren“ müsse, ist hilfreich, wenn man z.B. die intertextuellen Bezüge und Sinnzusammenhänge in Thomas Pynchons Werken (etwa V.) entwirren will. In meinem Fall erwies sich jedoch die Annahme eines (impliziten) Autors, der bei der Übersetzung von Jazzmusik in das Schriftmedium diverse Intentionale Metaphern ausführt, als äußerst produktiv, um intermediale Jazzgedichte zu verstehen. So war es mir möglich, die Kreativität des Autors sowie die kreative Übersetzungsarbeit des Lesers hervorzuheben. Es ist vor diesem Hintergrund zu sehen, dass ich für die „Rückkehr des Subjekts“ in die Diskussion über Textinterpretation und Bedeutung plädiere. 12 Die intentionale Metapher als Methode (wie oben dargestellt) unterscheidet sich auch von der Vorgehensweise des „Gegen-den-Strich-Lesens“. Dieser oft verwendete und vage metaphorische Ausdruck impliziert ein „Mit-dem-Strich-Lesen“, gegen das sich der Leser wendet. Während beim „Mit-dem-Strich-Lesen“ der Leser mit dem Text (und ggf. mit dem Autor und dessen Intention) kooperiert und damit ein Prinzip erfüllt, das Paul Grice im Rahmen seiner Konversationsmaximen das „Cooperative Principle“ nennt, wird beim „Gegenden-Strich-Lesen“ diese Kooperation absichtlich missachtet. Grice nennt dies „flouting“ (vgl. Studies in the Way of Words). Im Gegensatz zum „Gegen-den-Strich-Lesen“ eines Textes steht bei der metaphorischen Methode die Verknüpfung von zwei unterschiedlichen Texten (oder auch eines Textes mit einer Theorie) im Vordergrund. Einerseits ermöglicht diese Methode die „Beleuchtung“ von bestimmten Aspekten eines Textes, aber andererseits entsteht dabei ein hybrides Konstrukt, denn der Text wird im Rahmen des Verstehensprozesses mit neuer Bedeutung „angereichert“. Konzepte von Intentionalität in Theorie und Literatur 157 Bibliographie Barthes, Roland. „Der Tod des Autors“. Übers. von Matias Martinez. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis et al. Stuttgart: Reclam, 2000. 185-93. Bublitz, Wolfram. Englische Pragmatik: Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt, 2001. Derrida, Jacques. Grammatologie. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. 6. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996. Foucault, Michel. „Was ist ein Autor? “ Übers. von Karin Hofer und Anneliese Botont. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis et al. Stuttgart: Reclam, 2000. 198-229. Gadamer, Hans-Georg. Wahrheit und Methode. 6. Auflage. 2 Bände. Tübingen: Mohr, 1990 [1960]. Gebauer, Gunter, und Christoph Wulf. Mimesis: Kunst - Kultur - Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt, 1992. Grice, H. Paul. Studies in the Way of Words. Cambridge, MA: Harvard UP, 1991. Grondin, Jean. Hermeneutik. Stuttgart: UTB, 2009. Inada, Lawson Fusao. „Bud Powell“. Legends from Camp. Minneapolis: Coffee House P, 1992. 83. Irwin, William. The Death and Resurrection of the Author. Westport, CT: Greenwood P, 2002. Iser, Wolfgang. Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Auflage. Stuttgart: UTB, 1994 [1976]. Jannidis, Fotis, et. al., Hrsg. Rückkehr des Autors: Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer, 1999. Körtner, Ulrich H. J. Einführung in die theologische Hermeneutik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006. Lakoff, George, und Mark Johnson. Metaphors We Live By. Chicago: U of Chicago P, 2003. Lakoff, George, und Mark Turner. More Than Cool Reason: A Field Guide to Poetic Metaphor. Chicago: U of Chicago P, 1989. Powell, Bud. „Parisian Thoroughfare“. Aufnahme vom 1. Mai 1951. Bud Powell: 1951-1953. Chronogical Classics, 2004. CD. Schleiermacher, Friedrich. Hermeneutik und Kritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977. ---. „Allgemeine Hermeneutik“. Internationaler Schleiermacher Kongreß, Berlin 1984. Hrsg. von Kurt-Victor Selge. Bd. 2. Berlin: de Gruyter, 1985. 1269-1310. Searle, John. Intentionality: An Essay in the Philosophy of the Mind. Cambridge: Cambridge UP, 1983. ---. „Literary Theory and Its Discontents“. New Literary History 25.3 (1994): 637-67. ---. Interview mit John Searle, geführt von Erik Redling, Berkeley, CA, 26. August 2009. Videoaufnahme im Besitz des Autors. ---. Speech Acts. Cambridge: Cambridge UP, 1969. Swift, Johnathan. „A Modest Proposal for Preventing the Children of Poor People from Being a Burthen“. A Modest Proposal and Other Satirical Works. New York: Dover, 1996. 52- 58. Tietz, Udo. Hans-Georg Gadamer zur Einführung. 2. Aufl. Hamburg: Junius, 2000. Waters, Muddy (i.e. McKinley Morganfield). „Standin’ Round Cryin’”. Aufnahme vom 21. April 1969. Fathers and Sons. Chess, 2001. CD. Whitman, Walt. „Out of the Cradle Endlessly Rocking“. Walt Whitman: Complete Poetry and Collected Prose. New York: Library of America, 1982. 388-94. Wimsatt, William K., und Monroe C. Beardsley. „The Intentional Fallacy“. On Literary Intention. Hrsg. von David Newton-De Molina. Edinburgh: Edinburgh UP, 1976. 1-13. Erik Redling 158 Wolf, Werner. The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality. Amsterdam: Rodopi, 1999. Zapf, Hubert. Kurze Geschichte der angloamerikanischen Literaturtheorie. 2. Auflage. München: Fink, 1996. Literatur als Kommunikation 1 Gerhard Plumpe Ich bedanke mich zunächst herzlich für die Einladung, an Ihrer Ringvorlesung über Theorien der Literatur mit einem eigenen Beitrag teilnehmen zu können. In der Beschreibung Ihrer Vorlesung gehen Sie von dem unbestreitbaren Eindruck aus, dass sowohl ‚Literatur‘ als auch ‚Literaturwissenschaft‘ Begriffe sind, die Sachverhalte von höchst diffuser Komplexität beschreiben. Wer wäre noch so waghalsig und sähe sich in der Lage, eine bündige Definition von ‚Literatur‘ zu geben? Wer traute sich noch wirklich zu, das Gemeinsame jener heterogenen Interessen zu erkennen, die hinter den Aktivitäten der universitären Literaturwissenschaft stehen? In der Beschreibung Ihrer Ringvorlesung setzen Sie auf die Kraft der Theorie: Theorien der Literaturwissenschaft sollen uns plausibel sagen, was für sie ‚Literatur‘ ist und wie man zu einem fruchtbaren Verständnis von ihr gelangen kann. Man muss allerdings befürchten, dass diese Theorien je ihr eigenes Bild von ‚Literatur‘ entwerfen, so dass sich die vorwissenschaftliche Intuition ‚der‘ Literatur in zahlreiche, unterschiedliche Konstruktionen von ihr auflöst. Ob diese von einer dritten Position aus noch ertragreich auf Gemeinsamkeiten hin beobachtet werden können, ist vor allem deshalb eine heikle Frage, weil diese Metaebene ja ihrerseits mit bestreitbaren Unterscheidungen operieren müsste. Vielleicht darf man ungeachtet solcher Schwierigkeiten davon ausgehen, dass Literaturwissenschaftler Experten darin sind, Texte zu verstehen. Und so wollte ich zunächst verstehen, was wohl der Grund meiner Einladung nach Augsburg gewesen sein mochte. Gewiss irgendeine Kompetenz für Literaturtheorie, die in meinen Schriften zum Ausdruck gekommen ist. Da ich einiges zur Systemtheorie publiziert habe, interpretiere ich die Einladung so, dass mit ihr die Erwartung verbunden ist, von mir eine Vorlesung zur systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft zu hören. Diese Erwartung (so sie denn tatsächlich besteht! ) möchte ich auch nicht 1 Der nachfolgende Text gibt fast unverändert den Wortlaut des Vortrags wieder, den ich am 23. Juni 2010 in Augsburg gehalten habe. Auf eine Umarbeitung wurde aus verschiedenen Gründen, vor allem aber auch deshalb verzichtet, um den Lesern einen Eindruck von den Möglichkeiten, aber auch den Schwierigkeiten zu vermitteln, komplexe theoretische Sachverhalte im akademischen Unterricht zu vermitteln. Die Universität, mindestens aber die universitären Geisteswissenschaften stehen gegenwärtig an einer Wegscheide: Entweder beugen sie sich den Verflachungsanmutungen, die die ausgerechnet unter dem Namen der ältesten europäischen Universität laufenden ‚Reformen‘ an sie stellen, oder sie bestehen kategorisch auf der Wissenschaftlichkeit akademischer Studiengänge, die intellektuelle Mühen verlangen. Um den Lesern aber die Möglichkeit zu geben, die literaturtheoretische Position des Verfassers über den engen Ausschnitt der vorgetragenen Überlegungen hinaus kennen zu lernen, werden in den Anmerkungen an passender Stelle einige weitere Aufsätze genannt. Gerhard Plumpe 160 enttäuschen. Gleichwohl will ich vorausschicken, dass meiner Auffassung nach die von Luhmann als soziologisches Generalparadigma entwickelte Systemtheorie keineswegs eine literaturwissenschaftliche Theorie ist, aus der eine Methodik ableitbar wäre, die man einfach ‚anwenden‘ könnte, um z.B. ein Gedicht Rilkes besser zu interpretieren. Nichts träfe weniger zu. Die Systemtheorie entwirft vielmehr eine Konzeption der modernen Gesellschaft - und nur insoweit Literatur dieser Gesellschaft angehört (vielleicht ein Teilsystem von ihr bildet), ist die Systemtheorie für sie grundsätzlich von Belang. Die Literaturwissenschaft kann nur im Horizont ihrer eigenen Gegenstandskonstruktion - ihres Begriffs von ‚Literatur‘ - Anregungen der Systemsoziologie aufnehmen und nach Maßgabe autologischer Konzep tualisierungen mitführen. Alles andere gliche hilflosen Theorieimporten, die die Substanzlosigkeit des eigenen Tuns am Ende doch nicht verdecken könnten. Nur eine theoretisch selbstbewusste, d.h. ihrer eigenen Theorietradition verbundene Literaturwissenschaft kann das Gespräch mit der Systemsoziologie (aber natürlich auch mit anderen sog. ‚Großtheorien‘ ihrer Umwelt) sinnvoll führen. 2 Bezugspunkt meiner folgenden Überlegungen ist der Text eines Vortrages von Niklas Luhmann aus dem Jahre 1996. Er trägt ebenfalls den Titel „Literatur als Kommunikation“. 3 Ich könnte es mir also einfach machen und diesen Vortrag Luhmanns referieren oder ausgiebig aus ihm zitieren. Dann hätten Sie alle aber gleich zuhause bleiben und den Vortrag in Ruhe lesen können. Es erwartet Sie heute also keine Luhmann-Exegese, sondern der Versuch, Literatur als Kommunikation zu verstehen und herauszustellen, welche Konsequenzen dieses Verständnis für eine Theorie der Literatur hat. Luhmanns Vortrag dient mir gewissermaßen nur als Sprungbrett. Dass ich in der Zeitspanne einer Vorlesung das Meiste nur andeuten kann und auf Belege und Zitate verzichten muss, wird Ihnen vorab einleuchten. Ist es aber nicht mehr als trivial, Literatur als Kommunikation zu bezeichnen? Auch Luhmann begann seinen Vortrag ja mit der Feststellung, dass dies niemanden überraschen könne. 4 Das lateinische Verbum ‚communicare‘ lässt sich als ‚mitteilen‘ verdeutschen, Kommunikation ist also Mitteilung, und dass Literatur (was immer sie ist) eine Mitteilung ist, wird niemand bestreiten wollen. Nur was teilt sie mit? Eine Information? Wir werden sehen. ‚Communicare‘ bedeutet im Lateinischen aber auch ‚(etwas) gemeinsam machen‘; Kommunikation ist daher insofern eine elementare soziale Tatsache, als die Mitteilung auch aufgenommen und in gewissem Sinn verstanden werden muss. Die Flaschenpost muss von irgendjemandem aus dem Meer aufgefischt werden, um kommunikativ in Erscheinung zu treten. Solange sie auf dem 2 Der Verf. bezieht sich hier vor allem auf die strukturalistische Tradition der Literaturwissenschaft, die seit ihren Anfängen im russischen Formalismus System- und Evolutionskonzepte verwandt hat. Nach der Hochzeit des Strukturalismus um 1970 ist diese Tradition infolge der Modegeschichte der Literaturwissenschaft leider abgerissen, ohne dass ihr Potential erschöpft gewesen wäre. Eine überzeugende Verbindung von Systemtheorie und Strukturalismus findet sich bei Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Opladen 1990. 3 Niklas Luhmann: „Literatur als Kommunikation.“ In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Frankfurt/ M. 2008, S. 372 ff. 4 Ebd., S. 372. - Literatur als Kommunikation 161 Ozean treibt, ist sie nichts als ein Hohlgefäß aus Glas, das einen Zettel birgt, auf dem Zeichen stehen, die keiner liest. Im Blick auf Literatur lässt sich entsprechend behaupten, dass nur die Lektüre sie zu einem kommunikativen Ereignis und damit zu einem sozialen Faktum macht. Man könnte sich ja vorstellen, dass Goethe sein allerschönstes Gedicht unter den Dielen seines Hauses am Frauenplan so gut versteckt hat, dass es bis heute nicht gefunden wurde. Seit 200 Jahren schlummert es dort. Wiewohl es zweifellos (in unserer Fiktion) materiell existiert, kommunikativ ist es inexistent. Noch eindeutiger wäre der Fall, wenn Goethe sich entschlossen hätte, sein allerschönstes Gedicht gar nicht erst niederzuschreiben, sondern aus Bosheit für sich zu behalten und allenfalls ohne Zeugen, die es ja hören und aufschreiben könnten, des Nachts vor sich hinzumurmeln. Aus der zweifellos trivialen Feststellung, Literatur sei Kommunikation, leiten wir also immerhin die Einsicht ab, dass sie weder als materielles Objekt (das Gedicht im Geheimfach) noch als Gedanke (das Gedicht im Kopf), sondern allein im Vorgang der Rezeption zu einem sozialen Sachverhalt und damit zugleich zu einem möglichen Gegenstand der Literaturwissenschaft wird. Der Text des Autors braucht einen Leser, um die literarische Szene zu öffnen. I. Ich möchte nun zuerst den Begriff der Kommunikation selbst erläutern. Aus sprachwissenschaftlichen Einführungskursen oder noch aus der Schule wird Ihnen jenes Konzept vertraut sein, dass Kommunikation als Übertragung einer Botschaft von einem Sender durch einen Kanal zu einem Empfänger modelliert. Dieses Modell ist nicht schlechtweg falsch, auch wenn es Missverständnisse birgt, denn die Botschaft wird ja nicht in der Art vom Sender auf den Empfänger übertragen, dass sie ersterem anschließend so fehlt, wie mir das Geld nach einer Banküberweisung. Das Modell ist ganz augenscheinlich überdies sehr interaktionsnah gedacht und deshalb weniger geeignet, komplexen gesellschaftlichen Sachverhalten zu entsprechen. Aus diesem Grunde hat Luhmann Kommunikation, die für ihn das elementare soziale Ereignis ist, in sehr generalisierter Weise als Einheit einer dreistelligen Selektion begriffen. 5 Die hier zum Zuge kommenden Begriffe erwähnte ich schon. Sie sind ‚Mitteilung‘, ‚Information‘ und ‚Verstehen‘. Eine Kommunikation ist also auf jeden Fall mehr als nur eine Mitteilung. Das leuchtet uns ein, wenn wir uns etwa vorstellen, einen Brief in einer uns unverständlichen Geheimsprache zu empfangen. Offenbar sollte uns eine Mitteilung erreichen. Das ist unzweifelhaft. ‚Schrift auf Papier‘ ist ein sicherer Mitteilungsindikator. Viel sicherer als etwa sog. ‚körpersprachliche‘ Signale - das Hochziehen der Augenbrauen, das Stirnrunzeln usw. -, die man gern als Mitteilung versteht, ohne dass sie entfernt so intendiert waren. Wenn der in Geheimschrift abgefasste Brief also unzweifelhaft eine Mitteilung ist, bleibt er doch solange kein kommunikatives Ereignis, bis wir seinen Code geknackt haben und ihn lesen können. Bis dahin teilt er uns keine Information mit. Daraus ersehen wir, dass Mitteilung 5 Ebd., S. 374. Gerhard Plumpe 162 und Information nicht dasselbe sind. Mitteilungen können ohne Informationswert sein (wie unser Brief), Informationen müssen keinen Mitteilungscharakter haben (wie etwa der Stand der Sonne am Himmel uns zwar über die Tageszeit informiert, zweifellos aber keine Mitteilung ist, zumindest solange nicht, als wir keine metaphysischen Spekulationen anstellen). Anzumerken ist zweitens noch Folgendes: Mitteilung und Information sind selektiv, weil sie stets auch anders möglich, d.h. kontingent sind. Informationen können auf verschiedene Weisen mitgeteilt werden (mündlich, schriftlich, körpersprachlich, mit Rauchzeichen, am Telefon oder im Internet, d.h. das Medium ist austauschbar); Informationen ihrerseits sind stets Resultat einer Wahl im Hinblick auf all das, was informativ sein könnte, sie operieren im Medium des Sinns und setzen die Differenz von aktualisierter Sinnofferte (d.h. einer konkreten Information) und latentem Sinn (d.h. allem, was sonst noch der Fall sein kann) voraus. Nun kommt aber entscheidend hinzu, dass der Unterschied von Mitteilung und Information verstanden werden muss. Erst im Verstehen stellt sich Kommunikation her. Der Begriff des Verstehens ist in der deutschen philosophischen Tradition mit zahlreichen problematischen Hypothesen belastet, die für uns hier keine Rolle spielen. Auf richtiges oder gutes Verstehen kommt es nicht an. Wenn Mitteilung und Information unterschieden werden und eine Anschlusskommunikation erfolgt, hat das Verstehen seine Pflicht erfüllt. Man sieht: Auch die Position des Verstehens verfährt selektiv; eine Kommunikationsofferte lässt sich höchst unterschiedlich verstehen; die Mitteilung der Information, „das Fenster stehe offen“, kann ich so oder so verstehen, ich kann es schließen, die Stirn runzeln oder den Sender dieser Botschaft durch dasselbe hinaus werfen. Fügen wir noch hinzu, dass der kommunikative Aspekt der Mitteilung die Selbstreferenz der Kommunikation markiert (die mediale Materialität ihrer Zeichen, wenn man so will), während der kommunikative Aspekt der Information die Fremdreferenz enthält, weil er sich (in der Regel) auf die Umwelt der Kommunikation bezieht („Es regnet“). Ich schließe diese Begriffserläuterung mit dem Hinweis ab, dass die Unterscheidung von Mitteilung und Information eine interessante Parallele in der Differenz der linguistischen Kategorien ‚Äußerung‘ (énonciation) und ‚Aussage‘ (énoncé) findet, die eine Grundlage der Diskursanalyse Michel Foucaults ist. 6 Kommunikation setzt ein Medium voraus. 7 Ohne Zuhilfenahme von Medien, also Materialitäten, mögen allenfalls Götter miteinander ‚kommunizieren‘. Auch dieser Sachverhalt ist einerseits trivial, zieht aber andererseits bemerkenswerte Konsequenzen nach sich. Ich muss mich an dieser Stelle mit wenigen, unverzichtbaren Anmerkungen zufrieden geben. Medien sind technische Einrichtungen zur Speicherung und Übertragung von Daten. Daten sind formatierte Informationen. Was nun literarische Kommunikation betrifft, so kennt sie in ihrer Geschichte das Gedächtnis, die Handschrift, den Druck sowie EDV und ihre Vernetzung im WWW als Medien. Wobei die Bezeichnung des Gedächtnisses als Medium literarischer Kommunikation im Kontext oraler Kulturen paradox, ja falsch ist, weil das Wort ‚Litteratura‘ im Lateini- 6 Vgl. Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt/ M. 2002. 7 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt/ M. 1997, S. 190 ff. Literatur als Kommunikation 163 schen ‚Buchstabenschrift‘ bedeutet. Schreiben und Sprechen sind aber vollkommen verschiedene kommunikative Strategien. Eigentlich ist es unzulässig den Begriff ‚Sprache‘ als Oberbegriff für Sprechen und Schreiben zu verwenden, wie es unsere akademische Tradition nahelegt. Friedrich Nietzsche hat in seiner Vorlesung über die „Geschichte der griechischen Literatur“ (Wintersemester 1874/ 75 in Basel) folgendes dazu gesagt: „Das Wort ‚Literatur‘ ist bedenklich und unterhält ein Vorurteil. […] Es ist der Fehler der Literaturgeschichte, zuerst an das Schriftenthum eines Volkes und nicht an das kunstmäßige Sprachthum zu denken. […] Nun sollte man aber gerade von dem werthvollsten Theile der griech. Litt. den Gedanken an Schreiben und Lesen möglichst fern halten […] Der Unterschied ist außerordentlich, ob etwas, z.B. ein Drama, für Leser oder für Hörer und Schauer bestimmt ist und ob die gesamten Künstler der Sprache […] eben nur an Hörer und Schauer bei der Conception des Kunstwerks denken […].“ Nietzsche scheut sich nicht, von „Entartung“ zu sprechen, „wenn eine ganze Litteratur Leselitteratur geworden ist“. 8 Mündliche literarische Kommunikation‘ gibt es daher streng genommen nicht. Die Medien (vom Gedächtnis bis zu den digitalen Datenspeichern) konditionieren den Spielraum dessen, was in ihnen an Kommunikation möglich ist, in ganz elementarer Art und Weise. Steht Schrift nicht zur Verfügung, existieren Erzählungen oder Gesänge als ‚Daten‘ einzig im Gedächtnis ihrer Rezitatoren und Sänger, die sie aus der Interaktion mit ihren Zuhörern immer neu und immer anders entstehen lassen. ‚Werke‘ mit festen Grenzen und definitiven Strukturen sind solche präsentischen Sprechereignisse nicht. Daran ändert zunächst auch das Aufkommen der Handschrift wenig, da diese ein knappes Gut ist, das nur wenigen Experten zur Verfügung steht und zur Aufzeichnung der wichtigsten Daten reserviert bleibt. Das wiederholte Abschreiben wichtiger Texte (etwa im Kontext religiöser Andachtsübungen) kennt keine identischen, sondern nur ähnliche Reproduktionen. Literatur als Schriftdokument gibt es zwar, ihre soziale Realität ist aber noch immer von Mündlichkeit bestimmt. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks und im Gefolge seiner technischen Verbesserungen sind die materiellen Voraussetzungen von Literatur in dem uns vertrauten Sinne ihrer ‚Buchform‘ geschaffen. 9 Das Buch formt mithilfe paratextueller Signale den in ihm gedruckten Text allererst zum Werk, das sich durch markante Grenzen definiert, zwischen denen Raum für komplexe Strukturbildungen ist, die sich im aufmerksamen ‚literarischen‘ Lesen in ihrer ästhetischen Bedeutung erschließen. Ich behaupte damit, dass erst die Buchform der Literatur die anspruchsvolle Vorstellung des ‚Werks‘ hat möglich werden lassen. Indem der Buchdruck die literarische Kommunikation zudem von den Restriktionen der Interaktion entbindet und aus dem momentanen Ereignis des Vortrags eine Sinnofferte werden lässt, die von Raum- und Zeitbindung frei wird, ist zudem die Voraussetzung für literarische Evolution gegeben, die jederzeit auf das gesamte Archiv der Schriften zurückgreifen und sich aus ihm so inspirieren lassen kann, wie der Sänger durch die Muse der Erinnerung (d.h. die Kraft seines Gedächtnisses). Die moderne digitale 8 Friedrich Nietzsche: „Geschichte der griechischen Literatur.“ In: KGW II, Bd. 5, S. 7. 9 Vgl. Thomas Eder/ Samo Kobenter/ Peter Plener (Hg.): Seitenweise. Was das Buch ist. Wien 2010. Gerhard Plumpe 164 Datenspeicherung scheint die Möglichkeiten des Drucks zunächst nur ungeheuer zu potenzieren. Speichern lässt sich die gesamte überlieferte Literatur zur virtuellen Verfügbarkeit. In der Regel allerdings tritt sie uns am Bildschirm nicht in Buchform als Werk, sondern in nackter Textgestalt vor Augen, ihrer Paratexte entkleidet. Entscheidender aber ist, dass die vernetzten Computer nicht nur zur Speicherung herkömmlicher Texte, sondern auch zur Produktion neuartiger literarischer Phänomene genutzt werden, die mit Buchform und Werkästhetik (manche glauben sogar, mit dem Autor als Urheber) nichts mehr zu tun haben, weil sie als komplex verlinkte Datenmassen nicht mehr die Möglichkeit geben, ihre Grenzen sinnfällig zu erleben. Ein Vergleich kann das Gemeinte verdeutlichen: Der Brockhaus mag in Buchform 24 Bände umfassen, gleichwohl ist er als Ganzes anschaulich im Bücherregal gegenwärtig. Von der Datenmasse, die Wikipedia virtuell enthält, lässt sich hingegen keine Vorstellung gewinnen. Im Falle dieser EDV-Form der Literatur zerfransen die Grenzen dessen, was in ihnen kommuniziert werden kann in ähnlicher, wenn auch ungleich potenzierter Weise, wie im Startmedium, dem Gedächtnis. II. Meine folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die Buchform, weil sie unsere Vorstellungen von dem, was Literatur ist, entscheidend geprägt hat. Aus dem gerade Gesagten geht aber hervor, dass die Buchform nur eine, wenn auch eine auf maßstabbildende Weise literarischer Kommunikation ist. Diese Relativierung wollen wir bei den nun folgenden Überlegungen nicht vergessen. In der Buchform sehen wir die mediale Voraussetzung moderner literarischer Kommunikation. Damit diese möglich wird, bedarf es allerdings noch einer weiteren elementaren sozialen Errungenschaft. Diese besteht in der Ausdifferenzierung einer speziellen Konvention, die die literarische Kommunikation regelt. Um plausibel zu machen, was damit gemeint ist, bedarf es eines kurzen wissenschaftsgeschichtlichen Rückblicks auf das Literaturverständnis unseres Faches. In der Tradition des Formalismus und des Strukturalismus bestand lange die Hoffnung, Literatur gegenstandsbezogen aus bestimmten unverwechselbaren Texteigenschaften zu definieren. Diese Hoffnung gipfelte in Roman Jakobsons Überzeugung, ein objektives empirisches Kriterium für das Vorliegen der sog. poetischen Sprachfunktion ausfindig gemacht zu haben; ich meine sein berühmtes Gesetz der Projektion „des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“. 10 Kurz gesagt meinte Jakobson damit jenes Maß Aufmerksamkeit weckender Rekurrenzen, das einem literarischen Text auf allen seinen Ebenen vom Klang zum Sinn hohe Verdichtung sichert. Dominiere diese Funktion sämtliche anderen Sprachfunktionen, dann habe man unzweifelhaft einen literarischen Text vor sich. Ungeachtet der Schwierigkeit, diese Definition über den Bereich der Lyrik hinaus etwa an Romanen wirklich plausibel machen zu können, drängt sich ein ganz anderes Problem in den Vordergrund. Gegeben sei ein 10 Roman Jakobson: „Linguistik und Poetik.“ In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. II/ 1. Frankfurt/ M. 1971, S. 142-178, hier S. 142 ff. Literatur als Kommunikation 165 Text, der Jakobsons Gesetz aufs Schönste umgesetzt hat. Denken wir etwa an ein Gedicht von Mallarmé, George oder Benn. Können wir nun annehmen, dass solche Texte die Art ihrer Kommunikation, d.h. ihrer sozialen Seinsweise determinieren, weil in ihnen die poetische Funktion dominiert? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Es ist ja durchaus möglich, ja nicht einmal unwahrscheinlich, daß Mallarmés Gedichte konsequent ignoriert, Georges Lyrik auf autobiographische ‚Stellen‘ durchgesehen und Benns Verse als ‚reaktionär‘ beargwöhnt werden. Jedem von uns werden überdies wohl auf Anhieb Beispiele einfallen, die evident werden lassen, dass Texte die Weise ihrer Kommunikation nicht erzwingen können. Der britische Autor Salman Rushdie schrieb etwa 1988 unter dem Titel Satanische Verse bekanntlich einen ebenso artifiziellen wie zweifellos fiktiven Roman, der einige Details aus dem Leben des Propheten Mohammed fingiert, die der Überlieferung des Korans widersprechen. Auch wenn Rushdie die ‚poetische Funktion‘ in seinem Roman respektiert sehen wollte, so hinderte dies bekanntlich den Ayatollah Chomeini seinerzeit nicht daran, den Autor in einer Fatwa zum Tode zu verurteilen. 11 Offenbar war der Ayatollah nicht der Meinung, dass irgendwelche literarischen Qualitäten einen Roman davor schützen könnten, auf blasphemische Stellen durchgesehen zu werden, die seinem Verfasser den Kopf kosten. Kurzum: Dieses besonders drastische, aber auch weniger spektakuläre Beispiele machen die Einsicht unabweisbar, dass die soziale Wirklichkeit literarischer Kommunikation weniger von ‚objektiven‘ Textmerkmalen abhängt als von der Existenz respektierter Konventionen, die jene Textqualitäten erst zur Entfaltung kommen lassen. Im Rückgriff auf Überlegungen des russischen Literaturwissenschaftlers Jurij Lotman und seines französischen Kollegen Gerard Genette wollen wir die literarische Kommunikationskonvention durch den Begriff des ‚Fiktionalen‘ kennzeichnen, der mit ‚Fiktivität‘ als Texteigenschaft nicht verwechselt werden darf. Literarische Texte sind ‚fiktiv‘ oder ‚nichtfiktiv‘, sie können in ‚fiktionalen‘ oder ‚faktualen‘ Situationen kommuniziert werden. 12 Der Ayatollah Chomeini hat gemäß diesen Unterscheidungen einen fiktiven Text (einen Roman) in einer nichtfiktionalen Situation, d.h. außerhalb literarischer Kommunikationskonventionen zur Kenntnis genommen und entsprechend religiöser oder juristischer Kriterien beurteilt. Die Tatsache, dass die ehemalige Freundin des Schriftstellers Maxim Biller gegen dessen Roman Esra vor Gericht zog, weil sie sich in ihren Persönlichkeitsrechten durch die Darstellung einer weiblichen Figur dieses Romans, in der sie sich wiederzuerkennen glaubte, gekränkt sah, zeigt, dass nicht nur im Iran Romane literarische Kommunikationskonventionen keineswegs automatisch vom Himmel fallen lassen. Billers Exfreundin sah sich in einer faktualen Situation, las den Roman wie einen Tatsachenbericht und fühlte sich so verletzt, dass ein anständiges Schmerzensgeld fällig sei. 13 11 Vgl. Verf.: „Globale Konflikte. Anmerkungen zur Rushdie-Affaire.“ In: Regina Göckede/ Alexandra Karentzos (Hg.): Der Orient - Die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur. Bielefeld 2006, S. 67 ff. 12 Vgl. die Darstellung bei Matias Martinez/ Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Aufl. München 2003. 13 Vgl. SPIEGELonline. 24. 11. 2009. Gerhard Plumpe 166 Vor dem Hintergrund der Buchform literarischer Kommunikation hat sich also, das ist unsere These, in (West-)Europa im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine speziell auf Literatur zugeschnittene Kommunikationskonvention ausgebildet, die das mediale Potential der Buchform allererst entfesseln konnte. Diesen Sachverhalt hat man oft als ‚Autonomie‘ bezeichnet. Man glaubte feststellen zu können, dass Literatur nicht länger von Instanzen wie Politik, Moral oder Religion gesteuert werde, sondern sich ‚ihr Gesetz selbst gebe‘. Nach unseren bisherigen Überlegungen sehen Sie sofort ein, dass diese Vorstellung in die Irre führt. Ein Roman wie Goethes Die Leiden des jungen Werther mag sich ‚sein Gesetz selbst gegeben‘ und vom seinem Autor auch so gemeint gewesen sein; das hinderte bekanntlich kirchliche und staatliche Autoritäten nicht daran, den Roman zu verdammen und sein Verbot zu fordern. ‚Autonomie‘ kann also sinnvoller Weise nur meinen, dass die Gesellschaft Kommunikationskonventionen differenziert und dann akzeptieren lernt, dass ein Roman in ganz verschiedenen Situationen und Arenen zu einem kommunikativen Faktum werden kann. 14 So argumentierte auch Immanuel Kant, der mit seinem kritischen, d.h. unterscheidenden philosophischen Projekt ja vor allem auf die Differenzierung wissenschaftlicher, ethischer und ästhetischer Argumentationsweisen abzielte. Er begründete damit die Möglichkeit gegeneinander strikt abgrenzbarer Kommunikationskonventionen, die der modernen Gesellschaft ein hohes Maß kommunikativer Komplexität eröffnete. Denn nach Kant muss es möglich sein, dass ich etwa ein Artefakt moralisch verdamme und gleichzeitig als „ästhetisches Objekt“ 15 in höchstem Maße wertschätze. Es entspräche also dem Stil der modernen Gesellschaft, differenzlogisch zu denken und einen Roman etwa literarisch für irrelevant, politisch aber für empfehlenswert zu halten. Dem Geist der Moderne widerspräche lediglich eine feste Kopplung der Präferenzen, wie sie etwa in dem mitunter zu hörendem Urteil durchscheint, dass keine bedeutende faschistische Literatur existiere (oder nicht existieren dürfe? ). 16 Bemerkenswerter Weise war es Brecht, der diese Differenz der Kriterien ausdrücklich respektierte, als er 1955 in der DDR seine Haltung zu Paul Claudel - einem aus der Sicht der sozialistischen Kulturpolitik ausgesprochen ‚reaktionären‘ katholischen Dramatiker folgendermaßen charakterisierte: „Es gibt doch […] sozial gefährliche Künste. […] Ich kann doch nicht sagen […], daß Paul Claudel ganz einfach kein Künstler ist. Das ist natürlich ein großer Künstler. Ich bin auch gegen seine Kunst, […] ich bin dafür, sie zu unterdrücken […]. Aber damit unterdrücke ich große Kunst. […] Sonst müssen wir sagen: Ja, das ist eben keine Kunst, deswegen dürfen wir sie auch unterdrücken. Nein, wir dürfen sie auch unterdrücken, wenn es Kunst ist.“ 17 14 Vgl. Verf.: „Ausdifferenzierung.“ In: Niels Werber (Hg.): Handbuch Systemtheorie. Berlin 2011. 15 Im Sinne der Unterscheidung von Jan Muka ovský: Die Kunst als semiologisches Faktum. Frankfurt/ M. 1970, S. 138 ff. 16 Vgl. Astrid Arndt: Ungeheure Größen: Malaparte - Céline - Benn. Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik. Tübingen 2005. 17 Wener Hecht (Hrsg.): Brecht im Gespräch. Frankfurt/ M. 1975, S. 147. Literatur als Kommunikation 167 III. Im Folgenden wird es darum gehen, mein Konzept von Literatur als Kommunikation dadurch präziser zu fassen, dass ich Luhmanns allgemeinen Begriff der Kommunikation (als Einheit der Differenz von Mitteilung, Information und Verstehen) mit der Idee einer speziell auf Literatur zugeschnittenen Konvention in Verbindung bringe, von der ich gerade behauptet hatte, dass sie eine evolutionäre Errungenschaft des 18. Jahrhunderts sei, die sich dann gegen viele Widerstände ihrer Umwelt mehr oder weniger erfolgreich durchgesetzt hat. Man kann diese Konvention etwa folgendermaßen ausdrücken: Als Leser eines literarischen Textes gilt mein wesentliches Interesse nicht der Frage, ob dieser Text sich auf die mir gegebene (oder eine geschichtlich vergangene) Wirklichkeit bezieht und sie etwa zutreffend oder nicht zutreffend darstellt. Er hat vielmehr jede Freiheit, seine eigenen Realitäten zu fingieren. Und selbst wenn er meine Wirklichkeit ‚realistisch‘ wiedergibt, interessiert er mich nicht als Dokumentation von ihr. Da der Text für mich keinen Wahrheitswert hat, interessiert mich auch die Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit seines Autors nicht. Sie haben gehört, dass diese Formulierung fast nur aus Negationen besteht. Sie negiert die Konvention faktualer Kommunikationssituationen, in denen ich für gewöhnlich Texte auf Realitäten beziehe und mich frage, ob ihre Behauptungen wahr oder unwahr sind; sind sie letzteres, interessiert mich zumeist auch, ob ihr Autor sie wissentlich oder unwissentlich vorgebracht hat; man kann ja bekanntlich wahrhaftig sein und dennoch Falsches behaupten; erst wenn man dies unwahrhaftig tut, ist man ein Lügner. Aus der Negierung der Konventionen für faktuale Kommunikation ergibt sich nun aber Raum für die positive Bestimmung der literarischen Kommunikation und ihrer Konvention. Ist sie gegeben, dann wandelt sich das Verständnis der Differenz von Mitteilung und Information eines literarischen Kommunikationsangebots, z.B. eines Gedichts oder einer Erzählung. Als ich Luhmanns Kommunikationsbegriff erläuterte, wies ich darauf hin, dass der Aspekt der Information in der Regel die Fremdreferenz der Kommunikation bezeichnet. In der Regel! Wenn wir in der Tageszeitung von einem Autounfall oder einem Terroranschlag lesen, dann meinen wir uns über ein jenseits der Buchstaben auf dem Papier der Zeitungsseite vorgefallenes Ereignis informiert zu haben. Hier die Kette der Buchstaben - dort der Unfall oder der Anschlag! So kann man natürlich auch literarische Texte lesen (in einer faktualen Kommunikationssituation wie Billers gekränkte Ex-Feundin). Unter der Herrschaft der literarischen Konvention ist es aber anders: Hier bezieht sich der selektive Aspekt der Information nicht auf die kommunikationsexterne Umwelt (die ‚Wirklichkeit‘), sondern auf den Aspekt der Mitteilung. In der fiktionalen Kommunikationssituation informiert mich ein Gedicht wie Goethes Marienbader Elegie oder eine Erzählung wie Kleists Die Verlobung in Santo Domingo nicht über die Wirklichkeit (den Liebeskummer des alten Goethe oder die Lage der Sklaven auf der Insel Hispaniola zu Beginn des 19. Jahrhunderts); diese Texte informieren mich über die Form ihrer Mitteilung, d.h. über die sprachliche Struktur in ihrer optisch - akustischen Doppel- Gerhard Plumpe 168 gestalt, in der sie ihre Realitäten konstruieren. Die Fiktivität des literarischen Textes kommt also erst dann zur Geltung, wenn mich die fiktionale Kommunikationssituation dazu veranlasst, Informationen über die Form seines Mitgeteiltseins interessanter zu finden als Bezüge auf die Wirklichkeit. Während ich im Falle der pragmatischen Zeitungslektüre gewissermaßen geneigt bin, die bedruckten Seiten der Zeitung für ein transparentes Glas zu halten, durch das hindurch ich die Wirklichkeit zu erblicken meine (und allenfalls ‚Lüge‘ oder ‚Fälschung‘ rufe, wenn ich den Behauptungen der Zeitung keinen Glauben schenke), bleibt mein Blick in der literarischen Kommunikationssituation von der Materialität der Schrift gefangen, die nun kein durchsichtiges Glas, sondern ein Medium eigener, artifizieller Struktur ist. Ich interessiere mich für die Form der Darstellung, die freilich stets Darstellung des Dargestellten ist, weshalb die hier umrissene Position kein bloßer ‚Formalismus‘ ist, den man ja gern kritisiert. In vergleichbarer Perspektive hatte bereits Viktor Sklovskij von dem Verfahren der Kunst gesprochen, den literarischen Wahrnehmungsprozess durch eine „verfremdende“ Darstellung zum „Selbstzweck“ zu machen. 18 In literarischer Perspektive wären der Autounfall oder der Terroranschlag Ereignisse, deren Darstellungsweisen mein Interesse als Leser beansprucht. Nichts anderes hatte Roman Jakobson im Sinn, als er von der ‚poetischen Funktion‘ sprach, die sich auf das sprachliche Gegebensein der ‚Message‘ selbst bezieht. 19 Sie kann ihr Potential aber nur entfesseln, wenn die Gesellschaft literarische Kommunikationskonventionen ausdifferenziert und zur Verfügung gestellt hat. An diesem Punkt lassen sich die Ressourcen der strukturalistischen Poetik sinnvoll und ertragreich mit dem Theorieangebot der systemsoziologischen Forschung verknüpfen. IV. Ein abschließender Gedanke sei noch erlaubt. „Literatur als Kommunikation“, so lautet der Titel dieser Vorlesung. Es bleibt eine Zweideutigkeit. Geht es um Kommunikation über Literatur oder um Kommunikation durch Literatur? Der Unterschied ist beträchtlich. Kommunikation über Literatur findet allerorten statt: vor Gericht, wenn Billers Ex-Freundin ihre Persönlichkeitsrechte einklagt, im Feuilleton der Zeitung, wenn belletristische Neuerscheinungen besprochen werden, in der Universität, wenn Vorlesungen über „Literatur als Kommunikation“ angeboten werden, in der Cafeteria, wenn man über seine Eindrücke aus Anlass der Lektüre eines neuen Romans plaudert usw. Das alles ist Kommunikation aus Anlass oder über Literatur und kann unser Fach, die Literaturwissenschaft, durchaus interessieren. Sie bedarf dann allerdings einer polykontexturalen Ausrichtung, was soviel besagen will, als dass sie im Blick haben muss, dass die kommunikativen Kontexte solcher Thematisierungen ganz verschiedenen Referenzen unterliegen, juristischen, massenmedialen, wissenschaftlichen, alltäglich-interaktionistischen usw., die alle ihre spezifischen Codierun- 18 Vgl. Viktor Sklovskij: „Die Kunst als Verfahren.“ In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. München 1971, S. 3 ff. 19 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. a.a.O. Literatur als Kommunikation 169 gen haben und Literatur auf ganz verschiedene Weise zum Gegenstand machen. 20 Die Beachtung dieser verschiedenen Systemadressen verlangt von der Literaturwissenschaft allerdings auf ernsthafte Weise jene ‚Interdisziplinarität‘, die durch allzu häufige Aufrufung zu einer abgenützten Münze geworden ist. Etwas anderes ist Kommunikation durch Literatur. Mit dieser Formulierung wird behauptet, dass ein literarisches Werk (das auf das Verstehen seiner spezifischen Handhabung der Differenz von Mitteilung und Information abzielt) durch ein anderes literarisches Werk verstanden und literarische Kommunikation so begründet wird. Werke verstehen Werke, indem sie deren Form dekonstruieren und in eine neue Formung überführen. Die Art und Weise dieses kommunikativen Bezuges von Werken auf Werke regulieren z.B. Gattungs-, Epochen- oder Stilkonventionen, die seit dem 18. Jahrhundert freilich nicht mehr als externe Programme, sondern als Selbstprogrammierungen der Kommunikation durch Literatur zur Geltung kommen. 21 Dass es Werke sind, die Werke verstehen und auf diese Weise literarische Evolution möglich machen, ist ein Gedanke gewesen, der im Theoriekontext des russischen Formalismus bereits erörtert wurde. Ein Literaturwissenschaftler wie Jurij Tynjanov sprach explizit von „Evolution“ und nicht von „Geschichte“ der Literatur, weil er jeder essentialistischen Konzeption von ihr zugunsten evolutionsbiologischer Modelle eine Absage erteilte. 22 Luhmann hat die hier ausschlaggebenden Begriffe (Variation, Selektion, Restabilisierung) ebenfalls aufgegriffen, um ein nichtgeschichtsphilosophisches Modell der Zeitlichkeit moderner Gesellschaften denken zu können. 23 Probleme und Perspektiven der Systemtheorie als Evolutionstheorie lasse ich hier beiseite. Sie verlangten ausführliche Diskussionen. 24 Mir geht es abschließend um einige Hinweise auf die Möglichkeit, das Evolutionskonzept für die Literatur fruchtbar zu machen. 25 Dabei sollen unsere Bemerkungen zur Medienkommunikation der Literatur und zur Ausdifferenzierung spezifischer Kommunikationskonventionen so ineinandergreifen, dass sie auf der Ebene des Werkes und des Werkverstehens durch Werke signifikant werden. Das Werk definiere ich im Sinne Luhmanns als Einheit der Differenz von Medium und Form. 26 Gemeint ist damit, dass sich das Werk als Form nur vor dem Hintergrund hier ‚Medium‘ genannter alternativer Formentscheidungen gesehen werden kann, die auch möglich waren, aber nicht genutzt wurden. Das Werk realisiert sich als Prozess aneinander anschlie- 20 Vgl. Verf./ Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Opladen 1995. 21 Vgl. Verf.: „Grenzen der Kommunikation? Über das Verstehen der Literatur aus systemtheoretischer Sicht.“ In: Gudrun Kühne-Bertram/ Gunter Scholtz (Hg.): Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen 2002, S. 257 ff. 22 Jurij Tynjanov: „Über literarische Evolution.“ In: Jurij Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution der Literatur. Frankfurt/ M. 1967, S. 37-60, hier S. 37 ff. 23 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2, a.a.O., S. 413 ff. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Verf.: „Evolution des Literatursystems.“ In: Harald Hillgärtner/ Thomas Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik. Bielefeld 2003, S. 167 ff. 26 Vgl. Niklas Luhmann: „Das Medium der Kunst.“ In: Schriften zu Kunst und Literatur, a.a.O., S. 123 ff. Gerhard Plumpe 170 ßender Operationen, die das je noch Mögliche Zug um Zug verringern, um auf diese Weise interne Komplexität aufzubauen. Das geht solange, bis keine weitere Operation mehr möglich ist (oder scheint), das Werk sich also selbst schließt. Diese Schließung komplexer Formentscheidungen als Werk kann nun von einem anderen Werk verstanden, und d.h. entweder reproduziert oder variiert werden. Ob der Modus des Anschlusses eher als (identische) Reproduktion oder als innovationsorientierte Variation zur Geltung kommt, hängt ganz offenbar von medienhistorischen Voraussetzungen und soziostrukturellen Bedingungen ab. Es dürfte plausibel sein, dass sowohl die Gedächtniswie die Handschriftform der Literatur rein technisch gesehen den Modus (fast) identischer Reproduktion forderten, der freilich stets Varianten mitlieferte (beim Erzählen oder Abschreiben), die in der Regel zwar unbeachtet blieben, dennoch aber eine Prämisse für Evolution bildeten. Der Buchdruck lieferte dann die technische Prämisse für die Möglichkeit einer Reproduktion der Literatur durch Variantenselektion (also Innovation), aber auch nur die Möglichkeit, wie die Wirklichkeit der frühneuzeitlichen Dichtung bis ins 18. Jahrhundert hinein zeigt. Erst der soziostrukturelle Umbau der Gesellschaft im 18. Jahrhundert, d.h. ihre funktionale Differenzierung gab dann die Möglichkeit frei, das mediale Potential des Buchdrucks zu nutzen und die Evolution der Literatur völlig dem Primat der innovationsorientierten Variantenselektion zu unterwerfen. Was ich damit meine, lässt sich vielleicht mit einem Blick auf die Musikgeschichte verdeutlichen. Haydn konnte noch 104 Sinfonien komponieren, Beethoven beschied sich mit 9. Während aber auch der Musik eher fernstehende Menschen bereits nach wenigen Takten Beethovens einzelne Sinfonien unterscheiden können, bedarf es schon musikgeschichtlicher Bildung, um auf Anhieb sagen zu können, ob da gerade Haydns 45. oder 46. Sinfonie gespielt wird. Hier ist der Variierungsgrad noch gering, bei Beethoven spielt er die dominierende Rolle. Luhmann hat den markanten Unterschied dieser Reproduktionsweisen am Wandel des Stilbegriffs erläutert. 27 Gilt der vormodernen Literatur Stil noch als quasi normative Produktionsregel, so dass der Stil dem Werk vorausgeht, so hat der Betrachter moderner Literatur nur die Möglichkeit, die Heterogenität der geschriebenen Texte mithilfe des Stilbegriffs vorsichtig auf Gemeinsamkeiten hin zu beobachten, wobei allerdings stets mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass jedes Werk seinen eigenen Stil hat, und der Begriff paradox wird. Als Beobachtungskategorie fällt er ohnehin in die Umwelt moderner Literatur (in das Gebiet der Literaturkritik oder Literaturwissenschaft). Der unbestreitbare kommunikative Erfolg moderner Literatur ist auf ihn nicht mehr angewiesen. Literaturverzeichnis Arndt, Astrid: Ungeheure Größen: Malaparte - Céline - Benn. Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik. Tübingen 2005. Eder, Thomas/ Samo Kobenter/ Peter Plener (Hg.): Seitenweise. Was das Buch ist. Wien 2010. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt/ M. 2002. 27 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ M. 1995, S. 213, 336 ff. Literatur als Kommunikation 171 Hecht, Werner (Hrsg.): Brecht im Gespräch. Frankfurt/ M. 1975. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik.“ In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. II/ 1. Frankfurt/ M. 1971, S. 142-178. Luhmann, Niklas: „Literatur als Kommunikation.“ In: Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur. Hrsg. v. Niels Werber. Frankfurt/ M. 2008, S. 373 ff. ---: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/ M. 1997. ---: „Das Medium der Kunst.“ In: Schriften zu Kunst und Literatur, a.a.O., S. 123 ff. ---: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ M. 1995. Martinez, Matias/ Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Aufl. München 2003. Muka ovský, Jan: Die Kunst als semiologisches Faktum. Frankfurt/ M. 1970. Nitzsche, Friedrich: „Geschichte der Griechischen Kultur.“ In: KGW II, Bd. 5. Plumpe, Gerhard: „Globale Konflikte. Anmerkungen zur Rushdie-Affaire.“ In: Regina Göckede/ Alexandra Karentzos (Hg.): Der Orient - Die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur. Bielefeld 2006, S. 67 ff. ---: „Ausdifferenzierung.“ In: Niels Werber (Hg.): Handbuch Systemtheorie. Berlin 2011, S. 23 ff. ---: „Grenzen der Kommunikation? Über das Verstehen der Literatur aus systemtheoretischer Sicht.“ In: Gudrun Kühne-Bertram/ Gunter Scholtz (Hg.): Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen 2002, S. 257 ff. ---: „Evolution des Literatursystems.“ In: Harald Hillgärtner/ Thomas Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik. Bielefeld 2003, S. 167 ff. ---/ Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Opladen 1995. Schwanitz, Dietrich: Systemtheorie und Literatur. Opladen 1990. Sklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren.“ In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. München 1971, S. 3 ff. SPIEGELonline. 24. 11. 2009. Tynjanov, Jurij: „Über literarische Evolution.