eBooks

Dichter als Boten der Menschlichkeit

2010
978-3-7720-5386-3
A. Francke Verlag 
Joseph P. Strelka

Chaos, Krise, keine Hoffnung? Das vorliegende Buch spannt einen weiten literarischen Bogen von Mississippi bis Moskau,von Beijing bis Kairo, von Dublin bis Lagos: Der angesehene Literaturwissenschafter Joseph P. Strelka untersucht Spitzenromane von 21 Autoren der jüngeren Weltliteratur. Seine einfühlsamen Analysen zeigen, wie unsere Zeit der Krise,des Wertzerfalls und des Niedergangs die beispielhaft ausgewählten Romane in Hinblick auf Inhalt, Form und Gestaltung beeinflusst hat. Aber aus Chaos und chaotischen Scheinordnungen erheben sich auch immer wieder faszinierende "Leuchttürme" eines globalen Humanismus, Ordnung stiftende Wunder reinster Menschlichkeit. Joseph P. Strelka, Jahrgang 1927, lehrte deutsche und vergleichende Literaturwissenschaften an verschiedenen Universitäten in Europa, Südafrika und den USA und ist einer der bekanntesten Literaturwissenschaftler seiner Zeit.

E dition Patm os Joseph P. Strelka Dichter als Boten der Menschlichkeit Literarische Leuchttürme im Chaos des Nebels unserer Zeit E dition Patm os Herausgegeben von Joseph P. Strelka Band 14 Joseph P. Strelka Dichter als Boten der Menschlichkeit Literarische Leuchttürme im Chaos des Nebels unserer Zeit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Ich widme dieses Buch dem Andenken meiner Mutter, die mir schon in frühester Kindheit das Verständnis für das Dichterische erschlossen hat und meiner Tochter Sascha, an die ich es weiter zu geben versucht habe. J P S Gefördert vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8386-0 Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“: Von der alten Ordnung zum Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . 31 Hermann Broch und seine Massenwahntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Camus und das Absolute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Faulkner und die mögliche Größe des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit . . . . . . . . . . 125 Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien . . . 143 Hermann Hesses Weg nach innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die tragikomische Hochkunst des James Joyce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit . . . . . . . . . . 281 Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist . . . . . . . . . 297 Pirandello oder der Zerfall des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Inhalt 6 Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung . . . . . . . 333 Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Patrick White und der australische Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Vorwort Der Titel dieses Buches mag etwas anspruchsvoll klingen, weil man natürlich fragen könnte, ob und wie die Produkte dichterischer Imagination und Phantasie wirklich etwas zur Bewußtwerdung der wichtigsten Probleme menschlicher Sozialordnung beitragen könnten. Wenn man jedoch aus der Perspektive des Mediums der hier behandelten Autoren einen Blick auf den Globus wirft, wie dieses Buch ihn enthüllt, dann wird unausweichlich klar, daß wir in einer entsetzlichen und unmenschlichen Zeit leben. Es ist gar nicht anders möglich, als daß gerade jene bedeutenden Autoren direkt oder indirekt unsere Welt aus ihrer Sicht in einer Weise darstellen, durch welche das Chaos und die geheuchelten Scheinordnungen in aller Deutlichkeit sichtbar werden und Richtungen auf Auswege aufscheinen. Gewiß haben Romane kaum jemals direkte praktische gesellschaftliche Folgen bewirkt, doch haben sie für jene, die sie wirklich verstanden, zur Bewußtwerdung der Probleme manches Mal wesentlicher beigetragen als so manche direkten politischen Manifeste, indem sie eben gleichsam wie Leuchttürme ihr Licht und Warnlicht in die Finsternis geworfen haben. In seltenen Fällen war es sogar so, daß Romane auch nachweislich direkte politische Folgen gehabt haben, wie etwa im Fall der beiden Romane Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und Wie Diebe in der Nacht. Obwohl es Farbe, Kraft und Leben des Dichterischen und seiner Imaginationskraft zerstört, durch welche es erst richtig wirkt, ist es möglich, daß jemand in radikaler Simplifizierung abstrakt zusammengefaßt sehen möchte, welcher Art das Licht ist, welches die literarischen Leuchttürme in das Dunkel ausgestrahlt haben. Dann läßt sich sagen, daß sie in zwei verschiedene Grundrichtungen wirkten, die allerdings miteinander zusammenhängen: in die Richtung auf eine Neuordnung des gesamten, zwischenmenschlichen Zusammenlebens und in Richtung auf die Chaosüberwindung durch eine Konzentration auf den einzelnen Menschen, nämlich auf das jeweilige, eigene Ich. In Hinblick auf die Gesamtheit gibt es nur ganz seltene Fälle wie jenen von Hermann Brochs Theorie des Massenwahns, die eine in vieljähriger Arbeit entstandenes, wissenschaftlich preisgekröntes umfangreiche Arbeit darstellt, die eine präzise Analyse der Hauptprobleme des Chaos der Zeit bietet und dazu noch darüber hinaus eine ausgearbeitete „Therapie“, die auf eine Volldemokratie hinausläuft. Aber alle behandelten Autoren haben wie Broch als positives Gesamtziel eine Ordnung mit möglichst viel Spielraum für persönliche Freiheit und vor allem für völlige Geistesfreiheit vor Augen. Zudem geht es aber allen auch um eine Kritik und Verurteilung des jeweiligen Chaos oder der jeweiligen Vorwort 8 Scheinordnung, die auf menschliche, wenn nicht sogar totale Unterdrückung abzielen. Es scheint allerdings so zu sein, daß zumindest die meisten Strahlen des ausgesandten Lichts sich auf jene verläßlichste Art der Weltverbesserung ausgerichtet haben, der es um Selbstveredlung der eigenen Person geht: der Gewissenserweckung des eigenen Bewußtseins, der individuellen Verantwortung des einzelnen, einer verstärkten ethischen Haltung und nicht zuletzt der Erweiterung und Vertiefung jener Schichten des Bewußtseins, welche die tiefsten Schichten des Unterbewußtseins erschließen und die besonders zu mystischen Vorbildern und Einsichten führen. Freilich geht es dabei im Sinne Robert Musils nicht um eine dunkle Schleudermystik zu billigsten Preisen, sondern um eine „taghelle Mystik“, die nicht bereit ist, auch nur einer Handbreit rational errungenen Bodens aufzugeben. Darüber hinaus ist es aber so, daß die größten Tiefenpsychologen, Adler, Freud und Jung, darauf hingewiesen haben, daß und wie wichtigste ihrer wissenschaftlichen Einsichten bereits lange vorher in großen Werken der Weltliteratur vorweg genommen worden sind. Vor allem aber sei darauf hingewiesen, daß in vielen Fällen es einzelne, große Autoren gewesen sind, die als erste durch ihre Kassandra- und Warnrufe dem Abgleiten höchster Ideale in Form des Mißbrauchs, des Bösen, ja des Verbrechens entgegen getreten sind. Das war bereits so, als politische Machtgier und verknöcherte, fundamentalistische Pedanterie aus der wunderbaren Geistigkeit von Christi Bergpredigt heraus die „heilige“ Inquisition entwickelten. Das blieb auch so, als auf säkularem Gebiet die Französische Revolution die grandiose Idee der Menschenrechte dazu benutzte, um ein einziges, ebenso wahnwitziges wie entsetzliches und riesiges Blutbad anzurichten. Und das blieb schließlich auch so, als aus sozialem Mitleid mit dem Elend der Arbeiterschaft schließlich einer der ärgsten und schrecklichsten Unterdrücker-Staaten aller Zeiten entwickelt wurde, das stalinistische Sowjetsystem. Da es sich hier um ein Buch über Literatur handelt, geht es dazu auch noch um die Wechselwirkung, um zu zeigen, wie unsere Zeit der Krise, des Wertzerfalls, des Niedergangs und des Chaos die Romane beeinflußt hat und dies nicht nur in Hinblick auf den Gehalt, sondern auch auf die Gestalt und die Form. Aus diesem Grund handelt es sich weitgehend um moderne Romane im Sinne von nachjoyceschen Romanen, der auf die meisten der behandelten Autoren einen direkten und starken Einfluß ausgeübt hat. Eines der zugleich radikalsten und großartigsten Beispiele dafür ist der Roman Finnegans Wake von Joyce selbst. Er zeigt an der Oberfläche die völlige Aufgebrochenheit und Zerstörung von Welt und Leben und dessen Chaos, sprachkünstlerisch ausgedrückt durch einen Höhepunkt nachbabylonischer Sprachverwirrung, wie er in oft schwer verständlichen Wortneuschöpfungen sichtbar wird, zu deren Bildung er vierzig verschiedene Sprachen herangezogen hat. Zudem ist er in ei- Vorwort 9 ner „Nachtsprache“ geschrieben. Von der Romanstruktur her ist jedoch die alte Guckkastenperspektive des „psychologischen Romans“ des 19. Jahrhunderts durch die Form des modernen Romans völlig aufgebrochen. Der chaotische Niedergang der Zeit zeigt sich aber auf das Deutlichste in dem Umstand, daß der Held des Romans, die neue Version der Nachfolge des großen Helden des alten irischen Mythos die Gestalt eines stotternden Gastwirts in Dublin geworden ist. Die große Kunst von Joyce besteht darin, daß auch hinter den schwer verständlichen Sprachschöpfungen bei genauerem Hinsehen ein Sinn steckt, daß sich die Romanform hinter der Zerschlagung der Guckkastenmanier zu einer streng gefügten, streng symmetrischen Ordnung zusammenschließt und daß hinter dem Oberflächenschein die dahinter verborgene mystische Geistigkeit und große mythische Einheit sichtbar wird, die auf eine mögliche neue Ordnung vorausdeutet. Da es um „unsere Zeit“, und das bedeutet hier die Zeit seit Beginn des 20.- Jahrhunderts, geht, ist als eines der Hauptprobleme der Mißbrauch der geradezu ungeheuren Möglichkeiten moderner Technologie getreten, die eine so vollständige Kontrolle, Überwachung und Durchleuchtung der heimlichsten Freiräume menschlichen Lebens ermöglicht, um alles und jedes in die Öffentlichkeit zu zerren, daß damit eine der radikalsten Unterdrückungen jeglicher Spur von Menschlichkeit gegeben ist. Romane wie Aldous Huxleys Brave New World von 1932, George Orwells 1984 von 1949 und Ray Bradburys Fahrenheit 451 von 1953 gehören zu den berühmtesten Werken des Jahrhunderts, die dem Totalitarismus, von welcher Seite auch immer, durch Bilder radikaler Abschreckung entgegen getreten sind. 1 Huxley hat sich übrigens die Mühe gemacht, Jahrzehnte nach dem Erscheinen seines Romans die Wirklichkeit der inzwischen wieder veränderten Welt mit seiner negativen Utopie von 1932 zu vergleichen. Das Ergebnis fiel nicht gerade tröstlich aus. „Es ist also wahrscheinlich“, schrieb er, „daß alle Regierungen der Welt mehr oder weniger totalitär sein werden, sogar noch vor der industriellen Nutzbarmachung atomistischer Energie; daß sie während und nach solcher Nutzbarmachung totalitär sein werden, ist fast gewiß. Nur eine ganz große, auf Dezentralisierung und Selbsthilfe gerichtete Volksbewegung könnte den gegenwärtigen Zug zur Staatsvollmacht aufhalten. Gegenwärtig ist kein Anzeichen erkennbar, daß es zu einer solchen Bewegung kommen wird.“ 2 1 Vgl. als ergänzendes Sachbuch dazu Friedrich Georg Jüngers Werk Die Perfektion der Technik. Ursprünglich Frankfurt am Main 1953, am besten die stark erweiterte vierte oder eine noch spätere Ausgabe. 2 Hier zitiert nach dem „Vorwort“ zur Neuausgabe von Schöne neue Welt, das aus Huxleys Essayband Dreißig Jahre nachher (Brave New World Revisited) entnommen ist. Schöne neue Welt. Frankfurt am Main 1953, S. 12. Vorwort 10 Unverändert gleich blieb aber natürlich die Forderung eines individualistischen Charakters aus dem Roman, der die verzerrte neue Scheinordnung der völlig „geordneten“ und antlitzlosen Wohlstandsgesellschaft totalitärer Beglückung in drei knappen Sätzen auf den Punkt brachte: „Ich brauche keine Bequemlichkeiten. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde.“ Es gibt interessante Beispiele, die zeigen, weshalb es sich lohnt, den Blick auf Dichter zu richten. Als nach dem Machtantritt Hitlers in Deutschland 1933 in den USA ein Emergency Rescue Committee gegründet wurde, um Politikern und führenden Gewerkschaftsführern, die fliehen würden wollen, finanzielle Hilfe zur Verfügung zu stellen, da ergab es sich, daß die Kalkulation völlig falsch gewesen war. Es gab einen großen Mangel an Interessenten aus den Kreisen von Politikern und Gewerkschaftern, doch drängten sich die dazu eigentlich nicht so sehr vorgesehenen Autoren in großer Anzahl mit Ansuchen um Unterstützung und zuletzt wurde das ganze Komitee in erster Linie ein Komitee für flüchtende Autoren. Als aber Hitler Österreich seiner Diktatur eingliederte, da flohen aus dem kleinen Österreich mehr als 400 (in Worten: vierhundert) Autoren, von den bedeutendsten bis zu so manchen ephemeren. Die besten unter ihnen erhoben im Exil sofort den Ruf nach der Freiheit. Was aber für Deutschland und Österreich gilt, das gilt in diesem Fall für die ganze Welt. Dieses Buch versucht daher, mit den Augen der Dichtung einen Blick auf wesentliche Teile unseres Planeten zu werfen. Dabei geht es nicht so sehr um eine oberflächliche „Globalisierung“, sondern die Fälle der ausgewählten Autoren zeigen, daß die weitaus meisten von der starken Heimatbindung an eine Region ausgehen. Diese Wichtigkeit eines regionalen Heimatbewußtseins ist zugleich mit der Bewußtwerdung der hohen Bedeutung der jeweiligen Kindheit verbunden. Sie ist zugleich nicht provinziell beschränkt, wie es etwa in Deutschland die „Heimatkunst“ eines Friedrich Lienhard gewesen ist, sondern zielt nachdrücklich in einer universalen Weise auf Gesamt-Menschheitliches, für das gleichsam symbolisch die regionalen Charaktere und Probleme stellvertretend stehen, deren reale Darstellung sie zu Figuren mit Fleisch und Blut und von faszinierender Lebendigkeit macht, ohne ihre symbolische Bedeutung für einen globalen Humanismus zu beeinträchtigen. Es können vergleichsweise kleine Regionen sein, um die es geht, wie das fiktionale County in Mississippi, in dem Faulkners Romane spielen oder aber die riesigen Weiten der Region des Sert-o, in dem die Romane von Guimar-es Rosa spielen. Letzteres Beispiel zeigt übrigens, daß es in den meisten Fällen um geographisch-politische Regionen geht und nicht um ethnische Stämme, denn die brasilianische Bevölkerung des Sert-o, wie der Autor sie beschreibt, ist aus einer Völkermischung von Indios, Weißen und Schwarzen entstanden. Als aber V. S. Naipaul in spätem Alter seine ursprüngliche Heimat Trinidad Vorwort 11 besuchte, da beschwor er die Landsleute seiner Kindheit, nicht einen ethnischen Chauvinismus zu betreiben, in dem Afrikaner gegen Inder standen, sondern die Realität zu akzeptieren, wonach sie alle zusammen der Region Trinidad zugehörten, einer Insel, die selbst eine Region war, klein genug um von einem Regionalismus zu sprechen. Selma Lagerlöf aber übersiedelte als freie Schriftstellerin bewußt in jenen Bezirk Schwedens, in dem altes schwedisches Brauchtum am reinsten und am deutlichsten erhalten war, wobei das abgelegene elterliche Gut, in dem sie aufgewachsen war, sie nachdrücklich in jene Richtung gewiesen hatte. Wenn aber im Fall von Guimar-es Rosa die Literaturwissenschaft von einem „transzendenten Regionalismus“ gesprochen hat, dann kann das für fast alle Autoren des vorliegenden Bandes gelten. Auch hier kommt der gesamtmenschheitliche Universalismus zum Tragen, der diese Autoren vereinigt und der in einem indirekten und sehr vergeistigten Sinn eine besondere Art der „Globalisierung“ bedeutet. Zu der Tendenz einer Bindung an eine Heimatregion und derjenigen, welche der frühen Kindheit besondere Wichtigkeit zuschreibt, gesellt sich der überraschend oft wiederkehrende Bezug zu dem großen dichterischen Ordnungsstifter der Welt seiner Zeit: Dante. Praktisch ist das Buch so angelegt, daß aus einundzwanzig Literaturen der Welt jeweils ein Autor des letzten Jahrhunderts ausgewählt wurde, der Romane geschrieben hat und der einer der bedeutendsten, vielleicht sogar der bedeutendste Romancier jeder dieser einzelnen Literaturen ist. Dabei ging es lediglich um dichterische Qualität und nicht um weltanschauliche Voreingenommenheiten. Aber auch um hohe Auflagenzahlen ging es keineswegs. Welt-Bestseller- Autoren wie Stanisław Lem, Paulo Coelho und viele andere beweisen nur die alte Erfahrung, daß die meisten Bestseller nicht wirklich bedeutende, große Literatur sind. Wie ja schon Musil ironisch bemerkt hat, muß in Deutschland ein Autor schon viele Gleichgesinnte haben, um für einen ungemeinen Autor zu gelten und dies gilt nicht nur für Deutschland. Das bedeutet mit anderen Worten: Dieses Buch ist, was die Auswahl der behandelten Autoren betrifft, in gewissem Sinn gegen den Strich geschrieben. Keine Tagesmoden der Rezeption, keinerlei gruppenegoistische Ideologien, keine Quoten. Was einzig zählt ist dichterische Qualität und Exzellenz, die zeitüberdauernd bleiben sollte. Von jedem der ausgewählten Autoren wurden wieder zwei seiner besonders bedeutenden, wenn nicht besten Romane ausgewählt. Dies wiederum hängt mit der Einsicht zusammen, daß jeder, auch der größte Autor, sehr oft in seiner Jugend nicht sofort mit seinem Opus magnum beginnt, sondern sich - mitunter langsam - zu seiner bedeutendsten Größe entwickeln mußte. Außerdem können bei dem beschränkten Raum dieses einen Buches hier sogar nur zwei Romane jeweils in recht verdichteter und knapper Form behandelt werden Vorwort 12 und hätte die Behandlung von einem Dutzend oder womöglich noch mehr Romanen bei jedem einzelnen Autor den Rahmen eines leicht überschaubaren Buches gesprengt und überdies die Proportion und Fairness der vergleichenden Nebeneinanderstellung behindert. Was aber die einzelnen Romane betrifft, so war es Solschenizyn, der in der Zeit seiner Größe darauf hingewiesen hat, daß der Dichter einen Ausgleich zwischen zwei Kategorien, jener der Gegenwart und jener der Ewigkeit, zu bewerkstelligen hat. Wenn ein Werk nur aktuell ist und den Blick auf die Dinge sub specie aeternitatis verliert, dann wird es rasch sterben. Sollte ein Werk aber umgekehrt zu viel oder nur Gewicht auf die Ewigkeit legen und Aktualität völlig vernachlässigen, so verliert es Farbe, Kraft und Atmosphäre. Aus diesem Grund hat Hermann Broch seine Theorie vom polyhistorischen Roman entwikkelt und die im vorliegenden Band vertretenen Autoren haben diesen Ausgleich durchaus getroffen. Was zusätzlich bewirkt, daß die behandelten Romane zur Weltliteratur im höchsten Sinn gehören, ist der Umstand, daß sie einerseits ihre Kraft und Stärke aus der jeweiligen Heimat und Umwelt ziehen, andererseits aber zugleich gesamtmenschheitlich orientiert sind. In Fällen in denen der ausgewählte Autor auch essayistische Prosabände verfaßt hat, zumal solche, die sich mit Chaos und Chaosüberwindung auseinandersetzen, wurde im Anschluß an die jeweils zwei Romane auch einer der Prosabände behandelt. Als Einführung in jedes einzelne Kapitel diente in jedem Fall eine sehr verdichtete Kurzbiographie. In wirklichen Ausnahmefällen wurden anstatt zweier Romane nur ein Roman behandelt und in Ergänzung dazu das Werk einer anderen Gattung. In einem Fall war das zweite Buch ein Drama, in einem zweiten Fall ein Kinderbuch, in einem dritten Fall ein Band mit Erzählungen. Aber dieses Drama steht am Beginn einer Entwicklung, an der sich die ganze Gattung zum Epischen hin zu entfalten begann, und das Kinderbuch war als Kinderbuch geplant, wurde aber alsbald auch zu einer Lektüre für Erwachsene, und ein Autor vom Format eines Czesław Miłosz hat es sogar in seiner Nobelpreis-Rede in einer bestimmten Hinsicht als vorbildlich für den Roman überhaupt erwähnt. Der Band mit Erzählungen aber steht in direkter und enger Beziehung zu dem Roman, der zweifellos das Hauptwerk des Autors darstellt. In der biographischen Einleitung wurden fast immer auch ganz kurz andere Werke des jeweiligen Autors genannt, zumal wenn sie für seine allgemeine literarische und geistige Entwicklung von Wichtigkeit sind. Es gibt Schein-Widersprüche, etwa wenn es in einem Fall um zu wenig Religiosität geht und in einem anderen um zu viel Schein-Religiosität, was beides Chaos verursacht. Das ist für das Thema und den Sinn dieses ganzen Buches wichtig und erhellend, weil es zeigt, daß es nicht um besondere Inhalte als Lösung geht. Wie es in der Dichtung selbst und grundsätzlich eher um die Form und die Gestalt als um den Inhalt geht, so geht es auch hier eher um die Vorwort 13 Methode als um den inhaltlichen Ausgangspunkt. Es geht also weniger um das „was“ als um das „wie“. Fanatismus nein, Toleranz ja, gleichgültig von welcher Warte aus. Toleranz als völlige Gleichgültigkeit nein, Toleranz die Intoleranz nicht toleriert, ja. Gewiß überlagert sich das mitunter mit Inhalten, in dem Sinn etwa, daß Offenheit, Wahrheit und Menschenliebe positive Eigenschaften sind, Dummheit, Bösartigkeit und Haßverbreitung aber schlechte. Einmal wurde versucht, dies auf die schlagartige Formel zu bringen: Alles Trennende ist schlecht, alles Verbindende ist gut. Es kommt jedenfalls nicht darauf an, in welcher Sprache und mit welchen inhaltlichen, philosophischen oder religiösen Argumenten Toleranz gefördert wird, sondern nur, daß sie gefördert wird. Damit hängt eine allgemeine Tendenz fast aller dieser großen Autoren zusammen, daß sie nämlich anti-fundamentalistisch, aber keineswegs anti-religiös sind. Sie fanden fast alle früher oder später zu mystischen Traditionen, gleichgültig ob diese ihrer ursprünglichen eigenen kulturellen Herkunft entstammen oder nicht. Man entsinne sich doch nur der weltweit verbreiteten Tradition des ZEN unter Intellektuellen und Autoren vieler westlicher Nationen. In einem gewissen Sinn sind alle heimatverbunden, auch wenn dies niemals in einen militanten Nationalismus oder gar Fremdenfeindlichkeit ausartet. So wie sie zugleich gegenwartsbezogen und ewigkeitsbezogen sind, so sind sie gleichzeitig heimatbezogen und auch menschheitsbezogen. Ihre Geisteshaltung weist alle trennenden Unterscheidungen, die fast stets zu beschränkten Vorurteilen führen, ab, gleichgültig ob diese Unterteilungen und Ausgrenzungen rassisch, klassenmäßig, nationalistisch, geschlechtlich oder konfessionell sind. Es verhält sich auch so, daß sie alle enge Beziehungen zu den Werken und der Geistigkeit von Autoren aus anderen Literaturen, also weltliterarische Beziehungen pflegen. Diese Autoren fühlten sich überhaupt mit ihren Mitmenschen zutiefst verbunden und Solschenizyn hat einmal in seiner großen Zeit seine Sorge und seinen Wunsch zugleich in die Worte gefaßt: „Wäre es irgendeiner Nation möglich, die bitteren Erfahrungen einer anderen durch die Lektüre eines Buches mit zu erleiden, so würde ihre Zukunft gewiß viel heller sein, weil viel Unglück und viele Fehler durch rechtzeitige Einsicht vermieden werden können.“ 3 Es ist denn auch kein beschönigendes, verniedlichtes, rosarot gefärbtes Bild der Welt, das diese Romane vermitteln und vor allem in einer Weise vermitteln, die eindrucksvoller sein kann als die besten wissenschaftlichen, historischen und politologischen Bücher. Nicht nur, weil sie zu den besten gehören, sondern weil sie Dichtungen, Kunstwerke sind. Warum dies der Fall ist, soll im letzten Teil dieses Vorworts ausgeführt werden. Hier möchte ich zunächst nur darauf hinweisen, daß es nicht die entsetzlichen Unmenschlichkeiten, die in unserer Welt geschehen waren, sind, die diese Dichtungen hervorriefen, son- 3 Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Frankfurt am Main 2008, S. 7. Vorwort 14 dern daß sie mit der Einsicht den Mut verbinden und mit den Kenntnissen die Überzeugungskraft, um helfen zu können, diese Entsetzlichkeiten zu überwinden. Ich möchte darauf hinweisen, daß nicht alle Hoffnung unberechtigt und vergebens ist, so lange solche Romane geschrieben, veröffentlicht und gelesen werden können. Allerdings sind die labyrinthischen Gedankengänge im Chaos unserer Welt so verwickelt und kompliziert, daß sogar der eine oder andere der allergrößten Autoren, der die bedeutendsten Werke verfassen konnte, plötzlich einknickt, den Halt verliert, in die falsche Richtung abbiegt und in das Gegenteil dessen ausmündet, was zu bekämpfen er zunächst angetreten war. Auch dafür ist Solschenizyn ein Beispiel. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, daß solche Kehrtwendungen niemals in vorgegebener böser Absicht entstehen, sondern daß sie triftige Gründe in bestimmten Teilgefahren hatten, die entweder verabsolutiert werden oder zu übertriebener Abwehr in die Gegenrichtung führen. Kurz, es geht immer um Fälle, welche die alte Einsicht beweisen, daß „gut gemeint“ mitunter das Gegenteil von „gut“ sein kann. Es sind bestürzende Aspekte der Wandelbarkeit und Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, welche da offenbar werden. Nicht zuletzt aber zeigt sich hier die manches Mal große Schwierigkeit des Erfassens der gesamten Tatsachen, die zu solchen Niedergängen oder Zusammenbrüchen führen. Bleibt noch das Problem offen, weshalb gerade der Blick aus der Perspektive der großen Romanautoren auf die Welt in mancher Hinsicht tiefer greifen kann als ein wissenschaftlich noch so scharfer und korrekter Blick. Es geht eben in jedem großen modernen Roman um eine „Totalitätserfassung“, die sowohl von der Methode seiner Perspektiven her als auch von seiner Sprache und in Hinblick auf die erfaßte Weltwirklichkeit nicht nur Rationales, sondern auch darüber hinausführendes Irrationales zu erfassen vermag. Dies wiederum hängt unter anderem auch mit der Einsicht vieler der großen Romanautoren über die hohe Bedeutung der Kindheit zusammen, nicht nur für das Leben der Menschen überhaupt, sondern in womöglich noch höherem Maße für den Dichter. Besonders präzise hat dies Hermann Broch ausgesprochen, der kurze Zeit vor seinem Tod geschrieben hat: „Jene irrationale Struktur, die dem Dichtungsgewebe zugrunde liegt, wird in der ersten Jugend geformt; was nach dem achten Lebensjahr kommt, wird kaum mehr dichterisch-rational, sondern nur noch rational, d. h. in Gestalt rational präziser Erinnerungsbilder, rationaler Problemlösungen etc. verarbeitet. Die eigentliche dichterische und künstlerische Qualität ist ausschließlich an jenen irrationalen Teil gebunden.“ 4 Einer der größten und heute zugleich auch unbekanntesten Kenner der Dichtung und Kunst des 20. Jahrhunderts, Wladimir Weidlé, hat darauf hingewiesen, daß die Bilder mancher Maler, ob Rouault, Klee oder Chagall, erkennen lassen, daß sie von ihrem eigenen Innenleben bescherte „Eingebungen“ 4 Hermann Broch: Briefe. Hg. von Robert Pick, Zürich 1958, S. 404. Vorwort 15 besitzen, die nicht dem Gerichtshof der exakten Wissenschaften haftbar sind und auch keiner Psychologie, die sich an die Methoden solcher Wissenschaft angepaßt hat. Wie er auch auf einen Dichter wie Henri Michaux aufmerksam gemacht hat, als einen Visionär des Unmöglichen, der im Lande der Magie oder in „Grande Garabagne“ herumzureisen vermag und dabei in allen seinen Darstellungen jene unwiderlegliche Wahrheit vermittelt, welche die dichterische „Phantasie“ allein zu vergeben hat. Es ist der Austrocknungsprozeß jener „Eingebungen“ und jener „Phantasie“, der zu einem Zustand der Ruhelosigkeit führt und zu einem schier hoffnungslosen Chaos, das Weidlé von einem anderen, positiven, „gewitternden und fruchtbaren“ Chaos absetzt und unterscheidet. Das negative Chaos, um das es auch hier in diesem Buch geht, nennt er ein regloses, „von Zahlen und Formeln durchschwirrtes Chaos“, das „die Literatur und Kunst unserer Zeit nicht müde werden, zu spiegeln.“ 5 Weidlé beklagt es, daß viele Maler - und auch Dichter - nicht begriffen haben, daß „so lange das Chaos in seinem Sosein hingenommen wird, so lange die Hölle einfach reproduziert wird, so lange nicht eine Ordnung und ein Sinn … dem Grund des Schreckens und Leidens entsteigen, jeder Versuch einer Tragödiendichtung nur zu einer Fehlgeburt führen kann.“ 6 Das gilt kaum weniger für den Roman und ist die Leitidee dieses Buches hier. Gerade deshalb erkennt Weidlé in seinem ursprünglich 1935 geschriebenen Buch einer in diesem Sinn gelungenen, wirklichen und echten Tragödie in Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler. Hermann Broch war es ja auch, der durch seine Theorie vom Zerfall der Werte eine erste, grundlegende Teilanalyse des Chaos der Zeit gegeben hat und der nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Richtung zeigte, in welche eine Überwindung des Chaos zu führen hätte. Dies geschah wissenschaftlich in seiner Theorie des Massenwahns, von welcher der „Zerfall der Werte“ ein Teil wurde und dichterisch zunächst durch seinen Roman Der Tod des Vergil. Hier hat er das Chaos einmal als die „Weltumstülpung“ bezeichnet und darüber geschrieben: … lachend aufgebrochen die Weltumstülpung schlechthin, als hätte es niemals jenen Eid der Schöpfung gegeben, den Eid, mit dem Gott und Mensch sich gegenseitig verpflichtet haben, verpflichtet zur Erkenntnis und wirklichkeitsschaffenden Ordnung, verpflichtet zur Hilfe, welche die Pflicht zur Pflicht ist. In allen Völkern der Menschheit lebt der Wunsch und die Hoffnung, dieses Chaos zu überwinden, und wenn es bei Goethe zutrifft, was dieser selbst einmal erklärt hat, daß sich nämlich ohne Poesie nichts in der Welt bewirken läßt, dann sollte man den Blick auf die Dichter richten. Durch ihre Sensibilität sind 5 Wladimir Weidlé: Die Sterblichkeit der Musen. Stuttgart 1958, S. 345. 6 Wladimir Weidlé, op. cit., S. 334. Vorwort 16 sie besonders dazu berufen, hochgradige Meßinstrumente und Warner in einer Welt der zunehmenden Geist- und Humorlosigkeit zu werden, all die verschiedenen Formen von Freiheit unterdrückenden, Menschen versklavenden Totalitarismen zu überwinden, in denen das Chaos seine höchsten Triumphe feiert, und durch ihre Phantasie Wegweiser und Lichtbringer zu werden, um Reaktionsmöglichkeiten und Auswege zu zeigen. Es war wiederum Hermann Broch, der Dichtung als Ungeduld der Erkenntnis bezeichnet hat. Nicht zufällig haben große Dichter die Einsichten der Tiefenpsychologie des 20. Jahrhunderts vorweggenommen und Science-Fiction-Autoren solche der modernen theoretischen Physik. Ein Dichter wie George Orwell hat in seinem Roman 1984 die heute bereits einsetzende Vollversklavung des Menschen im modernen, totalen Staat beschworen und viele - keineswegs alle - Exilautoren sämtlicher Länder sind seit eh und je fast überall das bestens funktionierende Gewissen gewesen. Die Dichter, die hier ausgewählt wurden, sind nicht Autoren, die populistische leere Phrasen welcher Parteiung auch immer anbieten, und sind auch nicht Autoren, die übersimplifizierte schnelle Patentlösungen offerieren, sondern es sind Autoren, die das Chaos der Zeit in seiner ganzen Komplexheit und Größe und in seiner gesamten Macht und Gefährlichkeit erkannt und durchlitten haben und die es auch darstellen und präsentieren, wie es ist, jedoch ohne bei der Beschreibung stehenzubleiben. Sie versuchen vielmehr allgemeine und gesamtmenschheitliche Lösungen und Ziele zu entwerfen, Wege und Methoden aufzuzeigen, welche größtmögliche Vollendung anstreben und die Erkenntnis eines menschenwürdigen Daseinssinns bieten, der den steten Wandel der Dinge einbezieht und ihn womöglich auch überdauert. Es mag vielleicht überraschend sein, wie viele Parallelen und gegenseitige Entsprechungen es dabei im Werk der ausgewählten Autoren gibt. Aber auch das hat seinen tieferen Grund. Wissen sie doch alle, daß es überall und immer um jeden einzelnen Menschen und seine Würde geht, ja um die göttliche Natur des Menschen, wie sie Pico della Mirandola verkündet hat. Alles in allem geht es in diesem Buch um Dichtung als Dichtung. Dazu seien hier zwei Absätze aus einem der denkwürdigsten Manifeste unserer Zeit zitiert: „Immer aber steht die aufgestellte Welt einer Dichtung zwischen der Angst und der Peripherie des Gehäuses. Immer geht es um Dasein als Sinnentwurf, gerichtet gegen die Sinnlosigkeit von Krankheit, Tod und menschliche Bosheit.“ „Nicht das Vordringen zur Verständlichkeit der Dichtung ist das Problem, sondern: ihre offen zutage liegende Verständlichkeit zu schützen vor der Destruktion durch dressiertes Hinterfragen. Die Dichtung selbst ist ja bereits Interpretation - im Namen des Lebens. Sie ist Sinnstiftung, die wir nachzuvollziehen haben. ‚Was bleibet aber, stiften die Dichter.‘“ 7 7 Horst-Jürgen Gerigk: Gibt es unverständliche Dichtung? In: Neue Deutsche Rundschau. Jg. 16, Heft 3, S. 153 und 159. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“: Von der alten Ordnung zum Völkermord Chinua Achebes Buch Things Fall Apart 1 ist die eindrucksvolle Saga von Okonkwo, des Farmers und Kriegers aus dem Clan Umuofia des Stammes der Ibo im Unteren Nigeria. Die Verbindung von großartiger Einfachheit mit allumfassender Einsicht und die erzählerische Distanz machen den Helden des Buches Okonkwo zu einer fast mythischen Figur, die stellvertretend für ganz Nigeria, ja für ganz Schwarz-Afrika in seiner Auseinandersetzung mit den weißen Kolonisatoren zeigt. Achebe hat dies nur schreiben können, weil er selbst aus dem Stamm der Ibo kommt, in dem großen Dorf Ogidi aufgezogen wurde, nach seiner Aneignung westlicher Bildung und Kultur als glänzend begabter Autor an die Errichtung dieses grandiosen Bildes der alten Stammesordnung und deren Untergang heranging. Es ist ihm gelungen, durch dichterische Mittel schicksalsbestimmende Mächte und Kräfte zu beschwören, wie sie sich dem platten Verstand entziehen, und eine grandiose Darstellung in ihrer Totalität zu errichten, wodurch er nicht nur nichts als die Wahrheit, sondern die ganze Wahrheit sichtbar gemacht hat. Der Kern der Fabel ist einfach: Der Ruhm des jungen Okonkwo war aufgeflammt wie ein Busch-Feuer im kalten, trockenen Wüstenwind aus dem Norden. Bereits achtzehnjährig hatte er den bis dahin durch sieben Jahre unbesiegten Amalinze im Ringkampf besiegt. Mehr noch als sein Erfolg als Farmer war es sein Kriegsruhm, durch den er erwählt wird, als Abgesandter des Umuofia Clans den Clan aufzusuchen, auf dessen Markt eine Frau aus Umuofia ermordet worden war. Er hatte entweder einen jungen Burschen und eine Jungfrau als Geiseln nach Hause zu bringen oder aber den Krieg zu erklären. Da er mit dem fünfzehnjährigen Ikemefuna und einer Jungfrau zurückkehrt, entschieden die Ältesten des Clans, daß die Jungfrau die ermordete Frau als Gattin ersetzen sollte, während Okonkwo den jungen Ikemefuna bis auf weiteres in seinen Haushalt aufnehmen sollte. Die Ältesten würden später über sein Schicksal entscheiden. Nach wenigen Monaten wird Ikemefuna von Okonkwos erster Frau und ihren Kindern sehr geliebt, fühlt sich mit abnehmendem Heimweh immer mehr zu Hause und nennt sogar den gestrengen und äußerlich kalt erscheinenden Okonkwo „Vater“. Dieser Okonkwo ist aber in seinem verborgenen Inneren ein Mann mit Gewissen und mit tiefer Liebe für die Seinen, dessen Leben lediglich von ei- 1 Chinua Achebe: Things Fall Apart. New York 1994. Deutsch erschienen unter dem Titel Okonkwo oder das Alte stürzt. Stuttgart 1959. Alle folgenden Zitate sind dem Original entnommen und vom Autor übersetzt. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 18 ner tiefen Furcht beherrscht wird, er könnte den Eindruck der Schwäche und des Versagens erwecken. Es ist das Ethos der alten Stammesordnung und ihrer Werthierarchie, die ihn völlig ausfüllen. Er verachtete seinen schwächlichen und feigen Vater, der gleichwohl eine musische Ader besaß und ein blendender Flötenspieler war. Als er darum schließlich im hohen Alter schwer erkrankt von einigen Männern des Dorfes abgeholt wird, um allein im „bösen Wald“ ausgesetzt zu werden, um zu sterben, da nimmt er seine Flöte mit sich. Die festgefügte alte Stammesordnung hat auch ihre harten und grausamen Seiten, zu denen es auch gehört, daß etwa Zwillinge als unnatürlich gelten und nach ihrer Geburt ebenfalls ausgesetzt werden. Eine besondere Rolle spielt das „Orakel der Berge und Höhlen“, das eines Tages verkündet, der Umuofia Clan hätte den jungen, nunmehr achtzehnjährigen Ikemefuna zu töten. Der älteste Mann des Dorfes, Ogbufi Ezeuda kam, um Okonkwo dies mitzuteilen. Da er Zeuge wird, wie Ikemefuna Okonkwo „Vater“ nennt, warnt er ihn, sich nicht am Töten zu beteiligen. Als kurz darauf einige Männer erscheinen, um Ikemefuna mit sich in den Wald zu nehmen, schließt Okonkwo sich trotzdem als letzter ihrer Reihe an. Er hört den Schlag auf Ikemefunas Kopf, hört wie dessen Topf auf dem Boden zerbricht, sieht wie jener auf ihn zuläuft und aufschreit „Vater, sie haben mich getötet! “ Verstört vor Angst hebt Okonkwo nun sein Buschmesser und tötet Ikemefuna. Er fürchtete, man könnte ihn sonst für schwach halten. Als etliche Zeit später die Begräbnisfeierlichkeiten für den Dorf-Ältesten Ogbufi Ezeuda stattfinden und zuletzt Gewehre abgefeuert werden, da explodiert Okonkwos Gewehr und ein scharfer Eisenteil trifft den sehzehnjährigen Sohn Ezeudas und tötet ihn, dessen Vater das Todesurteil für Ikemefuna überbracht hatte. Obwohl es nicht Mord, sondern Totschlag ist und zudem ohne die geringste Absicht, Böses zu tun, wird Okonkwo auf Grund der Stammesgesetze zu sieben Jahren Exil verurteilt. Er darf mit den Seinen flüchten, doch sein Haus wird zerstört. Denn er hatte ein Clan-Mitglied getötet, ungeachtet aller Umstände. Auch das war eine Entscheidung der Erdgöttin. Okonkwos Freund Obierika aber trauert um ihn und konnte keine Antwort finden, weshalb der Freund fliehen hatte müssen. Wäre aber die Bestrafung nicht nach dem Willen der Erdgöttin durchgeführt worden, hätte ihr Zorn den ganzen Clan und nicht nur den Sünder getroffen. Okonkwo lebt mit seiner Familie sieben Jahre mit der Familie seiner verstorbenen Mutter in Mbanta. Das Haupt der Familie, der jüngere Bruder seiner Mutter, Uchendu, hatte ihn und seine Familie freundlich aufgenommen. Ja, er spricht dem Trauernden Mut zu. Okonkwo aber fühlt nicht nur seine eigene Unzulänglichkeit, wenn er an seinen feigen Vater denkt, sondern ebenso wenn er an den ältesten Sohn seiner ersten Frau denkt. Dieser junge Nwoye, zwei Jahre jünger als sein geliebter toter Spielgefährte und Stiefbruder Ikemefuna ist schwächlich wie sein Großvater. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 19 Instinktiv weiß er, daß Ikemefuna getötet worden war und in ihm schnappt etwas auseinander wie ein überspannter Bogen. Er hatte dasselbe Gefühl kurze Zeit zuvor gehabt, als er mit den Erwachsenen zusammen hinaus auf das Feld gegangen war. Auf dem Heimweg hatte er das Schreien eines Säuglings im Wald gehört. Er wußte, daß Obierikas neugeborene Zwillinge in Tongefäßen im Wald ausgesetzt worden waren. Ein plötzlicher Kälteschauer hatte Nwoye durchfahren. Sein Kopf schien anzuschwellen, wie der eines einsamen Wanderers, der einem bösen Geist begegnet. Aber Okonkwo und die Seinen durchleben keineswegs nur schaurige Seiten ihres Schicksals, sondern immer wieder auch glückliche Zeiten mit Festen, vor allem Hochzeiten, mit ihren angenehmen und freudestrotzenden Ess- und Trinkritualen, mit befriedigtem Stolz und satter Zufriedenheit zwischen Zeitstrecken harten Kampfes ums Überleben. Im zweiten Jahr von Okonkwos Exil besucht ihn sein Freund Obierika. Er erzählt, daß zum Clan der Abame ein Weißer mit einem „eisernen Pferd“ gekommen sei. Die Ältesten des Clans befragten ihr Orakel und das Orakel prophezeite, daß der Weiße den Clan zerbrechen und Zerstörung verbreiten würde. Darauf töteten sie den Weißen und banden sein eisernes Pferd an ihren heiligen Baum. Später kamen drei Weiße und entdeckten das eiserne Pferd am heiligen Baum. Viele Wochen hindurch geschah nichts. Als aber der ganze Clan eines Tages auf dem Wochenmarkt versammelt war, da erschienen die drei Weißen wieder zusammen mit vielen anderen Männern. Sie hatten den Markt umstellt und erschossen den gesamten Clan mit Ausnahme der wenigen Alten und Kranken, die daheim geblieben waren und mit Ausnahme einiger ganz weniger, denen es gelang, zu entkommen. Das war eine ungeheuerliche Geschichte, denn im Krieg zwischen zwei Clans wurden allenfalls ein Dutzend Krieger getötet. Wieder zwei Jahre später besucht Obierika wiederum seinen Freund Okonkwo und bringt eine weitere Neuigkeit mit. Weiße Missionare seien auch nach Umuofia gekommen, hatten eine Kirche gebaut und sogar einige Anhänger gewonnen und ein weißer Missionar sei geblieben. Unter den Konvertiten sei freilich kein einziger bedeutender Mann. Chielo aber, die Priesterin der Erdgöttin Agbala und das Orakel des Clans, hatte die Konvertiten Exkremente des Clans genannt und den neuen Glauben einen tollwütigen Hund, der gekommen war, um diese Exkremente aufzuessen. Der eigentliche Grund des zweiten Besuches aber war der Umstand, daß Nwoye, der älteste Sohn von Okonkwos erster Frau, in Umuofia aufgetaucht war. Als die fünf Missionare, ein Weißer und vier Schwarze den Leuten von Umuofia endlich erlaubt hatten, mit ihm zu sprechen, da hatte er ihnen erklärt: „Ich bin einer von ihnen“ und auf die Frage nach seinem Vater sagte er: „Er ist nicht mehr mein Vater.