“ In: Jurij Tynjanov: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution der Literatur. Frankfurt/ M. 1967, S. 37-60. Vernünftig über Bücher reden Dieter Götz Der „wissenschaftliche“ Standpunkt in diesem Vortrag ist der der so genannten Diskursanalyse (und nicht so sehr der Standpunkt der Literaturwissenschaft). Die Diskursanalyse untersucht, wie Texte aufgebaut sind und wie sie in unserer Gesellschaft funktionieren. Ein spezielles Anliegen ist dabei, wie sie im Alltag funktionieren und wie sie funktionieren sollten. Man könnte auch von einer moralisch orientierten Lehre vom vernünftigen Reden sprechen. Hier, in diesem Artikel, wird man freilich keine Vorschriften und keine Anweisungen finden, vielleicht Anregungen. Auch in Zukunft wird es wohl Dialoge geben wie den folgenden: A: Also ich find Harry Potter nicht so gut. B: Aber ich find’n klasse. Allerdings kann man meinen, dass in diesem Dialog kein kooperatives, vernünftiges Reden über Bücher vorliegt. Einige mögliche Hilfen seien im Folgenden gegeben. Vielleicht sollte man auch bedenken, dass die vielen ganz normalen Leser die Basis für die Literaturwissenschaft sind. 1. Wir urteilen schon immer Es ist (leider) nicht einfach, vernünftig vom Reden über Bücher zu sprechen - daher sei hier zunächst vom Reden über Bücher geplaudert. Aber natürlich reden die meisten von uns über Bücher und geben Urteile ab wie „spannend, ziemlich langweilig, wunderbarer Stil, interessantes Thema, amerikanische Massenware, kein Vergleich mit Dürrenmatt“ usw. Wir bewerten schon, manchmal sogar ziemlich streng. Allerdings - wenn wir unsere Aussagen näher begründen oder vertiefen sollen, dann geraten wir doch bisweilen in Schwierigkeiten: Was mag das wohl sein, „ein wunderbarer Stil“? Könnten wir das beschreiben? Welche Relevanz hat ein Urteil wie „ein gutes Buch“, wenn dies eigentlich nur bedeutet „Mir hat’s gefallen“ - und wer ist „ich“, dass er oder sie so etwas sagen kann, dass seine oder ihre Meinung von irgendeinem Nutzen ist? Was genau kann mit „lebendige Darstellung, gut getroffen, frische Metaphorik“ gemeint sein? 2. Die Welt als Ausschnitt Zunächst eine sehr einfache aber dennoch richtungsweisende Überlegung (richtungsweisend für das vernünftige Reden). Wenn wir lesen, wird uns immer ein Aus- Dieter Götz 174 schnitt aus der „realen“ oder aus einer gedachten, möglichen Welt präsentiert. Eine ganz kurze Unterhaltung etwa zwischen einigen Personen ist in Wirklichkeit ein ungeheuer komplexer Vorgang. Um eine einzige Person, die man z.B. kurz als die jüngere Frau bezeichnen würde, wirklich zu beschreiben, könnte man Dutzende oder Hunderte von Seiten füllen: ihr Aussehen, ihre persönliche Geschichte, ihre Absichten, ferner Blutbild, Gestik, Mimik, sprachliche Einzelheiten usw. - so, wie Nicholson Baker einmal knapp fünfzig Seiten verwendet hat, um das Binden von Schuhbändeln zu beschreiben. Zum Glück sind die meisten dieser so genannten Einzelheiten offensichtlich nicht relevant oder interessant, aber das Mitgeteilte ist immer Ergebnis eines höchst umfangreichen Kürzungsprozesses. Auch im Falle von Tolstois Krieg und Frieden - denn was sind schon selbst 1000 Seiten gegenüber allen Fakten des napoleonischen Russlandfeldzugs? Nicht einmal ein Hauch. Daher sind die Fragen „Was wird wozu und zu was und auf welche Weise verkürzt, ausgeschnitten? “ immer ganz zentrale Fragen. Übliche erste Antworten auf diese Frage sind z.B. „Familienroman, Liebesroman, Kriegsroman, politischer Roman“. Das sind jedoch keine strengen Gattungsbezeichnungen. Es sind nur inhaltsorientierte Kurzbezeichnungen, denn mit einer solchen Bezeichnung stellen sich keine genaueren inhaltlichen oder formalen Kennzeichen ein - auch dann nicht, wenn sie kunstvoll modifiziert werden. Mag sein, dass eine Bezeichnung wie „postmoderner Schelmenroman“ unter Literaturwissenschaftlern sinnvoll ist, denn die sollten den Hintergrund von Lazarillo de Tormes bis Kingsley Amis parat haben - dem normalen Leser sagt das alles gar nichts. (Und was ein Roman wirklich ist, kann, aus philosophischen Gründen, ohnehin niemand wissen, und was als Roman verkauft wird, sind wohl ca. 110 Seiten oder mehr zwischen zwei Buchdeckeln, ohne dass ein Sachbuch vorliegt.) Mit Kategorien wie den oben genannten ist meist nichts gesagt und nichts gewonnen. Es ist sinnvoller, umgangssprachliche Bezeichnungen - ohne strenge klassifikatorische Ansprüche - zu verwenden, wie etwa: „das Schicksal zweier Familien in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges“, „Aufstieg und Fall eines amerikanischen Glücksspielers Anfang des 20. Jahrhunderts“, „älterer Bauer allein auf einem Bauernhof in Holland“ oder Ähnliches: dies in der Hoffnung, den Ausschnitt auch erkannt zu haben. Selbst mit solchen anspruchslosen Umschreibungen muss man sehr vorsichtig sein: diese sind ja nicht von vorneherein und klar gegeben - auch sie können durchaus eine Sache der Interpretation sein. Mit anderen Worten: der „Ausschnitt“, von dem oben die Rede war, versteht sich nicht von selbst. Wenn man B. Schlinks Der Vorleser als „unmoralische Liebesgeschichte“ liest oder als „bizarre Liebesbeziehung zwischen einem Jura-Studenten und einer ehemaligen KZ- Aufseherin“ - wie in den Amazon-Rezensionen nachzulesen -, dann tut man sich mit sinnvoller Interpretation sicher schwer. Ein weiteres Beispiel. Die große Liebe (von Hanns-Josef Ortheil) ist die Schilderung der Entwicklung einer Liebe unter (nahezu) perfekten Umständen: schöne, sensible Menschen in einer zauberhaften Hafenstadt an sonniger italienischer Küste mit feinen Restaurants, und einem happy end. Einige Rezensenten haben das als ein Zuviel an heiler Welt empfunden und von ungebremstem Kitsch gesprochen. Andere meinen, es liege eine märchenhafte, idyllische Präsentation vor, vielleicht ein Märchen, eine Spielerei, die zeigt, wie schön alles sein Vernünftig über Bücher reden 175 könnte, wenn ..., also Balsam für die Seele. Somit sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wir es schon am Anfang des Redens über Bücher mit unterschiedlichen „Interpretationen“ zu tun haben, auch mit unterschiedlichen Qualitätsurteilen - vor allem aber mit dem Problem, dass die einzelnen Beobachtungen, auf denen wir unsere Meinung aufbauen, selbst bereits - wenn auch nicht immer recht bewusst - Interpretationen sind. Im oben genannten Falle kann man sich nicht sinnvoll darüber unterhalten, wie kitschig oder nicht Ortheils Roman ist. Allerdings kann man über Folgendes sprechen: unter welchen Voraussetzungen kann man in diesem Buch eine Art Märchen sehen und wie zwingend und wie belegbar sind die Gründe, von einem Märchen auszugehen? Wenn man in B. Schlinks Der Vorleser eine „unmoralische Liebesgeschichte“ sieht, dann kann es schon sein, dass diese Frosch-Perspektive die Interpretation beeinflusst. Angesichts des Umstands also, dass Perzeption und Rezeption immer subjektive Züge haben, tut man als Leser oder Diskutant gut daran, ein endgültiges Urteil ein wenig zu verzögern, einiges zu wenden und zu drehen, bevor man sich äußert. Es tut der Kommunikation immer gut, wenn man die eigenen Vorstellungen relativiert und wenn man die Möglichkeit einkalkuliert, dass man selbst nicht das Maß aller Dinge ist. In diesem Zusammenhang ist es absolut faszinierend, die Kundenrezensionen bei Amazon zu lesen: offenbar kommt es nur in einigen, ganz wenigen, Fällen vor, dass Autoren wirklich erfolgreich mit ihren Lesern kommunizieren. Aber warum haben die meisten von uns einen solchen Hang zum Urteilen? Ein Versuch einer Antwort auf diese Frage könnte wie folgt aussehen. Wenn man einen Text lesen will, dann hat man bereits, für sich, ein vorläufiges Urteil oder vorläufige Erwartungen: kann sein, dass man über diesen Text etwas gehört oder gelesen hat, wenige Seiten darin gelesen hat und somit eine irgendwie begründete Erwartungshaltung entstanden ist. Ein Beispiel: wenn man auf ein Buch stößt mit dem Titel „Kurze Geschichte von fast Allem“ (A Short History of Nearly Everything von Bill Bryson) und die ersten Sätze liest (in Übersetzung): „Schönen Guten Tag und herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich sehr, dass Sie es geschafft haben. Einfach war es ja nicht, hierher zu kommen, ich weiß. Ich vermute sogar, dass es in Wirklichkeit ein ganzes Stück schwieriger war, als Sie sich das so vorstellen“ - dann hat man hier eine Art Programm vor sich, eine Ankündigung dessen, was einen als Leser erwartet Auf solche Eindrücke gründet sich dann die Lust, etwas zu lesen oder nicht zu lesen. Man könnte sagen, man erstellt eine generelle Hypothese über den Text, oder man konstruiert eine Art Versprechen des Autors, auf welcher Basis auch immer. „Wie steuert der Autor die Erwartungshaltung? “ - das wäre eine gute Frage. Und wenn einem das wahrscheinliche Reiseziel nicht passt, dann liest man erst gar nicht. Aber und wohlgemerkt und wie schon bemerkt: eine solche Reise kann sehr kompliziert sein. Im ungünstigsten Falle ist sie so beschaffen, dass der Leser eine Reihe von subjektiven und impliziten Eindrücken erhält (oder auch selbst produziert) und darauf subjektive Urteile baut. Solche Urteile, bei denen dann aber niemand dem so Urteilenden mehr folgen kann, unter Umständen. Dieter Götz 176 Wir sehen also, einige Grundvoraussetzungen für den Diskurs zu bedenken, ist so abwegig nicht. Diese Vorsicht ist auch aus einem relativ trivialen Grund zu empfehlen. Wenn Leute miteinander über Bücher reden, dann verhält es sich - bei der Masse des Angebots - oft so: die einen haben genau das gelesen, was die anderen nicht kennen, und umgekehrt. Also braucht man eine tragfähige Basis für das Diskutieren, und die kommt nicht aus dem Bauche. Eine der bereits erwähnten Umschreibungen, nämlich „älterer Bauer allein auf einem Bauernhof in Holland“ bezieht sich auf den Roman Oben ist es still von Gerbrand Bakker. Von diesem Roman behaupten fast alle Rezensenten, es handele sich um einen „Bauernroman“. Das ist ein beliebter Rezensenten-Trick. Man erfindet ein Pseudo-Genre und arbeitet dann feinsinnig die Unterschiede zu dem heraus, was real gar nicht existiert. In diesem Fall ist es übrigens so, dass die Hauptperson auch ein Arzt oder Professor oder Automechaniker sein könnte - dass es sich um einen Bauern handelt, ist nur akzidentiell. (Zum Schluss dieses Abschnitts noch ein guter Rat aus der Abteilung Genre. Wenn man sich bei einem Buch einmal fragt, warum das, was man gerade liest, denn ein Roman sei, und warum es nicht ein Hörspiel sein könnte, oder ein Drehbuch, ein Fernsehspiel, eine Oper - dann kommt man oft auf originelle Gedanken.) 3. Autor und Erzähler Eine der naivsten Fragen ist: Wer hat den Text geschrieben? Oder, anders formuliert: wer eigentlich macht den Ausschnitt? Wenn man sich mit dieser Frage beschäftigt, kann man einiges über Sinn und Zweck des Buches ermitteln, und zwar so, dass es für andere nachvollziehbar ist. Natürlich schreibt der Autor oder die Autorin, und natürlich hat Herman Melville den Moby Dick geschrieben - aber erzählt wird dieser Roman mit Hilfe eines Erzählers, eines Ich namens Ishmael. Ein solcher Ich- Erzähler, in der notwendigen Beschränkung auf seine Welt, hat natürlich eine, seine subjektive Perspektive, wirkt aber unmittelbar und authentisch (in den meisten Fällen), wirkt wie eine Person, die wirklich „dabei war“. So einfach liegen die Dinge aber nicht immer: es kann auch mehrere Ich-Erzähler geben, dann erhalten wir mehrere Perspektiven. Oder einen solchen Ich-Erzähler und mehrere andere Erzählertypen. Und in manchen Romanen ist, mit Absicht, nicht klar, wer hier der Erzähler ist. Die Frage ist, wie relevant der Ich-Erzähler zum produzierten Ausschnitt (siehe oben) ist. Bei Irene Disches Roman Großmutter packt aus verhält es sich in etwa so: die Autorin ist wirkliche Enkelin der zur Ich-Erzählerin gemachten Großmutter. Diese von der Enkelin also mit-geschaffene Großmutter geriert sich aber so, dass man als Leser öfters meint hinter der Großmutter stecke die Enkelin und karikiert die alte Dame zu deren Ungunsten. Was ein Autor oder eine Autorin nun wirklich meint, wenn er oder sie eine solche Figur (wie diese Großmutter) etwas sagen lässt, ist meist kaum ergründbar, vielleicht auch nicht so wichtig. Ob der Autor sich damit identifi- Vernünftig über Bücher reden 177 ziert oder sich distanziert, wer weiß. Sicher ist nur, dass er/ sie dieser Figur etwas „anfingiert.“ Der Detektiv Philip Marlowe - in Chandlers Kriminalromanen - ist ein Ich- Erzähler, der über das räsoniert, was er sieht und hört (also über das, was ihm der Autor zu denken gibt). In einer Verfilmung eines Marlowe-Romans sind es die Augen der Kamera, mit denen wir, wie Marlowe mit seinen Augen, die Welt wahrnehmen. Den Detektiv selbst sehen wir daher nur bei wenigen Gelegenheiten, etwa im Spiegel. Dieser Erzähler ist darum eben dem unterworfen, was geschieht, und der Leser weiß genau das, was dieses Ich erlebt, und nicht mehr. Denkt man an einige der „großen Ich-Erzähler“ - Simplicius Simplicissimus, Robinson Crusoe, Ishmael -, dann wird ersichtlich, welche Bedeutung dieser Erzähler für den Ausschnitt hat (und wie wichtig er für das Verständnis des Werkes immer ist). Zu allem Überfluss gibt es auch so genannte nicht-verlässliche Erzähler, denen der Autor allerlei Unsinn einbläst (wie etwa Paul Chowder in Nicholson Bakers Roman). Wesentlich mehr Macht über den Lauf der Dinge hat der so genannte allwissende Erzähler, der über seiner Geschichte steht, alle Zusammenhänge kennt, (meist) im Präteritum erzählt, und wie Gott eine Welt schafft. J.R.R. Tolkien ist ein gutes Beispiel. Er kennt jeden Fleck in Mittelerde, jede Regung von Menschen, Elben, Hobbits oder Uruk-hais, weiß auch, wie das schlechthin Böse denkt und er lässt auch keinen Zweifel daran, dass er weiß, wer gut ist. (Manche von diesen allwissenden Erzählern können sogar Gedanken lesen.) Zwischen diesen Polen - dem Ich-Erzähler einerseits und dem allwissenden (oder auktorialen) Erzähler andererseits - gibt es eine Fülle von Zwischenstationen und Konstellationen. So gibt es Erzähler, die gleichsam im Gehirn der Figuren angesiedelt sind und über die Gedanken und Gefühle Bescheid wissen (aber nicht allwissend sind), so etwa bei Joyce und Virginia Woolf. Ein Roman kann auch mehrere Erzähler von verschiedener Art haben, auch Ich-Erzähler dazwischen, er kann in Briefform oder Tagebuchform gehalten sein, fiktive oder reale andere Texte enthalten. Diese gedankliche Trennung zwischen Autor und Erzähler (auch zwischen Autor und seinen Figuren) ist wichtig, wenn man über Bücher sprechen will. Zum einen geht es beim Reden über Bücher ja oft um Meinungen, Ansichten, um die „Weltsicht“ - und da spielt es schon eine Rolle, ob und warum man an einer bestimmten Stelle „auch die Meinung des Autors“ sehen kann, oder ob es sich um eine Ansicht des Erzählers handelt oder gar und „nur“ um die Meinung einer Figur. Wenn die Großmutter - wie oben beschrieben - etwa geäußert hätte: „Hitler war gar nicht so schlimm“ kann man kaum ermitteln, wie das „eigentlich“ zu meinen sei, und auf keinen Fall dürfte man es ungeprüft als Ansicht der Autorin ansehen. Diese Relativierung und Positionierung von Ansichten zu erkennen ist umso wichtiger, als literarische Diskussionen - unter Laien - sich oft auf die angebliche Meinung des Autors kaprizieren (nach der Leitfrage „Was will uns der Dichter damit sagen? “ - dazu siehe unten). (Die nazistische Literaturbetrachtung hat sich hier besonders hervorgetan und in volkstümlichen Niederungen wie Stammtischen bestens überlebt.) Dieter Götz 178 Zum andern gibt die Erzählhaltung immer Aufschluss darüber, wie der Autor - und das ist ein entscheidender Punkt für die Interpretation - mit dem von ihm gewählten Ausschnitt aus der Wirklichkeit umzugehen gedenkt. Ein Roman, der den Krieg aus der Ich-Perspektive einer jungen Mutter, die ausgebombt wurde, erzählt, schildert Krieg, natürlich, anders, als wenn zeitraffend und auktorial von den Schlachten eines Generals die Rede ist. Ein weiteres Beispiel. Eine Revolution könnte man beschreiben, indem man den charismatischen Führer selbst erzählen lässt. Oder seine Getreuen. Oder die Schurken von der anderen Seite. Oder das Tagebuch eines Opfers. Oder alles gut gemischt. Oder man montiert die theoretischen Schriften einer Bewegung mit den Gräueln der Kämpfe. Das heißt: Erzählhaltung, Inhalt und Aussage hängen miteinander zusammen, und mit der Untersuchung der Erzählperspektive lässt sich einiges relativ belegbar ermitteln. 4. Erzählen und Zeit Erzählen hat mit Zeit zu tun. Wir sprechen, hören, schreiben und lesen in der Zeit, von jetzt nach später. Wenn zwei Sätze im Präteritum stehen und nebeneinander, wie: Ich blickte zu dem anderen Tisch. Susi lächelte. - dann haben wir sozusagen die Normalform des Erzählens in unserer Kultur: die beiden Sätze werden als ‚a und dann b’ interpretiert. Alle anderen Verbindungen müssen eigens formuliert werden. Was die Zeit angeht, so können wir natürlich ausdrücken, dass zwei oder mehr Vorgänge als gleichzeitig anzusehen sind, oder der eine vorzeitig zum anderen, oder der eine real und der andere sozusagen irreal oder zukünftig wahrscheinlich. Auch z.B., dass mehrere Vorgänge sich in der Vergangenheit entwickeln und zum großen Knall in den letzten Kapiteln zusammentreffen (ein beliebtes Muster in amerikanischen Agentenromanen). Festzuhalten ist jedenfalls, dass solche Abweichungen von der Normalform besondere Aufmerksamkeit erhalten sollten, wenn es darum geht zu ermitteln, wie der Autor mit seinem Wirklichkeitsausschnitt umgeht. Wann geschieht eine Aufhebung der Linearität von Zeit? Immer dann, wenn die Und-dann-Relation zwischen Sätzen aufgehoben ist. Also zum Beispiel dann, wenn der Erzähler das Erzählte oder sich selbst kommentiert. (Also wenn etwa eine Intrige geschildert wird und es dann heißt „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben ...“.) Solche zeitlosen Kommentare sind oft mit dem allwissenden Erzähler verbunden, meist auch mit einem ironischen oder humorvollen. Ein Stillstand der Zeit/ der Handlung ist auch ein Kennzeichen breiten und epischen Erzählens (ohne „Spannung“) (vgl. die Schilderung der Waschung bei der Heimkehr des Odysseus): ein gleichsam opernhafter Still-stand der momentanen Handlung oder ein Stillleben. Ein psychologisierender Autor lässt seinen Erzähler vielleicht öfters in die Vergangenheit gehen, ebenso wie ein historisch interessierter, und je vielschichtiger die Probleme sind, desto eher bedürfen sie einer simultanen Darstellung. Vernünftig über Bücher reden 179 So wird sich natürlich eine ausgeprägte Neigung des Autors zur Geschichte auch in seinem Schreiben auswirken: neue Personen, neue Landschaften oder was auch immer werden mit ihrem zeitlichen Hintergrund versehen. Damit erhalten wir ein weiteres Hilfsmittel, um uns der Ausschnittgestaltung durch den Autor zu nähern. Wir setzen also die Und-dann-Erzähl-Abfolge als das Übliche und fragen nach dem Warum und nach dem Zweck von „Abweichungen“. Die Darstellung von Vergangenheiten kann natürlich eine so genannte Tiefe bringen - aber es bringt auch viele Zeilen und Seiten. Wenn man sich dann als Leser fragt, ob die historischen Teile in einer nachvollziehbaren Relation zum Ausschnitt und zur mutmaßlichen Intention passen, dann kann man durchaus erkennen, wo historisches Bewusstsein vorhanden ist und wo historisierende Geschwätzigkeit. Jedenfalls: Ein Gutteil des Erzählens - des so genannten anspruchsvollen Erzählens - besteht aus dem begründeten Heraustreten aus der einfachen Linearität der Zeit und dem, was durch dieses Heraustreten bewirkt wird. Recht betrachtet ist das ein interessanter theoretischer Punkt. Wir, als so genannte normale Leser, erwarten von dem Genre Roman, dass mehr als nur der zeitliche Ablauf geschildert wird. Wir wollen eine Deutung des Geschehens, eine Art Sinnstiftung des Präsentierten. Daher sind viele Romane strategisch organisierte Großtexte, die z.B. von Aufstieg handeln, von Fall, von beiden, von Glück, Enttäuschung, Bildung und Erziehen, Krieg, Genie Alter - also Lebensdeutungen und Interpretationen von großen oder wichtigen Ausschnitten. Ob das immer so sein muss, ist eine andere Sache. Aber wenn solche Intentionen vorliegen, sollte man sie auch erkennen - und die Frage nach der Zeit hilft hier weiter. 5. Alles eine Frage des Stils Schriftsteller werden nach ihrem Stil beurteilt. Die entsprechenden Urteile lauten z.B.: „Schreibt einen guten Stil“ oder „Schreibt einen schlechten Stil“. Dabei ist es so (wenn man ehrlich zu sich selbst ist), dass „Schreibt einen guten Stil“ bedeutet: ‚Mir gefällt es‘ und „Schreibt einen schlechten Stil“ bedeutet: ‚Mir gefällt es nicht‘. Hier wird es richtig kompliziert. Wenn man unter „Stil“ versteht ‚die Art, sprachliche Mittel einzusetzen‘, dann gilt natürlich das Folgende: um über einen Stil zu urteilen, brauchen wir Informationen z.B. über die Satzlänge, über die Art und Position der Satzglieder, über die Form und Stellung der Nebensätze, über das Verhältnis von Verben und Substantiven, die Art und Frequenz der Nominalphrasen und vieles mehr, etwa regionale Besonderheiten, die Art der verwendeten gesprochenen Sprache, preziösen oder sog. normalen Sprachgebrauch. Und das für verschiedene Autoren. Man muss wissen, dass eine Formulierung wie Das erinnere ich nicht nicht vornehm ist, sondern bloß norddeutsch, dass ein schmuckes Mieder nicht von vorneherein literarisch ist und dass Gleich krisse awa eine inne Fresse nicht von vorneherein unliterarisch ist. Zugeben muss man auch, dass man nur schwer Antworten findet auf Fragen wie „Wann ist ein Stil holprig? Wann flüssig? “ Bei den üblichen Urteilen zum Stil handelt es sich fast immer um sehr subjektive Eindrücke, solche Eindrücke, Dieter Götz 180 die man weder vernünftig erklären noch demonstrieren kann. Wirkliche Stilanalysen verlangen eine jahrelange linguistische Ausbildung und ausgebuffte Computerfähigkeiten. Da ist es dann schon ehrlicher und sinnvoller, wenn jemand sagt: „Also mir gefällt das, wie der so schreibt“ - auch wenn man dieses Urteil kaum persuasiv verwenden kann. Man denke in diesem Zusammenhang auch an diejenigen, die eine Übersetzung als gelungen bezeichnen, ohne das Original je gesehen zu haben. Eine Urteilshilfe kann man aber geben, einen weiteren Punkt, der vernünftiges Reden ermöglicht. Wir haben bereits davon gesprochen, dass jede Darstellung in Wirklichkeit ein Ausschnitt ist. Daher kann man jede beliebige Portion eines Buches - vom Wort bis zum Kapitel - daraufhin untersuchen (oder betrachten) - in welchem erkennbar sinnvollen Verhältnis sie zu dem gegebenen Ausschnitt steht bzw. zu der Gesamt-Organisation. Nehmen wir an, eine Romanfigur habe in einer italienischen Bar Kaffee bestellt und der Capuccino kommt. Und man läse: „Antonio trank in schnellen kleinen Schlucken und wischte sich den Schaum von den Lippen.“ Mancher Leser ist geneigt, solches zu loben, weil es so genau und fein beobachtet ist. Aber: dient dieses Detail dem Ausschnitt aus der Wirklichkeit? Ist dieses Detail relevant für die mutmaßliche Intention des Romans? Wenn man selbst dabei nichts erkennen kann, blickt man entweder nicht durch oder es handelt sich um schriftstellerndes Geschwätz, mit dem Zeilen geschunden werden. Donna Woolfolk Cross’ Die Päpstin beginnt mit der Beschreibung eines wüsten Schneetreibens in einem Winter des 9. Jahrhunderts, und die Hebamme kämpft sich durch den Schnee und fast findet sie das Haus der Gebärenden nicht und was hat das mit der Päpstin zu tun? Eine Großmeisterin dieser Technik ist auch Joanne K. Rowling mit ihren Harry Potter- Romanen. Dass Lord Voldemort erfährt, wo sich Harry Potter am folgenden Tag aufhalten wird, kann man kurz formulieren. Man kann aber auch zwei zwielichtige Gestalten erfinden, in langen schwarzen Mänteln, die im Mondlicht über einen Kiesweg knirschen, die Eichen recken ihre toten Äste in den Himmel, ein Pfau schreit, und dann sagen sie nach drei Seiten Text endlich dem Lord ins Ohr, wo der Harry Potter .... Bei Kafka jedenfalls würde man solchen ‚Verbalmüll‘ nicht finden - und bei den Bestsellern amerikanischer Provenienz findet man tausende: Grisham etwa beherrscht die Kunst, irrelevante Details so zu portionieren, dass sie den Leser nicht anöden und dennoch die Seiten füllen. Freilich, die nagende Ungewissheit, ob die Intention, die man dem Autor unterstellt, auch der Autorenintention oder der Interpretation anderer Leser entspricht - diese Ungewissheit freilich bleibt. Vielleicht ist das, was der eine als gelungenes Kolorit empfindet, in Wirklichkeit nur Krampf - und umgekehrt. Und bitte: was ist Wirklichkeit? Natürlich ist jedem unbenommen zu sagen: „Diese verdammte Ironie bei Thomas Mann nervt mich“ oder: „Manns Ironie finde ich fein und elegant“. Man kann aber solche Urteile nicht mit Formulierungen wie „ironischer Stil“, „eleganter Stil“ auf eine pseudo-objektive Ebene heben. Diese Relevanz des Details ist etwas, was man besonders bei Kriminalromanen näher betrachten sollte. Krimis werden vielleicht aus einem bestimmten Grund gerne Vernünftig über Bücher reden 181 geschrieben: man kann mit allem möglichen Zeug die Seiten füllen und die wenigsten finden das ätzend. Wenn irgendwo ein Bündel Kleider herumliegt, kann ein normaler Autor wenig damit anfangen. Der Krimi-Autor kann seinen Inspektor das Bündel seitenweise untersuchen lassen, jeden Fleck interessant machen, und ganz zum Schluss findet sich dann in der Brusttasche des Freizeithemdes vielleicht ein Knopf, der zur Lederhose des Mordopfers passt. Vielleicht auch nicht, schließlich muss der Inspektor jede Spur verfolgen - seitenweise. Ein Roman wird auch dadurch nicht zu einem Stück guter Literatur, wenn bislang kaum beschriebene Einzelheiten vorgeführt werden, etwa wie sich Lippen- und Backenmuskeln verändern, auch die der Nase, wenn jemand mit einem Strohhalm trinkt und allerlei schnorchelnde Geräusche macht. Es ist auch keine Kunst, Gemütszustände oder Ereignisse mit der Umgebung zu parallelisieren und auf diese Weise mit der Erwähnung von bröckelnder Farbe, Glasscherben und überquellenden Aschenbechern die präsentierten Figuren zu charakterisieren. Liebe zum Detail und platter Symbolismus müssen nicht mit Literatur verwechselt werden: man frage nach der Relevanz zum Ausschnitt. 6. Wo bleiben die Werte? Man sieht, es gibt einige Möglichkeiten der Bestandsaufnahme, der Diagnose, über die man reden kann, auch bei gegensätzlichen Befunden. Es würde aber schwer fallen, die Frage nach „gut“ oder „schlecht“ völlig außer Acht zu lassen - daher noch einige Worte zu den Werten. Manche Texte muss man lesen, so etwa Rechnungen oder Verwarnungen. Andere Texte hingegen sind nur ein Informationsangebot - man kann sie lesen, muss aber nicht. Es ist auch nicht so, dass alle Texte für jedermann oder für die gleiche Gruppe geschrieben werden. Jeder hat das Recht, zumindest während eines Teils der Freizeit, das zu lesen, was er oder sie will (mit gewissen Ausnahmen, wie Terror-Anleitungen, oder Geheimakten der Bayerischen Staatsregierung). Man kann auch niemanden davon abhalten zu sagen, „Krimis mit Kindern als Opfer mag ich nicht“ oder „die Probleme eines Disc-Jockeys sind mir schnuppe“ oder „zwei schwule Cowboys - interessiert mich nicht“. Allerdings sind die Thematik eines Buches und die Art, wie diese Thematik sprachlich dargestellt, umgesetzt wird, zwei verschiedene Dinge. Daraus erhellt einiges. Man kann natürlich allgemein über die Sache diskutieren, die als abstrakte Thematik (z.B. Selbstmord, Karriere, Gerechtigkeit, Nazi-Zeit, Liebe) einem Buch zu Grunde liegt - aber dann diskutiert man natürlich nicht über das Buch (oder das Drama) sondern über die jeweilige Thematik: wie damals im 18. Jahrhundert., als es im Anschluss an Goethes Die Leiden des jungen Werthers zu einer großen Debatte über Selbstmord kam. Unter dieser Verwechslung leiden vor allem die großen Werke der Literatur - denn ein großer Dichter, so die allgemeine Ansicht, muss einem doch sagen können, wo’s langgeht und ein wenig Lebenshilfe bereitstellen! Dieter Götz 182 Weiter mit Thematik versus Darstellung. Es kann durchaus vorkommen, dass man von der Thematik eines, sagen wir, Romans abgestoßen wird oder daran kein Interesse hat, oder dass man dem ideologischen Trend recht kritisch gegenüber steht - beispielsweise manches von Martin Walser irgendwie zu rechts findet, (literarisch) sei alles vom Feinsten. Diese Art von Spagat sollte man schon machen können und auch deutlich machen können. So kann man der Ansicht sein, dass die Geschichten von z.B. Clemens Mayer „irgendwie ganz prima“ sind - aber seine Figuren interessieren mich nicht und deren Sorgen schon gar nicht. Diese möglichen Gegensätze zwischen Thematik, Sujet einerseits und Darstellung andererseits sind kein aufgebauschtes oder künstliches Problem. Untrennbar damit verbunden ist die Frage nach dem Zusammenhang von Wertung durch den Leser und der Leserkooperation. Oben wurde gesagt: wer etwas liest, nimmt ein Informationsangebot wahr und nimmt es an, ist also bereit zu einer Kooperation und steht dem Text prinzipiell wohlwollend oder zumindest neutral gegenüber. (Die Male, bei denen der Leser zu sich sagt „Mal sehen, was der Mistkerl jetzt wieder schreibt“ sind schon selten.) An dieser Stelle müssen wir ein wenig ausholen, und dabei muss zunächst einiges gesagt werden, was völlig unumstritten ist und jedem klar ist, was aber in Bezug auf Buchkritik nur selten bedacht wird. Bücher sind Produkte der Gesellschaft. Die Vorstellungen von Sinn und Wert von Büchern allgemein oder von einzelnen Büchern samt deren Aussage sind im Wertesystem der jeweiligen Gesellschaft verortet. Das Urteil über einzelne Bücher wird sicher durch die öffentliche Meinung und die Medien beeinflusst: im Dritten Reich war es nicht ratsam, über Remarques, Thomas Mann oder Heinrich Mann, Erich Kästner oder Franz Kafka positiv zu sprechen. In den frühen fünfziger Jahren waren lobende Worte für Henry Miller oder Charles Bukowski sicher keine Empfehlung in allen Kreisen. Bücher sind schon immer Teil der Öffentlichkeit - die Autoren mischen sich in das normale Leben ein, ihre Leser beziehen Stellung für oder gegen die Argumentation oder Darstellung. Die Art und Weise, in der diese Diskussionen geführt werden, wirft eine Reihe von Fragen auf - Fragen, auf die nur schwer Antworten zu finden sind. Einige Einzelheiten kann man allgemein bemerken. Über die Kompetenz von Schriftstellern, an der Lösung gesellschaftlicher Probleme mitzuarbeiten, kann man verschiedener Meinung sein. Auf die Fähigkeiten der Leser, im Werk eines Autors dessen Ansichten zu erkennen und einzuarbeiten, darf man nicht allzu viel geben - manch großer Denker wurde für abartige Zwecke instrumentalisiert. Und nur die wenigsten, deren Stimmen man hört, haben auch etwas zu sagen. Es ist auch nicht der alleinige Sinn der Literatur, Positionen der öffentlichen Diskussion zu etablieren oder zu schwächen. Und vor allem: man muss lange nicht alles auch mögen. Natürlich sind Bücher, wie gesagt, Produkte der Gesellschaft. Realisiert werden diese Produkte aber in unterschiedlichen Leser-Erlebnissen. Das daraus resultierende Mögen oder Nicht- Mögen hat Konsequenzen auf die Leser-Kooperation. So kann es vorkommen, dass Vernünftig über Bücher reden 183 man einem Autor nach 50 Seiten sehr feindlich gegenübersteht („verdammter Macho“) und die Zusammenarbeit aufkündigt. Unter diesen Umständen wird man kritisch, recht kritisch. Man liest gleichsam mit einer Brille des Missvergnügens auf der Nase, von Objektivität kann keine Rede sein, und beginnt, an allem zu mäkeln. An dieser Stelle muss man auch daran erinnern, dass man als Leser einer Übersetzung nicht der ursprünglich vom Autor intendierte Leser ist. Ein amerikanischer Autor schreibt für Amerikaner (meistens), ein brasilianischer für Brasilianer. Die Welt ist noch kein einheitlicher Kulturbrei - und wenn man hier Harry Potter auf Deutsch liest, liest man etwas ganz anderes als die englischsprachige Fassung. Wenn man es recht bedenkt, ist natürlich auch die freundliche und kooperierende Leserhaltung keine objektive Haltung. Und damit kommt man zu dem Schluss: ein objektives, extra-gesellschaftliches und sozusagen wertfreies Lesen gibt es gar nicht. Da in der Kommunikation alles einen sozialen Wert, eine soziale Symbolik hat, wird ein Buch notwendigerweise im bestehenden Wertesystem eingeordnet und verortet. Dabei sollten wir die historische Relativität der Werte nicht verkennen: wären die Nationalsozialisten noch an der Macht, würde niemand Franz Kafka kennen und Günter Grass gäbe es nicht. Im „Buchbetrieb“ müssen wir weiterhin auch die Pluralität und Relativität von Werten akzeptieren, gute Mienen zum schlechten Geschmack machen: manche der so genannten tollen Thriller sind ein gutes Beispiel für eine kommerzielle Gerissenheit, die totale Irrelevanz und grandiosen Schwachsinn millionenfach verkauft und die man nur als soziologisches Phänomen, nicht aber als literarisches, beschreiben kann. Oft, wenn von einem guten Buch die Rede ist (das auch einen guten Stil hat), bedeutet auch hier „gut“ nicht mehr als „Mir gefällt’s“. Und es kann gefallen, weil hier mal gezeigt wird, wie die kleinen Leute leben, oder dass die Kirche mal eins aufs Dach kriegt oder dass der Leser schon oft dort im Urlaub war, wo der Roman spielt, oder weil es einen selbst bestätigt oder weil man so gut abschalten kann. Dagegen kann man schlecht etwas sagen, es ist aber auch nicht recht diskutierbar. Hier kann man eine Parallele ziehen zum vernünftigen Reden im politischen Bereich. Wenn ein Parteivorsitzender sagt: „Es ist richtig, jetzt die Steuern zu senken“, dann ist das Manipulation. Denn das Einzige, was unter solchen Umstände nicht falsch wäre zu sagen, ist: In unserer Partei herrscht überwiegend die Meinung, dass es für bestimmte Zwecke förderlich sein könnte, die Steuern zu senken. Anders als die gängige rhetorische Praxis suggeriert, beinhaltet das Recht auf Meinungsfreiheit nicht das Recht auf das Recht haben. Summa: Bevor man zu dem Urteil kommt, ein bestimmtes Buch sei Schund oder gut, muss man eine ausführliche Bewertung des eigenen Selbst vornehmen. Daraus lässt sich eine weitere sinnvolle Gesprächsmaxime für das Reden über Bücher ableiten. Es ist schlicht nicht ehrlich, die Prämissen, unter denen man über Bücher spricht, sie kritisiert, nicht in irgendeiner Weise offen zu legen. Wenn man die Prämissen nicht offen legt, ist eine Kooperation kaum möglich, statt Überzeugen findet Manipulation statt. Das gemeinsame Streben nach Verstehen und Plausibilität wird untergraben. Das ist aber nicht der Zweck des vernünftigen Redens. Aber man sollte Dieter Götz 184 schon zufrieden sein, wenn sich in Umrissen eine Approximation an das vernünftige Reden abzeichnen würde. Literaturverzeichnis Daemmrich, Horst S.: Literaturkritik in Theorie und Praxis. München: Francke, 1974. Estermann, Alfred (Hrsg.): Literaturkritik. Eine Textdokumentation zur Geschichte einer literarischen Gattung. Vaduz: Topos, 1984. Grübel, Rainer : „Wert, Kanon und Zensur“. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996. S. 601-622. Heydebrand, Renate von / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte - Legitimation. Paderborn [u.a.]: Schöningh, 1996. Hohendahl, Peter Uwe (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik. Stuttgart: Metzler, 1985. Hohendahl, Peter Uwe: Literaturkritik und Öffentlichkeit. München: Piper, 1974. Kreuzer, Helmut (Hrsg.): Deutschsprachige Literaturkritik 1870 - 1914. Eine Dokumentation. Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang, o.J. Lenz, Bernd / Bernd Schulte-Middelich (Hrsg): Beschreiben, Interpretieren, Werten: Das Wertungsproblem in der Literatur aus der Sicht unterschiedlicher Methoden. München: Fink, 1982. S. 248- 267. Schulte-Sasse, Jochen: Literarische Wertung. Stuttgart: Metzler, 2 1976. Scukina, T.: „Die ästhetische Wertung in den professionellen Urteilen über die Kunst“. In: Kunst und Literatur: Zeitschrift für Fragen der Ästhetik und Kunsttheorie 27 (1979). S. 349-58, 478-91. Seibt, Gustav: „Literaturkritik“. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996. S. 623- 637. Winko, Simone: „Literarische Wertung und Kanonbildung“. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996. S. 585-600. Spannungstheorien. Kultur- und literaturwissenschaftliche Perspektiven am Beispiel von Schillers Wilhelm Tell (1804) Jörg Wesche T ELL spannt die Armbrust und legt den Pfeil auf: Öffnet die Gasse! Platz! S TAUFFACHER Was, Tell? Ihr wolltet - Nimmermehr - Ihr zittert, Die Hand erbebt euch, eure Knie wanken - T ELL läßt die Armbrust sinken: Mit schwimmt es vor den Augen! 1 Die berühmte Apfelschussszene aus Schillers Schauspiel Wilhelm Tell (1804) ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die theoretische Auseinandersetzung mit Spannungsphänomenen. In der folgenden kultur- und literaturwissenschaftlich orientierten Übersicht dient sie immer wieder als literarischer Bezugshorizont für drei aufeinander aufbauende Leitfragen, die eine kritische Darstellung von Grundproblemen der Spannungsforschung ermöglichen. 1. Was ist Spannung; 2. wie lässt sich Spannung methodisch z.B. in literarischen Texten fixieren sowie 3. was kann letztlich als spezifisch literarische Spannung gelten? Wichtig ist dabei grundsätzlich, dass mit jeder Teilfrage zwar ein eigenes Erkenntnisinteresse verbunden ist, in vielen spannungsorientierten Untersuchungen jedoch mehrere Erkenntnisinteressen gleichzeitig oder wechselnd verfolgt werden, wodurch bisweilen auch Verwirrung entsteht. Insofern zielt die gestufte Annäherung auf die exemplarische Eingrenzung grundsätzlicher Fragehorizonte, die bei Spannungsanalysen zur Festlegung des eigenen heuristischen Standpunkts bedacht werden können. Fragt man zunächst allgemein danach, was Spannung eigentlich ist, steht man vor einem einzelwissenschaftlich nicht zu bewältigenden Spektrum von Erklärungsmöglichkeiten. Wer sich aus der Affäre ziehen will, kann z.B. gleich sophistisch antworten „Spannung ist, wenn’s spannend ist“ 2 und damit die subjektive Qualität von Spannungserfahrungen betonen. Auf Intersubjektivität abzielende Begründungsansätze führen dagegen bis in den Bereich der Physiologie. Messbar wären etwa der 1 Friedrich Schiller: Klassische Dramen. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Frankfurt a.M. 2008, S. 456 (im Folgenden durch einfache Seitenangabe im Haupttext zitiert). 2 Mit dieser Formel spielt die psychologisch orientierte Forschungsübersicht von Peter Vorderer: „‚Spannung ist, wenn’s spannend ist‘. Zum Stand der (psychologischen) Spannungsforschung.“ In: Rundfunk und Fernsehen. Forum der Medienwissenschaften und Medienpraxis 42 (1994), H. 3. S. 323-339. Jörg Wesche 186 Pulsschlag, der Hormonspiegel, die neuronale Aktivität im Gehirn (der buchstäbliche ‚Nervenkitzel‘) oder der Tonus als Spannungsgrad der Muskulatur. In einem körperlich gespannten Zustand zeigt auch Schiller seinen Meisterschützen Tell. Auf Grund der grausamen Aufgabe, die ihm gestellt ist, zittern seine Glieder so stark, dass er aus Angst, den schwierigen Schuss nicht zu meistern, die Armbrust noch einmal sinken lässt. In „fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend, und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet“ muss er die Körperkontrolle zurückerlangen, bevor er den Strafe verheißenden zweiten Pfeil aus seinem Köcher nimmt (S. 457). Das Drama gestaltet sogleich auch den Übertragungsmechanismus auf den Zuschauer in der Figur des Rudenz. Denn dieser verfolgt die Szene als anteilnehmender Betrachter, „der die ganze Zeit über in der heftigsten Spannung gestanden und mit Gewalt an sich gehalten“ hat (ebd.). Couragiert missachtet er Geßlers herrschsüchtiges Gebot „Ihr schweigt, bis man Euch aufruft“, indem er selbstbewusst entgegnet: „Ich will reden“ (ebd.). Die mühsame Überwindung ‚heftigster Spannung‘ wird somit zur psychischen Vorbedingung einer angesichts des bevorstehenden Unrechts pflichtschuldigen Redefreiheit (parrhesia). Nimmt man das dramatische Arrangement zum Rezipienten- Modell, geht es hierbei um das Spannungsempfinden als psychische Disposition. Entsprechend gehört natürlich die Psychologie zu den zentralen Disziplinen der Spannungsforschung, indem sie Spannungszustände beispielsweise als Angst oder Anspannung - in diesem Sinn ist die fingierte Erregung von Tell oder Rudenz angelegt -, aber auch als Neugierde oder Lust beschreibt. Zielen psychologische Untersuchungsansätze zwar weniger auf fingierte Figuren als das konkrete Spannungserleben realer Rezipienten, hat man das Spannende gleichwohl immer wieder dezidiert objektbezogen, also als qualitative Eigenschaft bestimmter Gegenstände oder Ereignisse gedacht. Hierzu tendiert gerade die Literatur- oder Filmwissenschaft, mit der sich schließlich der zitierte Dramenausschnitt selbst als spannend charakterisieren lässt. Spannung wird dann zu einer Frage der Rezeptionsästhetik, aus deren Sicht sie allgemein als „Wirkungsdisposition“ ästhetischer Gegenstände erscheint. 3 Sondiert man die disziplinäre Bandbreite also in einem ersten Anlauf, stehen sich aus theoretisch übergeordneter Perspektive subjektbezogene (z.B. Physiologie, Psychologie) und objektbezogene Erklärungsansätze (z.B. Literatur-, Filmwissenschaft) gegenüber. Entsprechend hat man die „prinzipielle ‚Doppelnatur‘ des Phänomens Spannung“ hervorgehoben, die methodisch vor besondere Schwierigkeiten stellt. 4 Müssen beide Seiten idealerweise im Zusammenspiel betrachtet werden, 5 wird damit 3 So die nicht unkritisch aufgenommene Bezeichnung für ein außerordentlich heterogenes und offenes Feld bei Thomas Anz: „Spannung“. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 464-467, hier: S. 464. 4 Daniela Langer: „Literarische Spannung/ en. Spannungsformen in erzählenden Texten und Möglichkeiten ihrer Analyse.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 12-32, hier: S. 13. 5 Als richtungweisend gelten in dieser Hinsicht die Ansätze zu einer ‚structural-affect-theory‘ bei William F. Brewer, Edward H. Lichtenstein: „Stories are to entertain. A structural-affect-theory of stories.“ In: Journal of Pragmatics 6 (1982), S. 473-486. Spannungstheorien 187 auch dem Literaturwissenschaftler ein fächerübergreifendes Denken abverlangt, das u.a. in Bereiche der „leserpsychologischen Forschung, der Kognitionstheorie, der Medienanalyse und der Emotionsforschung“ führt. 6 Sinnvoll erweitern lässt sich das Feld überdies um kulturtheoretische Perspektiven, die insgesamt immer noch wenig ausgearbeitet sind. Daher seien zunächst einige kulturwissenschaftlich einschlägige Ansätze umrissen, bevor ich auf Schillers Tell zurückkomme. Im Aufwind stehen gegenwärtig kulturanthropologische Denkweisen, welche Spannung als ein universales Phänomen entwerfen, das kulturell und historisch variabel kodiert wird. Demnach bleibt Spannung keineswegs auf die Künste beschränkt, sondern erscheint als ständiger Begleiter lebensweltlicher Situationen von der einfachen Unterhaltung bis zum Fallschirmsprung. Entsprechend beschreibt z.B. der anglistische Linguist Alwin Fill universale Spannungsprinzipien in der Sprache und fordert programmatisch eine umfassende „Spannungslinguistik“, die er auf allen Sprachebenen von der Phonologie bis zur Pragmatik zu begründen versucht. 7 Im Hintergrund steht hierbei axiomatisch die anthropologische Annahme eines menschlichen „Bedarf[s] an Spannung“. 8 Ähnlich wie der Mensch womöglich durch einen unstillbaren Fiktionshunger getrieben ist, plagt ihn aus dieser Sicht ein Spannungshaushalt, der stets auf Ausgleich drängt. Verbunden ist damit die kulturwissenschaftliche Hypothese, dass der aus der „Notwendigkeit der Nahrungs-(etc.)beschaffung“ hervorgegangene Spannungsbedarf heute gedeckt wird „durch Sport und andere Freizeitbeschäftigungen, aber immer mehr auch durch Kunst, Literatur, und andere Formen des Kulturschaffens.“ 9 Insofern handele es sich allgemein um eine „Verlagerung vom wirklichen Erleben (beim Kampf ums Über-leben) in das Reich des Symbolischen.“ 10 Die sicherlich diskussionswürdige Vorstellung eines vorkulturellen, gleichsam spielfreien menschlichen Urzustands einmal ebenso zur Seite gestellt wie die Annahme, dass die Verlagerung der Spannung vom „Physisch-Animalischen zum Symbolischen“ gleich die „Phylogenese des Menschen“ betreffe, 11 ist das Argumentationsmuster in seiner anthropologischen Dimension deutlich: Spannung erscheint hier als Kompensation und Veränderung mutmaßlicher phylogenetischer Dispositionen in kulturellen Aussagesystemen. Sie wird gewissermaßen zum ästhetisch verwertbaren Abfallprodukt von Kulturevolution. Insofern ergibt sich in diesem Bereich der Spannungstheorie eine Nähe zu biopoetischen Argumentationsmustern, die 6 Langer: Spannung/ en (wie Anm. 4), S. 13. Zur aktuellen Diskussion einer transdisziplinären Standortbestimmung etwa auch Kathrin Ackermann: „Die Entstehung des Nervenkitzels. Zum Verhältnis von psychologischer und literaturwissenschaftlicher Spannungsforschung.“ In: Walburga Hülk, Ursula Renner (Hg.): Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Würzburg 2005, S. 117-128 sowie Uta Klein: „Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von Spannung.“ In: Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, S. 241-268. 7 Alwin Fill: Das Prinzip Spannung. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu einem universalen Phänomen. Tübingen 2 2007, S. 12. 8 Ebd., S. 10 (Hervorhebungen im Original). 9 Ebd. 10 Ebd., S. 11. 11 Ebd. Jörg Wesche 188 sich beispielsweise um die Poetogenese oder Evolution der Fiktion bemühen. 12 Fill begreift Spannung dabei im Kern als Stress. In Anlehnung an die eingeführte Unterscheidung von Eustress und Dystress ergibt sich dann im Handstreich die Differenzierung von „Eutension (wünschenswerte Spannung) und Dystension (unangenehme Spannung).“ 13 Grundlegend ist für ihn zudem die komplementäre Einheit von Spannung und Entspannung (tension and relaxation), so dass im menschlichen „Bedürfnis nach Spannung immer schon die Vorahnung der Entspannung enthalten“ sei. 14 Unabhängig von der Frage, ob solche im Detail kaum korrigierbaren Erklärungsmodelle ihre Tragfähigkeit behaupten oder einmal ihrerseits als kulturphilosophische Ursprungsmythen in die Diskursgeschichte eingehen werden, lenken sie die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf eine kulturhistorische Dimension. Gerade die Kulturgeschichte der Spannung ist bisher jedoch nicht systematisch oder gar interkulturell vergleichend aufgearbeitet. Bedenkt man Ansätze, die in eine kulturhistorische Richtung gehen, fallen durchaus Parallelen zum kulturevolutiven Erzählschema Fills ins Auge. Einen zwar nicht phylogenetisch wirksamen, aber doch soziogenetischen Zusammenhang zwischen positiv bewerteten Spannungserfahrungen und der historischen Institutionalisierung des öffentlichen Sports seit dem Spätmittelalter rekonstruiert in den 80er Jahren beispielsweise eine umfangreiche Studie von Eric Dunning und Norbert Elias. 15 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht lassen sich theoriegeschichtlich zudem zwei Arbeiten von Richard Alewyn und Clemens Lugowski hervorheben. Alewyn sieht mit dem Prozess der Zivilisation eine kulturgeschichtliche Abwandlung von kreatürlicher Angst (z.B. Todes-, Gewitter-, Nacht- oder Höhenangst) zu einer „Angst als Genuß ohne Risiko“ verbunden, die er - tritt das Moment des Geheimnisvollen hinzu - als das „Unheimliche“ bestimmt. 16 Im Gegensatz zum existentiell Bedrohlichen kreatürlicher Angst kann das ästhetische Surrogat also wiederum als lustvoll empfunden werden. In diese noch bei Fill wiederkehrende Logik bezieht Alewyn dabei auch Spannung ein. 17 Gewissermaßen als Lust an der Angst nimmt sie ihren kulturhistorischen Anfang aus seiner Sicht allerdings erst im Windschatten der Aufklärung und ist literaturgeschichtlich u.a. mit dem Aufkommen des Schauerromans verbunden. 18 Anders argumentiert nun Lugowski, der nicht im 12 Grundlegend Karl Eibl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004. 13 Fill: Spannung (wie Anm. 7), S. 9. 14 Ebd., S. 10. 15 Vgl. Eric Dunning, Norbert Elias: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation ( 1 1986). Frankfurt a.M. 2003. 16 Richard Alewyn: „Die Lust an der Angst.“ In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a.M. 1974, S. 307-330, hier S. 316 u. 320. Vgl. hierzu auch ebd., S. 325: „Das Unheimliche ist eine geheimnisvolle Gefahr.“ 17 Explizit geht er auf die Spannungsvarianten Überraschung und Suspense ein (vgl. ebd., S. 325 f.), berührt mit der Betonung des „Unbekannten“ (ebd., S. 324) indirekt aber auch das Phänomen der Rätselspannung. Solche spannungstypologischen Differenzierungsmöglichkeiten werden unten näher erläutert. 18 Textstrategien, die letztlich einer Lust an der Angst geschuldet sind, lassen sich historisch allerdings auch weiter zurückverfolgen. Vgl. für die Frühe Neuzeit z.B. Irmgard Scharold: Spannungstheorien 189 18. Jahrhundert, sondern bereits in der Frühen Neuzeit einen wichtigen Initialpunkt der Spannungsgeschichte sieht. So arbeitet Lugowski anhand von Boccaccios Novellenzyklus Il Decamerone heraus, wie aus bestimmten Wiederholungsmustern in den einzelnen Erzählungen letztlich eine „Entwertung der Spannung“ resultiert. 19 Allerdings wird die Kategorie damit keinesfalls historisch verabschiedet. Stattdessen führt Lugowski eine grundlegende begriffliche Differenzierung ein: Man kann nun zwei Arten von Spannung unterscheiden. Die eine geht auf das „Ob überhaupt“: Ob der Streich gelingen wird, ob die Liebe überhaupt ein glückliches Ende nehmen wird usw. Die andere geht auf das „Wie“: wie der Streich gelingen wird, wie das glückliche Ende aussehen wird. Nur die erste ist im Dekameron vernichtet, die zweite ist durchaus bis zu einem gewissen Grade vorhanden. wie [sic! ] es ganz im Konkreten zum glücklichen oder unglücklichen Ende kommt, das zeigt auch im Dekameron erst die Erzählung selbst. 20 Gegeben ist damit die in der Forschung verbreitete Unterscheidung zwischen ‚Was- Spannung‘ und ‚Wie-Spannung‘ (gelegentlich findet man dazu heute die Ergänzung einer ‚Warum-Spannung‘), auf die seinerzeit auch Brechts berühmte Formulierung von der „Spannung auf den Ausgang“ (dramatische Form des Theaters) gegenüber der „Spannung auf den Gang“ der Handlung (epische Form des Theaters) hinzielt. 21 Lugowski charakterisiert anhand seiner Beobachtungen zum Dekameron also die ‚Wie-Spannung‘ als spezifisch frühneuzeitliche Spannungsform. Die Privilegierung dieser Spannungsart in der Frühen Neuzeit findet bei ihm schließlich auch eine kultursemiotische Begründung, indem für ihn im historischen Verständnis darin „nur der Hinweis auf die Vielfalt der Weisen [liegt], auf welche die sinnlich-irdische Manifestierung des Ergebnisses möglich ist - gerade diese Vielfalt ist Korrelat zur Spannung des ‚Wie‘“. 22 Kultursemiotisch verweist Spannung somit letztlich auf die Vielfalt der Welt. Mögen damit stellvertretend einige Möglichkeiten der kulturwissenschaftlichen bzw. -geschichtlichen Spannungsforschung deutlich sein, lässt sich der Fragehorizont in diesem Feld natürlich erheblich erweitern. Gibt es beispielsweise so etwas wie „Tancredis Phantasmen. Zur historischen Genese von Schauer und Spannung in Theorie und literarischer Praxis des italienischen Cinquecento.“ In: Kathrin Ackermann, Judith Moser- Kroiss (Hg.): Gespannte Erwartungen. Beiträge zur Geschichte der literarischen Spannung. Wien 2007, S. 59-97 oder Jörg Wesche: „Die Leibhaftigkeit der Gespenster. Theatergeists Rollenspiel bei Gryphius und Der Höllische Proteus Erasmus Franciscis.“ In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 32 (2005), H. 1,2 S. 69-90. Spannungsformen in der mittelalterlichen Literatur bedenkt zudem Martin Schuhmann: „Warum mittelhochdeutsche Literatur spannend ist.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 123-139. 19 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a.M. 2 1994, S. 42. 20 Ebd., S. 40 (Hervorhebungen im Original). 21 Bertolt Brecht: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“. In: Ders.: Schriften 4. Texte zu Stücken. Bearbeitet v. Peter Kraft. Frankfurt a.M. 1991, S. 74-84, hier: S. 79. Die mangelnde Trennschärfe der Gegenüberstellung reflektiert Langer: Spannung/ en (wie Anm. 4), S. 19. 