“ Nwoye hatte Missionare in Mbanta kennengelernt, denn auch dorthin waren ein Weißer und fünf Schwarze gekommen. Auch Okonkwo hatte der Predigt Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 20 bei der ersten Versammlung zugehört. Er hatte sogar eine Frage gestellt, deren Antwort ihn überzeugt hatte, daß es hier um verrücktes Zeug ging, so daß er die Versammlung verlassen hatte, um daheim seinen Palmenwein zu trinken. Sein Sohn Nwoye aber war von Anfang an berührt durch ein Lied über Brüder, die in der Finsternis saßen in Furcht, ohne etwas von Gott zu wissen. Schließlich ging Nwoye zum schwarzen christlichen Lehrer Kiaga und wünschte sich, zurück nach Umuofia geschickt zu werden, wo der weiße Missionar sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Okonkwo, dessen Beiname „Flammendes Feuer“ war, verstand nicht, wie er einen so degenerierten Sohn haben konnte, es sei denn, daß er diese Eigenschaften von seinem Großvater geerbt hätte. Die Ältesten von Mbanta hatten den Missionaren als Platz für ihre Kirche den „bösen Wald“ zugewiesen und die Kirche nahm zunächst nur einfache Menschen oder gar Ausgestoßene auf oder aber solche Schändlichkeiten wie Zwillinge. Als Okonkwo nach sieben Jahren nach Umuofia zurückkehrte, fand er nicht nur den weißen Missionar und dessen Kirche, sondern auch Gerichtsbüttel vor, die aus einem anderen Clan stammten und die der Distriktskommissar hinbeordert hatte. Es gab plötzlich Gefängnisse voll mit Gefangenen, die gegen die Gesetze der Weißen verstoßen hatten. Vor allem aber gab es bereits eine große Gruppe von Brüdern des eigenen Clans und ihrer Familien, welche zum Christentum übergetreten waren. Obierika erklärt seinem Freund, daß der weiße Mann sein Messer an jenen Dingen angesetzt hatte, die sie zusammengehalten haben und nun „fallen wir alle auseinander“. Der Clan war kaum mehr als solcher wahrnehmbar und daher schien niemand die Rückkehr des großen Kriegers Okonkwo zu bemerken. Ein neuer, eher etwas fanatischer weißer Missionar löste den alten ab und unter ihm erhielten die übereifrigsten unter den Konvertiten Oberhand. Einer von ihnen, Enoch, brach den Konflikt zwischen Kirche und Clan weit auf, indem er einem der Clanmitglieder, der in der Maske eines zurückgekehrten Vorfahrten auftrat, die Maske vom Gesicht riß, was der Tötung eines Vorfahren gleichkam. Am darauffolgenden Tag fand eine große Versammlung aller „rückgekehrten Vorfahren“ in ihren Masken statt. Die Führer der konvertierten Christen, welche die Gefahr der Situation erkannten, suchten am Abend den neuen Missionar in seinem Haus auf. Als er die schneidend durchdringende Klage der Mutter der Geister um ihren verlorenen Sohn hörte, bekam er es mit der Angst zu tun. Es wurde entschieden, keinen Widerstand zu leisten, sondern auf Gott zu vertrauen. Der Übeltäter Enoch aber sollte für ein oder zwei Tage im Haus des Missionars versteckt werden. Da rasten aber bereits die „zurückgekehrten Vorfahren“ zu Enochs Haus und durch ihre Buschmesser sowie durch Feuer verwandelte es sich in Kürze in einen Schutthaufen. Von da stürmten sie weiter zur Kirche. Als ihnen der Missionar und sein Dolmetsch gegenübertraten, gab es eine kurze Pause, in welcher der Anführer der Gruppe dem Missionar zusicherte, es würde ihm nichts geschehen. Die Kirche aber, von der so viele Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 21 Schändlichkeiten gegen sie ausgegangen waren, müsse zerstört werden. Als die Gruppe wieder ging, war die Kirche ein Haufen von Erde und Asche. Einige Tage später sandte der Distrikts-Kommissar einen Gerichtsboten nach Umuofia, der mit Freundlichkeit, List und Tücke sechs Führer des Clans, unter ihnen auch Okonkwo, einlud, in sein Hauptquartier zu kommen, um ihre Klagen vorzutragen. Auf Okonkwos Rat kamen alle sechs mit ihren Buschmessern. Durch einen Trick gelingt es dem Distrikts-Kommissar allen sechs Handschellen anlegen zu lassen. Sodann erklärt er ihnen, daß sie für die Zerstörung des Hauses von Enoch und der Kirche zweihundert Säcke Muscheln als Strafe zu bezahlen hätten. Während die sechs im Gefängnis blieben, erschienen Gerichtsboten in Umuofia und verkündeten, daß sofort zweihundertfünfzig Säcke mit Muscheln abgeliefert werden müßten oder die sechs Gefangenen würden gehenkt. Fünfzig Säcke mit Muscheln hatten die Gerichtsboten für sich selbst zu den zweihundert hinzugefügt. Okonkwo, der vor seinem Exil zu den neun „maskierten Geistern“ gehört hatte, in deren Händen die Rechtssprechung von Umuofia gelegen war, gehörte nun plötzlich zu den Gesetzesbrechern und Bösewichten. Der Clan sammelte natürlich die zweihundertfünfzig Säcke mit Muscheln und nach der Rückkehr der sechs aus dem Gefängnis, wo sie böse geschlagen worden waren, gab es eine Vollversammlung des Clans. Okonkwo hatte schon zuvor für sich entschieden, was er tun würde. Sollte sich der Clan für einen Krieg entscheiden, dann würde alles gut sein. Wenn nicht, dann würde er sich für sich selbst zur Wehr setzen. Der erste Sprecher bei der Versammlung war Okika, der einer der sechs im Gefängnis Festgehaltenen gewesen war. Er forderte den Clan auf, mit den Verrätern, die Christen geworden waren, aufzuräumen. Da entstand plötzlich eine Unruhe in der Versammlung, denn fünf Gerichtsboten waren aufgetaucht. Okonkwo stand gerade im Weg der fünf und trat dem Führer der Gerichtsboten entgegen. Der verlangte durchgelassen zu werden. „Was willst du? “ fragte ihn Okonkwo. Die Antwort lautete: „Der weiße Mann, dessen Macht ihr kennt, hat angeordnet, daß diese Versammlung sofort beendet wird.“ Okonkwo zog sein Buschmesser aus der Scheide und obwohl der Gerichtsbote auszuweichen versuchte, schlug er ihm den Kopf ab. Okonkwo blickte auf den Toten. Er wußte, daß Umuofia sich nicht für den Krieg entscheiden würde, denn sie hatten die anderen vier entkommen lassen. Er hörte sogar Stimmen fragen: „Weshalb hat er das getan? “ Er reinigte sein Buschmesser und ging. Es ist immer wieder das starre Festhalten an der alten Stammesordnung, vor allem die Furcht, feig zu erscheinen, aus dem heraus Okonkwo seine unnötigen oder unbedachten Unmenschlichkeiten begeht, die ihm zuletzt in die Verzweiflung trieben und das Leben kosten sollten. Die Adaption der neuen Ordnung kann oft das eigene Leben retten, doch hat sie natürlich auch einen Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 22 Preis, und ob er es wert ist oder ob Kompromisse möglich sind, obliegt der Entscheidung des einzelnen, der aus den tragischen Folgen des Zusammenstoßes zweier völlig verschiedener Ordnungen und Wertsysteme seine eigene, oft besonders schwierige Entscheidung treffen muß. Als der Distrikts-Kommissar mit Gerichtsboten und Soldaten bei der Niederlassung Okonkwos erschien, da fand er in dessen Haus nur eine kleine Gruppe von Männern. Sie führten ihn und seine Leute zu jenem Baum, an dem der Körper Okonkwos baumelte. Sie ersuchten die Leute des Distrikts- Kommissars den Toten abzuschneiden und zu begraben. Durch seinen Selbstmord hatte er sich gegen die Erdgöttin versündigt und kein Clansmitglied durfte ihn berühren. Okonkwos Freund Obierika aber wendet sich plötzlich tief ergrimmt an den Distrikts-Kommissar: „Dieser Mann“, sagte er, „war einer der Größten in Umuofia. Sie haben ihn in den Tod getrieben; und jetzt wird er wie ein Hund begraben werden.“ Seine Stimme versagte. Der Distrikts- Kommissar aber befahl, den Mann abzuschneiden und verließ mit drei oder vier der Soldaten den Platz. Auf seinem Weg zurück zum Gericht dachte er an das Buch, das zu schreiben er beabsichtigte. Er hatte Neues über die exotischen Sitten der Wilden gelernt und die Geschichte des Mannes, der einen Gerichtsboten getötet hatte und sodann sich selbst hängte, würde eine interessante Lektüre ergeben. Man könnte fast ein ganzes Kapitel über ihn schreiben. Also vielleicht doch nicht ein Kapitel, aber doch einen Absatz. Er hatte nach langen Überlegungen auch schon einen Titel für das Buch festgelegt: „Die Befriedung der primitiven Stämme am unteren Niger.“ Es ist nicht nur der negative Abschluß, der die geistige Begrenzung wie den ihm selbst wohl unbewußten Zynismus des Distrikts-Kommissars freilegt, sondern es ist die gesamte Art der Darstellung der alten Stammesordnung, welche nur durch liebevolle Identifikation erreicht werden kann, die Achebes eigenen Standort enthüllt. Das mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen, denn Achebe selbst entstammt der späten Generation einer Zeit, in welcher diese alte Stammesordnung längst zerfallen war. Sein Vater war Lehrer an einer Christian Missionary Society School, der ganz wie der älteste Sohn Okonkwos die Lehrerbildungsanstalt in der Distrikts-Hauptstadt besucht hatte und der ganz ebenso wie Okonkwos ältester Sohn ein Eiferer der ersten Generation von Konvertiten war. Der letzte Vorfahr Achebes, der noch in jener festgefügten alten Stammesordnung gelebt hatte, war sein Großvater, der übrigens genau so wie Achebes Held Okonkwo drei der insgesamt vier möglichen Titel seines Clans errungen hatte. Genauso aber, wie Nwoye einen scharfen Blick für die Schwächen, ja Unmenschlichkeiten der alten Ordnung hatte, so hatte Achebe, eine Generation später, einen scharfen Blick für die Schwächen und Unmenschlichkeiten der neuen „Ordnung“, als die alten Dinge - sprich Werte - zu verfallen begonnen Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 23 hatten. Vielleicht hat gerade das ein tief in ihm liegendes, instinktives Interesse für seine Vorfahren verstärkt. Die Versuche von Achebes Vater, ihn von den „schädlichen Einflüssen“ der „heidnischen Gemeinschaft“ fernzuhalten und zu behüten, hatten jedenfalls nicht den geringsten Erfolg. Schon als Kind hatte er heimlich das Elternhaus verlassen, um Sitten und Gebräuche, aber auch die Speisen der „heidnischen“ Nachbarn kennenzulernen und seine Mutter wie andere weibliche Verwandte erzählten ihm trotz des väterlichen Verbots von Brauchtum und Geschichte des Volkes der Ibo. Seine tiefreichende Verbundenheit mit seinen im einzelnen unbekannten Vorfahren führte jedoch keineswegs zu einer Darstellung rückwärtsgewandter Utopie rosarot verniedlichender Heuchelei. Nicht umsonst hat er blendende Essays über die Wahrheit in der Erzählkunst sowie über Sprache und das menschliche Schicksal geschrieben. 2 Ohne lange Reflexionen und Erklärungen anzustellen, hat er Schuldverstrickungen in der alten Ordnung an drastischen Beispielen in knapper und verdichteter Deutlichkeit aufgezeigt. So wird der verehrte Dorfälteste Ezeuda, der Okonkwo das Todesurteil für den unschuldigen und geliebten Stiefsohn Ikemefuna verkündet, bei seiner Bestattung über den Tod hinaus schwer getroffen, da Okonkwos Gewehr explodiert und Ezeudas sechszehnjährigen Sohn tötet. Derselbe Ezeuda hatte aber auch Okonkwo davor gewarnt, bei der Tötung Ikemefunas selbst eine Rolle zu spielen. Doch dieser tötet ihn trotz dieser Warnung selbst aus Angst, schwach zu erscheinen und genau dieselbe Schwäche, künstlich stark wirken zu wollen, führt zur Tötung des Gerichtsboten und damit zu seinem eigenen Selbstmord. Mutter und Tante hatten Okonkwo als Kind von Himmel, Wald und Wasser erzählt, von den Gewalten der Natur und ihren Göttern, von Agwugwu, Agbala und dem größten aller Götter Chukwu. Durch Jahrtausende hatten diese Vorstellungen die Seelen der Ibos beherrscht, bis der Reverend James Smith kam, der die „Propheten Baals“ töten wollte. Nicht zuletzt aber hatten Mutter und Tante auch von einzelnen Vorfahren erzählt. Und wie das Verbot des stammestreuen Großvaters den Vater in die Missionsschule getrieben hatte, so hatte das Verbot des Vaters, der Lehrer an einer Missionsschule gewesen war, den Sohn zurück zu den alten Göttern getrieben. Wenn aber der Vater vielen kleinen Ibos die Botschaft des Christentums verkündet hatte, so war der Sohn, Chinua Achebe, nachdem er studiert hatte, durch Jahre Direktor der „External Broadcasting“ in Lagos geworden, so daß er die Stimme Nigerias in der Welt genannt werden konnte. Und als er den Posten plötzlich aufgab und später sich zum großen Dichter entwickelt hatte, da war er darüber hinaus zu einer Stimme Schwarzafrikas geworden. 2 Vgl. „The Truth of Fiction“ und „Language and the Destiny of Man“. In: Chinua Achebe: Hopes and Impediments. New York 1989, S. 138-153 und 127-137. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 24 Als dem Dichter, der er ist, war ihm aber klar, welch ungeheure Wichtigkeit der Sprache zukommt. Am Schluß seines Essays über die Sprache und das Schicksal des Menschen hat er darum erklärt, daß es die Lehre jenes großen Mythos sei, zu verstehen, daß unsere Vorfahren, als sie die Sprache schufen, gewußt haben, vor welcher Bestialität der Gebrauch dieser Sprache uns retten kann. Weshalb der Sinn seiner Lehre es ist: Hüte dich davor, störend einzugreifen in Sinn, Absicht und Wirkung der Sprache. Denn wenn ernsthaft sinnentstellend eingegriffen wird in die Sprache, wenn sie getrennt wird von der Wahrheit, sei es durch Unfähigkeit oder sogar noch gefährlicher durch Bösartigkeit, dann können und werden Gräuel hereinbrechen über die Menschheit. Um der Wahrheit so nahe als möglich zu kommen, hat er darum auch zu einer besonderen Methode gegriffen, als es darum ging, Wesen, Sinn und Mythos der analphabetischen Ibos in englischer Sprache dem Rest der Welt mitzuteilen und zu erschließen. Er setzte alles daran, die Sprache der Ibos zu simulieren. Zum ersten geschieht dies durch die Verwendung von Metaphern, Bildern und vor allem auch Sprichwörtern, die in dieser Sprache eine besonders wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus hat er eine eigene Rhetorik, wie sie in der mündlichen Tradition der Ibo-Sprache ausgebildet worden ist, ins Englische übernommen. Schließlich hat er aber auch darüber hinaus immer wieder direkt Ibo-Wörter gebraucht, die durch den Kontext verständlich werden und die mitunter auch - ebenso wie bei den Ibos - wiederholt werden, um Nachdruck zu erzeugen. So heißt es in dem Roman Things Fall Apart etwa „Okonkwo hörte die ogone des Dorf-Ausrufers die Stille der Nacht unterbrechen: ‚Gome, gome, gome, gome.‘“ Oder wenn der Sprecher Ezeugo die Versammlung der Männer des Dorfes eröffnet und in alle vier Windrichtungen hinaus ruft „Umuofia kwenu! “ und Tausende brüllen die Antwort „Yaa! “ so entsteht ein Eindruck, welcher der ganzen Erzählweise eine besondere Färbung von Authentizität verleiht. Achebe hat seinen Erfolgsroman Things Fall Apart später zu einer Trilogie ausgebaut, wobei der zweite Roman Arrow of God (1964, deutsch: Der Pfeil Gottes,1965) chronologisch als letzter erschien, während der dritte und letzte Roman No longer at Ease (1960, deutsch: Obi, 1963) zwischen dem ersten und zweiten erschienen ist. Der zweite Roman beschwört in seiner ersten Hälfte noch einmal die Ordnung und Würde der alten Ordnung des Stammes und seiner Clans und wendet sich erst in seiner zweiten Hälfte den Veränderungen durch den Kolonialismus zu. Der dritte aber stellt von vornherein die neue Ordnung der alten gegenüber und führt auch in die Landeshauptstadt. Was die Romane Achebes bewirken ist die Einsicht, daß einerseits die westliche Renaissance-Entwicklung den Kolonisatoren eine so unüberwindliche militärische Übermacht einräumte, daß den Schwarzen nur der Untergangskampf oder eine Adaption der westlichen Werte zur Wahl freistanden. Die Romane zeigen aber auch, daß die schwarzen Analphabeten ihre eigene lebenserhaltende Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 25 Kultur, ihr eigenes Wertsystem und ihre eigene Würde besaßen, was den meisten Kolonisatoren nicht klar war. Aus der Vermischung beider Wertsysteme entstand oft großes menschliches Unglück. Viele Schwarze sahen etwa, daß in der neuen Wertordnung vor allem Geldbesitz zählt, ohne zu beachten, auf welche Art das Geld erworben werden sollte, so daß Bestechung und Korruption eine unglaubliche Blütezeit erlangten. Einerseits ging manchen Schwarzen der Sinn der christlichen Nächstenliebe mehr auf als manchen Weißen. Andererseits neigten gerade übereifrige Konvertiten zu einem Fanatismus, der das Wesen des Christentums in sein Gegenteil verkehrte. Achebe selbst hat nicht nur für Weiße geschrieben, sondern vor allem auch für die Menschen seines eigenen Stammes der Ibo und es ist bemerkenswert, daß ihm die Kolonisatoren die Sprache und Schrift geliefert hatten, die es ihm ermöglichten, nach deren Sieg seine eigenen Brüder auf breitester Basis zu erreichen, um ihnen unter anderem auch ihre Vergangenheit bewußt zu machen. Aber auch den Niedergang ihrer alten Kultur hat er ihnen auf diese Weise vermitteln können. Dabei hat er über seinen zweiten Roman Der Pfeil Gottes selbst erklärt, daß der Untergang interessanter sei, tiefreichender und bewegender als der Erfolg, ganz besonders dann, wenn jemand mit Würde untergeht. Dies trifft für den Helden des zweiten Romans, Ezeulu, ebenso zu wie für den Helden des ersten, Okonkwo. Es kommt auf die individuelle Haltung des untergehenden Helden an und Ezeulu erweist sich genau so als ein wirklicher Mann wie Okonkwo. Die erste Fassung des dritten Romans Obi war bereits fertig, als der erste eingereicht wurde. Wie der Titel des ersten Romans einem Gedicht von Yeats entnommen ist, von dem ihm vier Verse als Motto voranstehen, so stammt der Originaltitel No longer at Ease von T. S. Eliots „Journey of the Magi“. Dieser dritte Roman ist die Geschichte des Sohns von Okonkwos ältestem Sohn Nwoye, also von Okonkwos Enkel. Er trägt den Namen Obi Okonkwo und stellt innerhalb der Generationenfolge eine Parallele zu Achebe selbst dar. Aber es gibt mehr Parallelen als die der Generationen, des zum Christentum konvertierten Vaters und des den alten Stammestraditionen verhafteten Großvaters. Auch Achebe war wie Obi die „einzige Palmenfrucht“ seines Dorfes und auch Achebe ging wie Obi vorübergehend nach England. Auch kehrt Obi ebenso wie Achebe nicht in das Heimatdorf zurück, sondern geht in die erste Afro- Europäische Landeshauptstadt Lagos, wenngleich als Jurist und nicht wie Achebe zum Rundfunk. Der Roman stellt in einem gewissen Sinn auch eine Parallele zu einer Reihe europäischer Romane dar. Denn wie Goethes Charakter des Werther nicht Goethe ist, sondern nur etliche autobiographische Parallelen aufweist, so ist auch Hans Giebenrath in Hesses Unterm Rad nicht Hesse, sondern weist nur eine Reihe von Parallelen auf. In beiden Romanen aber geht der Held unter, während der Autor obsiegt und überlebt, und dasselbe vollzieht sich in Obi, der Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 26 auch der Roman eines Untergangs ist, bei dem der Autor selbst aber obsiegt und überlebt. Obi ist zunächst entschlossen, die Staatsverwaltung Nigerias zu reformieren und die Korruption auszurotten. Aber er wird zerrieben in der Spannung zwischen den beiden Wertsystemen, dem in England erworbenen Stolz auf seine persönliche Freiheit und seiner gleichzeitigen Bindungen an alte Stammeswerte. Manche Kritiker fanden Obi schwächer als den ersten Roman, weil er nicht die gewaltige Größe der Einfachheit und Stille besitzt. Andere aber fanden ihn dem ersten Roman sogar überlegen, da sein Aufbau komplexer ist, vor allem aber wegen der literarischen Anspielungen zu T. S. Eliot, Auden und Graham Greene, die ihn differenzierter und subtiler machten. Obis europäische Bildung, ursprünglich als angeeignete Methode geplant und gedacht, um für das Wohl der Gemeinschaft von Umuofia eingesetzt zu werden, hat ihn gleichzeitig von diesem Umuofia grundlegend geistig getrennt. Nicht nur das westliche Denken, sondern auch die westliche Geldwirtschaft, vor welcher die Menschen des Clans durch die Erdgöttin geschützt gewesen waren, haben es Obi unmöglich gemacht, seine ursprüngliche Mission zu erfüllen und führen zu seinem Untergang. Aber während Okonkwos Untergang die völlige Machtübernahme der Kolonisatoren signalisiert, ist der Untergang Obis individuell begrenzt und signalisiert sein ganzer Werdegang die Geburt einer neuen Klasse von schwarzen Managern, welche die Adaption der Methoden der Kolonisatoren und die Unabhängigkeit ihres Staates von diesen vorbereiten. Nach einer Pause von mehr als zwei Jahrzehnten veröffentlichte Achebe seinen bis jetzt letzten und bedeutendsten Roman Anthills of the Savannah (1987, deutsch: Termitenhügel in der Savanne, 1991). Er ist nicht zuletzt darum verschieden von allen frühen Werken, weil in der Pause eine Katastrophe von so ungeheurem Ausmaß lag, daß verglichen mit ihr die Kolonisation durch die Briten und die schließlich errungene Unabhängigkeit des Staates Nigeria geradezu eine Kleinigkeit war. Achebe hatte 1966 seine Position beim Rundfunk abrupt verlassen, seit eine Bewegung entstanden war, die am 30. Mai 1967 zur Ausrufung der unabhängigen Republik von Biafra durch die Ibos von Ostnigeria geführt hatte. Dies aber war der Auftakt zu einem der blutigsten Bürgerkriege Afrikas, der zu einem Völkermord von drei Millionen Ibos führen sollte. Achebe aber arbeitete im Informationsministerium von Biafra und unternahm einige diplomatische Missionen sowie Aktionen, Geld für den Staat aufzutreiben. Als Biafra im Jahr 1970 kapitulierte und wieder ein Teil Nigerias geworden war, folgte eine Zeit für ihn, in welcher er Professor an amerikanischen Universitäten war, und als solcher veröffentlichte er auch den Roman Termitenhügel in der Savanne. In diesem Roman haben - abgesehen von den neuen Einsichten in die politischen Gefährdungen der afrikanischen Staaten - besonders die Erfahrungen der Läuterung durch das ungeheure, mitempfundene Leid von Millionen von Opfern Eingang gefunden. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 27 Achebes Grundhaltung gegenüber der Dichtung überhaupt wie auch die Botschaft, die er nun verkünden wollte, haben damit eine wesentliche Wendung erfahren. Nicht nur der naive nationalistische Optimismus und die Hoffnung als Autor direkt ein Lehrer mit unmittelbarer und praktischer Wirkung sein zu können, sind völlig verschwunden. Auch seine Auffassung über die menschliche und literarische Verpflichtung eines Autors hat sich grundlegend gewandelt. Es geht ihm nun nicht mehr wie früher in erster Linie um eine politische Verpflichtung, sondern um eine persönliche und ästhetische. Jetzt stehen im Vordergrund das Festhalten an der Wahrheit seiner Vision, die Authentizität seiner Sprache und die eigene künstlerische Integrität. Wenn ein Schriftsteller von diesen Grundwerten abweicht, dann macht er sich nach des späten Achebes Überzeugung zum Verräter seines Landes, des Selbstbestimmungsrechts des Menschen, ja der „Natur der Kunst selbst“. 3 Für Achebe hatte sich herausgestellt, daß das wahrhaftig böse Chaos des Wertzusammenpralls der alten Welt des Clans mit der modernen Welt der Kolonisatoren immer noch viel begrenzter und erträglicher gewesen war als das Bürgerkriegschaos innerhalb des neuen, unabhängigen, afrikanischen Staates, und er hat in seinem Roman die Konsequenzen daraus gezogen. Sein Roman Termitenhügel in der Savanne spielt in einem fiktionalen militärischen Staat namens Kangan, das ebenso viele Ähnlichkeiten mit Nigeria aufweist wie sein Präsident, das „Katalogmodell“ eines Offiziers mit dem Präsidenten Nigerias. Und obwohl die gleichfalls fiktionale Provinz Abazon im Nordwesten des Staates liegt und nicht im Süden wie die Provinz der Ibos, so haben doch die Menschen dieser Provinz gleicherweise viele Ähnlichkeiten mit den Ibos. Achebe hat auch seine früheren Sympathien für Revoluzzer abgelegt und hat den Roman bewußt von einer multiperspektivischen Grundlage her angelegt. Er läßt gleich eingangs drei Zeit-„Zeugen“ auftreten. Auch wenn sie miteinander befreundet sind und etliches gemeinsam haben, so sind sie doch in vielem auch verschieden. Sein erster Zeuge ist der fiktionale Charakter des Informationsministers Christopher Oriko, sein zweiter der Abazonier und Chefredakteur des Regierungsblattes National Gazette Ikem Osodi und sein dritter ist Beatrice Oko, stellvertretende Staatssekretärin für Finanzen und der erste voll entwickelte „runde“ weibliche Charakter in seinen Romanen. Sie hat an der Universität London Englisch mit Auszeichnung studiert und ist im ersten Regierungsjahr des Präsidenten oft gemeinsam mit Chris Oriko im Präsidentenpalast gewesen. Er weiß, daß man sich einem grundlegenden, naturgegebenen Wandel stets offenhalten muß und jegliche festgefügte Sicherheit einer einzelnen „unzerreißbaren Weltanschauung“ um einen Begriff Musils zu gebrauchen, wird strikt abgelehnt. Der späte Achebe hat ausdrücklich erklärt, 3 Chinua Achebe: Interview with Jane Wilkinson 1987. In: Bernth Lindfors (Hg.): Conversations with Chinua Achebe. Jackson, Mississippi 1997, S. 143. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 28 daß es ihm unmöglich ist, gegebene Gesetze von Menschen zu akzeptieren, die unfähig sind, die Welt in ihrer Komplexität zu sehen: „die Fanatiker jeglicher Sorte von rechts wie von links und die Fundamentalisten aller Art.“ 4 Freilich ist auch im neuen, unabhängigen afrikanischen Staat vieles von den Engländern geblieben: nicht nur ist die Amtssprache genau so englisch wie die Sprache von Achebes Romanen, sondern der neue Präsident und Militärdiktator Sam - wahrscheinlich nachgebildet dem historischen Vorbild von General Muhammedu Buhaniputsowe - ist in der britischen Offiziersakademie von Sandhurst ausgebildet worden und war zudem von den Gepflogenheiten der oberen Klassen Englands fasziniert. Das alles ändert allerdings nichts an einer gewissen Grundeinstellung „neuer Macht“. Der erste Zeuge, der Informationsminister Christopher Oriko, kurz Chris genannt, bedient sich dafür des Beispiels „mittelalterlicher Tyrannen“, wenn er erklärt: „Unsere gegenwärtigen afrikanischen Herrscher sind in jeder Hinsicht spät erblühte mittelalterliche Monarchen, selbst die Marxisten unter ihnen.“ 5 Der Name von Chris Oriko klingt übrigens sehr an den Namen Chris Okigbo an, mit dem Achebe einen Verlag gegründet und auf dessen Tod er einen Klagegesang geschrieben hatte. Zwar war der historische Chris nicht Informationsminister wie der fiktionale und ist der historische Chris im Biafra Krieg als Major im Kampf gefallen und nicht wie der fiktionale durch einen korrupten Polizeiwachtmeister ermordet worden, aber er trägt dennoch einzelne Züge von ihm. Die weitaus meisten autobiographischen Züge aber trägt der zweite „Zeuge“ Ikem Osmodi, der ein erfolgreicher, blendender Journalist ist, wie Achebe dies im Rundfunk war, und der darüber hinaus ein begnadeter Dichter ist. Durchaus Achebe gleich ist er in seiner Eigenschaft, sich kompromißlos seine geistige Unabhängigkeit zu bewahren und zu schreiben, was wahr ist, ohne Rücksicht auf jegliche Konsequenzen. Wenn er schließlich vom Geheimdienst des Präsidenten verhaftet und ermordet wird, dann geht es um eine Wiederholung des Geschicks von Obi, der auch im Roman sterben mußte, damit der Autor überleben konnte. Gleich am Beginn des Romans gelten nicht weniger als sechs Kapitel diesem zweiten „Zeugen“, die durch ein Motto des radikal antiwestlichen, westafrikanischen Dichters David Diop aus Senegal eingeleitet werden. Auch der fiktionale Charakter Ikem neigt gelegentlich zu radikalen Ausfällen, doch ist er in keiner Weise als unkritisch gezeichnet. Seine Leitideen: Anti-Fanatismus und Neigung zu Toleranz verbinden ihn zutiefst mit dem autobiographischen, realen Modell. Daß er aber nicht mehr den frühen, radikalen Achebe repräsentiert, sondern den späten Achebe der Termitenhügel zeigt der satirische Abschluß des zwölften Kapitels, in welchem der linksradikale Professor und Literatursoziologe, der bei 4 Bernth Lindfors, op. cit., S. 143. 5 Chinua Achebe: Termitenhügel in der Savanne. Frankfurt 1991, S. 85. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 29 einem Vortrag Ikemes den Vorsitz führt, von Autoren (wie Ikeme einer ist) fordert, sie hätten „geistige Rezepte“ zu bieten, was Ikeme mit den Worten zurückweist, sie hätten nicht Rezepte zu „verschreiben“, sondern „ihren Mitmenschen Kopfschmerzen“ zu bereiten. 6 Zwei der wichtigsten gemeinsamen Züge von Chris und Ikebe bei all den Meinungsverschiedenheiten im einzelnen sind aber, daß sie fähig zur Selbstkritik sind und daß sie über sich selbst lachen können, „anders als die pompösen Esel, die jetzt an der Macht sind.“ 7 Die dritte Zeugin ist Beatrice Oko, die einzige, die am Schluß auch den Palastcoup des Austausches des Militärdiktators Sam durch einen neuen General überlebt. Der neue General tritt nicht mehr auf, ist aber im empirisch-historischen Geschehen Nigerias wohl Ibrahim Babangida, dem später ein noch ärgerer Militärdiktator, Sami Abacha folgen sollte. Da die einzig überlebende Beatrice eng mit Chris sowohl wie mit Ikem befreundet war, wird sie das geistige Erbe der beiden weitergeben. In den ersten Kapiteln des Romans gibt jeder der drei „Zeugen“ einen kritischen Bericht, der einen der jeweils größten Mißstände des Landes freilegt, die beseitigt gehören. Chris macht klar, wie dumm, böse und gefährlich die gegenseitige Verleumdung von anderen Regierungsmitgliedern gegenüber dem Präsidenten ist, Ikem berichtet über die entsetzliche Einrichtung der öffentlichen Hinrichtungen und Beatrice schließlich macht die Verachtung und Unterdrückung der Frauen sichtbar, die schon in der alten Stammeswelt der Clans so bestanden hatte, die von ihrem Vater, dem Schulleiter einer anglikanischen Missionsschule fortgesetzt worden war und die im neuen, unabhängigen Staat der schwarzen Militärdiktatur fröhliche Urstände feierte. Würde das alles einfach sachlich aufgelistet, dann machte es vielleicht nur geringen Eindruck. Achebe gelingt es jedoch, durch die Drastik seiner dichterischen Darstellung, dies alles so zu verlebendigen, daß selbst kühl distanzierte Leser ernsthaft ergriffen werden können. So enthält etwa das erste Zeugnis des Informationsministers Chris die Beschreibung, wie der Innenminister Professor Okong, ursprünglich ein politisch völlig amoralischer Prediger der amerikanischen Baptistenkirche, jetzt aber ein neuer Rasputin, Chris beim Präsidenten als dessen gefährlichen Gegner hinstellt. Chris, der den Präsidenten schon seit der Zeit als Freund kennt, da sie beide vierzehnjährig in ein Junior College eingetreten waren, hat selbst Okong dem Präsidenten als Minister vorgeschlagen und der Präsident glaubt auch sofort an die Verleumdung des Jugendfreundes als bösen Gegner. Der einzige Grund von Okongs Verleumdung ist der, daß er sich beim Präsidenten einschmeicheln will, und er verleumdet gleich noch extra außer Chris auch dessen Freund, den 6 Termitenhügel in der Savanne, op. cit., S. 181. 7 Termitenhügel in der Savanne, op. cit., S. 258. Chinua Achebe: „Alles fällt auseinander“ 30 Chefredakteur der Gazette Ikem Osodi. Beiden unterstellt er „Umtriebe“ gegen den Präsidenten. Ärger noch als die Verleumdung zeigt Achebes Darstellung die Reaktion des Präsidenten auf, der das alles sofort glaubt und den General- Staatsanwalt mit einer Untersuchung beauftragt. Dies alles führt später direkt zur Ermordung von Ikem Osodi durch den Geheimdienst und indirekt zu der Ermordung von Chris durch einen Polizeiwachtmeister. Es macht Achebes Auffassung vom Karma einsichtig, daß die zweite Ermordung bei einer spontanen „Feier“ anläßlich des Coups stattfindet, durch den der Präsident abgesetzt wurde. Die Ausführungen des zweiten Zeugen Ikem kulminieren in der Beschreibung einer öffentlichen Hinrichtung, die zu einem Volksfest ausartet und die von unvergesslicher Scheußlichkeit ist. Beatrice aber berichtet, wie ihr Vater, Schulleiter einer Missionsschule sowohl die Töchter wie die Gattin verprügelt und sie hat überzeugende Beispiele über die Zurücksetzung und Unterdrückung von Frauen im neuen Staat, deren drastischstes ihre eigene Einladung in das Landhaus des Präsidenten darstellt, wo sie einer Amerikanerin als Modellfall des politischen Einflusses von Frauen vorgeführt werden soll, da sie als stellvertretende Staatssekretärin für Finanzen das einzige weibliche Regierungsmitglied darstellt. Als Achebe, der für diesen Roman den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hatte, seine Dankesansprache hielt, da wies er darauf hin, daß er diesem Preis und der damit verbundenen internationalen Anerkennung sein Leben verdanke, da er wegen des kritischen Gehalts seiner Bücher von der nigerianischen Regierung in Acht und Bann gestoßen worden sei. Dabei geht es ihm vor allem um eine positive Botschaft, die trotz alles Vermeidens von festen Punkten einfach, klar und menschlich genug ist, und die sich notwendig aus der Beschreibung der Mißstände ergibt. Innerhalb des Miniaturmodells von Nigeria gibt es sowohl christliche wie islamische wie animistische religiöse Traditionen und Achebe tritt für eine ökumenische Aussöhnung ein. Zu allerletzt aber einigen sich Beatrice und der späte junge Freund des toten Chris Emmanuel, Präsident der Studentenunion, darauf, daß es immer auf Ideen und Menschen ankäme und daß unserem Denken auf gar keinen Fall Schranken gesetzt werden dürfen. Im praktischen Bereich aber konzentriert sich die Hoffnung sinnbildlich auf ein neugeborenes Kind, ähnlich wie in Hermann Brochs Roman Der Versucher auf ein demnächst erwartetes. Es ist das Kind des ermordeten Ikem und wird auf den Namen AMAECHINA getauft, was so viel bedeutet wie „Möge der Pfad niemals enden.“ Wie der eigene, selten gebrauchte, voll ausgeschriebene Vorname Achebes Chinualumogo lautet, was so viel bedeutet wie „Gott kämpft zu seinen Gunsten“. Im Hinblick auf die fünfzig Millionen verkauften Exemplare seiner Bücher scheint sich der Name bewährt zu haben. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem „Infolge der geschichtlichen Katastrophe, da der römische Kaiser Titus Jerusalem zerstörte und Israel aus seinem Land ins Exil getrieben worden war, wurde ich in einer der Städte des Exils geboren. Aber die ganze Zeit bildete ich mir ein, in Jerusalem geboren worden zu sein.“ 1 Diese viel zitierten Sätze aus einer posthum erschienenen Sammlung von Essays und Reden zeigt die tiefe Verbundenheit dieses Autors mit Jerusalem und Israel, da er nach seiner endgültigen Niederlassung dort tatsächlich so empfunden hat, daß mit der Flucht aus seiner ursprünglichen Heimat in das „Exil“ nach Eretz Israel ein viel älteres Exil aufgehoben worden war, und er seinen Platz in seiner wirklichen Heimat gefunden hatte. Manche, und natürlich vornehmlich Sabras, haben ein „Dilemma“ darin sehen wollen, daß er seine engere Heimat und besonders seine Vaterstadt Butschatsch niemals ganz vergessen konnte und in jener Weise an ihr hing, wie man eben an der Kindheit hängt, da diese in fast allen Menschen einen tieferen Eindruck zu hinterlassen pflegt, als viele annehmen. Wer immer seine ursprüngliche Heimat für eine noch so geliebte neue Wahlheimat aufgegeben hat, wird dies verstehen und nur wer nie in einer solchen Lage war, könnte Schwierigkeiten haben, es zu begreifen. Jedenfalls hat er ganz eindeutig als seine eigentliche, wahre und wirkliche Heimat Jerusalem empfunden und seine Etikettierung als „letzter Mohikaner der hebräischen Literatur aus der Diaspora“ hätte ihn sehr gekränkt. Die Heimatstadt seiner Kindheit im altösterreichischen Galizien, wo seine Eltern begraben sind und wo er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hat, ist demnach immer wieder in seinem Werk aufgetaucht. Wenn er sie auch in der äußeren Realität ihres späteren Niedergangs und ihrer späteren Verderbtheit mitleidlos geschildert hat, so war sie eben doch jener kleine Flecken Erde gewesen, wo er als Kind in der Geborgenheit elterlicher Liebe diese Welt zum ersten Mal geschaut hatte. Tatsächlich hat er bei seiner Geburt Schmul Yosef Czaczkas geheißen und hat den Namen Agnon zunächst nur als Pseudonym angenommen. Dieses Pseudonym wählte er aber nicht zufällig aus der ersten Geschichte, die er in Palästina unter dem Titel „Agunot. A tale“ veröffentlicht hatte. Er zeichnete die Erzählung als „Sh-Y Agnoin“, der „Erzähler von ‚Agunot‘“. War er in der Stadt der Kindheit Czaczkas gewesen, so war er nun ein anderer Mensch geworden und als palästinisch-israelischer Dichter Agnon. Ab 1924 war Agnon auch sein wirklicher Name. 1 S. Y. Agnon: Von mir zu mir. (Hebräisch), Tel Aviv 1976, S. 85. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 32 Bei seiner ersten Auswanderung nach Palästina, war dies damals eine verkommene, südliche syrische Provinz des Osmanischen Reiches gewesen. Geboren wurde Agnon am 08. August 1887, doch hat er nicht nur seinen Namen, sondern auch sein Geburtsdatum geändert und zwar auf Grund hebräischer Zahlensymbolik auf den 08. August 1888. Auch darin zeigt sich der Wunsch, ein völlig neuer Mensch zu sein und es war gar nicht so unüblich das zu tun. Auch Chagall hat sein Geburtsdatum aus denselben Motiven geändert. Im Alter von drei bis zehn Jahren hatte Agnon Privatlehrer im Talmud und in Deutsch. Chassidische Literatur wurde ihm durch den Vater in dessen Bethaus vertraut. Der Vater war ein Anhänger des chassidischen Rebe David Mosche von Czortkow, und er ging in das chassidische Bethaus von Butschatsch. Die einschneidendste Wendung im Leben von Agnon war seine Auswanderung nach Palästina. Zwar hatte er sich schon immer einer zionistischen Gruppe angeschlossen, doch war es Usus, Geld für Palästina zu sammeln, aber nicht wirklich dorthin zu gehen. Den äußeren Anstoß für die Entscheidung des Einundzwanzigjährigen gab die drohende Einberufung zur österreichischen Armee. Für den gläubigen Juden bedeutete dies auch in Friedenszeiten ein echtes Dilemma, da er beim Militär weder koscher essen noch den heiligen Sabbat halten konnte. Obwohl die jüdischen Bürger grundsätzlich zu den loyalsten in der alten Donaumonarchie gehörten, da sie stolz darauf waren, daß sie im Unterschied zu ihren Glaubensbrüdern im benachbarten Rußland die gleichen Rechte wie alle anderen besaßen, war die drohende Einberufung ein guter Grund, mit dem längst angenommenen Zionismus Ernst zu machen. Agnon wurde durch seine Emigration nach Palästina ein Mitglied der „Zweiten Aliya“, das heißt der zweiten Welle von Auswanderern und Ansiedlern zwischen den Jahren 1904 und 1914. Viele von dieser zweiten Welle kehrten allerdings wieder zurück. Die Mitglieder dieser zweiten Welle betrachteten sich als eine Art Elite und da viele, wenn nicht die meisten von ihnen säkulare Siedler waren, brachten sie eine neue Ideologie für Palästina mit sich, da sie für eine Erneuerung des jüdischen Volkes durch die Rückkehr zu produktiver Arbeit und vor allem zu landwirtschaftlicher Arbeit eintraten. Von der hebräischen Tradition hatten sie aber nur die Sprache behalten, während sie völlig areligiös waren. Sie gründeten rein weltliche hebräische Schulen, wurden auch zu den Gründern der Stadt Tel Aviv und zu den Begründern einer jüdischen Selbstverteidigungs-Organisation. Gewiß gab es bei der zweiten Welle auch etliche traditionelle Juden. Der Großteil aber kam aus dem zaristischen Rußland, floh vor Armut und Pogromen und hielt sich lediglich an die Parole: „Hebräisches Land, hebräische Arbeit, hebräische Sprache“. Es gab eine marxistische zionistische Partei und eine antimarxistische zionistische Partei. Als Agnon in Jaffa eintraf, hatte er bereits in Galizien nicht weniger als siebzig kleine Stücke an Literatur sowohl in hebräischer wie in jiddischer Sprache veröffentlicht. Er verdiente seinen Lebensunterhalt durch Stunden Geben, ge- S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 33 legentliche Honorare für seine literarischen Arbeiten und mitunter auch als Sekretär und Angestellter. So war er einige Zeit Sekretär von Arthur Ruppin, einem der wichtigsten zionistischen Führer. Mit der völlig areligiösen Haltung der neuen Ansiedler hat er sich niemals identifiziert. Agnon schloß sich der kleinen Gruppe von Schriftstellern an, von denen Josef Chajm Brenner und Simha Ben-Tsion eine Art Führerrolle einnahmen. Er war besonders Brenner tief verbunden, der als spiritueller Leiter der Gruppe von manchen wie ein weltlicher Heiliger angesehen wurde und der durch Askese und physische Arbeit hervorstach. Brenner schätzte umgekehrt den um sechs Jahre jüngeren Agnon so sehr, daß er erklärte: „Durch ihn hatte“ die Zeitschrift Ha-Omer „die Auszeichnung, Hervorragenderes zu veröffentlichen als irgend etwas sonst, was von uns gedruckt wurde.“ 2 Der aus Rußland stammende Dostojewski-Verehrer Brenner war allerdings schwer, ernsthaft und sarkastisch, während Agnon, aus dem österreichischen Galizien stammend, leichter und ironisch war. Er schätzte in seiner Frühzeit besonders Hamsun und Jens Peter Jacobsen und später Homer, Cervantes, Flaubert. Im Jahr 1912 lebte er einige Monate in Jerusalem, wo Brenner auf seine eigenen Kosten Agnons bedeutendstes frühes Erzählwerk Und das Krumme wird gerade veröffentlichte. Wenige Monate später kehrte Agnon nach Europa zurück. Wiederum hatte es einen äußeren Anlaß gegeben. Als die Türkei auf Seiten Deutschlands und Österreichs in den Ersten Balkankrieg eingetreten war, begannen die türkischen Autoritäten in Palästina die Juden zu verfolgen. Wie viele andere floh auch Agnon und ging nach Berlin. Diese Stadt war nicht zuletzt darum von großer Wichtigkeit für ihn, weil er hier den Verleger seines Lebens, Salman Schocken, kennenlernte. Wiederum begann er, seinen Unterhalt durch Stunden Geben zu verdienen und arbeitete daneben für den „Jüdischen Verlag“. Max Strauss übersetzte Agnons Geschichten ins Deutsche, die in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude veröffentlicht wurden und ihn unter den deutschen Juden bekannt machten. Sowohl die Stadt der Kindheit, Butschatsch, wie die Zweite Aliya hatten ihn geprägt, wie er damals literarisch überhaupt eine Mischung aus hebräischer und europäischer Kultur repräsentierte. Gemeinsam mit Martin Buber arbeitete er an chassidischen Geschichten. Aus dem Jahr 1916 stammt eine Äußerung Bubers, welche bezeugt, wie hoch dieser ihn stellte. Er nannte ihn eine heilige Autorität für das jüdische Leben. Dabei unterstrich er als besonders positiv gerade jene kulturelle Verschmelzung, da Agnon in seinem gläubigen Herzen das Wesen von zwei Welten, jener Galiziens wie jener Palästinas trage, die durch seine heilige Autorität ausgeglichen werden. 3 2 Zitat nach Gershon Shaked: Shmuel Yosef Agnon. New York und London 1989, S.-10. 3 Martin Buber: „Über Agnon“. In: Treue. Eine jüdische Sammelschrift. Hg. von Leo Harmann, Berlin 1916, S. 59. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 34 Nach dem Krieg heiratete Agnon Esther Marx, die aus einer Familie stammte, welche sowohl um den Zionismus wie um jüdische Studien große Verdienste hatte. Er lebte mit ihr von 1921 bis 1924 in Bad Homburg, wo auch seine Tochter und sein Sohn geboren wurden. Im Jahr 1924 zerstörte ein Feuer seine Wohnung und mit ihr eine Sammlung kostbarer Judaica sowie das Manuskript eines langen Romans. Eine Gruppe jüdischer Autoren hatte in Bad Homburg eine Art Zuflucht gefunden. Unter ihnen wurde Agnon durch Salman Schocken so unterstützt, daß er sich ganz dem Schreiben widmen konnte. Manche seiner Geschichten, wie etwa „Die Erzählung vom Thoraschreiber“ waren in deutscher Übersetzung erschienen, noch bevor das hebräische Original veröffentlicht worden war. Nach der Zerstörung seiner Wohnung durch den Brand, den er als warnendes Omen deutete, ging Agnon noch im selben Jahr - jetzt zusammen mit seiner Familie - zum zweiten Mal nach Palästina, das nicht mehr zum osmanischen Reich gehörte, sondern britisches Mandatsgebiet geworden war. Dazu hatte die Balfour Deklaration von 1917, die später in den Friedensvertrag von Sèvres inkorporiert worden war, den zionistischen Siedlern ein „nationales Heim für das jüdische Volk“ in Palästina versprochen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden denn auch die ersten Kibbuzim gegründet. Die russische Revolution hatte zudem eine dritte Aliya ausgelöst. Es waren aber die Führer der Zweiten Aliya, wie Berl Katznelson, David Ben Gurion und Meir Dizengoff, welche die Führer der zweiten und neuen „Jischuf“ oder Besiedlung Palästinas wurden. Einige dieser Führer waren die besonderen Vorbilder von Agnon, nämlich der Schriftsteller Josef Chajm Brenner, der erste Oberrabbiner des britischen Mandatsgebiets Avraham Jitzhak Kook, der erste zionistische Repräsentant in Palästina Arthur Ruppin und der spirituelle Leiter der zionistischen Arbeiterbewegung Berl Katznelson. Nach Agnon war es Brenner, der den jungen Siedlern Bescheidenheit und Demut empfahl, Ruppin derjenige, der sie lehrte, nicht zu viel zu erwarten, aber dafür zu tun, was immer in ihrer Kraft stand. Kook erklärte ihnen, daß die Bearbeitung des Landes heiliger Dienst sei und Katznelson lehrte sie alle diese Dinge zusammen. Als 1929 arabische Pogrome gegen die Juden ausbrachen, wurde auch Agnons Haus in Talpiot bei Jerusalem schwer beschädigt und er verlor zum zweiten Mal seine Bibliothek. Im Jahr 1930 ging er kurz nach Leipzig, wo Schocken seine gesammelten Werke in hebräischer Sprache in vier Bänden 1932 herausbrachte. Er lehnte eine Einladung nach Skandinavien ab, um im Sommer 1930 noch einmal und für viele Monate die Stadt seiner Kindheit Butschatsch in seinem „Heimatland“ Polen zu besuchen. Dieser Besuch war die autobiographische Grundlage zu seinem Roman Nur wie ein Gast zur Nacht, der 1939 erschien. In diesem Roman gibt Agnon seiner eigenen Biographie eine sinnbildliche Deutung. Sein Heim war wie der Tempel von Jerusalem zwei Mal zerstört worden. Seine vorübergehende Rückkehr nach Europa von 1912 bis 1924 aber S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 35 vergleicht er mit dem Exil der jüdischen Diaspora. Auch in diesem weitgehend autobiographischen Roman gilt Israel nicht nur als letzte, sondern als die eigentlich wirkliche Heimat. Dieser Roman Nur wie ein Gast zur Nacht ist der Roman der Stadt seiner Kindheit, allerdings nicht in jener Zeit seiner Kindheit, sondern in der späteren Zeit der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen. Die reale Grundlage für den Roman bildet sein Besuch für etliche Monate in Butschatsch im Jahr 1930. Er nennt die Stadt im Roman allerdings nicht Butschatsch, sondern Szibucz, wodurch er sie beispielhaft zum dichterischen Prototyp des ostjüdischen „Schtetl“ macht und unter dem Namen Szibucz kehrt sie auch oftmals in anderen Erzählwerken wieder. Wie Schalom Aleichem sieht er im „Schtetl“ der Zwischenkriegszeit bereits eine lebende Leiche, wobei Schalom Aleichem den Zerfall aus der Perspektive eines verzeihenden, ja fast tröstlichen Humors schildert, während Agnon das Schtetl als makabre und tragische Groteske des Verfalls sieht. Für ihn war der Holocaust nicht plötzlich, gleichsam aus dem Blauen, hereingebrochen, sondern war nur der Endpunkt einer Entwicklung, die bereits mit dem Ersten Weltkrieg einzusetzen begonnen hatte, ja im Grunde bereits mit dem Streit zwischen Chassidim und Mitnagdim. Die Juden hatten sich durch Spaltung und Zerfall besonders anfällig für die zerstörerische Gewalt der Gegner von außen gemacht, die bereits mit den Pogromen in Polen nach dem Ersten Weltkrieg einsetzten. Nur die ersten dieser Pogrome wurden von der Presse berichtet, da sie durch ihre Wiederholung den Charakter der Sensation verloren hatten. Zugleich damit beginnt der tiefere religiöse Zusammenhalt der Menschen zu zerfallen. Es ist sehr aufschlußreich, wie der spätere Agnon der Fünfzigerjahre in der Selbstdarstellung „Das Geheimnis Geschichten zu schreiben“ sein Werk aus der Reaktion des Schmerzes über den Zerfall der großen, alten Zeit heiler religiöser Tradition erklärt: Der Tempel ist zerstört, es gibt keine Priester mehr die ihre heilige Arbeit verrichten, noch Leviten, die diese besingen. Wenn er zurückblickt auf die alten Zeiten mit ihren großartigen geistigen Schätzen, von denen nichts geblieben ist, als ein kärglicher Bericht, dann ist er von Trauer erfüllt und sein Herz erschaudert. Aus jenem Erschaudern heraus aber schreibe er seine Geschichten, wie ein Mann, der aus dem Palast seines Vaters vertrieben, sich eine winzige Hütte gebaut hat, in welcher er sitzt und den Ruhm vom Hause der Vorväter berichtet. Auch in der Literatur sah er in den Alten die erhabenste Größe und einer seiner Biographen hat ihn einen „revolutionären Traditionalisten“ genannt. 4 Spiritueller Traditionalismus ist auch eine der wichtigsten Botschaften Agnons gegenüber dem Chaos und hängt mit dem Einfluß jüdischer Esoterik auf sein 4 Die Biographie von Gershon Shaked, op. cit., trägt den Untertitel: A Revolutionary Traditionalist. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 36 Werk eng zusammen, auf den kein Geringerer als Gershom Scholem aufmerksam gemacht hat. 5 Agnons Werk beruht denn auch in einem höheren Ausmaß als das anderer, moderner israelischer Autoren auf intertextuellen Bezügen. Der ideale Leser, der ihm vorschwebt, ist jemand, für den die Traditionen heiliger Schriften eine völlig natürliche Bildungsvoraussetzung darstellen. Das geht so weit, daß er sogar den Hund Balak, der in seinem Roman Gestern, Vorgestern eine Hauptrolle spielt, bei dessen Beschreibung der Schöpfung von der Perspektive eines Hundes aus die Sprache des Genesis-Kommentars durch den Midrasch in den Mund legt. Der ideale Leser aber vermag ebenso wie sein Autor zu unterscheiden zwischen der modernen Geschichte und dem heiligen Kanon der Vergangenheit. Dadurch ist er auch imstande, Bezüge zwischen beiden herzustellen und zu verstehen. Der Roman Nur wie ein Gast zur Nacht wird in der Ich-Form erzählt, weitgehend als innerer Monolog, und trotz einiger kleiner Abweichungen von den empirischen Tatsachen wird die historische innere Wahrheit sehr genau berichtet. Umgestiegen in einen kleinen Lokalzug trifft der Ich-Erzähler - sinnbildlich genau überlegt - am Abend des Versöhnungstages in der Stadt seiner Kindheit ein. Noch im Zug hatte er, als die ersten Häuser auftauchten, die Hand auf sein Herz gelegt und die Hand hatte auf dem Herzen ebenso gebebt wie das Herz unter der Hand. Doch sofort nach dem Aussteigen aus dem Zug beginnen die Enttäuschungen. Auf seinem Weg vom Bahnhof zum Zentrum der Stadt findet er nicht nur alle Gebäude, sondern sogar die Zwischenräume zwischen ihnen verändert. Lediglich der „Geruch der Stadt“ in jener Jahreszeit, nach in Honig gekochter Hirse war gleich geblieben. Aber an den Straßenecken standen nicht wie um diese Tageszeit gewöhnlich Buben und Mädchen. Als er im Zentrum eine Gruppe von Männern beisammen stehen sieht, fragt er nach einem guten Hotel. Der Mann, der ihn schließlich zu dem Hotel führt, da es an seinem Weg liegt, berichtet ihm, daß er „körperlich“ gesund den polnischen Pogromen entkommen war, und versichert ihm, nicht mehr an die Kraft des Versöhnungstages zu glauben. Nachdem der Ich-Erzähler sein Gepäck im Hotel abgestellt hatte, packte er seinen Gebetsschal aus und ging in die große Synagoge. Er kannte aber keinen einzigen Mann. Der Glanz, der am Abend des Versöhnungstages auf den Häuptern der heiligen Kongregation erstrahlen sollte, erstrahlte nicht und ihre Gebetsschals verbreiteten kein Licht. Die Luster wurden im Krieg geplündert und nicht alle waren gekommen, um zu beten. Zudem schien es, daß der Kantor die Gebete verkürzte. Und als alles zu Ende war, da wurden nicht im Anschluß die Psalmen rezitiert oder das Lied von der Einheit oder das Lied des 5 Vgl. die ausführliche Anmerkung Nr. 46 in Shakeds Biographie, op. cit., S. 38. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 37 Ruhmes gesungen, sondern die Synagoge wurde zugesperrt und alle gingen heim. Das Gerüst der Fabel des Romans ist einfach: Der Ich-Erzähler, dem wie Agnon sein Heim zweimal zerstört worden ist, trifft aus Palästina kommend in der Stadt seiner Kindheit ein und muß den Niedergang und Verfall der Juden entdecken. Der Titel des Romans ist nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu nehmen, denn der Ich-Erzähler verweilt, nachdem er wie der Autor Frau und Kinder in Berlin bei Verwandten zurückgelassen hat, rund ein Jahr, was auch Agnons Aufenthalt im Jahr 1930 entspricht. Der Erzähler kommt an, und besucht nach der Synagoge das Bethaus, in das ihn sein Vater immer mitgenommen hatte, der ein Anhänger des berühmten David Mosche von Czortkow, einem Nachkommen des großen Maggid der chassidischen Tradition gewesen war. Er findet heraus, daß eine ganze Gruppe von Juden, und gerade jene, die das Bethaus des Czortkowers benutzten, am nächsten Tag die kleine Stadt für immer verlassen wollten. Die Verantwortlichen entschließen sich, ihm, der doch nur ein Gast zur Nacht ist, den Schlüssel zum Bethaus zu überlassen. Unter seiner Obhut nimmt das Bethaus zunächst einen neuen Aufschwung. Er verliert den großen Schlüssel zum Bethaus und muß einen neuen anfertigen lassen. Dann folgt ein erneuter Niedergang des Besuches des Bethauses, so daß er zuletzt mit seinem Schlüssel ganz allein dasteht und „kalkuliert“, daß es Zeit ist, nach Israel zurückzukehren. Natürlich hat er in all den Monaten mit vielen Glaubensgenossen gesprochen und vieles erfahren. Er geht mit seiner Familie wiederum nach Jerusalem zurück und mietet ein kleines Haus. Mit ein paar geretteten Büchern beginnt er zum dritten Mal eine Bibliothek zu gründen, und er schickt seine Kinder zur Schule. Da entdeckt er plötzlich den ursprünglichen, „verlorenen“ Schlüssel in seinem Gepäck. Während er überlegt, was damit zu tun sei, fällt ihm plötzlich der Ausspruch eines alten Weisen aus gesegneter Erinnerung ein: „Die Synagogen und Bethäuser von auswärts sind dazu ausersehen, im Lande Israel errichtet zu werden.“ Da sagte er sich: Wenn das so sein soll, dann wird dieser Mann den Schlüssel des einen Bethauses in seinem Besitz haben. Und er hing den Schlüssel in einen Kasten. Manches Mal während seiner Arbeit erinnerte er sich plötzlich der Worte „Es ist ausersehen, daß die Synagogen und Bethäuser…“. Dann öffnete er das Fenster, um zu schauen, ob es bereits so weit wäre. Aber das Land ist wüst und still und kein Geräusch von Schritten in den Synagogen und Bethäusern kann gehört werden. Der Schlüssel aber war da und wartete mit ihm auf den Tag. Jener ist allerdings aus Eisen und Messing gemacht und kann warten, während er selbst, aus Fleisch und Blut gemacht, es schwer fand, das Warten zu ertragen. Wobei der Schlüssel natürlich nicht nur für die äußere Hülle der Gebäude steht, sondern sinnbildlich auch für den Zugang und das Verständnis der heiligen Schriften. Nicht zufällig kommt er ja aus Jerusalem. Und für Agnon bedeutet diese Kenntnis in vielfacher Hinsicht einen Ausweg aus dem Chaos. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 38 Den eigentlichen Gehalt des Romans bilden zahlreiche kleine Geschichten und Episoden, die Begegnungen des Ich-Erzählers mit Bewohnern von Szibucz schildern. Sie sind in einer fast märchenhaft wirkenden, einfachen Sprache geschrieben, die daran erinnert, daß Agnon nicht nur selbst von der Kindheit und Jugend her aus chassidisch-mystischer Tradition kommt, sondern daß er in Berlin gemeinsam mit Martin Buber an chassidischen Geschichten gearbeitet hat. Der Hauptunterschied zu den chassidischen Geschichten besteht in ihrem Gehalt, da die Geschichten aus dem Roman nicht Wundertaten eines Zaddik beschreiben, sondern den Niedergang, Verfall und das Chaos des Judentums in Szibucz, wobei dem Ich-Erzähler die Rolle des Gegenspielers gegen diesen Niedergang zufällt. Einige der insgesamt achtzig Kapitel des Romans stechen insofern heraus, als sie sich in besonderer Weise mit allgemeinen Problemen von Wichtigkeit auseinandersetzen. Dazu gehören die Kapitel 34 und 35, in denen der Autor auf seine Weise aus dem Chaos von oft widersprüchlicher Vielfalt Ordnung und Klarstellung des eigentlichen Sinns zu bringen versucht. Hier zeigt es sich, daß Agnon ein spiritueller Traditionalist ersten Ranges ist. Er betrachtet es als die Stärke von Szibucz, daß es alle Neuerungen überlebt und zu der alten Weisheit zurückkehrt, mit Ausnahme des „sephardischen Ritus“, der neu ist, „aber bereits Wurzeln gefaßt hat“. Es geht ihm um die Einheit des Judentums und dessen Rückkehr zu den Ursprüngen. Als die ursprünglichen Quellen aber sieht er die besonderen „Melodien“, die am Sinai offenbart worden waren zusammen mit anderen alten „Melodien“, die auf die mittelalterlichen jüdischen Märtyrer Deutschlands zurückgingen, die, lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt, „Gesänge“ der Ekstasen und des Dankes angestimmt hatten, da sie dem HERRN nahten. Vorbeter formulierten dies in Worte und Gebete. Einige Absätze gelten dem Begründer der dritten und bisher letzten mystischen Tradition des Judentums, des Chassidismus, Baal Schem Tow. Aber auch im Chassidismus gab es einen Niedergang, der so weit führte, daß manche Neuankömmlinge im Czortkower Bethaus von Szibucz nur mehr daran als Chassidim zu erkennen waren, daß sie einander chassidische Geschichten erzählten. Am Ende des 35. Kapitels mit seinem Bericht des Niedergangs wird zuletzt der „Rabbi Avigdor“ von der Tradition überhaupt völlig ausgegrenzt. Es ist eine Anspielung auf den amerikanischen Rabbi Avigdor Miller. Dieser war wie Agnon, allerdings von Amerika aus, 1932 nach Osteuropa gegangen und erst 1938 in die USA zurückgekehrt. Seine Ausgrenzung durch den Ich- Erzähler erfolgte zweifellos darum, weil er einer der ersten Rabbis in den USA gewesen ist, der gegen den säkularen Zionismus auftrat und ihn als Anti-Thora- Lehre verbannte. Obwohl Agnon bei seiner ersten Auswanderung nach Palästina der weitgehend zweiten, säkularen Aliya angehört hatte, war seine religiöse Haltung von ihm andererseits niemals aufgegeben worden und hatte mit zu seiner Sehnsucht S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 39 nach der Stadt der Kindheit beigetragen. Das letzte Ziel war jedoch von Anfang an Jerusalem gewesen und ist es auch geblieben. Er hatte es verstanden - wie später auch Buber - die endgültige „Heimkehr“ nach Jerusalem mit seiner religiösen Überzeugung zu verbinden. Einen Hinweis auf diese Haltung geben die Kapitel 42 und 57, in denen der Ich-Erzähler auf das kranke Kind Raphael, den Sohn seines Freundes David Bach, trifft. Zunächst erzählt Raphael wie in einer chassidischen Wundergeschichte, er hätte in der Synagoge das Lesen der Thora gehört, als er noch als Fötus im Leib seiner Mutter gelegen war. Die Haltung des Ich- Erzählers, der kein Eiferer ist, geht trotz seiner Religiosität ganz gut mit Zügen des säkularen Zionismus zusammen. Erklärt er doch Raphael: „Tue und erwarte nichts.“ Und im späteren Kapitel berichtet er, Chassidim seien Männer der Tat und die chassidischen Erzählungen dienten der Steigerung des Ruhms der Zaddikim (Meister), welche die Gnade besaßen, wunderbare Taten zu vollbringen. Es ist auch das kranke Kind Raphael, das im Gespräch den Fluß Sambatyon aufbringt, wodurch die realen Begegnungen durchbrochen werden und ein jüdischer Mythos Leben gewinnt. Der Fluß Sambatyon umschließt das Land der zehn Stämme Israels und sechs Tage der Woche schleudert er so viel Sand und Steine in die Luft, daß niemand ihn zu überschreiten vermag, um in das Land von Moses zu gelangen. Nur am siebenten Tag, am Sabbat, stellt der Fluß seine trockene Gewalttätigkeit ein, aber fromme Juden dürfen am Sabbat nicht reisen und können ihn daher wiederum nicht überschreiten. Das Kapitel schließt mit der Geschichte eines Vaters, der seinem Sohn am gegenüberliegenden, nicht zu erreichenden Ufer des Flusses gegenübersteht und ihm zuruft, zurück nach Jerusalem zu gehen und die Thora zu studieren. Wenn die Zeit für das Kommen des Messias reif sein wird, würde er mit allen Brüdern, den Söhnen des Moses zurückkehren und sich mit ihm vereinen. Zwei der Kapitel, 72 und 73, unterbrechen die Kette der fortlaufenden kleinen Geschichten der Begegnungen des Ich-Erzählers mit Menschen von Szibucz durch Selbstreflexion. Man muß sich vergegenwärtigen, daß diese Begegnungen im überwiegenden Maß eine einzige Kette von Enttäuschungen über den Niedergang des Judentums und des Mitleids mit den Menschen dieser Stadt sind. Die materiellen, körperlichen und vor allem seelischen Entsetzlichkeiten des Ersten Weltkriegs und der im neuen Polen ausgebrochenen Pogrome waren an sich schon ein ungeheures Pandämonium gewesen, dessen Auswirkungen er nur durch das Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zum Land Israel und durch seine tiefe, religiöse Überzeugungskraft ertragen hatte können. Dazu kommt noch zusätzlich das Wissen und Bewußtsein, daß im Haus von Antos Agopowitz der alte, pensionierte russische Oberst Strachilo, Professor Lukaciewiz und zwei oder drei andere Herrn zusammen essen und trinken und plaudern, wie man den Juden etwas antun könnte. Der Antisemitismus brauchte keineswegs fröh- S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 40 liche Urständ zu feiern, denn er war immer da gewesen und war nur durch Habsburg in Galizien gebremst worden. Der Übergang von der Erinnerung an die Kindheitstage, wenn der Ich- Erzähler mit dem Vater den Zaddik David Mosche in seinem prachtvollen Palast in Czortkow besucht hatte, zu der baulich wie psychologisch zerfallenden Stadt war ein ungeheurer Kulturschock gewesen. Im 72. Kapitel mit dem Titel „Zwischen mir und mir selbst“, das eine Art kleiner Urfassung zu Agnons späterem Buch mit demselben Titel darstellt, versucht er sich Rechenschaft zu geben und Schlußfolgerungen zu ziehen. Er findet, daß er im Unterschied zur Vergangenheit, als ihm die Kluft zwischen arm und reich wichtig schien, nunmehr echten Trost im Glauben finde: „Ich studiere eine Seite der Gemara und mein Herz füllt sich mit Liebe und Hingabe sogar für die trivialen Belange der Juden, seit die Weisen von ihnen berichteten: Groß ist die Thora, denn sie führt zur Liebe.“ 6 Das ist eine der wichtigsten Antworten Agnons auf das Pandämonium der Stadt seiner Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeit. Diese „Lösung“ aber, obwohl sie tief in der Tradition seiner eigenen, konfessionellen Herkunft wurzelt, weist gleichzeitig weit über diese hinaus zu einem Gleichklang und einer Parallele mit anderen spirituellen Traditionen und wächst so zur Gültigkeit empor für die Menschheit schlechthin. Im folgenden Kapitel „Der Weg eines Schriftstellers“ führt er unterschiedliche Formen von Dichtern an und schließt zusammenfassend - und das zielt besonders auf ihn selbst -: es ginge für jene Autoren nicht darum, die Macht zu haben, um wie die eine oder die andere Gruppe zu agieren, sondern darum, daß sie wie Kinder wären, die ihre Feder in die Tinte tauchen, um zu schreiben, was der Meister diktiert. So lange das Schreiben des Meisters vor ihnen liegt, ist das Werk des Schriftstellers wunderbar, doch wenn es fortgenommen wird oder wenn er die Worte verändert, ist es gar nicht mehr wunderbar. Die Muse ist also die Stimme des HERRN und es besteht kein Zweifel, daß Agnon sehr bemüht war, ihr so genau wie möglich zu folgen. Zuletzt hat Agnon noch eine Art chassidischer Wundergeschichte in die Fabel seines Romans eingebaut, obwohl die Geschichte nicht von einem Zaddik, sondern von ihm selbst handelt und obwohl sie eine sehr natürliche Erklärung hat. In seiner Hingabe an die Stadt seiner Kindheit hatte sein Ich- Erzähler übersehen, daß sein Geld bereits so hingeschwunden war, daß er nicht mehr die Fahrkarte für sich selbst, geschweige denn für seine Familie, zurück nach Hause nach Jerusalem kaufen konnte. Da sendet ihm plötzlich seine Frau die Fahrkarte, er trifft sie mit den Kindern in Triest und kehrt heim. 6 S. Y. Agnon: A Guest for the Night. Madison, Wisconsin 2004, S. 440. Übersetzt vom Autor. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 41 In einem letzten Rückblick empfindet er, wie ganz Szibucz auf die göttliche Gnade wartet, jeder auf seine Weise. Aber der Handel ist schlecht und keiner verdient wirklich genug, um essen zu können. Wenn aber jemand einen Zloty verdient, kommt die Regierung und nimmt die eine Hälfte davon für Steuern und die andere Hälfte für Abgaben. Nur zwei Bürger, Antos und Zwirn, werden andauernd reicher, doch zweifelt er, ob das wirklich ein Trost ist. Es gab viele Menschen in Szibucz, über die er nicht berichtet hatte, aber es besteht ein heiliger Pakt für das Land von Israel, daß jeder, der sich nicht in diesem Land niederläßt, vergessen wird, während jeder, der den Vorzug hat, dorthin zu gehören, erinnert werden wird. Steht doch geschrieben im Buch des Propheten Jesaja: „Und wer da wird übrig sein in Zion und übrig bleiben in Jerusalem, der wird heilig heißen, ein jeder, der aufgeschrieben ist zum Leben in Jerusalem.“ 7 Gerade in diesem Zusammenhang ist die späte, kleine Geschichte des jungen Zvi von Bedeutung, der in der Umgebung von Szibucz als Landarbeiter trainiert hatte, um sich auf sein Leben im Land Israel vorzubereiten und der auf demselben Schiff nach Palästina fuhr, auf dem der Ich-Erzähler heimkehrt, allerdings ohne ein „Certifikat“, also ein Einreise-Visum zu besitzen. Daher muß er versuchen, illegal und heimlich an Land zu gehen. Er verletzt sich dabei, wird entdeckt und festgenommen. In einem Krankenhaus wartet er auf seine Gesundung, nach welcher er zurück nach Europa abgeschoben werden soll, da die Gesetze der britischen Mandatsverwaltung streng sind. Der Ich-Erzähler empfindet Mitleid mit dem jungen Zvi und geht zu einer Reihe von Autoritäten, um Gnade für ihn zu erbitten. Deren Herzen aber waren hart wie Felsen. Daraufhin wandte er sich an Berühmtheiten um Hilfe. Als er sah, daß auch das nichts half, ging er zu den Vertretern der lokalen Gemeinde. Von diesen abgewiesen ging er zu den öffentlichen Wohltätern und nach diesen zu den Repräsentanten von öffentlichen Hilfsorganisationen. Als er sah, daß dies alles nichts half, verließ er sich auf den Vater im Himmel. Da der junge Zvi bald darauf ausgewiesen und abgeschoben wurde, hatte offenkundig auch dieser nicht geholfen. Bei der tiefen Gläubigkeit des Ich- Erzählers, wie auch Agnons, bedeutet das aber nichts anderes, als daß man sich solch allerhöchster Entscheidung zu unterwerfen hatte, deren Sinn oft zunächst uneinsehbar blieb. Der Ich-Erzähler fügt noch besonders hinzu, daß er infolge seiner eigenen Verpflichtungen und Probleme den jungen Zvi bald darauf völlig vergessen hatte, was wie so vieles andere seine Wahrheitsliebe bestätigt, die keine Beschönigungen zuläßt. Den eigentlichen Abschluß der Fabel bildet der bereits berichtete Vorfall, daß er den ursprünglich verloren geglaubten Schlüssel zu seinem Bethaus in Szibucz wiederentdeckt, sich des alten Ausspruchs erinnert, wonach die Synagogen und 7 Jesaja, Kapitel 4, Vers 3. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 42 Bethäuser von außerhalb vorausbestimmt sind, in Israel wieder etabliert zu werden und daß er vergebens von Zeit zu Zeit nach ihnen Ausschau hält. Der Roman Nur wie ein Gast zur Nacht war 1939 vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen, der Roman Gestern, Vorgestern erschien 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier geht es nicht um die Rückerinnerung an die alte Heimat, sondern hier geht es um Israel selbst und die Rückerinnerung an die Zweite Aliya, mit der Agnon zum ersten Mal ins Land gekommen war. Schon der erste Satz des Romans macht dies in aller Deutlichkeit klar und keine Überinterpretation kann es ungeschehen machen: „Wie alle unsere Brüder der Zweiten Aliya, die Träger unserer Erlösung, verließ Isaak Kumer sein Land und seine Heimat und seine Stadt und stieg auf zum Lande Israel, um es aus seiner Zerstörung heraus aufzubauen und sich selbst von ihm neu aufbauen zu lassen.“ 8 Es war tatsächlich jene Zweite Aliya, aus welcher die wichtigsten Führer des Aufbaues des Staates Israel hervorgingen. Der erste Satz des Romans unterstreicht nicht nur, daß er in jener Periode spielt, sondern ist auch bereits ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie sehr der ganze Roman von Anspielungen und Zitaten erfüllt ist. So ist schon der Name des Helden Isaak Kumer symbolisch. „Kum“ bedeutet in jiddisch „komm“ und Kumer ist der Gekommene, gekommen in das gelobte Land, um das alte Gebot „lekh - lekho“ zu erfüllen: „Um das Land aufzubauen und von ihm selbst neu aufgebaut zu werden“. Es ist dies eine Anspielung auf den Beginn eines hebräischen Pionierliedes „Wir, wir kamen, um das Land aufzubauen und von ihm aufgebaut zu werden.“ Aber auch der Vorname Isaak des Helden hat eine sinnbildliche Bedeutung, denn er ist eine Anspielung auf den Isaak der Bibel, Sohn Abrahams, der zum Opfer ausersehen war, doch durch das Eingreifen Gottes im letzten Augenblick durch einen Widder ersetzt worden ist. Im Fall von Isaak Kumer, der etwas anders liegt, greift Gott aber nicht ein und er stirbt als Opfer. Es gibt jedoch für das Schweigen des Himmels im Fall von Isaak Kumer Begründungen, denn der Sohn Abrahams war ein unschuldiges Kind, Isaak Kumer aber, obwohl er einerseits das Richtige tut, nämlich nach Israel auswandert, ist andererseits schuldig geworden. Manchmal scheint es allerdings, als würde Agnon eine Art Ambivalenz schaffen, ja als würde er es von Fall zu Fall dem Urteil des Lesers überlassen, ob die einzelnen Entscheidungen Isaak Kumers Geschick, Vorsehung, Gottes Hand in der Welt oder aber blinder Zufall sind. „Die Wahrheiten, die der Held verdrängt, die Entscheidungen, die er flieht, die inneren Kräfte, vor denen er sich fernhält, wissentlich oder unbewußt oder was er durch sein ganzes Dasein hindurch zutiefst ablehnt, das bricht am Ende aus und zerstört seine Seele und sein Leben.“ 9 8 S. Y. Agnon: Only Yesterday. Princeton, o. J. (= 2002), S. 3-4. 9 Boaz Arpaly: Meister-Roman. Fünf Essays über Temol Shilshom. (Hebräisch), Bd. 23 der Reihe „Literatur, Sinn, Kultur“, Tel Aviv 1998. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 43 Der Ich-Erzähler in Nur wie ein Gast zur Nacht vermag dem Chaos der jüdischen Diaspora in Osteuropa zu entfliehen, indem er zurück nach Israel geht. Isaak Kumer vermag dem Chaos des Landes Israel nicht zu entfliehen, da es das endgültige Ziel und die wirkliche Heimat darstellt. Während er als Opfer endet, überlebt sein Autor nicht nur, sondern verweist auf Auswegmöglichkeiten. Am Beispiel der Entwicklung des Anti-Helden Isaak Kumer zeichnet sich als breiter Hintergrund die Geschichte der Zweiten Aliya und des Landes Israel jener Zeit ab, was den Roman zu einem „Epos der Zeitperiode“ gemacht hat. Von der bürgerlichen Anständigkeit in Österreich-Ungarn mit seiner Gleichberechtigung für die Juden, wenngleich aus bitterer Armut, folgt Kumer der zionistischen Propaganda und wandert in den herabgekommenen, korrupten, despotischen osmanischen Staat der Türkei aus und dazu noch in dessen hinterste und letzte syrische Provinz Palästina, wo die Juden doppelt unterdrückt werden, durch die türkischen Satrapen und durch die arabische Majorität, was auch seinen Autor Agnon zur vorübergehenden Rückkehr nach Europa getrieben hat. Dazu kommt noch, daß die Juden selbst in vielerlei Hinsicht aufgesplittert und zerfallen sind. Auch das schildert der Roman, der auch die genaue Beschreibung einzelner Gebäude und Stadtviertel gibt, in die alle Isaak Kumer durch seinen Beruf kommt. Es gibt vermenschlichende Anekdoten über legendäre historische Figuren und nicht zuletzt über israelische Autoren wie Brenner, Scholem Aleichem und Bialik. Einzelne anspielungsreiche, ausladend umschreibende, ironische und scharfsinnige Stilzüge schließen sich zu einem Ganzen zusammen, das trotz seiner Komplexität und Raffinesse im einzelnen als eine Art historisch-distanzierender Stil von großer Einfachheit bezeichnet werden kann. Die Methode der Darstellung aber ist jene des inneren Monologs, der gleichwohl mitunter an wichtigen Stellen durch Einfügungen eines auktorialen Erzählers unterbrochen wird. Natürlich kommt auch der Held Isaak Kumer ursprünglich aus einer Stadt des altösterreichischen Galizien. Von frühester Kindheit an denkt er jeden Tag an das Land von Israel als einen gesegneten Wohnort, über dessen Bewohnern der Segen Gottes ruht. Seine Dörfer müssen versteckt liegen im Schatten von Weingärten und Olivenhainen, seine Felder bedeckt von Korn und die Obstbäume gekrönt mit Früchten, die Täler voll von Blumen und die Bäume des Waldes sich wiegend. Der Himmel ist blau und alle Häuser sind von Freude erfüllt. Die Menschen aber erinnern sich an das Leben einst, außerhalb von Israel und an die Beschwerden und Leiden dort und genießen nun doppelt die guten Zeiten. „Isaak war ein Mann der Phantasie und was sein Herz wünschte, das beschwor seine Einbildungskraft für ihn.“ 10 10 Only Yesterday, op. cit., S. 3. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 44 Isaak verwandelt das Geschäft seines Vaters in eine Zweigstelle des Zionismus und als der Vater sich des unbeugsamen Willens seines ältesten Sohnes bewußt wird, nimmt er Schulden auf, um das Geld für die Reise zusammenzukratzen, und schickt den Sohn in das Land von Israel. Schon bei der Fahrt mit dem Schiff von Triest nach Jaffa stellen sich die ersten Enttäuschungen ein. Sein Reiseproviant ist verdorben und er hat eine sehr unerfreuliche Begegnung mit einem alten jüdischen Ehepaar. Aber so richtig böse wird es nach der Ankunft am Strand von Jaffa. Die ersten Menschen, die er am Strand trifft, sind Araber, die sich von ihm Geld erbetteln. Sodann taucht eine Jude auf und führt in durch die glühende Hitze zu einem Hof, wo er zwar ein Zimmer und Essen erhält, damit jedoch einem geldgierigen und betrügerischen Wirt in die Hände fällt. Isaak entflieht und findet auf einem Rastplatz einige Juden, von denen einer mit ihm in ein Kaffeehaus geht. Dort erfährt Isaak, daß sich die Juden an einem Werktag darum dort aufhalten, weil sie keine Arbeit finden können. Die jüdischen Landbesitzer der Ersten Aliya ziehen den neuen jüdischen Einwanderern billige arabische Arbeitskräfte vor. Die Landbesitzer waren fast alle „Bilnim“, russische Freidenker und Materialisten. Zu allem Überfluß paßt sich Isaak auch insofern dem Land an, als er beginnt, einzelne arabische und russische Wörter in seine Sprache zu mischen, als er seine religiöse Basis verliert. Er geht nicht mehr in die Synagoge, legt nicht mehr die Tefillin an, hält nicht mehr den Sabbat und hält auch nicht mehr die religiösen Feiertage. Trotz alledem gab es auch Glücksfälle für Isaak. So fand er einen Freund, wo er in Galizien keinen gehabt hatte. Der Freund war ein Russe und hieß Rabinowitsch wie neun von zehn Russen in Palästina. Ja, als er schon völlig hoffnungslos hungrig herum irrt und in einem Garten der deutschen Kolonie vor Hunger und Schwäche einschläft, wird er von einem alten Mann geweckt, der ihm einen Pinsel und einen Topf Farbe in die Hand drückt, und der ihm vorschlägt, einen Zaun anzustreichen. Er erhält zwei Bischliks als Lohn und das Versprechen für mehr Arbeit. Später trifft er den alten Süßfuß, der ihn in die Geheimnisse des richtigen Malens und Anstreichens einweiht, so daß er zwar nicht den Boden des Landes Israel bearbeitet, aber als geachteter Maler seinen Beitrag leisten kann. Dieser Beitrag besteht allerdings auch sinnbildlich im Überstreichen und Bedecken von schadhaften und fehlerhaften Stellen und Gegenständen. Isaak wird als Maler geradezu berühmt und arbeitet für Lords und Diplomaten, Paschas und Moscheen, christliche Kirchen und jüdische Tempel. Manchmal arbeitet Isaak für solche, die das Schicksal Jerusalems betrauern und manches Mal für solche, die helfen, es zu zerstören. Hier mag vielleicht die erste Seite seiner Schuld liegen. Zu seiner zunehmenden Verwirrung muß er noch entdecken, daß es eine schier unübersehbare Vielfalt von Ansichten und sogar Gegensätzen innerhalb S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 45 der jüdischen Ansiedler gab: Aschkenasim und Sephardim, Babylonier und Aleppaner, Mughrabiten und Jemeniten, Georgier und Bucharer und Perser. Das erste Mal, wenn eine Schuld Isaaks ausdrücklich angeführt wird, geht es darum, daß er seinen Vater, seinen Freund Rabinowitsch und dessen Freundin getäuscht hatte und daß er darum Trostlosigkeit, Kummer und Reue empfindet, wie es in der Parabel des Predigers beschrieben wird, wo die List des bösen Geistes den Menschen verführt, indem er ihm alle Freuden der Welt verspricht bis dieser ihm folgt wie ein Hund, den er schließlich tritt wie einen tollen Hund. Diese Stelle ist zugleich jene, in welcher der zweitwichtigste Charakter des Romans indirekt vorangekündigt wird. Das ist der Hund Balak, der auch im zweiten Buch des Romans auftaucht und der sich zum Gegenspieler Isaaks entwickelt. Dieser Balak ist kein gewöhnlicher Hund, sondern er verbindet mit seinem realen Dasein auch eine sinnbildliche Funktion, die mit seinem Hundedasein zu einer untrennbaren Einheit verschmilzt. Im Unterschied zu vielen anderen Hunden und Katzen der Weltliteratur lernt der Leser durch den inneren Monolog Balaks auch dessen innerste Gedanken und Gefühle kennen. Ja noch mehr: im Unterschied zu fast allen anderen literarischen Hunden besitzt Balak sogar eine, wenngleich etwas vage, Vorstellung von seinen Ahnen und Vorfahren einschließlich des besonders wichtigen Urahns Tuval, der über ein ganzes Rudel von Hunden in Jerusalem zwischen dem Jaffa Tor und der Straße der Gemüsehändler geherrscht hatte. Bei seinem Autor, dem Traditionalisten Agnon, versteht es sich von selbst, daß auch bei den Hunden Tuval in jeder Hinsicht ein Vorbild war, den sogar die Ismaeliten gestreichelt hatten und daß es seither bergab gegangen war. Balaks sinnbildliche Funktion besteht darin, daß wir in ihm das Antlitz auch der Menschengeneration seiner Zeit als das Antlitz eines Hundes sehen. Seine Gedanken aber waren nicht nur die Gedanken eines gewöhnlichen Hundes, sondern eines verrückten, ja eines tollen Hundes. Die Parallele zu den Menschen seiner Zeit aber besteht darin, daß diese dachten, sie seien große Weise, logische Philosophen, daß sie das Netz ihrer Gedanken über alle Kinder Israels werfen wollten, ganz besonders über jene, die nicht gesündigt hatten, und daß sie weltliche Schulen errichteten und sie von ihrer Religion abbrachten. Gott behüte! „Während der tolle Hund, meine Herrn, besser ist als jene, da er erklärt, daß er toll ist, wie wir es sahen an dem Hund, der Jerusalem quälte und der ‚Verrückter Hund‘ auf sein Fell gemalt hatte, um die Menschen zu warnen, sich von ihm fern zu halten. Das ist es, was ich sage, das Antlitz der Generation ist wie das Antlitz eines Hundes. Und nicht eines gewöhnlichen Hundes, sondern eine verrückten Hundes.