22 Lugowski: Individualität (wie Anm. 19), S. 42. Jörg Wesche 190 einen historischen Spannungsbogen, also eine historische Spannungsdynamik, die z.B. einer Logik der Überbietung in den Künsten folgt. Wie stellt sich die Spannungsgeschichte zudem von einem geschlechterhistorischen Standpunkt dar. Oder nicht zuletzt: Wie wird Spannung überhaupt ästhetik- und poetikgeschichtlich reflektiert? Denkt man über diese ebenfalls nicht systematisch aufgearbeitete Frage nach, kann man als prominenten Gewährsmann bereits Aristoteles anführen, der in seiner Poetik das Begriffspaar der ‚Knüpfung‘ (Désis) und ‚Lösung‘ (Lýsis) des Spannungsknotens bedenkt (vgl. 1455 b). Überhaupt finden sich gerade in der Geschichte der Dramentheorie immer wieder Überlegungen zum Phänomen der Spannung. 23 Zu den bekanntesten Positionen zählen im deutschsprachigen Bereich die Dramenpoetiken Gustav Freytags oder Emil Staigers. Freytag beschreibt den idealtypischen Dramenverlauf bekanntlich in einem pyramidalen Schema, das sich mit Kategorien wie Steigerung, Glücksumschwung oder retardierendes Moment letztlich aus der Spannungsführung herleitet. 24 Für Emil Staiger stellt Spannung einen Grundbegriff der Poetik dar, der mit seiner Ausrichtung auf das Zukünftige den dramatischen Stil kennzeichnet. 25 Jenseits der Dramentheorie scheint der Spannungsbegriff jedoch eher ein Stiefkind der Ästhetik und Poetik zu sein. Direkte Belege haben geradezu Seltenheitswert. Im einschlägigen Begriffsumfeld entlehnt immerhin Gottscheds Critische Dichtkunst die alte rhetorische Figur des ‚Aufhaltens‘ (Suspensio) und präzisiert: wenn man nämlich eine Rede ganz von weitem anfängt, und eine gute Weile durch viele Umschweife fortführet: daß der Leser oder Zuhörer nicht gleich weis, was der Poet haben will, sondern das Ende erwarten muss; wo sich der Ausgang zum Labyrinthe, von sich selbst zeiget. Dieser Kunstgriff ist sehr gut, die Leute aufmerksam zu machen. 26 In einem modernen historischen Wörterbuch wie den Ästhetischen Grundbegriffen sucht man den Spannungsbegriff jedoch vergebens. Wiederum im Begriffsumfeld findet sich hierin zwar ein Eintrag zum ‚Interesse‘, das im 18. Jahrhundert durchaus als zentrale Kategorie der Ästhetik und Poetik diskutiert wird. 27 Doch bleibt symptomatisch, dass sich diskursgeschichtlich letztlich die ästhetische Idealvorstellung der Interesselosigkeit durchsetzt - erinnern lässt sich u.a. an Kants wirkungsmächtige Formel vom „uninteressierten Wohlgefallen“ - und damit auch die Spannungskate- 23 Dazu ausführlich Andreas Fuchs: Dramatische Spannung. Moderner Begriff - antikes Konzept. Stuttgart, Weimar 2000. 24 Vgl. Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 13. Auflage, Leipzig 1922. Darmstadt 1975. 25 Vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 3 1956, S. 143-201. 26 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst ( 4 1751). Darmstadt 1962, S. 334. Weitere Belege bei Markus Janka: „Suspensio“. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Tübingen 2009, Sp. 263-269. 27 Vgl. im Einzelnen Kurt Wölfel: „Interesse/ interessant.“ In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2001, S. 138-174. Spannungstheorien 191 gorie aus der Ästhetik verdrängt wird. 28 Entsprechende Vorbehalte setzen sich bis in die Literaturwissenschaft fort. Prägnant resümiert etwa Thomas Anz: Obwohl kein literarischer Text ohne Spannungselemente auskommt, standen diese in der Hierarchie literaturwissenschaftlicher Interessen lange Zeit weit unten: Sie gelten in erstrangiger Literatur als zweitrangiges, nur in zweitrangiger Literatur als erstrangiges Phänomen. 29 Die in der Literaturwissenschaft lange ausgeprägte Tendenz, den engeren Bereich der ‚Höhenkammliteratur‘ gegenüber der Spannungskategorie abzuschotten und diese eher der Unterhaltungsliteratur zuzuschreiben, verliert in der jüngeren Forschung gleichwohl an Boden. Autoren wie Kleist oder Kafka 30 gehören inzwischen ebenso zum festen Gegenstandsbereich von Spannungsanalysen wie im Gegenzug die Unterhaltungsliteratur eines Karl May oder Jules Verne ohne ästhetischen Spannungsvorbehalt diskutiert wird. 31 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Bogen nun zu Schillers Apfelschussszene spannen. Denn angesichts der kunsttheoretischen Auseinandersetzung Schillers mit Kants Idee der Interesselosigkeit, die u.a. im Lehrgedicht Das Ideal und das Leben (1804) ihren Niederschlag findet und zur Idealvorstellung eines ‚uninteressierten Interesses‘ hinführt, 32 erscheint die Spannungsdramaturgie der Szene erklärungsbedürftig. Aus welchem Grund, muss man also fragen, versucht ein hochkanonisierter Klassiker wie Schillers Tell überhaupt Spannung zu erzeugen? Ohne diesen Punkt hier im Einzelnen vertiefen zu können, muss man dazu ins Kalkül ziehen, dass die Spannung des in Szene gesetzten Dilemmas im Tell letztlich zur wesentlichen Bedingung für die Dramatisierung einer Freiheit wird, die eben nicht leicht zu haben, sondern durch Widerstand errungen werden muss. 33 Aus theoretischer Sicht ist damit eine funktionale Dimension ästhetischer Spannung angesprochen, die sich keinesfalls in der bloßen Funktion der Unterhaltung erschöpft. Vielmehr zeigt das Beispiel 28 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg 2006, S. 50. 29 Anz: Spannung (wie Anm. 3), S. 466. 30 Vgl. zuletzt Martin Maurach: „Modifizierte Antizipation und interlokutorische Retardierung. Zu Spannungseffekten in einigen Erzählanfängen bei Kleist.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 189-207 sowie Malte Kleinwort: „Spannung(en) bei Kafka.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 265-282. 31 Grundlegend etwa Ralf Junkerjürgen: Spannung - Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne. Frankfurt a.M. 2002. 32 Einschlägige Belege versammelt Wölfel: Interesse/ interessant (wie Anm. 27), S. 158-160. Zu diesem Komplex etwa auch Klaus Düsing: „Ästhetische Freiheit und menschliche Natur bei Kant und Schiller.“ In: Rolf Füllmann u.a. (Hg.): Der Mensch als Konstrukt. Festschrift für Rudolf Drux. Bielefeld 2008, S. 199-210. 33 Dazu beispielsweise Felix Aschwanden: „Der Freiheitsbegriff in Schillers Wilhelm Tell.“ In: „Frei sein, wie die Väter waren.“ Schillers Wilhelm Tell und der Freiheitsbegriff in Uri um 1800. Hg. v. Historischen Verein Uri. Altdorf 2005, S. 9-24 sowie Hildburg Herbst: „Recht auf Widerstand - Pflicht zum Widerstand: der Fall Wilhelm Tell.“ In: German Studies Review 21 (1998), N. 3. S. 429-445. Jörg Wesche 192 Schillers an, wie Spannungserzeugung durchaus auch kunsttheoretisch (hier im Sinn der Autonomieästhetik) und kultursemiotisch (hier im Prozess der kulturellen Kodierung von Freiheit) motiviert werden kann. Insofern wäre auch der Funktionsgeschichte von Spannung in kulturwissenschaftlichen Studien gezielt nachzugehen. Mag die Annahme einer ausgearbeiteten Spannungsdramaturgie in Schillers Apfelschussszene indessen auch grundsätzliche Zweifel wecken, ist es argumentativ geboten, diese im Folgenden in der Textstruktur konkret nachzuweisen. In den Fokus rückt damit die zweite Leitfrage, wie sich Spannung z.B. in literarischen Texten methodisch überhaupt fixieren lässt. Die flankierenden Möglichkeiten der empirisch gestützten Rezeptionsforschung ausklammernd konzentriere ich mich dabei auf textanalytische Verfahren, die auf die rezeptionsästhetische Identifikation von Techniken der Spannungserzeugung gerichtet sind. Ausgehen kann man dazu von der allgemeinen Unterscheidung zwischen der „Ereignisstruktur“ und der „Diskursstruktur“ eines Texts. 34 Auf der Ereignisebene sind zunächst bestimmte Themen und Motive für die Spannungserzeugung einschlägig. Im Fall der Apfelschussszene gehört hierzu die antipodische Figurenkonstellation, also insbesondere die Gegensätzlichkeit der Hauptakteure Tell und Geßler, über die dem Drama nach dem Schema von gut und böse eine grundlegende figurale Spannung (figural tension) eingeschrieben ist. Zugespitzt wird diese Gegensatzspannung in der Apfelschussszene sodann durch die Bündelung unterschiedlicher Textqualitäten, die von der Kulisse bis hinein in den dramatischen Dialog Spannungssignale geben. So kündigt sich die Spannungskurve der Szene bereits am Beginn im Gegensatz von Höhe und Tiefe an. Schauplatz des Geschehens ist eine „Wiese bei Altdorf“, die begrenzt wird durch den „Bannberg, über welchem ein Schneegebirg emporragt“ (S. 447). Entsprechend wird die gewissermaßen räumliche Fallhöhe zwischen Natur und Kultur im Dialog zwischen Tell und seinem Sohn Walther reflektiert. Nachdem sie den hoheitlichen Hut ohne zu grüßen passiert haben, zeigt Walther nach dem Bannberg mit den Worten „Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern | Und uns die Schlaglawinen niedersenden“ (S. 449). Darauf erwidert Tell: So ist’s, und die Lawinen hätten längst Den Flecken Altdorf unter ihrer Last Verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr sich dagegen stellte. (ebd.) Damit den Wald als den eigentlichen Schutz Altdorfs benennend fügt Tell im weiteren Dialogverlauf die Deutung hinzu „Ja, wohl ists besser, Kind, die Gletscherberge | Im Rücken haben, als die bösen Menschen“, bevor der Wächter Frießhardt ihm „mit vorgehaltner Pike“ entgegentritt (S. 450). Buchstäblich weiter zugespitzt wird die Szenerie durch die hinzugekommenen bewaffneten Knechte im Gefolge Geßlers, „welche einen Kreis von Piken um die ganze Szene schließen“ und damit die Ausweglosigkeit der Bühnensituation choreographisch spiegeln (S. 452). Folgerichtig bedarf es Geßlers Befehl „Öffnet die Gasse“, nach welchem Tell zum furchtbaren Schuss ansetzen muss (S. 455). Regelrecht ins Zentrum der gespannten Aufmerksamkeit gerückt ist 34 Vorderer: Spannung (wie Anm. 2), S. 325. Spannungstheorien 193 damit die unerhörte Prüfung selbst, bei der das Leben sowohl Walthers als auch Tells auf dem Spiel steht (vgl. Geßler: „Du schießest oder stirbst mit deinen Knaben“, S. 454). Spannungssteigernd wirkt in dieser Ereignisstruktur mithin die Logik des Dilemmas, die sich wiederum über die Figurenkonstellation (Vater und Sohn, Bedrohung eines unschuldigen Kindes), die besondere technische Herausforderung des Meisterschusses unter starkem äußeren Druck sowie die psychisch und physisch höchst angespannte Gefühlslage Tells (figural stress) verschärft („Mir schwimmt es vor den Augen“, S. 456). Nicht zu vergessen ist schließlich die Requisite der Armbrust selbst, die gleichsam als Allegorie der Spannung mit der Ereignisstruktur verwoben scheint. Wendet man sich der Diskursstruktur zu, lassen sich gleichfalls zahlreiche Spannungssignale benennen. Abgesehen von der dramaturgischen Platzierung der Höhepunktszene am Ende des dritten Akts kann man in diesem Zusammenhang auf sprachliche Besonderheiten hinweisen. So kommt die außerordentliche Anspannung Tells beispielsweise in der rhythmischen Unterbrechung des Blankverses durch Gedankenstriche, Zeilensprünge oder einen Satzabbruch zum Tragen: T ELL Herr - Welches Ungeheure sinnet ihr Mir an - Ich soll vom Haupte meines Kindes - - Nein, nein doch, lieber Herr, das kömmt euch nicht Zu Sinn - Verhüts der gnädge Gott - das könnt ihr Im Ernst von einem Vater nicht begehren! (S. 453) Lässt die Bedrohung hier die Sprache ins Stocken geraten, wird die affektive Anspannung auch durch eindeutige Regiebemerkungen sekundiert. Tell „spannt die Armbrust“ (S. 456), Rudenz verharrt in der „heftigsten Spannung“ (S. 457). Textanalytisch sind solche selbstreferentiellen Fiktionssignale besonders zu beachten, da sie den Spannungszustand auf der Diskursebene explizit machen und damit der vorschnellen Identifikation vermeintlicher Spannungsdispositionen in einem Text entgegenwirken. Weiter plausibilisieren lässt sich die Spannungsführung auf der Diskursebene zudem, wenn man die Szene aus spannungstypologischer Sicht bedenkt. So ist inzwischen eine Differenzierung grundlegender Spannungsformen eingeführt. Sie sind vor allem im Englischen als begriffliche Varianten gegeben, während das Deutsche stärker auf den Spannungsbegriff festgelegt ist. Die beschriebenen Gegensatzstrukturen (z.B. auf der Figurenebene) werden dabei in der Regel unter der Bezeichnung ‚Tension‘ subsumiert. Hinzu tritt die Unterscheidung von ‚Surprise‘ und ‚Suspense‘. Im Hintergrund steht dabei die Erklärung Alfred Hitchcocks aus einem Interview mit François Truffault, die sich geradezu zu einem Topos der Spannungstheorie verfestigt hat: Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden diese Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz harmlose Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Jörg Wesche 194 Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 - man sieht eine Uhr -. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird die explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Suspense. Daraus folgt, daß das Publikum informiert werden muß, wann immer es möglich ist. Ausgenommen, wenn die Überraschung wirklich dazugehört, wenn das Unerwartete der Lösung das Salz der Anekdote ist. 35 Ist aus Sicht des vielgerühmten ‚Masters of Suspense‘ somit die unterschiedliche Informationsverteilung zwischen Figuren- und Zuschauerebene entscheidend - analog wird Spannung etwa auch in der Dramenanalyse als „partielle Informiertheit“ verstanden, 36 - hat die Forschung diesen Ansatz vielfach aufgenommen und modifiziert. Spannungsanalytisch gut operationalisierbar erscheint letztlich die Unterscheidung von insgesamt vier Grundformen nach Ralf Junkerjürgen: 1. Mystery bezeichnet hier die Technik der Geheimnisbzw. Rätselspannung und ist eine Form der kognitiven Stimulierung. Es handelt sich um die „Inszenierung einer Informationslücke“, die mit dem „Finden der korrekten Lösung abschließt“ (z.B. ‚Whodunnit‘-Schema) und prototypisch in der Kriminalgeschichte oder der Detektiverzählung realisiert ist. 37 2. Suspense versteht Junkerjürgen als emotionale Stimulierung (Gefühlsspannung) durch die „Inszenierung von Gefahren und Anreizen“, welche die Identifikationsfigur überstehen muss; der Spannungsbogen vollzieht dabei häufig einen Dreischritt („Auftauchen einer Gefahr, der Auseinandersetzung mit ihr und der Auflösung“) und tritt typischerweise in Abenteuergeschichten auf. 38 3. Mystery/ Suspense ist eine Mischform, bei der Gefahren und Informationslücken im Sinn einer „‚geheimnisvollen Gefahr‘“ kombiniert werden. Diese Variante ist z.B. im Schauer- und Spionageroman verbreitet. 39 4. Surprise wird schließlich durch eine „plötzliche Neuinformation“ ausgelöst, „die die bisherige Gesamtsituation umkehrte oder zumindest entscheidend verändert“; im Unterschied zu den anderen drei Grundformen, die Szenen, 35 François Truffault: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Hg. v. Robert Fischer. München 3 2003, S. 96. Vgl. hierzu ausführlich Adrian Weibel: Spannung bei Hitchcock. Zur Funktionsweise des auktorialen Suspense. Würzburg 2008. 36 Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977, S. 142. 37 Ralf Junkerjürgen: „Die ‚Spannung verdoppelte, nein verzehnfachte sich‘. Der Schatz im Silbersee im Spiegel psychologischer Rezeptionsästhetik.“ In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2003, S. 67-86, hier: S. 67. 38 Ebd., S. 68. 39 Ebd. Spannungstheorien 195 Episoden oder ganze Texte überspannen können und „prinzipiell durativ“ sind, bleibt diese Spannungsvariante „punktuell“. 40 Beruht diese pragmatische Spannungstypologie nicht zuletzt auf dem Kriterium der unterschiedlichen Reichweite (durativ vs. punktuell), ist es sinnvoll, grundsätzlich zwischen „Detailspannung“ und „Finalspannung“ zu differenzieren (z.B. als ‚Micro Suspense‘ und ‚Macro Suspense‘). 41 Berücksichtigt werden müssen bei der Spannungsanalyse daher jeweils mehrere Spannungsbögen, die unterschiedliche dramaturgische Einheiten überbrücken und sich in ihrem Zusammenwirken ebenso „verstärken“ 42 wie „blockier[en]“ können. 43 Methodisch ist diese Sichtweise entschieden gegen Ansätze zu stellen, die den Fokus auf die Analyse einer einzigen textumspannenden Spannungskurve verengen. 44 Wendet man sich vor diesem Hintergrund wiederum der Diskursstruktur in der Apfelschussszene zu, fragt also danach, wie Schiller die Spannungsführung hier gestaltet, wird durch die Einfädelung des Konflikts (Missachtung des Huts) zunächst eine Detailspannung im Sinn einer Suspense-Kurve initiiert. Entsprechend steigert sich der Suspense-Verlauf bis zur Konfrontation mit Geßler. Hinzu kommt als retardierendes Moment, dass Tell die Armbrust noch einmal sinken lässt, bevor er erneut anlegt. An dieser Stelle wird die Figur jedoch stillgestellt. Indem Schiller den aufgebrachten Dialog zwischen Geßler, Rudenz und Bertha dabei fortlaufen lässt, wird die Aufmerksamkeit vorübergehend von Tell abgelenkt. Mitten im Vers fällt dann unvermittelt der Schuss: R UDENZ […] Auf das Volk zeigend: Ich habe ein Schwert, Und wer mir naht - S TAUFFACHER ruft: Der Apfel ist gefallen! indem sich alle nach dieser Seite gewendet und Bertha zwischen Rudenz und Landvogt sich geworfen, hat Tell den Pfeil abgedrückt. R ÖSSELMANN Der Knabe lebt! V IELE S TIMMEN Der Apfel ist getroffen! Walther Fürst schwankt und droht zu sinken, Bertha hält ihn. G ESSLER erstaunt: Er hat geschossen? Wie? Der Rasende! (S. 458) 40 Ebd. 41 Pfister: Das Drama (wie Anm. 36), S. 147. Ebenso bereits Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970, S. 16. 42 Pfister: Das Drama (wie Anm. 36), S. 147. 43 So die These von Kleinwort: Spannung(en) (wie Anm. 30), S. 281 zur Spannungsdynamik zwischen Tension und Suspense bei Kafka. 44 Symptomatisch in der älteren Forschung etwa Heinz-Lothar Borringo: Spannung im Text und Film. Düsseldorf 1980, bes. S. 54, wo der angenommene idealtypische „Suspenseverlauf“ in einer von Anfang bis Ende reichenden „Textkurve“ schematisiert wird, sowie der Empirisierungsversuch von Ivan und Judith Fónagy: „Ein Meßwert dramatischer Spannung.“ In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1 (1971), H. 4. S. 73-98, der sich auf die Auszählung von Fragen stützt und dabei die „Intensität und Interferenzen“ zwischen Spannungsbögen außer Acht lässt (Pfister: Das Drama [wie Anm. 36], S. 148). Jörg Wesche 196 Deutlich wird hier, wie Schiller die Suspense-Kurve an dieser Stelle absichtsvoll unterbricht und auf einen Überraschungseffekt hinzielt, um die Überrumpelung der Figuren - und mit ihnen auch des Publikums - zu dramatisieren. Der Apfel fällt Rudenz buchstäblich ins Wort; ausgelöst wird daraufhin eine aufgeregte Kaskade antilabischer Sprecherwechsel, die sämtlich zu ungläubigen Ausrufen führen; und selbst Geßler zeigt sich überrascht und steht ‚erstaunt‘ vor dem unerhörten Ereignis. Ausgearbeitet ist dabei auch der komplementäre Gegensatz von Anspannung und Entspannung, wenn Tell - eben noch mit „vorgebognem Leib“ - jetzt „kraftlos“ mit dem Sohn zusammensinkt (ebd.). Dramaturgisch scheint dieser Wechsel von Suspense und Surprise in der Funktion einer zusätzlichen Aufgipfelung der Spannung zu stehen, die ähnlich wie ein Pistolenschuss einen Schreckeffekt beim Zuschauer auszulösen vermag. Schillers spannungstechnische Experimentierfreudigkeit zeigt sich im Stück sodann in der Spiegelszene zur Apfelschussepisode bei Küßnacht (IV/ 3), die der Variante eines durchgehenden Suspense-Verlaufs folgt. Die geflügelten Worte „Durch diese hohle Gasse muß er kommen“ kündigen dabei zunächst Geßler als den nunmehr in die Enge Getriebenen an (S. 478). Im Folgenden spielt Schiller das Prinzip der partiellen Informationsvergabe spannungssteigernd aus, da das Publikum im Gegensatz zu Geßler darüber in Kenntnis gesetzt ist, dass Tell im Hinterhalt lauert. Mit Hitchcock wird er somit gleichsam zur sichtbaren Zeitbombe unter dem Tisch, wobei hier bemerkenswert ist, dass Schiller nicht die Identifikationsfigur des Helden, sondern den strafwürdigen Bösewicht in der lebensbedrohlichen Situation vor Augen stellt. Nachdem der Schuss gefallen ist, sind die übrigen Figuren zwar wiederum überrascht, doch erkennt Geßler sofort „Das ist Tells Geschoß“ und holt somit den Informationsvorsprung der Zuschauer ein (S. 486). Freimütig gibt Tell sich dem Sterbenden schließlich zu erkennen, um die Notwendigkeit seines Anschlags zu rechtfertigen: T ELL erscheint oben auf der Höhe des Felsen: Du kennst den Schützen, suche keinen andern! Frei sind die Hütten, sicher ist die Unschuld Vor dir, du wirst dem Lande nicht mehr schaden. Verschwindet von der Höhe. Volk stürzt herein. (S. 486) Sind damit grundlegende Methoden der Spannungsanalyse exemplarisch umrissen, seien abschließend noch einige offene Überlegungen zur dritten Leitfrage, was als spezifisch literarische Spannung gelten kann, angefügt. Allgemein muss man dazu festhalten, dass sämtliche Spannungsformen, die am Beispiel der Apfelschussszene in Schillers Tell angesprochen wurden, nicht auf die Literatur beschränkt werden können. So sind begriffliche Differenzierungen wie kognitive und emotionale Spannung, figural Stress, Tension, Mystery, Suspense, Surprise, Detail- oder Finalspannung zweifellos auch für die Spannungsanalyse von Filmen, TV-Serien, Hörspielen oder Comics ergiebig. 45 Dies gilt prinzipiell unabhängig davon, dass Spannung in ‚Span- 45 Vgl. z.B. für den Film die weiterführende Übersicht von Hans J.Wulff: „Spannung/ Suspense.“ In: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart 2 2007, S. 655-658 oder für Spannungstheorien 197 nungstextsorten‘ wie Thriller, Kriminal- oder Detektivgeschichte eine genrekonstituierende Funktion zugeschrieben wird. Ihr gattungs- und medienübergreifendes Potential erhellt dabei bereits aus der Funktion des Dramas als Spielvorlage für das Theater, die auch in den Ausführungen zu Schillers Tell wiederholt angeklungen ist. So kann die Spannungsdramaturgie, die einem Spieltext eingeschrieben ist, jeweils in die Aufführung übersetzt werden, selbst wenn das Theater auf Grund seiner Plurimedialität, Transitorik oder Kopräsenz der Akteure über erweiterte Möglichkeiten der Spannungserzeugung (z.B. durch Musikeinsatz) verfügt. Auch lassen sich ursprünglich für die Dramenanalyse vorgeschlagene Spannungsparameter wie der Grad der Identifikation des Rezipienten mit einer fiktiven Figur, die Größe des involvierten Risikos, die zukunftsorientierte Informationsvergabe durch z.B. Träume oder Schwüre oder der Informationswert einer Handlungssequenz, der mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses korreliert, 46 generell in allen geschehensdarstellenden Genres und Medien überprüfen. Noch unübersichtlicher wird das Feld zudem, wenn man den Spannungsbegriff nicht auf die geschehensdarstellenden Künste beschränkt, sondern ihn schlicht als Gegensätzlichkeit in der Funktion der Zeit versteht. Mag er dann im Zusammenhang mit der Malerei, Skulptur oder Architektur zwar immer noch diskussionswürdig erscheinen, ist er jedoch insbesondere musiktheoretisch keinesfalls fremd. So nimmt etwa der Critische Musicus (1737-1745) von Johann Adolf Scheibe die Gottschedsche Vorstellung des Aufhaltens (Suspensio) bereits im 18. Jahrhundert auf und strahlt damit in die Musiktheorie des 19. Jahrhunderts aus. 47 Richten Untersuchungen ihr Erkenntnisinteresse trotz des angedeuteten transgenerischen und transmedialen Potentials von Spannung dennoch explizit auf die Eigenqualitäten literarischer Spannung, können die vorgestellten spannungstypologischen Differenzierungen nur als eine analytische Matrix dienen, von der aus gezielt nach den konkreten darstellungstechnischen Mitteln gefragt werden muss, mit denen im Rahmen der z.B. schriftsprachlich gegebenen medialen Grundbedingungen Spannungsformen wie Mystery oder Suspense erzeugt werden können. Tastet man sich in diesem Bereich vor, ist beispielsweise sicherlich als Stärke der Erzählliteratur zu diskutieren, dass sie bei der Spannungsführung auf ein breites Spektrum der sprachlichen Repräsentation von konkurrierender Personenperspektiven bzw. Innenperspektiven zurückgreifen kann. 48 Für den Roman scheint zudem charakteristisch, dass die Spannungskomposition hier weit über einen Theaterabend oder einen 90minütigen Film hinaus kalkuliert werden kann. Dies ermöglicht z.B. das Arbeiten den Comic Bernd Dolle-Weinkauff: „Inszenierung - Intensivierung - Suspense. Strukturen des ‚Spannenden‘ in Literatur und Comic.“ In: Dieter Pätzold, Eberhard Späth (Hg.): Unterhaltung. Sozial- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu ihren Formen und Funktionen. Erlangen 1994, S. 115- 138. 46 So die Kriterien Pfisters: Das Drama (wie Anm. 36), S. 144-146. 47 Belege bei Janka: Suspensio (wie Anm. 26), Sp. 266. 48 Auf diesen Punkt verweist etwa Dieter Wellershoff: „Ein unbewusstes Etwas im Dunkeln. Wie Spannung entsteht und was sie bedeutet.“ In: Ders.: Das geordnete Chaos. Köln 1992, S. 86-101, bes. S. 96 f. Jörg Wesche 198 mit episodischen Fortsetzungstechniken nach dem ‚Cliffhanger-Prinzip‘ oder auch eine komplexe Verflechtung mehrerer Spannungskurven auf unterschiedlichen Erzählebenen. Für nicht-geschehensdarstellende Literaturformen wie etwa das Epigramm ließe sich hingegen bedenken, ob sie auf Grund ihrer relativen Kürze zu bestimmten Varianten wie der Rätselspannung oder Überraschung tendieren. 49 Neben darstellungstechnischen Eigenqualitäten sind freilich die spezifischen Rezeptionsbedingungen für die literarische Spannungserzeugung wichtig. Der Akt der stillen Lektüre ermöglicht sicherlich ein ganz anderes Spannungserleben als der Theater- oder Kinobesuch, bei dem es zur geteilten Gemeinschaftserfahrung wird. Zudem ist hierbei im Gegensatz zur Lektüre das Rezeptionstempo vorgegeben. Deutlich wird die erhebliche Tragweite dieser an sich einfachen Rezeptionsbedingung etwa am Beispiel des Hörbuchs. Hier muss sich das ‚literarische‘ Spannungserleben gleichfalls einem definierten Rezeptionstempo anpassen. Außerdem treten performative Möglichkeiten der Spannungserzeugung durch die Stimmqualität und Stimmführung hinzu. Im Gegensatz zum Hörspiel, das in der Regel von mehreren Sprechern mit verteilten Rollen aufgeführt wird, konzentriert sich die Aufmerksamkeit im Hörbuch dabei auf die akustische Wahrnehmung einer einzigen Stimme. Wird diese mediale Bedingung richtig ausgenutzt, kann sie indessen geradezu den Marktwert von Spannungsliteratur erhöhen. Genau darauf gerichtet ist z.B. offenbar die Strategie, die Hörbuchfassung eines Bestsellers wie Dan Browns Illuminati (2003) mit Wolfgang Pampel als ausgebildetem Sprecher zu besetzen, da dieser im deutschen Markt als Synchronstimme des amerikanischen Actiondarstellers Harrison Ford eingeführt ist. 50 Nach dem Prinzip der Prestigeübertragung wird damit bereits bei der Kaufentscheidung das Versprechen eines besonderen Nervenkitzels gegeben. Deutlich wird an diesem Beispiel - und mit diesem Gedanken seien die offenen Überlegungen hier an ein Ende geführt -, dass bei der Reflexion literarischer Rezeptionsbedingungen nicht nur die „postrezeptive Beurteilung“, sondern auch „prärezeptive Funktion[en]“ berücksichtigt werden müssen. 51 So gehört das Kriterium der Unvorhersehbarkeit keinesfalls zu den notwendigen Voraussetzungen dafür, dass im Rezeptionsprozess Spannung entsteht (in der Forschung ist das Phänomen als Spannungsparadox bekannt). Aus dem Umstand, dass Spannungserfahrungen durch die Vorhersehbarkeit eines Spannungsverlaufs häufig überhaupt nicht gedämpft werden, folgt indessen letztlich die methodische Forderung, das Augenmerk bei Spannungsanalysen stärker auch auf prärezeptive Faktoren zu richten. Hier liegt für die literaturwissenschaftliche Spannungsforschung schließlich die vielleicht überraschende Perspektive, dass sie gezielt nach spannungsästhetisch verfestigten Mustern fragen 49 Poetikgeschichtlich einschlägig ist in diesem Zusammenhang z.B. die Beschreibung des Zusammenspiels von Erwartung und Aufschluss in der Epigrammtheorie Gotthold Ephraim Lessings: „Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und einige der vornehmsten Epigrammisten.“ In: Ders.: Werke 1770-1773. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 2000, S. 179-290. 50 Vgl. Dan Brown: Illuminati. Bergisch Gladbach 2003 (die Audiofassung ist gegenüber der Romanvorlage gekürzt). 51 Vorderer: Spannung (wie Anm. 2), S. 323. Spannungstheorien 199 kann, durch die gerade auf Grund ihrer Bekanntheit Spannung in literarischen Texten ausgelöst wird. Literaturverzeichnis Ackermann, Kathrin: „Die Entstehung des Nervenkitzels. Zum Verhältnis von psychologischer und literaturwissenschaftlicher Spannungsforschung.“ In: Walburga Hülk, Ursula Renner (Hg.): Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Würzburg 2005, S. 117-128. Alewyn, Richard: „Die Lust an der Angst.“ In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a.M. 1974, S. 307-330. Anz, Thomas: „Spannung“. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 464-467. Aschwanden, Felix: „Der Freiheitsbegriff in Schillers Wilhelm Tell.“ In: „Frei sein, wie die Väter waren.“ Schillers Wilhelm Tell und der Freiheitsbegriff in Uri um 1800. Hg. v. Historischen Verein Uri. Altdorf 2005, S. 9-24. Borringo, Heinz-Lothar: Spannung im Text und Film. Düsseldorf 1980. Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“. In: Ders.: Schriften 4. Texte zu Stücken. Bearbeitet v. Peter Kraft. Frankfurt a.M. 1991, S. 74-84. Brewer, William F., Edward H. Lichtenstein: „Stories are to entertain. A structural-affecttheory of stories.“ In: Journal of Pragmatics 6 (1982), S. 473-486. Brown, Dan: Illuminati. Bergisch Gladbach 2003. Dolle-Weinkauff, Bernd: „Inszenierung - Intensivierung - Suspense. Strukturen des ‚Spannenden‘ in Literatur und Comic.“ In: Dieter Pätzold, Eberhard Späth (Hg.): Unterhaltung. Sozial- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu ihren Formen und Funktionen. Erlangen 1994, S. 115-138. Düsing, Klaus: „Ästhetische Freiheit und menschliche Natur bei Kant und Schiller.“ In: Rolf Füllmann u.a. (Hg.): Der Mensch als Konstrukt. Festschrift für Rudolf Drux. Bielefeld 2008, S. 199-210. Dunning, Eric, Norbert Elias: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation. Frankfurt a.M. 2003. Eibl, Karl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004. Fill, Alwin: Das Prinzip Spannung. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu einem universalen Phänomen. Tübingen 2 2007. Fónagy, Ivan, Judith Fónagy: „Ein Meßwert dramatischer Spannung.“ In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1 (1971), H. 4. S. 73-98. Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 13. Auflage, Leipzig 1922. Darmstadt 1975. Fuchs, Andreas: Dramatische Spannung. Moderner Begriff - antikes Konzept. Stuttgart, Weimar 2000. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer critischen Dichtkunst ( 4 1751). Darmstadt 1962. Herbst, Hildburg: „Recht auf Widerstand - Pflicht zum Widerstand: der Fall Wilhelm Tell.“ In: German Studies Review 21 (1998), N. 3. S. 429-445. Janka, Markus: „Suspensio“. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Tübingen 2009, Sp. 263-269. Junkerjürgen, Ralf: „Die ‚Spannung verdoppelte, nein verzehnfachte sich‘. Der Schatz im Silbersee im Spiegel psychologischer Rezeptionsästhetik.“ In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2003, S. 67-86. Jörg Wesche 200 Junkerjürgen, Ralf: Spannung - Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne. Frankfurt a.M. 2002. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg 2006. Klein, Uta: „Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von Spannung.“ In: Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, S. 241-268. Kleinwort, Malte: „Spannung(en) bei Kafka.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 265-282. Langer, Daniela: „Literarische Spannung/ en. Spannungsformen in erzählenden Texten und Möglichkeiten ihrer Analyse.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 12-32. Lessing, Gotthold Ephraim: „Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und einige der vornehmsten Epigrammisten.“ In: Ders.: Werke 1770-1773. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 2000. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a.M. 2 1994. Maurach, Martin: „Modifizierte Antizipation und interlokutorische Retardierung. Zu Spannungseffekten in einigen Erzählanfängen bei Kleist.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 189-207. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977. Pütz, Peter: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970. Scharold, Irmgard: „Tancredis Phantasmen. Zur historischen Genese von Schauer und Spannung in Theorie und literarischer Praxis des italienischen Cinquecento.“ In: Kathrin Ackermann, Judith Moser-Kroiss (Hg.): Gespannte Erwartungen. Beiträge zur Geschichte der literarischen Spannung. Wien 2007, S. 59-97. Schiller, Friedrich: Klassische Dramen. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Frankfurt a.M. 2008. Schuhmann, Martin: „Warum mittelhochdeutsche Literatur spannend ist.“ In: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen, Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008, S. 123-139. Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 3 1956. Truffault, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Hg. v. Robert Fischer. München 3 2003. Vorderer, Peter: „‚Spannung ist, wenn’s spannend ist‘. Zum Stand der (psychologischen) Spannungsforschung.“ In: Rundfunk und Fernsehen. Forum der Medienwissenschaften und Medienpraxis 42 (1994), H. 3. S. 323-339. Weibel, Adrian: Spannung bei Hitchcock. Zur Funktionsweise des auktorialen Suspense. Würzburg 2008. Wellershoff, Dieter: „Ein unbewusstes Etwas im Dunkeln. Wie Spannung entsteht und was sie bedeutet.“ In: Ders.: Das geordnete Chaos. Köln 1992, S. 86-101. Wesche, Jörg: „Die Leibhaftigkeit der Gespenster. Theatergeists Rollenspiel bei Gryphius und Der Höllische Proteus Erasmus Franciscis.“ In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 32 (2005), H. 1,2. S. 69-90. Wölfel, Kurt: „Interesse/ interessant.“ In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2001, S. 138-174. Wulff, Hans J.: „Spannung/ Suspense.“ In: Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart 2 2007, S. 655-658. Atmosphäre als ästhetischer Begriff Kaspar H. Spinner Atmosphäre zum Thema eines literaturtheoretischen Beitrages zu machen, ist ungewöhnlich. Der Begriff ist in den Naturwissenschaften geläufig und man kennt ihn in der Alltagssprache. In jüngerer Zeit hat er Eingang in die ästhetische Theorie gefunden, besonders im Rahmen der Naturästhetik. In der Literaturwissenschaft findet man ihn fast gar nicht, aber in Publikationen zur philosophischen Ästhetik wird zur Veranschaulichung gelegentlich auf literarische Beispiele Bezug genommen. Es ist also durchaus angebracht, auch literaturtheoretisch den Begriff zu erörtern. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Versuch, den ästhetischen Begriff der Atmosphäre auf die Literatur zu beziehen. Um nachvollziehen zu können, was in der Ästhetik unter Atmosphäre verstanden wird, kann man bei der Alltagssprache anknüpfen. Wir sprechen zum Beispiel davon, dass bei einer Sitzung eine unangenehme Atmosphäre geherrscht habe, dass eine Kirche eine meditative Atmosphäre ausstrahle oder dass ein Fest in toller Atmosphäre stattgefunden habe. Der Begriff der Atmosphäre ist uns also geläufig; aber es wird schwierig, wenn wir genau erläutern wollen, worin denn die jeweils besondere Atmosphäre bestehe. Kommt es auf das an, was man sieht, oder auf das, was man riecht, oder das, was man hört oder was man auf der Haut empfindet? Atmosphäre erweist sich als ein diffuser Begriff, wenn man ihm genauer auf die Spur kommen will. Aber gerade das macht ihn in gewisser Weise auch attraktiv. Es gibt offensichtlich diffuse ästhetische Phänomene und Erfahrungen, die anders als der goldene Schnitt oder eine schöne Rose oder eine virtuose Plastik nicht genau am ästhetischen Gegenstand festzumachen sind. Die begriffliche Unschärfe beruht auf der Unschärfe dessen, was der Begriff meint. Nun soll hier nicht die allgemeine ästhetische Theorie der Atmosphäre erörtert werden; ich argumentiere vielmehr ausgehend von literarischen Texten und gehe mehr induktiv als deduktiv vor, um zu ergründen, was der Begriff der Atmosphäre literaturtheoretisch zu leisten vermag. I. Ein Gedicht als Ausgangsbeispiel Ich beginne mit einem der bekanntesten deutschen Gedichte, mit Wandrers Nachtlied von Goethe (dem zweiten mit diesem Titel in Goethes Ausgabe, weshalb er es einfach mit Ein Gleiches überschrieben hatte). Dass ich ein Gedicht über die beginnende Nacht wähle, ist nicht zufällig; die Dämmerung wird in der einschlägigen Fachliteratur oft als Beispiel für Atmosphäre genannt, so zum Beispiel von Gernot Böhme, dem Hauptvertreter einer philosophischen Ästhetik der Atmosphäre: „Die Dämme- Kaspar H. Spinner 202 rung ist eine Atmosphäre par excellence“. 1 In der Dämmerung verschwimmen die Konturen, Einzelheiten können nicht mehr genau wahrgenommen werden und überhaupt ist der Sehsinn, der Gegenstände voneinander trennt, eingeschränkt, so dass die anderen Sinneswahrnehmungen an Bedeutung gewinnen und ein atmosphärischer Gesamteindruck entsteht. 2 Johann Wolfgang Goethe Wandrers Nachtlied Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch. 3 Anhand dieses Gedichtes stelle ich sechs Charakteristika des Atmosphärischen heraus: 1. Synästhesie Im Gedicht sind mehrere Sinneswahrnehmungen angesprochen. Um optische Wahrnehmung geht es vor allem da, wo von „Gipfeln“ und „Wipfeln“ die Rede ist. Auf den Hörsinn sind Wörter wie „Ruh’“ und „schweigen“ (sozusagen ex negativo) bezogen. Das körperliche Spüren kommt im zweiten Satz ins Spiel („Spürest Du / Kaum einen Hauch“); hier mag zusätzlich eine optische, vielleicht auch akustische Wahrnehmung angesprochen sein - bei Wind biegen sich die Wipfel und rauschen. Die verschiedenen Sinneswahrnehmungen verbinden sich im Gedicht zu einem Gesamteindruck, es handelt sich also nicht um eine bloße additive Aneinanderreihung; das „ruhest“ in der letzten Zeile umfasst entsprechend das Zur-Ruhe- Kommen des Sehens, des Hörens und des Spürens. Ein solches synästhetisches Zusammenspiel von verschiedenen Wahrnehmungen macht das Atmosphärische aus. Nun ist Sprache allerdings auf Sukzession angewiesen und ihre Wörter trennen Bedeutungen voneinander. Wenn in literarischen Texten Atmosphärisches wiedergegeben oder, wie man eher sagen sollte, Atmosphäre erzeugt werden soll, muss das einzeln Genannte in ein Miteinander verwoben werden. Dies erfolgt in literarischen Texten besonders oft durch die Herstellung einer Bewegung, die verbindende Über- 1 Böhme, Gernot: Anmutungen. Über das Atmosphärische. Osterfildern vor Stuttgart: Ed. Tertium 1998, S. 32. 2 vgl. Bautz, Timo: „Stimmig/ unstimmig. Was unterscheidet Atmosphären? “ In: Goetz, Rainer/ Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: kopaed 2007, S. 118. 3 Goethe, Johann Wolfgang. Gedichte 1800-1832. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1988 (Sämtliche Werke I,2), S. 65. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 203 gänge schafft. Das ist in Goethes Gedicht besonders deutlich zu beobachten an der Bewegung von oben nach unten und von außen nach innen. Die damit angesprochene Räumlichkeit macht das zweite Charakteristikum aus. 2. Raum Atmosphäre ist an die Kategorie des Raumes gebunden; sie ist etwas, was den Raum füllt. Entsprechend schafft Goethes Gedicht eine Raumvorstellung, wie schon die lokalen Präpositionen „über“ und „in“ zeigen. Ohne Raum, so kann man sagen, kann es keine Atmosphäre geben. Dies ist besonders bei Bühnenbildern deutlich: Kulissen und Requisiten können zeichenhaft sein; wenn sie Atmosphäre schaffen sollen, dann müssen sie für die Imagination der Zuschauer ausstrahlen auf den Raum zwischen ihnen und ihm so eine bestimmte Qualität verleihen. Übertragen auf literarische Texte kann man sagen, dass Atmosphäre etwas ist, was zwischen den konkreten Wörtern entsteht und sie umschließt wie die Ruhe in Goethes Gedicht, die den Raum füllt und die einzelnen Satzaussagen miteinander verbindet. Der Zusammenhang von Raum und Atmosphäre macht verständlich, warum literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Raum, insbesondere solche zur Landschaft, als Vorarbeiten zu einer Theorie der Atmosphäre in der Literatur gelten können. 4 3. Leiblichkeit Schon beim alltäglichen Sprachgebrauch wird deutlich, dass Atmosphäre mit Leiblichkeit zu tun hat. Eine tolle Atmosphäre spürt man körperlich, ebenso wie sich eine eisige Atmosphäre bei einer Besprechung auf das körperliche Wohlbefinden auswirkt. In dieser Hinsicht ist der Ausdruck „spürest“ in Goethes Gedicht für das Atmosphärische besonders charakteristisch, denn im Gegensatz zum Hören, Sehen, Riechen, auch zum Fühlen und zum Denken, ist ‚spüren‘ das mehr körperbezogene Verb. Man sagt zum Beispiel, man spüre die Kühle oder die Wärme, nur in besonderen Fällen, man schmecke oder höre sie. Gernot Böhme hat in diesem Zusammenhang formuliert: „Ich würde die Atmosphären als die Sphären gespürter leiblicher Anwesenheit bezeichnen.“ 5 Beim Lesen muss diese leibliche Anwesenheit imaginiert werden. Wenn man z.B. das Lesen als ein Eintauchen in eine fremde Welt erfährt, kann dies als Imagination einer fiktionalen Atmosphäre bezeichnet werden. Der Begriff des Atmosphärischen verdeutlicht dabei, dass es nicht einfach um optische Vorstellungen geht, die man beim Lesen entwickelt. Dem Begriff der Imagination, abgeleitet von imago, haftet diese Konnotation des Visuellen an. Atmosphäre ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung dagegen etwas, was man nicht sehen kann, was einen un- 4 vgl. Ritter, Alexander (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975. 5 Böhme, Gernot: „Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung.“ In: Goetz, Rainer/ Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: kopaed 2007, S. 31-43, hier: S. 37f. Kaspar H. Spinner 204 sichtbar umgibt. In dieser Umgebungsqualität des Atmosphärischen wird deutlich, dass die Stichworte Raum und Leiblichkeit eng aufeinander bezogen sind: Mit seinem Leib ist der Mensch im Raum anwesend; das Atmosphärische ist die ästhetische Erfahrung, die darauf bezogen ist. Es ist nicht ein Vorstellungsbild - die Wortbestandteile „Vor-“ und „-bild“ passen nicht zum Atmosphärischen, das leiblich gespürt wird. 4. Präsenz In der oben zitierten Definition spricht Böhme von „Anwesenheit“. Diesen Aspekt fasse ich hier unter dem Begriff der Präsenz. In Goethes Gedicht wird sie vor allem durch das „Du“ realisiert: Das Gedicht ist nicht nur die Beschreibung einer nächtlichen Landschaft, vielmehr wird ein lyrisches Du angesprochen, das in der nächtlichen Atmosphäre anwesend und von ihr umfangen ist. Diese Präsenz wird vom Leser oder Hörer des Gedichts nachvollzogen - man kann dies als situationsbezogene Identifikation mit dem lyrischen Ich bzw. lyrischen Du bezeichnen. Beim Interpretieren wird der Nachvollzug des Atmosphärischen oft allzu schnell übergangen, etwa wenn man als Quintessenz des Gedichtes den Schlusssatz „Balde ruhest du auch“ interpretiert als das Zu-Bett-Gehen oder als Ruhe der Seele (z.B. nach den jugendlichen Sturm-und-Drang-Jahren des Autors) oder als Vorahnung des Todes. Dem Wahrnehmen des Atmosphärischen im Gedicht geht es nicht um diese Frage, was „balde“ sein wird, sondern um die Präsenz, um das Hier und Jetzt der Situation im Gedicht, das eine Erwartungshaltung einschließt, die im „balde“ ausgedrückt ist. Abstrakter ausgedrückt: Das Präsentische verweist nicht auf das Futurische, sondern das Futurische ist atmosphärisch im Präsentischen enthalten. Auf den präsentischen Charakter von Atmosphäre hat auch Martin Seel hingewiesen: „Atmosphäre einer landschaftlichen Gegend dagegen möchte ich die Korrespondenzqualität aktueller Lebenssituationen in ihrer Umgebung nennen“. 6 Diese Charakterisierung bezieht sich bei Seel zwar nicht auf literarische Texte, aber sie trifft sehr wohl auf Goethes Gedicht zu; die „aktuelle Lebenssituation“ ist im Gedicht diejenige des lyrischen Du, die der Leser nachvollzieht. 5. Wechselseitige Resonanz von Subjekt und Umgebung Goethes Gedicht entwickelt geradezu exemplarisch die Resonanz von Subjekt und Umgebung, die Gernot Böhme als Charakteristikum von Atmosphäre nennt, wenn er sie definiert als etwas, das „zwischen Subjekt und Objekt ist, nämlich ihre gemeinsame Wirklichkeit“. 7 Im ersten Satz von Wandrers Nachtlied ist zunächst nur von der Natur die Rede; im zweiten Satz ist ein Du genannt, das durch das „Spürest Du“ auf die Umwelt bezogen wird. Im letzten Vers wird das Ruhen direkt als Prädikat auf das Du bezogen („Ruhest du auch“). „Ruhe“ im ersten und „Ruhest“ im letzten Satz 6 Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 100f. 7 Böhme, Gernot: Anmutungen. Über das Atmosphärische. Osterfildern vor Stuttgart: Ed. Tertium 1998, S. 8. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 205 rahmen das Gedicht ein, das vom Zur-Ruhe-Kommen der Natur und des erlebenden Subjekts spricht - dass das verbindende „auch“ das letzte Wort des Gedichtes ist, erweist sich in dieser Hinsicht als besonders bedeutsam. Dass die atmosphärische Verbindung von Subjekt und Umgebung in der Lyrik besonders intensiv zum Ausdruck gebracht werden kann, hängt mit der gattungsspezifischen Möglichkeit zusammen, aus der Perspektive eines lyrischen Ich eine Situation zu vergegenwärtigen. In Wandrers Nachtlied tritt dieses Ich zwar nicht explizit durch das Pronomen „ich“ in Erscheinung, aber es ist der implizite Perspektivträger im Gedicht (so vergegenwärtigt schon die einleitende lokale Präposition „über“ eine Blickrichtung) und es spricht sich dann mit dem „Du“ selbst an. Das Gedicht lädt den Leser ein, sich in die Subjektposition des lyrischen Ich hineinzuversetzen. 6. Existenzielle Bedeutsamkeit Atmosphärisches wird vor allem dann intensiv wahrgenommen, wenn es von „existentielle[r] Bedeutsamkeit“ 8 ist. Das Ruhen, oder genauer: das Zur-Ruhe-Kommen, von dem Goethes Gedicht handelt, ist eine elementare menschliche Erfahrung. Der Wechsel von Aktivität und Ruhe ist ein Lebensgesetz, sowohl im täglichen Rhythmus von Wachen und Schlafen als auch bezogen auf Leben und Tod. Indem das Gedicht im Atmophärischen eine elementare menschliche Erfahrung evoziert, wird es für den Leser bedeutsam. Die Ausführungen zu den sechs Charakteristika beanspruchen nicht, die Bedeutungsdimensionen des Goethegedichtes auszuschöpfen. Sie sollen einen Aspekt herausstellen, der für die literarästhetische Erfahrung wichtig ist und der übergangen wird, wenn man allzu schnell nach Bedeutungen fragt. Das Atmosphärische in einem literarischen Text liegt diesseits symbolischer und parabolischer Bedeutungen, aber ist mehr als das, was sich formalästhetisch festmachen lässt. II. Atmosphäre gleich Stimmung? Die hier dargelegte Charakterisierung des Atmosphärischen könnte den Eindruck erwecken, es ginge um ein Phänomen, das schon lange in der Literaturwissenschaft behandelt werde, nämlich um das, was als Stimmung bezeichnet wird. Mit dem Begriff der Atmosphäre würde also wieder einmal nur alter Wein in neuen Schläuchen verkauft bzw. ein wissenschaftlich klingendes Fremdwort für Bekanntes verwendet. Der Begriff der Atmosphäre steht dem der Stimmung in der Tat inhaltlich nahe und in vielen Fällen sind die beiden Begriffe auch austauschbar. Und doch sind sie unterschiedlich akzentuiert: Stimmung ist stärker subjektbezogen; das wird z.B. deutlich, wenn man die folgenden Formulierungen einander gegenüberstellt. Man sagt „Ich bin in einer guten Stimmung“, aber kaum „Ich bin in einer guten Atmosphäre“. Wenn man die letztere Formulierung doch wählt, hat sie auf jeden Fall eine andere Bedeutung; sie ist z.B. möglich als Aussage über die Atmosphäre, die am Arbeits- 8 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser 2000, S. 152. Kaspar H. Spinner 206 platz herrscht, im Sinne von: Ich bin an einem Arbeitsplatz, in dem eine gute Atmosphäre herrscht. 9 Wenn man sich diesen Unterschied vergegenwärtigt, wird verständlich, warum Gernot Böhme die Stimmung als den „subjektive[n] Pol der Atmosphäre“ bezeichnet. 10 Der Unterschied ist auch begriffsgeschichtlich fassbar; „Stimmung“ wird in Philosophie und Psychologie, z.B. bei dem für die Literaturwissenschaft einflussreichen Dilthey, entschieden subjektiv gefasst - es handelt sich im Übrigen um ein sehr deutsches Wort, das nur schwer in andere Sprachen zu übersetzen ist. Atmosphäre dagegen ist begriffsgeschichtlich naturwissenschaftlich geprägt in der Bedeutung der Gashülle, die die Erde umschließt. Dass Atmosphäre in der ästhetischen Theorie nicht mit dem subjektivistischen Stimmungsbegriff gleichzusetzen ist, verdeutlicht Martin Seel, wenn er im Hinblick auf Atmosphären von der „korresponsive[n] Präsenz der Natur“, die „die Anwesenden“ umfasse, spricht und dies von der Natur als „Metapher der Seele und ihrer Stimmungen“ abgrenzt. 11 In der Literaturwissenschaft ist die Naturstimmung in der Dichtung immer wieder als Veranschaulichung von Seelenzuständen gedeutet worden. Dieser Stimmungsbegriff ist vor allem von Hegels Ästhetik beeinflusst, und zwar von seiner Charakterisierung der Lyrik. Bei ihm heißt es: „Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. Dann nämlich wird das Gemüt selbst, die Subjektivität als solche, der eigentliche Gehalt, so daß es nur auf die Seele der Empfindung und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt. Die flüchtigste Stimmung […] wird […] festgehalten“. 12 Diese Auffassung konkretisiert Hegel dann noch: „Ist nun aber die innere Subjektivität der eigentliche Quell der Lyrik, so muß ihr auch das Recht bleiben, sich auf den Ausdruck rein innerlicher Stimmungen, Reflexionen usf. zu beschränken, ohne sich zu einer konkreten, auch in ihrer Äußerlichkeit dargestellten Situation auseinanderzulegen.“ 13 Zum Begriff des Atmosphärischen, wie er in der heutigen Ästhetik verwendet wird, passt dieser Stimmungsbegriff nicht, weil er den Aspekt der „korresponsiven[n] Präsenz der Natur“, die nach Seel (s.o.) für die Atmosphäre wichtig ist, negiert (Hegel spricht vom „Ausdruck rein innerlicher Stimmungen“). Als „fundamentalen Begriff“ bezeichnete auch noch Emil Staiger die Stimmung in seinen Ausführungen zum Lyrischen. 14 Kritisch hatte sich dagegen Walther Killy in seinem einflussreichen Buch Elemente der Lyrik von 1972 geäußert. Er spricht vom „Parallelismus zwischen Natur und Individuum als Kunstgriff“, vom „Arrangement psychologisch wirksamer Elemente, die […] als Funktionen von Gefühlen und all- 9 vgl. dazu auch Henckmann, Wolfhart: „Atmosphäre, Stimmung, Gefühl.“ In: Goetz, Rainer/ Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphären(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: kopaed 2007, S. 45-84. 10 Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink 2001, S. 46. 11 Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 100. 12 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Band II. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 2 1955, S. 472f. 13 Ebd., S. 479. 14 Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946, S. 65. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 207 gemeinen Wahrnehmungen erscheinen“, 15 und äußert kritisch zu Hegel: „die wirkliche Welt droht verloren zu gehen, indem sie als ein Mittel des Selbstgefühls verstanden wird.“ 16 Er wird dann fast polemisch mit der Bemerkung: „Die Stimmungspoesie neigt mit ihrer Vermischung und grenzenlosen Flüchtigkeit wie keine andere zur Trivialität […].“ 17 Seit dieser Kritik ist der Begriff der Stimmungslyrik in Verruf geraten. (Für 2010 sind allerdings literaturwissenschaftliche Publikationen zur Stimmung angekündigt, die beim Verfassen des vorliegenden Beitrags noch nicht erschienen sind; einschlägig ist in diesem Zusammenhang auch Gisbertz 2009.) Der Begriff des Atmosphärischen, der nicht nur subjektiv, seelisch zu verstehen ist, sondern der auch das leibliche Spüren umfasst und ein korresponsives Verhältnis von Umwelt und Subjekt erfasst, könnte der Literaturtheorie eine neue Wendung in dieser Diskussion geben. III. Drama Da ich in meinen Ausführungen zunächst von einem Gedicht ausgegangen bin, könnte es den Anschein haben, als sei der Begriff der Atmosphäre literaturtheoretisch nur für die Lyrik relevant. Dass dies keineswegs der Fall ist, soll im Folgenden durch Hinweise auf dramatische und erzählende Texte verdeutlicht werden. Zugleich soll gezeigt werden, dass das Atmosphärische nicht auf Naturerfahrung beschränkt ist. Beim Drama ist es vor allem das Bühnenbild, das für die Erzeugung von Atmosphäre wichtig ist. Dabei geht es auch um Atmosphären von Innenräumen. Als literarisches Beispiel sei hier Goethes Faust I herangezogen. Es ist ein Drama, in dem den wechselnden Raumatmosphären besondere Bedeutung zukommt. Ich stelle einige Bühnenanweisungen zusammen, ergänzt durch Redebeiträge von Figuren, durch die die korresponsive Qualität von Schauplatz und subjektiver Befindlichkeit deutlich wird: NACHT In einem hochgewölbten, engen, gotischen Zimmer FAUST: Weh! steck’ ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch (Vers 398f.) VOR DEM TOR [Osterspaziergang] FAUST: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein! (Vers 940) ABEND Ein kleines reinliches Zimmer, FAUST: Willkommen süßer Dämmerschein! Der du dies Heiligtum durchwebst. […] Wie atmet rings Gefühl der Stille, Der Ordnung, der Zufriedenheit! (Vers 2687ff.) 15 Killy, Walther: Elemente der Lyrik. München: Beck 2 1972, S. 116. 16 Ebd., S. 118. 17 Ebd., S. 120. Kaspar H. Spinner 208 DOM GRETCHEN: Mir wird so eng’! Die Mauer-Pfeiler Befangen mich! Das Gewölbe Drängt mich! - Luft! (Vers 3816ff.) KERKER FAUST: Mich faßt ein längst entwohnter Schauer, Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an. Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer […] (Vers 4405ff.) 18 In diesen Beispielen zeigt sich, dass es in den Äußerungen der Figuren nicht nur um deren subjektive Stimmung geht, sondern um körperliche Erfahrungen, die mit der Raumatmosphäre zusammenhängen. Bei Aussagen wie „Mir wird so eng’“, „Drängt mich“, „Mich faßt“ wird dieser leibliche Aspekt besonders deutlich erkennbar. Interessant für den Aspekt des Atmosphärischen ist der Satz „Wie atmet rings Gefühl der Stille, / Der Ordnung, der Zufriedenheit“: Das „Gefühl“ ist im Raum lokalisiert („rings“) und ihm wird, im Sinne einer Personifikation, mit dem Verb „atmet“ Leiblichkeit zugeschrieben. 19 IV. Prosa Als Beispiel für das Atmosphärische in erzählenden Texten wähle ich noch einmal Goethe - in Anbetracht seiner naturwissenschaftlichen Interessen und meteorologischen Studien ist es wenig verwunderlich, dass ihm auch in den literarischen Texten das Atmosphärische wichtig war. Ich zitiere eine berühmte Stelle aus Goethes Leiden des jungen Werthers, in der ein Aspekt des Erlebens von Atmosphäre gezeigt werden kann, den ich noch nicht erwähnt habe: Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt; ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte Klopstock! 20 Bei dieser Textstelle können die genannten Charakteristika des Atmosphärischen, also die Synästhesie (Regengeräusch, Geruch, Wärmeempfindung, Blick in die Gegend), die Räumlichkeit (offenes Fenster, Himmel und Land), die Leiblichkeit (der beiden Figuren), die Präsenz, die Resonanz und die existenzielle Bedeutsamkeit 18 Alle Zitate nach Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassikerverlag 1994 (Werke I, 7/ I). 19 Auf diese Goethestelle geht auch Hermann Schmitz in seinen phänomenologischen Ausführungen zur Atmosphäre ein, vgl. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. München: Alber 2009, S. 83. 20 Goethe, Johann Wolfgang: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775-1786. Hrsg. von Hannelore Schlaffer/ Hans J. Becker/ Gerhard H. Müller. München: Hanser 1987 (Sämtliche Werke 2.2), S. 369. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 209 nachgewiesen werden. Auffallend und viel zitiert ist die intertextuelle Anspielung „Klopstock“, die sich auf dessen Ode Die Frühlingsfeier bezieht. Dass allein die Nennung des Autornamens genügt, zeigt, dass weniger eine bestimmte Aussage der Ode als die in ihr evozierte Atmosphäre gemeint ist. Bei diesem intertextuellen Verweis geht es um ein Phänomen, das in der Rezeption von literarischen Texten immer wieder eine Rolle spielt, das aber kaum theoretisch erfasst ist: Oft bleibt als intensive Lektüreerinnerung ein atmosphärischer Eindruck, der auch dann Bestand hat, wenn Einzelheiten der erzählten Handlung nicht mehr erinnert werden. Man könnte in Bezug auf die Nennung Klopstocks im Werther noch darauf hinweisen, dass damit auf das Göttliche in der Natur hingewiesen wird, und auf die epochentypische pantheistische Dimension des Atmosphärischen bei Goethe eingehen. Hier soll der Hinweis genügen, dass es im Werther noch weitere intertextuelle Verweise zur Verstärkung des Atmosphärischen gibt, so den Verweis auf Homer und dann insbesondere den auf Ossian, den legendären Dichter, der für die Atmosphäre im zweiten Teil von Goethes Roman steht. Als zweites Prosabeispiel zitiere ich eine Stelle aus dem Anfang von Stifters Novelle Hochwald: Ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam mich jedesmal unbesieglich, so oft und gern ich zu dem mährchenhaften See hinaufstieg. Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt, wie eine einzelne alterthümliche Säule. […] Da in diesem Becken buchstäblich nie ein Wind weht, so ruht das Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen, und der Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus, wie aus einem ungeheuern schwarzen Glasspiegel. Ueber ihm steht ein Fleckchen der tiefen, eintönigen Himmelsbläue. Man kann hier Tagelang weilen und sinnen und kein Laut stört die durch das Gemüth sinkenden Gedanken, als etwa der Fall einer Tannenfrucht oder der kurze Schrei eines Geiers. 21 Für Stifter typisch ist die Genauigkeit der Beschreibung; aber zugleich schafft er, über das reine Beschreiben hinausgehend, eine Atmosphäre. Sie entsteht durch die Resonanz von Natur und Mensch; das „Gefühl der tiefsten Einsamkeit“ korrespondiert mit Beschreibungen wie „dunkel“, „nie ein Wind“, „kein Laut“. Die Formulierung „überkam mich“ gibt wieder, dass das Gefühl nicht von innen kommt, sondern von der Landschaft ausgeht. Unterstützend wirken die Personifikationen, „Wald […] Felsen […] Himmel schauen“, und die Synästhesie, „liegt er weich“, „eintönigen Himmelsbläue“. Stellen wie die vorliegende aus Stifters Hochwald werden in literaturwissenschaftlichen Interpretationen meist untersucht im Hinblick auf die Textoberfläche einerseits (die konkrete Beschreibung, Stil) und die zeichenhaften Bedeutungen andererseits (Vorausdeutungen auf die sich entwickelnde Handlung und Symbolik). Das Atmosphärische des Textes liegt sozusagen zwischen diesen beiden Ebenen. Es passt nicht recht zu einem semiotischen Denken, das von manifesten 21 Stifter, Adalbert: Studien. Hrsg. von Helmut Bergner/ Ulrich Dittmann. Stuttgart: Kohlhammer 1980 (Werke und Briefe 1,4), 213f. Kaspar H. Spinner 210 Zeichen ausgeht und ihnen Bedeutungen zuordnet. Man kann deshalb die Atmosphäre als einen unsemiotischen Begriff bezeichnen; er gibt nicht einen tieferen Sinn oder eine höhere Bedeutungsebene wieder, wonach Interpreten so gerne suchen. Atmosphäre spürt man. Für Gernot Böhme ist die Theorie des Atmosphärischen sogar eine Möglichkeit, „die Verengung der Ästhetik auf Semiotik und Hermeneutik [zu] überwinden“. 22 V. Erzählatmosphäre Ein weiterer Aspekt des Atmosphärischen bei Erzähltexten sei ausgehend von einer Äußerung Peter Bichsels zu Trivialautoren und zu Stifter erläutert. In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen stellt er sie einander gegenüber: „Trivialautoren [betrügen] ihre Leser dadurch, daß sie nur Inhalte vermitteln. […] Es hallt kein Erzählton nach - ein Erzählton zum Beispiel, in dem ein begeisterter Adalbert-Stifter-Leser noch stunden- und wochenlang leben kann. Unter Umständen kann er diesen Erzählton, diese Erzählatmosphäre benutzen, um sich sein eigenes Leben zu erzählen.“ 23 Dass der „Erzählton“ mehr als nur eine akustische Wahrnehmung ist, dass er eine Erzählatmosphäre schafft, bringt Bichsel dadurch zum Ausdruck, dass der Leser „in“ ihm leben kann; die Kategorien der Räumlichkeit, der Leiblichkeit und der Präsenz sind hier greifbar, und wenn Bichsel dann noch davon spricht, dass der Leser diese Erzählatmosphäre benutzen kann, sein eigenes Leben zu erzählen, dann wird auch die existenzielle Bedeutsamkeit deutlich. Dass der Erzählton bzw. die Erzählatmosphäre nicht nur eine Angelegenheit des Inhalts ist, auf den sich laut Bichsel die Trivialautoren beschränken, lässt sich mit einem Blick auf den Stil im oben zitierten Textausschnitt von Stifter verdeutlichen. Von besonderer atmosphärischer Wirksamkeit sind zum Beispiel die Alliterationen „Wind weht […] Wasser […] unbeweglich […] Wald“ oder die „und“-Verbindungen „und der Wald und die grauen Felsen, und der Himmel“. Klang und Rhythmus bewirken, dass Atmosphäre hier nicht nur beschrieben, sondern durch den Text geschaffen wird. In diesem Sinn schreibt Gernot Böhme: „Die Kunstwerke stellen die Atmosphären nicht dar, vielmehr sind diese mit und an den Kunstwerken wirklich gegenwärtig“. 24 Im Rhythmus, im Klang, in der Syntax der Sprache ist die Gegenwärtigkeit der Atmosphäre angelegt, die im Leseakt erfahren wird. Zu solchen Rezeptionserfahrungen sei noch aus Hofmannsthals Vorwort zu einer Ausgabe der Erzählungen aus den Tausendundein Nächten eine Stelle zitiert, die mit besonderer Intensität das Lesen als ein Eintauchen in eine Atmosphäre schildert: […] je länger wir lesen, desto schöner geben wir dieser Welt uns hin, verlieren uns im Medium der unfaßlichsten naivsten Poesie und besitzen uns erst recht; wie jemand, in ei- 22 Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink 2001, S. 145. 23 Bichsel, Peter: Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 4 1984, S. 78. 24 Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 152. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 211 nem schönen Wasser badend, seine Schwere verliert, das Gefühl seines Leibes aber als ein genießendes, zauberisches, erst recht gewahr wird. […] Es ist keine Ausschmückung gewollt, keine Hindeutung auf Höheres, kein Gleichnis; kein anderes Gleichnis zumindest, als eines, das dienen solle, das Sinnliche noch sinnlicher, das Lebendige noch lebhafter zu malen: es wird nicht der Mund groß aufgetan, um eine höhere Welt herbeizurufen, es ist nur wie ein Atmen durch die Poren; aber wir atmen durch die Poren dieser naiv poetischen Sprache die Luft einer uraltheiligen Welt, die von Engeln und Dämonen durchschwebt wird und in der die Tiere des Waldes und der Wüste ehrwürdig sind wie Erzväter und Könige. 25 Die Ausgabe von Littmann, zu der Hofmannsthal das Vorwort geschrieben hat, umfasst in mehreren Bänden über 4000 Seiten; Hofmannsthal entfaltet zu dieser Fülle von Erzählungen einen zusammenfassenden, übergreifenden atmosphärischen Eindruck, den er als leibsinnliche Erfahrung beschreibt, wenn er davon spricht, dass wir die „Luft einer uraltheiligen Welt“ „atmen“ (auch wenn ‚Atmosphäre‘ etymologisch mit ‚atmen‘ nicht verwandt ist, stehen die beiden Wörter doch in einem inhaltlichen Zusammenhang). Gewiss drückt sich in Hofmannsthals Ausführungen nicht unbedingt unser heutiges Verständnis von Tausendundeiner Nacht aus, sondern eine für den Anfang des 20. Jahrhunderts typische Auffassung; das Beispiel zeigt also auch, wie die atmosphärische Rezeption eines Werkes historisch bedingt sein kann. VI. Textbeispiele aus dem 20. Jahrhundert Die lyrischen und erzählenden Textbeispiele, mit denen ich bislang argumentiert habe, entstammen dem 18. und 19. Jahrhundert. Dass der Begriff des Atmosphärischen ebenso für modernere Literatur interessant ist, soll an zwei Beispielen gezeigt werden. In seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gestaltet Rilke die Atmosphäre einer modernen Großstadt: Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. […] 26 Besonders auffällig im Hinblick auf das Atmosphärische sind in dieser Textstelle die Charakteristika der Präsenz und der Leiblichkeit in der Formulierung „Automobile gehen über mich hin“. Während in romantischer Tradition das Fenster meist der 25 Hofmannsthal, Hugo: „Einleitung zu dem Buche genannt die Erzählungen der tausendundein Nächte“. In: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Erster Band. Übertragen von Enno Littmann. Frankfurt a. M.: Insel 2004, S. 7-15, hier S. 10, 12. 26 Rilke, Rainer Maria: Prosa und Dramen. Hrsg. von August Stahl. Frankfurt a. M.: Insel 1996 (Werke 3), S. 455f. Kaspar H. Spinner 212 Übergangsort ist, an dem das Ich sich sehnt hinausgehen oder zu -fliegen, drängt bei Rilke das Draußen durch das Fenster in den Schlafraum hinein und füllt ihn mit der Großstadtatmosphäre, die hier nur akustisch, nicht synästhetisch entfaltet ist. Die Jahrhundertwende um 1900 (Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind 1904 bis 1910 entstanden), die Romantik und die Empfindsamkeit sind Epochen gewesen, die eine besondere Affinität zum Atmosphärischen gehabt haben. In der Malerei kann man die holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts, die Romantik (zum Beispiel W. Turner, C. D. Friedrich) und den Impressionismus als atmosphären-affin nennen. Wie auch ein literarischer Text des 20. Jahrhunderts, den man nicht unbedingt auf Anhieb atmosphärisch nennen würde, doch unter diesem Aspekt gelesen werden kann, sei an Brechts Gedicht Der Rauch gezeigt. Brecht realisiert darin ein typisch modernes Verfahren der Erzeugung von Atmosphäre. Bert Brecht Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See Vom Dach steigt Rauch Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. 27 Das Gedicht regt Interpreten zu mannigfachen symbolischen Deutungen an, etwa ausgehend von den Wörtern „Haus“, „Baum“ und „See“, die als Zeichen für menschliche Zivilisation, für belebte und für unbelebte Natur gelesen werden. Der Rauch wird verstanden als Zeichen, dass jemand im Haus anwesend ist und dass erst durch die Nutzung Haus und Natur ihren Sinn erhalten. Oder man deutet sogar biographisch im Hinblick darauf, dass es sich hier um das Haus handle, das Brecht für seine Geliebte Käthe Reichel besorgt hat, so dass das Gedicht zu einem Liebesgedicht wird. Solches Entschlüsseln hat mit Atmosphäre wenig zu tun. Eine auf das Atmosphärische bezogene Lesart würde festhalten, dass das Gedicht wie eine nüchterne, visuell orientierte Beschreibung beginnt. Im zweiten Teil verbindet dann das Adjektiv „trostlos“ Objekt und Subjekt, wobei allerdings kein lyrisches Ich explizit mit dem Pronomen bezeichnet wird. Hier erfolgt nun auch die Wendung zum Atmosphärischen; aber das Adjektiv „trostlos“ bezeichnet nicht die Atmosphäre, um die es geht. Durch die Verfremdung mittels des Konjunktivs II und der negierenden Bedeutung von „fehlte“ wird die Atmosphäre als das Gegenteil von „trostlos“ evoziert, so dass nun der beschreibende erste Teil des Gedichts, der im letzten Vers in verkürztem Zitat aufgegriffen wird, nun als Ausdruck einer atmosphärischen Erfahrung gelesen wird. Die Atmosphäre wird vom Dialektiker Brecht also nicht beschrieben, vielmehr erzeugt er sie über eine verfremdende Negation. 27 Brecht, Bert: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Band 12. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 308. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 213 VII. Bezug zur ökologischen Literaturtheorie Der ästhetische Begriff der Atmosphäre ist in den vergangenen Jahren inbesondere in der Naturästhetik zum Thema gemacht worden; dabei ergibt sich ein Bezug zum ökologischen Denken, wie auch der Titel eines Bandes von Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, zeigt. 28 Das folgende Zitat von Martin Seel lenkt auf diesen Zusammenhang hin: „Nicht eigentlich die Landschaft antwortet auf unser Erleben, wir sind empfänglich für das, was wir als Charakter und Atmosphäre der Landschaft entdecken.“ 29 Die Empfänglichkeit für das, was den Menschen umgibt, und das daraus resultierende Bewusstsein des Angewiesenseins auf Umwelt ist ein Kerngedanke ökologischen Denkens. Natur- und Landschaftsdichtung kann, wenn sie Atmosphäre erfahrbar macht, eine solche Empfänglichkeit unterstützen. Die Theorie des Atmosphärischen lässt sich aber noch grundsätzlicher auf die ökologische Literaturtheorie beziehen. Diese hat bislang den Begriff der Atmosphäre noch nicht für sich in Anspruch genommen; aber es gibt unverkennbare Parallelen zwischen Grundannahmen der ökologischen Literaturtheorie und dem ästhetischen Begriff der Atmosphäre. Um dies zu verdeutlichen, greife ich stichwortartig wesentliche Grundannahmen der ökologischen Literaturtheorie auf und setze sie in Beziehung zur Ästhetik des Atmosphärischen. Ich gehe dabei vom literaturökologischen Ansatz von Hubert Zapf aus, und zwar von den Analogien zwischen ökologischen und ästhetischen Prozessen, die er herausgearbeitet hat. Vorauszuschicken ist, dass die Literaturökologie hier nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern das zur Umwelt allgemein im Blick hat. Das entspricht der klassischen Definition des Begriffs Ökologie, die Ernst Haeckel 1866 formuliert hat: Ökologie ist die „gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt“. 30 Die folgenden ökologischen Prinzipien entsprechen nach Zapf den Verfahrensweisen von Literatur; aufgrund dieser Affinität spricht Zapf von „Literatur als kultureller Ökologie“ 31 : - Alles hängt mit allem zusammen; der Dualismus von Körper/ Geist bzw. Sinnlichkeit/ Vernunft wird überschritten; - Komplexität ist herausragendes Kriterium; es gibt ein Moment des Unbestimmbaren, das dennoch eine unabweisbare Evidenz besitzt; das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; 28 Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. 29 Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 133. 30 zit. nach Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 24. 31 Zapf, Hubert: „Zwischen Dekonstruktion und Regeneration. Literatur als kulturelle Ökologie.“ In: Geppert, Hans Vilmar/ Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band I. Tübingen: Francke 2003, S. 271-290. Kaspar H. Spinner 214 es geht um Vielheit in der Einheit. 32 Diese Punkte, die grundsätzlich die Literatur und das ökologische Denken kennzeichnen, passen alle auch zum Begriff der Atmosphäre. Im Atmosphärischen schließen sich Einzelheiten zusammen, Leiblichkeit und Kognition sind in ihm ungeschieden, Atmosphäre ist ein komplexes Phänomen, es kann nicht restlos bestimmt werden und hat in der ästhetischen Erfahrung doch unmittelbare Evidenz, es ist mehr als die Summe seiner Teile und es erscheint als Vielheit und zugleich als Einheit. Man kann also folgern, dass mit dem Begriff der Atmosphäre ein wichtiges Konzept für die Theorie der Literatur als kultureller Ökologie gewonnen werden kann. Das Atmosphärische als ästhetisches Phänomen vermittelt die Erfahrung, dass sich menschliches Leben in der komplexen Wechselbeziehung zwischen Umwelt und Subjekt abspielt und dass dies für das Denken, das Fühlen und die sinnlichen Wahrnehmungen gleichermaßen gilt. VIII. Kleiner tiefenpsychologischer Exkurs zum Schluss Atmosphäre als das, was uns umgibt, was wir einatmen, was wir zum Leben brauchen, kann mit der Urerfahrung der Subjektwerdung, dem Herausgestoßenwerden in die Welt bei der Geburt in Verbindung gebracht werden. Die durch die Geburt eintretende Aufhebung der Symbiose mit der Mutter, mit der zugleich die Subjekt- Objekt-Spaltung entsteht, wirkt sich im weiteren Leben des Menschen aus als Sehnsucht, in der Beziehung zur menschlichen, aber auch zur räumlichen Umwelt aufgehoben zu sein. Positives Erleben von Atmosphäre verknüpft sich mit der Urerfahrung des symbiotischen Aufgehobenseins, abweisende Atmosphäre mit dem Schock der Subjekt-Objekt-Spaltung. In der Gestaltung von lebensfeindlichen und von gedeihlichen Atmosphären nimmt Literatur auf solche Grunderfahrungen Bezug. Dass ein Roman wie Johanna Spyris Heidi bis heute so erfolgreich ist, dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass diese Tiefenschicht in ihm besonders ausgeprägt gestaltet ist. Als mutterloses Kind findet Heidi in den Bergen den Ersatz für die mütterliche Behütung; mit dem Motiv der Milch (Ziegenmilch stellvertretend für Muttermilch) wird dies auch bezogen auf das leibliche Wohlergehen zum Ausdruck gebracht. Eine Gegenwelt zum Aufgehobensein in der Bergwelt erfährt Heidi in Frankfurt: Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. 33 32 Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 46-52; Zapf, Hubert: „Zwischen Dekonstruktion und Regeneration. Literatur als kulturelle Ökologie.“ In: Geppert, Hans Vilmar/ Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band I. Tübingen: Francke 2003, S. 271-290, hier: S. 279ff. 33 Spyri, Johanna: Heidi. Lehr- und Wanderjahre. Hamburg: Dressler 1993, S. 105. Atmosphäre als ästhetischer Begriff 215 Heidi verweigert das Essen und hungert sich fast zu Tode. Die Rückkehr in die Bergwelt ist seine Rettung; der Satz im Roman, der dies am prägnantesten zum Ausdruck bringt, ist ein Musterbeispiel für das Atmosphärische in der Literatur: […] es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken. 34 Hier findet man alle Charakteristika des Atmosphärischen wieder: Mit den „Töne[n]“, dem „Duften“, dem „Leuchten“ ist die Synästhesie zum Ausdruck gebracht, Räumlichkeit ist durch das Tannenrauschen „über ihm“ und die Weiden hergestellt, das Verb „eintrinken“ verdeutlicht Leiblichkeit und Präsenz. Resonanz von Umgebung und Mensch sowie existenzielle Bedeutsamkeit sind für Heidi in der Erfahrung unverkennbar gegeben: Diese Umwelt ist als Atmosphäre für das Waisenkind lebensnotwendig - und für viele Kinder, die den Heidi-Roman gelesen oder gehört haben, ist Spyris Evokation der heil(end)en Atmosphäre auf der Alm zum Inbegriff eines Aufgehobenseins in der Umwelt geworden. Literaturverzeichnis Quellen Brecht, Bert: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Band 12. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. Goethe, Johann Wolfgang: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775-1786. Hrsg. von Hannelore Schlaffer/ Hans J. Becker/ Gerhard H. Müller. München: Hanser 1987 (Sämtliche Werke 2.2). - Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassikerverlag 1994 (Werke I, 7/ I). - Gedichte 1800-1832. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1988 (Sämtliche Werke I,2). Hofmannsthal, Hugo: „Einleitung zu dem Buche genannt die Erzählungen der tausendundein Nächte“. In: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Erster Band. Übertragen von Enno Littmann. Frankfurt a. M.: Insel 2004, S. 7-15. Rilke, Rainer Maria: Prosa und Dramen. Hrsg. von August Stahl. Frankfurt a. M.: Insel 1996 (Werke 3). Spyri, Johanna: Heidi. Lehr- und Wanderjahre. Hamburg: Dressler 1993. Stifter, Adalbert: Studien. Hrsg. von Helmut Bergner/ Ulrich Dittmann. Stuttgart: Kohlhammer 1980 (Werke und Briefe 1,4). Sekundärliteratur Bautz, Timo: „Stimmig/ unstimmig. Was unterscheidet Atmosphären? “ In: Goetz, Rainer/ Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: kopaed 2007, S. 111-121. 34 Ebd. S. 215. Kaspar H. Spinner 216 Bichsel, Peter: Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 4 1984. Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. - Atmosphäre. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. - Anmutungen. Über das Atmosphärische. Osterfildern vor Stuttgart: Ed. Tertium 1998. - Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink 2001. - „Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung.“ In: Goetz, Rainer/ Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: kopaed 2007, S. 31-43. Gisbertz, Anna-Katharina: Stimmung - Leib - Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne. München: Fink 2009. Hauskeller, Michael: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. Berlin: Akademie 1995. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Band II. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 2 1955. Henckmann, Wolfhart: „Atmosphäre, Stimmung, Gefühl.“ In: Goetz, Rainer/ Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphären(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München: kopaed 2007, S. 45-84. Killy, Walther: Elemente der Lyrik. München: Beck 2 1972. Mahayni, Ziad (Hg.): Neue Ästhetik: das Atmosphärische und die Kunst. München: Fink 2002. Ritter, Alexander (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. München: Alber 2009. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser 2000. - Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Niemeyer 2002. - „Zwischen Dekonstruktion und Regeneration. Literatur als kulturelle Ökologie.“ In: Geppert, Hans Vilmar/ Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band I. Tübingen: Francke 2003, S. 271-290. Selbstgefühl und literarische Imagination. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Einbildungskraft um 1800 (Goethe, Moritz, Tieck) Lothar van Laak 1. Die Kategorie des Selbstgefühls als Ausgangspunkt für eine Mediengeschichte der Einbildungskraft Das Verhältnis von Einbildungskraft und den Medien, derer sie sich bedient bzw. mittels derer sie sich realisiert, ist ein literatur- und kulturtheoretisches Grundlagenproblem. Nimmt man deshalb die literarischen, philosophischen und anthropologischen Konzepte der Einbildungskraft von etwa 1750 bis 1850 genauer in den Blick, 1 lässt sich herausarbeiten, wie die Einbildungskraft der Medien ihrer Darstellung bewusst wird, wie sie dabei den Medienwandel erfährt und reflektiert und wie sich die Einbildungskraft so auch ihrer prinzipiellen Medialität bewusst wird. Einbildungskraft und Medialität werden um 1800 konstitutiv füreinander: Die Einbildungskraft kann man nicht bestimmen, ohne sie zur Medialität ins Verhältnis zu setzen; Medialität wiederum bleibt zu abstrakt, wenn sie sich nicht auf die Einbildungskraft bezieht. 2 Wolfgang Iser hat dies in seiner Literaturanthropologie nicht wirklich in den 1 Neben dem umfassenden literaturanthropologischen Entwurf von Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/ Main 1991, finden sich wichtige Darstellungen zur weiteren historischen und systematischen Bestimmung der Einbildungskraft bei: Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek bei Hamburg 1990; Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998; Bernadette Malinowski: „Theorien des Imaginären - Fragmente einer Geschichte der Einbildungskraft.“ In: Hans Vilmar Geppert/ Hubert Zapf (Hg): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. I, Tübingen 2003, S. 51-88. 2 Zu einer systemtheoretisch begründeten, als Verbindung von Bewusstsein und Kommunikation konzipierten Bestimmung von Medialität vgl. Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003. Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 217f., weist auch darauf hin, dass das Verhältnis von Medialität und Ästhetizität, d.h. das Zusammenspiel von medial bedingten und ästhetisch realisierten Qualitäten, ein offenes Feld und immer wieder für jedes Werk neu zu bestimmen ist. Die Vorstellungen und Realisierungsweisen von Medialität unterliegen zudem einem kulturellen Wandel, der ebenfalls einzubeziehen ist. Vgl. dazu Lothar van Laak: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film im 20. Jahrhundert: Bertolt Brecht - Uwe Johnson - Lars von Trier, München 2009. Lothar van Laak 218 Blick genommen. 3 Das Vermögen der Einbildungskraft rückt damit in eine literatur- und medientheoretische Schlüsselstellung. Die mediengeschichtliche Reflexion der Einbildungskraft lässt sie im Zusammenhang mit der großen kulturellen und Wissenstransformation um 1800 sehen. Sie rückt dabei auch die geläufigen Vorstellungen von Modernisierung - Individualisierung, Autonomisierung und Historisierung - in einen anderen Blickwinkel. Denn die ästhetischen, anthropologischen, kulturellsozialen sowie religiösen Dimensionen lassen an der Einbildungskraft weitere Aspekte dieses Transformationsprozesses deutlich werden. Und sie werfen so ein anderes Licht auf grundlegende literaturtheoretische Fragen wie die nach der Autorschaft, nach dem Text und seiner Textualität oder nach dem Werk. 4 So lässt sich von der Einbildungskraft her ein literaturtheoretischer, kulturanthropologischer und mediengeschichtlicher bzw. medientheoretischer Zusammenhang entfalten. Neben dem Ertrag einer problemgeschichtlichen Differenzierung in literaturtheoretischer Hinsicht lassen sich darüber hinaus auch Imagination und Kreativität präziser bestimmen, wie sie in der aktuellen interdisziplinären Debatte von Anthropologie, Neurowissenschaften oder Kognitionswissenschaften von Interesse sind. 5 Um die Medialität der Einbildungskraft genauer zu bestimmen, kann man bei der Kategorie des Selbstgefühls ansetzen. Sie ist etwas anderes als Gefühl oder Empfindung. 6 In einer umfassenderen Perspektive hat das Selbstgefühl erstmals Manfred Frank als Alternativkonzept zum philosophiegeschichtlich viel prominenteren Selbstbewusstsein entwickelt: „Indem ‚Selbstgefühl‘ als Kandidat für die Weise erwogen wird, wie die radikale Subjektivität mit sich selbst bekannt ist, ohne sich darum zu ‚wissen‘ oder zu ‚betrachten‘, wird es als Kandidat für eine Form ungegenständlichen Bewusstseins erwogen. Und da es sich um ein Bewusstsein von sich handelt, muss die Art von unbegrifflichem Bewusstsein, die hier 3 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 1). Auf die fehlende Reflexion der Medien und Medialität und die besondere Priviligierung des Mediums Literatur bei Iser hat auch bereits hingewiesen: K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/ Main 1999. Siehe auch: Lothar van Laak: „Literarische Anthropologie.“ In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. de Gruyter Lexikon, Berlin - New York 2009, S. 337-353, S. 351f. 4 Siehe zur Autorschaft u.a. Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002; sowie die Einleitung der Herausgeber in den Band: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000. Siehe zur aktuellen Debatte um Text und Textualität z.B. Christian Bermes u.a. (Hg.): Die Kultur des Textes. Studien zur Textualität, Würzburg 2008. 5 Zwei Beispiele, die die Bandbreite und die Problembereiche der Diskussion verdeutlichen, sind: Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Frankfurt/ Main 2008 oder: Roald Hoffmann/ Iain Boyd Whyte (Hg.): Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft, Frankfurt/ Main 2010. Siehe auch die weiteren Überlegungen in: Lothar van Laak: „Die Bilder der Wissenschaft - die Bilder der Literatur. Das interdisziplinäre Potenzial der Einbildungskraft bei Eichendorff und Grünbein.“ In: Lothar van Laak/ Katja Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft - interdisziplinär, Heidelberg 2010, S. 131-142. 6 In der Bestimmung des Selbstgefühls ist zum einen ein philosophiegeschichtlicher Versuch zu sehen, den Leib-Seele-Dualismus zu überwinden bzw. zu unterlaufen; zum anderen, die emotionstheoretischen Bestimmungen von Gefühl und Empfindung zu differenzieren bzw. zu erweitern. Selbstgefühl und literarische Imagination 219 vorliegt, als Gefühl, also als Selbstgefühl spezifiziert werden. Auch von Glaube ist die Rede“. 7 Nicht zuletzt die Bedeutung von Selbstwertgefühl spielt bei ‚Selbstgefühl‘ mit hinein. 8 So ist in dieser Idee des Selbstgefühls nicht nur eine empfindsame oder romantische Alternative zum Bewusstsein postuliert. Vielmehr werden menschliche Identität - als individuelles Gefühl seiner selbst -, sodann der Bezug auf das Sein, d.h. die existenzielle Bedingtheit des Menschen, und schließlich dessen Erfahrung als werthaft, als Selbstwertgefühl, in einen Zusammenhang gebracht. Damit liegen die Diskurse von Philosophie, Anthropologie und Ethik hinter diesen drei Dimensionen des Selbstgefühls. 9 Es lässt sich womöglich schon erahnen, wie die Einbildungskraft sich genau an deren Nahtstelle als entscheidendes Vermögen platzieren kann und eben um 1800 platziert hat: indem sie sich selbst als ein umfassendes Medium entwirft bzw. die Medialität herstellt, die den Menschen sein Selbstgefühl konstituieren und erfahren lässt. Denn, so lässt sich aus dieser Bestimmung des Selbstgefühls als These ableiten: wo Selbstgefühl, die ungegenständlich-bewusste Form menschlichen Seins, gegenständlich gemacht werden soll oder gegenständliche Wirkungen haben will, da bedarf es der Einbildungskraft. Die Einbildungskraft muss sich dazu ihrer Medien der Darstellung bewusst sein und ihre Medialität bewusst machen, um Wissen zu gewinnen. Dieses ist kein Selbstwissen und kein Bewusstsein. Aber es ist ein mit sich selbst vertraut werden, das dem Menschen Orientierung in der Welt, Verstehen und Handeln ermöglicht. Diese besondere Form des Wissens, die aus dem Selbstgefühl resultiert, ist auch in einer besonderen Weise zu verstehen, als verfügbar und unverfügbar zugleich, weil es existenziell und notwendig ist und weil es von der Reflexion nicht aus sich selbst begründet werden kann. Novalis formuliert diesen Zusammenhang in einem Bild des sich selbst erzeugenden Bildes: „Das erste Bezeichnende wird unvermerkt vor dem Spiegel der Reflexion sein eignes Bild gemahlt haben, und auch der Zug wird nicht vergessen seyn, dass das Bild in der Stellung gemahlt ist, dass es sich selbst mahlt.“ 10 Es ist das Bild, das die Einbildungskraft in seiner Medialität wissen lässt. Das bedeutet es, wenn um 1800 Einbildungskraft und Medialität konstitutiv füreinander werden. In dieser medialen Perspektive stellt sich die systematische Frage, wie Literatur und warum gerade Literatur das Wechselspiel von Einbildungskraft und Selbstgefühl um 1800 in einer so besonderen Weise organisiert hat, organisieren konnte, und wo dabei die Probleme liegen. 7 Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/ Main 2007, S. 219. 8 Ebd., S. 219f. 9 Impliziert ist damit auch ein Beitrag zum schwierigen und aktuell intensiv diskutierten Verhältnis von Ästhetik und Ethik. Vgl. die Hinweise dazu im Vorwort von: Christine Lubkoll/ Oda Wischmeyer (Hg.): ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung, München 2009. 10 Novalis: Schriften. 2. Bd. Hg. v. Richard Samuel u.a. Darmstadt 1965, S. 110, Z. 20-24. Lothar van Laak 220 2. Selbstgefühl und Literatur in Johann Wolfgang von Goethes Leiden des jungen Werthers (1774) Mit seinem Werther stellt Goethe einen narzisstischen Helden vor, bei dem Selbstgefühl und Einbildungskraft in einer ganz grundlegenden Weise der Literatur als ihres Mediums bedürfen. Ohne die Lektüre von Homers Epen, Lessings Emilia Galotti, Klopstocks Hymne Frühlingsfeier und die vermeintlich alten Bardengesänge Ossians - ohne all diese Texte wäre Werther nicht Werther. Homer gibt ihm einen Eindruck von einem heroischen Lebensgefühl, durch Klopstock lernt er die Feier der Natur, ihren erhabenen Eindruck und die Tiefe der Empfindung überhaupt, durch Ossian die dunklen Gründe des Daseins (und auch des Grunds der Seele) kennen, und in Emilia Galotti, das am Ende seines Lebens auf seinem Schreibpult drapiert ist, findet er die literarische Folie seiner Selbsttötung. 11 Die Lektüre macht den Helden. Sie versorgt seine Einbildungskraft mit dem Stoff, den Bildern, der Darstellungs- und Auslegungskraft seines eigenen Daseins, dessen Lebensgefühl er sich mittels der Einbildungskraft erschließt und zwar dadurch, dass er es sich in den Briefen an seinen Freund Wilhelm erschreibt. Im Brief vom 10. Mai heißt es, nachdem Werther sein Eintauchen in die Natur beschrieben hat: „Mein Freund, wenn‘s denn um meine Augen dämmert und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehn ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes. Mein Freund - Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.“ 12 Diese „Erscheinungen“, das verdeutlicht der nächste Brief, der Brief vom 12. Mai, das sind die Bilder, die Gestalten seiner Einbildungskraft: „Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles ringsumher so paradiesisch macht.“ 13 Anders als der Dramatiker Lessing, der die Illusionsbildung sozial reflektiert, 14 anders als der Begründer der Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, der dem glück- 11 Siehe zu den differenziert diskutierten Themenkomplexen von Werther als Leser und als Freund und der Rezeption dieser Bestimmungen u.a.: Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984; Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München 2006; Katja Mellmann: „Emotionalität und Verhalten. Eine literaturpsychologische Kritik des Werther-Mythos.“ In: Hans-Edwin Friedrich u.a.: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 201-240. 12 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774. Text und Kommentar. Hg. von Wilhelm Große, Frankfurt/ Main 1998, S. 9f. 13 Ebd., S. 13. 14 Siehe dazu: Wolfgang Braungart: „Prolegomena zu einer Ästhetik der Geselligkeit (Lessing, Mörike).“ In: Euphorion 97, 2003, S. 1-18. Selbstgefühl und literarische Imagination 221 lichen Ästhetiker die Übung des schönen Denkens empfiehlt, 15 und anders als später auch Kant, der in reproduktive und produktive Einbildungskraft unterscheidet und deren Produktivität in der „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben“ sieht, 16 anders als diese drei Positionen des aufklärerischen Diskurses über die Einbildungskraft, verfügt Werther nicht über eine Diätetik seiner Einbildungskraft, die als „warme himmlische Phantasie in [s]einem Herzen ist“, und ebenso wenig gelingt es ihm, seine problematische Subjektivität und ihr Feuer der Einbildungskraft medial zu kompensieren. 17 Wenn Goethe in der späteren Fassung des Werther eine kleine Episode einfügt, den Brief vom 12. September, liefert er mit ihr selbst einen selbstkritischen Kommentar über die Leistungen und Gefahren der Einbildungskraft. Der Brief beschreibt, wie Lotte einen Kanarienvogel mit Brot füttert, das der Vogel von ihren Lippen pickt: „Ich [Werther] kehrte das Gesicht weg. Sie sollte es nicht thun! sollte nicht meine Einbildungskraft mit diesen Bildern himmlischer Unschuld und Seligkeit reizen und mein Herz aus dem Schlafe, in den es manchmal die Gleichgültigkeit des Lebens wiegt, nicht wecken! - Und warum nicht? - Sie traut mir so! sie weiß wie ich sie liebe.“ 18 Hier ist der Blick auf die Einbildungskraft selbst ein distanzierter. Denn, das sieht der ältere Goethe, die Einbildungskraft ist kein individuelles Problem von Werther. Vielmehr ist es die paradigmatische Konzeption zwischen Selbstgefühl, Einbildungskraft und Literatur, die hier verhandelt wird und - kritisch neu verhandelt werden muss. Sie ist auch gleich zu Beginn des Briefromans, in der Vorrede des Herausgebers etabliert worden. Aus dem Selbstgefühl wird in der Rezeption von Literatur dabei ein Sozialverhalten, aus der individuellen eine soziale Praxis der Einbildungskraft. Die Vorrede lautet: „Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir‘s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksale eure Thränen nicht versagen. Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.“ 19 15 Siehe dazu: Lothar van Laak: „Die Konzeption ästhetischer Erfahrung bei Alexander Gottlieb Baumgarten.“ In: Verlag der Francke’sche Stiftungen Halle/ Saale (Hg.): „aus GOttes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung - Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009, erscheint 2011. 16 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bde. III/ IV, Frankfurt 1974, B 152. 17 Vgl. zur Bedeutung der Diätetik in der Zeit um 1800, am Beispiel Hölderlins: Christian Oestersandfort: Immanente Poetik und poetische Diätetik in Hölderlins Turmdichtung, Tübingen 2006. 18 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (wie Anm. 12), Anhang [mit den Ergänzungen der späteren Fassung], S. 136. 19 Ebd., S. 7. Lothar van Laak 222 Diese Vorrede entwirft eine Rezeptionssituation, in der der Leser als einsamer Leser vorgestellt wird, der „aus Geschick oder eigener Schuld“ keinen Freund gefunden hat. In dieser Situation, so der Rat des Herausgebers, „laß das Büchlein deinen Freund sein“. Das Buch, die Literatur, tritt damit in ein Sozialverhältnis ein, es wird personifiziert und gewährt dem Leser, genauer seiner guten Seele, Trost, aber auch Bewunderung, Liebe und Tränen des Mitleids. Der Trost realisiert sich dann, wenn „du eben den Drang fühlst wie er“, d.h. wenn der Leser das Werther’sche Selbstgefühl verspürt. Das damit begründete Verhältnis ist wechselseitig. Denn der Trost, den der Leser empfindet, bestätigt zugleich das Selbstgefühl Werthers. Sie werden durch den Leseprozess aufeinander bezogen, aufeinander verpflichtet. Wenn der Leser sich Werthers in seiner Lektüre annimmt, gewinnt er durch die Tätigkeit seiner Einbildungskraft sein Selbstgefühl. Der Leser also produziert bzw. re-produziert dieses Selbstgefühl lesend in sich. Der Leser individualisiert sich durch die Lektüre und die Einbildungskraft, die sich durch sie gestaltet. Das Buch als Reflexionsmedium spiegelt das Selbstgefühl nun aber in anderer Weise zurück als bei Werther selbst, bei dem es heißt, „es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! - Mein Freund - Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen“. Der Leser des Werther soll eben nicht „unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen“ erliegen. Die Literatur nun, verstanden als literarisches Medium, leistet genau das aus zwei Gründen. Zum einen ist es Differenzmedium, es verwandelt die Erscheinungen immer zuerst in Text von diesen Erscheinungen, es formt sie und macht sie so auch beherrschbar. Zudem ist Literatur als Medium öffentlich, und damit ebenfalls in einer spezifischen Weise sozial. Als Äußerung und Entäußerung ergibt sich auch noch ein soziales Verhältnis im weiteren Sinn, denn vom Leser wiederum erwartet der Herausgeber, „daß ihr mirs danken werdet“. Die Dankbarkeit der Leser schließt auch diesen Herausgeber in das Sozialverhältnis zwischen Leser und Buch ein. Zugleich sprengt er es durch das Eintreten der Vermittlung, des Herausgebers als Vermittler, so auf, dass „Spiegel deiner Seele“ und „Spiegel des unendlichen Gottes! “ gerade nicht in eins zusammenfallen wie bei Werther selbst. Differenzqualität und Öffentlichkeit eröffnen literarisch und medial genau das Bewusstsein davon, dass Trost, Bewunderung, Mitleid und Liebe entspringen können und leisten es zugleich, dass dabei das Selbstgefühl sich nicht gänzlich mit der Einbildungskraft identifiziert, sondern als vermittelt erfährt. 20 Literatur wird damit in ihrer Medialität inszeniert und zwar in einer Weise, die das Wechselspiel von Einbildungskraft und Selbstgefühl moderiert. So wird das Selbstgefühl erzeugt und bewahrt. Das ist eine ganz besondere Leistung, die so nur die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu konzipierte Literatur als Medium ästhetischer Erfahrung vollbringen kann. 20 Darin bestimmt Iser, Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 1), S. 502-515, die Bedeutung des Imaginären, ohne daraus aber die Konsequenz zu ziehen und nach den medialen Bedingungen und Möglichkeiten seiner Realisierung zu fragen. Selbstgefühl und literarische Imagination 223 3. Karl Philipp Moritz’ Konzeption des Kunstwerks in Die Signatur des Schönen (1788) Das verlangt nach einer anderen Kunstkonzeption. Sie orientiert sich von der Produktions- und Rezeptionsperspektive, wie sie im 18. Jahrhundert so stark und ertragreich aufeinander bezogen worden sind, um auf eine Werk-Perspektive. Denn der Anspruch, das besondere Medium zu sein, lässt sich dann besonders zwingend erheben, wenn das Werk in seiner Autonomie und Singularität in den Blick gerückt wird. Dieses Potenzial wird die Werk- und Autonomieästhetik um 1800 herausstellen. Kant, Schiller und Karl Philipp Moritz werden dies in unterschiedlicher Schärfe und dabei unter unterschiedlichen Rücksichtnahmen tun. Exemplarisch lässt sich bei Karl Philipp Moritz das Wechselverhältnis von Selbstgefühl und Einbildungskraft in den Blick nehmen. Dieses Wechselverhältnis wird von Moritz medial differenziert und in seiner Konzeption des Kunstwerks weiter entwickelt. An Goethes Werther wurde schon deutlich: kein Selbstgefühl ohne die Tätigkeit der Einbildungskraft und keine Leistung der Einbildungskraft ohne ihre Bezugnahme auf die Medien und die Reflexion ihrer Medialität. Dieses Wechselverhältnis nimmt auch Karl Philipp Moritz’ Konzept des Kunstwerks auf, und zwar dort, wo er den medialen Unterschied von Bild- und Sprachkunstwerk betrachtet. So formuliert er in Die Signatur des Schönen von 1788, dass keine Beschreibung, sondern nur ein anderes sprachliches Kunstwerk ein sprachliches Kunstwerk adäquat darstellen kann und darin erst das plastische Kunstwerk erreicht: „Man könnte in diesem Sinne sagen: das vollkommenste Gedicht sey, seinem Urheber unbewußt, zugleich die vollkommenste Beschreibung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst, so wie dieß wiederum die Verkörperung oder verwirklichte Darstellung des Meisterwerks der Phantasie; - wenn wir nur einen Augenblick auf den Grund unsers Wesens schauen, und dort die Spur uns erklären könnten, welche nach Lesung des Homer dieselbe Empfindung des Schönen in uns zurückläßt, die der Anblick des höchsten Kunstwerks unmittelbar in uns erweckt.“ 21 Die mediale Differenz zwischen Bild- und Aufführungskünsten und der Dichtung ist nur das eine. 22 Denn nicht nur sind sie untereinander, intermedial, in Beziehung gesetzt, wie das „so wie“ zeigt. Auch im „Grund unsers Wesens“, den wir - so Moritz explizit: - „unbewußt“ erreichen, ohne dass wir ihn „erklären könnten“, liegt ein gemeinsamer Fluchtpunkt, den Moritz als „dieselbe Empfindung“ ansieht. „Auf die Weise kann auch auf dem Grunde der Einbildungskraft, da, wo die in ihr erweckten Bilder ihre letzte, leiseste Spur zurücklassen, durch das Zusammentreffen aller dieser Spuren etwas von allen den einzelnen Bildern ganz Verschiedenes entstehen, das 21 Karl Philipp Moritz: „Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? (1788/ 1789).“ In: Ders.: Beiträge zur Ästhetik. Hg. von Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler, Mainz 1989, S. 79-96, hier S. 90f. Hervorhebung im Fettdruck von Verfasser. 22 Vgl. zur Problematik der medialen Differenz: Stefan Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter, München 1998; zur Ästhetik Moritz‘: Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz‘ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit, Würzburg 1998. Lothar van Laak 224 bloß die reinsten Verhältnisse in sich faßt, nach welchen das ganz von einander Verschiedne sich um und zu einander bewegt.“ 23 Auf dem „Grunde der Einbildungskraft“ wird also etwas ganz Neues hervorgebracht, die Einbildungskraft selbst also zum Prinzip der Kreativität überhaupt geadelt. Und dieses durch die Einbildungskraft erwirkte absolut Neue sieht Moritz, etwas abstrakt formuliert, als die „reinsten Verhältnisse“, die „das ganz von einander Verschiedne“ in Relation treten lassen. Im Absatz zuvor formuliert Moritz auch von der „gemeinschaftlichen Spur“, die „mit nichts außer sich mehr Ähnlichkeit hat“, also selbst-identisch ist, 24 und, wie Moritz hinzufügt, zugleich Selbst-Existenz findet, 25 sofern man „eben daher von allem was da ist, ohne Hinderung sagen kann: es ist.