“ 11 11 Only Yesterday, op. cit., S. 621. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 46 Es war der durch seine Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit schuldig gewordene Isaak, der nur am Todestag seiner Mutter sich seiner Religion entsinnt und in die Synagoge geht, um den Kaddisch zu sagen und der aus Übermut und Spaß auf das Fell Balaks „Verrückter Hund“ geschrieben hatte, wodurch jener in ganz Jerusalem von den Juden verfolgt und gehetzt, geschlagen und getreten wurde. Balak aber, der als Antlitz seiner Generation, jener der Zweiten Aliya die Wissenschaft und das Leben beeinflußt und durch seine Abenteuer sogar die Chassidim bereichert hatte, versteht nicht, weshalb er plötzlich so viel mehr gehaßt und verfolgt wird als vorher, und er trachtet der Sache auf den Grund zu gehen. Freilich hatte Balak als Vertreter der Generation der Zweiten Aliya auch insofern Gutes getan, als er eines Nachts mit Reb Fayesch zusammenstieß. Reb Fayesch war der fanatischeste der Fanatiker fundamentalistischer „Religiosität“. Reb Fayesch klebte immer nur nachts Verlautbarungen über Menschen an die Mauern, die von ihm exkommuniziert worden waren und die für alle anderen Juden als geächtet und ausgestoßen gelten sollten. Balak, der in der Nacht auf Suche nach Futter unterwegs war, dachte in seiner Unschuld, Reb Fayesch erfreute sich wie er selbst der süßen Dunkelheit der Nacht und er begrüßte ihn durch ein Willkommens-Gebell, das ausdrücken sollte: „Obwohl ich mir nicht einbilde, dir gleich zu sein, möchte ich dich informieren, daß ich auch da bin.“ Reb Fayesch aber wurde dadurch erschreckt, seine Laterne fiel ihm aus der Hand und die Kerze aus der Laterne, der Topf mit Kleister fiel ebenso hinunter und die Anschläge über Exkommunikation wurden zerstreut und flatterten davon. Und die Seele von Reb Fayesch flog auch davon. Reb Fayesch in seiner Naivität aber dachte, daß die Väter der Exkommunizierten aus ihren Gräbern gestiegen wären, um Rache an ihm zu nehmen, denn die fliegenden Blätter waren weiß wie die Totentücher der Verstorbenen. Er stieß einen lauten Schrei aus und rannte und die Blätter folgten ihm nach. Reb Fayesch stieß auf den Hund und kickte ihn. Der Hund heulte auf und der neu erschrokkene Reb Fayesch fiel hin. „All ihr Sendboten der Gebote, mögt ihr nicht so erschreckt sein, wie Reb Fayesch erschreckt war.“ 12 heißt ein satirisch-humorvoller Einwurf des auktorialen Erzählers. Balak aber sah den Mann plötzlich auf allen vieren. Vielleicht ist er kein Mensch oder vielleicht benötigt er Hilfe und ich kann gut zu ihm sein, dachte er sich. Aber als er an ihm roch, wurde Reb Fayesch plötzlich wach und lief um sein Leben. Balak aber stand beschämt und bestürzt. „Alle von euch, die ihr freundlich seid, mögt ihr niemals so beschämt sein.“ 13 Der fanatische Eiferer Reb Fayesch lag daraufhin schwer krank danieder. Satan aber begann unter ihm und den seinen zu tanzen, denn in jener Generation waren die Freidenker noch nicht so wichtig und Satan liebte es, sich unter den 12 Only Yesterday, op. cit., S. 326. 13 Only Yesterday, op. cit., S. 326. S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 47 Gläubigen aufzuhalten. Isaak aber erscheint im Haus des Reb Fayesch, wird ein Wohltäter des schwer Kranken und heiratet schließlich seine Tochter Schifra. Isaak klärt auch in einer allgemeinen Panik über Balak die Menschen auf, daß er es war, der ohne böse Absicht „Verrückter Hund“ auf sein Fell gepinselt hatte. Hätte er gewußt, was er damit angerichtet, er hätte es nicht getan. Da verlieren die Menschen ihre Angst vor Balak. So lange der Hund normal und gesund gewesen war, hatten sie den tollen Hund gefürchtet. Jetzt, da Balak selbst daran zu zweifeln begann, ob er gesund war, hatte keiner mehr Angst vor ihm. Der Hund aber hatte das Gehetztwerden, hatte die Prügel und Tritte nicht vergessen und es war ihm in der Zwischenzeit aufgegangen, daß es der Mann mit dem Pinsel war, dem er sein Elend verdankte. Durch Wochen und Monate hatte Balak versucht, die Wahrheit über seine Verfolgung herauszufinden. In seiner Unschuld nahm er an, er könne diese Wahrheit vom Maler herausfinden. Als er ihn schließlich ausfindig machte und als Isaak keine Angst vor ihm zeigte und mit ihm sprach, da überkam es ihn, daß sein Maul von Schaum erfüllt war und seine Zähne klapperten. Was soll ich tun? , fragt sich Balak. Wen ich ihn frage, wird er nicht antworten. Wenn ich meine Stimme aber laut erhebe, wird er mich treten. Ich werde ihn beißen und die Wahrheit wird aus seinem Körper fließen. So sprang er ihn an, biß ihn und rannte davon. Sie brachten Isaak nach Hause und legten ihn in sein Bett. Isaak hatte die Tollwut und wurde mit Stricken an Händen und Füßen gebunden, um keinen Schaden stiften zu können. Der aufrechte und positive Charakter aus der Nachbarschaft, der Stukkateur Efraim entschied, daß der HERR weiß, was er tut, und daß es sinnlos ist, seine Entscheidung in Frage zu stellen. Er ging mit einigen anderen zur Klagemauer, um die Psalmen zu beten. Beim Vers 21 des 22. Psalms, den er übersetzte mit: „Errette meine Seele vom Schwert, mein Leben von der Macht des Hundes“ schrieb er den Namen Isaaks und seiner Mutter auf ein Stück Papier und schob es zwischen die Steine der Klagemauer. Daraufhin tritt wieder der auktoriale Erzähler in Aktion und erinnert an ein besonders ernstes Versagen Isaaks. Auf Grund seiner Natur und Fähigkeit hätte er auf der Erde stehen und das Leben auf der Erde sehen müssen; er hätte seinen Vater und seine Brüder und Schwestern in das Land von Israel bringen müssen. Diese armseligen Leute, die in ihrem ganzen Leben keinen guten Augenblick gesehen hatten, wie sehr wären sie dem Land zugetan gewesen. Isaaks Schwestern hätten ihre Männer gefunden und Yudele hätte die Erde gepflügt und schöne Gedichte geschrieben. Und Reb Simon Kumer, der Vater, der noch immer von Gläubigern verfolgt wurde, hätte das Glück seiner Söhne und Töchter gesehen und wäre glücklich gewesen. An dem Tag, an dem Isaak begraben wurde, war der Himmel von Wolken bedeckt, die Sonne war verborgen und ein Wind kam auf und brachte Blitze S. J. Agnon und seine eigentliche Heimat Jerusalem 48 und Donner. Seltene, warme Tropfen kamen herunter und am nächsten Tag brannte die Sonne wieder herunter und alle Erwartungen auf Regen hatten sich als fruchtlos erwiesen. Aber in der Nacht kühlte es ab und schließlich begann es zu regnen und regnete sechs oder sieben Tage. Darauf schien wieder die Sonne und eine große Freude war in der Welt. Alle Dörfer in Judäa und Galiläa waren wie ein Garten des Herrn. Über Isaak aber entscheidet als letzten Schluß der auktoriale Erzähler, daß er zwar nicht begnadet gewesen war, die Erde zu pflügen und zu säen, daß er aber wie sein Vorfahr Reb Yudel Chassid und wie manche andere Heilige und Chassidim begnadet war, ein Grab in der heiligen Erde des Landes Israel zu erhalten. Damit sei die Beschreibung der Taten Isaaks vollendet. Die Taten der anderen Kameraden, Männer und Frauen werden kommen in dem Buch „Ein Stück Land“. Agnon ist ein minutiös genauer Schilderer des Chaos: des alten Chaos der Diaspora in seinem Roman Nur wie ein Gast zur Nacht und des neuen Chaos im Israel der Zweiten Aliya in seinem Roman Gestern, Vorgestern. Seine Beschreibungen des Gegensatzes von Jaffa und Jerusalem wie auch der Zersplitterung des Judentums in Jerusalem selbst sind von überzeugender Kraft. Er zeigt aber auch Auswege aus dem Chaos in Israel durch gewisse Anfänge, für welche im Roman Menachem Ha-Omed und Eyn Ganim stehen. Und er zeigt einen wichtigen Ausweg auch darin, daß er ein Mann der Mitte ist, der den atheistischen Materialismus ebenso ablehnt wie übertrieben fundamentalistisches, fanatisches Eiferertum. Isaaks Schicksal in Gestern, Vorgestern wirft die großen Fragen der Conditio Humana ebenso auf wie die Spielregeln in der Welt Gottes und damit der Hierarchie der Werte oder deren totalen Verlust. Ein israelischer Kritiker schrieb über Agnons wohl bedeutendsten Roman Gestern, Vorgestern, daß er dazu angesetzt habe, das große Epos der Zweiten Aliya zu schreiben, aber tatsächlich einen Roman der Flucht aus ihr geschrieben hätte. 14 Er beschrieb aber keine wirkliche Flucht daraus, sondern eine im Kantischen Sinn kritische Analyse, das heißt eine Analyse sowohl der positiven wie der negativen Seiten von ihr. Er zeigt das Zustandekommen des Chaos durch Mißverständnisse ebenso wie durch den Mangel an Verständnis und Identifikation mit dem anderen. Zudem enthüllt der Roman die mythischen Wurzeln der sozialeren Wirklichkeit. Dies alles macht den Roman zu einer in vieler Hinsicht bedeutenden Dichtung. Agnon starb am 17. Februar 1970, erhielt ein Staatsbegräbnis und wurde auf dem Ölberg begraben. 14 Benjamin Harshev: „Introduction“. In: Only Yesterday, op. cit., S. XVII. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie Hermann Broch wurde am 1. November 1886 als Sohn des neureichen Wiener Textilindustriellen Josef Broch geboren. Der Großvater Josef Brochs soll nach der Familientradition ein gelehrter Rabbi und ein mathematisches Wunder gewesen sein. Bei Josef Broch war davon kein Rest geblieben. Er war ein nüchterner und rücksichtsloser Geschäftsmann und dazu ein Haustyrann mit sehr wenigen geistigen Interessen. Noch bevor der erste Sohn, Hermann, geboren wurde, stand darum schon fest, daß er „zum Spinner, Weber und Cottondrucker“ bestimmt war. 1 Kurz vor seinem Tod hatte Hermann Broch geschrieben: „Jene irrationale Struktur, die dem Dichtungsgewebe zugrunde liegt, wird in der ersten Jugend geformt; was nach dem achten Lebensjahr kommt, wird kaum mehr dichterisch-rational, sondern nur noch rational, d. h. in Gestalt rational präziser Erinnerungsbilder, rationaler Problemlösungen etc. verarbeitet. Die eigentliche dichterische und künstlerische Qualität ist ausschließlich an jenen irrationalen Teil gebunden.“ 2 Broch hat denn auch bewußt an den Beginn seines Vergil- Romans die Figur des Lysanias gestellt, der unter anderem Vergils Kindheit versinnbildlicht und an den Beginn des ersten Kapitels des Versucher-Romans ein Erinnerungsbild an das Stiegenhaus seiner eigenen Kindheit. Diese ersten acht Jahre seiner eigenen Kindheit hatten sehr wenig mit einem Kindheitsparadies zu tun. Die sensible und geistig interessierte Mutter hatte sich angesichts des Charakters ihres Mannes, der zudem starke homoerotische Neigungen hatte, zu einer Zwangsneurotikerin gewandelt, die in die Krankheit flüchtete und überdies den drei Jahre jüngeren Bruder Brochs in einer Weise vorzog, daß ihn die Eifersucht auf Vater und Bruder „als Kind beinahe getötet hätte.“ Würde er damals nicht auf eine „Wiedergutmachung“, eine „dereinstige Liebeserfüllung gehofft haben“, es hätte „einer jener seltenen Fälle von Kinderselbstmord eintreten müssen, und tatsächlich war meine ganze Kindheit von Selbstmordphantasien erfüllt gewesen.“ 3 Da die Mutter nur allzu oft auf längeren Kuraufenthalten weilte, war das Kind oft sich selbst und allenfalls Gouvernanten überlassen, die jedoch von der neurotischen Mutter häufig ausgewechselt wurden. Das Erziehungsprinzip des Vaters aber lautete: „A Kind gehört gestraft.“ 4 1 Hermann Broch: Die unbekannte Größe. Bd. 10 der ersten Gesamtausgabe, Hg. von Ernst Schönwiese, Zürich 1961, S. 61. 2 Hermann Broch: Briefe. Bd. 8 der ersten Gesamtausgabe, Hg. von Robert Pick, Zürich 1958, S. 404. 3 Zitat aus zweiter Hand nach Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Frankfurt 1985, S.-25. 4 Zitat aus zweiter Hand nach Manfred Durzak: Hermann Broch. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 30. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 50 Es war kein Wunder, daß der sechsundfünfzig Jahre alte Broch an seinen Sohn Hermann Broch de Rothermann schrieb: „Der Adel hat eine Familiengeschichte, der jüdische Bourgeois eine Neurosengeschichte.“ 5 Und es ist nur natürlich, daß bereits das achtjährige, so sehr einsame und introvertierte Kind sein „grundlegendes Sublimierungserlebnis“ hatte. Es geschah bei einem Spaziergang im Wald, nachdem er sich von den anderen, am Waldrand spielenden Kindern, abgesondert hatte. Hier wurde er sich nun nicht nur seiner Einsamkeit besonders deutlich bewußt, sondern hier zog er auch bereits die geistige Schlußfolgerung, daß sein denkendes Ich die einzige wirkliche Realität darstellte, während alles andere, Wald wie Menschen, „unweigerlich im Traumhaften verbleibt und nur von meinen Gnaden Realität empfängt. Kurzum, ich hatte, schreckhaft genug, das ‚platonische Erlebnis‘, eine völlig neue Wirklichkeit aus dem Traumhaften heraus erschaffen und er ‚Einzelgänger‘ war dadurch plötzlich zum ‚Weltschöpfer‘ geworden.“ 6 Damit waren auch ein Trost und eine Lösung gefunden, welche die Selbstmordwünsche aufhoben: Erstens, weil dadurch eine Unverletzlichkeit der eigenen seelischen Existenz entdeckt worden war, und zweitens, weil auch die damit gefundene Erkenntnisaufgabe einer neuen Weltschöpfung viel Zeit zu leben brauchen würde. Gewisse Wünsche nach Flucht aus manchen unangenehmen Situationen waren freilich geblieben und noch sehr spät in seinem Leben erinnerte er sich der immer tröstlichen Freuden, wenn er, anstatt in die Schule zu gehen, als krank im Bett liegen und Karl May lesen durfte. Selten war er wieder so gefesselt gewesen wie durch Winnetou, Old Shatterhand und Old Surehand. Und er hatte oft und viel in der Schule gefehlt. Die Volksschule hatte er allerdings niemals besucht, sondern hatte zu Hause Privatunterricht erhalten und nur die Schlußprüfungen in der Schule abgelegt. Nach der Volksschule aber kam wieder einmal die diktatorische Entscheidung des Vaters, der in der Textilbranche keine praktische Verwendung für klassische Bildung sehen konnte, den Wunsch des Sohnes, ein humanistisches Gymnasium zu besuchen, zurückwies und anordnete, daß der Elfjährige die mehr praktisch orientierte Realschule im Ersten Bezirk besuchen sollte. Trotzdem gab es auch immer wieder Hilfe von außen. In der frühen Kindheit waren es Hunde gewesen, die seine Liebe erwiderten. Jetzt, vom 11. bis zum 14.- Jahr hatte er das Glück, einen hervorragenden Hauslehrer neben der Schule zu haben, wie es wenige gab, nämlich David Bach, einen Jugendfreund von Arnold Schönberg, der musikalisch unüblich gebildet war und der überdies gerade als Schüler des großen Ernst Mach das Doktorat gemacht hatte, der führend für neue Entwicklungen in der Philosophie gewesen war. 5 Zitat nach Manfred Durzak, op. cit., S. 21. 6 Zitat nach Paul Michael Lützeler, op. cit., S. 29. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 51 Er sah sich auch in der verachteten, ja eigentlich für ihn verbotenen Bibliothek um und fand sogar eine Gedichtsammlung mit dem Namen seiner Mutter als Besitzerin eingetragen. Er spürte, daß sie unglücklich sein mußte, und er faßte nunmehr den Entschluß, „Dichter zu werden und niemals zu heiraten“. 7 Nach der Matura geht er vier Semester an die Höhere Lehr- und Versuchsanstalt für Textiltechnologie im Fünften Bezirk und belegt daneben als Gasthörer Vorlesungen der Universität Wien, darunter auch eine über „Prinzipien der Naturphilosophie“ des angesehenen Ludwig Boltzmann. Die Saat, die David Bach gelegt hatte, begann Früchte zu tragen und später, in der Teesdorfer Zeit noch mehr, als er ebenfalls an der Universität Wien Vorlesungen von Vertretern des „Wiener Kreises“ hört. Auf längere Zeit hin sollte er jedoch enttäuscht werden, weil er hier hören mußte, daß die Philosophie gar nicht in der Lage sein sollte, die metaphysischen Fragen zu beantworten, die ihm am Herzen lagen. Und so begann er abwechselnd den Wunsch zu nähren, Mathematikprofessor und Dichter zu werden. Nach Absolvierung der Höheren Lehr- und Versuchsanstalt ging er von 1906 bis 1907 an das Technikum Mühlhausen im Elsaß, um Textiltechnologie zu studieren. Er brachte es zum Textilingenieur und war so erfolgreich, daß er gemeinsam mit dem Direktor des Mühlhausener Technikums eine Baumwoll- Mischmaschine erfand, die in mehreren Staaten patentiert wurde. Abgesehen davon genoß er in Mühlhausen zum ersten Mal eine etwas größere Freiheit durch die örtliche Distanz vom Vater und doppelt angenehm durch die leichte Atmosphäre der französischen Lebensart. Als Belohnung für die Mühlhausener Erfolge erlaubte ihm der Vater eine sechswöchige Amerikareise, deren Freiheit gleichwohl eingeschränkt war, da sie zumindest teilweise auch als Bildungsreise auf dem Gebiet der Textilindustrie dienen sollte und Broch auch in Memphis und New Orleans Baumwolle für den väterlichen Betrieb zu kaufen hatte. Nach seiner Rückkehr trat er - wieder einmal auf Anordnung des Vaters- - als Assistenzdirektor in die Teesdorfer Textilfabrik ein, die der Vater als Hauptgläubiger eben aus dem Konkurs gekauft und überdies mit Hilfe des Geldes von Verwandten saniert hatte. Broch hatte 1909 sein Einjährig-Freiwilligen Jahr hinter sich gebracht und hatte die Tochter eines reichen Zuckerfabrikbesitzers aus Hirm, Franziska von Rothermann, geheiratet, die eine Mitgift von 100.000- Kronen mitgebracht hatte, welche von Vater Broch sofort in die Fabrik gesteckt wurde. Der Sohn erhielt ein Taschengeld. In der Zwischenzeit hatte der Vater auch eine ganze Etage von zwanzig Zimmern in der Gonzagagasse- 7 erworben, in der nicht nur Hermann Broch sein Zimmer hatte, sondern in der auch Büros untergebracht waren. 7 Paul Michael Lützeler, op. cit., S. 36. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 52 Broch hatte zwar den Traum vom Dichterberuf aufgeschoben, schrieb aber neben seiner beruflichen Tätigkeit Novellen, schwärmte von Thomas Mann und las nicht nur regelmäßig Die Fackel von Karl Kraus, sondern besuchte auch dessen Vorlesungen. Auch Hermann Hesses Bücher gehörten zu seiner Lektüre. Da der Vater in seinen Geschäften nicht immer sehr korrekt war und im nachhinein gerne den Sohn aufbot, um das zu vertuschen, entwickelte dieser einen geradezu neurotischen Haß gegen jegliche Unanständigkeit und die strenge und konsequente Ethik von Karl Kraus war ihm ein Labsal. Broch richtete im Teesdorfer Bürohaus der Fabrik für sich und seine Gattin eine Wohnung ein. Die Gattin wurde bald sehr unglücklich und stürzte die Ehe in eine Krise. Obwohl sie eine Riesenmitgift mitgebracht hatte, bezog ihr Gatte nur ein schmales Taschengeld vom Vater, das ihr nicht den gewohnten Lebensstil bieten konnte. Darüber hinaus war Teesdorf für sie natürlich stocklangweilig und zu allem Überfluß begann ihr Gatte bald insofern ein Doppelleben zu führen, als er tagsüber arbeitete, in der Nacht aber mit ungeheurer Energie seinen Studien und dem Schreiben oblag. Er war nicht nur ein umsichtiger Geschäftsmann, sondern schuf auch für die damalige Zeit völlig unübliche Vergütungen für seine Arbeiter. In Teesdorf gab es den ersten Arbeiter- Konsumverein und das erste elektrische Licht unter den umliegenden Dörfern. Die Kinder armer Eltern erhielten in der Fabrik ein kostenloses Mittagessen, er gründete eine Bibliothek, eine Turnhalle und ein Freibad für die Arbeiter und förderte die Entstehung eines Kulturvereins. In der Nacht holte er nicht nur nach, was er in der Realschule versäumt hatte, sondern trieb überhaupt ausgedehnte Studien. Er lernte Latein und Hebräisch, er las philosophische Werke, aber auch Historisches und Theologisches und vor allem auch schöne Literatur. Im Jahr 1910 wurde der einzige Sohn geboren. Die Ehe hielt recht und schlecht sieben Jahre und brach sodann auseinander. Broch hatte ein feines Gespür für die heraufziehenden geistigen und politischen Gefahren der Zeit und wie Karl Kraus warnte er vor Wissenschaftsgläubigkeit und Fortschrittsoptimismus. In Kunst und Dichtung aber lehnte er vor allem die radikalen Einseitigkeiten des Naturalismus ebenso wie die seines extremen Gegenteils, des Panästhetizismus ab. Zu den wenigen Malern, die er gelten läßt, gehören van Gogh und Kokoschka. Im Jahr 1913 entstand auch sein apokalyptisches Gedicht „Cantos“ und im selben Jahr erschienen seine frühesten Essays und Gedichte in Ludwig von Fickers Zeitschrift Der Brenner. In den Essays setzte eine Hinwendung zu Kant und zu einer strengen Ethik ein, die sein ganzes weiteres Leben vorhalten sollte. Mit seinem Kulturpessimismus steht er in einer Reihe mit etlichen der Größten, von den seltsam verschlüsselten, apokalyptischen Gedichten Trakls bis zu den Kassandrarufen Koestlers und von Freud bis Weininger. Der Erste Weltkrieg, der seine adäquate dichterische Darstellung in den Letzten Tagen der Menschheit von Karl Kraus finden sollte, die Entstehung und Verbreitung von Faschismus und Kommunismus, die vie- Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 53 len Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den Neunzigerjahren die erschreckenden Bedrohungen durch einen neuen Nationalismus sowie durch radikal fanatischen konfessionellen Fundamentalismus, besonders den islamischer Herkunft, sollte ihm in geradezu entsetzlicher Weise recht geben. Es ist auch kein Zufall, daß Broch bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wie nur ganz wenige andere, wie zum Beispiel Hesse, „immun gegen den Bazillus der Kriegsbegeisterung“ gewesen ist. 8 Zwar gelang es dem Patriotismus seines Vaters noch einmal mehr, ihn dazu zu bewegen, daß er sich freiwillig als Reserveleutnant meldete, doch wußte er genau, daß ihn eine Eliteeinheit wie die Ulanen, bei denen er es versuchte, bei seinem Alter abweisen würde, und konnte es auch bei einer normalen Musterung erreichen, daß er aus Gesundheitsgründen für „untauglich“ erklärt wurde. Dafür übertrug man ihm am 15.- September 1914 die Leitung eines Roten-Kreuz-Lazaretts für Leichtverwundete, das er auf dem Fabriksgelände in Teesdorf einrichtete. Im Jahr 1914 bereits veröffentlichte Broch seine erste Novelle mit dem Titel „Methodologische Novelle“, die in Franz Bleis Zeitschrift Summa erschien. In jenen Jahren begann er auch die beiden großen Künstlercafés Wiens, das „Central“ und den „Herrenhof“ aufzusuchen. In den Jahren 1916 und 1917 bildete sich im Café Central der erste „Blei-Kreis“, dem Gina und Otto Kaus, Robert Musil, Ernst Polak, Paul Schrecker und natürlich Broch selbst angehörten. Mit Bleis Eintreffen waren sie alle über Nacht ein Kreis geworden, der sich bei seinem Weggang wieder auflöste. In jene Zeit fällt auch seine erste Begegnung mit Ea von Allesch, eine außergewöhnlich hübsche und faszinierende Frau, um die sich zahlreiche der größten Autoren und Künstler drängten. Nach der Scheidung von seiner Frau richtete sich Broch in ihrer Wohnung ein Zimmer ein und von da bis 1930 lautete seine wirkliche Adresse Peregringasse-1. Noch 1934 schaffte er seine Bibliothek dorthin und noch nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte er, der selbst nichts hatte, Ea durch Lebensmittelpakete und durch die Überweisung seiner europäischen Honorare zu unterstützen. Er hatte sie sein „erstes wirkliches Erlebnis“ und seine „erste Liebe“ genannt. Sie konnte nicht nur gut zuhören, wenn er sein Herz über seine Probleme ausschütten wollte, sondern sie hat auch seine literarischen Versuche geschätzt und hat gewiß auch Einfluß auf seine Entscheidung gehabt, Schriftsteller zu werden. Im Jahr 1927 hatte er gegen den Widerstand der Familie die Fabrik verkauft und im selben Jahr traf er auch Anja Herzog, die sehr viel jünger als Ea war und die nun die Stellung Eas einzunehmen begann. Der Schriftsteller Frank Thieß, dem er die „Methodologische Novelle“ zeigte, ermutigte Broch einen Roman 8 Paul Michael Lützeler, op. cit., S. 67. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 54 daraus zu machen. Dieser gestand ihm, daß er bereits an die Abfassung einer Romantrilogie gedacht hätte. In einer Villa in Sievering, die Anja gemeinsam mit ihrem Großvater gemietet hatte, entstanden große Teile der Schlafwandler- Trilogie, welche Anja auf ihrer Schreibmaschine abtippte. Broch blieb mit ihr bis zu seiner Emigration in enger Verbindung. In die frühen Dreißigerjahre fällt übrigens auch das vielleicht wichtigste literarische Bildungserlebnis Brochs, seine Auseinandersetzung mit James Joyce. Brochs Beziehung zu diesem sollte eine eigene Entwicklung durchmachen. Im April 1932 hielt Broch jedenfalls einen Vortrag über James Joyce und die Gegenwart, der mit wenigen Änderungen 1936 als Buch erschien und der überraschendes Aufsehen erregte. Brochs Hauptthese war, daß Joyce mit modernen Mitteln, einer Technik der Simultaneität, es geschafft hatte, die Totalität einer Epoche in einem Kunstwerk einzufangen. Für Broch war Joyce zusammen mit Gide und Musil ein Vertreter jener Art des modernen Romans, der seiner eigenen Theorie vom polyhistorischen Roman entsprach. Brochs Bewunderung für Joyce betraf vor allem die Totalitätserfassung und war von Anfang an keineswegs vorbehaltlos in anderer Hinsicht. Jahre später, als er den Tod des Vergil beendet hatte, wußte er, daß er damit den Ulysses übertroffen hatte. Vier Tage nach Brochs Vortrag über Joyce hielt der junge Ernst Schönwiese in der Zweigstelle Leopoldstadt der Wiener Volkshochschulen einen Einführungsvortag in das Romanwerk von Broch und wiederum drei Tage später las Broch selbst aus dem noch unveröffentlichten dritten Band der Schlafwandler, dem Roman Huguenau oder die Sachlichkeit. Mit seiner Romantrilogie Die Schlafwandler wollte Broch die drei Stufen des totalen Wertzerfalls darstellen, die in diesem Fall an die Jahreszahlen 1888, 1903 und 1918 gebunden sind. Die drei Romane stellen im Grunde eine Analyse und detaillierte Ausführung der apokalyptischen Visionen von 1908 und 1913 dar in Form einer rationalen Verifizierung. Sie sollten auch die geistige Grundlage sichtbar machen, aus welcher heraus der Nationalsozialismus entstand und sie bieten auch darüber hinaus noch dichterische Romancharaktere in ihrem eigenen Recht. Im Rückblick scheint es geradezu schicksalhaft und überaus positiv zu sein, daß Broch nach etlichen Versuchen bei anderen Verlagen die Trilogie im Rhein Verlag herausbrachte, der auch der Verlag der deutschen Übersetzungen des Werkes von Joyce gewesen war. Der Verleger Daniel Brody, von Broch nur allzu bald als der „anständigste“ von allen erkannt, sollte sich rasch zu einem wirklichen, persönlichen Freund entwickeln. Brody verlegte außer Joyce und Broch kaum Dichter, sondern Psychologen, Mythenforscher, Esoteriker und Religionsforscher und er wurde auch der Verleger der Eranos Jahrbücher. Einige Zeit bestand sogar auch ein Plan, wonach C. G. Jung im Verlag eine Zeitschrift herausgeben sollte, deren literarischer Teil von Broch hätte besorgt werden sollen. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 55 Im Jahr 1933 erschien sodann der kleine Roman Die unbekannte Größe, der eine Hinwendung zum Irrationalen, zur Psychologie C. G. Jungs, zur Gnosis bedeutete. Broch zeigte hier, wie das Verständnis für den Strom mystischer Erkenntnis mit der Handlung mit fließt, der aus denselben Seinsgründen gespeist wird wie die Rationalität. Im März 1934 wird sodann das einzige Drama Brochs, Die Entsühnung, in Zürich uraufgeführt. Es endet in der Totenklage der Frauen und Mütter ohne Unterschied der politischen Haltung der toten Söhne und Gatten, deren menschliches Mitgefühl dem Wahnwitz und Haß der Männer als positiv gegenübergestellt wird. Aber die Frauen sind nicht imstande, den Prozeß des Wertzerfalls aufzuhalten. In den Jahren 1935 und 1936 schrieb Broch zuerst in Mösern und sodann in Altaussee an den beiden ersten Fassungen des „Bergromans“ und im Jahr 1937 entstand die Erzählung „Die Heimkehr des Vergil“, die Urfassung des Tod des Vergil. Am Morgen des 13. März, einen Tag nach dem Einmarsch der Hitler- Truppen in Österreich, tauchten bei Broch in Altaussee vier junge, lokale Nazis mit Hakenkreuzarmbinden auf, um ihn zu verhaften und in den Dorfkotter des Bezirksgerichts einzusperren. Die Promptheit dieser Verhaftung löste bei Broch die Befürchtung aus, daß er auf einer „Verhaftungsliste“ stehen müßte, und aus diesem Schrecken entstanden zugleich die Ängste vor seinem unmittelbar bevorstehenden Tod. Die Befassung mit dem Manuskript des Tod des Vergil erhielt dadurch eine neue Dimension und während er im Gefängnis daran schrieb, stieg ihm tagtraumhaft die Vision des Knaben Lysanias auf, der alle Details des Knabengottes Telesphoros aus dem Kreis um Äskulap besaß und von dem Broch niemals etwas gehört hatte. Eine seiner Funktionen war auch die eines Führers in das Totenreich. Als Broch entlassen worden war, mit dem Auftrag, sich in Wien polizeilich zu melden, begann die ebenso schwierige wie langwierige Jagd nach dem Visum für ein Land, in das er auswandern hätte können. Es war James Joyce, der ihm zu seinem englischen Visum verhalf und Broch wohnte in Schottland bei den Muirs, welche die Schlafwandler ins Englische übersetzt hatten. Als er sich um ein Visum für die USA bemühte, waren es Albert Einstein, Thomas Mann und der berühmte Direktor der Viking Press Ben Huebsch, die sich für ihn einsetzten. Auf der Statendam der Holland-Amerika Linie erblickte er schließlich am 9.- Oktober 1938 die Silhouetten der Wolkenkratzer von New York und hielt ihm die Freiheitsstatue ihre Fackel entgegen. Im amerikanischen Exil entstanden die späteren Fassungen und vor allem die vierte und letzte Fassung des Tod des Vergil. 9 Er gilt mit Recht als schwierig wie auch als ein besonders großes Kunstwerk. Die Schwierigkeit entsteht vor allem durch die Komplexität der Form. Diese Form besteht aus drei verschiede- 9 Hier zitiert nach Hermann Broch: Der Tod des Vergil. Zürich 1951. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 56 nen Schichten, die nach dem Modell von Joyce durch einen einzigen, riesigen inneren Monolog des sterbenden Vergil in eins zusammengeschlossen sind. Die erste Schicht besteht aus der durchlaufend kontinuierlichen Darstellung von Vergils Seele, die zweite in der gleichfalls sich kontinuierlich weiterentwickelnden Motivfülle, die sich analog zu den Motiven einer Symphonie entfalten, die dritte konstituiert daraus eine Simultaneität des Geschehens. Dabei entsprechen die vier Teile des Romans auch den vier Sätzen einer Symphonie. Diese vier Teile sind den Begriffen Wasser, Feuer, Erde und Äther oder Luft zugeordnet, welche den vier „Urelementen“ entsprechen, aus denen sich nach mythischen und gnostischen Traditionen das Universum zusammensetzt. Broch geht es um Totalitätserfassung durch den Roman und das setzt voraus, daß er nicht nur die rationalen Seiten einer durch die Wissenschaft erfahrbaren Erkenntnis oder der sinnlichen Wahrnehmung erschließt, sondern auch aus dem bereits in der Unbekannten Größe entwickelten Strom mystischer Erkenntnis schöpft, der dazu noch eine Weisheitserkenntnis gnostischer Art darstellt. Letztere kommt im Roman besonders durch die von Vergil aus seinem eigenen Unbewußten projizierten, imaginären Charaktere des Lysanias, des Sklaven und Plotias zum Tragen, sprachlich aber besonders durch die Partien in stark lyrisierender Sprache zum Ausdruck, denn jene über das Rationale hinausgehende dichterisch-mystische Erkenntnis ist geradezu lyrisch vor Irrationalität. Dies hängt wohl auch mit Brochs Einsicht zusammen, wonach die dem Dichtungsgewebe zugrundeliegende Sprache in der frühen Kindheit geformt wird. Jedenfalls versucht Broch hier eine Verbindung von lyrischer Ahnung und rationaler Abstraktheit, die ihm helfen soll, das Unendliche im Endlichen und das Zeitliche im Zeitlosen aufzuzeigen. Was aber die Überwindung des Chaos betrifft, so löst Broch das Problem so, daß er zwei verschiedene Ästhetiken als Ausdruck zweier gegensätzlicher Welthaltungen im Kontrast einander gegenüber stellt: auf der einen Seite die Haltung des historischen, „wirklichen“ Vergil oder im Roman des Vergil vor der Todeserkenntnis und des Augustus auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Haltung des durch Todeserkenntnis geläuterten, erwachten, wissenden Vergil des Romans, der durch die Hereinnahme des Todesbewußtseins in die Gesamtschau des Seins eine große, innere Sicherheit und Klarheit erreicht hat. Die alte Ästhetik stand für die falsche, äußere „Ordnung“ der Pax Romana, die eigentlich Chaos bedeutet und untergehen wird, die neue Ästhetik stand für die richtige, innere Ordnung, die zeitlos alles dem Unendlichen, dem Ewigen, dem Absoluten einbindet: Das ist gemeint, wenn es im Roman einmal heißt: „Echte Kunst durchbricht Grenzen, durchbricht sie und betritt neue, bisher unbekannte Bereiche der Seele, der Schau, des Ausdrucks, bricht durch ins Ursprüngliche, ins Unmittelbare, ins Wirkliche …“ 10 10 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 281. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 57 Das Gerippe der Fabel ist denkbar einfach: Der sterbende Vergil landet auf einem Schiff der kaiserlichen Flotte im Hafen von Brundisium, wird in den dortigen Palast getragen, empfängt eine Reihe von Besuchern, solche aus der Realwirklichkeit wie solche, die er selbst durch seine Fieberphantasien in den Raum projiziert. Er hat eine Auseinandersetzung mit dem Kaiser, setzt durch, daß die Sklaven auf seinem Landgut freigesetzt werden, macht sein Testament und stirbt. Die Funktion dieser Fabel besteht darin, die Grundlage für die verschiedenen Themen von Vergils Monolog zu bilden, dessen durchgehender roter Faden die sich immer weiter steigernde Entwicklung der Einsicht und des Wissens um den Tod ist und damit zugleich der Chaosüberwindung dient. Das geht so weit, daß Broch den Hadesabstieg sowohl von Orpheus wie des Aeneas im Epos des wirklichen Vergil als relativ beschränkt erklärt, was impliziert, daß der Romancharakter seines sterbenden Vergil noch tiefer abgestiegen ist. Das wird damit begründet, daß er aus einem tieferen, schicksalhaften Müssen heraus, seine „eigene Gestalt in der des Todes“ suchte, „um hiedurch die Freiheit der Seele zu gewinnen: denn die Freiheit ist ein Müssen der Seele, deren Heil und Unheil stets auf dem Spiele steht, und er hatte sich dem Befehl gefügt, gehorsam seiner Schicksalsaufgabe“. 11 In dem großen, platonischen Dialog zwischen Augustus und Vergil reden die beiden ständig aneinander vorbei, da Augustus nicht imstande ist, den durch die Todeserkenntnis vertieften Argumenten Vergils zu folgen, obwohl ihm sogar bewußt ist, daß seine „Ordnung“, die Pax Romana untergehen wird, während das Werk des Dichters bestehen bleibt. Der Kontrast dieses Widerspruchs bringt Chaos und Chaosüberwindung sehr klar heraus. Broch läßt seinen Vergil sehr deutlich aussprechen, worin der Unterschied tatsächlich besteht: „… nur wer den Tod auf sich nimmt, vermag den Ring des Irdischen zu schließen, nur wer des Todes Auge sucht, dem bricht nicht das eigene, wenn er ins Nichts schauen will, nur wer zum Tode hinlauscht, der braucht nicht zu flüchten, der darf bleiben, dem seine Erinnerung wird zur Gleichzeitigkeitstiefe, und wer in die Erinnerung taucht, dem erklingt der Harfenton jenes Augenblicks, in dem das Irdische sich zum unbekannt Unendlichen öffnen soll, geöffnet zur Wiedergeburt und Auferstehung unendlicher Erinnerung.“ 12 „Wiedergeburt“ ist ein komplexer Hauptschlüsselbegriff dieses Romans. Zuallererst hat der Begriff hier nichts zu tun mit Metempsychose, der Seelenwanderung fernöstlicher Religionen. Er hat zumindest zunächst zwei andere Bedeutungen: Erstens bezieht er sich auf den seelischen Wiedergeburtsakt eines Individuums vor dem körperlichen Tod, wie ihn auch Vergil hier im Roman, wenngleich sterbend, so doch noch vor dem Tod vollzieht. Zweitens aber, und 11 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 93. 12 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 89. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 58 darüber hinaus, wird der Wiedergeburtsbegriff hier auch im übertragenen Sinn auf ganze Zeitperioden angewendet, wie etwa das „goldene Zeitalter“, das im Roman als Herrschaft des Saturn apostrophiert wird, oder auch auf einzelne parallele Zeitperioden innerhalb einer weit längeren Zeitstrecke, in denen beispielsweise Dichtung die barbarische Periode des Niedergangs überdauert hat, so daß in einer Art Wiedergeburtsakt die neuerliche Schöpfung großer Dichtung möglich wird: also etwa die Parallele und der Bezug von des historischen Vergil der Aeneis zum Vergil-Roman Brochs. Der Tod des Vergil ist unter anderem auch darum kein historischer Roman im Sinn des 19. Jahrhunderts, weil er durch die Wiedergeburtsphase dichterisch die simultane Parallele zur Periode gleicher Art in Brochs Gegenwart darstellt. Brochs Vergil-Roman entstand wie die Aeneis in einer Zeit tiefer Krise und weist wie das alte Epos auf eine Zeit geistiger und religiöser Erneuerung voraus. Dabei sind Vergils Aeneis wie auch Brochs Vergil-Roman ebenso parallel Produkte der Krise wie auch ihre Thematisierung. Was den persönlichen Wiedergeburtsakt in diesem Leben betrifft, so läßt der historische Vergil seinen Helden Aeneas im sechsten, dem Abschlußgesang des ersten Teils der Aeneis in den heute durch den Lago Averno gefüllten Vulkankrater bei Cumae in die Unterwelt hinabsteigen. Nach seiner Rückkehr aus dem Totenreich setzt der zweite Teil ein, der mit dem Sieg des Aeneas über seinen Hauptgegner auf dem italischen Festland in Latium, dem Rutulerkönig Turnus endet. Auch Brochs Roman schließt mit einem dreißig Zeilen langen Satz, der vor allem auf das Wiedergeburtsproblem hinausläuft, so daß der Roman in gewissem Sinn in dieses Problem ausmündet. Im wesentlichen Ausschnitt dieses Schlußsatzes, der sich darauf bezieht, hört der sterbende Vergil zuletzt ein Brausen, „hervorbrechend als das reine Wort … das Wort der Unterscheidung, das Wort des Eides … so brauste es daher und schwoll an … wurde so übermächtig, daß nichts mehr davor bestehen sollte, vergehend das All vor dem Worte, aufgelöst und aufgehoben im Worte … vernichtet und neu geschaffen für ewig, weil nichts verloren gegangen war, weil das Ende sich zum Anfang fügte, wiedergeboren, wiedergebärend …“ Hatte schon früh das Schlangensymbol des Ouroboros symbolisch darauf hingewiesen, so wird dieser Augenblick ganz am Schluß jetzt zum tatsächlich erlebten Ereignis und hier ist der Punkt erreicht, an dem die Idee der Metempsychose zwar nicht philosophisch oder religiös wörtlich formuliert, so doch vom Wesen der Sache her zumindest als Möglichkeit einer letzten Wiedergeburt offengelassen wird. Vielleicht stellt das Gedicht „Der Urgefährte“ eine zusätzliche Teilvision zu diesem Problem dar. Eine Art zweiten Aspekt stellt das Vorstoßen dieses letzten langen Schlußsatzes im Tod des Vergil zum Aufgehen in einer Art letzter neuer Wirklichkeit dar. Diese Wirklichkeit wird so beschrieben, daß das Brausen, das der Sterbende Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 59 in seinen letzten Sekunden hört, aus einer Vereinigung des Lichtes mit der Finsternis heraus ertönt. Um das zu verstehen, muß man auch noch den vorletzten, sehr kurzen Satz in das Bild mit einbeziehen, der lautet: „Quellender Brunnen der Mitte, unsichtbar leuchtend in unermeßlicher Wissensangst: das Nichts erfüllt die Leere und ward zum All“. Aber 257 Seiten später, hat er in großartig einfacher Einsicht die Wahrheit einer letzten Wirklichkeit so ausgedrückt, daß er dem sterbenden Vergil die Worte in den Mund legte: „Die Wirklichkeit ist die Liebe! “ 13 Solch große Einfachheit scheint aber mitunter noch schwerer verständlich zu sein als das komplizierteste Strukturproblem des Romans. Auch dies hat Broch in aller nur wünschenswerten Klarheit ausgesprochen, indem er seinen Vergil reflektieren ließ: „… sollte er, mußte er dies nicht laut hinausschreien? -… ach, sie würden es nicht begreifen, sie hatten gar nicht den Willen es zu begreifen-…“ Aber wenn er es auch nicht hinaus schrie, so drückte er es doch für sich selber aus: „Das Gesetz? Es gibt nur ein Gesetz, das Gesetz des Herzens! Die Wirklichkeit der Liebe“ 14 Wenige Minuten später beweist der neben dem sterbenden Freund sitzende Plotius Tucca, daß er solche große Einfachheit tatsächlich nicht versteht, da der Sterbende es in der denkbar knappsten Weise ausdrückt: „Die Reinheit des Herzens, allein unsterblich.