“ 26 So finden sich in Moritz Konzeption des autonomen und gottgleichen Werks 27 bzw. der Schönheit 28 zwei besondere und sehr unterschiedliche Gestaltungen. Sie basieren letztlich beide auf der Einbildungskraft, verdanken sich ihrer Medialisierung und werden doch auch nur vom intermedialen Wechselspiel der einzelnen Medien einigermaßen dauerhaft stabilisiert. Nicht nur ist das so gewonnene Selbstgefühl also in der Tat fragil, durch seinen performativen bzw. Augenblicks-Charakter. Auch die Produkte der Einbildungskraft sind immer nur Medien für andere Medien, Kunstwerke für andere Kunstwerke, die wiederum nur durch andere Kunstwerke ausgedrückt werden können. Werk und Schönheit sind also insofern Modellvorstellungen für das Selbstgefühl; aber darin auch nicht unproblematisch. Denn für eine Mediengeschichte der Einbildungskraft zeigt sich an Moritz, dass ein starkes Betonen der Medialität Selbstgefühl und Einbildungskraft hinter dem Kunstwerk zurücktreten lässt. Die Schönheit zu betonen wiederum überspielt den medialen Charakter des Kunstwerks. 4. Selbstgefühl und Einbildungskraft in Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen (1798) „Könnte ich doch allen die liebende Empfindung mitteilen, die mir die Feder in die Hand gibt,“ - dieser Wunschsatz stammt nicht aus den Briefen Werthers, sondern aus der Erzählerrede am Beginn des zweiten Buchs von Ludwig Franz Sternbalds 23 Moritz, Die Signatur des Schönen (wie Anm. 21), S. 91f. 24 Das ist eines der wichtigen Kriterien der Bestimmung und Bedeutung des Selbstgefühls bei Frank, Auswege (wie Anm. 7), das er damit in die philosophiegeschichtliche Konstellation Mitte der 1790er Jahren mit ihrer Suche nach einer Grundlagenphilosophie einordnet. 25 Ebd. 26 Moritz, Die Signatur des Schönen (wie Anm. 21), S. 91. 27 Siehe zu den ästhetischen, anthropologischen und theologischen Implikationen dieser Konzeption: Wolfgang Braungart: „Die Geburt der modernen Ästhetik aus dem Geist der Theodizee.“ In: Ders. u.a. (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden I: um 1800, Paderborn u.a. 1997, S. 17-34. 28 Vgl. Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Bense, Tübingen 2007. Selbstgefühl und literarische Imagination 225 Wanderungen. Sie liefern eine Antwort auf das bei Moritz herausgestellte Problem, wie Selbstgefühl und Einbildungskraft bzw. das Wissen um die Medialität und der Anspruch des Werks aufeinander zu beziehen sind. Tieck verwandelt sich den empfindsamen Werther-Ton gut zwei Jahrzehnte später an. Aber es ist weder Zitat noch Kopie. 29 Denn Tieck fährt dann weiter fort: „die liebende Empfindung mitteilen, die mir die Feder in die Hand gibt, die mich so oft die alten Bücher aufschlagen läßt, die meinen Blick vor jenen geliebten Bildnissen festhält, so daß sich jeder Zug und jede Miene dieser alten Meister meinem Gedächtnisse einprägt! “ 30 Tieck lässt den auktorialen Erzähler seines Künstler- und Entwicklungsromans nicht das Selbstgefühl eines Werther, sondern die „liebende Empfindung“ die Feder in die Hand geben, lässt Bücher aufschlagen und Bilder betrachten, verinnerlichen und einprägen. Empfindung und Medien werden an dieser Stelle aufeinander bezogen, vom Erzähler nahezu miteinander identifiziert. Dies hat auch Konsequenzen für das den Lesern angebotene Textmodell, was der Erzähler so beschreibt und was dessen Konzeptionen von Autorschaft und Mimesis weltorientierter bzw. welthaltiger erscheinen lässt: „Ich widme diese kleine, unbedeutende Geschichte jenen jungen Seelen, die ihre Liebe noch mit sich selber beschäftigen und sich noch nicht dem Strome der Weltbegebenheiten hingegeben haben, die sich noch mit Innigkeiten an den Gestalten ihrer innern Phantasie ergötzen, und ungern durch die wirkliche Welt in ihren Träumen gestört werden.“ 31 Das Zielpublikum ist sozusagen eine Vielzahl von Werthern, eine Jugend mit „ihrer innern Phantasie“ und mit ihren Träumen. Nicht auf eine Liebe als Passion 32 und nicht auf die „innere Phantasie“ aber zielt der Erzähler des Weiteren. Er richtet das Ziel seiner Widmung, die nun sogar wörtlich an die berühmte Vorrede von Goethes Briefroman anklingt, an die Kunst: „Wenn ihr, die ich meine, von der Kunst entzückt werdet, wenn ihr einen Trieb in euch spüret, der euer Herz den großen Meisterwerken oder den Helden der Vorzeit entgegendrängt, [...] wenn ihr euren Geist von großscheinenden Gegenständen zurückziehen und auch Kleinigkeiten mit Liebe betrachten könnt, so habe ich für euch geschrieben.“ 33 Der Trieb zur Kunst ist damit auch ein geschichtlicher und einer, der statt auf Größe und Erhabenheit auch auf Partikularität und die Realia sieht. Der frühromantischen Tendenz zur Kunstreligion wird so selbst beim frühen Tieck schon eine historistische bzw. realistische Tendenz beigesellt. Das ist für die Werkidentität und Tiecks 29 Siehe zum Problem des Zitierens, des Zitats und der textuellen, ästhetischen und ethischen Implikationen der Praxis des Zitierens: Joachim Jacob/ Mathias Mayer (Hg.): Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens, München 2010. 30 Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe. Hg. v. Alfred Anger, Stuttgart 1979, S. 86. 31 Ebd., S. 86f. 32 Vgl. zu diesem Modell: Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/ Main 1982; zur Applikation des Modells auf Goethes Werther und die Literatur des 18. Jahrhunderts: Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. 33 Tieck, Sternbald (wie Anm. 30), S. 87. Lothar van Laak 226 Konzeption von Autorschaft bis ins Spätwerk aufschlussreich. 34 Die Tendenz zur Verehrung der Kunst überwiegt in diesem frühromantischen Roman aber noch, wenn der Erzähler dann seine Widmung mit religiösem Gestus beschließt: „Euch ist mein ganzes Buch geweiht, und ich tröste mich damit, daß ich glaube, daß ihr irgendwo seid und mir gerne zuhört.“ 35 Diese Weihe seines Buchs ist eigentümlich, insoweit als der hier gewonnene Trost sich nicht den Lesern, sondern dem Erzähler vermittelt, der als Melancholiker erscheint, weil ihm nur der Glaube an ein anonymes, gesichtsloses Publikum bleibt. Die Werther-Reminiszenz und Werther-Variation dieser Erzählerrede machen deutlich, dass sich die Konzeptionen von Autorschaft und Rezeptionsmodell, von Darstellung und Medienreflexion im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts verändert haben und dann in den nächsten Jahrzehnten noch weiter verändern werden, denn nicht umsonst wird diese Erzählerrede in der Ausgabe von 1843 getilgt werden. Was sich in Goethes Distanznahme zu Werthers Phantasie zeigt, wird bei Tieck mit der Formel der „inneren Phantasie“ noch klarer, die so als jugendliche Träumerei relativiert wird. Ihr wird dann auch entgegengesetzt, was man als „entäußerte“, als künstlerisch gestaltete Phantasie bezeichnen könnte. Sie wird nach der Widmung dann auf der Erzählebene selbst realisiert: „Es war gegen Mittag, als Franz Sternbald auf dem freien Felde unter einem Baume saß und die große Stadt Leyden betrachtete, die vor ihm lag [...], und es war ihm wunderbar, dass nun die Stadt, die weltberühmte, mit ihren hohen Türmen wie ein Bild vor ihm stand, die er sonst schon öfter im Bilde gesehn hatte.“ 36 Die Wirklichkeit wird zum Kunstbild und ihr Betrachter fühlt sich in dieses Bild einrücken: „Er kam sich jetzt vor als eine von den Figuren, die immer in den Vordergrund eines solches Prospektes gestellt werden, und er sah sich nun selber gezeichnet oder gemalt da liegen unter seinem Baume und die Augen nach der Stadt vor ihm wenden. Sein ganzes Leben erschien ihm überhaupt oft als ein Traumgesicht, und er hatte dann einige Mühe, sich von den Gegenständen, die ihn umgaben, wirklich zu überzeugen. Da er ganze Bilder, Versammlungen mit allen ihren Menschen getreu und lebhaft in seiner Phantasie aufbewahren und sie dann von neuem vor sich hinstellen konnte, so war er in manchen Augenblicken ungewiß, ob alles, was ihn umgab, nicht auch vielleicht eine Schöpfung seiner Einbildung sei.“ 37 Hier wird deutlich, wie die Ambivalenz der Phantasie das Selbstgefühl selbst ebenfalls ambivalent macht. Die Spannung zwischen innerer Phantasie, Träumerei und Traumgesicht einerseits und künstlerischer Hervorbringung bzw. Wiederhervorbringung, Phantasie der Poiesis und Mimesis, 38 macht den Menschen seiner „ungewiß“. 34 Siehe dazu die Beiträge in: Detlef Kremer (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, Bielefeld 2005. 35 Tieck, Sternbald (wie Anm. 30), S. 87. 36 Ebd., S. 87. 37 Ebd., S. 87f. 38 Dieses Spannungsverhältnis entfaltet Iser, Das Fiktive und das Imaginäre (wie Anm. 1), S. 481- 502, genauer. Siehe zur Differenzierung der Bestimmungen der Mimesis um 1800 am Beispiel Selbstgefühl und literarische Imagination 227 So wird beschrieben, wie Selbstgefühl und Einbildungskraft in einem Wechselspiel stehen, in dem die Einbildungskraft, wenn das Selbstgefühl erfahren wird, sich ihrer Medien zu versichern sucht. Das wird an den Bildern, seiner „Schreib- und Zeichentafel“ 39 deutlich. Darüber hinaus macht die Einbildungskraft sich ihre eigene Medialität bewusst, wie es die Reflexion auf das gemalt gedachte Bild der Stadt und das imaginierte Bild der Geliebten zeigen. So kann die Einbildungskraft das Selbstgefühl stabilisieren und zugleich sich in die Medialität verlieren. Denn im Vordergrund steht bei Tieck gegenüber Moritz eher, „seine Phantasie unaufhörlich [zu] beschäftig[en]“ - „progressive Universalpoesie“ zu betreiben und darzustellen. Solche ‚Phantasien über die Kunst‘ sind zwar die moderneren Konzepte von Selbstgefühl, Imagination und Kunst, 40 aber in gewisser Weise auch weniger radikal als das, was bei Goethe als literarisches, bei Moritz als ästhetisches und anthropologisches und bei Novalis als philosophisches Potenzial im Wechselspiel von Selbstgefühl und Einbildungskraft aufscheint und als ganz radikale Möglichkeit von Literatur entworfen wird. Insofern ist an diesem Punkt die lineare Geschichte einer Modernisierung der Imagination zu relativieren und durch ihre mediengeschichtliche Vielgestaltigkeit zu differenzieren. 5. Einbildungskraft und Selbstgefühl in kritischer Reflexion - Tiecks historische Novelle Der Hexen-Sabbat (1832) In der weiteren Entwicklung wird deutlich, wie komplex eine Mediengeschichte der Einbildungskraft ist. Denn auch Tieck reflektiert in seinem späteren Werk das Verhältnis von Medialität, Kunstwerk und Einbildungskraft in kritischer, d.h. auch selbstkritischer und in romantikkritischer Weise. In der historischen Novelle Der Hexen-Sabbat aus dem Jahr 1832 wird mit dem Maler Peter Labitte die - gealterte - Kunstauffassung der Romantik präsentiert. Labitte ist Maler religiöser und teuflischer Kunstwerke, religiöser Dichter und historisch gelehrt. Er malt einen Hexensabbat, aber auch die Heilige Familie, die Heilige Katharina und Maria Magdalena. Er dichtet zudem einen Marienhymnus, der an Novalis’ Geistliche Lieder erinnert. Labitte ist aber auch wie Wackenroders Berglinger ein unvollendeter Künstler, wenn er erzählt, dass ihn die Fliegen beim Malen zum Niesen reizen und er dann die Produkte seiner Einbildungskraft nicht mehr auf der Leinwand realisieren kann. Das Gemälde vom Hexensabbat, das im Zentrum der Novelle steht, ist eine Ausnahme, weil es den Beelzebub, den Herrn der Fliegen, zeigt und dieser augenscheinlich auf seine Sichtbarkeit in dieser Welt aus ist. von Karl Philipp Moritz: Lothar van Laak: „Nachahmung nach der Nachahmungsästhetik - Mimesis und Präsenz bei Karl Philipp Moritz.“ In: Christian Kiening (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 225-241. 39 Tieck, Sternbald (wie Anm. 30), S. 87. 40 Vgl. die Hinweise dazu bei: Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt 2 2007. Lothar van Laak 228 Dieses Gemälde wird zum Auslöser einer großen Hexenverfolgung im belgischen Arras, im Burgund des 15. Jahrhunderts. Dieses Gemälde, dieses Kunstwerk ist erst ein Produkt der romantischen Einbildungskraft Labittes und wird dann als Werk zu einem Symbol, das sich im Lauf der Ereignisse als historisch wirklich realisiert. Es wird zu einem Medium der Gewalt. Das im Gemälde des Hexensabbats dargestellte ‚ganz einfache Nein‘ wird hier entfaltet zu einer Ästhetik des Abfalls vom Göttlichen, aber auch vom Göttlichen ins Leben. Lucifer wird zur theo- und satanologischen, aber auch kulturellen, ja Kultur schaffenden, und ästhetisch-anthropologischen Legitimationsfigur: „Ich sagte also, Bild könne ein Bild und Sage die Sage erklären, weil uns der eigentliche Urtext doch verloren gegangen ist, und wir uns nur mit den Auslegungen behelfen müssen. [...] Was ist uns Mittler, um uns dem Allerhöchsten, dem Unbegreiflichen zu nahen? Christ soll es sein, in seiner Menschen- und Kindergestalt, in seinem Lehren und Leiden, in unsrer anbetenden Liebe und schmerzlichem Mitleid. Aber auch die Geschichte, die Natur, die Kunst, Poesie und Musik, so wie der Gedanke und die Philosophie können und sollen uns Vermittler sein. In allen diesen wirkt und herrscht jener hohe Feuergeist, jener kräftige Engel, der sich vom Unsichtlichen trennte, und sich des Scheines, des Nichts, des Vergänglichen erbarmte, um auch dieses zum Triumph zu führen, und jenen Allmächtigen Unaussprechlichen im sogenannten Irdischen zu verklären.“ 41 Das kunstreligiöse Konzept der deutschen Frühromantik, wenn Novalis die Poesie zum Mittler werden lässt, wird hier von Labitte noch einmal in aller Deutlichkeit formuliert. Dieses Konzept von Kunstreligion wird aber umgewertet und der neue Mittler ist der Geist Lucifers. Labittes Argumentation widmet sich dem mystischepiphanischen Moment der luciferischen Wirkung in der Kunsterfahrung. Diese hat in der ersten Wendung den Charakter der romantischen Entgrenzungs- und Verschmelzungserfahrung. Zu dieser ersten Wendung tritt eine zweite, distanzierende Wendung hinzu, die eine Abwendung in die Reflexion und insbesondere die Erinnerung ist. „Und gleich darauf, wenn Ihr zu Euch und zur Besinnung zurückkehrt - was blickt Euch in der Erinnerung des Entzückens und Verständnisses für ein Auge an? Der Ewige, Unaussprechliche selbst, der in Eure edelsten Kräfte hineingestiegen war, Ihr habt ihn erlebt und gefühlt, und in dem innersten Heiligtum der Kunst oder Natur, welches dieser Kunstgeist Lucifer Euch schuf und öffnete, ist doch nur wieder Er. Dieser erinnernde Rückblick, in welchem Ihr Ihn erkennt, ist der fruchtreichste, ergiebigste Eures Lebens, denn in ihm erzeugen sich tausend Gedanken und Gefühle zu künftigen großen Verständnissen. In solchem Moment weiß der Denker, so wie der begeisterte Freund der Kunst, daß er Ihn geschaut hat, und die Idee, wie es Platon nennt, ist ihm entgegen gekommen. Aus dem augenblicklichen Tode ist das höchste Leben erwachsen und nur im Rückblick der Besinnung wird Er dann erkannt, indem er sich uns schon wieder entzieht[.]“ 42 So wird hier deutlich, dass das Epiphaniemoment der Erkenntnis in einer negativen Struktur „aus dem augenblicklichen Tode“ erhalten bleibt. Hervorheben möchte ich 41 Ludwig Tieck: Der Hexen-Sabbat. Hg. von Achim Hölter, Frankfurt/ Main 1988, S. 121ff. 42 Ebd., S. 123f. Selbstgefühl und literarische Imagination 229 an diesem Zitat zum einen die Bedeutung des „erinnernden Rückblicks“, den „Rückblick der Besinnung“; zum anderen die auffällige Formulierung, dass sich in diesem die „Gedanken und Gefühle zu künftigen großen Verständnissen“ erzeugen. Hier zeigen sich zwei wichtige Aspekte: erstens dass und wie das Gefühl ins Verstehen transformiert wird, hermeneutisiert bzw. in Sinn verwandelt werden kann. Medium dafür ist der „Kunstgeist Lucifer“. Und zweitens wird diese Sinnfindung zugleich historisiert, denn sie vollzieht sich retrospektiv bzw. in nachträglicher Reflexion im „Rückblick der Besinnung“. Insofern reflektiert Tiecks späte Romantik die Romantik selbst, aber er überschreitet sie auch konkret in einen historisch-hermeneutischen Realismus. Vom Blick ins Unendliche, von der Entgrenzung und vom Göttlichen des Kunstreligiösen wendet er sich dem „Wirklichen“ zu: „So entstand also durch ihren Sturz in die Tiefe wohl das, was wir die Wirklichkeit nennen. Sie ist nichts als eine Überhebung über das Geistige“. Diese Hinwendung vom „Unsichtlichen“ zum Sichtbaren ist ein ebensolcher Abfall ins Wirkliche, man könnte auch sagen, in die Welt der geschichtlichen Tatsachen, wie sie denn gewesen sind. Aus der Selbstreflexion der Romantik erwächst so ein modernes Geschichtsbewusstsein, das sich als ästhetisch reflektierte Antwort auf das Problem von Geschichte auffassen lässt. Denn dieser besinnenden Rückwendung wird eine dezidiert hermeneutische Qualität zugesprochen. Nicht die Geschichte selbst, sondern ihre Deutungen sind das, was erkannt wird. Oder, wie sich Novalis umformulieren lässt: Wir suchen immer die Geschichte, aber finden nur Geschichtsbilder. So erklärt Bild Bild, so verweist Sage auf Sage. Oder, bezogen auf die Frage nach der Medialität, im Blick auf das sich selbst malende erste Bild: „Das erste Bezeichnende wird unvermerkt vor dem Spiegel der Reflexion sein eignes Bild gemahlt haben“, womit dieser Satz sich besinnend zurückblickt und ein Blick der Erinnerung ist, bei dem „auch der Zug [dieses ersten Malens] nicht vergessen seyn“ wird. Hervorzuheben ist aber auch, dass dieser Sinn des Wirklichen, des Historischen, des Verstehens, ein besonderer Sinn ist. Er ist es dadurch, dass er ganz in der Medialität aufgehen kann und dann das Selbstgefühl auch wieder verloren gehen, sich dem Menschen entziehen kann. Das ist die Wendung ins Negative, die das auf das Medium Kunst bezogene Wechselspiel von Einbildungskraft und Selbstgefühl dann nehmen kann. Erläutern lässt sich dies an der letzten Episode der Novelle. Es ist das schriftliche Geständnis, das Labitte von den Inquisitoren im Kerker abgepresst wird und, so die Erzählerrede, „die Verwirrung seiner Sinne für den Verständigen am deutlichsten bekundete.“ 43 Abgesehen davon, dass der Erzähler damit auch den „verständigen“ Leser und Deuter der Novelle boshafter Weise in eine Wertung einbezieht, die Labitte zu einer randständigen Figur macht, ist das Geständnis keineswegs der Text eines Wahnsinnigen. Er führt vielmehr zu Ende, was in Labittes Kunst-Philosophie grundgelegt worden ist, die auch eine Theologie, Geschichtsphilosophie und Hermeneutik darstellt. So stellt Labitte in seinem Geständnis fest: „Vielleicht sind die Geister für uns hier auf Erden nur dann da, wenn sie gefallene sind, das heißt, geschaffene. In so fern sie aus dem ewigen Urquell des höchsten Gottes frei 43 Ebd., S. 196. Lothar van Laak 230 gemacht und dem Dasein anvertraut worden, ist das schon ein Abfall vom Ewigen, Unaussprechlichen zu nennen.“ 44 Labittes Ironie im erzwungenen Geständnis, sozusagen sein letztes ihm mögliches Werk, reflektiert auf dessen Medialität, geht dabei aber in sardonisches Gelächter über: „Ja, meine Herren, die Magie ist nicht zu leugnen. Indem ich diese schwarzen Worte schreibe, lache ich über die krausen und eckigen Zeichen, und weiß, daß Ihr die frommen Augen darüberlaufen lasset und die Schnörkel zu verstehen glaubet, glaubt Gedanke, Überzeugung, Geistiges aus diesen Tintenflecken Euch formieren zu können. O, wenn es so ist, welche Zauberer seid Ihr! Lehrt doch andern die Kunst. Und wenn Ihr sie nicht versteht? Der Fall ist möglich. Muß ich doch, trotz meiner Schmerzen, über die Gesichter lachen, die Ihr schneidet, indem Ihr die Köpfe schüttelt.“ 45 „Der Fall ist möglich.“ Hier, in der ironischen Selbst-Reflexion der Zeichen, der Schrift als Widerspiel zwischen Materialität, Medialität und Sinn, im Geist der Kommunikation, als Sinn-Erfahrung zwischen Inkarnation von Sinn im Wort und als Deutung, hier wird der Fall zum Fall, zum Ab-Fall in die Wirklichkeit, zum Höllensturz. Aufgehen in die Medialität und Verlust des Selbstgefühls, als Bedingung der eigenen Existenz werden so parallelisiert. Labittes Kunstauffassung von der Entäußerung des Geistes in und als die Wirklichkeit endet zynischerweise damit, dass er sich selbst nurmehr „mit dem Tode vermählen“ kann. Für die Ausweglosigkeit, in der Labitte sich befindet, gibt es nur die Resignation, die Einwilligung in seinen Opfer-Tod, die aber gleichwohl ein Verstehen darstellt: „Das ist der Geist dieser Welt, der mich zum höchsten Schöpfer und dessen Sohn auf eine mir verständliche und eigne Art führt.“ 46 Kunsttheologisch wie geschichtsphilosophisch, ethisch und hermeneutisch ist aufschlussreich: Es ist das eigene Verstehen, das Selbst-Verstehen, das die erinnernde Besinnung auf den in der Kunst erfahrenen Kaíros des eigenen Lebens erfüllt. Es ist eine Form des Sinns, die des Selbstgefühls bedarf, d.h. an die menschliche Existenz gebunden, und zugleich durch sie begrenzt ist. Gegen Moritz’ Konzepte von Werk und Schönheit werden damit beim späten Tieck Selbstgefühl und Geschichte gesetzt; und zwar in einer Weise, die auch gegenüber seiner frühromantischen Position im Franz Sternbald die Medialität der Einbildungskraft in einer hermeneutischen und kritischen Wendung zugleich historisiert und dadurch indirekt stabilisiert, dass das Werk der Einbildungskraft zum, wenn auch je individuell anzunehmendem, Sinn wird. 44 Ebd., S. 197. 45 Ebd., S. 200. 46 Ebd., S. 201. Die Nähe zum späten Goethe ist hier spürbar. Selbstgefühl und literarische Imagination 231 6. Zusammenfassung Die romantische Formel von der ‚Poesie der Poesie‘ ist aber nur ein Ausdruck dafür. Neben dieser transzendentalpoetischen Perspektive gibt es eine anthropologische, die sich z.B. in der Position des Erfahrungsseelenkundlers Karl Philipp Moritz zeigt, und eine dritte, die Kunst und Geschichte, Religion und Ästhetik, in einer spezifischen Weise neu zu einander vermittelt und in die Moderne weitergibt, wie Tiecks Werk bis in die Jahrhundertmitte es entfaltet. Sie alle drei lenken je unterschiedlich den Blick darauf, wie sich eine Mediengeschichte der Einbildungskraft im Jahrhundert von etwa 1750 bis 1850 konzipieren lässt. Sie alle zugleich sind aber eine Begründung dafür, dass eine solche Mediengeschichte der Einbildungskraft noch Desiderat ist. Es lohnt nachzudenken über dieses Vermögen, das das Selbstgefühl unter den geschichtlich sich wandelnden Bedingungen der Medien und dem Wissen dieses Wandels begründet. Dies setzt bei der Begründung der Ästhetik bei Alexander Gottlieb Baumgarten an. Nach dieser ersten Phase um 1750 kann die Einbildungskraft dann dieses Selbstgefühl überaus differenziert organisieren, weil die Aufwertung der Literatur als das Medium in der Zeit um 1800, der zweiten Phase, auch mit einer Emphatisierung der Einbildungskraft einhergeht, wie sich an Goethe und Moritz zeigt. Schließlich, in der dritten Phase, an deren Beginn Tieck und an deren Ende Hegel und Büchner, Droste-Hülshoff, Eichendorff und Heine stehen, stabilisiert die mediale und geschichtliche Reflexion der Einbildungskraft das Selbstgefühl auch dann noch, als die Subjekt-emphatischen Konzepte der Zeit um 1800 insbesondere in Spät- und Nachromantik, im Realismus und der Moderne relativiert worden sind. Der Blick auf das Verhältnis von Selbstgefühl und Einbildungskraft, wie es in einer Mediengeschichte der Einbildungskraft herausgearbeitet werden kann, übergreift damit also mehr als ein Jahrhundert mit einer Vielzahl anthropologischer und ästhetischer Entwürfe, die eine ästhetikgeschichtliche und literaturtheoretische Bearbeitung mit einem grundlegenden theoretischen und auch interdisziplinär nutzbaren Ertrag lohnen. Literaturverzeichnis Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München 2006. Bermes, Christian u.a. (Hg.): Die Kultur des Textes. Studien zur Textualität, Würzburg 2008. Braungart, Wolfgang: „Die Geburt der modernen Ästhetik aus dem Geist der Theodizee.“ In: Ders. u.a. (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden I: um 1800, Paderborn u.a. 1997, S. 17-34. Braungart, Wolfgang: „Prolegomena zu einer Ästhetik der Geselligkeit (Lessing, Mörike).“ In: Euphorion 97, 2003, S. 1-18. Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002. Dürbeck, Gabriele: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998. Frank, Manfred: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/ Main 2007. Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774. Text und Kommentar. Hg. von Wilhelm Große, Frankfurt/ Main 1998. Lothar van Laak 232 Greif, Stefan: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter, München 1998. Hoffmann, Roald und Iain Boyd Whyte (Hg.): Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft, Frankfurt/ Main 2010. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/ Main 1991. Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Bense, Tübingen 2007. Jacob, Joachim und Mathias Mayer (Hg.): Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens, München 2010. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003. Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004. Jannidis, Fotis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000. Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek bei Hamburg 1990. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bde. III/ IV, Frankfurt 1974. Kremer, Detlef (Hg.): Die Prosa Ludwig Tiecks, Bielefeld 2005. van Laak , Lothar: „Nachahmung nach der Nachahmungsästhetik - Mimesis und Präsenz bei Karl Philipp Moritz.“ In: Christian Kiening (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007, S. 225-241. van Laak, Lothar: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film im 20. Jahrhundert: Bertolt Brecht - Uwe Johnson - Lars von Trier, München 2009. van Laak, Lothar: „Literarische Anthropologie.“ In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. de Gruyter Lexikon, Berlin - New York 2009, S. 337-353. van Laak, Lothar: „Die Bilder der Wissenschaft - die Bilder der Literatur. Das interdisziplinäre Potenzial der Einbildungskraft bei Eichendorff und Grünbein.“ In: Lothar van Laak/ Katja Malsch (Hg.): Literaturwissenschaft - interdisziplinär, Heidelberg 2010, S. 131-142. van Laak, Lothar: „Die Konzeption ästhetischer Erfahrung bei Alexander Gottlieb Baumgarten.“ In: Verlag der Francke’sche Stiftungen Halle/ Saale (Hg.): „aus GOttes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung - Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009, erscheint 2011. Lubkoll, Christine und Oda Wischmeyer (Hg.): ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung, München 2009. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/ Main 1982. Malinowski, Bernadette: „Theorien des Imaginären - Fragmente einer Geschichte der Einbildungskraft.“ In: Hans Vilmar Geppert/ Hubert Zapf (Hg): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. I, Tübingen 2003, S. 51-88. Mellmann, Katja: „Emotionalität und Verhalten. Eine literaturpsychologische Kritik des Werther-Mythos.“ In: Hans-Edwin Friedrich u.a.: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 201-240. Meyer-Krentler, Eckhardt: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984. Moritz, Karl Philipp: „Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? (1788/ 1789).“ In: Ders.: Beiträge zur Ästhetik. Hg. von Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler, Mainz 1989, S. 79-96. Novalis: Schriften. 2. Bd. Hg. v. Richard Samuel u.a. Darmstadt 1965. Selbstgefühl und literarische Imagination 233 Oestersandfort, Christian: Immanente Poetik und poetische Diätetik in Hölderlins Turmdichtung, Tübingen 2006. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/ Main 1999. Schmitz-Emans, Monika: Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt 2 2007. Schneider, Sabine M.: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz‘ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit, Würzburg 1998. Stiegler, Bernard: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Frankfurt/ Main 2008. Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe. Hg. v. Alfred Anger, Stuttgart 1979. Tieck, Ludwig: Der Hexen-Sabbat. Hg. von Achim Hölter, Frankfurt/ Main 1988. Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. Zwischen Oral Poetry und Hörbuch - Mündlichkeit und Literatur Klaus Vogelgsang Im Herbst 2009 sorgte es für gehörige Unruhe, dass das Bayerische Kultusministerium, genauer gesagt: dessen „Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung“ (kurz: ISB), eine Online-Befragung 1 durchführte, um von Schülern Auskünfte über die Verhältnisse im Elternhaus einzuholen, u.a. Auskünfte über den Bildungsgrad. Gut vorstellbar, das ISB habe sich inspirieren lassen von dem Slogan „Buch macht kluch“ 2 und diesen im Sinn der statistischen Quantifizierbarkeit umgewandelt in: „Bücher machen klücher“. Also, liebe Schülerinnen und Schüler: Wie viele Bücher stehen daheim bei Mutti und Vati im Regal? Zeitschriften bitte nicht mitzählen. Egal für wie „kluch“ man nun diese investigative Bildungsforschung hält - man wird zugeben müssen, dass das Verhältnis zum Buch nicht unbedingt ein schlechter Indikator für Bildungsnähe bzw. Bildungsferne sein muss, denn im Drama unserer Zivilisation spielt das Buch unzweifelhaft eine Hauptrolle. Das Buch als Behälter von Schrift, die Schrift als Behälter von Sprache sind für uns ein so grundlegendes, so universelles und ubiquitäres Konzept, dass es uns eine Selbstverständlichkeit, ja wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses ist. Eine punktuelle Problematisierung dieser Selbstverständlichkeit soll im Folgenden einigen Überlegungen zur Mündlichkeit vorausgehen. Schrift und Buch - eine Selbstverständlichkeit? Dass etwas in einer Schrift aus Buchstaben, lat. litterae, besteht, ist zwar für uns nicht mehr das entscheidende Kriterium dafür, dass etwas als literarisch gilt, aber Literatur (sei es im Sinn von Kunst in Textform wie beim Adjektiv literarisch, sei es im älteren Sinn von wissenschaftlich-gelehrtem Schrifttum) ist doch fast immer vorgestellt als im Medium der Schrift produziert und als auf dem Weg des Lesens rezipierbar. Doch vermag die Etymologie 3 den Blick zurück auf einen kulturhistorischen Zu- 1 Online-Befragung, Fragebogen unter http: / / www.isb.bayern.de/ isb/ download.aspx? DownloadFileID=113d772b9bc07051cdc8465 5d44d49ae 2 Der Slogan wurde in prominenter Weise von den Initiatoren des Neubaus der Ausgburger Stadtbücherei um Kurt Idrizowic benutzt. Dieser darf als Urheber der Formel gelten. 3 Vgl. Gerhard Strauß/ Ulrike Haß/ Gisela Harras (Hrsg.): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin 1989, S. 651-657; sowie Friedrich Kluge: Ety- Klaus Vogelgsang 236 stand zu lenken, in dem es etwas Bemerkenswertes war, wenn irgendwo die Schrift eingesetzt wurde und damit etwas vorlag, was zutreffend durch eben diesen Umstand bezeichnet werden konnte: Schaut her, hier wird etwas aufgeschrieben, hier werden litterae verwendet. Buchstabenförmigkeit war offenbar für bestimmte Texte dasjenige Spezifikum, nach dem sie benannt wurden: litterae, Schrift und Buch sind die Metonymie für diese als besonders und als besonders wichtig wahrgenommenen Texte. Die Schriftlichkeit als prinzipiell verfügbare Möglichkeit der Fixierung und Aufbewahrung von Rede, der Zeit- und Ortsversetzung ihrer Rezeption reicht dabei in historischer Dimension soweit zurück, dass diese Kulturtechnik unserer Zivilisation gleichsam schon eingeschrieben ist, zumal in den Urkunden der religiösen Traditionen, im jüdischen Tanach, der christlichen Bibel, dem muslimischen Koran: Gott selbst bedient sich der Schriftlichkeit, diktiert den von ihm Berufenen in die Feder, lässt Visionen in prophetische Texte fassen. Dabei wird dieser explizite Schriftcharakter des Gotteswortes vielfach reflektiert und thematisiert, sogar seine materielle Existenz auf dem Schriftträger wird betont, wenn Gesetzestafeln zerschmettert werden 4 , wenn eine abschnittweise versiegelte Schriftrolle in sieben Schritten entsiegelt und verlesen wird 5 , wenn ein Buch gar aufgegessen wird. 6 Diese Buchzentrierung der Religion findet ihre Fortsetzung in der gottesdienstlichen Verehrung, die das Buch mit den als heilig betrachteten Texten erfährt - je nach Grad der kultischen Opulenz bzw. Askese bei den Religionsgemeinschaften unterschiedlich ausgeprägt. Man denke an die kostbar und aufwendig geschmückte und in einem Schrein an zentraler Stelle verwahrte Torarolle der Synagoge oder die Inthronisation und Inzens des Evangeliars in der orthodoxen und römischen Liturgie des Christentums. Nicht zu vergessen: Der sinnfällige Ritus bei der Bischofsweihe, in welchem dem knienden Kandidaten das geöffnete Evangelienbuch wie einem Ochsen das Joch auf die Schultern gelegt bzw. wie ein Dach über den Kopf gehalten wird. 7 Der Schriftträger Buch ist als Buch Gegenstand der Riten, er wird von ihnen in seiner konkreten Materialität wahrgenommen und benutzt. Nicht nur stehen Buch und Schrift als Metonymie für die in ihnen fixierten Texte, sondern, da diese Texte in ihrer Gesamtheit Träger der wesentlichen Informationen und Orientierungen unserer Zivilisation sind, sind Buch und Schrift so etwas wie eine Metapher, gar ein Symbol von Kultur. 1914 bis 1918 errichtete der Börsenverein der deutschen Buchhändler mit staatlicher und kommunaler Beteiligung in Leipzig ein eindrucksvolles Gebäude für die „Deutsche Bücherei“ - die Ursprungsinstitution der heutigen „Deutschen Nationalbibliothek“, die das gesamte gedruckte deutsche Schrifttum zu erfassen und zu sammeln hat. Bei der Planung war man bemüht, die hohe Bedeutung der Institution mologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. durch Elmar Seebold. 24., durchges. u. erw. Auflage. Berlin/ New York 2002, S. 578. 4 Vgl. Bibel, Ex 32,19. 5 Vgl. Bibel, Offb 6,1-12; 8,1. 6 Vgl. Bibel, Offb 10,9-11 nach Ez 3,1-3. 7 Liber pontificale Romanum. De ordinatione diaconi, presbyteri et episcopi. Rom 1968, S. 70, 110. Mündlichkeit und Literatur 237 durch geeignete „Kunst am Bau“ zu versinnbildlichen. Figürlich führte dies zu einer Gutenbergbüste (flankiert von Bismarck und Goethe) und in ornamentaler Monumentalinschrift zu den Versen Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt. Dies sollte damals, so steht zu vermuten, erkennbar sein als Zitat aus Schillers kulturgeschichtlicher Elegie Der Spaziergang 8 : Der Spaziergänger gelangt darin auf seinem Weg durch fortschreitende Stufen der menschlichen Zivilisation in eine Sphäre der Hochkultur mit eleganter Architektur, naturwissenschaftlichem Ergründen sowie abstrahierend-mathematischer Erkenntnis; die Szenerie trägt unverkennbar die Züge des klassischen Griechenlands. Direkt hierher gehört das zitierte Distychon und ist in diesem Kontext zwar wohl primär auf die verschriftlichten und in dieser Form tradierten mathematischen Erkenntnisse zu beziehen. Doch spätestens durch die Herauslösung aus diesem Gedankengang erscheint der Zweizeiler als das schlechthin klassische Zitat zum generellen Thema Schriftlichkeit - und durch seine häufige Anwendung hat der Doppelvers auch prägend auf die Vorstellung gewirkt, die man von der Wirkung und Funktion der Schrift hat: Folgt man dem Distychon so gilt erstens: Die Schrift gibt dem, was sie fixiert, etwas, was ihm sonst fehlt, nämlich Körperlichkeit. Dies geschieht leihweise: die Körperlichkeit ist, so wird man die Wortwahl interpretieren dürfen, etwas, was dem Fixierten doch letztlich fremd bleibt: Sprache ist und bleibt ein Nacheinander von Lauten, nicht ein Nebeneinander von Buchstaben, sie ist und bleibt ein zeitliches und akustisches Phänomen, nur die Schrift codiert sie übersetzend in ein räumliches und optisches. Zweitens wird man schließen dürfen: Durch die räumlich-optische Umsetzung in Schrift ist Rede nicht mehr gebunden an den Kommunikationszusammenhang des Sprechens und Hörens zu gleicher Zeit und an gleichem Ort. Die Rezeption wird von der Produktion zeitlich und räumlich entkoppelt. Geschriebenes kann zu einem späteren Zeitpunkt und auch an anderem Ort gelesen werden. Abhängig ist dies nicht mehr von der Ausbreitung des Schalls, sondern von der Haltbarkeit und Transportierbarkeit des Schriftträgers: Durch der Jahrhunderte Strom … Und drittens: Der Sprecher ist ersetzt durch das redende Blatt. „Reden“ ist hier wohl zu verstehen als Metapher für „das Codierte zur Decodierung und damit zur Rezeption freigeben“, sprich für „gelesen werden“. Während das Blatt in dieser Metapher seine räumlich-optischen Zeichen ins zeitlich-akustische rückverwandelt, ist im ersten Vers der Gedanke stumm. Er ist nicht vorgestellt als schon von Haus aus sprachförmig, ja er wird es auch tatsächlich gar nicht, sondern ihm leiht, so Schiller, erst die Schrift die Stimme. Erst die Schrift, die „Körper“, also Räumlichkeit gibt, bringt den stummen Gedanken zur Sprache, indem sie ihm Stimme leiht und verleiht. Das ist bezeichnend: Die Abfolge ist nicht die, dass Gedanken durch die 8 Friedrich Schiller: Der Spaziergang. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. v. Julius Petersen u. Gerhard Fricke. 1. Bd: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799. Weimar 1943, S. 260-266. Klaus Vogelgsang 238 Stimme zur Sprache kommen und diese durch die Schrift aufs Blatt, sondern Versprachlichung und Verschriftlichung sind eins. Dieser letzte Punkt ist besonders wichtig: Nach unserem allgemeinen Verständnis ist für einen Text ab einem gewissen Grad von allgemeiner Relevanz Schriftlichkeit die Normalform, dies gilt nicht zuletzt für literarische Texte. Und zwar ist für Literatur die Schriftlichkeit nicht allein auf Seiten der Produktion (der Autor schreibt seinen Text nicht erst auf, nachdem er ihn geschaffen hat) dominierend, sondern - vom Drama einmal abgesehen - auch auf Seiten der Rezeption: Literatur wird hauptsächlich von einer einzelnen Person in stummer Lektüre rezipiert. Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Literarisches ganz im Medium Schrift bleibt, dass es ganz unabhängig vom Akustischen rein im Optischen existiert. So gesehen ist das Blatt kein redendes mehr: In der Literatur ist die Rede weithin verstummt. Das Augentier Mensch hat diejenige seiner Kommunikations- und Ausdrucksformen, die den höchsten Grad an Differenziertheit erlaubt, die über das Ohr rezipierbare Sprache, weithin zu einem Augenphänomen gemacht. Darauf, wie stark dieser Vorgang auf die Physiologie des Menschen wirkt, weist Herbert Marshall McLuhan 9 hin, der gar eine neue Spezies, die des typographic man, eine Art homo scripturalis herausgebildet sieht (bezogen freilich speziell auf die Innovation des Buchdrucks). Literatur ist dabei ein Spezialfall, kein randständiger aber, sondern einer in dem sich die allgemeinen Vorgänge in besonderer Weise verdichtet haben. Diese Schriftbezogenheit ist das Ergebnis eines kulturhistorischen Prozesses, der zwar sehr weit zurückreicht und, um den Assman-Begriff zu gebrauchen, unser kulturelles Gedächtnis nachhaltig geprägt hat, auch strukturell. Aber es ist nicht so, dass ohne Schriftlichkeit keine Form von literarischer, besser poetischer Rede möglich wäre und möglich war. Von der Primären Oralität zum Primat der Oralität Für poetische Werke, deren Entstehung in die Zeit vor Etablierung der Schrift, in die sogenannte „primäre Oralität“, hineinreichen, ist der prominenteste Fall derjenige der homerischen Dichtungen. Die Forschung hat besonders an ihnen herausgearbeitet, was diese „Literatur vor der Literatur“ ausmacht. Die Ilias und die Odyssee nehmen im Text keinen direkten Bezug auf die Figur ihres Verfassers und Vortragenden. Doch in einer anderen homerischen Dichtung, in der großen Hymne auf Apollon finden sich folgende Verse, in denen der vortragende Sänger sich an das imaginierte Publikum, die im Apollondienst stehenden Priesterinnen, wendet: Euch aber allen Heil! Gedenkt auch später noch meiner, Sollte ein Fremder, ein Leiderfahrener, einer der Menschen, Wie auf Erden sie wohnen, hieher gelangen und fragen: Mädchen, sagt mir, wer von den Sängern, die hier verkehren, Ist euch der liebste Mann und wer entzückt euch am tiefsten? Sagt dann von uns als Antwort ihr alle schön miteinander: 9 Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy: The making of typographic man. London 1967. Mündlichkeit und Literatur 239 Ist ein blinder Mann, er wohnt im zerklüfteten Chios, All seinen Liedern gebührt der Hochruhm künftiger Zeiten. 10 Da man, der Zuschreibung der Hymne an Homer glaubend, diese Aussagen auf Homer bezogen hat, ergab sich das Bild von Homer als dem typhlos aner, dem „blinden Mann“, wie es die antiken Legenden zeichnen und wie es zur ikonographischen Tradition geworden ist. Zwar ist der blinde Dichter hilflos und angewiesen auf die Führung durch einen Schüler, der ihm den Weg weist und bahnt, ihn vor Gefahren schützt und gegen Angreifer verteidigt, doch ist dieses Defizit nur der Ausgleich für ein im Gegenzug gewährtes ungleich größeres Privileg: In diesem Sinne spricht die Odyssee im 8. Gesang vom ebenfalls blinden Rhapsoden Demodokos, der am Hof des Phäiakenkönigs Alkinoos, überaus ehrenvoll empfangen, im Anschluss an das Festmahl vor der Hofgesellschaft auftritt: Diesen liebte die Muse sehr, sie gab ihm Gutes und Schlechtes: die Augen [= das Sehvermögen] zwar raubte sie ihm, gab ihm aber den süßen Gesang (V. 63f.) 11 Die Blindheit ist dabei nicht nur Umsetzung der Vorstellung, dass dieses Dichten ganz dem Bereich der Mündlichkeit zugehört und ohne Anteil an der optischen Schriftlichkeit bleibt, sondern oft auch Hinweis auf eine seherische Gabe - man denke an die Figur des Sehers Theiresias, der bei Sophokles von einem Knaben geführt werden muss: Allein der Blinde ist in der Lage, die tiefere Wahrheit zu erkennen. Während Homer so in eine sakrale, dem Irdischen entrückte Sphäre gehoben und dadurch abgehoben von späteren Dichtern ist, machten sich schon in der Antike Zweifel daran breit, ob es tatsächlich vorstellbar ist, dass zwei Werke von der Dimension der Großepen Ilias mit nahezu 16.000 Versen und Odyssee mit immerhin noch über 12.000 Versen von einem Einzelnen rein im Kopf und ohne Gedächtnisstütze in Form von Aufzeichnungen konzipiert und memoriert werden können. Zwar wurde diese ihrerseits wieder klassisch gewordene „homerische Frage“ auf unterschiedliche Weise beantwortet, doch läuft fast jedes Lösungsmodell auf eine mehr oder minder empfindliche Demontage des Homerbildes hinaus. Besonders wenig respektvoll klingt dies beim jüdischen Apologeten Josephos (Contra Apionem, 1,12) 12 im ersten nachchristlichen Jahrhundert, der (offenbar bekannte Thesen referierend) schreibt, verglichen mit den Verhältnissen in Israel sei bei den Griechen der Übergang zur Schriftlichkeit sehr spät, ja der Schritt zur Schrift könne noch nicht einmal an der Gestalt Homers festgemacht werden, da, so Josephos, „man sagt, nicht einmal der habe seine Dichtung schriftlich hinterlassen, sondern sie sei, aus dem Gedächtnis weitergegeben, erst später aus den [einzelnen] Liedern zusammengesetzt 10 Ausgabe: Homeri Opera. Recognovit […] Thomas W. Allen. Tomus V: Hymnos […], Oxford 1974. Übersetzung nach der Slg. Tusculum. 11 Homer: Odyssee. Griech. u. dt. Übertragung v. Anton Weiher. […]. 8. Auflage. München/ Zürich 1986 (Sammlung Tusculum). 12 Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums. Contra Apionem. Hrsg. […] v. Folker Siegert. Göttingen 2008, S. 32. Klaus Vogelgsang 240 worden, und deswegen enthalte sie so viele Ungereimtheiten.“ Dies klingt schon ganz nach der „Liedertheorie“, die Karl Lachmann 13 , den Germanisten wohlbekannt, 1847 aufstellte und in gleicher Weise auch auf das Nibelungenlied als „Deutsche Ilias“ anwandte. Die Homerische Frage beschäftigte auch die Philologie der Neuzeit, doch ein substantiell neuer Ansatz zur Klärung der Frage, wie Dichtung im Bereich der Mündlichkeit existieren kann, kam erst mit den Forschungen von Milman Parry (1902-1935) 14 . Zunächst untersucht er das Beiwort bei Homer: Dieses ist in seiner scheinbar stereotypen Verwendung seit jeher als Stileigentümlichkeit Homers aufgefallen; Odysseus’ persönliche Schutzgöttin Athene z.B. wird immer und immer wieder als glaukopis Athene ‚glanzäugige Athene’ bezeichnet, so dass der Eindruck entstand, dieses Beiwort (epitheton) habe rein schmückenden Charakter, es sein ein epitheton ornans. Parry nun kommt zur Erkenntnis, dass der Text der homerischen Dichtungen nicht nur diese Epitheta, sondern auch größere festgeprägte und immer wiederkehrende Formeln aufweist - und zu erstaunlich großen Teilen gar nur aus solchen Textbausteinen besteht, außerdem, dass deren Position im Vers jeweils konstant bleibt. Daraus folgert er, die Funktion dieser festen Elemente bestehe in erster Linie darin, ein umfangreiches Repertoire für eine versmäßige Textproduktion zu bilden, die ohne schriftliche Fixierung auskommt. Der formulaic style ist für ihn der Schlüssel zur mündlichen Dichtung, zur oral poetry. (Es handelt sich um eine Art bricolage im Sinn von Lévi-Strauss.) Parry erprobt seine Theorie durch Studien am lebenden Objekt, und forscht 1934/ 35 zusammen mit seinem Assistenten Albert Bates Lord (1912-1991) in ethnologischer Methodik auf dem Balkan, um dort die Arbeitsweise von dort noch existenten Rhapsoden zu untersuchen. Die in aller Regel analphabeten serbischen Sänger begleiten ihren nicht selten abendfüllenden Liedvortrag durch das Spiel auf einem einsaitigen Streichinstrument, der Gusle, und werden daher Guslaren genannt. Betreiber von Kaffeehäusern engagierten die Sänger zur Unterhaltung ihrer Gäste, wie bei Homer der Phäiakenkönig Alkinoos den Sänger Demodokos zu seiner Hofgesellschaft einlädt. Parry und Lords machen Tonaufnahmen von den Vorträgen, lassen sich diktieren und sehen bei der Auswertung der Texte ihre Ausgangsthese bestätigt: Die von den Guslaren dargebotenen Texte sind aufgebaut aus traditionellen, festen Formeln - nicht anders als die homerischen Dichtungen. Durch den praktikablen Fundus dieser Versbausteine ist es möglich, Texte von erstaunlichem Umfang im Kopf herzustellen, zu memorieren und vorzutragen. Während in der Homerphilologie scheinbar kein Konsens über die Relevanz dieser Forschungen besteht (Gustav Adolf Seeck handelt sie in seiner aktuellen Homer-Einführung bei Reclam unter „Holzwege der Wissenschaft“ ab 15 ), wurde die oral-poetry-Theorie für die Beschäftigung mit altfranzösischer Literatur (vor allem mit der Chanson de Roland) und in der 13 Karl Lachmann: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Not. In: Karl Müllenhoff (Hrsg): Kleinere Schriften zur deutschen Philologie. Berlin 1969, S. 1-80. 14 Milman Parry: The Making of Homeric Verse. Oxford 1971, S. 266-364. 15 Vgl. Gustav Adolf Seeck: Homer. Eine Einführung. Stuttgart 2004 (RUB 17651), S. 53-55. Mündlichkeit und Literatur 241 Altgermanistik (prominent: Die Arbeiten von Edward R. Haymes zum Nibelungenlied 16 ) sehr fruchtbar angewandt und weiterentwickelt. Zu nennen sind generell besonders Paul Zumthor 17 , Aleida und Jan Assmann sowie Wolfgang Raible und sein Freiburger Sonderforschungsbereich Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit der Schriftenreihe ScriptOralia. Parry und Lord führten, um nähere Aufschlüsse zu bekommen, mit den Guslaren Interviews über deren Arbeitsweise, die in Auszügen in Lords umfassender Darstellung The Singer of Tales (1960 - deutsch: Der Sänger erzählt) 18 abgedruckt sind. Die Frage nach möglicher Varianz in der Tradition verneinten die Guslaren durchweg vehement und betonten einhellig, der Text ihrer Dichtungen sei fix und werde von ihnen so memoriert - ja man könne als erfahrener Guslar auch durchaus das Lied eines Kollegen nach einmaligem Hören unverändert wiedergeben und reproduzieren. Beim Vergleich von mehreren Vorträgen eines Liedes zeigten sich auch bei ein- und demselben Guslaren erhebliche Abweichungen: Der Rhapsode konstituiert das Lied tatsächlich bei jedem Vortrag neu, indem er das stabile Handlungsgerüst und den festen metrischen Rahmen improvisierend aus den Formelschatz vertextet. Er ist dabei in der Lage, seinen Vortrag den Reaktionen des Publikums oder bestimmten Rahmenbedingungen anzupassen - ausbauend, straffend oder sonst verändernd. Es ist nur so, dass diese Varianz im Bewusstsein des Guslaren nicht als solche existiert, für ihn ist das Lied, das er vorträgt, stets unverändert. Für ihn und sein Publikum garantiert der Vortrag die Bewahrung und Weitergabe der identitätsstiftenden Tradition. Nicht zufällig behandeln die Lieder oder Epen vornehmlich wichtige historische Ereignisse, oft aus einer bestimmten für das Selbstverständnis der jeweiligen Kultur grundlegenden Epoche, heroic age genannt (für die Griechen der Kampf um Troja, für die germanischen Kulturen die Völkerwanderung, für die Serben der Kampf um das Kosovo). Der amerikanische Philologe und Kommunikationswissenschaftler Walter Jackson Ong S.J. (1912-2003) erforschte auf der Grundlage dieser Erkenntnisse eingehender die Denkweise von Menschen in solchen Zivilisationen, die keinen Bezug zur Schriftlichkeit haben, sich also im Zustand „primärer Oralität“ befinden. Die Überzeugung von der tiefgreifenden Rückwirkung des Mediengebrauchs auf Denkweise und auch Physis des Menschen übernimmt Ong von seinem akademischen Lehrer Herbert Marshall McLuhan. Nach Ong spiegeln die mündlichen Dichtungen eine der Oralität eigene Denkweise, eine spezifische Psychodynamik. Sein sehr instruktives Standardwerk Orality and Literacy erschien 1982, die deutsche Übersetzung Oralität und Literalität 1987 19 . Das Phänomen, dass sich die Guslaren der Varianz ihrer Liedvorträge nicht bewusst sind, ist Teil eines für diese Denkform typischen Vorgangs, den Ong insgesamt als Homöostasie bezeichnet, im Deutschen am besten mit dem Terminus Selbstregulation 16 Vgl. Edward R. Haymes: Mündliches Epos in mittelhochdeutscher Zeit. Göppingen 1975. 17 Vgl. Paul Zumthor u.a.: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990. 18 Vgl. Albert Bates Lord: Der Sänger erzählt. Literatur als Kunst. München 1965, S. 35-57. 19 Vgl. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. Klaus Vogelgsang 242 wiederzugeben: Die Tradition passt sich unmerklich den sich verändernden Realitäten an und harmonisiert auf diese Weise immer mit der aktuellen Situation. Anders ausgedrückt: Was nicht mehr passt, wird vergessen. Die Ethnologen Jack Goody und Ian Watt sprechen denn auch konkreter von „struktureller Amnesie“ 20 . Dies ließe sich zwar sicherlich auch an gegenwärtigen Prozessen beispielsweise der augsburgischen Kommunalpolitik nachweisen, vor allem untersucht sind aber einschlägige Verhältnisse im Afrika südlich der Sahara. Nur ein Beispiel: Die Gondsha 21 , eine ethnische Gruppe in Ghana führen ihre Zivilisation auf einen Gründervater namens Ndwura Jakpa zurück. Als um 1900 die entsprechenden mündlichen Traditionen erstmals von britischen Forschern aufgezeichnet wurden, wurde erzählt, dieser Ndwura Jakpa habe sieben Söhne gehabt, die sich in der Nachfolge des Vaters die Herrschaft über dessen Reich teilten. Als die Aufzeichnung im Abstand von 60 Jahren wiederholt wurde, zeigte sich, dass nur noch von fünf Söhnen die Rede war - die Tradition hatte mit der Realität standgehalten, denn durch politische Verschiebungen war das Gondsha-Gebiet mittlerweile in nur noch fünf statt früher sieben Teile gegliedert. Die Erinnerung an die alte Siebenerstruktur war ohne Relevanz und wurde deshalb gleichsam auf natürlichem Weg ausgeschieden. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. In eine andere Richtung wurden die Untersuchungen von Parry und Lords durch Eric Alfred Havelock 22 weitergeführt, der besonders die spannungsvolle Koexistenz von mündlicher und schriftlicher Tradition in der späteren kulturhistorischen Entwicklung der Griechen untersuchte, wovon er wichtige Reflexe u.a. bei Platon nachweisen konnte. Ein solches Nebeneinander von Bereichen der Schriftlichkeit und solchen der bewussten Schriftlosigkeit berichtet z.B. auch Gaius Iulius Caesar in den Commentarii de bello Gallico bei seinen Ausführungen über die Druiden im Buch VI. (Kapitel 14) Ein Druidenstudium nehme, da es eben keine BA-Angelegenheit von sechs Semestern ist, zwanzig Jahre in Anspruch, die seien nötig, um die relevanten Informationen in Merkversen und Formeln auswendig zu lernen. Dabei bemerkt Caesar: […] neque fas esse existimant ea litteris mandare, cum in reliquis fere rebus, publicis privatisque rationibus, Graecis utantur litteris. 23 (Denn sie halten es nicht für erlaubt, diese Dinge den Buchstaben anzuvertrauen = zu verschriftlichen, wohingegen sie in den übrigen Angelegenheiten so ziemlich, für öffentliche und private Zwecke, das griechische Alphabet benutzen.) Caesar führt für dieses Schriftlichkeitstabu zwei mögliche Gründe an: die Angst davor, der spezifische, arkane Charakter der druidischen Tradition könne preisgegeben werden, und die Sorge, das Gedächtnis erlahme durch die bequeme Möglichkeit 20 Jack Goody, Ian Watt u.a.: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. 3. Auflage. Frankfurt/ M. 1991, S. 33. 21 Vgl. Ong (Fußnote 17), S. 53. 22 Eric Alfred Havelock: The literate revolution in Greece and it’s cultural consequences. Princeton 1982. 23 Ausgabe: C. Iulii Caesaris commentarii reum gestarum. Edidit O. Seel. Vol. I: Bellum Gallicum, Leipzig 1977 (Bibliotheca Teubneriana). Mündlichkeit und Literatur 243 des Schriftspeichers zunehmend mangels Training - man kennt das: Stichwort Taschenrechner und Kopfrechnen; in etwa findet sich das so auch schon bei Platon 24 . Interessanter ist Caesars erste Hypothese. Die Tradition bedarf der Mündlichkeit, ihre Umsetzung in Schriftlichkeit würde ein hohes Risiko bedeuten, denn die vermeintliche Sicherung würde vielmehr zur Auslöschung führen. Ganz ähnlich ist, was auf der Homepage der Sinti-Allianz Deutschland e.V. unter dem Menüpunkt „Sprache & Kultur“ zu lesen ist. 25 Anzumerken ist dabei: Dieser Verein vertritt, in betonter Abgrenzung zum allgemein etablierten Zentralrat der Sinti und Roma, die Interessen einer Gruppe deutscher Sinti, die besonderen Wert auf die Bewahrung ihrer bis auf das vedische Indien zurückgeführten Tradition legen - diese Sinti-Tradition ist schriftlos und wird rein mündlich tradiert und zwar ausschließlich in der Familie. Deshalb wünschen die Vertreter der Sinti-Allianz Deutschland für ihre Sprache eine Anerkennung als Minderheitensprache mit Bereitstellung entsprechender Fördermittel gerade nicht, sondern verwehren sich vehement dagegen und schreiben: Unsere Kultur und Sprache in öffentlichen Schulen zu lehren, sie zum Gegenstand eines Hochschulstudiums zu machen, in Ämtern zu benutzen oder die Sprache in den Medien zu publizieren, würde einen völligen Bruch mit den kulturellen Gesetzen der Sinti- Gemeinschaft bedeuten. Weder die Druiden von Caesars Gallien noch natürlich die Vertreter der Sinti-Allianz Deutschland befinden sich im Zustand primärer Oralität, Schriftlichkeit steht neben der Mündlichkeit. Doch haben beide noch einen Begriff von Oralität, welcher, wenn nicht prinzipiell, so doch in einem besonders hervorgehobenen Bereich, der Primat vor der Literalität zukommt. Koexistenz und Emanzipation Blickt man auf das europäische Mittelalter, zeigt sich im Sprachlichen nahezu überall eine ähnliche Situation der Zweigleisigkeit: Auf der einen Seite steht die universale Bildungs- und Kirchensprache Latein, auf der anderen Seite die jeweiligen Volkssprachen. Diese Zweisprachigkeit deckt sich, zumindest anfangs, wesentlich mit der Unterscheidung schriftlich - mündlich: Latein wird geschrieben und gelesen, die Volkssprache bleibt im Bereich der Oralität. Die Verhältnisse zeigen besonders ausgeprägt zwei Spezifika, die Aleida und Jan Assmann als Ägyptologen für alle Formen von „kulturellem Gedächtnis“ ausgemacht haben 26 : Erstens: Die Kult- und Kultursprache ist deutlich unterschieden von der Sprache der Alltagskommunikation, die Assmanns sprechen von „Intrakultureller Differenzierung“ der Bereiche, sogar von „Bikulturalität“ (S. 32). Zweitens: Nur eine ganz kleine 24 Platon: Phaidros 274c-278d. In: Sämtliche Werke 4. Phaidros. Parmenides. Theaitetos. Sophistes. Nach d. Übers. v. Friedrich Schleiermacher m. d. Stephanus-Nummerierung. Hrsg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plambörk. Hamburg 1958. 25 www.sintiallianz-deutschland.de 26 Jan und Aleida Assmann: „Schrift, Tradition und Kultur“. In: Wolfgang Raible (Hrsg): Zwischen Festtag und Alltag […]. Tübingen 1988 (ScriptOralia 6), S. 25-49. Klaus Vogelgsang 244 Minderheit der früh- und hochmittelalterlichen Bevölkerung hat Zugang zum Lateinischen, nämlich über klerikale Bildung, und nur diese Minderheit ist damit Träger von und Teilhaber an der lateinisch-schriftlichen Form des kulturellen Gedächtnisses. Dies ist die nach Assmann typische Ausbildung eines Spezialistentums mit einer charakteristsichen Ausprägung der „Partizipationsstruktur“ (S. 31). Die Volkssprachen aber drängen in unterschiedlichem Tempo zwar, doch recht kontinuierlich sich emanzipierend in den Bereich der Buchkultur, so dass sich neben der lateinischen eine volkssprachige Schriftlichkeit etabliert - in der Dichtung sowohl anknüpfend an die mündliche Erzähltradition (wie in der Heldenepik) als auch neue Formen erprobend und ausprägend (wie beim höfischen Roman). Auch diese neue Schriftlichkeit bleibt zunächst noch Sache von Spezialisten. Das Bewusstsein der „intrakulturellen Differenzierung“ und der Differenz bleibt: Ein über die Mittel literarischer Gestaltung so souverän und meisterhaft verfügender Autor wie Wolfram von Eschenbach charakterisiert sich programmatisch gerade in Abhebung von der Sphäre der Schriftlichkeit: ich kan dehein buochstap. 27 Auf diese Verhältnisse ist abgehoben, wenn man, wie der Züricher Mediävist Christian Kiening, von Texten vor dem Zeitalter der Literatur 28 spricht. Auch was aufgeschrieben wird und geschrieben ist, wird im Mittelalter zunächst noch nicht für die stumme Lektüre, sondern für den Vortrag bestimmt gewesen sein, bleibt also an eine bestimmte Situation und vor allem an Mündlichkeit gebunden, die Schriftlichkeit bei volkssprachigen Texten hat zunächst noch in ganz dienender Funktion und muss sich - ihrereseits - langsam emanzipieren. Auf ein sehr sprechendes Zeugnis für diese Emanzipation der volkssprachigen Schriftlichkeit, konkret für den kulturhistorischen Übergang vom Sich-Vortragen-Lassen zum Selberlesen hat der Altgermanist Stephan Mülle im Jahr 2005 hingewiesen. 29 Ich beziehe mich im Folgenden auf seine Argumentation. Dieses Zeugnis ist eine Handschrift des Kölner Stadtarchivs 30 mit dem Artusroman Wigalois des Wirnt von Grafenberg 31 . Der Roman selbst stellt sich durch seinen Prolog ganz programmatisch modern auf die Seite der Schriftlichkeit, indem das Buch als Buch über seinen Leser spricht. Das redende 27 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation. Mit einer Einl. v. Bernd Schirok. Übers. v. Peter Knecht, 2. Aufl., Berlin/ NewYork 2003, V. 115,27. Vgl. Günter Butzer: „Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches Erzählen im höfischen Roman des Mittelalters“. In: Euphorion 89 (1995), S. 151-188. 28 Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt/ M. 2003 (Fischer Taschenbuch 15951). 29 Stephan Müller: „Erec und Iwein in Bild und Schrift“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [PBB] 127 (1995), S. 414-435; über die Federproben der Kölner Wigaloishandschrift speziell S. 432-435. 30 Köln, Stadtarchiv W*6. 31 Ausgabe: Wigalois, der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Grafenberg. Hrsg. v. J[ohannes] M. N. Kaptyn. Erster Band: Text, Berlin 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde, Band 9). Mündlichkeit und Literatur 245 Buch, das ein ihm unbekannter Benutzer aufgeschlagen hat, reibt sich gleichsam wie gerade aufgewacht die Augen und fragt gleichsam vorsichtig blinzelnd (V. 1-4): Wer hât mich guoter ûf getân (‚aufgeschlagen‘)? sî ez iemen der mich kan beidiu lesen und verstên, der sol genâde an mir begên (‚soll mir Gnade, Wohlwollen erweisen‘) […] Das Ich ist hier das Buch, das aufgeschlagen wird, und zugleich der Romantext, der Wohlwollen heischt, Form und Inhalt sind eins. Die Entstehung des Romans wird auf zwischen 1204 bis 1215 eingegrenzt sowie mit den Grafen von Andechs in Beziehung gebracht und damit nach (möglicherweise) Dießen am Ammersee als deren Kanzleiort lokalisiert 32 , die Kölner Handschrift dürfte noch ganz in diesen zeitlichräumlichen Kontext gehören und ist damit wohl „eine der ältesten vollständig erhaltenen höfischen Epenhandschriften“. 33 Die Schrift ist zwar sauber und routiniert, aber nicht übermäßig sorgfältig und „nicht durchgehend regelmäßig“, auch die ganze Anlage verrät, dass es sich um ein nicht für die Repräsentation, sondern den praktischen Gebrauch bestimmtes Buch handelt: Die Abschnittsanfänge sind durch schmucklose (aber immerhin rote) Initialen markiert, der Text ist einspaltig geschrieben und - das ist für unseren Zusammenhang besonders wichtig - nicht nach Versen umgebrochen, so dass mit jedem Vers eine neue Zeile begönne, sondern fortlaufend geschrieben, wobei die Versgrenzen durch einen in der Mitte stehenden und zusätzlich durch eine Art Akzent hervorgehobenen Punkt (sogenannten Reimpunkt) markiert sind. Dies ist das Hauptkennzeichen für den älteren Typus solcher Handschriften: Das Layout erlaubt ergonomisch dem Vortragenden, sich rasch im Text zu orientieren, verzichtet aber angesichts der hohen Materialkosten ökonomisch auf Luxus, wie den wenig platzsparenden Versumbruch - der Aufbau in Versen wird dem Publikum im Vortrag deutlich, muss nicht von der Handschrift als solcher visualisiert werden. Ein alternatives Layout zeigt sich aber auf dem letzen Blatt der Handschrift: 34 Der eigentliche Text endet auf der oberen Hälfte der Rückseite, die freigebliebene untere Hälfte nutzt ein Schreiber wenig später in Feder- oder Schriftproben für ein „Experimentieren mit dem Layout“ 35 in Sachen höfischer Reimpaarvers bei epischen Texten: Er schreibt dazu Prologverse aus bekannten literarischen Werken, nämlich 32 Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: „Wirnt von Grafenberg“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. […] Hrsg. v. B. Wachinger zusammen m. G. Keil, K. Ruh, W. Schröder, F. J. Worstbrock, Band 10, Berlin/ New York 1999, Sp. 1252-1267. 33 Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, S. 84f. Dazu im Tafelband (ebenfalls Wiesbaden 1987) die Abbildungen 35 (f. 3 r ) u. 36 (f. 117 r ). 34 Vgl. Kurt Gärtner: „Der Anfangsvers des Gregorius Hartmanns von Aue als Federprobe in der Trierer Handschrift von Konrads von Würzburg Silvester“. In: Nine Miedema/ Rudolf Suntrup (Hrsg.): Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Frankfurt/ M. u.a. 2003, S. 105-112; über die Federproben der Wigaloishandschrift speziell S. 105-107. 35 Gärtner, S. 107. Klaus Vogelgsang 246 dem Artusroman Iwein des Hartmann von Aue 36 und der geistlichen Erzählung Kindheit Jesu des Konrad von Fußesbrunnen. 37 Den Anfang macht sehr sorgfältig geschrieben und nach Versen abgesetzt aus dem Iwein (V. 21-25). Ein rîter, der gelêrt was Daz erz an den buochen las Swenne er sîn stund Niht baz bewenden kund Daz er tichtens phlac 38 Der rîter Hartmann hebt hier, wie für ihn typisch, auf seinen Status als litteratus ab, seine Dichtung erfolgt lektürebasiert, seine Texte verstehen sich als Teil eines buchliterarischen Lese- und Schreibvorgangs. Dieser auf den Verfasser und seine buchgelehrte Arbeitsweise bezogenen Prologpartie geht im Iwein eine Thematisierung des Stoffkontextes (künec Artûs der guote) und der konkreten Situation des geselligen Vortrags als Prologteil 1 voraus - dieser als konventionell anzusehende Textanfang rückt bei den Federproben (durch die Kindheit-Jesu-Verse zusätzlich abgerückt) an die zweite Stelle. Diese Umstellung entspricht dem Wigalois-Prolog, der nach der Rede des Buchs in einem zweiten Teil ab V. 20 unverkennbar auf die Anfangsverse des Iwein intertextuell bezogen ist. Interessanter für uns ist aber, dass die beiden Schriftproben vom Iweinprolog den Anfang beider Teile bringt: Prologteil 1 über die gemeinsame Vergegenwärtigung des Artusstoffs in der Rezeptionssituation des mündlichen Vortrags (unten) und Prologteil 2 mit der Akzentuierung der buchliterarischen Textproduktion. Die beiden Teile werden nicht nur getrennt geschrieben, sondern auch durch das Layout voneinander abgehoben. Der noch auf die mündliche Vortragssituation abgehobene Prologteil 2 wird (wie der Wigaloistext) in traditionellpragmatischer Gebrauchsform fortlaufend geschrieben, der auf bereits auf Schriftlichkeit fixierte Prologteil 1 dagegen erscheint in modern-repräsentativem Luxuslayout mit abgesetzten Versen - hier wird die metrische Gestalt des Textes visualisiert, das akustischen Textmerkmal „Versform“, das mit Buchstaben allein nicht wiedergegeben werden kann, wird graphisch umgesetzt. Dies bezeichnet den Weg zu einer Rezeptionsform, die nicht mehr im kunstvollen Vortrag als einer „kommunikative[n] Handlung“ 39 , wenn man so will im gemeinschaftlichen ‚Lesen und Lauschen‘ erfolgt und bei der das Buch wie etwa ein Heft mit der Bartschenstimme von Mozarts Zauberflöte für sich genommen nicht schön sein muss, sondern nur ein dem schönen Vortrag dienliches Gebrauchsobjekt. Dagegen wird am Ende diesen Weges, den diese obere Federprobe weist, das Buch selbst den künstlerischen Rang des Werks repräsentieren müssen, da die Rezeption in privater Lektüre den Text im Medium 36 Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. v. G. F. Benecke u. K. Lachmann. Neu bearbeitet v. L. Wolff. Band 1 Text. 7. Auflage. Berlin 1968. Vgl. Christoph Cormeau: „Hartmann von Aue“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite Auflage. [...] Hrsg. v. Kurt Ruh, Band 3. Berlin/ New York 1981, Sp. 500-520; zum Iwein speziell Sp. 515-517. 37 Konrad von Fussesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Krit. Ausgabe v. Hans Fromm u. Klaus Grubmüller. Berlin/ New York 1973. 38 Nach der neuen Transkription von Gärtner, S. 106f., stark vereinfacht und leicht normalisiert. 39 Müller (Fußnote 27), S. 435. Mündlichkeit und Literatur 247 der Schriftlichkeit belässt, der Kunstcharakter muss aus dem mündlichen Vortrag in die Schrift- und Buchform zurückverlagert werden. Im modernen Layout der oberen Federprobe ist dieser, um Müllers Ausdruck zu gebrauchen „medienanthropologisch“ neue „Status von Schrift“ bereits erreicht. 40 Wo ist die Mündlichkeit geblieben? Während für die Literaturwissenschaft seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts elaborierte Denkmodelle für die Reflexion über Schriftlichkeit-Mündlichkeit bereitstehen und diskutiert werden können, hat die Sprachwissenschaft erst später, nämlich Mitte der 80er Jahre eine breiter rezipierte Theorie gefunden, diese dafür aber gleich in einen erstaunlichen Rang von Klassizität erhoben. Es ist die Theorie der Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz“ (1985 im Romanistischen Jahrbuch, Band 36 präsentiert, für den 1994 erschienenen ersten Halbband des Handbuchs Schrift und Schriftlichkeit unter stärkerer Betonung des Konzepts der Diskurstraditionen in weiten Teilen wiederholt) 41 . Die Theorie geht von der Beobachtung aus, dass die Unterscheidung mündlichschriftlich nicht nur gebraucht wird in Bezug auf tatsächliches „geschrieben“ - „nur gesprochen“, also in Bezug auf das Medium und den Code, sondern auch, im übertragenen Sinn sozusagen, angewandt wird auf den Stil, die Konzeption einer Äußerung. In diesem Sinn kann auch „Mündliches“ medial „schriftlich“ sein. Folgendes Schema aus dem Aufsatz von 1994 zeigt dies schön: Die sprechsprachliche, konzeptionell mündliche Variante „faut pas le dire“ kann auch geschrieben = graphisch verwendet werden, umgekehrt kann das schriftsprachliche, konzeptionell schriftliche „il ne faut pas le dire“ auch müdlich = phonisch verwendet werden - es ist nur etwas ungewöhnlich und damit in gewöhnlichen Kontexten auffällig. Die Unterscheidung „konzeptionell mündlich“ - „konzeptionell schriftlich“ kennt dabei keine einfache „Entweder-Oder“-Oppostion, sondern bezeichnet die beiden Pole in einem weiten Spektrum. Koch und Oesterreicher kommen für diese Spannung zum charakterisierenden Begriffspaar „Nähe“ und „Distanz“ mit einer Vielzahl von Parametern im Bereich der Kommunikationsbedingungen und der Versprachlichungsstrategien, mit denen das sehr „nähesprachliche“ vertraute Gespräch differenziert werden kann von der extrem „distanzsprachlichen“ Verwaltungsvorschrift, während der Privatbrief und das Vorstellungsgespräch als einander konzeptionell recht nahestehend gesehen werden. 40 Müller (Fußnote 27), S. 435. 41 Peter Koch, Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43. Und: Diesselben: „Schriftlichkeit und Sprache“. In: Hartmut Günther/ Otto Ludwig (Hrsg): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. Berlin/ New York 1994, S. 587-604. Klaus Vogelgsang 248 Blickt man auf den Bereich des Literarischen 42 , wird man sagen müssen, dass die Polarität nicht nur im Sinn der Mimesis, der Nachahmung von Wirklichkeit, in allen Graden Verwendung findet, sondern auch, dass die Grenze graphisch-phonisch mimetisch überschritten wird, man denke nur an die Sermocinatio, die Figurenrede in Erzähltexten. Als typisch für Literatur, ja geradezu als Kennzeichen von Literatur, von Literarizität, werden aber doch dezidiert „distanzsprachliche“ Versprachlichungsstrategien wie hohe Grade von Integration, Komplexität und Elaboriertheit genannt, ebenso Kommunikationsbedinungen wie „Reflektiertheit“ und (wenn auch noch nicht für die ältere Literatur) „raumzeitliche Trennung“ und „Situationsentbindung“. Ganz in dieser Tendenz spricht Kaspar Spinner von Büchners Erzählung „Lenz“ als einem der ersten „rein schriftlichen“ Texte. Er zeigt dies am Anfang der Erzählung, der berühmten Raumbeschreibung: Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. 43 Spinner schreibt dazu nach einer detaillierten Textanalyse und dem Vergleich mit anderen Erzähltexten: „Bei Büchner ist keine […] Vermittlerfigur mehr greifbar, wir sind unmittelbar mit dem Text und mit der Sichtweise der Hauptfigur Lenz konfrontiert. Wir sind, so könnte man sagen, einsame Leser. Die Literatur hat sich hier völlig von der Simulation einer mündlichen Erzählsituation gelöst, sie hat zur Schriftlichkeit gefunden und damit der Geselligkeit des Erzählens den Abschied gegeben. […] Der Text ist als ein radikal schriftlicher konzipiert.“ 44 Schriftlichkeit ist hier also ganz gelöst aus dem Bereich der Mündichkeit - gilt dies auch für das Medium, die Codierung? Wohl nicht mehr ganz - ohne Probleme könnte ich gleich mehrere phonische Realisationen der Lenz-Novelle aufstöbern, eine Suchanfrage bei Amazon genügte, und ich stieß auf unterschiedliche Hörbuch- Einspielungen. Es ist nicht möglich und nicht intendiert, hier auf alle Implikationen einzugehen, nicht auf die Frage, ob hinter dem Hörbuch-Boom des letzen Jahrzehnts vielleicht doch ein verändertes Bügel- oder Joggingverhalten steht, auch nicht auf die vielleicht nicht ganz unberechtigte Sorge, das Hörbuch könne den Buchmarkt nicht nur zum Guten beeinflussen: Stichwort Preisbindung. Doch soll wenigstens eine Sicht aus der Perspektive der Beschäftigung mit vormoderner Literatur vorgeschlagen werden, 42 Vgl. Günter Butzer: „Oralität und Utopie: Überlegungen zur Funktion simulierter Mündlichkeit im modernen Erzählen“. In: Peter Weiss Jahrbuch 10. Hrsg. v. Michael Hofmann, Martin Rector u. Jochen Vogt. St. Ingbert 2001, S. 103-119. 43 Georg Büchner: Lenz. Durchges. u. bibliogr. erg. Ausgabe. Stuttgart 1984, S. 5. 44 Kaspar Spinner: „Georg Büchner: Lenz“. In: Große Werke der Literatur V. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg. Tübingen, Basel 1997, S. 136. Mündlichkeit und Literatur 249 und zwar unter Rückgriff auf eine antike Theorie. Quintilian operiert in seiner Rhetoriklehre mit einer traditionellen Dreigliederung der Künste, besser: der menschlichen Tätigkeiten (artes) danach, in welchem Verhältnis sie zu ihrem Gegenstand stehen: die poetischen (= herstellenden) Künste - die praktischen Künste - die theoretischen Künste. 45 Der Hörer, die Hörerin einer Lesung oder eines Hörbuchs ist mit einer theoretischen Kunst befasst. Auch die Philologen gehören hierher als mit der Untersuchung und Bewertung von Literatur befasst, ihre „Kunst“ besteht „cognitione et aestimatione rerum“. Der Vorleser dagegen arbeitet im Bereich der praktischen Künste, indem er ein Gedicht, eine Erzählung kunstgerecht vorträgt, oder der Schauspieler, indem er eine Figur darstellt. Der Autor schließlich übt eine poetische Kunst aus, er stellt den Text her wie ein Bildhauer eine Skulptur. Die drei Künste sind aufeinander bezogen und stehen - in unserem Beispiel der Literatur und Dichtung - in einer klaren Abfolge. Das Konzept der praktischen Künste nimmt in gewisser Weise die moderne Performativität vorweg, das der theoretischen Künste die Rezeptionsästhetik: alle drei Künste „arbeiten am Text“, es geht um mehr als „decodieren“ und „rezipieren“. Charakteristisch für den uns vertrauten Literaturbetrieb ist nun aber, dass die mittlere Instanz, die der praktischen Künste, gemeinhin ausfällt. Wie der Betrachter vor einem Gemälde steht, so sitzt der Leser über einem Buch: ut pictura poiesis, wie die Malerei ist die Dichtung - das hat einen neuen Sinn bekommen. Die praktische, umsetzende, vermittelnde Kunst des Vortrags, wenn auch nie ganz verschwunden, ist in diesem System nicht mehr recht vorgesehen. Das Hörbuch dreht hier die kulturhistorische Uhr etwas zurück: Der Vortrag ist wieder da, auch erzählende Literatur wird, wie ehedem üblich, wieder über das Ohr rezipiert. Gleichzeitig bleibt vieles erhalten, was die Schriftlichkeit ermöglicht hat: die nicht an Raum und Zeit gebundene Verfügbarkeit, die Chance der wiederholten Rezeption, ihrer Unterbrechung und Fortsetzung. Zwei kurze Fragen scheinen abschließend bedeutsam: Erstens: Wenn die Rezpetionsästhetik die Mitarbeit des Lesers am Text betont, geht sie dabei nicht vielfach nur von der uns geläufigen Lektüresituation aus? Ist es nicht so, dass die Rezeption erst da verstärkt Aufgaben der „praktischen Künste“ übernehmen muss, wo jeder Leser sein eigener Vorleser ist? Wenn der Vortrag, auch als der technisch aufgezeichnete und technisch wiedergegebene Vortrag des Hörbuchs, sich nun wieder dazwischen schiebt, was passiert dann? Wenn der Hörbuchhörer Büchners „Lenz“ durch Lesung vermittelt bekommt, verstärkt die Vermittlung dann die Konzentration auf den Büchnertext oder lenkt sie die Aufmerksamkeit doch eher auf sich selbst, den Vortrag und dessen Textverständnis? Bedeutet die Entlastung durch den Vortragenden bei der Rezeption eine Minderung der Intensität der Auseinandersetzung? Oder bringt sie nur andere Qualitäten deutlicher zur Geltung? 45 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Hrsg. u übers. v. Helmut Rahn. 1. Teil, Bd. I-IV. Darmstadt 1988, S. 263. Klaus Vogelgsang 250 Zweitens: Wenn Schriftlichkeit in Mündlichkeit übersetzt wird, kommt manches hinzu, was von den Buchstaben an sich nicht transportiert wird. Man vergleiche nur die übliche buchstabenförmige Textaufzeichnung mit der musikalischen Notation: Grundtempo, Rhythmus, Modulation der Stimme in Tonhöhe und Lautstärke, Agogik, Pausen etc. - dies alles sind wichtige Merkmale der Sprechstimme, nur werden sie von der Schrift nicht erfasst und fallen damit beim schriftlichen Text weg. Im Vortrag dagegen ist dies alles immer dabei - auch wenn der Sprecher unsichtbar bleibt. Was bedeutet das für die vorgetragene Literatur? Wie verändert dieses ‚Mehr‘ der Mündlichkeit die Texte? Gewinnen die Texte durch „Stimme“ (Derrida, Zumthor) und durch „Körper“ (Kienig), durch „Körperlichkeit“, durch „Somatizität“? 46 Oder sind Distanz und Abgelöstheit gar kein Defizit, sondern Errungenschaften von Literatur? Die partielle Wiederkehr eines zumindest akustisch wahrnehmbaren Gegenüber wie beim Vortrag eines homerischen Rhapsoden - wo ist diese eher als Zurückfallen in überwundene Bindungen zu sehen, wo dagegen vielleicht als Korrektur einer kulturhistorischen Engführung? Literaturverzeichnis Ausgaben: Bibel: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Altes und Neues Testament. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands […]. Für das Neue Testament und die Psalmen auch im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland […]. Aschaffenburg 1980. Büchner, Georg: Lenz. Durchges. u. bibliogr. erg. Augsabe. Stuttgart 1984. Caesar: C. Iulii Caesaris commentarii reum gestarum. Edidit O. Seel. Vol. I: Bellum Gallicum. Leipzig 1977 (Bibliotheca Teubneriana). Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums. Contra Apionem. Hrsg. […] v. Folker Siegert. Göttingen 2008. Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. v. G. F. Benecke u. K. Lachmann. Neu bearbeitet v. L. Wolff. Band 1 Text. 7. Auflage. Berlin 1968. Homer: Odyssee. Griech. u. dt. Übertragung v. Anton Weiher. Mit Urtext, Anhang und Registern; Einführung v. A. Heubeck. 8. Auflage. München/ Zürich 1986 (Sammlung Tusculum). Homer: Homeri Opera. Recognovit […] Thomas W. Allen. Tomus V: Hymnos […]. Oxford 1974. Konrad von Fussesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Krit. Ausgabe v. Hans Fromm u. Klaus Grubmüller. Berlin/ New York 1973. Liber pontificale Romanum. De ordinatione diaconi, presbyteri et episcopi. Rom 1968. Platon: Sämtliche Werke 4. Phaidros. Parmenides. Theaitetos. Sophistes. […] Hrsg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plambörk. Hamburg 1958. Quintilian: Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Hrsg. u übers. v. Helmut Rahn. 1. Teil, Bd. I-IV. Darmstadt 1988. 46 Weitere Aspekte (und Literatur) bei Christa Dürscheid: Einführung in die Schriftlinguistik. Wiesbaden 2002 (Studienbücher zur Liguistik, Bd. 8.), S. 34. Mündlichkeit und Literatur 251 Schiller, Friedrich: Der Spaziergang. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. v. Julius Petersen u. Gerhard Fricke. 1. Bd: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799. Weimar 1943, S. 260-266. Wirnt von Grafenberg: Wigalois, der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Grafenberg. Hrsg. v. J[ohannes] M. N. Kaptyn. Erster Band: Text. Berlin 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde, Band 9). Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation. Mit einer Einl. v. Bernd Schirok. Übers. v. Peter Knecht, 2. Aufl., Berlin/ NewYork 2003, V. 115,27. Forschungsliteratur: Assmann, Jan u. Aleida: „Schrift, Tradition und Kultur“. In: Wolfgang Raible (Hrsg): Zwischen Festtag und Alltag […]. Tübingen 1988 (ScriptOralia 6), S. 25-49. Butzer, Günter: „Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches Erzählen im höfischen Roman des Mittelalters“. In: Euphorion 89 (1995), S. 151-188. Ders.: „Oralität und Utopie: Überlegungen zur Funktion simulierter Mündlichkeit im modernen Erzählen“. In: Peter Weiss Jahrbuch 10. Hrsg. v. Michael Hofmann, Martin Rector u. Jochen Vogt. St. Ingbert 2001, S. 103-119. Christoph Cormeau: „Hartmann von Aue“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite Auflage. [...] Hrsg. v. Kurt Ruh, Band 3. Berlin/ New York 1981, Sp. 500- 520. Dürscheid, Christa: Einführung in die Schriftlinguistik. Wiesbaden 2002 (Studienbücher zur Liguistik, Bd. 8). Gärtner, Kurt: „Der Anfangsvers des Gregorius Hartmanns von Aue als Federprobe in der Trierer Handschrift von Konrads von Würzburg Silvester“. In: Nine Miedema/ Rudolf Suntrup (Hrsg.): Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Frankfurt/ M. u.a. 2003, S. 105-112. Goody, Jack/ Ian Watt u.a.: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. 3. Auflage. Frankfurt/ M. 1991. Havelock, Eric Alfred: The literate revolution in Greece and it’s cultural consequences. Princeton 1982. Haymes, Edward R.: Mündliches Epos in mittelhochdeutscher Zeit. Göppingen 1975. Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt/ M. 2003 (Fischer Taschenbuch 15951). Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. durch Elmar Seebold. 24., durchges. u. erw. Auflage. Berlin/ New York 2002. Koch, Peter, u. Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43. Diesselben: „Schriftlichkeit und Sprache“. In: Hartmut Günther/ Otto Ludwig (Hrsg): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. Berlin/ New York 1994, S. 587-604. Lachmann, Karl: „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Not“. In: Karl Müllenhoff (Hrsg): Kleinere Schriften zur deutschen Philologie. Berlin 1969, S. 1-80. Lord, Albert Bates: Der Sänger erzählt. Literatur als Kunst. München 1965. McLuhan, Herbert Marshall: The Gutenberg Galaxy: The making of typographic man. London 1967. Klaus Vogelgsang 252 Müller, Stephan: „Erec und Iwein in Bild und Schrift“. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [PBB] 127 (1995), S. 414-435. Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. Parry, Milman: The Making of Homeric Verse. Oxford 1971. Schneider, Karin: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband. Wiesbaden 1987. Seeck, Gustav Adolf: Homer. Eine Einführung. Stuttgart 2004 (RUB 17651). Spinner, Kaspar: „Georg Büchner: Lenz“. In: Hans Vilmar Geppert (Hrsg.): Große Werke der Literatur V. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg. Tübingen, Basel 1997, S. 127-137. Strauß, Gerhard/ Ulrike Haß/ Gisela Harras (Hrsg.): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin 1989. Ziegeler, Hans-Joachim: „Wirnt von Grafenberg“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. […] Hrsg. v. B. Wachinger zusammen mit G. Keil, K. Ruh, W. Schröder, F. J. Worstbrock, Band 10. Berlin/ New York 1999, Sp. 1252-1267. Zumthor, Paul u.a.: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) Freimut Löser Der Titel vom postmodernen Mittelalter, mit Fragezeichen versehen, mag - und dies könnte durchaus postmodern gemeint sein - enigmatisch erscheinen. Definitionen sind nötig. Beim ‚Mittelalter‘ mögen die Epochengrenzen und Untergrenzen im Einzelnen umstritten sein. Dennoch kann ansatzweise gelten: Mittelalter sei die Zeit vom 4. (Christentum unter Konstantin) oder 5. Jahrhundert (Ende Westroms) bis 1453 (Ende Ostroms), 1492 (Entdeckung Amerikas) oder 1517 (angeblicher Thesenanschlag Luthers). Ich werde mich der Einfachheit halber im Wesentlichen auf das Hochmittelalter und die Vertreter der Literatur um 1200 konzentrieren. Was aber ist ‚die Postmoderne‘? Eine Epoche? I. Postmoderne Laut Wikipedia vom 22.01.2010 1 ließe sich sagen: „Die Diskussion um die Epochendiagnose der Postmoderne, die in den 1980er Jahren sehr intensiv [...] geführt wurde, ist seit 1989 erlahmt. Der Begriff beginnt außerdem den festen Charakter einer Epochenbezeichnung zu verlieren, was u. a. daran liegt, dass einige seiner Vertreter auch Verbindungen zur Moderne pflegen. Von anderen, wie beispielsweise Umberto Eco, wird dagegen versucht, den Begriff von jeglicher Beziehung zur Moderne zu befreien und ihn als allgemeines künstlerisches Streben zu propagieren, welches in jeder historischen Epoche auftreten kann.“ Als glaubwürdigen Zeugen für die letztgenannte Tendenz kann man in der Tat Umberto Eco, der ja auch eine bekannt gute Beziehung zum Mittelalter pflegt, aufführen und mit ihm präzisieren: „Ich glaube indessen, daß ‚postmodern‘ keine zeitlich begrenzbare Strömung ist, sondern eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, eine Vorgehensweise, ein Kunstwollen. Man könnte geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eigenen Manierismus (und vielleicht, ich frage mich, ist postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie).“ 2 Eben diese These gilt es für die deutsche Literatur des Mittelalters und ihre Erzähltheorie zu überprüfen. Vorher aber muss der Begriff ‚postmodern‘, nun nicht nur 1 Datum des Vortrags; benutzt wurde: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Postmoderne. 2 Eco, Umberto: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München/ Wien 2 1984, S. 77 (Original: Mailand 1983). Freimut Löser 254 epochenspezifisch, definiert werden. Man kann auf der Suche nach der Postmoderne einen Band dieser Reihe (II) zugrundelegen und Hubert Zapf („Postmoderne Literaturtheorie“) zitieren, der die Postmoderne als allgemeinen kulturgeschichtlichen Epochenbegriff erfasst und die bekannte ursprüngliche Herkunft des Begriffs aus der Architektur hervorhebt; er bezeichnete „eine mit Elementen vergangener Architekturepochen arbeitende, spielerische Stilmischung, die sich vom Fortschrittpathos und den als uniform empfundenen funktionalen Einheitskonzepten der Moderne, etwa des Bauhauses, absetzte und stattdessen Fragment, Zitat, Heterogenität und Nichtlinearität als ästhetische Prinzipien etablierte.“ Der Begriff wurde dann aber bald ausgeweitet und auf Tanz, Theater, Musik, Photographie, Literatur, Philosophie und Kulturwissenschaften übertragen. Als allgemeine Kennzeichen galten/ gelten mit Zapf „die rekursiven, nichtlinearen Strukturen komplexen Denkens“. Man sah „im Übergang von Moderne und Postmoderne eine epochale Wende in der Geschichte der westlichen Zivilisation“ und focht „deren konträre Positionen teilweise in wahren Glaubenskriegen aus“. In der Begriffsbildung post-modern, so Zapf, sei bereits „eine doppelte Implikation enthalten - sowohl der Anspruch der Überwindung der vorausgehenden Moderne als auch das Eingeständnis, von ihr unentrinnbar abhängig und auf ihre Denk- und Stilvorgaben angewiesen zu bleiben. Diese eigentümliche Doppelstruktur durchzieht [...] die Debatten um das Selbstverständnis der Postmoderne, die einerseits mit dem Gestus epochaler Innovation auftritt, andererseits aber gerade die Unmöglichkeit originärer Innovation, die unvermeidliche Abhängigkeit alles Neuen vom bereits Dagewesenen postuliert.“ 3 Mitprägend für den Begriff „postmodern“ war, so wieder der Sache nach der genannte Wikipedia-Artikel, Jean-Francois Lyotards Das postmoderne Wissen (La condition postmoderne, rapport sur le savoir, Paris, Ed. de Minuit, 1979), wo die philosophischen Systeme der Moderne für gescheitert erklärt worden waren. Bekannt und viel zitiert wurde Lyotards These vom Ende der großen Erzählungen (grands récits): Lyotard spricht nicht von philosophischen Systemen, sondern von ‚Erzählungen‘. Diese einzelnen modernen ‚Erzählungen‘ hätten der Welterklärung jeweils ein zentrales Prinzip zu Grunde gelegt (z.B. Gott oder das Subjekt), um auf dieser Grundlage zu allgemein gültigen Aussagen gelangen zu können. Damit hätten sie jedoch das Heterogene ausgeschieden oder das Einzelne unter eine allgemeine Betrachtungsweise gezwungen, welche gewaltsam dessen Besonderheiten einebnete. Lyotard setzt an die Stelle dieser Allgemeingültigkeit und Absolutheit beanspruchenden Erklärungsprinzipien (Gott, Subjekt, Vernunft, Systemtheorie, marxistische Gesellschaftstheorie etc.) eine Vielzahl von Sprachspielen, welche verschiedene ‚Erzählungen‘, also unterschiedliche Erklärungsmodelle anbieten. Nach Lyotard gibt es [oder besser gab] es, dem zitierten Artikel zufolge, drei große Meta-Erzählungen: Aufklärung, Idealismus und Historismus. Diese bilden in der Postmoderne keine vereinheitlichende Legitimation und Zielorientierung mehr. Man könnte ergänzen: Im Mittelalter, das als 3 Zapf, Hubert: „Postmoderne Literaturtheorie. Grundlagen und Perspektiven“, in: Theorien der Literatur, Bd. 2, Hans-Vilmar Geppert/ Hubert Zapf [Hg.], Tübingen 2005, S. 205-224, S. 206f. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 255 Prämoderne manches mit der Postmoderne gemein haben könnte, gibt es sie, mindestens die genannten, demnach noch nicht. „Die Emanzipation des Individuums“, so der Wikipedia-Artikel, „das Selbstbewusstsein des Geistes, das im Sinne Hegels in eine Ganzheitsideologie mündet, die Idee eines sinnhaften Fortschritts der Geschichte hin zu einer Utopie sind die großen Erzählungen, denen man [heute (oder besser: zur Zeit Lyotards)] nicht mehr glauben kann.“ Dazu kommt aber noch: „Es gibt keine übergeordnete Sprache, keine allgemeinverbindliche Wahrheit, die widerspruchsfrei das Ganze legitimiert.“ Es lassen sich vielmehr einzelne Elemente feststellen, die immer wieder als Charakteristika der ‚Postmoderne‘ aufgeführt werden. Im genannten ‚Wikipedia‘-Artikel sind dies die folgenden: „In der Postmoderne steht nicht die Innovation im Mittelpunkt des (künstlerischen) Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener Ideen. Die Welt wird nicht auf ein Fortschrittsziel hin betrachtet, sondern vielmehr als pluralistisch, zufällig, chaotisch. Ebenso gilt die menschliche Identität als instabil und durch viele, teils disparate, kulturelle Faktoren geprägt [...]. Die postmoderne Kunst zeichnet sich u.a. aus durch den erweiterten Kunstbegriff und zitathafte Verweise auf vergangene Stile, die teils ironisch in Szene gesetzt werden.“ Elemente solchen postmodernen Denkens und Urteilens sind, laut Wikipedia vom 22.01.2010: Absage an das seit der Aufklärung betonte Primat der Vernunft (ratio), und dezidiert an die Zweckrationalität (die bereits in der Moderne erschüttert wurden) Verlust des autonomen Subjekts als rational agierende Einheit Ablehnung oder kritische Betrachtung eines universalen Wahrheitsanspruchs im Bereich philosophischer und religiöser Auffassungen und Systeme; gemeint sind damit die sogenannten Metaerzählungen oder Mythen wie Moral (wodurch Postmoderne zum ‚Amoralismus‘ werden kann), Geschichte, Gott, Ideologie, Utopie oder Religion, aber auch, insofern sie einen Wahrheits- oder Universalitätsanspruch trägt, Wissenschaft Verlust traditioneller Bindungen Sektoralisierung des gesellschaftlichen Lebens in eine Vielzahl von Gruppen und Individuen mit einander widersprechenden Denk- und Verhaltensweisen Toleranz, Freiheit und radikale Pluralität in Gesellschaft, Kunst und Kultur Dekonstruktion, Sampling, Mixing von Codes als (neue) Kulturtechniken Zunehmende Zeichenhaftigkeit der Welt Diese Reduzierung der Welt auf ihren Zeichencharakter hat mindestens drei Implikationen, die sich wieder mit Zapf beschreiben lassen: Eine der zentralen Signaturen der Postmoderne sei - erstens - der „sogenannte lingustic turn, d.h. die These der sprachlich-zeichenhaften Vermitteltheit allen vermeintlichen Wirklichkeitsbezugs des Denkens“, das damit „seiner ontologischen Basis beraubt und zu einer selbstreferentiellen Aktivität der Zeichenproduktion und Zeichenauslegung umgedeutet“ werde. An die Stelle außersprachlicher Realität tritt Freimut Löser 256 das nur noch sprachlich vermittelte Konstrukt des Realen. Aus der „Konstruiertheit alles vermeintlich Wirklichen“ folgt - zweitens - „die Aufhebung jedes Unterschieds zwischen Realität und Fiktion: ‚Everything is fiction‘, war einer der Slogans, mit denen postmodernes Denken jeden Wahrheits- und Objektivitätsanspruch auf provozierende Weise zurückwies. Zeichen und Texte bilden keine außertextliche Welt ab, sondern produzieren sie erst.“ 4 Oder wie man seinerzeit, damals in der Postmoderne, verkündete: ‚Fact is Fiction‘. Man könnte genauso sagen: ‚Fiction is Fact‘. Denn - und dies wäre der dritte Punkt, in dem ich Zapf folgen möchte: „Die Blickrichtung verschiebt sich von der Welt zum Text, von der Identität zur Differenz, vom Signifikat zum Signifikanten. Damit löst sich die Vorstellung eines gesicherten Wissens ebenso auf wie die eines verlässlichen Wertekodex oder eines einheitlichen Subjekts. Denn die Sprache und die Zeichenprozesse, in denen sich diese konstituieren, sind weder durch außersprachliche Referenz noch durch binnensprachliche Kohärenz stabilisierbar. Sie sprengen vielmehr jeden Systemcharakter in einem Prozess unendlicher Differenzen, der sich einer logozentrischen Eingrenzung entzieht, weil die Kriterien verlorengegangen sind, nach denen sie sich gültig strukturieren und hierarchisieren ließen. Es gibt daher keinen festen Grund und kein festes Zentrum des Wissens, der Werte und des Selbst mehr, und dieser Verlust eines gesicherten Grundes und Zentrums, mit all den Implikationen der Sinnkrise, des Wertverlustes und der existentiellen Verunsicherung, aber auch des Feierns von Pluralität, Produktivität und Spiel, ist ein wesentliches Merkmal postmodernen Denkens. ‚Spiel‘, so sagt, Jacques Derrida, ist die ‚Abwesenheit eines Zentrums‘; doch in der Postmoderne gehe es darum, nicht wie die Moderne in der Melancholie von Verlust und Entfremdung zu verharren, sondern das Spiel der Offenheit und Differenz zu affirmieren, das Denken gleichsam als Tanz der Zeichen über dem Abgrund zu inszenieren. In diesem Tanz der Signifikanten, in dem sich keine Außenreferenzen, sondern immer nur die Selbstreferenz der Zeichen ausdrückt, lösen sich alle vertrauten Begriffsoppositionen auf - nicht nur die zwischen Realität und Fiktion, oder zwischen Welt und Text, sondern auch zwischen wahr und falsch oder gut und böse, auf denen scheinbar unverzichtbar die Geschichte westlichen Denkens und der Zivilisationsprozess aufbaute.“ 5 Die Konsequenzen all dessen für die Literaturtheorie und die Literatur sind vielfältig. Allein Band II der hiesigen Theorie-Reihe benennt sieben (und verbindet sie mit bekannten Namen): 1. Die von Michael Foucault inspirierte Diskursanalyse, von Christoph Henke präsentiert, die literarische Texte als „Manifestation diskursiver Machtprozesse [...] betrachtet, die mit Formen des Wissens, der Geschlechter- und Klassenbeziehungen, der Ausschließungsmechanismen von Gesellschaften zusammenhängen. Für die Literaturtheorie bedeutet dies auch, dass der literarische Text den ästhetischen Sonderstatus verliert“ 6 und in den Diskursen der Gesamtkultur verortet wird, deren Niederschlag und Kreuzungspunkt er ist. Von höchster Relevanz ist hier Roland 4 Zapf, S. 207. 5 Ebd., S. 207f. 6 Henke, Christoph: „Diskursanalyse und Literatur: Michel Foucaults Anti-Hermeneutik“, in: Theorien der Literatur, Bd. 2, Hans-Vilmar Geppert/ Hubert Zapf [Hg.], Tübingen 2005, S. 243- 260. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 257 Barthes’ These vom „Tod des Autors“, d.h. die „Verschiebung der Textbetrachtung vom individuellen Autor zur kollektiven Instanz der écriture, die aus einem Gewebe von Zitaten in unzähligen Stätten der Literatur besteht.“ 7 Die genannte postmoderne ‚Autorität‘ Roland Barthes äußerst sich selbst so dazu: „Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die Botschaft des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur [...]. Als Nachfolger des Autors birgt der Schreiber keine Passionen, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern dieses riesige Wörterbuch, dem er eine Schrift entnimmt, die keinen Aufenthalt kennt. Das Leben ahmt immer nur das Buch nach, und das Buch ist selbst nur ein Gewebe von Zeichen, eine verlorene, unendlich entfernte Nachahmung. Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text entziffern [dechiffrer] zu wollen. Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen.“ Damit befreit der „Tod des Autors“ den Text für den Leser. Barthes sieht dies so: „Die traditionelle Kritik hat sich niemals um den Leser gekümmert; sie kennt in der Literatur keinen anderen Menschen als denjenigen, der schreibt. Inzwischen lassen wir uns nicht mehr von solchen Antiphrasen täuschen, mit denen die gute Gesellschaft anmaßend Anschuldigungen erhebt zugunsten dessen, was sie selbst gerade ausgrenzt, übersieht, erstickt oder zerstört. Wir wissen, dass der Mythos umgekehrt werden muss, um der Schrift eine Zukunft zu geben. Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ 8 2. Jean-Francois Lyotards schon erwähnter Beitrag zur Literaturtheorie besteht vor allem in seiner vielzitierten These vom Ende der ‚großen sinngebenden Erzählungen‘, der grand récits der Moderne, d.h. der narrativen Ordnung der Vielgestaltigkeit der Welt in einheitlichen Systemen und teleologischen Geschichtsbildern. Dieses Ende der ‚großen Erzählungen‘ ist in der Literatur überall dort spürbar, wo „die Auflösung von Kohärenz, Kausalität, einheitlichem Plot und totalisierenden Weltentwürfen zugunsten fragmentarischer, mehrperspektivischer und nichtlinearer Schreibweisen charakteristisch ist.“ 9 3. Jacques Lacan (hier von Erik Redling dargestellt) hat deutlich werden lassen, dass „das Unbewusste nicht nur maßgeblich an der Zirkulation kultureller Signifikanten beteiligt, sondern seinerseits wie eine Sprache strukturiert ist.“ 10 4. „Eine besonders nachhaltige Wirkung in der Literaturperiode“, so Hubert Zapf 11 , „entfaltete indessen Jacques Derrida, der ab den 70er Jahren vor allem in den USA 7 Zitiert nach: Barthes, Roland: Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 190f. 8 Barthes, S. 190f. 9 Zapf, S. 210. 10 Redling, Erik: „Jacques Lacan: Psychoanalyse und Aspekte der Schrift“, in: Theorien der Literatur, Bd. 2, Hans-Vilmar Geppert/ Hubert Zapf [Hg.], Tübingen 2005, S. 261-276. 11 Zapf, S. 211. Freimut Löser 258 prägend wurde für den sogenannte Dekonstruktivismus, der seine Hauptvertreter in der Gruppe der Yale Critics fand, Harold Bloom, Geoffrey Hartman, J. Hillis Miller und Paul de Man. Die teilen Derridas Auffassung, dass der Einzeltext nicht in seinen Bedeutungen eingrenzbar und kontrollierbar ist, weil er Teil des größeren Prozesses der Schrift und der Intertextualität ist, der die Kultur als ganze prägt, und dass er außerdem stets in sich heterogen und widersprüchlich ist, weil die Grundbedingung der Differenz und Temporalität alle in sich geschlossenen Sinn- und Bedeutungskonstruktionen immer wieder zunichte macht.“ Daraus ergibt sich freilich ein Spezifikum der Literatur, nämlich „ihre Eigenart als einer solchen Form der Textualität, die sich ihres Text- und Zeichencharakters in besonderem Maße bewusst ist und sich damit von anderen, dogmatischeren Formen der Textualität abhebt. Gerade die Literatur zeigt jenes Bewusstsein der irreduziblen Pluralität, Fiktionalität und Selbstreferenz der Zeichen, das der Dekonstruktivismus als allgemeine Merkmale von Textualität propagiert. So kann Paul de Man behaupten: ‘The deconstruction is not something we have added to the text but it constituted the text in the first place. A literary text simultaneously asserts and denies the authority of its own rhetorical mode. […] Poetic writing is the most advanced and refined mode of deconstruction.‘“ 12 5. Daraus ergibt sich eine These etwa Harold Blooms, die allgemeine Intertextualität sei ein „Grundprinzip poetischer Kreativität.“ Hier wird der „Text als Resultat eines psychodramatischen Aneignungshandelns gegenüber den großen Autoren und Werken der Tradition im Kampf um literarische Unsterblichkeit betrachtet.“ 13 6. Geoffrey Hartman zufolge wird die Literatur - und übrigens auch die Literaturwissenschaft - zum „Experimentierraum mit […] unendlichen Möglichkeiten des Denkens und der Sprache.“ 14 7. Bei J. Hillis Miller wird der Charakter der „Selbstreferenz der Sprache in der Literatur zu einem Höchstmaß gesteigert, so dass der Text als in sich selbst zurücklaufende Reflexionsstruktur erscheint, für die die Metaphern des Labyrinths, des Spiegelkabinetts, des mise en abyme (d.h. eines Textes oder Bildes, die sich selbst in verkleinerter Form enthalten ad infinitum) paradigmatisch erscheinen.