“ 15 Im amerikanischen Exil ist Broch auch daran gegangen, die ersten beiden Fassungen des „Bergromans“ auf die Höhe des Vergil-Romans zu bringen. Allerdings schlug ihm der Tod nach den ersten vier Kapiteln der dritten Fassung die Feder aus der Hand. Er hatte jedoch das Glück, daß sein Verleger-Freund Daniel Brody in Felix Stössinger die ideale Persönlichkeit fand, durch eine ungewöhnlich einfühlsame literarische Bearbeitung einen Roman von ganzheitlicher Einheit und wirklicher Bedeutung zu schaffen. 16 Während im Vergil-Roman der Charakter des römischen Dichters allein im Brennpunkt des Interesses steht und das Thema auf seine Entwicklung begrenzt ist, während des Sterbeprozesses zu wirklicher Todeserkenntnis und Überwindung des Chaos vorzustoßen, stehen sich im Versucher eine in ihrer Entwicklung bereits von Anfang an vollendete Persönlichkeit, die Mutter Gisson und ihr Widersacher, der Chaos stiftende „Versucher“ Marius Ratti im Umfeld einer ganzen Tiroler Dorfgemeinschaft gegenüber. Die innerliche Vollendung der Mutter Gisson hat Broch bereits durch ihre Namensgebung signalisiert, denn Gisson ist ein Anagramm für Gnosis und damit dafür, daß sie 13 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 276. 14 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 272. 15 Der Tod des Vergil, op. cit., S. 284. 16 Hermann Broch: Der Versucher. Zürich 1953. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 60 im Strom mystischer Erkenntnis bereits ein letztes Ziel erreicht hatte und ein Sinnbild für die Gestalt der „Großen Mutter“ darstellt. Broch geht es unter anderem auch darum, zu zeigen, daß selbst und gerade solche innerliche Vollendung dem barbarischen Zeitgeist der Außenwirklichkeit zunächst nahezu völlig hilflos gegenübersteht. Mutter Gisson ist nicht einmal imstande, zu verhindern, daß ihre eigene Enkelin in den Bann des Versuchers gerät und in der Zeremonie eines Rückfalls ins Heidentum als freiwilliges Menschenopfer den Tod findet. Wie sie es auch nicht zu verhindern vermag, daß Marius zweifellos bald nach dem Ende der Romanhandlung in den Gemeinderat gewählt werden wird und zumindest für einige Zeit einen großen Teil der Dorfbewohner in seine Macht bekommt. Das Wenige, was sie verhindern kann, ist, daß sie ihm die Einweihung in ihr eigenes geheimes Wissen verweigert, daß sie durch ihren Geist den Zusammenhalt einer kleinen Gruppe von Dorfbewohnern schafft, die sich dem Wahnwitz des Marius entgegenstellen und daß sie schließlich ihr Wissen an ein junges Mädchen im Dorf weitergibt, damit dieses Wissen verfügbar sein wird, wenn seine Zeit gekommen ist. Da das von ihr ausgewählte Mädchen schwanger ist, wird zumeist angenommen, daß nur das künftige Kind gemeint sein kann mit der Person, die Rettung und Heil für das ganze Dorf bringen wird, obwohl dies nirgends im Roman ausdrücklich und konkret gesagt wird, sondern nur allgemein von der Hoffnung auf die Zukunft durch ein Kind die Rede ist. Aber der Vergleich mit der Aeneis liegt beim Dichter des Vergil-Romans nahe und im Mittelalter war eine Stelle der Aeneis als Prophezeiung der Geburt Christi - ebenfalls sehr frei-- interpretiert worden. Die weitgehende Vollendung der Mutter Gisson vollzog sich nicht durch ihre Erfahrung des eigenen Sterbens, sondern durch die Vollidentifikation und den geistigen Nachvollzug des Sterbens ihres Gatten, der als Jäger von einem Wilderer erschossen worden war. Die Handlung kommt aber nicht dadurch in Gang, daß Mutter Gisson etwas unternommen hätte, deren Haltung, oberflächlich betrachtet, in rein passivem Beobachten und Geschehenlassen besteht, sondern dadurch, daß Marius um die Gunst der Dorfbewohner zu ringen beginnt und sich dadurch in aktiven Widerspruch zu ihr setzt. Der tiefere Sinn des Geschehens offenbart sich vielleicht am direktesten schlagend dadurch, daß Marius dem alten Mitis, welcher der Mörder des Jägers Gisson gewesen war, dadurch auf seine Seite zu ziehen versucht, daß er ihm den Beschluß eines Gesetzes verspricht, welches das Töten von Jägern legalisiert, während Mutter Gisson dem alten Mitis durch den Dorfarzt, der ihn behandelt, regelmäßig etwas Tabak oder Zucker und Kaffee schickt. Die Gesamtdarstellung der Auseinandersetzung zwischen Mutter Gisson und Marius ist aber sehr viel komplexer und Broch hat durch die Romanhandlung Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 61 das Dorf zu einem Miniaturmodell seiner Theorie des Massenwahns gemacht, an welcher er viele Jahre gearbeitet hat. Den Dorfarzt hat Broch aber zum Erzähler des Ganzen gemacht, einerseits weil er eine Art neutraler Außenseiter ist, die nicht ganz zum Dorf gehört und das Geschehen unparteiisch berichtet und andererseits, weil auch er, freilich in geringerem Maß als Mutter Gisson, die Grenzen des rein Rationalen überschritten und hinter sich gelassen hat. Diesen Schritt hatte er vollzogen, als er freiwillig aus persönlichen Gründen seine Mitarbeit am babylonischen Turmbau der (ärztlichen) Wissenschaft in der Stadt verlassen hatte, um in der Einsamkeit eines kleinen Gebirgsdorfes das einfache Leben eines Landarztes zu führen und durch den notwendigen persönlichen Einsatz hier jene ergänzenden, irrationalen Kräfte entdeckt, die er bisher nicht gekannt hatte. Natürlich spielt Mutter Gisson die Hauptrolle. Nach anfänglichem Mißtrauen in ihre quacksalberische Einmischung hatte er durch Beobachtung gelernt, das eigenartige Wissen der alten Frau zu schätzen. Er war in die „Stille einer mäßigen Landpraxis getrieben“ worden, „müde der Erkenntnis, sehnsüchtig nach Wissen, müde einer Unendlichkeit, die nicht ihm, sondern der Menschheit“ gehörte, „müde einer Stummheit, die das Gestern auslöscht und nur das Morgen gelten läßt, müde des unpersönlich Fernen und sehnsüchtig nach dem Unendlichen der eigenen Seele, mit aller Kraft fühlend, daß lediglich diese innere Unendlichkeit jedem menschlichen Wesen eingeboren ist und die Fähigkeit besitzt, Gestaltlosigkeit, Stummheit und Vergessen zu überwinden und ein Wissen zu haben, das erfüllt ist von der Überzeitlichkeit der Seele, von dem Gestern ebenso wohl wie von dem Morgen, das erfüllt ist, von dem Sinne des Gewesenen wie dem des Zukünftigen, stark genug ist, um uns mit einem frohen Warten über die kurze Spanne unseres Daseins hinweg zu helfen, um unserem Umherwandeln während dieser Frist freudige und feste Schritte zu verleihen, unseren Augen aber ein heiteres Schweifen zu jedem Da und zu jedem Dort in dieser Welt: dies war“ seine „Sehnsucht und seine Hoffnung gewesen.“ Das ist der Hintergrund seines Monologs, den der Roman sodann darstellt. 17 Die ersten sechs Zeilen des ersten Romankapitels „Der Wanderer“ klingen ganz so, als sei der Landarzt wie Broch in einem großen Haus der Innenstadt Wiens aufgewachsen. Er erreicht zwar nicht die Vollkommenheit der Mutter Gisson, aber im Kapitel 8, das den Titel „Wiedergeburt“ trägt, hat doch auch er seine „persönliche Auseinandersetzung mit dem Tod“. Er war zum Sohn des Versicherungsagenten Wetchy gerufen worden, der als Kalvinist die Außenseiterrolle unter den katholischen Dörflern spielt. Broch hat ihn absichtlich nicht zum Juden gemacht, damit der Roman nicht an eine zeitgeschichtliche 17 Der Versucher, op. cit., S. 6. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 62 und politische Reportage gemahnt, sondern auf eine dichterische Ebene gehoben wird. Der Krankheitszustand des Kindes verschlimmert sich in der Nacht plötzlich in gefährlicher Weise. Der Arzt verspürt instinktiv die zwingende Aufforderung, den Tod unter keinen Umständen heranzulassen und erlebt den seltsamen Zustand, als sei das Kind in den Mittelpunkt der Welt gerückt: „… es war für mich in dem Kinde ein zweiter Seinsmittelpunkt auferstanden, ein zweites Ich war mir in ihm geworden … ich spürte meinen Atem … von dem seinen gelenkt, er ging ebenso schwer, ebenso fliehend wie der seine und unsere Pulse schlugen gleichen Schlag.“ 18 Durch eine Totalidentifikation mit dem Kind zwingt er gleichsam psychisch den Tod förmlich nieder und vollzieht eine besondere Art von Wiedergeburtsakt. Er selbst hatte kurz das Bewußsein verloren und war hintennach völlig erschöpft. Der Landarzt, der mitunter zum Wunsch des Helfen-Wollens auch die Gnade des Helfen-Könnens findet, ist auch hier Broch selbst sehr nahe, weshalb Hannah Arendt von ihm sagen hatte können: „Es“ war „eigentlich selbstverständlich geworden, von Broch, der weder Geld noch Zeit hatte, alle Hilfe zu erwarten.“ 19 Die grundsätzliche und zeitlose Aufforderung der Mutter Gisson an den Menschen aber lautet: „Deine Liebe sei grenzenlos. Ist grenzenlos. Verliere keine Zeit! “ Im Versucher wird es besonders deutlich und klar, daß Broch ein Gnostiker und Mystiker gewesen ist. 20 Nach Gershom Scholem umfaßt die Kabbalah eine Esoterik, die eng mit dem Geist der Gnosis verwandt war, einen Geist, „der nicht nur auf die Anleitung zum mystischen Weg beschränkt war, sondern auch anderes, darunter Kosmologie einschloß.“ 21 Felix Stössinger aber nennt Broch in seinem ausgezeichneten Nachwort zum Versucher ausdrücklich einen Mystiker. Es ist kein Zufall, daß Broch einmal schrieb: „Man darf sich nicht darüber täuschen, daß sich unter Juden kein kleinerer Prozentsatz irreligiöser Menschen wie anderswo findet, ja, daß alle die schlechten Eigenschaften des Juden gerade daraus entspringen, weil der irreligiöse Jude eine Umkehrung seiner selbst, also das Böse schlechthin darstellt.“ 22 Natürlich war sein Anliegen nicht ein über- 18 Der Versucher, op. cit., S. 36. 19 Dichter wider Willen. Einführung in das Werk von Hermann Broch. Zürich 1958, S. 43. 20 Vgl. Joseph P. Strelka: Der Gnostiker Hermann Broch. In: Joseph P. Strelka: Vergessene und verkannte österreichische Autoren. Tübingen 2008, S. 67-79. 21 Gershom Scholem: Kabbalah. New York 1978, S. 45. 22 Hermann Broch: Die unbekannte Größe. Hg. von Ernst Schönwiese. Bd. 10 der ersten Gesamtausgabe, op. cit., S. 375. So genau die Broch-Biographie von Paul Michael Lützeler, op. cit., im Hinblick auf Wohnadressen und Reisedaten ist, so groß sind ihre Schwächen im Geistigen, da sie sich abmüht, Broch gerade mit irreligiösen Juden zusammen zu stellen. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 63 triebener jüdischer Fundamentalismus, der oftmals die Abwendung bedeutender jüdischer Auroren wie etwa Karl Emil Franzos von der religiösen Tradition überhaupt verschuldet hatte, da er an Fanatismus grenzte und die eigenen Anhänger tief unglücklich machte. In beiden extremen Fällen wird das Kind mit dem Bad ausgegossen. Auch im Versucher spielt Marius insofern die Rolle des Bösen, als er eine zutiefst materialistische Ideologie durchzusetzen versucht, die das Unendliche verendlicht und zugleich das Endliche verabsolutiert. Im einzelnen werden viele Dörfler Anhänger des Marius aus direkten materiellen Vorteilsüberlegungen, während der Rest Liebes- oder Elternversehrte sind, die den humorlosen, pathetischen und leeren Phrasen auf den Leim gehen und an eine - wenn nötig gewaltsam und revolutionär herzustellende - Afterordnung glauben, welche die alte Ordnung tatsächlich zerstört und ein Chaos begründen möchte. Das dem Wilderer Mitis von Marius versprochene Gesetz, daß die Tötung von Jägern erlaubt, ist nicht so weit hergeholt, wie es scheinen mag. Genau so könnte man willkürlich alle Rothaarigen oder aber alle Fünfzigjährigen oder Abkommen von Norwegern - oder eben Juden aussondern. Genau letzteres ist aber geschehen. Wie überhaupt Brochs Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Mutter Gisson und Marius und deren Anhängern dadurch eine sehr ernsthafte und eine sehr hohe Allgemeinbedeutung erhält, als er in vereinfachter und dabei verlebendigender Weise das Dorf zu einem Modell für seine Massenwahntheorie gemacht hat. Diese Massenwahntheorie hat weiter gehend als fast alles andere sowohl eine grundlegende Analyse der Entstehung totalitären Terrors geliefert und dazu noch außerdem einen Therapievorschlag. Dieses Buch, das gleichsam die wissenschaftliche Ergänzung zum Versucher darstellt, ist 1979 unter dem Titel Massenwahntheorie erschienen. 23 Trotz ihrer großen Bedeutung ist sie bis heute, 2010, eines der unbekanntesten Bücher der Welt geblieben, für deren Wohlergehen sie von so unglaublichem Wert sein könnte. Interessanter Weise hat es vor der Veröffentlichung dieser vollständigsten Ausgabe der Massenwahntheorie eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zu Brochs „Massenpsychologie“ gegeben, von denen Lützeler die wichtigsten in seiner Ausgabe auflistet. 24 Als meine Tochter, von einem seiner Erfolgsautoren empfohlen, einem der größten amerikanischen Verlage das Angebot machte, das Buch zu übersetzen, 23 Hermann Broch: Massenwahntheorie. Hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt 1979, Bd.- 12 der von Lützeler herausgegebenen sogenannten „Kommentierten Werkausgabe“. Die Herausgabe dieses Bandes stellt das größte Verdienst Lützelers und seiner Ausgabe dar. 24 Massenwahntheorie, op. cit., S. 574. Eine kritische Darstellung der Massenwahntheorie findet sich bei Joseph Strelka: Literatur und Politik. Frankfurt am Main u. a. 1992, S.-159-173. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 64 erhielt sie als vielsagende Antwort der zuständigen Lektorin eine E-Mail mit der Anfrage: „Wer ist Hermann Broch? “ Im Unterschied zu Thomas Mann, der sich während des Krieges durch seine damals berühmten Rundfunkansprachen an die Massen gewendet hatte, hat Broch in seinem Buch geradezu im Gegensatz dazu die Massen zum Gegenstand einer elitären wissenschaftlichen Analyse gemacht, die ohne Rücksicht auf politische Tagesideologien das Gesamtübel des modernen Totalitarismus nicht nur von Grund auf zu durchleuchten und zu erfassen suchte, sondern darüber hinaus im letzten Teil eine Anleitung zu seiner Überwindung gab. Wie aber Broch in seinem Vergil-Roman nicht davor zurückgeschreckt ist, dichterische Größe durch überaus komplizierte Darstellungsformen zu erkaufen, so hat er auch in seiner Massenwahntheorie um ihrer Qualität willen jegliche notwendige Gründlichkeit und Schwierigkeit in Kauf genommen. Sie hat im Unterschied zu den meisten anderen, dort, wo er es für wichtig fand, Aspekte der Erkenntnistheorie, der Rechtsphilosophie, der Wertlehre, der Geschichtstheorien, der Religionswissenschaft, ja im Grunde auch anthropologische Gesichtspunkte mit einbezogen. Dabei trägt das Paradox, daß er trotz der Einbeziehung seiner stupenden Belesenheit, die nur der Kenner sieht, auf Fußnoten, Zitate und Autorennennungen verzichtete, auch nicht gerade zu leichter Lesbarkeit bei. Obwohl dadurch und auch infolge des konsequenten Durchziehens seines Modells der Massenpsychologie das Ganze wie eine Arbeit aus einem Guß wirkt. Und obwohl er, ganz wie im schwierigen Vergil-Roman, öfter die Problematik in größter Einfachheit erklärt, hat dies nicht viel geholfen. Bei seinem Modell steht wie sonst so nachdrücklich nur noch bei Freuds Massenpsychologie die Einzelseele im Zentrum der Betrachtung und führen alle massenpsychologischen Vorgänge immer durch deren Konkretheit hindurch. Ausdrücke wie „Massenseele“ und „Massenbewußtsein“ sind für ihn ohne jeden wirklichen Erkenntniswert. Dies ist nicht zuletzt auch darum so wichtig, weil es die Verantwortung des einzelnen konstituiert und dies wieder ist bei Broch auch dadurch in viel überzeugenderer und zwingenderer Weise als sonst wo durchgeführt, als er das Ganze mit einem neuen Menschenrechtsbegriff verbindet, der dem herkömmlich naturrechtlichen ähnlich ist, diesen Begriff jedoch bewußt vermeidet und der in einem „Irdisch-Absoluten“ verankert ist. Ohne dieses Fundament würde-- wie er selbst einmal geurteilt hat - seine ganze Massenpsychologie ein „leeres Geplapper“ sein. 25 Wie vollzieht sich nun nach Broch die Entwicklung einer Gruppe von Einzel- Ichs zum Versinken im Massenwahn oder aber andererseits zur Vermeidung des Versinkens in ihm? Für ihn ist dies eine Frage der Haltung gegenüber der Kultur als rationaler Regelung irrationaler Bedürfnisse: „Die Skala dieser Bedürfnisse 25 Massenwahntheorie, op. cit., S. 35. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 65 reicht vom Metaphysischen bis zu jener Triebhaftigkeit, die am Nebenmenschen und letztlich daher im Kollektiv ausgelebt wird.“ 26 So betrachtet stehen dem normal gesunden Menschen zwei Grundhaltungen offen: 1. Der Weg der Irrationalbereicherung und 2. der Weg der Rationalverarmung. In kaum eingeschränkter Allgemeingültigkeit erblickt er dadurch den seelischen Sicherungscharakter der Gesamtheit aller Werte in einer Art großem System der Angstbesänftigung. Auch hier, im psychologischen Bereich der Ich-Erweiterung einerseits und der Angstbesänftigung andererseits, zeigen sich wiederum dieselben beiden Grundhaltungen, dieselben beiden Wege, auf denen sich das Ich aus der Normalitätslage ins Überindividuelle begibt, nämlich: 1. Der Weg der Irrationalbereicherung, der zu Welterlebnissen vom Typus Ich bin die Welt hinführt und 2. Der Weg der Rationalverarmung, auf dem vornehmlich die Werte vom Typus Ich habe die Welt liegen. „Ich bin die Welt“ steht für die echte, die positive Ich-Erweiterung, die an ihrem äußersten Endziel auf Ich-Überwindung hinausläuft. „Ich habe die Welt“ steht für die falsche Ich-Erweiterung, deren wahnhafte und auch massenwahnhafte Art der Angstbesänftigung keinen anderen Ausweg kennt, als alles zu besitzen, sich alles unterwerfen zu wollen, auch wenn dies völlige Versklavung und Unterwerfung an einen kollektiv-egoistischen Gruppenwahn zur Voraussetzung hat. Diesen beiden Wegen entsprechen auch zwei Führer-Typen: der echte, religiöse Heilbringer einerseits und der dämonische Demagoge und Populist andererseits. Mit dem dritten großen Teil seiner Massenwahntheorie wendet sich Broch schließlich dem „Kampf gegen den Massenwahn“, dem Kampf gegen das Chaos zu. Ja, er entwickelt eine eigene „Theorie der Bekehrung“ 27 . Unter den für diese Theorie wichtigsten Ideen sind die „Entwertung des Sieges“, das Durchschauen der Gefahr der leeren Phrasen und nicht zuletzt die Idee des Glaubens an schlichte Gewissenskräfte und grundsätzliche Anständigkeit. Hier gibt es Parallelen zu Camus und zu Gao. Von hier aus gesehen gewinnt der Aufruf zur Bekehrung seine positive Bedeutung als Botschaft der Menschlichkeit, die am ehesten und sichersten in einer Total-Demokratie gesichert ist, dem Hauptziel der Chaos-Überwindung. „Denn Demokratie ist Angstüberwindung, ja sie kann geradezu als solche definiert werden.“ 28 26 Massenwahntheorie, op. cit., S. 14. 27 Massenwahntheorie, op. cit., S. 343-358. 28 Massenwahntheorie, op. cit., S. 563. Hermann Broch und seine Massenwahntheorie 66 Einige Überschlaue haben es fertiggebracht, in Brochs Werk „faschistische“ Züge nicht zu finden, sondern zu erfinden. Keiner der in diesem Band vertretenen Autoren hat eine auf so festem Fundament gebaute, so gründlich durchdachte und ausgearbeitete Theorie der Demokratie und Humanität geschaffen und das Verdienst von deren Schaffung ist keineswegs darum geringer, weil sie bis jetzt so unbekannt geblieben ist. Das Bekanntmachen aber läge an jedem von uns. Camus und das Absolute In seinem „Versuch über das Absurde“ Der Mythos von Sisyphos spricht Camus von Männern, die verkünden, „daß nichts klar ist und alles ein Chaos sei, daß der Mensch nichts klar sehen und genau erkennen könne, nur die Mauern, die ihn umgeben.“ 1 Diese Einsicht, gewonnen auch aus eigenen Lebenserfahrungen und bestätigt durch Philosophen wie Husserl, Kierkegaard und Schestow sowie Autoren wie Dostojewski und Kafka beschrieb den Versuch, das Chaos unserer Zeit darzustellen. Camus aber fand im Irrationalen, im Heimweh des Menschen und im Absurden - seinem Schlüsselbegriff für dieses Chaos - die Grundelemente eines Zwiegesprächs und Dramas, „das notwendigerweise mit der ganzen Logik enden muß, deren eine Existenz fähig ist.“ 2 Obwohl zu zeigen versucht wurde, daß der Mythos von Sisyphos bei Camus in späterer Zeit durch den Mythos von Prometheus abgelöst worden sei, ist es doch der Mythos von Sisyphos, der seine Grundhaltung weit über seinen ersten Roman Der Fremde hinaus bis zu seinem allzu frühen Tod bestimmt hat und der durch seine Entschlossenheit dazu geführt hat, dem Chaos durch seine Aufdeckung und Analyse des Absurden und damit der Geschichtsdeutung wie der menschlichen Existenz eine „neue Dimension“ zu geben. Camus’ neuer Ursprung ist „der Nullpunkt im Schnittpunkt des Kreuzes: da, wo die qualitative Vertikale der paradoxen Transzendenzhaltung des Glaubens sich kreuzt mit der Horizontalen der klaren Immanenzentscheidung, die zu leben entschlossen ist aus der reinen Konzentration oder asketischen Bescheidung auf das quantitative Diesseits …“ 3 Er hat bei der Dichte seiner Ausführungen nur die wichtigsten seiner Vorläufer erwähnt und wenn er Theodor Lessings Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen nicht erwähnt, so bezieht er sich doch auf die „kühnen Gnostiker“, zu denen jener auch gehört, und geht er zurück bis zum französischen Scholastiker Alanus ab Insulis, der gesagt hat, das Gebet stelle sich ein, wenn die Nacht das Denken überkommt. Wenn allerdings bei Camus der Geist einer Nacht begegnen muß, dann soll es eine Nacht der Verzweiflung sein, „die hell bleibt, Polarnacht, Nachtwache des Geistes, aus der sich vielleicht die helle und unberührte Klarheit erhebt, in der sich jeder Gegenstand im Lichte der Vernunft abzeichnet.“ 4 1 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Hamburg 1959, S. 28. 2 Der Mythos von Sisyphos, op. cit., S. 29. 3 Liselotte Richter: Camus und die Philosophen in ihrer Aussage über das Absurde. In: Der Mythos von Sisyphos, op. cit., S. 141. 4 Der Mythos von Sisyphos, op. cit., S. 58. Camus und das Absolute 68 Der Held seines Romans Der Fall (La Chute) Jean-Baptiste Clamence ist denn auch ein „Guter Kartesianer, wie sich dies für einen Franzosen gehört.“ 5 Auch sein Autor ist das, unter anderem, da ihm auch die neuplatonische Mystik eines Plotin nicht weniger geläufig ist. Zugleich mit der Anerkennung der ungeheuren Macht des Chaos, des Irrationalen, des Absurden geht es ihm abgesehen von dessen Aufdeckung und Anerkennung auch darum, ihm kraft der Vernunft zumindest partiell an den Leib zu rücken und nicht zufällig war er mit Arthur Koestler befreundet, der genau dasselbe in seinem Buch Die Wurzeln des Zufalls unternommen hat, wie Camus auch einen Beitrag zu dem von Koestler herausgegebenen Buch gegen die Todesstrafe „Reflexion sur la peine capitale“ geschrieben hat. Camus, 1913 geboren in Mondovi, Algerien als Sohn einer Arbeiterfamilie, der als Werkstudent Philosophie studiert hatte, fand durch mannigfache Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend zur Etablierung jenes sinnstiftenden Freiheitsspielraums, der eine Grenze und ein Maß setzt zwischen Einwilligung und Knechtschaft einerseits und Anmaßung und Herrschaft andererseits. Camus war in Algerien ein Gegner radikaler Kolonisationspolitik und um sich in seine schließliche Einsicht gleichsam einzupendeln, gehörte es auch, daß er 1935 der Kommunistischen Partei beitrat, um spätestens 1937, wenn nicht sogar schon 1936 wieder aus ihr auszutreten. Als der „Kalte Krieg“ in den Fünfzigerjahren eskalierte, bezog er eine so konsequente Haltung, daß er von den vielen dogmatischen Vertretern der Linken geradezu verteufelt wurde und daß es darüber zum Bruch mit seinem Freunde Sartre kam. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war der junge Camus Herausgeber der kleinen algerischen Zeitung Le Soir républicain, eines Zwillingsblattes des etwas größeren Alger républicain. An dem Tag, an dem 1939 auf Grund des Hitler- Stalin-Pakts die Sowjetunion in Polen einmarschierte, schrieb Camus: „Vielleicht haben die militanten Linken noch nie so viele Gründe zum Verzweifeln gehabt.“ Da aber die UdSSR, die für viele die große Friedenshoffnung gewesen war, den Krieg mit Finnland begonnen hatte, schrieb er unter dem Pseudonym Meursault, „daß derzeit alles darauf hindeute, daß die Sowjetunion ihren Platz unter den imperialistischen Staaten eingenommen hat.“ 6 Im März 1940 ging Camus nach Frankreich. Er begann in Paris bei der Zeitung Paris-Soir und folgte ihrem Sitz auf Umwegen nach Lyon. Als er entlassen wurde, ging er im Januar 1941 nach Oran. Da sich in Nordafrika ein Widerstandsnetz gegen Hitler auszubreiten begann, schloß sich Camus diesem an. Zunächst begann es mit Hilfe für Juden, doch später entwickelte es sich zu einer aktiven Résistance. In jener Zeit entstanden der Roman Der Fremde, das Drama Caligula und der Essay Der Mythos von Sisyphos. Im Februar ging 5 Albert Camus: Der Fall. Hamburg 1957, S. 84. 6 Le Soir républicain vom 13. 12. 1939. Camus und das Absolute 69 er auf den Rat seines Arztes in das französische Bergland, um Algier und der Tuberkulose zu entgehen und blieb schließlich in Frankreich. Im Kontakt mit der französischen Résistance-Gruppe „Combat“ erhielt er 1943 falsche Papiere und sollte zunächst die Redaktion der intellektuellen Revue noir übernehmen. Dann aber wurde er Chefredakteur der Untergrundzeitung Combat, deren eigentlicher Chef De Gaulle war. Daher hat sie im „C“ ihres Namens ein lothringisches Kreuz. Die Zeitung ist das Organ von drei Widerstandsbewegungen: Combat, Libération und Franc-Tireur, die sich vereinigt hatten. Camus hatte unter den neuen Bedingungen seinen Pazifismus abgelegt. Die Gaullisten aber waren im Widerstand tollkühner, abenteuerlustiger und weniger diszipliniert als die Kommunisten. Diese hatten in einem Flugblatt, das sie verteilten, den Anspruch von Camus, Sartre und anderen zur Résistance zu gehören, abgelehnt, wobei sie deren Namen nannten. Das war überaus gefährlich, da solche Flugblätter leicht der Gestapo in die Hände fallen konnten. Aber Camus wollte seine Zeitung um jeden Preis weitermachen und blieb dabei, obwohl er sein Leben riskierte. So hat er auch in politischer Aktion seinen Beitrag gegen das Chaos geleistet. Der wohl berühmteste Roman von Camus, der aus dieser Zeit heraus entstand, ist Die Pest 7 . Der Roman erschien nach fünfjähriger Arbeit 1947. Die Fabel des Romangeschehens spielt in der algerischen Stadt Oran, was nur darum kein Zufall ist, weil auch Camus selbst dort eine Zeit während des Krieges gelebt hatte. Wichtig ist aber, daß der Roman in jeder Stadt (oder in jedem Land) spielen könnte. Daß Camus keine künstlich konstruierte, nicht wirkliche Stadt zum Schauplatz gewählt hat, sondern eine konkrete und reale, gibt dem Ganzen mehr Leben und um so mehr Glaubwürdigkeit, als das Modell des totalen Terrors, für den die Pest in der Stadt symbolisch steht und aus dem Camus seine Einsichten in jene Pesterkrankung gewonnen hat, der totale Terror Hitlers gewesen ist, in dessen Herrschaftsgebiet nach 1940 auch Frankreich und seine Kolonien lagen. Es geht nämlich nicht im wörtlichen Sinn um die körperliche Krankheit der Pest, sondern um eine geistige Erkrankung durch das Chaos des totalitären Terrors und Krieges. Die dichterische Transformation, die ansteckende Krankheit zu einem Symbol für die gleichermaßen schier unentrinnbaren Folgen des massenwahnartigen Siegeszuges einer Diktatur zu machen, ist ein grandioser Wurf. Es ist ja so, daß totalitäre Systeme nicht nur bösartige Menschen anziehen, sondern oft auch arglose Menschen guten Willens in ihren Bann schlagen, wobei die „Ansteckung“ sogar durch Zwang erfolgen kann. Der wichtigste Kämpfer gegen den in diesem Roman geschilderten Pestausbruch in Oran ist Dr. Bernard Rieux, der einen Autor und Humanisten symbolisiert, welcher das Chaos der totalitären Epidemie um einer positiven 7 Albert Camus: La Peste. Paris 1947. Deutsch: Innsbruck 1948. Camus und das Absolute 70 Ordnung der Gesundheit und des Lebens willen bekämpft. Der ganze Roman ist als eine Art Chronik, stilistisch trotz der Berichtdarstellung im Grunde monologisch geschrieben, wobei der monologisierende Chronist natürlich Dr. Rieux ist, der sich allerdings erst am Schluß zu erkennen gibt. Die Epidemie mit ihrer Macht unterschiedslos gegen Gute wie Böse loszuschlagen, bietet auch ein hervorragendes Paradigma für die Existenz und Macht des Absurden. Es ist der Roman Die Pest, in dem Camus den Begriff „Revolte“ eingeführt hat, die bei ihm nicht als ein Synonym für „Revolution“, sondern geradezu für das Gegenteil von dieser steht. Die große, alles umfassende und umstürzende Revolution gibt sich als etwas Einmaliges, Großes, das nach seiner Verwirklichung nicht nur oft, sondern sogar in der Regel zu Terror und Diktatur führt. Die Revolte bei Camus ist eher evolutionär und Revolte nur darum, weil sie für eine beständige, ja permanente Grundhaltung steht, deren Funktion in der andauernden Ablehnung und unermüdlichen Überwindungsversuchen gegen die Sinnlosigkeit der Welt liegt. Die Revolution hat keine Probleme Menschen zu morden, ja sie mag solches Morden sogar fordern. Die Revolte bei Camus ist nicht zu trennen von einem zweiten Schlüsselbegriff bei ihm, jenem der „Solidarität“, der auf das genaue Gegenteil von Morden abzielt, nämlich auf die Identifikationsfähigkeit mit dem Nebenmenschen, das Tat twam asi. Der Einsicht von Camus in das Faktum des gegebenen Absurden entspricht die Ablehnung von Geschichte und Mord, entspricht die Ablehnung totaler und radikaler Revolution, der er seine „Revolte“ entgegensetzt. Dieser Haltung entspricht auch schließlich sein Bekenntnis zu Mitte und Maß, als deren tiefere Grundlage er ein „mediterranes Denken“ sieht, das in seiner Dichtung in positiven Bildern von Sonne, Meer, Glück, Mittag und Sand zum Ausdruck gebracht wird. Wobei nach seiner Deutung des Absurden aber auch Sisyphos als glücklicher Mensch gesehen wird, ebenso wie sich der „Buß-Richter“ Jean- Baptiste Clamence als glücklicher Mensch bezeichnet, obgleich er vom Trauma eines Schuldgefühls gehetzt in der „Vorhölle“ der nebligen Dünenlandschaft der holländischen Küste, in einer zweifelhaften Matrosenkneipe gestrandet ist. Im Roman Die Pest ist Dr. Rieux einer der ersten, der eine Ratte findet, welche die Pest überträgt. Aus ein paar undurchsichtigen Fällen einer unbekannten Erkrankung entsteht wie durch eine Explosion eine Epidemie, welche die ganze Stadt von außen abschottet und zu Tausenden von Opfern führt. Manche der Charaktere des Romans erkranken, manche bleiben verschont. Rieux, Rambert, Cottard erkranken nicht, Tarrou, Grand, Panoloux erkranken. Der kleine Beamte Grand stellt insofern einen Grenzfall dar, als er die Krankheit überlebt. Zunächst nimmt er den Kampf gegen die Pest lediglich auf, weil er seine Frau liebt und eben diese Liebe erhalten möchte. Im Allgemeinen will er sich aber von den Menschen absondern, die für eine Idee sterben. Schließlich aber wandelt er sich doch von einem Egoisten zu einem Altruisten. Damit schließt er sich dem aktiven Hilfstrupp gegen die Pest an und dadurch wird er geheilt. Camus und das Absolute 71 Ein eher konträrer Fall dazu ist der fundamentalistische Jesuitenpater Panoloux, der zwar gegen die Pest auftritt, der sie aber als eine verdiente Strafe Gottes betrachtet und sie dadurch nicht wirklich negiert, sondern zumindest indirekt gut heißt. Weshalb er auch daran stirbt. Paradoxer Weise spielen seine Predigten eine wichtige Rolle der Hilfe für einen Großteil der Menschen, die sich innerlich völlig und ganz gegen die Krankheit stellen. Die Kritik hat ein gewisses Ordnungsprinzip hinter der Darstellung der Krankheit und der Möglichkeit ihrer Überwindung entdeckt. Demnach teilt Camus seine Charaktere in vier Gruppen ein: die erste und niederste Gruppe repräsentiert völlig unwissende Personen. Die nächst höhere, zweite Gruppe umfaßt Personen, die ein Wissen um Absurdität und Revolte haben, aber nicht zur Haltung der Solidarität gegenüber ihren Mitmenschen gefunden haben. Zur dritten Gruppe gehören jene, welche die Voraussetzung der Solidarität wirklich erreicht und verwirklicht haben und die vierte und letzte Gruppe ist völlig universaler Liebe fähig. Der einzige im Roman, der ihr zuzugehören scheint, ist Dr. Rieux. Die Menschen der ersten beiden Gruppen erkranken und sterben, die Menschen der letzten beiden Gruppen überleben. Dr. Rieux erreicht die letzte hohe Stufe nicht zuletzt, weil er die Aufzeichnungen zu der Chronik macht. Er weiß, daß der Pestbazillus niemals völlig aussterben kann und verschwindet und will davor warnen. Er hat sich damit nicht nur durch direkte aktive Hilfe um das allgemeine Geschick der Menschen gesorgt, sondern darüber hinaus durch das Medium dichterischer Darstellung in seiner „Chronik“ Besonderes geleistet. Je länger die entsetzliche Seuche andauert, um so mehr droht die Verzweiflung darüber zur Gewohnheit zu werden, was durchaus natürlich ist, da es keinerlei Hoffnung auf eine Besserung gibt und kein Ende abzusehen ist. Im Roman hat der Autor daraus den Schluß gezogen: „Die Gewohnheit der Verzweiflung ist schlimmer als die Verzweiflung selbst.“ 8 Denn das Ergebnis ist einzig ein lethargisches Dahinvegetieren, das alles menschliche Fühlen und Denken verkümmern läßt. Camus hat dies auch in der Stimmung und Atmosphäre seiner Darstellung der Seuche hervorragend zum Ausdruck gebracht. Das aber hat einen Kritiker veranlaßt zu urteilen: Er kann Spannung aufbauen, aber nicht halten. Etliche der Charaktere, welche die Pest bekämpfen, tragen einzelne Züge von Camus selbst, doch die Figur des Dr. Rieux vereinigt eine ganze Reihe solcher Züge auf sich, so daß sie sich fast einer autobiographischen Figur annähert: die starke Mutterbindung, die lange Entfernung von seiner Frau, die in Frankreich weilte, als Camus in Oran war, die Kabylei und das politische Engagement. Der wichtigste Zug ist aber vor allem der, daß Dr. Rieux als Arzt grundsätzlich das notwendige Wissen besaß, um die körperliche Pestkrankheit zu bekämp- 8 Albert Camus: Die Pest. Innsbruck 1948, S. 202. Camus und das Absolute 72 fen, so wie Camus als Autor grundsätzlich die Fähigkeit besaß, die geistige Krankheit der totalitären Pest zu bekämpfen, was er ja auch als Redakteur der Widerstandszeitschrift getan hat. Aber auch einzelne Aussprüche von Dr. Rieux könnten durchaus direkt von Camus stammen wie etwa: „Ich habe, glaube ich, nicht das Gefühl für Heroismus und Heiligkeit. Was mich beschäftigt ist nur, ein Mensch zu sein.“ 9 Oder aber: „Es handelt sich nicht um Heldentum in alledem. Es handelt sich um Anständigkeit.“ 10 Nachdem die Pest einmal ausgebrochen ist, liegen die Fronten klar zu Tage: Es gibt Kranke und es gibt Kämpfer gegen die Krankheit. Die Pest und ihr Bazillus sind eine Gegebenheit der menschlichen Existenz wie das „Ärgernis“ der heiligen Schrift, das Negative, das Böse schlechthin. An das letzte Geheimnis, wie und warum, wo und zu welcher Zeit die Pest ausbricht, rührt Camus nicht. Er weist aber darauf hin. Die Pest im Roman verschwindet auch, wie sie gekommen war, ohne daß die Ärzte es auf ihre Aktivität allein zurückführen. Die von der Pest befreiten Menschen verbrüdern sich in einem einzigen Freudenfest. Das normale Leben setzt wieder ein. Für die Menge ist damit alles abgeschlossen, zu Ende, keinen weiteren Gedanken mehr wert. Dr. Rieux aber, dessen Helfer alle der Pest zum Opfer gefallen waren, ist zumindest in einer sehr wichtigen Hinsicht ein Wissender. Er weiß, daß der Pestbazillus versteckt weiterexistiert, daß einmal wieder der Tag kommen kann, „wo zum Unglück und zur Belehrung der Menschen die Pest wieder die Ratten aufweckt und sie in eine glückliche Stadt zum Sterben schickt.“ 11 Der spätere Camus hat seine Technik des Schreibens und auch seine Kraft des dichterischen Ausdrucks noch gesteigert, auch wenn er seine Grundhaltung des Humanismus nicht geändert hat. Was sich aber ebenso geändert hatte, war der Umstand, daß die Problematik des Lebens sehr viel komplexer geworden war. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs waren die Fronten zwischen Pestkranken und Ratten einerseits und den Pestbekämpfern andererseits einfach und klar gewesen. Die freiwilligen wie unfreiwilligen Helfer Hitlers, ob Deutsche oder Franzosen, die das Vichy-Regime unterstützten, standen auf Seiten der Pest. Die Franzosen und natürlich auch die Deutschen, die dagegen arbeiteten, waren totale Gegner der Scheinordnung dieses entsetzlichen Chaos. In den späteren Jahren, im praktischen Alltagsleben sowohl wie vor allem im Algerienkrieg der Franzosen lagen die Dinge viel komplizierter. Aus diesem Grund wurde hier vom späteren Camus nicht nur ein zweiter Roman - sein letzter - behandelt, sondern auch eine Meisternovelle, um dieser Problematik gerecht zu werden und auch den Gipfelpunkt seiner Sprachkunst freizulegen. Es geht um die beiden Spätwerke, den Roman Der Fall, mit seinen vielfach selbst- 9 Die Pest, op. cit., S. 280. 10 Die Pest, op. cit., S. 183. 11 Die Pest, op. cit., S. 337. Camus und das Absolute 73 kritischen und negativen autobiographischen Zügen und um die Novelle „Der Gast“ aus dem Erzählband Das Exil und das Reich, deren Held Daru ein positives Spiegelbild des Autors liefert. Ursprünglich hätte auch der Roman Der Fall eine der Novellen des Bandes Das Exil und das Reich sein sollen. Es scheint kein Zufall zu sein, daß Camus in einer mit Pierre Cardinal geplanten Fernsehverfilmung des Romans selbst die Rolle des Jean-Baptiste Clamence hatte spielen wollen, als dessen einziger, großartiger Monolog der ganze Roman Der Fall angelegt ist. Der Camus-Biograph Olivier Todd hat aus guten Gründen Clamence „ein vielfach gebrochenes Bild“ von Camus selbst genannt, „verfolgt von Schuldgefühlen und Lüge, Falschheit oder Zynismus“, jedoch unbewußt „dem eigenen Charme verfallend.