“ 15 Vor diesem allgemeinen Hintergrund ließe sich nun versuchen, postmoderne Erzählmuster zu definieren. Im zitierten ‚Wikipedia‘-Artikel versucht man dies - wie häufig - in Abgrenzung vom ‚modernen Roman‘. Die erste Definition im Artikel ‚Postmoderner Roman‘ vom 22.01.2010 scheint mir einigermaßen hilflos: 16 „Als vorläufige Definition mag gelten, dass der postmoderne Roman zeitgenössisch ist und sich inhaltlich oder formal bewusst vom modernen Roman absetzt. Dieser wird von Gero von Wilpert im ‚Sachwörterbuch der Literatur‘ folgendermaßen definiert: Er sei eine 12 De Man, Paul: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven 1979, S. 17; zit. bei Zapf, S. 211. 13 Ebd., S. 212. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Postmoderner_Roman. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 259 ‚dichterische Erzählung‘, die den Blick richte‚ auf die einmalig geprägte Einzelpersönlichkeit oder eine Gruppe von Individuen mit ihren Sonderschicksalen in einer … Welt, in der nach Verlust der alten Ordnungen und Geborgenheiten die Problematik, Zwiespältigkeit, Gefahr und die ständigen Entscheidungsfragen des Daseins an sie herantreten und die ewige Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit.‘“ Konstitutiv für den modernen Roman seien demnach: [1.] Narrativität, [2.] Subjektivität und [3.] eine jeweils für verbindlich gehaltene Vorstellung von Welt (‚Wirklichkeit‘), mit der sich das individuelle Subjekt auseinanderzusetzen hat, um so den Sinn seines Schicksals zu erkennen (oder ihn ihm abzugewinnen). Daraus folgt, dass im postmodernen Roman eben diese drei Bestimmungsfaktoren des modernen Romans geleugnet oder vernachlässigt werden (wobei es zur Zugehörigkeit reichen mag, wenn nur ein Merkmal zutrifft): 1. Der postmoderne Roman verweigert sich einer linearen Erzählweise; erzählt wird stattdessen häufig fragmentarisch oder unchronologisch, so dass der Leser sich selbst das Geschehen konstruieren muss. 2. Der postmodere Roman dekonstruiert die Möglichkeit seiner Protagonisten, zu selbstbestimmten Subjekten zu werden. Die Möglichkeit einer Entwicklung wird geleugnet, die Protagonisten bleiben also gleich oder degenerieren; sie erfahren ihr Leben auch nicht als Ergebnis eigener, frei gewählter Entscheidungen, sondern werden als fremdgesteuert und konditioniert geschildert. 3. Die Welt erscheint als Konstrukt sprachlicher Zeichen. Als weitere Kennzeichen des postmodernen Romans gelten den Wikipedia- Verfassern die folgenden: Intertextualität „Postmoderne Autoren beziehen sich in ihren Romanen oft auf ältere, bekannte Texte, die sie zitieren, collagieren und persiflieren. Durch diese Intertextualität, die auch der Erkenntnis geschuldet ist, dass sich, wie die Moderne glaubte, substanziell Neues ohnehin nicht mehr generieren ließe, wird spielerisch ein ‚Sinn‘ konstruiert, von dem nicht sicher ist, ob er außerhalb des Referenzrahmens des Romans existiert.“ Metafiktionalität „Der postmoderne Zweifel an einer univokalen, durch Autoritäten vordefinierten Weltsicht äußert sich neben der Aufgabe der ‚Großen Erzählungen‘ auch in einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber der übergeordneten Stellung des Autors als eine das Romangefüge definierende Größe. Konkret schlägt sich dieser Zweifel im Gebrauch metafiktionaler Techniken nieder, d.h. der Thematisierung des Schreibprozesses im oder aus dem geschriebenen Werk heraus. Die Fiktionalität einer Romanwelt rückt so systematisch in den Vordergrund zahlreicher Geschichten. Dies mag explizit geschehen - Autoren treten als Romanfiguren auf, Figuren thematisieren ihre Fiktionalität im Dialog miteinander oder mit dem Erzähler - oder implizit - eine lineare narrative Abfolge der Handlungselemente wird verweigert und durch parallele, sich überschneidende Handlungsstränge ersetzt.“ Hubert Zapf sieht die Richtung des postmodernism in der amerikanischen Literatur geprägt durch „eine doppelte, ja in sich widersprüchliche Bewegung“: Freimut Löser 260 „Sie tritt einerseits auf mit dem Gestus radikaler Innovation, indem sie aus der Zertrümmerung bisheriger Formen des Schreibens ganz neue Dimensionen der Imagination zu erschließen verheißt. […] Aus der Diagnose einer Erschöpfung literarischer Themen und Formen in einer ‚literature of exhaustion‘ ergab sich paradoxerweise gleichzeitig ein eminent produktiver Erneuerungsschub einer ‚literature of replenishment‘, wie sie John Barth in zwei aufeinander bezogenen Essays bezeichnete. 17 Das Recycling vorgefundener Gattungen, Stile, Texte, Formen und Bilder wird zum Kennzeichen dieser Art von Literatur, die gerade die Erkenntnis ihrer Konventionsabhängigkeit zum Ausgangspunkt ihrer Kreativität macht. Ihre Merkmale sind daher, ganz im Sinne der postmodernen Episteme, Pastiche, Parodie, Zitat, Intertextualität, Betonung des Signifikanten gegenüber dem Signifikat, Pluralsierung der Zeichen und Bedeutungen, Stilmischung, Collagen, Selbstreferenz, Metafiktion. Bevorzugte Metaphern für den Text sind die imaginäre Bibliothek, das Labyrinth, das Spiegelkabinett, das mise en abyme, das Gewebe oder Geflecht. Der Text repräsentiert nicht mehr etwas Außertextliches, sondern besteht im Akt seiner eigenen Hervorbringung, er wandelt sich von der Repräsentation eines Anderen zur Performanz seiner selbst.“ 18 Damit verwischen sich, meine ich, aber auch die Grenzen zwischen ‚literature‘ und ‚literary critic‘, zwischen Literatur und Theorie. Die Literatur wird zur Theorie, die Theorie zur Literatur. Ort der Theorie ist die Literatur selbst. Ein letztes Mal mit Hubert Zapf: „Die postmoderne Literatur beschränkt sich nicht auf die bloße Illustration vorgegebener Theorien, sondern exemplifiziert sich erst in ihrem eigenen Vollzug. Sie entwickelt konsequenterweise keine systematische, sondern eine performative Form der Literaturtheorie die sich erst in der Vielgestaltigkeit und Prozesshaftigkeit ihrer literarischen Realisierung immer neu beglaubigt. Wenn mit dem Poststrukturalismus die Theorie zum Paradigma des Textes wurde, so wird hier umgekehrt der Text zum Paradigma der Theorie, der jedoch zugleich den Systemcharakter herkömmlicher Theoriebildung dementiert.“ 19 II. Postmodernes Mittelalter? In Teil II wäre nun zu fragen: Was ist das Postmoderne am Mittelalter, was sind Arten bzw. (Un-)arten des Erzählens und was ist/ sind deren Theorie(n) im Mittelalter? Ich beginne mit der dritten Frage und hoffe, daß sich die erste am Ende beantworten lässt: Mittelalterliche Literaturtheoretiker gibt es nicht. Manche sind darüber nicht unglücklich und doch betreiben mittelalterliche Autoren - an verstreuten Orten - vornehmlich in Prologen und Epilogen, aber eben auch performativ im Erzählvorgang - die Reflexion des Erzählens, ihres eigenen Erzählens, des Erzählens Anderer und der Bedingungen des Erzählens schlechthin. Walter Haug hat darüber ein bemer- 17 Barth, John: „The Literature of Exhaustion“, in: The Atlantic 220 (1967), S. 29-34; „The Literature of Replenishment“, in: Essentials of the Theory of Fiction, Michael J. Hoffmann/ Patrick D. Murphy (Hg.), Durham 1988, S. 165-76. 18 Zapf, S. 214. 19 Ebd., S. 221. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 261 kenswertes Buch geschrieben, das die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat, das aber eher wie eine Sammlung von Aufsätzen zu Einzelautoren und Texte wirkt und dem ein übergreifendes Ordnungsmuster zu fehlen scheint. 20 Dies liegt aber nicht an Haugs großartiger Leistung, sondern offenbar daran, dass sich mittelalterliche Literaturtheorie nicht in ein System fügen will. Zunächst: Gibt es einen Ort mittelalterlicher Erzähltheorie, dann ist dies - auch das fällt bei den Belegen Haugs sofort auf - zu allererst der Prolog der großen Erzählungen. Ich nenne die zwei berühmtesten: Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ und Hartmanns von Aue ‚Iwein‘. Dazu kommt hier nicht der Prolog, sondern der sogenannte Literatur-Exkurs von Gottfrieds ‚Tristan‘, in dem Gottfried von Straßburg sich anlässlich der Schwertleite seines Helden Tristan seinen Kollegen zuwendet. Der zuletzt genannte Text beantwortet auch die zweite Frage nach den ‚(Un-) Arten des Erzählens‘. Aus Gottfrieds Sicht. Dabei fängt es noch ganz ‚artig‘ an: Hartman der Ouwaere, / âhî, wie der diu maere / beide ûzen unde innen / mit worten und mit sinnen / durchverwet und durchzieret! / wie er mit rede figieret / der âventiure meine! / wie lûter und wie reine / sîniu cristallînen wortelîn / beidiu sint und iemer müezen sîn! / si koment den man mit siten an, / si tuont sich nâhen zuo dem man / und liebent rehtem muote. / swer guote rede ze guote / und ouch ze rehte kan verstân, / der muoz dem Ouwaere lân / sîn schapel und sîn lôrzwî. 21 Man sieht: Literatur ist Konkurrenz. Sie ist im Sinne Foucaults/ Lacans ein Spiel um Macht und Ansehen. Gewinner ist - in Gottfrieds Augen - der, in dessen Erzählung Form und Inhalt, Wort und Gedanken, Idee und Handlung übereinstimmen. Der folgt dem alten Prinzip der claritas und pespicuitas. Der drückt sich klar und verständlich aus. Der gefällt dem Leser mit rehtem muote und der versteht die guote rede auch ze guote. Es gibt eine richtige Leseart: ze rehte. Spräche man mit Jean-Francois Lyotard, man würde wohl kaum zögern hier von den grands récits zu reden. In Gottfrieds Augen folgt Erzählung selbst auch einer ‚großen Erzählung‘, der nämlich von der Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt, von Klarheit und Durchsichtigkeit und Verständlichkeit und dem rechten Verständnis durch die Leser, auf das der Autor intentional abzielt, und dem Lohn für die Besten. Das ist die ‚Art‘. Gottfried hat sie beschrieben, um davon die ‚Unart‘ abzuheben: swer nû des hasen geselle sî / und ûf der wortheide / hôchsprünge und wîtweide / mit bickelworten welle sîn / und ûf daz lôrschapelekîn / wân âne volge welle hân, / der lâze uns bî dem wâne stân. / wir wellen an der kür ouch wesen. / wir, die die bluomen helfen lesen, / mit den daz selbe loberîs / undervlohten ist in 20 Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992. 21 Gottfried von Straßburg: Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde., Stuttgart 1993, V. 4620-4637. Übersetzung: „Hartmann von Aue, ja, wie der seine Geschichten sowohl formal wie inhaltlich mit Worten und Gedanken völlig ausschmückt und verziert! Wie er mit seiner Sprache den Sinn der Erzählung ausformt! Wie klar und wie durchsichtig rein seine kristallenen Worte sind und immer sein werden! Mit edlem Anstand nahen sie dem Leser und gefallen allen, die rechten Geistes sind. Wer gute Sprache gut und auch richtig zu verstehen vermag, der muß Hartmann seinen Siegerkranz und Lorbeer lassen.“ Freimut Löser 262 bluomen wîs. / wir wellen wizzen, wes er ger. / wan swer es ger, der springe her / und stecke sîne bluomen dar. 22 Das Kollektiv der Dichter entscheidet über die Krönung des Poeta laureatus. Dichtung selbst bemisst sich nicht nach Novität, Innovation oder Geniestreich. Dichtung ist Blütenlese. Und die Krönung der Dichtung ist sicher nicht bei jenen zu suchen, die wie die Hasen agieren, sprunghaft, deren Wortwahl zufällig, flüchtig, momenthaft, chaotisch ist; der Lorbeer gebührt nicht dem flüchtigen Verfasser sprunghafter Erzählung. Kurz: Einem postmodernen Romancier wie dem immer flüchtigen Thomas Pynchon würde Gottfried seinen Lorbeerkranz sicher nicht verleihen. Dazu kommt: sô nemen wir an den bluomen war, / ob sî sô wol dar an gezemen, / daz wir‘z dem Ouwaere nehmen / und geben ime daz lôrzwî. / sît aber noch nieman komen sî, / der ez billîcher süle hân, / sô helfe iu got, sô lâzen’z stân. / wir ensuln ez nieman lâzen tragen, / sîniu wort ensîn vil wol getwagen, / sîn rede ensî ebene unde sleht, / ob ieman schône und ûfreht / mit ebenen sinnen dar getrabe, / daz er dar über iht besnabe. 23 Soll der Leser/ Hörer/ Rezipient einer Erzählung nicht darüber stolpern, dann muss die Sprache glatt, geläutert und rein sein, die Erzählung geradlinig (ebene unde sleht). Nur dann entspricht sie dem aufrechten Gang des Lesers, der nicht in die Stolperfalle verwickelter Erzählungen geraten will und soll. Gottfrieds Zorn dagegen richtet sich gegen die Vindaere wilder maere, / der maere wildenaere, / die mit den ketenen liegent / und stumpfe sinne triegent, / die golt von swachen sachen / den kinden kunnen machen / und ûz der bühsen giezen / stoubîne mergriezen. 24 Gottfried wendet sich also gegen Kollegen, die mit großem Gestus aus dem Erzählerzauberhut staubige Kaninchen holen, oder - so könnte man auch übersetzen - „die aus Apothekerbüchsen nutzlose Arzneien gießen“; und zwar, indem sie nicht die Büchse der Pandorra öffnen, aber doch die Streusandbüchse des Schreibers, aus der sich Langeweile ergießt. Ihre Erzählungen haben nichts Erquickliches. Und die 22 Ebd., V. 4638-4651; „Wer es nun aber dem Hasen gleichtun und auf der Heide der Dichtung herumhüpfen und - weiden will mit hingewürfelten Wörtern und wer sich auf den Lorbeerkranz Hoffnung macht, ohne doch unsere Zustimmung zu haben, der soll uns unseren Standpunkt lassen. Wir wollen bei diesem Preisgericht auch mitwirken. Wir, die wir jene Blüten pflücken helfen, mit denen dieser Ehrenkranz blumig durchflochten ist, wir wollen wissen, worauf er seinen Anspruch stützt. Denn wenn irgendwer diesen Kranz will, so soll er auch seine Blumen dort anstecken.“ 23 Ebd., V. 4652-4664; „An diesen Blumen werden wir dann erkennen, ob sie so gut dazu passen, dass wir dem von Aue den Lorbeer wegnehmen und ihn ihm geben. Da nun aber bisher niemand gekommen ist, der größeren Anspruch darauf hätte, so wollen wir ihn - bei Gott! - dort lassen. Niemandem wollen wir ihn verleihen, dessen Worte nicht völlig geläutert sind, dessen Sprache nicht gerade ist und geglättet, so daß niemand, der mit Anstand und arglos nichtsahnend dieses Weges kommt, darüber stolpere.“ 24 Ebd., V. 4665-4672; „Dichter ungezügelter Geschichten, kunstlose Jäger von Erzählungen, die mit Zauberketten bluffen/ lügen und naive Gemüter blenden/ betrügen, machen aus wertlosem Material Gold, das bestenfalls für Kinder taugt, sie gießen aus Zauberbüchsen Perlen aus Staub.“ Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 263 Mitglieder von Gottfrieds intendiertem Publikum (die berühmten edelen herzen) sollten besser daran vorübergehen, denn: die selben wildeaere / si müezen tiutaere / mit ir maeren lâzen gân. / wirn mugen ir dâ nâch niht verstân, / als man si hoeret unde siht. / sône hân wir ouch der muoze niht, / daz wir die glôse suochen / in den swarzen buochen. 25 Diese Texte der wildenaere sind aus sich heraus (als man si hoeret unde siht) nicht verständlich; sie folgen einem falsch verstandenen elitären Dunkelheitsanspruch, verschleiern ihre eigene Aussage, machen es den Rezipienten künstlich schwer und finden ihre Erklärung nur durch andere Bücher. Sie bedürfen der Deutung durch andere Literatur; und zwar solcher, die die Kritik auch noch in die Nähe der (schwarzen) Magie rückt. Der so Angegriffene wird nicht mit Namen genannt. Gemeint ist wohl Wolfram von Eschenbach. Ob dies so ist (ich glaube es mit der Mehrheit der Forscher), sei dahingestellt. Es geht mir - postmodern - und es geht auch Gottfried, denke ich, nicht um die Beziehung zwischen Dichtern. Es geht um Positionen zur „Erzähltheorie“. Die Gottfrieds scheint mir hier schon klar formuliert. Fast könnte man sie eine ‚moderne‘ nennen. Wäre dies so, müsste die Gegenposition ‚postmoderne‘ Züge tragen. Wie also steht es bei Wolfram? Ich zitiere den ‚Parzival‘-Prolog im Original und nicht eigentlich übersetzt, sondern romanhaft (aber nicht lügenhaft) übertragen von Peter Knecht (wobei ich in die Übertragung, wenn sie zu frei wird, von Fall zu Fall eingreife): Ist zwîvel herzen nâchgebûr, / daz muoz der sêle werden sûr. / gesmæhet unde gezieret / ist, swâ sich parrieret / unverzaget mannes muot, / als agelstern varwe tuot. / der mac dennoch wesen geil: / wand an im sint beidiu teil, / des himels und der helle. 26 Angenommen, hier sei das Subjekt der Erzählung gemeint, dann hätte es zwar im mittelalterlich-moderneren Sinn die Einheitlichkeit verloren, nicht jedoch schon das Signum des Postmodernen angenommen. Hier ist nicht von Fragmenten, Rollen und Substanzverlust des Charakters die Rede, sondern von zwei Möglichkeiten und der Freiheit der Entscheidung. Aber: Der Held des Romans und die Erzählung selbst tragen - von Wolfram programmatisch so genannt - das von Gottfried gerade kriti- 25 Ebd., V. 4683-4690; „Eben diese Geschichten-Jäger müssen noch Ausdeuter ihren Erzählungen mitgeben. Man kann sie nämlich nicht verstehen, wenn man sie hört oder wahrnimmt. Wir haben aber nicht die Muße, nach den Erläuterungen zu suchen in den Lehrbüchern der schwarzen Magie.“ 26 Wolframs ‚Parzival‘ wird zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann und der Übersetzung nach Peter Knecht. De Gruyter, Berlin, New York 2 2003, I, 1, 1-9; „Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, das muß der Seele sauer werden. Schande und Schmuck sind beieinander, wo eines Mannes unverzagter Mut konfus gemustert gehen will wie Elsternfarben. Trotzdem, der kann doch noch glücklich sein, denn an ihm ist etwas von beiden: vom Himmel und von der Hölle.“ Zu postmodernen Elementen bei Wolfram (insbesondere bei seinem Helden Parzival) vgl. Caupert, Christina: „‚Unstuck in Time‘: Postmodernist Elements in pre-modern Literature“, in: Redefining Modernism and Postmodernism, Şebnem Toplu/ Hubert Zapf (Hg.), Newcastle upon Tyne 2010, S. 292-303. Freimut Löser 264 sierte Signum der Flüchtigkeit, der Sprunghaftigkeit, des sich Entziehenden, des schwankenden Bodens, der überraschenden Kehrtwenden, mit denen simple Gemüter überfordert sind: diz vliegende bîspel / ist tumben liuten gar ze snel, / sine mugens niht erdenken: / wand ez kan vor in wenken / rehte alsam ein schellec hase. 27 Noch einmal - noch deutlicher: ouch erkante ich nie sô wîsen man, / er möhte gerne künde hân, / welher stiure disiu mære gernt / und waz si guoter lêre wernt. / dar an si nimmer des verzagent, / beidiu si vliehent unde jagent, / si entwîchent unde kêrent, / si lasternt unde êrent. 28 Wer hat hier nicht die Struktur des ‚Parzival‘ mit ihren Zeitsprüngen, mit ihrer mindestens doppelten Handlungsführung (Parzival und Gawan), Schnitttechnik, mit Retrospektiven und kunstvoller Verästelung vor Augen und die Queste des Helden, die sich dem Ziel nähert, um sich wieder davon zu entfernen? So etwas braucht schon besondere Leser: swer mit disen schanzen allen kann, / an dem hât witze wol getân, / der sich niht versitzet noch vergêt / und sich anders wol verstêt. 29 Der perfekte Leser ist also der, der alle Würfelwürfe kennt, der sich auf Literatur verstêt und zwar so versteht (so verständig ist), dass er nicht nur Wolframs Wortspiele als ‚outstanding‘ wahrnimmt, sondern auch seine intertextuellen Anspielungen versteht. Hartmanns Erec hatte sich versezzen (verlegen) und Hartmanns Iwein hatte sich ‚vergangen‘, d.h. er hatte sich auf seiner âventiure-Fahrt in dem Sinn verirrt, dass er nur dem Rittertum nachgejagt und von seiner wahren Bestimmung bei Laudine abgeirrt war und sich damit auch an ihr ‚vergangen‘ hatte. Der Leser/ Hörer dagegen ist der Ruhepol, die stehende Säule im Spiel der sich ständig bewegenden mære: nu hœrt dirre âventiure site. / diu lât iuch wizzen beide / von liebe und von leide: / fröud und angest vert tâ bî. 30 Man könnte dahinter ein (post)strukturalistisches Muster sehen. Eine bipolare Welt, deren Pole und Gegensätze stets gemeinsam präsent sind: Liebe und Leid, Freude und Angst, Ehre und Laster, Himmel und Hölle. Und als Erzähler einer derart komplexen Welt ist eine einzige Instanz überfordert, ist ein Erzähler nicht genug: 27 Parzival, ebd., I, 1, 15-19; „Dieses fliegende Beispiel ist zu flink/ zu kühn für dumme Menschen, sie bringen es nicht fertig, ihm nachzudenken; denn es kann vor ihnen Haken schlagen grade so wie ein verstörter Hase.“ 28 Parzival, I, 2, 5-12; „Immerhin, ich kenne niemand, mag er noch so klug sein, der nicht gern erführe, was diese Geschichte von den Ihren fordert und was an guter Lehre sie geben will. Was das betrifft, ist sie ganz unbekümmert: mal flieht sie, mal stürmt sie nach vorn, sie zieht sich zurück, sie kehrt sich um; die einen stürzt sie in Schande, die anderen hebt sie empor.“ 29 Parzival, ebd., I, 2, 13-16; „Wer da noch mithalten kann bei sämtlichen Kadenzen/ Glückswürfen beim Würfeln, den hat die Weisheit lieb - das ist der, der sich nicht verhockt und nicht verrennt, er macht was anderes: Er versteht sich drauf.“ 30 Parzival, ebd., I, 3, 28-30; I, 4, 1; „Hört lieber, was es mit dieser Geschichte auf sich hat: Sie wird euch Glück und Leiden zeigen, Freude geht mit ihr und Angst.“ Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 265 nu lât mîn eines wesen drî, / der ieslîcher sunder phlege / daz mîner künste widerwege: / dar zuo gehôrte wilder funt, / op si iu gerne t ten kunt / daz ich iu eine künden wil. / si heten arbeite vil. 31 Ein Erzähler spaltet sich auf, teilt sich in eine - wohlgemerkt - Trinität des Erzählens und hat auch damit, mit dieser multiplicity of voices, nicht genug. Denn dazu kommt die Leitinstanz seiner Erzählung: Die Geschichte selbst. Der wilde funt, der ihm von Gottfried vorgeworfen wird, ist nicht die Er-Findung, er ist die Findung: Die Geschichte hat immer schon existiert; sie will nur gefunden werden. So, wie in der mittelalterlichen Vorstellung die Skulptur im Stein schlummert und nur zum Leben erweckt, befreit werden will. Der Dichter erfindet nicht, er findet. Er ist ein ‚Trobador‘, ein ‚Finder‘ im wahrsten Wortsinn; und die Geschichte ist da. John Barth würde vielleicht sagen: „The Story always tells itself“. Wolfram sagt: ein mære wil i‘u niuwen, / daz seit von grôzen triuwen, […]/ er stahel, swa er ze strîte quam, / sîn hant dâ sigelîchen nam / vil manegen lobelîchen prîs. / er küene, træclîche wîs, / (den helt ich alsus grüeze) / er wîbes ougen süeze, / unt dâ bî wîbes herzen suht, / vor missewende ein wâriu fluht. / den ich hie zuo hân erkorn, / er ist mæreshalp noch ungeborn, / dem man dirre âventiure giht, / und wunders vil des dran geschiht. 32 Der Erzähler ist bestenfalls dazu da, eine alte Geschichte zu erneuern. „Fiction upon fiction“ nennt so etwas einer der ‚Erfinder der Postmoderne‘, Ihab Hassan, und in Anlehnung an Foucaults Archäologie des Wissens hat mein amerikanistischer Lehrer Gerhard Hoffmann für die postmoderne Literatur immer von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und „Layers upon Layers of (Hi)story“ gesprochen. 33 Der Held der Geschichte ist nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt, erwählt und vorgeführt vom Erzähler, aber eben ‚vorgeführt‘, was auch ‚herausgeführt‘ heißt aus einer ‚Tiefenschicht‘ der Literaturquellen, bestimmt vom mære selbst (für das und durch das er geboren oder eben noch nicht geboren ist) und von der âventiure, die man ihm nachsagt oder zuspricht. John Barth nimmt solche Verhältnisse (dem man dirre âventiure giht) in ‚Letters‘ grammatikalisch wörtlich und erzählt seinen eigenen Helden früherer Romane deren Geschichten oder lässt sie sich neu erzählen, in denen er Briefwechsel mit ihnen führt. Wolframs ‚Parzival‘ ist eine Geschichte, die man erzählt und die der Erzähler nur erneuert. 31 Parzival, ebd., I, 4, 2-8; „Stellt euch nun vor, ich einer wäre drei, und jeder einzelne von denen hätte soviel Kunst, wie ich alleine auf die Waage bringe: Man müsste dazu noch wilde Erfindung tun, bevor sie es versuchen könnten, euch zu berichten, was ich ganz alleine euch berichten will - den dreien würde es sauer werden.“ 32 Parzival, ebd., I, 4, 9-10 u. 15-26; „Eine Geschichte will ich euch neu vorführen, die erzählt von großer Treue […]. Er war ein Stahl in dem Streit, wo immer er auch hinkam. Seine Hand hat mit dem Recht des Siegers manche Ehre und viel Ruhm an sich genommen; kühn und spät erst weise war der Held, den ich so begrüße. Süßigkeit in Frauenaugen, doch Siechtum in ihren Herzen war er und eine wahre Zufluchtsstätte vor dem Bösen. Den ich hier im Auge habe, der ist von der Geschichte her noch ungeboren, von dem man diese Abenteuer sagt und die vielen Wunder, die da geschehen werden.“ 33 Vgl. generell: Hoffmann, Gerhard (Hg.): Der zeitgenössische amerikanische Roman, 2 Bde., München 1988. Freimut Löser 266 Man kann ein erstes Zwischenfazit ziehen: Ob es zwischen Gottfried und Wolfram eine Debatte gab, sei dahin gestellt. Was sichtbar wird, ist ein Diskurs, dessen postmoderne Seite, wenn man sie so nennen will, bei Wolfram zu finden ist: Im Blick auf den Helden der Erzählung, auf die Erzählinstanz, vor allem aber auf die Erzählung selbst. Der dritte der drei großen in mittelhochdeutscher Sprache erzählenden ‚Klassiker‘ (zeitlich gesehen ihr erster), Hartmann von Aue, folgt schon einem anderen Erzähler: Hartmann führt mit seinem ‚Erec‘ den Artusroman im Deutschen ein. Er basiert auf Chrétiens de Troyes ‚Erec et Enide‘. Aber schon Chrétien hat im Prolog seines Werkes postuliert, es sei vernünftig, daß jeder immerfort darauf sinne und sich befleißige, Gutes zu reden und Nützliches mitzuteilen; und er [Chrétien spricht vom Erzähler ‘Chrétien’ in der 3. Person] bringt seinerseits eine Reihe von Ereignissen, wie sie erzählt werden, in einen wohlgeordneten Zusammenhang, damit man daraus zu erweisen und zu erkennen vermag, daß man nicht klug handelt, wenn man nicht sein Wissen mitteilt, solange Gott einem die Gnade dazu gibt. Von Erec dem Sohne Lacs, handelt die Erzählung, welche die Leute, die vom Geschichtenerzählen leben wollen, vor ihrem Publikum von Königen und Grafen auseinanderzureißen und zu verderben pflegen. 34 Daraus sind vier Schlüsse zu ziehen. Erstens: Chrétien stiftet Ordnung. Er ist so gesehen der Meister der grands récits. Diese Ordnung aber ist ihrerseits - zweitens - schon Reaktion auf Unordnung. An der Grenze zwischen der Oralität des alten conte d’aventure und der Schriftlichkeit spiegelt die schöne Ordnung der Erzählung das moderne Prinzip. Drittens gilt Chrétiens Ordnungsversuch der Auseinandersetzung mit dem performativen Charakter mittelalterlichen Erzählens. Die, die vom Erzählen (im Vortrag) leben, erzählen zusammenhanglos (depecier) und indem sie die Geschichte verderben (corronpre). Erst Chrétien stiftet den Zusammenhang (conjointure); und dieser Zusammenhang gilt ihm als sehr schön (molt bele). Der postmoderne Zustand mittelalterlicher Geschichten wäre so gesehen demjenigen vergleichbar, den sie hatten, bevor Chrétien sie geordnet hat. Was diese neue Ordnung Chrétiens - viertens - meint, ist evident: Chrétien stiftet den berühmten ‚doppelten Kursus‘. Die Geschichte vom ersten Aufstieg zur Ehre, von der Krise und vom zweiten Aventiurezyklus zur Bewährung des Helden, die für den post-chrétienschen Artusroman prägend wird. Legen wir die Kriterien des modernen Romas an diesen Gang an (Narrativität, Subjektivität, geordnete Wert- und Weltvorstellung) dann treffen sie für Chrétiens molt bele conjointure zu. Was aber macht Hartmann, der erste große ‚Meister‘ des höfischen Romans im Deutschen, aus dieser modernen Ordnung? Er nützt sie - scheinbar - im Sinn des Ordnungsdenkens zur allgemeingültigen Belehrung: 34 V. 9-22: „Por ce dist Crestïens de Troies / que reisons est que totevoies / doit chascuns panser et antandre / a bien dire et a bien aprandre; / et tret d’un conte d’avanture / une molt bele conjointure / par qu’an puet prover et savoir / que cil ne fet mie savoir / qui s’escïence n’abandone / tant con Dex la grasce l’an done: / d’Erec, le fil Lac, est li contes / que devant rois et devant contes / depecier et corronpre suelent / cil qui de conter vivre vuelent.“ Zitiert nach: Gier, Albert [Hg., Übers.]: Chrétien de Troyes: Erec et Enide, Erec und Enide, Stuttgart 1987, S. 4f. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 267 Swer an rehte güete / wendet sîn gemüete, / dem volget sælde und êre. / des gît gewisse lêre / künec Artûs der guote, / der mit rîters muote / nâch lobe kunde strîten. / er hât bî sînen zîten / gelebet alsô schône / daz er der êren krône / dô truoc und noch sîn name treit. / des habent die wârheit / sîne lantliute: / sî jehent er lebe noch hiute: / er hât den lop erworben, / ist im der lîp erstorben, / sô lebet doch iemer sîn name. / er ist lasterlîcher schame / iemer vil gar erwert, / der noch nâch sînem site vert. 35 Das scheint eine klare Selbstaussage und eröffnet doch eine Menge Fragen: Ein Wertekatalog (güete, sælde, êre, guot, rîters muot) wird vorgeführt. Die Vergangenheit ist der Beweis für die Existenz all dieser ‚Dinge‘ und das Vorbild für die Gegenwart. Die gestorbenen Helden leben fort: ist im der lîp erstorben, sô lebet doch iemer sîn name. Getane Werke werden zu erinnerten Werken; erinnerte Werke werden zu Erzählungen: sî jehent (sie sagen) er lebe noch hiute. Aber der, der sie erzählt, ist nicht der gelehrte Kleriker Chrétien, und schon gar nicht der berufsmäßige Geschichtenerzähler. Es ist einer, der dem rîter Artûs (V. 5 u. 6) an Stand gleicht, einer der an seiner Tafelrunde hätte sitzen können: Ein rîter, der gelêret was / unde ez an den buochen las, / swenner sîne stunde / niht baz bewenden kunde, / daz er ouch tihtennes pflac / (daz man gerne hoeren mac, / dâ kêrt er sînen vlîz an: / er was genant Hartman / und was ein Ouwære), / der tihte diz mære. 36 Was ist das für ein Autor, der als Ritter gelehrt ist, und der liest, wenn er dichtet, und nur dann dichtet, wenn er nichts Besseres zu tun hat? Und wer spricht da, wenn der spricht? Der Dichter? Der Leser? Der Ritter? Der Buchgelehrte? Der Unterhalter? Hartmann konstruiert sich selbst und seinen Erzähler und öffnet diesen Erzähler beiläufig für Vieles. Und: Er führt uns die Taten der Vergangenheit als Vorbild vor und dekonstruiert (auf eine geradezu perfide Weise) gleichzeitig genau dieses Vorbild: mich jâmert wærlîchen, / und hulfez iht, ich woldez clagen, / daz nû bî unseren tagen / selch vreude niemer werden mac / der man ze den zîten pflac. / doch müezen wir ouch nû genesen. / ichn wolde dô niht sîn gewesen, / daz ich nû niht enwære, / dâ uns noch mit ir mære / sô rehte wol wesen sol: / dâ tâten in diu werc vil wol. 37 35 V. 1-20: „Wer nach dem wahrhaft Guten von ganzem Herzen strebt, dem wird Ansehen vor Gott und den Menschen als sicherer Lohn zuteil. Ein Beweis dafür ist der edle König Artus, der mit ritterlichem Geist verstand, Ruhm zu erringen. Zu seiner Zeit hat er so vorbildlich gelebt, daß er den Kranz der Ehren damals trug, wie auch jetzt noch sein Name ihn trägt. Darum haben seine Landsleute recht, wenn sie sagen, er lebe noch heute. Er hat Ruhm erworben, und ist er selbst auch tot, wird doch sein Name stets fortleben. Der wird sich niemals einer Schandtat schämen müssen, der nach seinem Vorbild handelt.“ Hartmanns Iwein wird zitiert nach: Text der siebenten Aufl. von G.F. Benecke, K. Lachmann u. L. Wolff, Übersetzung u. Nachwort v. Thomas Cramer, Berlin 2001. 36 Ebd., V. 21-30: „Ein Ritter konnte Latein und las in Büchern, wenn er mit seiner Zeit nichts besseres anzufangen wußte, dichtete er sogar: Er verwandte seine Bemühungen auf das, was man gern hören möchte. Er hieß Hartmann und war von der Aue. Der hat diese Geschichte gedichtet.“ 37 Ebd., V. 48-58: „Wirklich, es bekümmert mich tief, und ich wollte es laut beklagen, wenn es etwas nützte, daß heutzutage eine solche Festesfreude nicht mehr zustandekommt wie man sie damals kannte. Aber auch die Gegenwart hat Vorteile. Ich hätte damals nicht leben mögen, so Freimut Löser 268 Was sagt das? Hätte ich damals in dieser Zeit gelebt, wäre ich heute tot. Deren Taten aber sind unsere Erzählungen. Ich erzähle, die sind tot. Den Toten die Werke, den Lebenden die Erzählungen. Postmodern gewendet: ‚Fact is dead. Long live Fiction‘. Dass Hartmann hier zugleich - Hartmann, der angebliche ‚Traditionalist‘ unter den drei ‚Klassikern‘ - ein brilliantes intertextuelles Spiel treibt, zeigt der Vergleich mit seiner unmittelbaren Vorlage, die er nämlich schlicht ins Gegenteil verkehrt. Denn Chrétien sagt an gleicher Stelle in seinem Iwein-Prolog: „Doch reden wir nun von denen, die früher waren, und lassen wir die, die noch am Leben sind! Denn ein untadeliger Ritter ist, so meine ich, tot immer noch besser als ein gemeiner Mensch, der lebt.“ 38 Geradezu zum Programm erhoben hat dieses Wechselverhältnis von toter Vergangenheit und Leben durch Literatur kein anderer als Gottfried von Straßburg, der von Tristan und Isolde, fast Hartmanns Iwein-Prolog zitierend, sagt: al eine und sîn si lange tôt, / ir süezer name der lebet iedoch. Aber Gottfried geht noch weiter als Hartmann: und sol ir tôt der werlde noch / ze guote lange und iemer leben, / den triuwe gernden triuwe geben, / den êre gernden êre: / ir tôt muoz iemer mêre / uns lebenden leben und niuwe wesen; / wan swâ man noch hoeret lesen / ir triuwe, ir triuwen reinekeit, / ir herzeliep, ir herzeleit, / Deist aller edelen herzen brôt. / hie mite sô lebet ir beider tôt. / wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt / und ist uns daz süeze alse brôt. 39 Die Anspielung auf die Eucharistie ist unüberhörbar. Tod wird zu Leben, dort wo er gelesen wird. Der Leser ist es, der Tote zum Leben erweckt und die Lektüre ist die Nahrung des Lebenden. Ir leben, ir tôt sint unser brôt. / sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. / sus lebent si noch und sint doch tôt / und ist ir tôt der lebenden brôt. 40 Auch formal-stilistisch (leben/ lesen) strebt der Text eine ununterscheidbare Einheit an, in der nahezu alle Schranken fallen: Zwischen Erzähler und Leser, zwischen Erzähler daß ich heute nicht existierte, da uns mit der Erzählung von ihnen wahres Vergnügen bereitet wird, sie aber freuten sich an den Taten selbst.“ 38 V. 29-32: „Mes por parler de çaus, qui furent, / Leissons çaus, qui an vie durent! / Qu’ancor vaut miauz, ce m`est avis, / Uns cortois morz qu’uns vilains vis.“ Chretien de Troyes: Yvain, übers. und eingel. v. Ilse Nolting-Hauff, Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, Bd. II., München 1983, S. 16f. 39 Gottfried, Tristan, V. 222-236: „Und wenn sie auch schon lange tot sind, so lebt ihr lieblicher Name doch fort. Der Tod aber soll der Welt zum Nutzen noch lange weiterleben, den Treuesuchenden Treue und den Ehrsuchenden Ehre geben. Ihr Tod soll auf ewig uns Lebenden lebendig sein und immer wieder neu. Denn dort, wo man noch erzählen hört von ihrer Anhänglichkeit, der Reinheit ihrer Treue, von dem Glück und der Bitternis ihrer Liebe: Dort finden alle edlen Herzen Brot. Hierdurch lebt ihrer beider Tod. Wir lesen von ihrem Leben, wir lesen von ihrem Tod, und es erscheint uns erquicklich wie Brot.“ 40 Ebd., V. 237-240: „Ihr Leben und ihr Tod sind unser Brot. Also lebt ihr Leben, lebt weiter ihr Tod. Also leben auch sie noch und sind doch tot, und ihr Tod ist für die Lebenden Brot.“ Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 269 und Publikum, zwischen den Toten und den Lebenden, zwischen Literatur und Leben, zwischen Fact und Fiction. 41 Zusammengefasst: Mittelalterliches Erzählen ist bei seinen Theoretikern, die gleichzeitig seine Literaten sind, keine Einheit. Schon jeder der drei ‚Klassiker‘ hat eine unterschiedliche ‚Erzähltheorie‘. Am ‚postmodernsten‘ ist die Wolframs; aber selbst der angebliche ‚Traditionalist‘ Hartmann überschreitet die Grenzen zur Dekonstruktion und der ‚Modernist‘ Gottfried diejenigen zwischen Fakt und Fiktion. Alle drei zeigen ein hochgradiges Fiktionalitätsbewusstsein. Mehr: Sie machen den fiktiven Charakter ihrer Scheinrealität zum Thema ihrer fiktionalen Welten und treiben ein geradezu aberwitziges Spiel an der Grenze zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven. Sie geben die fiktiven Taten der märchenhaften Artuszeit als Fakten aus, entblößen sie dann als Bestandteile ihrer eigenen Fiktion und machen diese Fiktion wiederum zum Fakt (vielleicht zum einzigen Fakt, den es gibt). Am tollsten treibt es - auch hier - Wolfram. Ich spreche - natürlich - von Kyot. Gab es ihn, gab es ihn nicht? Die Forschung hat das Kyot-Problem bis heute nicht gelöst. Ich will das nicht einmal versuchen. Mich fasziniert, dass Wolframs Spiel so fasziniert, dass er für sein ‚Kyot-Gamble‘ bis heute Mitspieler findet. Zuletzt Michael Dallapiazza: Noch heute sind viele von der Existenz dieser Quelle, deren Notwendigkeit, überzeugt, obgleich sich bislang nie auch nur der Hauch einer Spur jener Schrift hätte entdecken lassen. Im Grunde spricht alles für eine, durchaus humoristisch konnotierte Quellenfiktion, die Wolfram stückweise aufbaut. Wenn Kyot, Frau Aventiure und Wolfram gar zu erzähltechnischen Abkommen vorstoßen, in einer Art „Schelmenkonferenz“, der das Geheimnisvolle Chrétiens „zum Opfer gefallen ist“, wie es Bertau genannt hat (Bertau 1973, 992), hat das alles wohl auch für das Publikum den Charakter eines „Ulks“. 42 Für mich ist das ein bisschen mehr als ‚Ulk‘; und für mich ist es dennoch irrelevant, ob es Kyot gab. Hätte es ihn nicht gegeben, hätte man ihn erfinden müssen; hätte es ihn gegeben, hätte man ihn ‚dekonstruieren‘ müssen. Bei Kyot ist es nicht wichtig, ob es ihn gab oder nicht, seine Funktion ist der Hinweis auf die Irrelevanz dieser Frage. dô disiu rede was getân, / dô stuont dâ einer sküneges man, / der was geheizen Liddamus. / Kyôt in selbe nennet sus. / Kyôt la schantiure hiez, / den sîn kunst des niht erliez, / er ensunge und spræche sô / dês noch genuoge werdent frô. / Kyôt ist ein Provenzâl, / der dise âventiur von Parzivâl / heidensch geschriben sach. / swaz er en franzoys dâ von gesprach, / bin ich niht der witze laz, / daz sage ich tiuschen fürbaz. 43 41 Grundlegend und wegweisend dazu: Knapp, Fritz Peter: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997; Ders.: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005; Ders. und Niesner, Manuela [Hg.]: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, Berlin 2002. 42 Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009, S. 58 f. 43 Parzival, VIII, 416, 17-30: „Als diese Rede getan war, da stand einer von des Königs Leuten auf, der hieß Liddamus - Kyôt selber nennt ihn so. Kyôt hieß der Chansonnier, der gar nicht anders konnte vor lauter Kunst, als so zu singen und zu dichten, daß noch heute viele davon fröhlich werden. Kyôt ist ein Provenzale, und der hat diese Geschichte von Parzivâl in Freimut Löser 270 Ein provençalischer Chansonnier berichtete (mündlich? ) in französischer Sprache (das ist nicht das gleiche wie in provençalischer) etwas, was er heidnisch geschrieben gesehen hatte, was wiederum ein deutscher Erzähler, wenn sein Verstand ihn nicht im Stich lässt, weiter (fürbaz) auf Deutsch erzählt. Wie viele Ebenen des Erzählers sind denn das jetzt schon? Und wer konnte/ wollte jemals glauben, dass hier ausgerechnet die Authentizität des Berichts beglaubigt werden soll? Aber es kommt ja noch toller, wenn die Vielfalt der Stimmen immer mehr zunimmt und das Schweigen auch noch zum Thema wird. Man fragt sich, ob wirklich Bakhtins ‚multiplicity of voices‘ ein Kennzeichen nur der ‚Postmoderne‘ sein soll? Und muss ein Erzähler, der das Nicht-Erzählen thematisiert, auf die Postmoderne warten, um etwa auch noch Hassans Begriff der ‚Literature of Silence‘ zum Spielball zu machen? Denn erzählt Wolfram, der Vielstimmige, nicht auch noch vom Nicht-Erzählen im Erzählen? an dem ervert nu Parzivâl / diu verholnen mære umben grâl. / Swer mich dervon ê frâgte / unt drumbe mit mir bâgte, / ob ichs im niht sagte, / umprîs der dran bejagte. / mich batez helen Kyôt, / wand im diu âventiure gebôt / daz es immer man gedæhte, / ê ez d´âventiure bræhte / mit worten an der m re gruoz / daz man dervon doch sprechen muoz. / Kyôt der meister wol bekant / ze Dôlet verworfen ligen vant / in heidenischer schrifte / dirre âventiure gestifte. / der karakter â b c / muoser hân gelernet ê, / ân den list von nigrômanzî. / ez half daz im der touf was bî: / anders wær diz mær noch unvernumn. […] ein heiden Flegetânîs / bejagte an künste hôhen prîs. / der selbe fisîôn / was geborn von Salmôn, / ûz srahêlscher sippe erzilt / von alter her, unz unser schilt / der touf wart fürz hellefiur. / der schreip vons grâles âventiur. 44 „Von der Vaterseite her“, erzählt Wolfram weiter, „war er Heide, dieser Flegetânîs, und betete zu einem Kalb, als ob es für ihn ein Gott wäre. […] Dieser Heide Flegetânîs sah etwas am Sternenhimmel mit den Augen, davon sprach er nur mit Scheu, es war verborgen und geheimnisvoll. Er sagte nämlich, es gebe da ein Ding, das heiße Der Grâl; diesen Namen konnte er ganz leicht lesen in den Sternen, da stand es geschrieben, daß er so heiße. […] Der gelehrte Magister Kyôt fing nun an, in der lateinischen Literatur nach dieser Geschichte zu suchen, danach, wo es denn jemals Leute gegeben hätte, die ihr Leben so eingerichtet hatten, daß sie zum Grâlsdienst taugten, und die rein sein wollten in allen Dingen. Er las die Chroniken heidnischen Handschriften gefunden. Was er auf französisch davon berichtet hat, das sage ich, wenn mein Verstand mich nicht im Stich läßt, jetzt weiter auf deutsch.“ 44 Parzival, IX, 452, 29 - 453, 30: „Bei ihm (Trevrizent) erfährt jetzt Pazivâl die Geheimnisse des Grâls. Wenn mich vorher einer danach gefragt oder gar mit mir geschimpft hätte, weil ich‘s nicht erzählen wollte, so hätte er damit nichts erreicht, worauf er stolz sein könnte. Kyôt hat mich gebeten, es zu verschweigen. Dem wiederum hat die Aventiure selbst eingeschärft, es dürfe nichts davon auch nur angedeutet werden, bis sie, die Aventiure selber, es zur Sprache gebracht hätte, dort nämlich, wo es der Geschichte willkommen wäre; dann aber müsse man sogar davon reden. Der berühmte Magister Kyôt fand in Toledo, irgendwo in einem Winkel vergessen, die Urfassung dieser Geschichte in heidnischer Schrift. Da mußte er zuerst das ABC der Buchstaben lernen, und zwar ohne irgendwelche schwarzen Künste zu Hilfe zu nehmen. […] Ein Heide, Flegetânîs, hatte es in den Wissenschaften zu einigem Ruhm gebracht. Dieser Physiologist stammte von Salomon ab, er war der Sproß einer alten israelitischen Familie, noch vor der Zeit, da die Taufe unser Schild vor dem Höllenfeuer wurde. Der verfaßte eine Schrift über die wunderbare Geschichte des Grâls.“ Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 271 der Länder, in Britannien und überall, wo er hinkam, in Frankreich und in Yrland. In Anschouwe fand er schließlich die Geschichte. Wenn der Magister Christian von Troys diese Geschichte mit Willkür behandelt, dann hat Kyôt ganz recht, sich zu empören: Er allein, Kyôt, hat uns die wahre Geschichte treu überliefert.“ Freilich. Nur welche? Erzählt Kyôt die Geschichte, die der Heide Flegetanis in heidnischer Schrift auf dem Gral in den Sternen gelesen hatte und die Kyôt dann in Chroniken Britanniens, Frankreichs, Irlands und Anschouwes fand? Eine schönere Beispielerzählung für den ‚linguistic turn‘ wird sich kaum finden lassen. Mich erinnert das stark an John Barths Erzählband ‚Lost in the Funhouse‘, wo in einer der vielen verschachtelten Figurenerzählungen, (über Menelaos) die zentrale Frage gestellt wird: „Who am I“? Sie wird so beantwortet: “ ‘ “ ‘ “ ‘ “ ” ’ ” ’ ” ’” 45 . Der Platz zwischen den Anführungszeichen bleibt leer. Und auch für Wolfram gilt: Alles ist sprachliches Zeichen; selbst das Zentralzeichen (der unverwechselbare Gral) ist sprachlicher Natur (er transportiert Schrift), die Sterne sind Sprache, genauso wie die Chroniken (übrigens ein frühes Beispiel für Fredric Jamesons Thesen und dafür, dass auch die Grenze zwischen History und Story fließend und jede History Story ist). Kurz: Ob Wolframs Quelle Kyot fiktiv ist oder nicht, ist gleichgültig. Was die berühmte Stelle offenbart, ist folgendes: Erzählung ist Erzählung über Erzählung über Erzählung über Erzählung… Ich denke, Wolfram treibt dieses Spiel am weitesten, aber: Andere spielen es auch: Wolfram spielt es intertextuell, indem er Gottfrieds Ball aufnimmt. Oder nimmt Gottfried Wolframs Ball auf? Oder spielen beide mit den Bällen ihrer Vorgänger? Gottfried jedenfalls behandelt im ‚Tristan‘ seine Vorgänger in den berühmt gewordenen Versen so: Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, / die von Tristande hânt gelesen, / und ist ir doch niht vil gewesen, / die von im rehte haben gelesen. 46 Und im Zusammenhang sagte er dann: „Wenn ich jetzt aber so täte und meine Worte so setzte, als ob mir ihrer aller Deutung dieser Geschichte mißfiele, dann handelte ich anders als ich sollte. Ich tue es nicht. Sie haben gut erzählt, aus durchaus edler Gesinnung, mir und der Welt zum Besten. Sie taten es wahrlich in guter Absicht, und was man in guter Absicht tut, das ist auch gut und gelungen. Wenn ich aber gesagt habe, daß sie nicht richtig erzählt haben, dann hat das, wie ich betone, seine Richtigkeit: sie haben nicht in der rechten Weise berichtet, so wie es Thomas von Britanje tat, der ein Meister der Erzählkunst war und in bretonischen Büchern das Leben aller Fürsten nachgelesen und uns davon berichtet hat. Aufgrund dessen, was er über Tristan erzählt, begann ich, intensiv nach der richtigen Fassung zu suchen, und zwar in Büchern sowohl romanischer als auch lateinischer Herkunft. Und ich bemühte mich eifrig darum, nach seinem korrekten Vorbild diese Dichtung abzufassen. So stellte ich umfangreiche Nachforschungen an, bis ich in einem bestimmten Buche seinen ganzen Bericht bestätigt fand.“ 47 45 Barth, John: Lost in the Funhouse, New York 7 1969, S. 153. 46 Gottfried, Tristan, V. 131-134. 47 Ebd., V. 135-165. Freimut Löser 272 Fast ist es paradox: Die so stark betonte Berufung auf die Quellen und die Wahrheitsbeteuerung macht zugleich den Konstruktcharakter des ganzen Werkes offenbar. Man könnte dies nicht nur in Texten, sondern auch an mittelalterlichen Abbildungen zeigen, die Vertextungsvorgänge oft besonders schön illustrieren: Benoît de Sainte-Maure komponierte um 1165 seinen ‚Roman de Troie‘. Und dabei wird mitunter schon dargestellt, wie er in ihm liest (Abb. 1). Benoît kannte Homer nicht, trug aber fleißig andere Quellen zusammen (Abb. 2). Ja, er komponierte sein Buch aus Büchern (Abb. 3). Und folgte bei seiner eigenen Geschichte der von Troja; und zwar sowohl der faktischen Geschichte als auch dem Geschichtsschreiber Dictis, wie dem Geschichtsschreiber Dares; so lässt sich Benoît bildlich leicht als letzte Stufe einer langen Textgeschichte darstellen, die als erste Stufe das Ereignis in Troja selbst zum Text/ Bild hatte werden lassen (Abb. 4). Der ‚Lancelot en Prose‘ und mit ihm der deutsche Lanzelot-Prosa-Roman, der erste deutsche Prosa-Roman überhaupt (vor 1230), geht noch weiter. Hier (Abb. 5) besprechen König Henri und der (fiktive! ) Verfasser Gautiers Map, was sie in diesem Buch, das gerade geschrieben werden soll, schon über König Artus und den Gral lesen. Woher stammt dieses Buch? Von Artus selbst wird behauptet: Und der konig gebot vier schribern die darzu gesaczt warn, das sie all die abentur schriben, die in sim hofe geschehen. Der ein was Arodion genant von Koln, und der ander was genant Tantamides von Vernaus und der dritt Thomas von Dolete, der vierd was Sapiens genant von Budas. Diße vier schrieben die abentur in des konig Artus hof. Min herre Gawan must zu allererst sagen, wann er heubt was an der suchung [weil er der Anführer der Suche war], und darnach Hestor und darnach myns herren Gawans gesellen die mit im an der suchung waren. Was sie sagten das wart alles geschriben. 48 Am Abend, wenn das ritterliche âventiure-Tagwerk getan ist, oder am Ende der großen Grals-Queste, da kehrt man eben heim und diktiert (der hierarchischen Reihe nach) den Schreibern des Königs die eigenen Abenteuer. Da sie hetten geeßen [gegessen] in dem hoff, der konig Artus det her vor kůmmen die schriber, die da pflagen zu beschriben die abenture der ritter von dem hoff des koniges Artus. Und da Bohort hett erzalt die abenture von dem heyligen gral, in der wise als er es gesehen hett, und die wurden beschriben und behalten in der abtey von Salaberis. Da von meyster Gatiers [Gautier] machen begund das buch von dem heiligen grale von latin zu welisch, umb konig Heinrichs willen synes herren, den er ser lieb hette. 49 In Abb. 6 ist zu sehen, wie Gawan berichtet und wie die Geschichte unter Artus’ eigener Kontrolle notiert wird. Aber damit nicht genug; der deutsche Bearbeiter findet auch noch eine flämische Bearbeitung vor, in der die Wahrheit des Buches endlich zu ihm gelangt: 48 Lancelot. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. v. Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. Allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l'Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert und herausgegeben v. Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt am Main 1995, Band I, S. 482, Z. 5-12. 49 Ebd., Bd. III, S. 383, Z. 15ff. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 273 Diß buchelin zu einer stonden / Hain ich inn flemische geschrieben fonden, / Von eyme kostigen meister verricht, / Der es uß franczose darczu hait gedicht. / Dwile das alle dutschen nit konden verstan, / Habe ich unnutzeliche zcijt darczu versließen und gethan, / Biß das ich es herczu bracht hain. 50 Das Endergebnis der langen Textüberlieferung sieht dann so aus: Ereignis > Diktat > Artus ’ Schreiber (Latein) > i.A. von König Henri: Gautier (welsch) > flämisch > deutsch. Wo die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bewusst negiert werden, ist Literatur stets Literatur über Literatur. Wie hatte es über die postmoderne Literatur geheißen? „In der Postmoderne steht nicht die Innovation im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses, sondern die Rekombination“. Der Spruchdichter ‚Der Marner‘ hat dies in der Mitte des 13. Jahrhunderts so gesagt: Lîhte vinde ich einen vunt, Den si vunden hânt die vor mir sint gewesen: Ich muos vs ir garten und ir sprüchen bluomen lesen. 