“ 12 Gebrochen ist dieses Selbstbildnis in mehrfacher Hinsicht, denn einerseits trägt dieser Jean-Baptiste Clamence auch Züge Sartres wie auch andererseits Züge von Camus. Nach einer inneren Wende tritt er jedoch in einer Weise negativ auf, wie dies auf Camus nie zugetroffen hätte: So wenn er etwa berichtet, er sei in die Innung der Zuhälter aufgenommen worden oder er hätte Blinden ins Gesicht gespuckt. Dies dient der Funktion, die Heuchelei und den Selbstbetrug seiner eigenen positiven Darstellung vor dieser Wende noch krasser und damit noch deutlicher herauszuarbeiten. Doch obwohl es ein Roman ist, so hat doch vieles seinen Ursprung in der Realwirklichkeit und sogar eine Bar mit dem Namen „Mexico City“ existiert wie im Roman in Amsterdam und wurde von einem muskulösen Ex-Matrosen geführt, der ebenfalls wie im Roman nur holländisch sprach. Vor allem aber der „Fall“ selbst oder genauer der Sprung einer jungen Frau von einer Seine-Brücke in den Fluß hat seinen autobiographischen Hintergrund in einem der beiden Selbstmordversuche von Camus’ Gattin Francine, bei dem sie sich aus einem Fenster stürzte. Der Roman Der Fall soll in einer Art künstlichem Fieber entstanden sein und war nicht von vornherein als Zyklus vorgesehen wie Der Fremde für den Zyklus des Absurden oder Die Pest für den Zyklus der Revolte, jeder Roman verbunden mit einem entsprechenden Essayband. Im Fall überblickt Camus sein Leben und gibt ihm scheinbar unwillkürlich nachträglich einen Zusammenhang. Nie war er so inspiriert, nie hat er sich so mitreißen lassen von einem Stil und einem Ton, der weit entfernt ist von der Erzählhaltung des Fremden oder der Pest. „In triumphierenden Höhepunkten, die sich mit einer souveränen Gelassenheit die Waage halten, brennt der Nietzsche- und Chamfort-Liebhaber Camus ein Feuerwerk von Aphorismen, Maximen, trockenen kleinen Anmerkungen, verhaltenen Emotionen und metaphysischen Fragen ab.“ 13 12 Olivier Todd: Albert Camus. Ein Leben. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 692. 13 Olivier Todd, op. cit., S. 700 f. Camus und das Absolute 74 Olivier Todd hat über mehrere Seiten eine ganze Reihe von Fakten aufgelistet, welche die autobiographischen Züge des Helden von Camus’ Der Fall bezeugen. Worum es Camus aber eigentlich ging, war nicht nur im Sinne von Ibsens Forderung an die Dichtung, Gerichtstag zu halten über das eigene Ich, sondern in seiner Absicht, Wegweiser aus dem Chaos der Gegenwart heraus zu werden, ging er wesentlich weiter. Denn das Ich von Jean-Baptiste ist nur Mittel zum Zweck viel weitergehende Probleme zu klären. Denn diese Figur steht nämlich für den modernen Menschen schlechthin. Und obwohl Camus gleich am Beginn des Romans erklärt, mit einer einzigen „bündigen Definition“ den „Gegenstand“ des modernen Menschen zu „erschöpfen“ - er hurt und liest Zeitungen - so gibt es durch den ganzen Roman hindurch immer wieder neue Hinweise auf weitere Züge der Eigenart des „modernen Menschen“. Im Klappentext zur ersten Ausgabe des Romans von 1956 hat Camus erklärt, daß dieser Mensch ein „modernes Herz“ besäße, was bedeutet, „daß er es nicht ertragen kann, gerichtet zu werden.“ Wohl aber verträgt er es offenbar sehr gut, Gericht über sich selbst zu halten und sich zu verurteilen. Aber da es ja nicht nur um ihn selbst geht, so bezeichnet sich sein Jean-Baptiste Clamence als „Bußrichter“. Er erklärt dies seinem anonymen Zuhörer so, daß es unmöglich wäre, die anderen zu verurteilen, ohne sich selbst ebenso gleich mitzurichten. Ja man muß sich selbst mit Anklagen überhäufen, um das Recht zu erlangen, die anderen zu richten. Da aber jeder Richter eines Tages zum Büßer wird, muß man umgekehrt zunächst einfach Büßer sein, um Richter werden zu können. Er selbst geht praktisch so vor, daß er seine Selbstbekenntnisse auf den jeweiligen Zuhörer abstimmt und gemeinsame Züge herausgreift, „mit einem Wort den Mann von heute“, den modernen Menschen, „wie er in ihm selbst und anderen sein Unwesen treibt“. Mit diesen Zutaten fabriziert er ein allgemein gültiges Portrait. Wenn das Bild fertig ist, zeigt er es voll schmerzlicher Betrübnis vor: „So bin ich leider.“ Damit ist zugleich die Anklagerede gegen ihn selbst zu Ende und damit verwandelt sich das Portrait zum Spiegel, den Jean-Baptiste Clamence seinem jeweiligen Zuhörer so vorhält wie Albert Camus dem jeweiligen Leser des Romans. Nachdem Jean-Baptiste Clamence seinen Zuhörer daran erinnert hat, daß „wir alle“ auf „derselben Galeere rudern“, bekennt er ein, daß er ihn dazu provoziert, sich selbst zu richten, was wieder ihn selbst entlastet. Was ihn aber dazu getrieben hat, diesen Beruf eines Bußrichters zu ergreifen, das ist das Trauma einer Schuld, die für ihn zur Hybris geworden ist. Denn zunächst war er durch meisterhafte Heuchelei überaus zufrieden und glücklich mit sich selbst, den Mann, der zu Recht als guter Mensch gelten konnte, da er immer wieder anderen half, wenngleich nur oberflächlich und äußerlich, da er in Wahrheit nur einen Menschen wirklich liebte und das war er selbst. Hier lag die Wurzel seines inneren Chaos. Das Schuldtrauma, das ihn aus seiner verlogenen Selbstzufriedenheit gerissen hatte, war eben „der Fall“, den er eines Abends Camus und das Absolute 75 nach dem Überqueren der Seine-Brücke Pont Royal hinter sich gehört hatte, als eine junge Frau sich in den Fluß stürzte. Genauer noch: als er den Schrei gehört hatte, den sie nach dem Aufschlagen auf das Wasser ausstieß und der ihn nun verfolgte. Denn er hatte es versäumt, sofort rasch umzukehren und einen Rettungsversuch zu unternehmen. Es ist bezeichnend, daß unter den möglichen Titeln, die Camus für den Roman in Betracht gezogen hatte, auch „Der Schrei“ gewesen war. Es war dieses Erlebnis, das den Helden des Romans zu dem „Bußrichter“ gemacht hatte, der er jetzt war. Camus hatte ihm den Namen Jean-Baptiste Clamence gegeben. Was diesen Namen betrifft, so hatte Camus zunächst die Pariser Kritiker absichtlich in die Irre geführt, bis er einer belgischen Studentin auf ihre Frage hin eingestand, daß der Name Johannes dem Täufer aus der Bibel entlehnt ist. Clamence bedeutet demnach „der Schreiende“ 14 und ist eine Anspielung auf Johannes I, 23 (beziehungsweise Jesaja 40, 3), wo von einem Rufer in der Wüste die Rede ist. Während der Camus-Biograph Olivier Todd erstaunt ist, mit welcher „Geläufigkeit“ der „Augustinus-Schüler und Pascal-Bewunderer“ von „Sünde und Gnade“ spricht 15 , hat ein anderer Kritiker die Erklärung dafür bereit: Camus mußte seine Ideen in christlichen Begriffen ausdrücken, weil im späten 20.- Jahrhundert keine andere geläufige Weltanschauung zur Verfügung stand. Dieser Kritiker verglich das Problem mit der Lage, in welcher Robinson Crusoe gewesen ist, der mit den Werkzeugen auskommen mußte, die er im Wrack des Schiffes gefunden hatte, ohne daß diese Werkzeuge seine eigene Wahl gewesen wären. 16 Der „Rufer in der Wüste“ Jean-Baptiste Clamence ist ein Bewunderer von Christus selbst, verachtet aber die meisten Christen. Er findet, daß es gewiß Leute gibt, die Christus wirklich lieben, „sogar“ unter den Christen, aber daß es sehr wenige seien. Wobei aber keineswegs die Christen allein schuld sind, denn die anderen sind genau so dabei. Alle hat sie der Wahnsinn erfaßt und die Verfolgung. Dieser hohle Prophet für klägliche Zeiten, dieser Elias ohne Messias, von Fieber und Alkohol geschüttelt, predigt die schreckliche Wahrheit, daß es die höchste der menschlichen Martern wäre, ohne Gesetz gerichtet zu werden und daß wir in eben dieser Marter auch leben. Das ist seine Beschreibung des allgemeinen Chaos. Die Herbstlandschaft der Insel Marken in der Zuider See, in die er seinen Zuhörer mitnimmt, diese negative Landschaft zwischen dem „Aschenhaufen“ einer Düne und dem grauen Deich, den fahlen Strand zu Füßen und dem Meer 14 Olivier Todd, op. cit., S. 699 f. 15 Olivier Todd, op. cit., S. 699. 16 Vgl. Philip Thody: Albert Camus. Houndsville und London 1989, S. 90. Camus und das Absolute 76 in der Farbe einer dünnen Lauge sowie den Himmel, in dem sich das bleiche Wasser spiegelt, nennt er eine gallertartige Hölle und vergleicht sie mit einem der Höllenkreise von Dantes Inferno. Da er überzeugt ist, daß wir weder die Kraft zum Bösen noch die zum Guten haben, weist er uns den Platz in Dantes Vorhölle zu, in dem sich die Engel aufhalten, die im Streit zwischen Gott und Satan neutral geblieben sind. Durch die Hybris seiner Schuld beim Sprung der jungen Frau von der Brücke und durch das daraus entsprungene Trauma war er aufgerufen worden und nun verweist er also auf Dante. Wenn darum Camus so geläufig von Sünde und Gnade spricht, dann meint er nicht das bürokratische Dogma eines Fundamentalismus, sondern das, was er bei Pascal als das Absurde formuliert gefunden hat, worauf er ebenso bereits im Mythos von Sisyphos verwiesen hat, wie auf die „kühnen Gnostiker“, von denen einer der gewiß nicht unbedeutendsten ja auch der große Dante gewesen ist als Vertreter der Templer Gnosis. Schon in seiner Jugend hatte Camus von seinem Lehrer Grenier von indischen Religionen gehört und schon aus seiner Jugend gibt es ein Zitat von ihm wie „Kehre dich nicht so heftig von allem ab, was nach Göttlichem aussieht.“ 17 Sein Jean-Baptiste Clamence aber, in seiner Sensibilität und feinen Bildung hat das wirklich Heilige nicht aus abstrakten Traktaten, sondern aus dem Wunder der Malkunst des Altarbildes „Agnus Dei“ von van Eyck, von dem ausgerechnet die Tafel „Die unbestechlichen Richter“ von einem Gast der Bar „Mexico City“ gestohlen worden war und nun von Jean-Baptiste Clamence in seinem Zimmer aufbewahrt wird. Dieser Rufer in der Wüste macht sich gleicherweise über die Frömmler lustig wie über jene Atheisten, die Gott nur leugnen, weil es so Mode ist, die Gott aber preisen würden, könnten sie ihre Bücher nur anonym veröffentlichen. Sie haben ihre Moral eben auf Gottlosigkeit eingefärbt. Wobei er selbst alles andere als Christ ist, obwohl er für Christus wahre Freundschaft empfindet. Ja nach ihm hat das Wort Gott überhaupt seinen Sinn verloren. Zudem hat er herausgefunden, daß die Freiheit keine Belohnung ist und kein Geschenk, sondern eine Fron und ein sehr einsamer und erschöpfender Langlauf. Er hat den Hang des modernen Menschen zur Furcht vor der Freiheit durchschaut, der den neuen „Meister“ verehrt, welcher die Gesetze des Himmels und Gott ersetzt und er schlägt als Gebetsanfang vor: „Unser Vater, der Du vorläufig auf Erden bist … Unsere herzerquickend strengen Führer und Befehlshaber, grausame und vielgeliebte Gebieter …“ Das erläutert ebenso bündig wie klar seine Stellung zum modernen Totalitarismus. Schon am Beginn des Romans verweist Jean-Baptiste Clamence auf Dante, ohne dessen Namen zu nennen, indem er die konzentrischen Kanäle von 17 Olivier Todd, op. cit., S. 70. Camus und das Absolute 77 Amsterdam mit dessen Höllenkreisen vergleicht. Freilich geht es hier um eine moderne, bürgerliche, von Albträumen bevölkerte Hölle, in deren letzten und untersten Kreis der finstersten Verbrechen er gerade mit seinem Zuhörer steht, der Dante auch kennt und Bescheid weiß, so daß es nicht notwendig ist, darauf hinzuweisen, daß es hier um die Verräter an Verwandten, Vaterland, Freunden und Wohltätigen geht. Vom Praktischen her das Wichtigste, was Camus dem Chaos dieses Verfalls und Untergangs entgegenzusetzen hat, ist der Individualismus des einzelnen, der sich seiner Verantwortung bewußt ist und nach ihr lebt. „Immer mehr wird der Individualismus die einzig mögliche Reaktion der Welt der Menschen gegenüber“, hat er in sein Tagebuch geschrieben. 18 In diesem Zusammenhang heißt es auch einmal im Mythos von Sisyphos, in dem auch die Landschaft Plotins mit seiner Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies aufklingt, „Nur deshalb mache ich vom Individuum so viel Aufhebens, weil es mir lächerlich und erniedrigt erscheint.“ 19 Immer ist es ihm wahrhaft um die Würde des Einzelmenschen gegangen. Das kommt auch in aller Deutlichkeit in der Charakterschilderung einer Figur heraus, in der er sich direkter, deutlicher und positiver gespiegelt hat als in seinem Jean-Baptiste Clamence. Es ist der Charakter des Lehrers Daru in der Novelle „Der Gast“. Es ist kein Zufall, daß ein so einfühlsamer Übersetzer wie Justin O’Brien, der den ganzen Novellenband L’Exile et le royaume ins Englische übertragen hat, als Titel des ganzen Bandes von sechs Novellen den Titel gerade dieser einen gewählt hat: The Guest. Sie ragt in eminenter Weise heraus. Freilich hat er damit gleichzeitig auch von dem von Camus äußerst sorgfältig überlegten Titel des Gesamtbandes Das Exil und das Reich abgelenkt, die Schlüsselbegriffe von Camus darstellten ebenso wie das Absurde, das Absolute oder die Revolte. Schon einer der ersten Kritiker des Bandes hat darauf hingewiesen, daß das Thema sämtlicher Erzählungen des Bandes in der Beziehung von das „Exil“ und das „Reich“ enthalten sind. 20 Eine der ersten, wenn nicht überhaupt die erste Kritikerin, die dem Sinn dieses tieferen Zusammenhangs nachgegangen ist, daß und auf welche Weise jeder der Protagonisten der einzelnen Erzählungen einen bestimmten Ort auf dem Weg vom „Exil“ zum „Reich“ hin bezeichnet, war Carina Gadourek. 21 Sie unterstreicht, daß es immer darum geht, daß das Dilemma, ins Exil gedrängt worden zu sein, durch den Verlust der Ganzheit des 18 Albert Camus: Tagebücher 1935-1951. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 159. 19 Zitat aus zweiter Hand nach Olivier Todd, op. cit., S. 319. 20 Gaëton Picon im Mercure de France, abgedruckt in: Germaine Brée (Hg.): Camus. A Collection of Critical Essays. Englewood Cliffs, New Jersey 1962, S.152-156. 21 Carina Gadourek: Les innocents et les coupables. Den Haag 1963, S. 202-203. Camus und das Absolute 78 Selbst zustandekommt, deren völlige Wiederherstellung das Erreichen des inneren Zustandes bedeuten würde, im Reich angelangt zu sein. Zweifellos ging es Camus dabei nicht um die eschatologische Hoffnung auf die Errichtung eines wirklichen, äußeren Reiches, sondern um eine Verinnerlichung dieser Idee, wie Robert Musil sie in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften gestaltet hat. Daß jedoch Camus zusätzlich zum Reich ausdrücklich vom „Exil“ spricht, zeigt, daß sich das Ganze auf den Ausdruck der jüdischen Schechina bezieht, der Seele, die sich im Exil befindet. Nach der Kaballah des Isaak Luria waren bei der Schöpfung der Welt einzelne solcher göttlicher Seelenfunken in die Welt gefallen, wobei ihnen als der Schechina und das heißt als dem weiblichen Prinzip im Bild der Braut die Rolle der metaphorischen „Gemeinschaft“ mit dem für den Menschen unfaßbaren Gott zufiel. Das Reich überdeckt sich demnach mit dem für Camus so wichtigen Begriff des Absoluten. Denn der Begriff des „Reiches“ verweist auf den Sephirotbaum der lurianischen Kaballah, aus deren letzter Sephira die untere Welt hervorging, im Bild des Menschen Adam Kadmon, der den Beginn des Aufstiegs zu einer der höchsten, wenn nicht der höchster aller Sephirot überhaupt darstellt, die den Namen Malchut trägt, der das Reich oder Königreich oder die Herrlichkeit symbolisiert und in der Metaphorik von Camus die wiederhergestellte Ganzheit der ursprünglich abgefallenen Seelenfunken mit dem Göttlichen deutet. Dieser Begriff des „Reiches“ ist keineswegs auf die jüdische Tradition beschränkt, sondern hat seine geographisch wie zeitlich weiteste Verbreitung dadurch erhalten, daß er durch das Evangelium Matthäus, Kap. 6, 13, für das Christentum adaptiert worden ist. Er stellt heute den krönenden Abschlußsatz im Gebet des Vaterunser dar: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“ Eine Kritikerin hat aus diesem Zusammenhang mit Recht geschlossen, daß die enigmatische Art der Metaphorik des „Aphorismus ‚Das Exil und das Reich‘“ auf den hermeutischen Charakter des gesamten Werks - vielleicht sollte man sagen des späten Werks - von Camus verweist. 22 Die Novelle spielt in Algerien. Wie sehr ihm Algerien am Herzen lag, das zeigen nicht nur seine Tagebucheintragungen, das zeigt nicht nur die Darstellung der Geistigkeit des Ortes in der Pest, das wurde nicht nur deutlich durch das Beben seiner Stimme bei der Nobelpreisrede, als er begann von Algerien zu sprechen, was ihm die Begeisterung König Gustavs VI. Adolf eintrug und wurde nicht nur klar, als De Gaulle im März 1958 ihn zu einem Gespräch über Algerien eingeladen hatte, ehe er wieder an die Macht kam, sondern das zeigt in weitgehend vollständigem Zusammenhang der Band Actuelles III. Chroniques algérienne. 23 22 Rosemarie Jones: „Camus and the Aphorism ‚L’Exile et le Royaume‘“. In: The Modern Language Review, Bd. 78, Nr. 2 (April 1983), S. 308-318. 23 Albert Camus: Actuelles III. Chroniques algériennes. Paris 1958. Camus und das Absolute 79 Dieser Band enthält seine Äußerungen zum Algerienproblem aus zwanzig Jahren, seine Artikel aus den drei Zeitungen Alger républicain, Combat und L’Express, sowie seinen Aufruf für den Bürgerfrieden im Land. Im Vorwort des Bandes hat er erklärt, daß es besonders wichtig sei, die Tatsachen der Verhältnisse zu berücksichtigen, damit es Frankreich gelingen möge, im Sinn seiner alten Freiheitswerte allen Gemeinschaften gleicherweise gerecht zu werden. Er beschreibt das Werk der „Entgiftung“, um die es ihm ging und er rief zur „Vernunft“ auf. Der Band erschien 1958, ein Jahr nach dem Novellenband L’Exile et le royaume und gibt das historische Hintergrundbild dazu. Freilich waren die Fronten schon zu weit polarisiert und waren die Extremisten auf Seiten der unbelehrbaren und radikalen Kolonisatoren einerseits und den Terroristen der Unabhängigkeit andererseits zu verblendet und zu stark geworden, als daß seine Hoffnung noch hätte Erfüllung finden können. All das ist in verdichteter und verdeutlichter Form im dichterischen Brennspiegel der kleinen Novelle enthalten. Der Held der Novelle ist ein Algerienfranzose, wie Camus, und Volksschullehrer. Camus selbst hat auch einen algerischen Volksschullehrer gekannt, den er gemeinsam mit André und Paul Benichou in der Closerie des Lilas in Paris kennengelernt hatte, und der später, bei einem Spaziergang durch einen der Gärten des Luxembourg ein arabisches Sprichwort zitiert hatte, das auf den Helden der Novelle durchaus passen würde: „Das Beste liegt immer in der Mitte“, hatte er gesagt. Aber die Novelle gibt weit mehr als eine abstrakte Befürwortung der Mäßigung, denn ihr Held Daru trägt das Gesicht von Camus und handelt aus seinem Geist heraus. Er trägt aber auch Züge von Louis Germain und Guy Monnerot. Der Lehrer Daru, der in seinem einsamen Schulhaus in der algerischen Wüste entsprechend dem zentralen französischen Unterrichtsplan gerade ein Tafelbild gezeichnet hat, das zeigt, wie die vier Flüsse Frankreichs ihren Mündungen zustreben, fühlt sich als Algerienfranzose dennoch überall als Eindringling mit Ausnahme dieses abgelegenen Hauses in der eisigen Einsamkeit des Winters. Da taucht der Gendarm Balducci auf, der einen gefesselten arabischen Mörder als Gefangenen mit sich führt. Er gibt Daru den Auftrag, den Gefangenen über Nacht als Gast bei sich zu behalten und ihn am nächsten Tag in den nahen Ort zur Polizeistation hinunter zu führen. Daru weigert sich, den Auftrag auszuführen, obwohl er weiß, daß dies einen Gesetzesbruch darstellt und zu seiner Bestrafung führen wird. Nachdem sich der Gendarm verabschiedet hat, nimmt Daru dem primitiv aussehenden Gefangenen die Fesseln ab. Daru legt sich auf sein Bett und denkt nach. In dieser Wüste zählte keiner einen Deut, er nicht und sein Gast nicht. „Und doch“, heißt es, „hätte außerhalb dieser Wüste, dessen war Daru gewiß, der eine so wenig wie der andere zu leben vermocht.“ Er schaute den Araber an und versuchte, sich dieses Gesicht in rasendem Zorn vorzustellen. Es wollte ihm nicht gelingen. Später fragt er ihn: „Warum hast Camus und das Absolute 80 du ihn getötet? “ Der Gefangene wandte die Augen ab und erklärt, der andere wäre davon gelaufen und er hätte ihm nachgesetzt. Sodann aber schweigt der Gefangene und Daru kann sein Schweigen nicht brechen. Erst später sagt der Araber zu ihm: „Komm mit uns.“ Und wieder später, Daru konnte noch immer nicht schlafen, beobachtete er, wie sich der Araber lautlos aus dem Haus schlich und zum Schuppen ging. Da schlief Daru endlich ein und vermeinte in der Tiefe seines Schlafs schleichende Schritte um das Schulhaus zu hören. Er redete sich ein, daß er träume, und er schlief. Als er erwachte, lag der Araber zusammengerollt unter den Decken in tiefem Schlaf. Daru hatte gehofft, daß er ohne Fesseln in der Nacht entfliehen werde. Aber nichts war geschehen. Da machte er sich am nächsten Morgen mit dem Araber auf den Weg. Nachdem er ihm Datteln, Zwieback und Zucker und auch Geld gegeben hatte, ließ er ihn an einer Gabelung des Weges frei und erklärt ihm, daß er beim Einschlagen des einen Weges zu Nomaden kommen würde, die ihn aufnehmen werden, während der andere Weg in den Ort und zur Polizeistation, und das heißt zum Gefängnis und der wahrscheinlichen Hinrichtung, führen würde. Sodann kehrt Daru um, geht aber nicht zu weit, um beobachten zu können, welche Wahl sein „Gast“ treffen würde. Zu seiner Überraschung wählt dieser den Weg zur Polizeistation. Als Daru wieder zurück zu seinem Schulhaus kommt, findet er im Klassenzimmer zwischen den Windungen der Ströme Frankreichs von ungelenker Hand an die Tafel geschrieben die Worte: „Du hast unseren Bruder ausgeliefert. Das wirst Du büßen.“ Aber die Drohung ist nicht das letzte Wort und nicht der Kern der Tragik. Die liegt im allerletzten Satz: „In diesem weiten Land, das er so sehr geliebt hatte, war er allein.“ Hätte Daru ihn nicht ausgeliefert, wäre er von den französischen Behörden bestraft worden. Da der Araber aus eigenem Willen den Weg zur Polizeistation gewählt hat, wird Daru von den arabischen Terroristen verurteilt werden. Der Lehrer Daru, der wie Camus ein Anhänger der Gewaltlosigkeit ist, wird zwischen den beiden Fronten zerrieben. Der gewaltlos Sanfte endet vereinsamt zwischen zweierlei Haß der „Aktivisten“. Es ist gesagt worden, daß der Charakter Darus in einem tieferen intellektuellen und moralischen Exil gezeichnet ist als irgendein anderer Charakter in Camus’ Werk. 24 Gerade dadurch wird jedoch das Chaos unserer Zeit deutlicher veranschaulicht als in vielen anderen seiner Werke, auch wenn seine Figur des Jean-Baptiste Clamence sehr viel komplexer, subtiler und im einzelnen genauer ausgeführt ist. Dennoch hat auch seine Novelle „Der Gast“ ein besonders hohes künstlerisches Niveau. Durch das Offenlassen der Motivation, weshalb der Araber den Weg zur Polizeistation eingeschlagen hat, besitzt sie jenen „doppelten Boden“, 24 Philip Thody, op. cit., S. 98. Camus und das Absolute 81 der nach einer Novellentheorie besonders wichtig für die Kunst dieser Gattung ist. Diejenigen Interpreten, die durch mutmaßliche Schlußfolgerungen diese Motivation geklärt zu haben glaubten, haben nichts anderes erreicht, als daß sie die Kunst der Novelle zerstört haben. Auch die Pointenkette, die über die drohende Aufschrift auf der Schultafel hinaus in dem letzten Einsamkeitssatz gipfelt, ist meisterhaft angelegt. Daß aber der Gendarm Balducci gerade bei Daru stehenbleibt, um ihm den Gefangenen zu übergeben, ist einer jener „Zufälle“ durch welche nicht nur Darus ganzes persönliches Existenzproblem, sondern auch das Existenzproblem Algeriens jener Tage freigelegt wird. Auch hier kann die Unabgeschlossenheit und Offenheit zu einer Art Einsicht führen, zu einer Besinnung auf die Transzendenz des Lebens überhaupt: ein kleiner Spalt der Tür zum Irrationalen-- zum Göttlichen. Camus würde natürlich sagen zum Absoluten oder zum Absurden bleibt offen. Würde man ihn schließen wollen, würde dies ideologisch wohl zu der fundamentalistischen Schlußfolgerung von einer Art Dogma, künstlerisch aber zum Kitsch führen. So aber ist es hohe Kunst. Camus scheint im Grunde in seiner Dankesansprache für den Nobelpreis auf seine Novelle „Der Gast“ eingegangen zu sein, auch wenn er deren Titel nicht genannt hat. Er hat jedoch bei seiner Darlegung der Bestimmung des Schriftstellers einen anonymen, schweigenden Gefangenen in einer Weise angeführt, wie er sehr wohl zum Gast seiner Novelle paßt, auch wenn er hier in einen weit größeren Kontext von allgemeiner Bedeutung gestellt wird. Er sagte nämlich, daß sich der heutige Schriftsteller nicht in den Dienst derer stellen kann, die Geschichte machen, sondern daß er im Dienst derer zu stehen hätte, die Geschichte erleiden. Alle Armeen der Tyrannei mit ihren Millionen von Menschen, erklärte er, könnten den Schriftsteller nicht seiner Einsamkeit entreißen, sogar und vor allem dann nicht, wenn er im Gleichschritt mit ihnen marschiere: „Aber das Schweigen eines unbekannten, am anderen Ende der Welt der Demütigung preisgegebenen Gefangenen genügt, um den Schriftsteller aus dem Exil zu erlösen, jedes Mal zumindest, da es ihm gelingt, über den ihm gewährten Vorrechten der Freiheit dieses Schweigen nicht zu vergessen und es aufzunehmen, um ihm durch die Mittel der Kunst Widerhall zu verleihen.“ 25 In den letzten zehn Jahren seines Lebens ist Camus der Prügelknabe der Pariser Linken geworden. Er setzte sich für die algerischen Häftlinge ein. Er hatte eine Auseinandersetzung mit De Gaulle und sandte diesem seine Dossiers über Häftlinge zu. Seit De Gaulle an der Macht ist, werden die zum Tode Verurteilten nicht mehr hingerichtet. Camus tritt auch für das im Namen des Antikolonialismus bedrohte Israel ein, wie auch für Louis Lecoin, einen konsequenten Verteidiger der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. 25 Albert Camus: Kleine Prosa. Reinbek bei Hamburg 1961, S. 7. Camus und das Absolute 82 Als Dichter aber ist er gegen die „engagierte Literatur“. Er zog den „engagierten Menschen“ vor, der er ja auch in der Widerstandsbewegung gegen die Nazis gewesen ist, was er als „Dienstzwang“ bezeichnet hat. 26 „Er wollte lieber ein Künstler sein, der Stellung bezieht, als ein Militanter, der schreibt.“ 27 Denn Dichtung war ihm etwas über aller Parteiung, etwas Gesamt-Menschheitliches. Wenn er trotzdem für die sowjetischen wie für die chinesischen Kommunisten als „Kalter Krieger“ galt, dann lag das nicht an ihm, sondern an jenen, die alles und jedes was nicht mit der Propaganda für ihre Verbrechen übereinstimmte, als bösartige und falsche Aggression betrachteten. In seiner Ansprache an der Universität Uppsala, ein Jahr nach Erscheinen des Monologs seiner vielfach autobiographischen Figur des Jean-Baptiste Clamence, hat er dessen Metapher, wonach alle Heutigen auf derselben Galeere dienen, auf den modernen Schriftsteller angewandt, um klarzumachen, um wie viel schwerer es ist, heute dem Chaos entgegenzutreten als in früherer Zeit. Bis jetzt, sagte er, sei ein Sich-fern-halten in der Geschichte immer mehr oder weniger möglich gewesen. Wenn ein Schriftsteller nicht zustimmen konnte, war der Ausweg gegeben zu schweigen oder von etwas anderem zu sprechen. Heute aber, sei das alles anders, denn sogar Schweigen könne einen sehr gefährlichen Sinn bekommen. Von jenem Augenblick an jedoch, an dem die Stimmenthaltung selbst als eine Entscheidung des Schriftstellers bestraft oder belobt wird, „sieht sich der Künstler auf die Galeere verfrachtet, ob er will oder nicht.“ Er ist „auf die Galeere seiner Zeit verfrachtet“, muß „sich ans Ruder setzen“ und arbeiten, womöglich ohne über Bord zu gehen, „das heißt, er muß fortfahren zu leben und zu schaffen.“ 28 Das aber sei wahrhaftig nicht leicht und macht es begreiflich, weshalb Künstler ihrer früheren Behaglichkeit nachtrauern. Ja, durch die schwierige Verpflichtung dem oftmals ins Gigantischen gewachsenen Chaos entgegenzutreten, hat die Kunst vieles verloren, wie etwa die Unbeschwertheit und göttliche Freiheit, wie sie die Musik Mozarts auszeichnet. Das unerfreuliche Aussehen der jetzigen Kunstwerke aber, ihre oftmalige Gequältheit und plötzliche Pleite können dadurch leicht begriffen werden. Deshalb gäbe es in der Gegenwart auch mehr Journalisten als Schriftsteller, mehr „Pfadfinder“ der Malerei als Künstler vom Rang eines Cézanne. Und darum sind auch die „rosaroten und schwarzen Romane“ der Zeit an die Stelle von Krieg und Frieden oder Die Kartause von Parma getreten. Deshalb sei auch die Zeit der Dichterfürsten und der Kamelien geschmückten Künstler vorüber, da heute das Schaffen gefährlich geworden ist. Heute sei jede Veröffentlichung eine Tat und diese Tat setze den Künstler den Leiden- 26 Vgl. Albert Camus: Fragen der Zeit. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 230. 27 Olivier Todd, op. cit., S. 819. 28 Kleine Prosa, op. cit., S. 12. Camus und das Absolute 83 schaften einer Zeit aus, die keine Vergebung kenne: „Es geht also nicht darum, ob das der Kunst abträglich ist oder nicht. Für alle Menschen, die ohne die Kunst und das, was sie bedeutet, nicht leben können, geht es nur um die Frage, wie inmitten der Schergen so vieler Ideologien (wie viele Kirchen, welche Einsamkeit! ) die seltsame Freiheit der Schöpfung erhalten bleiben kann.“ 29 Um dieser Freiheit willen, wendet er sich gegen die Extreme und Unrichtigkeiten der zwei gängigsten Formen der Ästhetik seiner Zeit, den Panästhetizismus des l’art pour l’art, der die Aktualität völlig ablehnt sowie gegen seinen oberflächlich betrachtet radikalsten Widerpart, jene Form der Ästhetik, die weit über den Unsinn des „sozialistischen Realismus“ hinaus verbreitet ist, und die umgekehrt alles ausschließen möchte, was nicht aktuell ist, womöglich einschließlich der Tradition der großen Meisterwerke. „Der Akademismus der Rechten“ hat er gesagt, „ignoriert ein Elend, dessen sich der Akademismus der Linken bedient. Aber in beiden Fällen wird dadurch das Elend vergrößert und die Kunst geleugnet.“ 30 Wie er auch um der zunächst beschworenen Freiheit willen, schon wegen des so vielfachen und weit verbreiteten Mißbrauchs dieses Begriffs, Wesentliches hervorgehoben hat, um die wirkliche Freiheit abzugrenzen und klarzustellen. Dabei gehört es zum Wichtigsten, daß es hier nicht um die Frage geht, „ob es uns gelingt, die Freiheit zu bewahren, wenn wir der Gerechtigkeit nachstreben.“ Es geht vielmehr „um das Wissen, daß wir ohne Freiheit nichts zustande bringen und gleichzeitig die zukünftige Gerechtigkeit und die ehemalige Schönheit verlieren werden.“ Während die Freiheit den Menschen aus seiner Einsamkeit erlöst, herrscht die Knechtschaft über einer großen Zahl von Einsamkeiten. Ja die Freiheit verbinde und die Tyrannei trenne: „Wie sollte man sich wundern, daß die Künstler und Geistesarbeiter die ersten Opfer der modernen Tyrannei geworden sind“, ob sie nun von rechts oder von links kommt. Die „Tyranneien wissen, daß im Kunstwerk die befreiende Kraft steckt, die nur jenen Menschen geheimnisvoll erscheint, die ihr nicht huldigen. Jedes Werk macht das Menschenantlitz bewundernswerter und reicher, das ist sein ganzes Geheimnis. Und Tausende von Lagern und Gefängnisgittern genügen nicht, um dieses erschütternde Zeugnis der Würde zu verdunkeln.“ 31 In seiner Dankesansprache für den Nobelpreis hat er das alles in den einzigen, kurzen und bündigen Satz zusammengefaßt, der Schriftsteller hätte, so gut er es vermag, den doppelten Auftrag auf sich zu nehmen, der die Größe seines Berufes ausmacht: „den Dienst an der Wahrheit und den Dienst an der Freiheit.“ 29 Kleine Prosa, op. cit., S. 13. 30 Kleine Prosa, op. cit., S. 22. 31 Kleine Prosa, op. cit., S. 26. Camus und das Absolute 84 Wie aber sein vielleicht tragischester Held Daru vom Absurden eingeholt wird, so ist dies auch Camus selbst widerfahren. Er wurde das Opfer eines Autounfalls: In seinem neuen Haus in Lourmarin, das er mit dem Geld des Nobelpreises erworben hatte, feierte er am Ende des Jahres 1959 mit der Familie Silvester. Dann kamen sein Verlegerfreund Michel Gallimard zusammen mit Janine und Anouchka Gallimard aus Grasse und blieben kurze Zeit bei ihm. Am 3. Januar wollten sie mit ihrem Wagen nach Paris weiterfahren und nahmen Camus mit. Nicht weit von Mâcon essen sie zu Abend und fahren am nächsten Morgen weiter. Nachdem sie Sens passiert haben, kommt der Wagen auf der schnurgeraden Straße ins Schleudern, prallt gegen einen Baum, wird von da an einen anderen Baum geworfen und bricht auseinander. Camus war auf der Stelle tot. Zu seinen Freunden hatte er wiederholt gesagt, der größte Skandal sei der Tod eines Kindes, aber es gäbe nichts Absurderes, als bei einem Autounfall ums Leben zu kommen. Doch die Absurdität geht noch viel weiter. In seiner Brieftasche fand sich eine Eisenbahnfahrkarte nach Paris, denn er hatte ursprünglich mit der Bahn fahren wollen und hatte bereits die Karte gekauft. Die Freunde hatten ihn überredet, mit ihnen zu kommen. Aber mehr noch: Camus saß auf dem Beifahrersitz, weil Janine Gallimard ihm diesen aus Höflichkeit angeboten hatte, da er größer war als sie. Janine, auf seinem ihm ursprünglich zugedachten Sitz blieb unverletzt. Es war schwer, der Mutter seinen Tod mitzuteilen. Sie starb noch im selben Jahr. In seiner Aktentasche fand sich ein Manuskript von einhundertvierundvierzig Seiten, der Anfang eines wahrscheinlich auf zwei Bände berechneten Romans mit dem Titel Der erste Mensch, sein Entwicklungsroman. 32 Nach dem indirekten, gebrochenen Selbstbildnis des Jean-Baptiste Clamence sollte es eine direkte Darstellung seiner eigenen Familie und seiner Wurzeln werden. Im Jahr 1959 hatte er in der neuen Nationalbibliothek von Algier nach Informationen über seinen Vater gesucht. Von der Mutterseite her hatte er bereits vorher einige Dokumente sichergestellt. Auf die erste Manuskriptseite hatten er eine Widmung für seine Mutter geschrieben: „Dir, der Du dieses Buch nie wirst lesen können.“ Der frühere Freund und spätere Gegner Jean Paul Sartre aber schrieb in seinem Nachruf auf Camus: Er „stellte in diesem Jahrhundert und gegen die Geschichte den gegenwärtigen Erben jener langen Folge von Moralisten dar, deren Werke vielleicht das Originellste der französischen Geisteswelt bieten.“ 33 32 Albert Camus: Le Premier homme. Hg. Von Catherine Camus, Paris 1995. 33 Jean Paul Sartre: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 1946-1960. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 157. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen Als Faulkners Eltern 1901 nach Oxford, Mississippi zogen, wohin er immer wieder zurückkehren sollte, da war er vier Jahre alt und da traf er seine „zweite Mutter“, Caroline Barr, der er seinen Roman Go down, Moses, der auch seine Meisternovelle „Der Bär“ enthält, gewidmet hat. „Zum Gedenken an Mammy, Caroline Barr“ lautete diese Widmung, „Mississippi (1840-1940), die in Sklaverei geboren wurde und meiner Familie diente in rückhaltloser Treue und meine Kindheit mit unendlicher Aufopferung und Liebe umgab“. Oxford hatte damals etwas über 1800 Einwohner und war die Distriktshauptstadt von Lafayette County, die unter dem fiktiven Namen „Jefferson“ im „Yoknapatawpha County“ der Schauplatz vieler seiner Romane werden sollte. Daß er der kleinen Stadt diesen Namen gab, hängt nicht nur, wenn überhaupt, mit dem Umstand zusammen, daß Thomas Jefferson auch wie er selbst aus den Südstaaten stammte, sondern damit, daß dieser einer der geistvollsten und gebildetsten Präsidenten des Landes gewesen war, der aus guten Gründen von vielen bis heute als der eigentliche Begründer der amerikanischen Demokratie betrachtet wird. Höchste Autoritäten des Kindes waren die Großeltern, John Wesley Thompson Falkner und Sallie Murray Falkner, er die klassische Figur eines Gentleman der Südstaaten, sie eine Stütze der Gesellschaft, die mit Grazie und Charme oft Freundinnen einlud, kirchliche Gruppen, den lokalen Buchklub und nicht zuletzt die „United Daughters of the Confederacy“. Faulkners Vater machte es Freude, die Söhne auf seine Jagdausflüge mit den Hunden mitzunehmen. Als die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, da wußte der junge Faulkner bereits genug von dem entsetzlichen Gemetzel der Materialschlachten, um eine Form des Krieges vorzuziehen, in der es noch einen ritterlichen Kampf von Mann zu Mann gab und das war das „Royal Flying Corps“, aus dem die „Royal Air Force“ hervorging. Dieses galt zudem als Elite- Einheit. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die neue Generation der amerikanischen Autoren ein eigenartiges Verhältnis zum Tod im Kampf hatte. Faulkner trat jedenfalls als Kadett im Rekrutendepot von Toronto in die kanadische Luftwaffe ein, doch endete der Krieg als seine Ausbildung zwar bereits weitgehend beendet war, doch noch bevor er in den Krieg nach Europa geschickt werden konnte. Er hatte die Zulassung übrigens dadurch erreicht, daß er in New York einem kanadischen Rekrutierungsoffizier einige falsche Angaben gemacht hatte, wobei er nicht nur als Geburtsort fälschlich Finchley in Middlesex, England angegeben, sondern auch seinen ursprünglichen Namen Falkner in Faulkner umgeändert hatte. Rückblickend war Faulkner einerseits stolz auf seine halbjährige Zugehörigkeit zur Royal Air Force, nicht zuletzt, da er manches an britischer Kultur angenom- Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 86 men hatte, die er bewunderte. Andererseits sah er am bösen Geschick seines älteren Bruders, welches Leid der Krieg mit sich bringen kann und so war denn bereits sein erster Roman Soldiers’ Pay ein typischer Roman der „verlorenen Generation“ der amerikanischen Jugend seiner Generation, die illusionslos oft in ein ruiniertes Leben der Nachkriegsheimat zurückkehren hatte müssen. Als er im Alter Gast bei seinem Freund und späteren Biographen Joseph Blotner war, der den Krieg auch sehr gut kannte, da er im Zweiten Weltkrieg Bombardier einer B 17 gewesen war, da zitierte dieser die beiden ersten Verse des Gedichts von Yeats „Ein irischer Luftwaffenmann sieht seinen Tod voraus“: Ich weiß, ich werde mein Geschick erleiden Irgendwo in den Wolken oben. Da Blotner nicht weiter wußte, setzte Faulkner für ihn fort: Die ich bekämpfe, haß ich nicht, Die ich beschütze, lieb ich nicht. Und als er vor einer Klasse von Kadetten der ältesten und berühmtesten Offiziersakademie Amerikas, West Point, einen Vortrag hielt, da erzählte er ihnen, daß Krieg eine schäbige und wahrhaft unpraktische Sache sei und daß man ein Genie sein müßte, um ihn einigermaßen ökonomisch und wirksam zu führen. Faulkners Tochter Jill urteilte, daß er ein geborener Verlierer war: „Sein ganzes Leben ist er immer wieder gelegt worden.“ 1 Ein hübsches Beispiel ist eine der vielen Geschichten von einem seiner schwarzen Farmarbeiter, Onkel Ned. Dieser war zu ihm gekommen und hatte erklärt: „Master, ich werde nicht mehr lange genug leben, um die Ernte eingebracht zu sehen. Geben Sie mir Geld, damit ich heim nach Ripley gehen kann, um zu sterben.“ Faulkner gab ihm Geld und mußte extra einen anderen Farmarbeiter für die Ernte bezahlen. Aber Onkel Ned kam mit demselben Spruch jahraus und jahrein wieder und immer wieder mit Erfolg. Als er den Nobelpreis erhielt, war er eher zugeknöpft. Widerwillig gab er einem Lokalredakteur, der für Associated Press einen Bericht machen sollte, ein telefonisches Interview. Dann besuchte er ihn in dessen Büro, um zu kontrollieren, daß auch alles stimmte. Er holte seine Post ab und plauderte am Weg nach Hause mit einigen Freunden, ohne den Preis auch nur zu erwähnen. Marc Reed, der lokale Drogeriebesitzer, hatte vom Lokalredakteur die Preisgeschichte erfahren. Er ging zu Faulkners Farm hinaus, um ihm zu gratulieren. Er fand ihn in einem alten Jeep, der einen Kalkstreuer hinter sich herzog, um das Feld zu düngen. 