51 Auch Hartmann verwendet für die Literatur das Bild der Blütenlese und Heinrich von Mügeln (zweite Hälfte des 14. Jhs.) wählt das Bild des Schneiders: Was e die meister han Den sprüchen wat gesniten an, die zeist ich wider unde span daruß eins nuwes tichtes kleit. 52 Die Sprüche als Kunstform (und ihr Inhalt) sind also vorhanden. Meister kleideten sie in ein Gewand. Diese Gewänder lassen sich auflösen; daraus dann kann man ein neues dichtes Dichtungskleid weben. Damit ergibt sich zugleich das Bild von der Textur des Textes, vom Text als Gewebe, das aus intertextuellen Fäden gesponnen wird, indem man die Gewänder, die die Vorgänger genäht haben, aufdröselt und neu verwebt. Dies kann, wie bei Heinrich Frauenlob, den Charakter einer sehr prononcierten Herausforderung annehmen: Swaz ie gesang Reimar und der von Eschenbach, swaz ie gesprach 50 Ebd., Bd. II, S. 115; „Dieses Büchlein habe ich einmal in flämischer Sprache geschrieben gefunden, von einem kunstfertigen Meister gemacht, der es in dieser Sprache aus dem Französischen gedichtet hat. Da nicht alle Deutschen das verstehen konnten, habe ich müßige Zeit dafür verbraucht und aufgewandt, bis ich es [ins Deutsche] übertragen hatte.“ 51 Zit. n. Schweikle, Günther (Hg.): Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur, Tübingen 1970 (= Deutsche Texte 12), S. 33; Kürzel aufgelöst. „Möglicherweise mache ich ja einen Fund, der bereits von denen, die vor mir waren, gefunden worden ist. Aus ihrem Garten und aus ihren Sprüchen muss ich Blumen pflücken.“ 52 Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21, hrsg. v. Karl Stackmann, 3 Teilbände, Berlin 1959 (Deutsche Texte des Mittelalters 50-52), 2. Teilband, 110 (1). „Die Gewänder, die die Meister ehedem den Sprüchen zurechtgeschnitten hatten, die hab ich wieder aufgefädelt und daraus das Kleid einer neuen Dichtung gewebt.“ Variante in der Handschrift w (ebd., S. 551): ain … ticht beklait, zu übersetzen also im ‚ Schneiderbild‘: „eine neue dichte Kleidung“. Freimut Löser 274 der von der Vogelweide, mit vergoltem kleide ich, Vrouwenlob, vergulde ir sang, als ich iuch bescheide. 53 Das klingt so frech und ungewohnt, dass von Johannes Rettelbach die These aufgestellt wurde (für mich überzeugend), hier spreche gar nicht Frauenlob, sondern einer, der ihn parodiere und der den in seinen Dichtungen allenthalben greifbaren hohen Kunstanspruch und seine Selbstüberschätzung der Lächerlichkeit preisgebe. 54 Durch Parodie, durch Zitat im Zitat, durch uneigentliches Sprechen besteht (wie das Umberto Eco und John Barth für die Postmoderne formuliert haben) wieder die Möglichkeit zum Erzählen, besteht die Möglichkeit gar, zur Verbindlichkeit der grands récits zurückzukehren. Ein mittelalterliches Beispiel dafür findet sich in der didaktischen Dichtung, in Thomasins von Zerklaere ‚Welschem Gast‘ (Thomasin ist Zeitgenosse Walthers von der Vogelweide, dem er vorhält mit seiner Papstkritik mê denne tusent man betoeret zu haben). Für Thomasin sind die genannten großen Romane des Mittelalters - Jugendliteratur: Ir habt nu vernomen wol / waz ein kint hoern und lesen sol. / ave die ze sinne komen sint / die suln anders dann ein kint / gemeistert werden, daz ist wâr. / wan si suln verlâzen gar / diu spel diu niht wâr sint: / dâ mit sîn gemüet diu kint. / ich enschilte deheinen man / der âventiure tihten kan: / die âventiure die sint guot, / wan si bereitent kindes muot. / swer niht vürbaz kan vernemen, / der sol dâ bî ouch bilde nemen. daz selbe sol tuon ein man / der tiefe sinne niht verstên kan, / der sol die âventiure lesen, / und lâz im wol dermite wesen, / wan er vindet ouch dâ inne / daz im bezzert sîne sinne, / swenner vürbaz verstên mac, / sô verlies niht sînen tac / an der âventiure maere. / er sol volgen der zuht lêre / und sinne unde wârheit. / die âventuire sint gekleit / dicke mit lüge harte schône: / diu lüge ist ir gezierde krône. / ich schilt die âventiure niht, / swie uns ze liegen geschiht / von der âventiure rât, / wan si bezeichenunge hât / der zuht unde der wârheit: / daz wâr man mit lüge kleit. / ein hülzin bilde ist niht ein man: / swer ave iht verstên kan, / der mac daz verstên wol / daz ez einen man bezeichen sol. / sint die âventiur niht wâr, / si bezeichent doch vil gar / waz ein ieglich man tuon sol / der nâch vrümkeit wil leben wol. / dâ von ich den danken will / die uns der âventiure vil / in tiusche zungen hânt verkêrt: / guot âventiure zuht mêrt. / doch wold ich in danken baz, / und heten si getihtet daz / daz vil gar ân lüge waere: / des heten si noch groezer êre. 55 53 Newman, Barbara: Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and his Masterpiece, University Park 2007, S. 58; „Alles, was Reinmar und der von Eschenbach je sangen, was der von der Vogelweide jemals in seinen Sprüchen vortrug - im vergoldeten Kleid vergolde ich, Frauenlob, ihre Gesänge, wie ich Euch jetzt zeigen werde.“ 54 Rettelbach, Johannes: „Abgefeimte Kunst: Frauenlobs Selbstrühmung“, in: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Kolloquium 1991, hrsg. v. Cyril Edwards u.a., Tübingen 1996, S. 177-193. 55 Thomasin von Zirclaria: Der wälsche Gast. Texte des Mittelalters, hrsg. v. Heinrich Rückert, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965, V. 1079-1092 und V. 1107-1142; „Ihr habt jetzt recht vernommen, was ein Kind hören und lesen soll. Aber diejenigen, die bereits der Vernunft mächtig sind, sollen wahrlich anders als ein Kind belehrt werden. Denn sie sollen die unwahren Spielereien ganz und gar hinter sich lassen. Damit sind Kinder beschäftigt! Ich rüge niemanden, der âventiure dichten kann; solche âventiure sind gut, da Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 275 Damit ist die Zeichenhaftigkeit jeder Erzählung aufgedeckt. Der Unterschied zur Postmoderne ist - für den Didaktiker Thomasin - freilich der, dass dieses Zeichen nicht auf sich selbst verweist, sondern, dass dahinter die tiefere Wahrheit liegt; und dass nicht nur die Erkenntnis dieser Wahrheit möglich ist, sondern auch ihre Anwendung im Leben (der nâch vrümkeit wil leben) ebenso wie ihre Beschreibung. Dies freilich gerade nur - und das ist die entscheidende Beschränkung - im geistlichen Traktat und in der Lehrdichtung, aber eben nicht in der erzählenden Literatur (âventiure), denn da ist sie per se Lüge. Und damit wird auch - in einer intertextuellen Anti-Hartmannschen Wendung Thomasins - Hartmanns und Gottfrieds Theorie vom Fortleben der großen Namen zunichte: wan swenn wir haben wol gepreit / unsern namen mit arbeit, / sô hilft uns unser name niht, / wan uns ze varen doch geschiht / dâ die andern hin sint. / dem vater varent nâch diu kint / gelîche al nâch ir getaete, / nâch rehte od nâch missetaete. / swar in ze varne geschiht, / ir name hilft si nihtes niht. 56 Angesichts der letzten, wahren Heimat des Menschen, angesichts der Ewigkeit oder des göttlichen Gerichts ist der große Name nichts; nein, er ist hinderlich. Und Hartmann muss sich von Thomasin sagen lassen: seht, Artûs was wol erkant / und ist ouch hiute genuoc genant: / nu sage mir, waz hilft in daz? / im taete ein pâter noster baz. / ob Artûs gots hulde haben sol, / er enbirt unsers lobes wol: / ist aver er in der helle grunde, / unser lop mêrt sîne sunde, / wan er uns materge gît / grôzer lüge zaller zît. 57 sie die kindlichen Gemüter bilden. Wer es nicht besser versteht, der kann sich daran auch ein Vorbild nehmen. Dasselbe soll ein Mensch tun, der tiefe Gedanken nicht verstehen kann. Der soll die âventiure lesen und es dabei genügen lassen, da er darin auch etwas findet, das seine Sinneskräfte etwas verbessert. Wenn er aber etwas weiter blicken kann, so soll er nicht den ganzen Tag mit dem Gang der Geschichte verschwenden, sondern der Lehre des Anstands, des vernünftigen Denkens und der Wahrheit folgeleisten. Die Geschichten sind meist in sehr schöne Lügen gekleidet. Die Lüge ist die Krone ihrer Zier. Ich schelte die Geschichten nicht - auch wenn wir dem Rat der âventiure folgend lügen müssen - denn sie hat eine tiefere Bedeutung des Anstands und der Wahrheit. Das Wahre verkleidet man mit der Lüge. Eine hölzerne Figur ist kein Mensch; wer aber auch nur einen Funken Verstandes besitzt, wird wohl einsehen, dass sie einen Menschen bedeuten soll. Sind die Geschichten auch nicht wahr; so sprechen sie häufig doch aus, was jeder Mensch tun muss, der rechtschaffen leben will. Deshalb will ich all denen danken, die uns viele Geschichten ins Deutsche übersetzt haben. Eine gute Geschichte fördert anständiges Betragen. Doch wäre ich ihnen noch dankbarer, wenn sie etwas gedichtet hätten, das völlig ohne Lüge wäre; dann hätten sie noch größeren Ruhm.“ Vgl. auch die Textauszüge nach der Vorlage von Eva Willms, in: Thomasin von Zerklaere: Der welsche Gast, ausgew., eingeleitet, übers. und mit Anm. vers. von Eva Willms (Hg.), Berlin 2004. 56 Ebd., V. 3525-3534; „Und haben wir auch unserem Namen mühevoll zu großem Ansehen verholfen, so hilft uns doch unser Name nichts, da wir trotzdem dorthin fahren müssen, wo auch die anderen hingefahren sind. Dem Vater folgen die Kinder, jeder seinem Handeln gemäß, ob sie Recht oder Unrecht getan haben. Dort, wohin sie gehen müssen, hilft ihnen ihr Name überhaupt nichts.“ 57 Ebd., V. 3535-3544; „Seht, Artus war sehr bekannt und wird auch heute noch oft genannt. Doch sage mir, was hilft ihm das? Ein Vaterunser wäre besser für ihn. Er kann auf unser Lob sehr gut verzichten, wenn er in Gottes Huld ist. Sollte er sich aber in der Hölle befinden, Freimut Löser 276 Dichtung ist Lüge. Diese Position teilt Thomasin mit Vielen, etwa mit Hugo von Trimberg, der in diesem Zusammenhang auch gleich noch einen Seitenhieb auf die geblümte Rhetorik los wird: Meister Cuonrât ist an worten schoene, / Diu er gar verre hât gewehselt / Und von latîn alsô gedrehselt, / Daz lützel leien si vernement: / An tiutschen buochen diu niht zement. / Swer tihten wil, der tihte alsô / Daz weder ze nider noch ze hô / Sînes sinnes flüge daz mittel halten, / Sô wirt er wert beide jungen und alten. / Swaz der mensche niht verstêt, / Trâge ez im in diu ôren gêt: / Des hoere ich manigen tôren vernihten / Meister Cuonrâdes meisterlîchez tihten, / Ich hoere aber sîn getihte selten / Wol gelêrte pfaffen schelten. / Swer gar sich flîzet an seltsên rîm, / Der wil ouch, sînes sinnes lîm / Ûzen an schoenen worten klebe / Und lützel nutzes dâr inne swebe. / Alsô sint bekant durch tiutschiu lant / Êrec, Îwan und Tristrant, / Künic Ruother und her Parcifâl, / Wigalois, der grôzen schal / Hât bejaget und hôhen prîs: / Swer des geloubt, der is unwîs. / Swer reden und ouch swîgen kann / Ze rehte, der ist ein wîse man. / Mit sünden er sîn houbet toubt / Swer tihtet, des man niht geloubt. 58 Wenn alle Dichtung Lüge ist, wenn gleichzeitig der Wahrheitsanspruch besteht, wenn hinter der Dichtung der Sprache die göttliche Wahrheit steht, wenn jede sprachliche Äußerung nur zeichenhaft ist, wenn diese Zeichen von der Wahrheit abhalten, wenn Dichtung immer nur Nachdichtung ist, dann ist jeder Dichter ein Lügner. Aber er kann es sich vor dem Gericht (des Lesers übrigens) leicht machen, so wie der Pfaffe Lamprecht in seinem ‚Alexanderlied‘. Diz lît, daz wir hî wurchen, / daz sult ir rehte merchen. / sîn gevûge ist vil reht. / Iz tihte der phaffe Lambret. / Er tâte uns gerne ze mâre, / wer Alexander wâre. / Alexander was ein wîse man, / vil manec rîche er gewan, / er zestôrte vil manec lant. / Philippus was sîn vater genant. / Diz mugit ir wol hôren / in libro Machabeorum. / Alberich von Bisinzo / der brâhte uns diz lît zû. / er hetez in walhisken getihtet. / Nû sol ich es euh in dûtisken berihten. / Nîman inschulde sîn mich: / louc er, sô leuge ich. 59 vergrößern wir seine Sünden nur mit unserem Lob, da er uns zu aller Zeit Stoff gibt, viel zu lügen.“ 58 Hugo von Trimberg: Der Renner, hrsg. von Gustav Ehrismann, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Band I, Berlin 1970, V. 1202-1230; „Meister Konrad verwendet sehr zierreiche Wörter, die er von weit hergeholt und so aus dem Lateinischen gedrechselt hat, dass die, die des Lateinischen nicht kundig sind, sie nicht verstehen. Solche Worte gehören sich nicht für deutsche Bücher. Wer dichten will, der dichte so, dass die Flüge seiner Meinung - weder zu hoch noch zu niedrig - ein mittleres Maß einhalten. So wird er sowohl von jungem als auch von altem Publikum geschätzt. Was der Mensch nicht versteht, dringt ihm nur träge in die Ohren ein. Deshalb höre ich oft so manchen Toren das meisterliche Dichten Konrads vernichten. Nie aber höre ich, dass Gelehrte seine Dichtung rügen. Wer sich mit seltsamen Reimen befleißigt, der will auch, dass der Leim seines Gedankens außen an schönen Worten klebe und man sonst keinen Nutzen davon habe. Deshalb kennt man in allen deutschen Landen Erec, Iwein, Tristan, König Rother, Herrn Parzival und Wigalois, der großen Applaus und viel Lob geerntet hat. Wer so etwas glaubt, der ist töricht. Wer reden, aber auch schweigen kann, wahrlich, der ist ein weiser Mann. Derjenige macht sich mit Sünden blind und taub, der Dinge dichtet, die man nicht glaubt.“ 59 „Das Lied, das wir hier machen, dem sollt ihr aufmerksam folgen. Es ist in eine gute Form gebracht. Gedichtet hat es Lambrecht, ein Geistlicher. Er wollte uns kundtun, wer Alexander war. Alexander war ein kluger Mann. Viele Reiche hat er erobert, er zerstörte viele Länder. Sein Vater hieß Philipp. Das könnt ihr aus dem Buch der Makkabäer erfahren. Von Alberic von Pisancon haben wir dieses Lied. Er hat es auf Französisch gedichtet. Nun will ich es euch auf Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 277 Relativ einfach gestrickt und unter einem ersten oberflächlichen Aspekt gesehen, meint dies schlicht die Abhängigkeit von den Vorlagen. Jede Dichtung - auch die historische, auch die der Geschichtsschreiber - kann, heißt das, nicht mehr bieten als ihre literarische Vorlage: Fact is Fiction. Aber es gib noch eine weitere Stufe der Beziehungen: Fast wörtlich begegnet uns die gleiche Passage hier: Von Bisenze meister Albrich, / der brâhte ein rede an mich / ûz wälscher zungen. / die hân ich des betwungen, / daz man sie in tiutschen vernimet, / swenne kurzwîle gezimet. / nieman der enschelte mich: / louc er mir, sô liuge ouch ich. 60 Dies ist nun nicht des Pfaffen Lambrecht ‚Alexanderlied‘, sondern der Prolog eines Artusromans: ‚Daniel von dem blühenden Tal‘ des Stricker. Der zitiert die Lamprechtsche Berufung auf Alberic (wörtlich) - louc er mir, sô liuge ouch ich - erfindet schön gelogen eine Quelle für seinen vorlagenlosen, wirklich erfundenen Roman und legt dessen fiktiven Charakter von Anfang an offen: „Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte, die eine Lügengeschichte ist.“ Des Strickers Lügengeschichte ist damit mehr als doppelbödig. Sie ist ein intertextuelles Spiel, deren Wahrheitsanspruch in der Aufdeckung des Spielcharakters der Literatur besteht. Und es ist der Leser, der als Kenner der zitierten Literatur diese Aufdeckung leistet. Wenn alle Dichtung Dichtung über Dichtung und immer nur vermittelt ist − was geschieht, wenn die Vermittlungsinstanzen (Alberic und Chrétien und Kyot und Flegetanis und wie sie alle heißen) ausgeschaltet werden? Es gibt Stellen, wo der Erzähler direkt mit der Erzählung kommuniziert, die sich selbst erzählt. Berühmt ist Wolframs Gespräch mit der Allegorie der Erzählung: ‘Tuot ûf.’ wem? Wer sît ir? / ’ich will inz herze dîn zuo dir.’ / sô gert ir zengem rûme. / ‘waz denne, belîbe ich kûme? / mîn dringen soltu selten klagn: / ich will dir nu von wunder sagn.’ / jâ sît irz, frou âventiure? / wie vert der gehiure? / ich meine den werden Parzivâl. 61 Die Erzählung also begehrt Einlass ins Herz des Erzählers. Der lässt sie ein und bittet sie, doch selbst weiter zu erzählen: lât hœren uns die mære. So erzählt sich im Herzen des Erzählers die Erzählung selbst. Aber kaum hat sie das bei Wolfram getan, wird sie kurze Zeit später zum Material des nächsten intertextuellen Spiels. In Deutsch darbieten. Man kann mich deswegen nicht belangen: denn wenn er nicht die Wahrheit gesagt hat, kann ich es auch nicht.“ Zitat und Übers. bei: Haug, S. 86. 60 „Diese Geschichte stammt aus dem Französischen von Meister Alberic von Pisançon. Ich habe sie bearbeitet, damit man sie auf Deutsch hören kann, wenn Unterhaltung am Platze ist. Niemand soll mir deswegen Vorwürfe machen: hat er mir etwas vorgelogen, so lüge auch ich.“ Zitat und Übers. bei: Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, S. 86. 61 Parzival, IX, 433, 1-9: „‚Macht auf! ‘ Wem? Wer seid ihr? ‚Ich will zu dir in dein Herz.‘ Da wo Ihr hinwollt, ist es aber eng. ‚Was denn, zu wenig Platz für mich! Das kommt doch wahrhaftig nicht oft vor, daß ich mich aufdränge und dir so zum Jammern Anlaß gebe. Ich will dir jetzt von wunderbaren Dingen reden.‘ Ja so, Ihr seid es, Frau Aventiure! Wie geht‘s ihm denn, dem Schönen? Den edlen Parzivâl meine ich.“ Freimut Löser 278 Rudolfs von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ tritt jetzt die Erzählung als Fragestellerin auf: ‚Wer hat mich guoter her gelesen? / Ist es ieman gewesen / Lebende in solicher wise, (2145) / Lob er mich dez mich prise / Es sig man oder wip, / Hab er so getrúwen lip, / Ane vaelsche sol er mich / Lieben, das ist frúntlich, (2150) / Mit suezer sinne stúre: / Ich bin dú Aventúre, / Diu des mit flehelichen sitten / Wil die ere gernden bitten (2155) / Das si mich niht verkeren / Unde minen maister lerin, / Der mich biz her getihtet hat, / Ane spot so wisen rat / Das er mich vollebringe, / Wan ich an in gedinge, (2160) / Sol er min vurspreche wesen, / Er frume mich also gelesen / Das man fúr guot ouch dulde mich. / Ruodolf, nu sprich du mich / Und sage der maere mere von mir. (2165) 62 Der Dichter ist hier nur der Advokat der Erzählung, ihr Fürsprecher (2160f.), der der Erzählung auf deren Wunsch hin Worte verleiht (sprich du mich). Er ist gleichzeitig aber der Herr der Erzählung (mîn meister, 2157), der dabei freilich der Hilfe der Leser bedarf, die diesen Meister lehren; denn er selbst ist ja auch nichts anderes als Leser, den die Erzählung fragt: Wer hat mich guoter her gelesen? In der nächsten Stufe des intertextuellen Spiels ist es da nur konsequent, wenn die Geschichte (das Buch) selbst das Wort ergreift und wenn sie - Rudolf parodierend - in Wirnts von Grafenberg ‚Wigalois‘ sich nun nicht an den Erzähler als Leser, sondern gleich an den lesenden Leser wendet: Wer hât mich guoter ûf getân? / sî ez iemen der mich kan / beidiu lesen und verstên, / der sol genâde an mir begên, / ob iht wandels an mir sî, / daz er mich doch lâze vrî / valscher rede: daz êret in. / ich weiz wol daz ich niene bin / geliutert und gerihtet / noch sô wol getihtet / michn velsche lîhte ein valscher man, / wan sich niemen vor in kann / behüeten wol, swie rehte er tuot. / dehein rede ist sô guot / sine velschen si, daz weiz ich wol. / swaz ich valsches von in dol, / owê, wem sol ich daz klagen? / ich wilz et harte ringe tragen, / mac ich der besten lop bejagen. 63 62 Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens, zitiert nach: Deutsche Texte des Mittelalters, hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk, 2. Aufl., Dublin 1967, V. 2142-2165; „Welcher Gute hat mich bis hierher gelesen? Ist es einer, der am Leben ist, so lobe er mich in einer Art, die mich wirklich preise. Egal, ob Mann oder Frau, er möge so aufrichtig sein, ohne Fälschung an mir Gefallen zu finden, das heißt, freundschaftlich und mit der Lenkung durch reine Gedanken zu handeln. Ich bin die Geschichte; mit Zurückhaltung flehend bitte ich die, die nach Ehre streben, dass sie mich nicht verkehren und meinen Herrn, der mich bisher gedichtet hat, ohne ihn zu verspotten so weisen Rat geben, dass er mich zu Ende bringe. Auf ihn nämlich hoffe ich. Soll er mein Anwalt sein, dann nutzt er mir, wenn ich so vorgetragen werde, dass man mich auch als gut aufnehme. Rudolf, sprich jetzt du mich aus und erzähle noch mehr Erzählungen von mir.“ 63 „Welcher gute Mensch hat mich aufgeschlagen? Ist es jemand, der mich lesen und verstehen kann, so soll er Nachsicht mit mir haben, und wenn etwas Fehlerhaftes an mir ist, mich doch von aller (bewußten) Fälschung freisprechen. Das trägt ihm Ehre ein. Ich weiß wohl, daß ich keineswegs geläutert und ausgearbeitet und nicht so gut gedichtet bin, daß mich ein Verleumder nicht leicht schlechtmachen könnte. Denn vor solchen kann sich niemand schützen, wie gut er auch etwas machen mag. Kein Gedicht ist so gut, daß sie es nicht schlechtmachen könnten. Das ist mir wohl bewußt. Was ich an Schmähungen von ihnen zu erdulden habe, ach, bei wem soll ich mich beklagen? Ich ertrage es aber sehr leicht, wenn mir das Lob der Besten zuteil wird.“ Zitat und Übers. bei: Haug, S. 274f. Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 279 Bleibt ein letzter Blick auf die letzte Erzählinstanz: Den Fälscher selbst, den Täuscher, den Lügner, den Spieler den Erzähler (oder den Autor? ): Nennen wir ihn beim Namen: „Call me - Wolfram.“ In ‚Willehalm‘ bezieht sich Wolfram zu Anfang auf den ‚Parzival‘: Ich Wolfram von Eschenbach, / swaz ich von Parzivâl gesprach, / des sîn âventiure mich wiste, / etslîch man daz priste. / ir was ouch vil, diez smæhten / unde baz ir rede wæhten. 64 Ich, Wolfram von Eschenbach − dieses ‚Ich‘ wird durch die Erzählung definiert (swaz ich von Parzival gesprach). Dies ‚Ich‘ ist nichts als das Medium der Herrin Âventiure (des sîn aventiure mich wîste). Dieses ‚Ich‘ ist abhängig vom Urteil seiner Leser: mancher, sagt er, lobte seinen Roman von Parzival, viele schmähten ihn. Diese Leser sind auch Dichterkollegen, die besser erzählen können wollen. Und dieses ‚Ich‘ lebt vom Weitererzählen: ‚Gönnt mir Gott die Tage, dann erzähle ich jetzt eine neue Geschichte von Liebe und Leid‘. „Ich Wolfram von Eschenbach“− das ist ein Satz, der keinen ‚Autor‘ meint, sondern einen Text im Text. In Wolframs ‚Wilehalm‘ (aus dem Französischen vermittelt vom Auftraggeber Hermann von Thüringen 65 ) wird die Legende des Heiligen Willehalm erzählt. Das Autor-Ich unterstellt sich deshalb Gott, gibt sich inspiriert und wendet sich gegen die Buchgelehrsamkeit: swaz an den buochen stet geschriben, / des bin ich künstelos beliben. / niht anders ich geleret bin: / wan han ich kunst, die git mir sin. / diu helfe diner güete / sende in min gemüete / unlosen sin so wise, / der in dinem namen geprise / einen riter der din nie vergaz. 66 Wie ist diese buchfeindliche Wendung zu erklären? Und wie steht der ‚Autor‘ dazu? Wir treffen Wolfram, der zur Figur seiner selbst wird: Ich bin Wolfram von Eschenbach, / unt kan ein teil mit sange 67 „Ich bin Wolfram von Eschenbach und verstehe durchaus etwas vom Liederdichten.“ Das ist keine Aussage über die historische Figur aus Eschenbach. Das sind Rollen im Text: Nicht mit ‚Minnesingen‘ werden Damen betört, sondern mit ‚Waffenklirren‘; und also ist seine Kunst, sagt Wolfram, keine Buchstabenkunst, denn Schildes ambet ist mîn art. Und meine maere ist nicht unter die Bücher zu rechnen, denn hetens wîp niht für ein smeichen, / ich solt iu fürbaz reichen / an disem mære unkundiu wort, / ich spræche iu d’âventiure vort. / swer des von mir geruoche, / dern zels ze keinem buoche, / ine kan decheinen 64 „Was ich, Wolfram von Eschenbach, von Parzival erzählt habe, so wie mir seine Geschichte bekannt war, haben manche gelobt. Es gab aber auch viele, die es tadelten und ihre Worte zierlicher setzen.“ Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch. Text der Ausgabe von Werner Schröder, Übertragung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, 3. Auflage, Berlin, New York 2003, I, 4, 19-24. 65 Ebd., I, 3, 8-11; „Lantgrave von Duringen Herman / tet mir diz mære von im bekant. / er ist en franzoys genant / kuns Gwillams de Orangis.“(„Landgraf Hermann von Thüringen machte mich mit seiner Geschichte bekannt. Auf französisch heißt er Comte Guillaume d’Orange.“) 66 Ebd., I, 2, 19-27; „Ich bin nur insofern gelehrt, als meine Einsicht mir Wissen verleiht. Deine gnadenreiche Hilfe senke in mein Herz so ernste, fromme Einsicht, die in Deinem Namen einen Ritter besinge, der Dich nie vergaß.“ 67 Parzival II, 114, 13f. Freimut Löser 280 buochstap. / dâ nement genuoge ir urhap: / […] / ê man si hete für ein buoch / ich wær ê nacket âne tuoch. 68 Und so (nicht nacket âne tuoch) hat man Wolfram denn auch im Mittelalter gesehen: Die bildlichen Darstellungen sind nicht der Person des Autors gewidmet, sondern dem Bild der Figur Wolframs in den Texten. In der berühmten großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse; Abb. 7) figuriert er im fiktiven ‚Wartburgkrieg‘, wo er mit andern Minnesängern den berühmten - fiktiven − Gesangswettstreit ausführt (Quelle noch für Richard Wagners ‚Meistersinger‘) und einfach nur als ‚Bild zum Text‘: „Ich bin Wolfram von Eschenbach und kan ein teil mit sange.“ Ebenfalls im Codex Manesse vor den Minneliedern Wolframs und geradezu als Kontrastprogramm dazu aber wird Wolframs Aussage Schildes ambet ist mîn art zur Vorlage des Autorbildes (Abb. 8). So gibt es schon zwei ‚Wolfram‘. Und dann muss dem angeblich buchfeindlichen Wolfram (ine kan decheinen buochstap) ausgerechnet das passieren: In der Fortsetzung seines Fragment gebliebenen ‚Willehalm‘ durch den schwäbischen Dichter aus Buttenwiesen (auch in Augsburg tätig) Ulrich von Türheim wird er ausgerechnet als Buchgelehrter dargestellt (Abb. 9) und der Türheimer sagt von ihm: Hey, künstericher Wolfram! / daz nit dem sůzen got gezam, / do er nit langer solte leben, / daz mir wær sin kunst gegeben. 69 Freilich will Ulrich (Hartmanns Iwein-Prolog fast wörtlich zitierend) doch nicht Wolfram sein: ich von Turheim Ulrich / wölte niht er sin gewesen. / er ist tot und ich genesen. 70 Der Autor - und das setzen interessanter Weise gerade die Bilder ins Bild - ist mitnichten der Schöpfer des Textes, er ist eine Textinstanz, eine Textstelle, ein Wort von vielen Wörtern. In der Münchner Willehalm-Handschrift ist dies wörtlich zunehmen. Sie verleiht der Stimme des Erzählers den - vielgestaltigen - Körper Wolframs, der zwischen seinem Helden Willehalm und dessen feindlicher Schwester vermittelt, oder der Willehalm an das gleichzeitige Schicksal seiner belagerten Gattin erinnert. Und so wird im Bild der Erzähler in der Erzählung, deren Fäden er zusammenhält, zwischen seinem Personal förmlich zerrissen oder so ‚verknotet‘ wie seine Erzählung (Abb. 10). Ein kurzes Fazit: Fast alle Parameter der postmodernen Erzählung finden sich im Mittelalter. Freilich: Bei einzelnen Autoren durchaus unterschiedlich. Es gibt schon 68 Ebd., II, 115, 21-116, 4.; „Wenn ich mich um die Liebe einer rechten Frau bemühe, so muß ich mir den Lohn der Liebe mit Schild und Speer verdienen; ob ich das kann oder nicht, danach soll sie ihre Gunst bemessen. Mit hohem Einsatz und mit Risiko spielt doch der, der in der Ritterschaft nach Liebe zielt. […] Und ehe man ihn mit einem Buch verwechselt, wollte ich noch lieber ganz nackt bleiben, ohne Tuch, so wie ich in der Wanne sitze - bloß ein Feigenblatt, etwa den Badewedel, müßte ich natürlich haben.“ 69 Schweikle, S. 52; „Ach, hochgelehrter Wolfram! Dass es dem lieben Gott nicht gefallen hat, ihn länger leben zu lassen. Wenn doch mir seine Kunst gegeben wäre! “. 70 Ebd.; „Ich, Ulrich von Türheim, hätte nicht er sein wollen. Denn er ist tot und ich bin am Leben.“ Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 281 dort Erzähler, die ‚postmoderner‘ sind als andere. Gewissermaßen aus der Zeit gefallen. Aber wenn dies so ist: Ist dann ‚postmodern‘ ein Epochensignum, oder bezeichnet es nicht, wie Umberto Eco behauptet, eher einen zeitunabhängigen Typus des Erzählens? Der schiene mir dann aber mit Ecos Terminus Manierismus eher unzureichend bezeichnet. Wir haben es mit einer Form von mittelalterlich/ postmodernem Erzählen zu tun, das seinen eigenen Fiktionalitätschar akter offenbart und das Spielerische der intertextuellen Möglichkeiten ebenso auslotet wie die Möglichkeiten multiplen und multipolaren Erzählens. Fast alle postmodernen Merkmale finden sich auch bei deutschen mittelalterlichen Erzählern. Zwei allerdings kann ich so nicht sehen: Lyotards Erzählung vom Ende der großen Erzählungen und die These, dass das sprachliche Zeichen nicht über eben dieses sprachliche Zeichen hinaus verweist. Nun allerdings würde ich mich - stutzig geworden - dann doch fragen, ob eigentlich das tatsächlich die Kennzeichen der Postmoderne sind? Leben wir in einer Zeit, in der die grands récits keine Geltung mehr haben oder haben wir ihnen in den 70er/ 80er Jahren ‚back in the good old years of Postmodernism‘ nur ihre Geltung abgesprochen? Und konstituieren wir in unseren Sprachspielen nicht doch Bedeutung jenseits der Spiele? Und wenn es nur die wäre, Spiele als Spiele zu erkennen? Anhang: Abbildungen Abb. 1 Abb. 2 Freimut Löser 282 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 283 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 6 Abb. 7 Freimut Löser 284 Abbildungsverzeichnis Alle Abbildungen aus Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr und Barbara Nitsche (Hg.), Autorbilder. Zur literarischen Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2007. Abb. 1: Ebd., Abb. 33: Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie, Paris, BN, ms. fr. 782 (ca. 1330/ 40), fol. 4 v . Abb. 2: Ebd., Abb. 31: Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie, Paris, BN, ms. fr. 782 (ca. 1330/ 40), fol. 1 r . Abb. 3: Ebd., Abb. 32: Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie, Paris, BN, ms. fr. 782 (ca. 1330/ 40), fol. 2 v . Abb. 4 : Ebd., Abb. 34: Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie, Vatikan, BAV, Reg. Lat. 1505 (Ende 13./ Anfang 14. Jhd.), fol. 232v. Abb. 5: Ebd., Abb. 5: Lancelot en prose, Manchester, The John Rylands Library, French MS I, vol. 2 (um 1315), fol. 212 r . Abb. 6: Ebd., Abb. 55: Lancelot en prose, Paris, BN, ms. fr. 342 (dat. 1274), fol. 150 r . Abb. 7: Ebd., Abb. 101: Manessische Liederhandschrift, Heidelberg, UB, Cpg 848 (1. Hälfte 14. Jhd.), fol. 219 v (Ausschnitt). Abb. 8: Ebd., Abb. 100: Manessische Liederhandschrift, Heidelberg, UB, Cpg 848 (1. Hälfte 14. Jhd.), fol. 149 v . Abb. 9: Ebd., Abb. 99: Ulrich von Türheim, Rennewart, Wien, ÖNB, Cod. Ser. Nova 2643 (dat. 1387), fol. 313 r (Ausschnitt). Abb. 10: Ebd., Abb. 29: Wolfram von Eschenbach, Willehalm, München, BSB, Cgm 193, III (um 1270/ 75), fol. 1 r (Ausschnitt). Abb. 10 Postmodernes Mittelalter? (Un)arten des Erzählens und ihre Theorie(n) 285 Literaturverzeichnis Mittelalterliche Quellen Chrétien de Troyes: Erec et Enide, Erec und Enide. Herausgegeben und übersetzt von Albert Gier, Stuttgart 1987. Ders.: Yvain. Übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, Bd. II), München 1983. Frauenlob: Newman, Barbara: Frauenlob's Song of Songs. A Medieval German Poet and his Masterpiece. University Park, Pa., 2007. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde., Stuttgart 1993. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Auflage von G.F. Benecke, K. Lachmann u. L. Wolff, Übersetzung u. Nachwort von Thomas Cramer, Berlin 2001. Heinrich von Mügeln: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21, herausgegeben von Karl Stackmann, 3 Teilbände (Deutsche Texte des Mittelalters 50-52), Berlin 1959. Hugo von Trimberg: Der Renner. Herausgegeben von Gustav Ehrismann, mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Bd. I, Berlin 1970. Lancelot. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Herausgegeben von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. Allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l'Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff, Band I, Frankfurt am Main 1995. Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Zitiert nach: Deutsche Texte des Mittelalters. Herausgegeben aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk, Dublin 2 1967. Thomasin von Zirclaria: Der wälsche Gast. Texte des Mittelalters. Herausgegeben von Heinrich Rückert, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965. Thomasin von Zerklaere: Der welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms, Berlin 2004. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann und der Übersetzung nach Peter Knecht, Berlin/ New York 2003. Ders.: Willehalm. Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übertragung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, Berlin/ New York 3 2003. Postmoderne und Forschungsliteratur Barth, John: Lost in the Funhouse. New York 7 1969. Ders.: „The Literature of Exhaustion“. In: The Atlantic 220 (1967), S. 29-34. Ders.: „The Literature of Replenishment“. In: Essentials of the Theory of Fiction, hrsg. von Michael J. Hoffmann u. Patrick D. Murphy, Durham 1988. S. 165-176. Barthes, Roland: Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. Caupert, Christina: „‘Unstuck in Time‘: Postmodernist Elements in pre-modern Literature“. In: Redefining Modernism and Postmodernism, hrsg. von Şebnem Toplu u. Hubert Zapf, Newcastle upon Tyne 2010. S. 292-303. Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Berlin 2009. Freimut Löser 286 De Man, Paul: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven 1979. Eco, Umberto: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘. München/ Wien, 2 1984. Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 2 1992. Henke, Christoph: „Diskursanalyse und Literatur: Michel Foucaults Anti-Hermeneutik“. In: Theorien der Literatur, Bd. 2, hrsg. von Hans-Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Tübingen 2005. S. 243-260. Hoffmann, Gerhard (Hg.): Der zeitgenössische amerikanische Roman. Bd. 1-2., München 1988. Kapfhammer, Gerald, Wolf-Dietrich Löhr und Barbara Nitsche (Hgg.): Autorbilder. Zur literarischen Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Münster 2007. Knapp, Fritz Peter: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort. Heidelberg 1997. Ders.: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort. Heidelberg 2005. Ders. und Manuela Niesner (Hgg.): Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Berlin 2002. Redling, Erik: „Jacques Lacan: Psychoanalyse und Aspekte der Schrift“. In: Theorien der Literatur, Bd. 2, hrsg. von Hans-Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Tübingen 2005. S. 261-276. Rettelbach, Johannes: „Abgefeimte Kunst: Frauenlobs Selbstrühmung“. In: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Kolloquium 1991, hrsg. von Cyril Edwards u.a., Tübingen 1996. S. 177-193. Schweikle, Günther (Hg.): Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur (Deutsche Texte 12). Tübingen 1970. Zapf, Hubert: „Postmoderne Literaturtheorie. Grundlagen und Perspektiven“. In: Theorien der Literatur, Bd. 2, hrsg. von Hans-Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Tübingen 2005. S. 205- 224. Internetquellen http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Postmoderne; aufgerufen am 22.01.2010. http: / / wikipedia.org/ wiki/ Postmoderner_Roman; aufgerufen am 22.01.2010. Beiträgerinnen und Beiträger Winfried Fluck ist Professor für amerikanische Kultur am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin und Direktor der Graduiertenschule des Instituts. Wichtigste Publikationen: Ästhetische Theorie und literaturwissenschaftliche Methode. Eine Untersuchung ihres Zusammenhangs am Beispiel der amerikanischen Huck Finn- Kritik (1975); Populäre Kultur (1979); Theorien amerikanischer Literatur (1987); Inszenierte Wirklichkeit. Der amerikanische Realismus 1865-1900 (1991); Das kulturelle Imaginäre: Funktionswandel des amerikanischen Romans (1997); Romance with America? Essays on Culture, Literature, and American Studies (2009). Arbeitsgebiete: Amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte, Populärkultur, Kulturtheorien. winfried.fluck@fu-berlin.de Hans Vilmar Geppert, Studium, Promotion und Habilitation in Tübingen. 1984 bis 2006 Inhaber des Lehrstuhls „Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Vergleichende Literaturwissenschaft“ in Augsburg. Wichtigste Publikationen: Der „andere“ historische Roman (Tübingen 1976), Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“ (Tübingen 1979), Hg. Große Werke der Literatur Bd. 1ff. (Tübingen und Basel 1990ff.), Der realistische Weg (Tübingen 1994), Hg. Theorien der Literatur Bd. 1ff. (Tübingen und Basel 2003-2009), Literatur im Mediendialog (München 2007), Der historische Roman. Traditionen, Strukturen, Vergleiche (Tübingen und Basel 2009), Aufsätze zum deutschen, englischen, französischen Roman des 19. Und 20. Jahrhunderts, zu Literatur und Medien, Literatur und Werbung, Literatursemiotik, wiederholt zu Brechts Lyrik. Dieter Götz war von 1981 bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Sprachwissenschaft (Anglistik) an der Universität Augsburg und Leiter des Sprachenzentrums der Universität. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit waren Kontrastive Linguistik, Syntax und Idiomatik des Englischen, Konversationsanalyse, Übersetzung, Hochschulunterricht und Lexikographie. Er ist unter anderem Mit- Autor und Mitherausgeber von Thomas Herbst/ David Heath/ Ian Roe/ Dieter Götz: A Valency Dictionary of English. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter 2004, des Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache und des Power Wörterbuch Deutsch (beide Langenscheidt). Renate Lachmann ist emeritierte Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Slavische Literaturen an der Universität Konstanz, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Forschungsgebiete: Memoria, Intertextualität, Rhetorik, Phantastik, Bachtin-Rezeption. Publikationen dazu: Gedächtnis und Literatur, Frankfurt/ M 1990; Die Zerstörunmg der schönen Rede, München 1993; Erzählte Phantastik, Frankfurt/ M 2002, Rhetorik als kulturelle Praxis (zus. mit S. Strätling, R. Nicolosi), München 2006. 288 Freimut Löser ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Als Mittelaltergermanist war er Mitglied der „Würzburger Forschergruppe für geistliche Prosa des deutschen Mittelalters“ (Edition der ‚Rechtssumme‘ Bruder Bertholds), Mitarbeiter der kritischen Ausgabe der Werke Meister Eckharts an der Universität Eichstätt, Leiter der Forschungsstelle „Repertorium der deutschsprachigen geistlichen Literatur des Mittelalters in Ostmitteleuropa“ (Universität Heidelberg) und zuletzt Mitglied der Forschergruppe „Bild des Krieges“ in Würzburg. In den Jahren 1994-1998 als Hochschulassistent in der Amerikanistik tätig, hat er auch mehrere Semester in den USA (University of Texas at Austin; State University of New York, Albany) unterrichtet. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Editionspraxis und -theorie („New Philology und Überlieferungsgeschichte“); mittelalterliche geistliche Prosa (Meister Eckhart, Johannes Tauler, deutsche ‚Mystik‘ allgemein; „österreichischer Bibelübersetzer“; Werke aus dem Deutschen Orden); Minnesang und Sangspruchdichtung (Walther von der Vogelweide); regionale Ansätze der Literaturgeschichtsschreibung; Augsburger Literatur im Mittelalter. Wichtigste Publikationen auf der Homepage der Universität Augsburg. Gerhard Plumpe ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Arbeitsgebieten zählen Ästhetik und Literaturtheorie, die Geschichte der Literatur des „langen“ 19. Jahrhunderts sowie das Wechselverhältnis von Literatur und Medien. Wichtigste Veröffentlichungen: Der tote Blick (1990); Ästhetische Kommunikation der Moderne. 2 Bde (1993); Epochen moderner Literatur (1995); Realismus und Gründerzeit (1996). Erik Redling, Vertretungsprofessor für Amerikanistik an der Martin-Luther- Universität Halle-Wittenberg, studierte Amerikanistik und Geschichte an der Universität Augsburg und an der North Carolina State University und promovierte 2003 im Fach Amerikanistik über das Thema „Speaking of Dialect“: Translating Charles W. Chesnutt’s Conjure Tales Into Postmodern Systems of Signification. Seine Habilitationsschrift From Mimesis to Metaphor: Intermedial Translations in Jazz Poetry wurde 2009 von der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg angenommen. Er hat mehrere Aufsätze zu theorieorientierten Themen wie Kulturökologie, Life Writing, Blending Theory und Narratologie veröffentlicht. Sein derzeitiges Forschungsinteresse gilt der Ausstrahlung der Aufklärung in der amerikanischen Literatur der Moderne des 20. Jahrhunderts. Katja Sarkowsky, seit 2008 Juniorprofessorin für Neue Englische Literaturen und Kulturwissenschaft an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Literaturen ethnischer Minoritäten in Kanada und den USA, Kulturtheorie, Postkoloniale Theorie, Citizenship Studies. Veröffentlichungen: AlterNative Spaces: Constructions of Space in Native American and First Nations‘ Literatures, 2007; Travelling Concepts: Negotiating Diversity in Canada and Europe, 2010, hrsg. mit C.Lammert; Geschlechterverhältnisse und Beiträgerinnen und Beiträger Beiträgerinnen und Beiträger 289 Öffentlichkeiten. Erfahrungen, Politiken, Subjekte, 2005, hrsg. mit Susanne Lettow und Ulrike Manz. Marion Schmaus, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Literarische Ethik, Literatur und Philosophie/ Wissen, Intermedialität. Veröffentlichungen: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault, Tübingen 2000; (Hg. mit Werner Frick u.a.) Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne, Tübingen 2003; Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936), Tübingen 2009. Kaspar H. Spinner, Studium in Zürich und Berlin, Promotion bei Emil Staiger, 1968-1972 Assistent an der Universität Genf, 1972-1979 (Assistenz-)Professor an der Gesamthochschule Kassel, 1980-1988 Professor an der RWTH Aachen, 1988- 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Wichtigste Publikationen: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I (4. Aufl. 2000); Kreativer Deutschunterricht. Identität - Imagination - Kognition (2001); Hg. SynÄsthetische Bildung in der Grundschule (2002); Hg. Lesekompetenz erwerben, Literatur erfahren (2006); Hg. Augsburger Studien zur Deutschdidaktik (seit 1998). Lothar van Laak, Privatdozent und Akademischer Oberrat an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft. Veröffentlichungen: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. Und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003; (Hg., mit Susanne Kaul) Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007; Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht - Uwe Johnson - Lars von Trier, München 2009; (Hg., mit Katja Malsch) Literaturwissenschaft - interdisziplinär, Heidelberg 2010; (Hg., mit Walter Erhart) Wissen - Erzählen - Tradition. Wielands Spätwerk, Berlin 2010. Klaus Vogelgsang, Akademischer Rat für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Jahrgang 1972, Studium der Germanistik, Latinistik und Theologie, Magister Artium 1996 mit einer grammatischen Untersuchung zu älteren germanischen Bibelübersetzungen, Promotion 2004 mit einem philologischen Kommentar zum „Alsfelder Passionsspiel“. Arbeit in altgermanistischem Editionsprojekt, dramaturgische Tätigkeit am Theater Augsburg, akademische Lehre; Aufsätze und Vorträge u.a. zur Literatur im Deutschen Orden und zur Enzyklopädistik. Jörg Wesche, Studium der Biologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Göttingen, nach der Promotion Koordinator am Göttinger ‚Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung‘, später wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere 290 deutsche Literaturwissenschaft in Augsburg und Gastwissenschaftler an der Harvard Universität (USA), seit der Habilitation Professur-Vertretungen in Erlangen- Nürnberg, Augsburg und Duisburg-Essen. Bücher (in Auswahl): Der Vers im Drama. Studien zur Theorie und Verwendung im deutschsprachigen Sprechtheater des 20. und 21. Jahrhunderts. Typoskript: Augsburg 2009; Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004; Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hg. mit Kai Bremer und Fabian Lampart. Freiburg i. Br. 2007; Texte zu modernen Mythentheorien. Hg. mit Wilfried Barner und Anke Detken. Stuttgart 2003; Aufsätze zur Literatur der Frühen Neuzeit und Moderne. Saskia Wiedner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: französischer Existentialismus, französischer Roman im 20./ 21. Jahrhundert, jüdische Literatur und Kultur im Frankreich des 20. Jahrhunderts, Autobiographie und Theorie der Autobiographie, politische Theologie und Strategien der Herrschaftslegitimation in der französischen Literatur und Bildpublizistik des 17. Jahrhunderts, kulturelle Transferprozesse und Nationbildung im 18./ 19. Jahrhundert in Italien und Frankreich. Veröffentlichungen: Die Konzeption der „situation“ in den Romanen Simone de Beauvoirs 1943-1954, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009; Contacts: Le désir du canon. L’esthétique de la citation dans le roman français / francophone post-soixante-huitard. / Dossier der Zeitschrift Lendemains, 32 - 126/ 127 Tübingen: Verlag Gunter Narr 2007 (hrsg. mit Till R. Kuhnle); Orient lointain - proche Orient. La présence d’Israël dans la littérature francophone, Tübingen: Verlag Gunter Narr (Lendemains 15), 2011 (hrsg. mit Till R. Kuhnle und Carmen Oszi); Aufsätze zur französischsprachigen und italienischen Literatur; Artikel in literatur- und kulturwissenschaftlichen Lexika. Beiträgerinnen und Beiträger Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG SEPTEMBER 2010 JETZT BESTELLEN! Joseph P. Strelka Dichter als Boten der Menschlichkeit Literarische Leuchttürme im Chaos des Nebels unserer Zeit Edition Patmos, Band 14 2010, 397 Seiten, €[D] 49,00/ SFr 69,50 ISBN 978-3-7720-8386-0 Chaos, Krise, keine Hoffnung? Das vorliegende Buch spannt einen weiten literarischen Bogen von Mississippi bis Moskau, von Beijing bis Kairo, von Dublin bis Lagos: Der angesehene Literaturwissenschafter Joseph P. Strelka untersucht Spitzenromane von 21 Autoren der jüngeren Weltliteratur. Seine einfühlsamen Analysen zeigen, wie unsere Zeit der Krise, des Wertzerfalls und des Niedergangs die beispielhaft ausgewählten Romane in Hinblick auf Inhalt, Form und Gestaltung beeinflusst hat. Aber aus Chaos und chaotischen Scheinordnungen erheben sich auch immer wieder faszinierende „Leuchttürme“ eines globalen Humanismus, Ordnung stiftende Wunder reinster Menschlichkeit. Joseph P. Strelka, Jahrgang 1927, lehrte deutsche und vergleichende Literaturwissenschaften an verschiedenen Universitäten in Europa, Südafrika und den USA und ist einer der bekanntesten Literaturwissenschaftler seiner Zeit. 081310 Auslieferung September 2010.indd 22 14.09.10 19: 48 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG MÄRZ 2011 JETZT BESTELLEN! Hans Vilmar Geppert Bert Brechts Lyrik Außenansichten 2011, 168 Seiten €[D] 29,90/ SFr 43,90 ISBN 978-3-7720-8404-1 „Dauerten wir unendlich / so wandelte sich alles Da wir aber endlich sind / Bleibt vieles beim alten.“ Der skeptische und nachdenkliche Lyriker Bert Brecht ist Gegenstand dieses Buches, das aus öffentlichen Vorträgen an der Universität Augsburg hervorgegangen ist. Es geht also vor allem um den Dichter, der wesentlich erst durch seinen Nachlass bekannt wurde und sich seit dem Exil immer wieder fragte: „Warum soll mein Name genannt werden? “ Aber Skepsis bedeutete für Brecht auch kreativen Möglichkeitssinn, bedeutete vor allem ein Bekenntnis zur immer erneuerten Freiheit der Ästhetik, unlösbar verbunden mit unbedingtem sozialem und politischem Engagement. Obwohl „wir endlich sind“, können wir einiges verändern, auch als Dichter, auch und gerade in Schwierigen Zeiten. Außenansichten bedeutet hier, dass aus bewusst verschiedenen und durchaus auch fremden methodischen Perspektiven ausgewählte Stationen in Bert Brechts Lyrik betrachtet werden: das Lesebuch für Städtebewohner im Kontext verschiedener Medien, die Lyrik seit dem Exil im Hinblick auf die Logik ihrer „Wenn“- Sätze, die Sprache der „Chiffren“ in Brechts Lyrik, der Ort dieser Lyrik in der Tradition der europäischen Moderne: von Baudelaire und Rimbaud zu Ungaretti oder Celan, die spezifische Kreativität der Dialektik in Brechts Gedichten oder etwa die Kontinuität der Argumentation im späten Gedicht-Zyklus der Buckower Elegien. 021911 Auslieferung März 2011.indd 8 04.03.11 17: 31 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Unter welchen Voraussetzungen kann man von „dem“ Historischen Roman sprechen? Und was macht diese Hybride aus Fiktionen und Fakten so vital? Können verschiedene Literaturen einander fruchtbar wechselseitig interpretieren? Wie modern war schon das 19. Jahrhundert, wie traditionell und wieder realistisch sind Moderne und Postmoderne? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Anspruch und Unterhaltung, Bestsellern und „großer“ Literatur? Im Mittelpunkt dieser transnational angeleg ten Gattungsgeschichte stehen Einzelporträts von zahlreichen Romanen der deutschen, englisch-amerikanischen und französischen Literatur. Dazu kommen Quer- und Längsschnitte durch literarische Felder und Traditionen. Der gesuchten Vielfalt der Aspekte entgegen steht die systematisch orientierte, zugleich viele weitere Beispiele erschließende Skizze einer Poetik des historischen Romans, seiner paradoxen Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort. Hans Vilmar Geppert Der Historische Roman Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart 2009, VIII, 434 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-7720-8325-9 085509 Auslieferung September 2009.indd 21 15.09.09 09: 00