1 Joseph Blotner: Faulkner. Jackson, Mississippi 2005, S. 389. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 87 Zur Preisverleihung nach Stockholm flog er in einem geborgten Anzug. Zu der großen Veranstaltung kam er unrasiert und mit seinem alten Trenchcoat. Der Butler der amerikanischen Botschaft, in der er wohnte, hatte die Bleistiftnotizen seiner Annahmerede suchen müssen, die er verlegt hatte. Aber diese Annahmerede war eine seiner eindrucksvollen Antworten auf das Chaos unserer Zeit. Er, der so viel über Rassenhaß, Laster, Perversion und Grausamkeit geschrieben hatte, ja der einen Dritten Weltkrieg für die nächsten Jahre vorausgesagt hatte, verkündete plötzlich mit Nachdruck, elegant und überzeugend, mit starkem Südstaaten-Akzent, daß es leicht sei, zu sagen, der Mensch sei unsterblich, einfach weil er Sintflut und Verwüstung überleben würde. Er weigere sich aber, nur das allein anzunehmen. Er glaube vielmehr, der Mensch würde nicht nur alles ertragen, sondern er würde obsiegen. Er sei unsterblich, nicht nur weil er als einziges Geschöpf eine unsterbliche Stimme besäße, sondern weil er eine Seele hätte, die des Mitleids, des Opfers, der Geduld fähig ist. Den großartigsten Tribut für Faulkner, anläßlich der Nobelpreisverleihung aber leistete nicht einer der berühmten Kritiker, sondern Faulkners Freund Phil Stone, der in der kleinen Lokalzeitung von Oxford Eagle geschrieben hatte: „Viele von uns reden über Anständigkeit, über Ehre, über Treue, über Dankbarkeit. Bill spricht nicht über diese Dinge. Er lebt sie … Leute mögen Dich verfolgen, und Dich schmähen, aber dies würde Bill nur rasch an Deine Seite bringen, wenn er Dein Freund ist. Wenn er Dein Freund ist und die Meute sollte sich entscheiden, Dich zu kreuzigen, Bill würde da sein, ohne Aufforderung …“ 2 Als Faulkner eingeladen wurde, an einem Seminar für dreißig japanische Professoren für englische und amerikanische Literatur in Nagano teilzunehmen, plante das State Department für ihn zehn Tage in Nagano, vier in Kyoto und fünf in Tokyo. In Tokyo tippte er eine Botschaft „An die Jugend von Japan“, um eine Frage zu beantworten, die wiederholt an ihn gestellt worden war. Vor hundert Jahren, schrieb er, hatten die amerikanischen Südstaaten einen ärgeren Krieg und eine ärgere Okkupation durchzumachen als Japan heute. Aber jetzt ist das ganze Land stärker durch diese Qual. Junge Menschen im Süden mögen damals dieselbe Frage gestellt haben wie junge Menschen im heutigen Japan über eine hoffnungslose Zukunft. Die Antwort war, daß der Mensch zähe genug war, um alles zu überwinden und aus solcher Erfahrung heraus würden auch die japanischen Autoren nicht eine japanische, sondern eine universale Wahrheit finden. Die meiste demokratische Praxis sei eine plumpe Methode, aber sie sollte ausreichen, bis etwas besseres gefunden wird, denn der Mensch ist stärker und zäher und er vermag mehr zu überstehen als seine Fehler und Tolpatschigkeiten. 2 Joseph Blotner: Faulkner, op. cit., S. 526. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 88 Für viele Japaner war die Begegnung mit Faulkner das große Erlebnis ihres Daseins und das amerikanische State Department stellte fest, daß keine Mission mehr zur Verbesserung der japanisch-amerikanischen Beziehungen und zur Verständigung beigetragen hätte als der Besuch Faulkners. Faulkner, der weder die Oberschule noch die Universität beendet hatte, besaß trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - einen ganz ausgezeichneten literarischen Geschmack. Zu seinen Lieblingsromanen gehörten Moby Dick und Der Nigger vom Narcissus. Dazu kam nicht zuletzt Don Quijote. Sein Schreiben wurde beeinflußt durch das Alte Testament und Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow. Sein Lieblingsgedicht Shakespeares war dessen geheimnisvoll rosenkreuzerisches „The Phoenix and the Turtle“, sein Lieblingsdrama Shakespeares dessen esoterisch schwieriger Tempest. Als das große Gemeinsame seines eigenen Werks betrachtete ein Kritiker einen großen Mythos, dessen Grundlage „die südliche sozio-ökonomische ethische Tradition“ darstellte und er verglich sein Werk mit jenem Dantes und der Elektra des Sophokles. 3 Malraux sprach vom Einbruch der griechischen Tragödie in den Kriminalroman und für Albert Camus war er schlicht und einfach „der größte Schriftsteller der Welt.“ 4 Als das State Department ihn einlud, mit einer Gruppe amerikanischer Autoren die Sowjetunion zu bereisen, lehnte er ab. Das Rußland, zu dem er eine geistige Verwandtschaft verspürte, war jenes Rußland, das Dostojewski, Tolstoi, Tschechow und Gogol hervorgebracht hatte und das es nicht mehr gab. Den auch nur äußerlichen Eindruck, durch seine Reise den Zustand zu verzeihen, den das gegenwärtige Rußland begründet hat, wäre ein Verrat an den geistigen Erben jener großen Dichter, die ihre Seele zerstört haben für das Privileg öffentlich schreiben zu dürfen. Weit weniger ernst war seine Ablehnung der Einladung von Präsident Kennedy, der eine ganze Gruppe von 51 Nobel- und Pulitzer-Preisträgern zum Abendessen ins Weiße Haus gebeten hatte. Mit Ausnahme eines ernsthaft erkrankten hatten alle zugesagt außer Faulkner, der Nobel- und Pulitzer- Preisträger in einem war. Er trug seinem Freund Blotner auf: „Sag denen, ich bin zu alt, um so weit zu fahren, nur um mit Fremden zu essen.“ Newsweek und Associated Press brachten wahrheitsgetreu diese Erklärung wörtlich, worüber Faulkner und Blotner sich vor Lachen bogen. Als das State Department ihn nach Athen geschickt hatte, begann sein Programm mit einer Pressekonferenz, auf der ein Journalist die Frage an ihn richtete, ob er eine Botschaft an das griechische Volk hätte. Faulkners Antwort lautete: „An ein Volk, das bereits das tapferste und zäheste und unabhängigste 3 George Maria O’Donell: Faulkner’s Mythology. In: The Kenyon Review, I, Summer 1939, S. 285-299. 4 Joseph Blotner: Faulkner, op. cit., S. 611. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 89 Volk ist? Ihr Land ist die Wiege des zivilisierten Menschen. Ihre Vorfahren sind die Mütter und Väter der Zivilisation und der menschlichen Freiheit. Was noch darüber hinaus wollen Sie von mir, einem amerikanischen Farmer? “ Da diese Bescheidenheit nicht gespielt, sondern echt war, hatte er den üblichen Erfolg. Dabei war er in Wahrheit auch ein Farmer und nicht nur das, sondern darüber hinaus ein Waldläufer und Jäger, der einen uralten Instinkt und ein Weisheitsverständnis für die Natur besaß, welche die modern technokratischen, durch und durch rationalisierten Städter längst verloren hatten. Das zeigt sich mit besonderem Nachdruck in seiner Erzählung „Der Bär“, die er selbst zunächst nur als eine Short Story betrachtete. Voll ausgearbeitet und eingebettet in seinen Roman Das verworfene Erbe (Go down, Moses) hatte sie sich jedoch durch eine raffinierte Pointenkette und einen nicht weniger raffinierten Rahmen zu einer großartigen Meisternovelle ausgewachsen. Faulkner ist nach seinem eigenen Eingeständnis erst bei der Diskussion mit Studenten der University of Virginia aufgegangen, daß es in seiner Erzählung „Der Bär“ „haufenweise Symbole gibt“, die zu sehen, er keine Zeit gefunden hatte, als er die Erzählung schrieb. 5 Genau so ist dem begnadeten Erzähler aus dem Unbewußten die Darstellung des Instinkts und seiner Entwicklung beim jugendlichen Helden der Erzählung „Der Bär“ zugewachsen, welche der Erzählung einen wesentlichen Teil ihrer tiefen Faszination gibt. Die Jagd selbst, das war Faulkner sehr bewußt, stand hier als ein Sinnbild für die Verfolgung, da das Leben eines jeden von uns zum größten Teil darin besteht, „etwas zu verfolgen, etwas zu erlangen, etwas zu versuchen.“ 6 Der jugendliche Held Isaak McCaslin oder kurz „Ike“ hat durch sechs Jahre hindurch, von seinem zehnten bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr, sich nicht nur das eigentliche Wesen der Jagd angeeignet, sondern hat für sich auch das Wesen des Waldes, der Wildnis erschlossen. Der Mentor Ikes ist der alte Mann Sam Fathers, Sohn einer Negersklavin und eines Chickasaw Häuptlings, von beiden Seiten her instinktsicherer als die Weißen, aber innerlich zerrissen, da die Welt des Häuptlings untergegangen ist, so wie die Wildnis des Waldes dem Untergang geweiht ist, während der Welt der schwarzen Mutter die unmittelbare Zukunft gehört, da die Wildnis von den Weißen zerstört wird, damit auf ihrem Boden gewinnbringend Baumwolle gepflanzt werden kann, was die Grundlage des Übels der Sklaverei geschaffen hatte. Jedes Jahr macht sich die Jagdgesellschaft, zu der auch Ike und Sam Fathers gehören, auf, zuletzt den „Haupt-Bären“ zu erlegen, Old Ben, der die untergehende Wildnis symbolisiert und der immer wieder entkommt. Ike ist bereits 5 Frederick L. Gwynn und Joseph L. Blotner: Gespräche mit Faulkner. Stuttgart 1961, S.-291 f. 6 Frederick L. Gwynn und Joseph L. Blotner, op. cit., S. 282. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 90 bald ein so geschickter Waldgänger, daß es ihm gelingt, den Bären zu sehen, nachdem er ohne Gewehr und ohne Kompaß gewagt hatte, sich in der Tiefe der Wildnis zurechtzufinden. Das zweite Mal sieht er den Bären - und hier entwickelt sich die Pointenkette - als sein kleiner, tapferer Hund ihn gestellt hatte. Ike hatte sein Gewehr bei sich, legte es aber weg und lief auf das Hündchen zu, um es zu retten. Er sieht den Bären über sich, gewaltig und aufgereckt, wie er ihn in seinen Träumen gesehen hatte und dann war der Bär verschwunden. Weder Ike noch Sam, der mit ihm war, hatten geschossen. Beide sind von einer Art tiefem Wissen beseelt, welches ihnen sagt, daß dieser Bär nicht einfach Jagdbeute ist. Er gehörte zum Geist der untergehenden Wildnis. Als Sam sagt, daß er eines Tages doch geschossen werden würde, da beendet Ike das Gespräch mit der Feststellung: „Wenn sogar er möchte, daß es nicht mehr länger dauert.“ Dann haben sie endlich den richtigen Hund, um diesen Bären jagen zu können. Aber als der Hund den Bären stellt, verletzt ihn dieser, bevor er selbst getötet wird, so schwer, daß auch der Hund seinen Verletzungen erliegt. Unmittelbar darauf stirbt auch Sam Fathers und es ist offenbar, daß er es geradezu darauf angelegt hatte, daß mit dem Tod des Bären auch der Untergang der Wildnis und damit der Welt seines Vaters besiegelt war. Faulkner selbst hat dazu erklärt, daß es nicht notwendig sei, Partei zu ergreifen, sondern „all das Schöne zu bedauern, das durch die Veränderung untergeht“, aber so auch zu einem Erbe des Menschen wird. Er fügte noch hinzu, daß solche Veränderung, sofern sie nicht von vernünftigen Menschen kontrolliert wird, zuweilen mehr nimmt als sie gibt, da „Unersetzbares vernichtet wird.“ 7 Dieser Fall war hier gegeben. Wie aber die Meisternovelle Mérimées Carmen den drei Kapiteln der eigentlichen Geschichte von Carmen und Don José ein viertes Kapitel folgen läßt, das philologische und sittengeschichtliche Bemerkungen des gelehrten Archäologen enthält, der den Rahmen eröffnet hat, so hat auch die Geschichte der eigentlichen Bärenjagd eine weit ausladende Fortsetzung, die auf den ersten Blick direkt nichts mit der Geschichte zu tun zu haben scheint. Dabei ist dieser neue, weit ausladende, indirekte Rahmenschluß eine Schöpfung Mérimées, welche die Kunst der Novelle um einen wesentlichen Schritt weiterentwickelt hat. So läßt denn Faulkner auf die eigentliche Geschichte der Bärenjagd selbst ein ausführliches Kapitel folgen, das allgemeine Betrachtungen zur Geschichte des amerikanischen Südens, der Sklaverei und Sklavenbefreiung, ja des KuKluxKlans, und des Ersten Weltkriegs enthält. Die Geschichte der Bärenjagd wird in einen größeren Kontext gestellt, der das Verständnis für die Gesamtentwicklung wesentlich erweitert und vertieft. Dieses Schlußkapitel stellt eine Art Totalitätsbeschreibung her. 7 Frederick L. Gwynn und Joseph L. Blotner, op. cit., S. 289 f. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 91 So stellt es sich dar, wenn man die Novelle „Der Bär“ aus dem Roman herausgelöst betrachtet, wie dies hier geschehen ist und sie ist ja auch unabhängig vom Roman als eigenes Ganzes herausgegeben worden. Faulkner selbst hat sie in der Regel als integralen Teil des ganzen Romans gesehen und ist einmal sogar so weit gegangen, daß er aus dieser Perspektive heraus die Geschichte der eigentlichen Bärenjagd zu einer „Nebenhandlung“ degradiert hat. 8 Zwar kann man das grundsätzlich so sehen, aber wenn er so weit ging, daß er diese Geschichte der Bärenjagd sogar für entbehrlich hielt, dann hat er seine eigene, hohe Kunst mißverstanden. Denn nicht nur stellt sie in der Novelle als Ganzes die eigentliche Geschichte dar, sondern auch von der Perspektive des Gesamtromans her gesehen stellt sie ein so packendes, bewegendes und plastisches Einzelbeispiel innerhalb der Entwicklung des Ganzen dar, daß es eine wahrhaft ungeheure Einbuße wäre, sie wegzulassen. Faulkner hat nicht die kunsttheoretischen Einsichten Mérimées besessen, sondern hat aus seinem erzählerischen Instinkt heraus den neuen, groß angelegten, perspektivischen Rahmen nachvollzogen und nachgestaltet. Was die Jagdgeschichte selbst betrifft, so stellt im Hinblick auf Reaktionen auf das Chaos die Idée maître der Umstand dar, daß Ike durch seinen Mentor Sam Fathers aus der Erfahrung der Bärenjagd gelernt hat, gleichzeitig „demütig und stolz“ zu sein. Mehr Botschaften Faulkners finden sich im „Anhang“ des Rahmenschlusses und zwei der wichtigsten seien hier herausgegriffen. Das eine Mal spricht er von dem möglichen Mißbrauch der Freiheit durch die Schwarzen im Süden, denen durch den Ausgang des Bürgerkrieges „die Freiheit und Gleichheit über Nacht auf den Kopf gefallen war“ und er gelangt zu folgender Einsicht: „Offenbar gibt es eine Weisheit darüber hinaus noch, die durch Leiden gelernt hat, und Leiden ist nötig, daß der Mensch zwischen Freiheit und Willkür unterscheide.“ 9 Das andere Mal liest der Mann, der die Farm leitet, Ike zuerst fünf Strophen und darauf eine Strophe zum zweiten Mal aus der „Ode on a Grecian Urn“ von Keats vor: „Sie kann nicht welken, wenn dir auch dein Glück versagt ist“, liest er, „Auf ewig wirst du lieben und sie bleibt ewig schön.“ Ikes Reaktion darauf ist: „Er spricht von einem Mädchen.“ Aber McCasin berichtigt ihn: „Er redet von der Wahrheit. Die Wahrheit ist einzig und ändert sich nicht. Sie bezieht sich auf alle Dinge, die das Herz angehen - Ehre, Stolz und Mitleid und Gerechtigkeit und Mut und Liebe.“ Und später fügt er noch hinzu: „Liebe zur Gerechtigkeit und zur Freiheit. Sie alle gehen das Herz an, und woran das Herz sich hält, das wird Wahrheit, soweit wir die Wahrheit kennen.“ Es ist richtig beobachtet worden, daß Faulkners Werk in einem gewissen Sinn in einer Zeit ohne Uhren spielt, in der wahren, nicht in der erfundenen 8 Frederick L. Gwynn und Joseph L. Blotner, op. cit., S. 283. 9 William Faulkner: Der Bär. Frankfurt - Wien o. J., S. 121. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 92 Zeit, wodurch er einerseits über Proust, andererseits aber auch über Joyce hinausgeht: „Daher der radikale Verzicht auf erzählende Chronologie, daher das Mischen der Bewußtseinsströme, das Zerfetzen und Ineinanderschieben der Denkprozesse, daher auch die scheinbare Formlosigkeit seiner Romane, dieses Dickicht der Sätze, diese Wortgebirge, dieses uferlose Bett, durch das sich der Urstrom des Erzählens wälzt. Faulkners Menschen leben in archaischer Zeit, im Uranfänglichen; sie leben … im mythischen Raum. Da aber das Mythische, weil es weit vor dem verändernden Zugriff des menschlichen Willens liegt, identisch ist mit dem Wahren, wird der Dichter ohne Zeit zum Dichter des Seins. Er allein hat Zutritt zu den Gründen, wo das Unverfälschte liegt, aber auch das Ungesonderte, das Vor-Individuelle.“ 10 Faulkners große Romane begannen mit Schall und Wahn. Aber während in diesem großartigen Roman wie in den unmittelbar darauf folgenden die Charaktere einem blinden Schicksal gehorchend untergehen, schien gerade mit der Novelle „Der Bär“ eine Änderung einzusetzen, obwohl doch gerade die Welt des Bären selbst, jene Sam Fathers’ und jene der Wildnis überhaupt einer Art Welt mythischer Vorzeit zugerechnet werden könnten. Früher hat man es so gesehen, daß mit dem Roman Das verworfene Erbe insofern eine Wendung einzusetzen beginnt, als das, was man Faulkners „pessimistischen Determinismus“ nannte, dem Glauben an das Gute im Menschen zu weichen beginnt. Diese Möglichkeit und zugleich Verantwortlichkeit freier Entscheidung hätte sich dann voll im Roman Griff in den Staub (Intruder in the Dust) entfaltet. Nun ist es aber so, daß dieser „deterministische Pessimismus“ nicht nur jene künstlerische Größe und Gewalt ähnlich einer griechischen Schicksalstragödie repräsentiert, sondern daß es auch in den frühen Romanen durchaus positive Charaktere gibt, die eine beispielhaft humanistische Rolle spielen wie Dilsey in Schall und Wahn, Lena in Licht im August, Cash in Als ich im Sterben lag und Sam Fathers in „Der Bär“. Umgekehrt gibt es echt schicksalhafte Zusammenhänge auch wieder in Griff in den Staub, etwa wenn Chick von Lucas Beauchamp im Gefängnis den für ihn allein praktisch undurchführbaren Auftrag erhält, die Leiche des ermordeten Vinson Gowrie in der Nacht auszugraben, um feststellen zu lassen, daß er durch die Kugel einer anderen Pistole als jener des Lucas getötet worden war. Chick trifft im entscheidenden Augenblick durch einen schicksalhaften „Zufall“ auf die alte Frau Habersham, die eine Enkelin des alten Doktor Habersham war, so wie Molly, die Frau des Lucas, die Tochter eines Sklaven des Doktor Habersham gewesen war. Molly und Frau Habersham waren fast gleichzeitig geboren worden und waren gemeinsam an der Brust von Mollys Mutter gesäugt worden. Sie waren geradezu unzertrennlich wie Zwillingsschwestern aufgewachsen und 10 Günter Blöcker: Die neuen Wirklichkeiten. Berlin 1957, S. 113. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 93 so vertraut sich Chick der alten Frau an, die sofort bereit ist, ihm zu helfen und die auch ihr Gemüseauto für die Fahrt zum Friedhof zur Verfügung stellt. Ja, im Grunde ist die ganze Fabel des Romans so gestaltet, daß es eine ganze Kette von schicksalhaften Zufällen ist, die es möglich machen, daß der unschuldige Lucas Beauchamp durch einen weißen Teenager Chick, einen schwarzen Teenager Aleck Sander und die alte Frau Habersham gerettet wird. Und das, obwohl er von der gesamten Bevölkerung des Distrikts einschließlich des Sheriffs und seines eigenen Anwalts für schuldig gehalten wird. Nicht das Verschwinden schicksalhafter Zusammenhänge hat sich gegenüber den früheren Romanen geändert, sondern der Ausgang des Geschehens ist aus dem Negativen ins Positive verkehrt worden. Der gesamte Roman, der äußerlich eine Kriminalgeschichte ist, tatsächlich aber eine Auseinandersetzung mit dem Negerproblem im Süden, bezieht den Standpunkt von Gavin Stevens, des Onkels von Chick, der mit vollem Namen Charles Mallison Jr. heißt. Gavin Stevens ist der Anwalt von Lucas. Chick beobachtet seinen Onkel und lernt von ihm, der ein „Gradualist“ in der Frage der Schwarzen ist, einerseits ein „Nigger Lover“ wie Faulkner selbst, andererseits der Vertreter eines Evolutionismus, der die gleichsam gewaltsame Lösung der von den siegreichen Nordstaaten diktierten Gleichheitsgesetze für teilweise schädlich hielt. So erklärt denn Gavin Stevens auch grundsätzlich, daß „das Unrecht auf unserer Seite ist, der Seite des Südens“. Aber, so meint er, „wir müssen es selbst sühnen und abschaffen, allein, ohne Hilfe und sogar unter (dankendem) Verzicht auf Ratschläge.“ Die Größe des Romans liegt abgesehen von seiner Sprachkunst vor allem darin, daß Faulkner in seiner Weisheit einerseits und seiner engen Verbundenheit mit dem tiefen Süden andererseits alle Seiten sieht und auch die verschiedenen psychologischen Implikationen. Natürlich sieht er zunächst das grundsätzliche Unrecht den Schwarzen gegenüber, aber nicht nur das. Er sieht die Fehler, die der Norden nach dem Bürgerkrieg gemacht hat. Da ist nicht nur die falsche Annahme, eine wirkliche Gleichberechtigung könnte rein äußerlich, allein durch einen Gesetzesparagraphen von einem Tag auf den anderen problemlos herbeigeführt werden. Als erschwerend kommt noch dazu, daß die Sieger im Bürgerkrieg nicht nur des Lucas Beauchamp Freiheit in die Verfassung aufgenommen haben. Sie haben nicht nur den früheren Herrn des Lucas in die Knie gezwungen, sondern ihn „zehn Jahre lang mit dem Gesicht in den Staub getreten“ auf „daß er ihn fresse“. Daher der Titel des Romans, Griff in den Staub. Aber Faulkner sieht auch die anständigen Weißen des Südens und schlußfolgert, daß das, „was einen Menschen dazu bringt, sich bei Nacht schlaflos im Bett herum zu wälzen“ nicht so sehr die Tatsache ist, daß er einen Mitmenschen gekränkt hat, als „daß er unrecht gehabt hat“. Und er sieht die Möglichkeit voraus, daß die Menschen des Distrikts von Yoknapathawpha erleben werden, wie Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 94 das uralte orientalische Verhältnis zwischen dem Retter eines Lebens und dem Leben, das er gerettet hat, auf den Kopf gestellt wird: „Lucas Beauchamp, einst Sklave jedweden weißen Mannes, in dessen Gesichtskreis er geriet, jetzt Despot des Gewissens aller Weißen“ des Distrikts. Der Schluß des Romans gibt davon eine kleine Probe, die eine großartige Abschlußpointe des ganzen Geschehens liefert. Lucas kommt zu Gavin Stevens, der ja die rechtliche Abwicklung, des durch die Detektivarbeit zu Tage gebrachten Sachverhalts durchgeführt hat, um seine Anwaltskosten zu bezahlen. Zunächst lehnt Stevens jede Bezahlung ab. Nach einem Geplänkel besteht Lucas darauf, zumindest die „Auslagen“ des Anwalts zu bezahlen. Der überlegt und erklärt schließlich, daß er bei der Schreibarbeit seine Füllfeder ruiniert hätte. Es koste zwei Dollar eine neue Feder hinein machen zu lassen. Also wären die Auslagen zwei Dollar. Zunächst sagt Lucas überrascht „So wenig? “ Aber dann greift er in den riesigen, mitgebrachten Geldbeutel und holt zunächst einen völlig zerknüllten Ein-Dollar-Schein hervor. Sodann beginnt er Münzen herauszulegen. Zunächst ein Halbdollarstück, vier Zehn-Cent-Münzen und zwei Fünfer. Daraufhin nimmt er die vier Zehner und zwei Fünfer und legt sie in den Beutel zurück, holt aus dem Beutel ein Vierteldollar-Stück. Dann legt er wieder zwei Zehner und einen Fünfer auf den Tisch. Sodann nimmt er das Halb-Dollar-Stück und steckt es wieder in den Beutel. „Das sind sechs Achtelchen“, sagt der Anwalt. „Gemach“, sagt Lucas, nimmt den Vierteldollar auch wieder vom Tisch weg und holt aus den Tiefen des Geldbeutels einen verschmutzten und verschnürten Tabaksbeutel heraus, den er auf den Tisch legt. „Das macht gerade so viel aus. Vier Achtel in Ein-Penny-Stücken. Ich hatte vor, sie auf die Bank zu bringen, aber Sie ersparen mir einen Weg. Wollen Sie zählen? “ Der Anwalt verlangt, daß Lucas sie zähle. Also macht dieser sich umständlich daran, die Münzenhaufen abzuzählen. Dann schiebt er das Geld über den Schreibtisch dem Anwalt zu und reinigt sich mit einem bunten Negertaschentuch seine Hände. Zuletzt aber bleibt er unzugänglich und ruhig stehen, keinen der Anwesenden anblickend, während von draußen der übliche Sonntagslärm von Radios und langgezogenem Geblök von Autohupen herauftönte. „Was nun? “, fragte der Anwalt, „Worauf wartest Du noch? “ „Auf meine Quittung“, sagt Lucas. Es mag kein Zufall sein, daß Faulkner nach diesem Roman den Nobelpreis erhalten hat. Allerdings gewiß nicht wegen der hübschen Schlußpointe, sondern weil der „Onkel“ und Anwalt seinem Neffen mit unbeugsamer Strenge klar macht, daß es Dinge im Leben gibt, die man nie zu dulden imstande sein darf. Ja, deren Duldung man immer verweigern wird müssen: Ungerechtigkeit, Kränkung, Entehrung und Schande. Gleichviel wie jung man ist oder wie alt Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 95 man geworden ist. Nicht um Geld und gute Worte, noch für die Fotografie in der Zeitung, noch um des Bankkontos willen. Nur sich weigern, sie zu dulden. Vielleicht aber war ein noch wichtigerer Grund für die Preisverleihung, daß Faulkner an einem wunderbar lebendigen Beispiel zu zeigen verstanden hatte, wie es zwei Halbwüchsigen und einer alten Frau gelingen konnte, ungeachtet einiger hilfreicher und schicksalhafter „Zufälle“, ein so gut wie bereits besiegeltes Unrecht, das die gesamte Bevölkerung des Distrikts für gut und richtig befunden hatte, zu verhindern. Sechs Jahre nach diesem Roman ließ Faulkner das Werk folgen, dem er den Titel A Fable (deutsch: Eine Legende) gegeben hatte. Es ist im Grunde ein Prosaroman, der allerdings so angelegt ist, daß er sich von den vorherigen Romanen Faulkners in zwei Dingen unterscheidet. Erstens spielt er nicht in jenem Yoknapatawpha-Lafayette-Distrikt, aus dem seine großen Erzählwerke durch seine tiefe Verbundenheit und Kenntnis ihre weltliterarische epische Kraft beziehen, sondern er spielt in Frankreich. Zweitens aber ist er ebenfalls im Unterschied zu den vorherigen Romanen nicht aus den Charakteren heraus gewachsen, die ihm seine Phantasie oder Imagination, sein Unbewußtes oder sein Dämon diktiert hatten, sondern er ist aus einer abstrakten Idee heraus entstanden. Wobei zu allem Überfluß der erste Anstoß zu dieser Idee sogar aus Hollywood gekommen ist, wo er als Drehbuchautor immer wieder Geld verdient hat. Aber nachdem es eben Faulkner war, der seine Erzählkunst daran bewährt hatte, trug ihm gerade dieses Werk zwei der höchsten literarische Preise Amerikas ein, den Pulitzer-Preis und den National Book Award. Faulkner hat an dieser Erzählung auch grundsätzlich anders gearbeitet als zuvor. Zum ersten Mal hat er „geschrieben und umgeschrieben“, hat er „jedes Wort abgewogen“ und hat - abgesehen vielleicht von Absalom, Absalom - in zehnjähriger harter Arbeit eine für ihn neue Art der Erzählkunst geschaffen. 11 Andererseits hat er damit ein Werk geschrieben, dessen Botschaft gerade für die Problematik, mit dem Chaos der Zeit fertig zu werden, von größter Bedeutung ist. Faulkner selbst hat diesen Roman wiederholt selbst sein „magnum opus“ genannt. 12 Der Roman spielt im Ersten Weltkrieg in Frankreich. Faulkner hat bereits in der Zeit des Zweiten Weltkriegs daran gearbeitet und er hat seine Legende selbst damals so beschrieben, daß im Ersten Weltkrieg „Christus (eine Bewegung der Menschheit, die Krieg für immer beenden will)“ wieder erscheint, „und wieder gekreuzigt“ wird. Wir wiederholen es, wir sind wieder inmitten eines Krieges. „Angenommen Christus gibt uns noch einmal eine Chance, so werden wir ihn wieder kreuzigen, vielleicht zum letzten Mal.“ 13 11 Joseph Blotner: Selected Letters of William Faulkner. New York 1977, S. 188. 12 Vgl. Joseph Blotner: Faulkner, op. cit., S. 166. 13 Joseph Blotner: Selected Letters of William Faulkner, op. cit., S. 180. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 96 Die Handlung setzt an einem, irgendeinem Mittwoch im Mai 1918 an der Westfront ein, wo plötzlich die Mannschaft eines gesamten französischen Regiments sich weigert, den Befehl zum Angriff auf die deutschen Linien durchzuführen. Auf gleichsam geheimnisvolle Weise, setzt auch die Artillerie plötzlich ganz aus, obwohl sie das vorbereitende Trommelfeuer auf die deutschen Gräben noch durchgeführt hatte. Lediglich ein Geschütz von jeweils einer ganzen Batterie auf zehntausend Meter feuert gelegentlich noch einen Schuß ab. Aber auch die Deutschen, die nach dem anfänglichen Trommelfeuer einen Angriff erwarten hatten müssen, nützen die Situation nicht zu einem Gegenangriff aus, sondern verhalten sich friedlich. Eine Untersuchung hatte ergeben, daß es ein Korporal und die zwölf Mann seiner Gruppe gewesen waren, welche die Mannschaft des Regiments bewegen hatten können, sich dem Angriffsbefehl zu widersetzen. Auf Befehl des Divisionskommandeurs wird das ganze Regiment entwaffnet und gefangen gesetzt, während die dreizehn Hauptübeltäter abgesondert werden, um eine besondere Behandlung durchzumachen. Sehr rasch kristallisieren sich die beiden Hauptcharaktere und Gegenspieler heraus: auf der einen Seite der Korporal, auf der anderen Seite der Oberstkommandierende französische General, der „Generalissimo“, dem sämtliche alliierte Truppen unterstellt sind, vor allem die französischen, britischen und amerikanischen. Oft durch Anspielungen, vieles ambivalent in Schwebe haltend, wird der metaphysische Hintergrund des Korporals mehr und mehr sichtbar. So entspricht die Zahl der Hauptübeltäter der Zahl Christi und der zwölf Apostel. Es ist auch ein Verräter unter den zwölf. Mit größtem Nachdruck zeigt sich der unirdische Charakter des Korporals bei einer Untersuchung seiner Identität durch den Generalissimo. Ein britischer Oberst, ein amerikanischer Hauptmann und ein französischer Major haben ihn unter verschiedenen Namen an verschiedenen Plätzen gesehen. Der Oberst sah ihn in der Schlacht fallen, der Hauptmann hatte ihn sogar begraben und der Major hatte ihn beobachtet, wie er während eines Fliegerangriffs den schützenden Graben verlassen hatte und oben ohne Rücksicht auf die angreifenden Flugzeuge friedlich auf- und abspaziert war. Die Darstellung dieser Identitätsuntersuchung wirkt darum so ergreifend, weil Faulkner, der Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor durch dessen Roman Die Brüder Karamasow sehr genau kannte, den bei der Untersuchung anwesenden Korporal so stumm dabeistehen läßt, wie Dostojewski seinen Christus stumm bleiben läßt, während der Großinquisitor ihn überzeugen will. Der Korporal wird auch drei Mal versucht, wobei bei der ersten „Versuchung“ der Oberstkommandierende ihm die Herrschaft über die ganze Welt anbietet, wie Satan in der Schrift Christus. Der Korporal aber wählt das Martyrium und wird standrechtlich erschossen, gemeinsam mit zwei Verbrechern, die den beiden Schächern entsprechen. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 97 Für den Protestanten Faulkner ist es natürlich, von einer „unbefleckten Empfängnis“ abzusehen und den Korporal zu einem heimlichen Sohn des Oberstkommandierenden zu machen. Diese Entscheidung hat ebenso ungewöhnliche wie weitgehende metaphysische Konsequenzen, da auch der Oberstkommandierende kein gewöhnlicher Sterblicher ist. So heißt es einmal von ihm, daß er als junger, vielversprechender Hauptmann plötzlich verschwand, um dreizehn Jahre später wieder in den Listen der Armee als Brigadegeneral aufzutauchen. Die Figur der Martha, einer Halbschwester des Korporals, sagt ihm einmal, daß ihr Vater ihn „körperlich“ gesehen hätte. Vor allem aber hat Faulkner, als er als „writer in residence“ den Studenten der University of Virginia Rede und Antwort stand, auf die Frage eines Studenten über den alten Generalissimo erklärt: „Für mich hatte er die Bedeutung des finsteren, gefallenen Engels. Die guten, leuchtenden Cherubim scheinen mir nicht sonderlich interessant, mich reizt der gefallene Fürst der Finsternis.“ Auf eine weitere Frage fügte er dann noch hinzu: „Das Gefährliche an Satan bestand ja gerade darin, daß er den göttlichen Nimbus an sich reißen konnte. Dies machte ihn so fürchterlich mächtig, er konnte die Legende vom allmächtigen Gott für sich beanspruchen und dann Gott absetzen. Deshalb fürchtete ihn Gott selber.“ 14 Andererseits darf man nicht übersehen, daß der Oberstkommandierende gleichzeitig überaus realistisch wirkt, was so weit geht, daß er sogar Züge des französischen Marschalls Ferdinand Foch trägt. Zweifellos ist es jedenfalls unmöglich, manche der dichterischen Schöpfungen Faulkners überzeugend auf irgendeinen christlichen Fundamentalismus beziehen zu wollen. Der Dichter greift auf Christus selbst und die unmittelbar darauf folgende Zeit zurück. So spielen die beiden „Halbschwestern“ des Korporals Martha und Maria hier eine wichtige Rolle 15 , obwohl sie nur in zwei kirchlich approbierten Evangelien und zudem in der untergeordneten Rolle der Schwestern von Lazarus vorkommen. Auch ist der Korporal mit einer früheren Prostituierten aus Marseille, Magdalena, wenn nicht verheiratet, so zumindest verlobt. Alles das deutet auf gnostische Quellen hin. Ein Schweizer Kritiker, der eine der bisher besten Interpretationen des Romans geliefert hat, pries die „vollständige Verschmelzung von philosophischen Ideen mit der epischen Entwicklung“ und sprach von einer Verbindung des „intellektuellen magnetischen Felds von Manichäismus, Stoizismus und Christentum.“ 16 Vielleicht ist der Begriff Manichäismus hier zu eng gefaßt und man sollte von gnostischen Zügen sprechen. 14 Frederick L. Gwynn und Joseph L. Blotner, op. cit., S. 84 und 85. 15 Vgl. zu Martha und Maria Elaine Pagels: The Gnostic Gospels. New York 1981, S. 72 und 78, Willis Barnstone und Marvin Meyer (Hg.): The Gnostic Bible, Boston und London 2003, S. 267 f. und Bentley Layton (Hg.): The Gnostic Scriptures. New York 1987, S. 335. 16 Heinrich Straumann: Faulkner‹s crucifixion. In: Frederick J. Hoffman und Olga W. Vickery (Hg.): William Faulkner. Three Decades of Criticism. New York 1963, S. 349-381. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 98 Ein anderer Kritiker aber sprach davon, wie dieses Werk die ungeheure Macht der menschlichen Imagination sichtbar macht, „seine Geschichte in einen transzendenten Mythos zu verwandeln.“ 17 In ihrer großen Auseinandersetzung gelangen am Schluß der Oberstkommandierende in seiner negativen Weisheit und der Korporal in seiner positiven zumindest in einem Punkt zu einer Einigung: sie sind beide überzeugt, daß „der Mensch in seiner Torheit“ alles überdauern wird. Im Grunde reduziert das Gespräch den Widerspruch zwischen den beiden zu dem uralten Gegensatz von Geist und Macht, wobei Faulkner mit seinem Korporal natürlich auf Seiten des Geistes steht. Aber nicht nur um Geist und Macht geht es, sondern auch um Wahrheit und Lüge. Als die plötzlich ausbrechende Friedensbereitschaft der Mannschaften auf beiden Seiten sogar so weit führt, daß ein deutscher General von der anderen Seite auf der französischen Seite auftaucht, um das Problem des Waffenstillstands zu klären. Man einigt sich aber darauf, daß der Krieg fortgesetzt zu werden hat. Dies ist ein schönes praktisches Beispiel für Hermann Brochs Theorie vom Wertzerfall. Hier wird der Teilwert des Militärischen und damit die Fortführung des Krieges zum absoluten Wert erhoben. Damit wird tatsächlich das Chaos fortgesetzt anstatt aufgehoben. Faulkner hat übrigens, aus berechtigter Sorge, daß der Roman mißverstanden werden könnte, ein eigenes Vorwort dazu geschrieben, das aber dann nicht gedruckt wurde. Der erste Satz dieses Vorworts lautete: „Das ist kein pazifistisches Buch.“ 18 Natürlich nicht in dem Sinn, daß es für den Krieg wäre, sondern daß in dem gegenwärtigen Chaos mit seinen fortwährenden Kriegen etwas gefunden werden müßte, was stärker als der Pazifismus ist. Das bedeutet, daß es stärker sein müßte als die menschliche Neigung zur Kriegführung und der wahnhafte Durst nach Macht. Es müßte etwas sein, wodurch man das Feuer selbst benützen könnte, um das Feuer zu zerstören. Faulkner selbst hat einige Male - mit einer kleinen Verschiedenheit - das Problem des Gewissens hereingebracht und von einer Dreifaltigkeit des Gewissens gesprochen: Demnach repräsentiert der Charakter des jungen englischen Fliegerleutnants Levine den nihilistischen Aspekt des Gewissens. Das führt dazu, daß er schließlich gar nichts dabei findet, wenn General Luddendorf mit seinen Truppen England besetzt, wenn nur der Krieg aufhört. Der Meldegänger eines gleichfalls britischen Bataillons repräsentiert den aktiven Aspekt des Gewissens. Er setzt es zunächst durch, daß sein eigenes, englisches Bataillon und das ihm gegenüberliegende deutsche Bataillon aus den Gräben steigen und einander die Hände reichen. Doch sofort werden sie beide von der 17 Lewis P. Simpson in: Evans Harrington und Ann J. Aadie (Hg.): The Maker of the Myth. Jackson, Mississippi 1978, S. 136. 18 Vgl. Joseph Blotner: Faulkner, op. cit., S. 585. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 99 sehr viel stärkeren kriegerischen Macht der Artillerie durch ein Trommelfeuer vernichtet. Es mag sein, daß Faulkner sinnbildlich auf die mangelnde metaphysische Komponente hinweisen hat wollen. Aber das erwachte aktive Gewissen hat er jedenfalls trotzdem außerordentlich hoch geschätzt, denn der britische Meldegänger, der das Ganze ausgelöst hatte, überlebt schwer verletzt das Artilleriefeuer und hat im Roman das letzte Wort. Der dritte Aspekt des Gewissens ist der passive Aspekt, der in einem Fall vom Oberbefehlshaber selbst vertreten wird 19 , im anderen Fall durch den General- Quartiermeister, der beim Oberstkommandierenden auftaucht, um ihm sein Rücktrittsgesuch zu überreichen, der aber in seiner Passivität überredet wird, es wieder zurückzuziehen. Im Grunde ist es ohnehin zu spät, denn der Wahnwitz des Krieges hat bereits allzu viele Opfer gefordert und der General-Quartiermeister erkennt, daß er die Ernennung niemals hätte annehmen dürfen. 20 Der Gang der Handlung des Romans ist zusammengedrängt auf weniger als drei Wochen, aber es folgt ein Nachspiel, unter dem Titel „Morgen“, welches das Ganze endgültig vertieft und gleichsam rückblickend abrundet. Es enthüllt die Paradoxie des Menschen, ist Satire, Klage und Anklage in einem und besitzt sogar Züge eines Humors, der aus Tragik und tiefer Trauer quillt. In diesem Nachspiel wird der Leichnam des exekutierten Korporals seinen beiden Halbschwestern, Martha und Maria, und seiner Verlobten oder Frau Magdalena übergeben, die ihn zurückbringen auf den Bauernhof in der Gegend von St. Mihiel, wo er gelebt hat. Bald nachdem sie auf dem Hof angekommen sind, beginnt ein schweres Artilleriebombardement, dem sie durch Flucht entrinnen können. Als sie zurückkommen, finden sie nur mehr Splitter und Späne des Sarges, doch der Leichnam ist verschwunden. Als ein Jahr später, bereits nach dem Krieg, dieses Mal ein Feldwebel mit zwölf Mann und einem militärischen Sarg ausgeschickt wird, um in der Gegend von Verdun den vollständigen Leichnam eines französischen Soldaten zu finden, dessen Identität in keiner Weise festgestellt werden kann und der ausersehen ist, im Grab des unbekannten Soldaten beim Triumphbogen in Paris beigesetzt zu werden, da schrieb Faulkner ein geradezu komisches Gegenstück zu dem tragischen Geschick des vergeblich bestandenen Martyriums des Korporals. Unter den zwölf Soldaten auf dem Weg nach Verdun ist auch ein Einbrecher, der sich bei jeder Abwesenheit des Feldwebels zum Sprecher und Anführer der Gruppe aufwirft. Er stiftet sie an, den bei Verdun aufgefundenen Leichnam für zwei Flaschen Branntwein an eine Mutter zu „verkaufen“, die in ihm ihren gefallenen Sohn wiedererkennt. Nachdem der Branntwein ausgetrunken ist, wird den zwölf Soldaten klar, daß sie dringend einen neuen Leichnam brauchen. Der Zufall kommt ihnen zu Hilfe, denn sie stoßen auf einen Bauern aus der Gegend 19 Frederick L. Gwynn und Joseph L. Blotner, op. cit., S. 84. 20 Vgl. Joseph Blotner: Faulkner, op. cit., S. 585. Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 100 von St. Mihiel, der auf seinem Acker einen Leichnam, zweifellos jenen des exekutierten Korporals, gefunden hat. Obwohl er den Fund gemeldet hat, wurde der Leichnam noch nicht abgeholt und so verkauft er ihn gegen eine goldene Uhr den zwölf Soldaten. Das bedeutet aber, daß der Friedens-Korporal, der um des Friedens willen das Martyrium Christi auf sich genommen hat, nun im Grab des unbekannten Soldaten liegt, das für einen ganz anders gearteten Helden des Krieges geplant war. Den abschließenden Höhepunkt bildet das etliche Jahre später stattfindende feierliche Staatsbegräbnis des ehemaligen Oberstkommandierenden, das seinen eigenen Höhepunkt findet, da der Leichenzug zunächst zum Grab des unbekannten Soldaten zieht, wo die große Trauerrede unter Kanonen-Salut stattfinden soll. Nachdem der Leichenzug mit dem Toten auf einer Lafette unter feierlichem, gedämpften Trommelwirbel beim Grab des unbekannten Soldaten zum Stehen gekommen ist, beginnt der hochrangige Trauerredner, barhäuptig, nach einem Anruf des Marschalls seine Trauerrede. Da wird nun diese Feier auf das gröblichste unterbrochen. Ein Mann mit nur einem Arm und nur einem Bein aber mit hohen Kriegsauszeichnungen auf seiner Brust drängt sich auf seinen Krücken durch die Menge, und nimmt neben dem Trauerredner Aufstellung vor dem Sarg. Es ist der ehemalige Meldegänger des englischen Bataillons, der einen kurzen Waffenstillstand auf Bataillonsebene zustande gebracht hatte und dessen eine Körperhälfte von oben bis unten durch eine Granate des einsetzenden Trommelfeuers verbrannt worden war. Er beginnt nun, den toten Marschall zusammen mit England und Frankreich zu beschimpfen. Als er seine eigene, hohe französische Kriegsauszeichnung, die ihn bisher vor der Menge geschützt hat, sich abreißt, um sie auf den Sarg zu schleudern, stürzt sich diese Menge auf ihn, um ihn zu verprügeln, ja zu töten. Die anwesende Ordnungspolizei greift sofort ein, um ihn zu schützen. Ritus, Feierlichkeit und Trauer des Aufmarsches sind beim Teufel. Zuletzt liegt der Mann, halb bewußtlos geschlagen und blutend, am Rand des Gehsteigs in einer Seitengasse, bewacht von zwei Polizisten und umstanden von einem Rest der Menge, die auf ihn losgestürzt war. Da taucht ein großer, hagerer Mann mit militärischem weißen Schnurrbart auf mit Auszeichnungsbändchen im Knopfloch seines eleganten Mantels. Es ist der ehemalige General-Quartiermeister, Repräsentant des passiven Wissens, der sich hinabbeugt und seinen Arm unter den Kopf des ehemaligen Meldegängers und Repräsentanten des aktiven Gewissens schiebt. Er richtet ihn etwas auf, damit er um sich blicken kann. Jener beginnt zuerst zu lachen. Dann aber betrachtet er den Kreis der Zuschauer um ihn und sagt plötzlich französisch: „Zittert. Ich sterbe nicht. Niemals! “ Der alte Mann aber, der sich über ihn beugte, sagte: „Ich lache nicht. Was du siehst, sind Tränen.“ Faulkner und die mögliche Größe des Menschen 101 Faulkner hat einmal gesagt, daß die Schriftsteller eine „Geschichte schreiben, um darin vom Menschen zu erzählen, vom Menschen in seinem Widerstreit mit seinem eigenen Herzen, mit den Herzen anderer und mit seiner Umgebung“. Dieser „zeitlos ewige Kampf des Menschen, der unser Erbe ist und den wir immer wieder erleben, als hätte es ihn nie zuvor gegeben“, ist in Eine Legende, besonders bewegend und packend dargestellt und das Schlußbild des halb verbrannten Ex-Meldegängers, dieses „aktiven Gewissens“, der die Feierlichkeit des Staatsbegräbnisses des alten Marschalls zerstört hatte, und der, von der Meute zusammengeschlagen im Rinnstein der Gosse liegend, den Gaffern verkündet, daß er, als Stimme des Gewissens, niemals sterben würde, ist eines der unvergeßlichsten dichterischen Bilder, weit eindrucksvoller als ein langer und ausführlicher Friedenstraktat. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit „Ich wurde am 11. November 1928 unter dem Tierkreiszeichen des Skorpion geboren, das ich mir auch ausgewählt hätte und an einem Datum, das ich mit Dostojewski, Crommelynick und Vonnegut gemeinsam habe. Meine Mutter wurde aus einem dampfend heißen Kino ‚in das Krankenhaus gebracht‘. Sie hatte Karl Vidors Version von der Bohème gesehen. Vielleicht wurden die Schmerzen bei meiner Geburt durch die Abnormität des Stummfilms von Puccinis Oper ausgelöst. Seit damals haben das Opernhafte und das Filmische einen erbitterten Streit mit meinen Worten, als ob sie erwarteten, der Skorpion des Romans würde sich aus stummer Musik und blinden Bildern erheben. All das … trug sich zu in Panama City, wo mein Vater gerade seine Karriere als Attaché an der mexikanischen Gesandtschaft begonnen hatte.“ 1 Als Sohn eines Diplomaten sah Carlos Fuentes in seiner Kindheit und Jugend Mexiko Stadt, Washington, Rio de Janeiro, Santiago und Buenos Aires. Den tiefsten Eindruck auf ihn hinterließ Mexiko, wo er als Kind vor der Schulzeit alle Sommerferien verbrachte. Durch die Leidenschaft seines Vaters für den Film - er hatte ursprünglich Filmschauspieler werden wollen - sah auch Carlos Fuentes bereits in seiner Kindheit viele Filme. Die liberale Haltung seines Vaters und der mexikanische Patriotismus seiner Mutter haben ihn zweifellos prägen geholfen. Bereits als Dreijähriger hatte er ein besonderes und unvergeßliches Bildungserlebnis: Auf dem Schoß des mexikanischen Botschafters in Brasilien Alfonso Reyes hörte er zum ersten Mal von der Schönheit und Größe der Dichtung. Reyes war nicht nur Diplomat, sondern war nach dem Urteil von Borges auch der hervorragendste Prosastilist spanischer Sprache, der sich in etlichen seiner Bücher um die mexikanische Identität bemüht hatte. Fuentes erinnerte sich noch spät an Reyes als seinen am meisten bewunderten Mentor. Da die Eltern vor allem an Musik, Oper und Film interessiert waren, wurde durch Reyes der erste Grundstein für die spätere Hingabe von Fuentes an die Literatur gelegt. Als Carlos Fuentes geboren wurde, war Mexiko gerade dabei, eine Zeit der Selbstbesinnung auf seine präkolumbianische Vergangenheit durchzumachen, die nun als wichtige Wurzel der mexikanischen Kultur betrachtet wurde. Das Kind Carlos sah freilich von der Welt in Mexiko zunächst vor allem das Hotel Garci-Crespo in Tehuacán, den modischen Treffpunkt der reichen Mexikaner und Ausländer, und das Haus der Großeltern in der eleganten „Colonia Roma“ in Mexiko Stadt. 1 Carlos Fuentes: Myself and Others. New York 1988, S. 83. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 104 Um die französisch-spanische Schule im Bezirk San Angel zu besuchen, mußte er den O-Bus nehmen. Er besuchte sie aber nur, wenn die Cook Schule in Washington, in welche ihn die Eltern geschickt hatten, im Sommer Ferien hatte. Er wuchs von früh an zweisprachig auf. Noch spät erinnerte er sich, daß er schon während der ersten Stunden in mexikanischer Geschichte die Namen der aztekischen und toltekischen Götter gelernt hatte, die viele Jahre später in seinen Romanen auftauchen sollten. Als er die Elementarschulklassen absolvierte, war er in den ersten Jahren ein beliebter Anführer unter seinen Klassenkameraden. Als aber Präsident Cárdenas die nordamerikanischen Erdölgesellschaften verstaatlichte, wurde dies zu einem traumatischen Erlebnis für den Zehnjährigen, der sich ohne sein Zutun von einem Tag auf den anderen aus einem Liebling in einen Aussätzigen verwandelt hatte. Zum Glück war das Kind aber in einer wunderbaren Familienatmosphäre aufgewachsen, wobei noch dazu kam, daß sowohl er wie auch seine jüngere Schwester nicht nur geliebt, sondern auch in ihren Meinungen ernst genommen wurden, was im damaligen Mexiko mit seiner strengen Erziehungsdisziplin für Kinder völlig unüblich war. Das Alter von zwölf bis fünfzehn verbrachte Fuentes in den beiden südlichsten und zugleich europäischsten Staaten Südamerikas, in Chile und Argentinien. Im ersten Jahr in Chile besuchte er zwei vornehme Schulen, die „Cambridge-“ und die „Grange-Schule“. In letzterer traf er 1943 einen Schulfreund mit gleichen Interessen, Roberto Torriti, mit dem er gemeinsam einen Roman schrieb. Der Roman spielte in der Zukunft, beginnend mit 1945 und schilderte in seinem ersten Teil, wie ganz Europa sowjetisch wurde. Der zweite Teil spielte um 1980 und stellte den Zusammenbruch der Sowjetunion dar. Es war nur die erste der manches Mal überraschend richtigen Aussagen von Fuentes über die politische Zukunft. Einer der Lehrer der Grange-Schule aber erklärt ihm: „Du mußt ein Schriftsteller werden.“ Im Jahr 1943 übersiedelte die Familie nach Argentinien und hier vollzog sich nach dem unglaublichen Erlebnis des Kindes mit Alfonso Reyes ein zweites Erlebnis ähnlicher Art, allerdings infolge des höheren Alters von Fuentes auf einer entsprechend höheren Ebene, wenngleich vielleicht mit weniger Macht als das frühe Kindheitserlebnis. Er entdeckte Jorge Luis Borges, der an der Spitze der literarischen Avantgarde Argentiniens stand. Die Lektüre der Bücher von Borges zusammen mit Cervantes stießen ihm die Tür zu weltliterarischen Dimensionen auf. Durch den Band von Borges Ficciones entdeckte er eine Freiheit zu finden wie nie zuvor. Er hatte den Band gekauft, als er gerade erschienen war und las ihn auf seinem Flug von Buenos Aires über Miami nach Mexiko Stadt. Nach seiner Ankunft in Mexiko Stadt schloß der Sechzehnjährige seine Oberschulausbildung ab und begann Rechtswissenschaften zu studieren. Als er das Colegio Francés Morales besucht hatte, nahm er an einem literarischen Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 105 Preisausschreiben teil, bei dem die Einsendungen anonym zu erfolgen hatten. Als schließlich die Namen der prämierten Einsendungen veröffentlicht wurden, stellte sich heraus, daß er den ersten, zweiten und dritten Preis gewonnen hatte. Als er 1950 von Mexiko Stadt nach Genf flog, um ein Jahr am dortigen Institut des Haute Études zu studieren, unterbrach er den Flug in Paris, wo er in einem Existenzialisten-Nachtclub Octavio Paz traf, der gerade im Gespräch mit Camus war. Fuentes kannte einiges von Paz aus der Sonntagsbeilage der Zeitung Novedades. Der um vierzehn Jahre ältere sollte ein wirklicher Freund werden, über den Fuentes rückblickend urteilte: „Durch die großzügige Freundschaft von Octavio Paz lernte ich, daß es keine privilegierten Zentren der Kultur, Rasse oder Politik gab und daß nichts aus der Literatur ausgegrenzt werden sollte, da wir in einer Zeit tödlicher Reduktion leben.“ 2 Während des Jahres in Genf besuchte Fuentes auch andere europäische Städte. Nach seiner Rückkehr nach Mexiko Stadt war er die treibende Kraft, eine Zeitschrift mit dem Titel Medio Siglo zu gründen, ein Name, der zugleich der Name einer Gruppe junger Intellektueller und sodann ihrer ganzen Generation wurde. Fuentes war der Vorsitzende des Herausgeberkomitees. Die Zeitschrift nannte sich das Organ der Jurastudenten. Salvador Elizondo und Victor Flores Olea, Freunde von Fuentes, veröffentlichten darin einen sehr guten Aufsatz über „Die Idee des Menschen“ mit Kommentaren über Faulkner, Hesse, Huxley, Joyce und Kafka. Andere Autoren, welche die Studenten der Fünfzigerjahre für sich entdeckten, waren D. H. Lawrence, André Gide, T. S. Eliot und Thomas Mann. Seine wirkliche literarische Laufbahn begann Fuentes schließlich im Jahr 1953, in dem die anspruchsvolle Revista de la Universidad de México „Chac Mool“ veröffentlichte, eine Phantasie, rings um eine Fabel, in der ein mexikanischer, präkolumbianischer Regengott eine Rolle spielt. Im darauf folgenden Jahr kam sein erster Band mit Erzählungen mit dem Titel Los dias enmascarados, der sofort innerhalb von Mexiko ein Bestseller wurde. Die Phantasie wie der Erzählband standen beide unter dem Einfluß des Labyrinths der Einsamkeit von Octavio Paz, der selbst wieder in der Nachfolge von Samuel Ramos die mexikanische Identität zu konstituieren versuchte. Eine gewisse Fortsetzung der Suche nach dieser Identität stellte sodann die Revista Mexicana de Literatura dar, deren Mitbegründer Fuentes gewesen ist und die 1955 zu erscheinen begann. Hier zeigte sich klar und deutlich der Einfluß, den Alfonso Reyes bereits auf den Dreijährigen gehabt hatte, denn dieser hatte ihn gelehrt, daß die mexikanische Literatur nicht darum wichtig war, weil sie mexikanisch war, sondern weil es darunter gute Literatur gab. Die Revista war denn auch eine der ersten kosmopolitischen Literaturzeitschriften, wie sie damals in Lateinamerika zu erscheinen begannen. Sie brachte moderne europäische und nordamerikanische 2 Myself and Others, op. cit., S. 22. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 106 Autoren. Letztere hatte Fuentes schon früh durch seinen Vater kennengelernt, der ein Kenner der amerikanischen Literatur der Dreißigerjahre war. Abgesehen davon, daß es Fuentes bei der Literatur in erster Linie um dichterische Qualität ging, war er ein Anhänger engagierter Literatur. Er hatte mit seinem Vater abgemacht daß er zunächst sein Rechtsstudium abschließen würde, bevor er eine Laufbahn als Schriftsteller begann. Obwohl er sich bereits seit seinem ersten Erzählband zu einer solchen Laufbahn entschlossen hatte, war ihm dennoch klar, daß es in den Fünfzigerjahren noch keinen einzigen mexikanischen Schriftsteller gab, der von seinen Werken leben konnte. Auch während des Studiums hatte er daneben einige Posten und war 1954 Assistent des Pressesekretärs im mexikanischen Außenministerium. In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre begann er an seinem ersten Roman Landschaft in klarem Licht zu schreiben, welcher der erste umfassende Roman über Mexiko Stadt war und der 1958 erschien. Er folgte großen Vorbildern des modernen Romans und wurde mit den Städteromanen von John Dos Passos und Alfred Döblin zusammen gestellt. Er beginnt mit einem sprachlichen Feuerwerk, wie man es auch in Passagen bei Döblin finden kann, wie etwa gleich im Eingangsmonolog des Charakters Ixca Cienfuegos: „Geboren in Mexiko Stadt. Das ist nicht schlimm. In Mexiko ist nichts Tragödie, nur Makel.“ Bald darauf beschwört er aber auch bereits den präkolumbianischen und durchaus tragischen Mythos in der Person des Dämons Anáhuac, „der nicht Trauben preßt, sondern Herzen; der nicht gekelterten Balsam der Erde trinkt - Knochenleim ist sein Wein … Auf Knien, gekrönt mit Nopaldornen, gegeißelt von den eigenen (unseren) Händen. Sein Reigen (unser) Tanz, abgebrochen von einer gefiederten Lanze oder der Stoßstange eines Omnibusses; umgebracht im Blumenkrieg, bei einer Kneipenschlägerei, in der Stunde der Wahrheit …“ 3 Er ist der Dämon, der hereinreicht in die Gegenwart, Mexiko Stadt, „Stadt der verdrängten Niederlage … Stadt der ärmlichen Märkte, Fleisch in Trögen, Stadt, die Wut spiegelt, ersehntes Mißlingen, Stadt im Sturm der Kuppeln, Stadt, die den erstarrten Mund des durstigen, grindigen Bruders labt, Stadt aus Vergessen gewebt, wiedererstandene Kindheit, Federbusch, Stadt, Hundestadt, Hungerstadt, Prachtstadt, Stadt des Aussatzes und des verbissenen Zorns. Weißglühender Kaktus. Flügelloser Adler. Schlange aus Sternen. Hierher hat’s uns verschlagen. Was sollen wir machen - hier, wo das Licht am klarsten ist.“ 4 Am Beispiel einiger Familien Mexikos entwirft der Roman an der Oberfläche in krassem Realismus, der jedoch eine tiefreichende psychologische Dimension und darüber hinaus auch noch eine mythische hat, ein lebendiges Bild aller Klassen, aller Arten von Menschen. Der zentrale Zusammenhalt besteht in der 3 Carlos Fuentes: Landschaft in klarem Licht. Stuttgart 1974, S. 7. 4 Landschaft in klarem Licht, op. cit., S. 9. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 107 Kritik, die der Autor nicht so sehr an dem staatlich durchgeführten Projekt der Modernisierung und Industrialisierung der Stadt selbst übt als an den nicht geplanten Konsequenzen für zahllose menschliche Schicksale. Dadurch wurde der Roman sofort auch berühmt durch die Polemiken, die er auslöste. Nun war Fuentes in Mexiko wirklich bekannt, allerdings nicht durch die künstlerische Dichte seiner Sprache. Am Ende der Fünfziger- und Beginn der Sechzigerjahre machte Fuentes seine politisch radikalste Phase durch, wahrscheinlich im Nachhang zu des Senators Joseph McCarthys Fanatismus. Er gehörte der Generation des Medio Siglo an, die schon in den frühen Fünfzigerjahren Ideen von Rousseau und Marx angehangen hatte. Fuentes selbst hat seinen dritten Roman Nichts als das Leben: der Tod des Artemio Cruz, der 1962 erschienen war 5 , dem marxistischen Professor Charles Wright Mills gewidmet, der nicht nur die Sowjetunion, sondern auch als einer der ersten U.S. Amerikaner Castros Kuba besucht hatte. Auch Fuentes war in den frühen Sechzigerjahren wie viele seiner Studienkollegen ein Anhänger Castros. Während aber die einen später in einen radikalen und gefährlichen Linkskurs ausuferten, wandte sich Fuentes bitter enttäuscht von Castro ab, dessen Unterdrückung der Geistesfreiheit und dessen Abkehr von demokratischen Prinzipien und Prozessen für ihn unannehmbar waren. Die linke politische Zeitschrift Politica, an der er mitgearbeitet hatte, segnete denn auch 1967 das Zeitliche. Fuentes hatte sich vorübergehend einer undogmatischen „Neuen Linken“ vor 1968 zugewendet und für immer wieder abgewendet. Niemals abgewendet hat er sich von der Tradition des modernen Romans des 20. Jahrhunderts, der bereits sein erster Roman Landschaft in klarem Licht verpflichtet war. Die Romane von Faulkner, Dos Passos, Joyce und Proust waren wichtige Einflüsse und mit ihnen jene modernen Erzählstrategien, welche auf die Überwindung des traditionellen, „psychologischen“ Romans des 19. Jahrhunderts abzielten. Die Abwertung der Fabel, mehrfache und wechselnde Perspektiven und schematische Ansichten, das Anstreben von Simultanität, lyrisierende Elemente und das weitgehende Verschwinden des auktorialen Erzählers, ja in Terra Nostra sogar die Auflösung der Charaktere, waren kennzeichnend für die Formen dieses Romans. Lateinamerikanische Kritiker sprachen wie Hermann Broch von einem „totalen Roman“. Und parallel zu Joyce oder zu Brochs Tod des Vergil führten sie Vargas Llosas Gespräch in der Kathedrale, Cortázars Himmel und Hölle und nicht zuletzt Fuentes’ Terra Nostra als einige der wichtigsten lateinamerikanischen Beispiele dafür an. Das Jahr 1967 war ein wichtiges Jahr für Fuentes. Er veröffentlichte zwei Romane, Hautwechsel und Zona Sagrada 6 , er erhielt den bedeutenden spani- 5 1962 erschien das spanische Original La muerte de Artemio Cruz. 6 War zur Zeit der Abfassung noch nicht ins Deutsche übersetzt. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 108 schen Literaturpreis „Bibliotheca Breve“, er unternahm seine erste Reise nach Spanien und er besuchte zum ersten Mal den El Escorial, der für sein Schaffen von großer Bedeutung werden sollte. Das Jahr 1968 verlief in Mexiko infolge der starken Präsenz des sowjetischen Geheimdienstes blutiger als in anderen Staaten. Als es gelungen war, die Arbeiter, Studenten und Intellektuellen zu einer großen Massendemonstration zu organisieren, setzte die Regierung Truppen ein und hunderte mexikanischer Bürger wurden getötet. Fuentes, der in Europa gewesen war, reiste im November nach Mexiko, um zu versuchen, womöglich noch Ärgeres zu verhindern. Er hatte zuvor mit anderen lateinamerikanischen Autoren die Tschechoslowakei in der Zeit ihrer Krisis besucht, da sie von Warschauer-Pakt-Truppen besetzt worden war und Autoren ins Gefängnis wanderten. Im Jahr 1969 veröffentlichte er seinen ersten Essayband La nueva novela hispanoamericano über den neuen Indo-Afro-Ibero-Amerikanischen Roman, in dem er vor allem die Wichtigkeit des Mythos unterstrich. Im November 1970 hatte er die Journalistin Sylvia Lemus kennengelernt, die er im Januar 1972 in Mexiko Stadt heiratete. In den darauf folgenden Jahren begann der Kosmopolit Fuentes sein unstetes Leben aufzunehmen. Er lebte abwechselnd in Frankreich, England, Spanien, in den USA und natürlich immer wieder in Mexiko. Er lehrte für kurze Zeit an einer Reihe von Universitäten, darunter an so berühmten Institutionen wie Dartmouth College und Harvard in den USA und im englischen Cambridge. Eine etwas längere Periode arbeitete er am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington. Von 1974 bis 1977 war er mexikanischer Botschafter in Paris. Die meisten modernen lateinamerikanischen Schriftsteller, die durchwegs politisch links standen, waren trotz verschiedener Ansichten zunächst miteinander befreundet, bis die Padilla-Affäre sie in zwei Gruppen trennte. Der kubanische Lyriker Heberto Padilla - später verfaßte er auch einen Roman und einen Essayband - war in Kuba zunächst unter Hausarrest gesetzt und 1971 wegen seiner Gedichte eingekerkert worden. Eine Reihe berühmter lateinamerikanischer Schriftsteller, Vargas Llosa, Donoso und auch Fuentes unterzeichneten einen Protestbrief an Castro, der zunächst keinerlei Wirkung hatte. Von da an trennten sich diese Autoren von jenen, die mit der Unterdrückung der Geistesfreiheit und der Verletzung der Menschenrechte offenkundig einverstanden waren, da sie den Protest nicht unterzeichnet hatten, wie Garcia Márquez und Julio Cortázar. Das ist bei Schriftstellern und geistigen Menschen noch viel böser und verwerflicher als bei gedankenlosen Normalmenschen. Nach seiner Heirat war Fuentes mit seiner Frau sofort nach Paris gereist, wo er an dem 1968 in London begonnenen Roman Terra Nostra weiterarbeitete. Er schrieb von da ab an seinem Opus magnum weiter, bis es 1974 fertiggestellt war und 1975 erscheinen konnte. Auch während seiner Zeit am Woodrow Wilson International Center for Scholars hatte er an dem Roman geschrieben. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 109 Ein mexikanischer Kritiker von ausgesuchter Blindheit für dichterische Größe glaubte herausgefunden zu haben, daß der Roman mit seinen fast 900 Seiten zwar so dick wäre wie ein Sears-Roebuck-Katalog über tausende Verkaufsartikel, aber lange nicht so interessant. Sehr viel näher der Wahrheit kommt bereits der Hinweis einer außerordentlich gelehrten Literaturwissenschafterin, wonach dieser Roman mit einem solchen „Sturzbach von Worten und einer solchen Sintflut von archetypischen Symbolen“ geschrieben sei, „daß nur sehr wenige Kritiker Geschmack daran finden“ und „die Geduld aufbringen können,“ um „bis zum Ende zu steuern.“ 7 Es ist durchaus bezeichnend, daß dieser Roman wie ein wissenschaftliches Werk mit einer Danksagung an geistige Vorbilder und praktische Helfer beginnt, die von zeitgenössischen lateinamerikanischen Autoren bis zu spanischen Dichtern des 16. Jahrhunderts reichen und von Bibliothekaren der Hebräischen Universität in Jerusalem über die British Library in London bis zur Kongreßbibliothek in Washington. Ein besonderer Dank für die totale geistige Freiheit gilt dem Woodrow Wilson International Center for Scholars. Wobei es in diesem Buch allerdings nicht um empirische, sondern um dichterische Wahrheit geht und einen solchen Reichtum an Phantasie, daß etliche der dichterischen Bilder an Kafkas Erzählung von der „Verwandlung“ eines Menschen in einen Käfer erinnern, die nicht zufällig auch einmal erwähnt wird, wie etwa das Bild der Darstellung, wie eine wilde Wölfin ein menschliches Baby gebiert. Wie aber der zum Käfer verwandelte Mensch, zuletzt völlig hilflos auf dem Rücken liegend, völlig zugrunde geht, und das Opfer der Verachtung und Unterdrückung seiner menschlichen Umwelt symbolisiert, so versinnbildlicht die Kopulation eines Mannes mit einer Wölfin bei Fuentes die Vereinigung zweier Bestien. Da in allen drei Fällen im Roman der Vater dieser wolfsgeborenen Söhne Philip I. von Spanien ist, sind sie alle drei „königliche Bastarde“. In der eigenen Bastardgruppe der menschlichen Hauptcharaktere des Romans, die nach dem Inhaltsverzeichnis aufgelistet wird, ist allerdings nur einer der drei als der „idiotische Prinz“ verzeichnet. Philipps Gattin Johanna, die über dem Tod ihres Gatten den Verstand verloren hatte, weigerte sich, ihn zu begraben. Sie fuhr mit dem Toten lange Zeit von Kloster zu Kloster, jedoch nur zu Mönchs- und nicht zu Nonnenklöstern, weil die zu recht Eifersüchtige befürchtete, er könne sogar noch im Tode eine der Nonnen verführen. Johanna spielt in dem von Philipp II. errichteten El Escorial insofern eine Sonderrolle, als sie nicht wirklich sterben kann und ihr Geist von ihrem Enkel - im Roman als ihr „Sohn“ apostrophiert - zu Gesprächen im Mausoleum aufgesucht wird. Die drei Söhne Philipps I. mit einer Wölfin werden im Roman als Stiefbrüder Philipps II. genannt, obwohl sie seine Onkel gewesen wären. Sie sind alle drei 7 Gloria B. Duran: The Archetypes of Carlos Fuentes. Hamden, Connecticut 1980, S. 150. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 110 mit einem blutroten Kreuz auf dem Rücken und mit sechs Zehen an jedem Fuß geboren worden. Der Titel des Romans Terra Nostra ist in Anlehnung an die Bezeichnung des Mittelmeers als Mare Nostrum gewählt. Der Titel bezeichnet die gesamte „spanische Welt“ 8 , von ihren ältesten Anfängen bis zu ihrer größten Ausdehnung im Weltreich Karls V., also mit Einschluß Flanderns, der nordafrikanischen und der amerikanischen Gebiete. 9 Das erste und das letzte Kapitel des Romans ufern allerdings als eine Art Rahmen aus auf die benachbarte und in vielem doch so verschiedene, wo nicht gegensätzliche romanische Welt von Paris. An einer Stelle des Romans weist der Autor selbst auf eine der Neben- und Mitbedeutungen des Titels hin, indem er auf den sprachlichen Zusammenhang von „Terra“ mit „Terror“ aufmerksam macht, was mit der Sehnsucht zusammenhängt, diese Erde der Terra Nostra zu verlassen. Eine zweite Nebenbedeutung des Titels ergibt sich, wenn die Gattin von „El Señor“, das ist die Königin, die sich mit Magie und Teufelsbeschwörung befaßt und im Zusammenhang damit auch einiges von der Alchemie aufgeschnappt hat, das alchemistische Codewort VITRIOL mit ihrem Zauberstab in den Sand schreibt. Dieses aber hat die Bedeutung „Ich suche das Innere der Erde; dort werde ich den Stein der Weisen finden.“ Der Roman enthält nicht nur eine Art Danksagung, sondern kaum weniger üblich für einen Roman, eine Liste der wichtigsten Charaktere, die darin vorkommen. Sie sind in Gruppen geordnet. Die erste Gruppe ist diejenige der königlichen Familie. Sie umfaßt Philipp I., seine Gattin, Johanna die Wahnsinnige, sowie Philipp II., Sohn Karls V. und dessen Gattin. Obwohl Philipp II. in der Realwirklichkeit Maria von England als zweite Gattin gehabt hatte, wird diese in der dichterischen Wahrheit des Romans durch Elisabeth Tudor ersetzt. Unter großer Benützung dichterischer Freiheit werden die spanischen Könige zwischen Philipp I. und Philipp III. manches Mal gesondert behandelt, mitunter werden aber auch zwei oder drei zu einer Einheit zusammengezogen, wobei diese Zusammenziehung durch Vermeidung der Namen erreicht wird, da einfach von „El Señor“ die Rede ist, der für einen wie für mehrere stehen kann. Die Kern-Person dieser Zusammenziehung ist allerdings Philipp II., nicht zuletzt, weil er der Erbauer des El Escorial ist, in dem sich nicht nur ein großer Teil des Geschehens des Ersten Teils abspielt, sondern weil dieser Escorial darüber hinaus eine alles andere beherrschende dominierende Stellung dadurch einnimmt, daß er auch eine sinnbildliche Bedeutung besitzt. Denn dieser Escorial sollte nach Philipps II. Wunsch nicht nur ein Pantheon 8 Und zwar in einem noch umfassenderen Sinn als Fuentes diese selbst in seinem den Roman ergänzenden Sachbuch Der begrabene Spiegel, Frankfurt am Main 2007 dargestellt hat. 9 Vgl. Carlos Fuentes: Terra Nostra. Harmondsworth, Middlesex 1987, S. 866. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 111 und Mausoleum der spanischen Könige und eine „Burg der Eucharistie“ sein, sondern er repräsentierte durch das herbei geschaffte Material wie durch die beschäftigten und beteiligten Handwerker und Künstler die internationale Welt, die sich in Spanien vereinigt hatte und die von Spanien selbst über Italien und Flandern bis Indien reichte. Die religiösen Bilder allein kamen aus Colmar und Ravenna, aus Herzogenbusch und Orvieto. Die multikulturellen und multiethnischen Kräfte Spaniens selbst waren zu mächtig, um trotz der Ausgrenzungsversuche durch Philipp II. völlig unterdrückt werden zu können. Es gab sogar subkutan und oftmals versteckt einige vom Geist der Renaissance, angekündigt nach der Perspektive von Fuentes durch Juan Ruiz und verwirklicht durch Fernando de Rojas, Marsilius Ficinus und den großen Erasmus. Der Escorial bildet ein Hauptsymbol des Romans, da er einerseits sogar in seiner Architektur spanische, arabische, römische und flandrische Züge verband, zugleich aber von Philipp II. als Festung der Ausgrenzung und Unterdrückung geplant und ausgeführt worden war. Er stand für die Verhinderung des Aufblühens der Renaissance und das lange anhaltende Zurückdrängen der Aufklärung. Unter Philipp II. gehörte Dante zu den verbotenen Autoren. Von hier aus betrachtet, konnte gesagt werden, daß die literarische Laufbahn von Fuentes ein kontinuierliches Schreiben und Wiederschreiben von Terra Nostra gewesen ist. Denn wie in diesem Hauptwerk geht es immer wieder um das lebenslange Erforschen der historischen und besonders der spanischen Ursprünge, geht es um die Identität von Mexiko im besonderen und die von Indo-Afro-Ibero-Amerika im allgemeinen. 10 Wobei es Fuentes immer um eine menschheitlich universale Haltung ging, die sozialen evolutionären Entwicklungen nach allen Seiten offen war. Dabei war Fuentes keineswegs der Anhänger eines einlinigen, naiven Fortschrittsglaubens. So sieht er viel Positives im Mittelalter, wie etwa El libro de buen amor von Ruiz, der an die Lyrik der Troubadours und an Ovid angeknüpft hatte oder die erotische Literatur der Araber. Vor allem aber fußte das meiste im Mittelalter auf dem „göttlichen Wort“. Dies ist auch wichtig, um das Werk von Cervantes zu verstehen, da dieser in der Zeit der Gegenreformation lebte, mit all der Härte und Orthodoxie des Mittelalters, aber ohne dessen Vorzüge. Umgekehrt sah Fuentes auch in der „nächsten Welt“, der kommenden Welt nach der alten genau so arge Grausamkeiten und Entsetzlichkeiten wie in der alten Welt. Es ist auch nicht ein beschränkt nationalistisch-imperialistischer Standpunkt, weshalb der Ausgangspunkt des Romans, sein „Erster Teil“ über „die alte Welt“ nicht mit der Zeit der spanischen Weltherrschaft im 16. Jahrhundert einsetzt, 10 Vgl. Raymond Leslie Williams: The Writings of Carlos Fuentes. Austin 1996, S. 44. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 112 sondern genau das Gegenteil davon wird angestrebt. Denn Fuentes sah das Spanien des 16. Jahrhunderts ganz wie Ortega y Gasset als ein Land in Unrast und in tiefer Krise. Liest man seine Darstellung dieser alten spanischen Welt des 16.- Jahrhunderts im ersten Teil von Terra Nostra, dann ist es bei all der aufgezeigten geistigen Beschränktheit, der Versklavung der Menschen und den vielen Grausamkeiten schwer, nicht in eine hoffnungslose, tiefe Desillusion zu verfallen. Diese tiefe Krise findet eine Parallele in unserer Gegenwart und im Roman heißt dies im dritten Teil über „die nächste Welt“ und ganz besonders steht das Schlußkapitel dafür. Wie aber Broch die Parallele der tiefen Krise im Rom des Augustus mit jener unserer Gegenwart offenlegt, so vergleicht Fuentes die Krise Spaniens im 16.-Jahrhundert mit jener seiner Gegenwart. Um diese Parallele so recht sichtbar zu machen, läßt er seine beiden Charaktere aus dem 16. Jahrhundert, Agrippa, einen Bastard Philipps II., und Celestina wiederum im 20. Jahrhundert auftreten. Umgekehrt verlegt er den modernen Ulysses von Joyce und die Figur Pollo Phoibees aus Ezra Pounds Gedicht „Cino“ zurück in das 16. Jahrhundert. Don Quijote, der einmal sogar mit Don Juan zu einer Person zusammengezogen wird, erscheint in der Wall Street. Es geht aber nicht nur um die Zeitverschränkung des 16. mit dem 20.-Jahrhundert, wobei die größte Gefahr des Chaos der Krise durch den Vergleich besonders herausgearbeitet wird, sondern all dies hängt auch mit der Funktion der Zeit im Werk von Fuentes zusammen. Moderner Autor, der er ist, und der mit Proust, Joyce, Dos Passos, Virginia Woolf und Faulkner zusammengestellt werden konnte 11 , hat er sich mit Wesen und Funktion der Zeit besonders auseinandergesetzt. Seine Weise, „sich Vergangenheit auszudenken und sich der Zukunft zu erinnern“, schafft eine Art von Simultanität, die ihrerseits wieder mit einer besonderen Art von Wiedergeburten zusammenhängt. Das wird beispielsweise besonders deutlich in der Darstellung, als er Philipp II. aus seinem Sarg steigen läßt, in dem der bereits vermodernde, leblose Körper zurückbleibt. Denn diese Figur wird in gleicher Grausamkeit und Hinterhältigkeit in einem späteren Jahrhundert wieder auftauchen und Verhängnis säen. Obwohl die einzelnen Details der historischen Realwirklichkeit völlig belanglos sind, da sie durch eine sublimierte Verdichtung auf das Wesentliche und durch die Imaginationskraft des Autors ersetzt werden, sind die historischen Quellen, aus denen er für sein dichterisches Werk geschöpft hat, doch deutlich wahrnehmbar. Für Spanien sind es vor allem Alfonso Reyes und Manuel Pedroso, die selbst wieder von Ortega y Gasset und Americo Castro her kommen und für die präkolumbianische Welt ist es Jacques Soustelle. 11 Raymond Leslie Williams, op. cit., S. 98. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 113 In einem der beiden Sachbücher, die eine Art Nebenprodukt und Ergänzung zu Terra Nostra darstellen, in Cervantes o la critica de la lectura hat er aber eine der Hauptideen des Romans als Ergebnis der Studien von Americo Castro enthüllt, nämlich daß der originellste und universalste spanische Genius seine Ursprünge in Lebensformen hat, die im Verlauf von neunhundert Jahren durch die Verschmelzung von christlicher, islamischer und jüdischer Geistigkeit entstanden waren. Darum gibt es viele intertextuelle Einflüsse von Autoren wie den bereits genannten beiden Juan Ruiz und Fernando de Rojas, dazu von Tirso de Molina, José Luis Cuevas und Franciso Quevedo. Eine besondere Bedeutung kommt Erasmus vor allem mit seinem Lob der Torheit, Cervantes mit seinem Don Quijote und Borges mit der Simultanschau seiner Labyrinthe zu. Den „Pierre Menard“ von Borges hat Fuentes in seinem Roman umgeschrieben. Für Technik und Komposition des Romans ist der wichtigste Einfluß aber jener von Joyce. Von der Bibel bis zur Mystik der Kaballah hat Fuentes ebenso entlehnt wie aus den Briefen von Kolumbus und Cortez. Zuletzt sei noch der Freund und Landsmann von Fuentes, Octavio Paz erwähnt, der besonders durch sein Buch El arco y la lira und mit seinem Labyrinth der Einsamkeit Einfluß genommen hat. Will man das Skelett einer Fabel freilegen, dann besteht diese vor allem darin, daß nach den Schilderungen der schier entsetzlichen Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten des fürstenhöfischen Absolutismus im Spanien des 16.- Jahrhunderts zunächst zwei Charaktere des Romans diesem Schrecken der Alten Welt in die Neue Welt Amerikas entfliehen, die zu den ersten Weißen gehören, die in Lateinamerika landen. Der eine Alte, der von vornherein das Schiff zu bauen begonnen hatte, war der frühere Leibeigene und Matrose Pedro aus der vielleicht positivsten Charaktergruppe der „Träumer“, der andere, Junge, war einer der „Bastarde“, der selbst weder seine Herkunft noch seinen Namen kannte und „der Pilger“ genannt wurde. Er ist es, der aus seiner Perspektive den Reisebericht schreibt. Als die beiden in der Neuen Welt gelandet waren und sich am menschenleeren Strand ein Haus gebaut hatten, bricht es aus dem alten Pedro heraus: „Jetzt kann kein Lehensherr mehr mir die Frucht meiner Arbeit nehmen, mein Haus niederbrennen und meine Söhne ermorden.“ - was ihm alles widerfahren war, - „Jetzt bin ich frei. Ich habe gesiegt! “ 12 Mit solcher Freiheitssehnsucht waren die „Träumer“ in das Land gekommen. Doch die Seligkeit war von kurzer Dauer. Eine Flotte von primitiven Kanus mit Eingeborenen aus dem Dschungel tauchte auf. Sie löschten das Feuer der beiden Ankömmlinge und begannen sodann zuerst den Zaun um das Haus und sodann das Haus selbst zu demo- 12 Terra Nostra, op. cit., S. 435. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 114 lieren. Der alte Pedro, aufgeregt und zutiefst erzürnt, hört nicht auf den Rat des Pilgers, ihnen ein Geschenk zu geben, sondern fängt einen Faustkampf mit den Eingeborenen an. Zuletzt endet er mit einigen wohl gezielten Speeren in seinem Herz. Der Pilger schenkt dem Anführer eine Schere, das einzige, was er bei sich hat. Er paßt sich an und dadurch überlebt er nicht nur, sondern gelangt zu einer hohen Position. Freilich war diese erste Begegnung der Weißen mit den Eingeborenen ein allzu vereinfachtes und irreführendes Modell. Nicht nur muß der Pilger entdecken, daß die Eingeborenen, unterdrückt von einer korrupten Priesterkaste ihre eigene Welt der Grausamkeit in Form von Menschenopfern aufgebaut hatten, sondern als Guzman, der Vertraute und Stellvertreter von „El Señor“, mit spanischen Soldaten landet, beginnt er sofort die spanische „Alte Welt“ der Unterdrückung und Versklavung, der Grausamkeit und des Mordens aufzurichten. Als der alte Pedro noch in Spanien an seinem kleinen Schiff gebaut hatte, da erklärte er, wohin sie auch kämen, jedes andere Land müsse besser sein, als jenes, das sie hinter sich lassen wollten. Jetzt hätte dieses Land ihn in der Neuen Welt eingeholt, wenn er nicht getötet worden wäre. Freilich geht es der dichterischen Totalitätserfassung des Romans um mehr, als jene äußerlichen und sozialen Seiten, die durch politische Macht völlig unterdrückt werden können. Diese Gesamttotalität schließt Gebiete ein, die der politischen Macht nicht zugänglich sind: die Welt des Traumes, der mystischen Traditionen und des Mythos. Gewiß kann die praktische Organisation und öffentliche Verbreitung auch mystischer Traditionen verboten werden, aber das Geistige, der Geist selbst ist letztlich für organisierte Macht ebenso unerreichbar wie die Liebe. Der Hofminiaturist, Bruder Julian, erzählt beispielsweise El Señor über solche Sondergebiete und es ist kein Zufall, daß es der Hofdichter und Hofchronist ist, von dem er berichtet, daß es nicht nur die syrische Gnosis des Saturnius und die ägyptische Gnosis des Basilides ist, sondern auch die jüdische Gnosis des Cerinthus und der Ebioniten, die jener kannte und anerkannte. Auch wenn solches „Wissen“ mit Galeere und Folter, Gehenkt- und Verbranntwerden geahndet wurde, es existierte und überlebte trotzdem. Das gnostische Sinnbild der Großen Mutter hatte bereits im Erzählband Compleaños von Fuentes als Demeter und Erd-Mutter eine Rolle gespielt und tauchte in neuer Gestalt in Terra Nostra als dreigesichtige Hekate auf. Der Wahnwitz und die Grausamkeit der fürstenhöfischen Tyrannis und Menschenversklavung steht für die Schein-Ordnung des Escorial, und sie bedeutet in Wahrheit das Chaos, auch wenn es noch so streng verboten ist, das auszusprechen. Darum erklärt Celestina, die eines der drei Gesichter Hekates repräsentiert, dem König, daß sie wünscht, er möge diese „Ordnung“ zerbrechen wie einen vollkommenen Kristallkelch, um einer Weisheit willen, welche die wirkliche, göttliche Ordnung verbürgt und die nicht durch Macht oder Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 115 Bücher oder Arbeit offenbar wird, sondern durch Liebe. Allerdings einer allumfassenden Liebe, in die man sich für immer ganz verliert ohne Hoffnung auf Erlösung. 13 Natürlich denkt der König nicht im Schlaf daran, diese von ihm selbst errichtete Scheinordnung der Macht auch nur anzutasten und es ist diese Scheinordnung, die auch in der Neuen Welt, welcher der zweite Teil des Romans gewidmet ist, Fuß zu fassen versucht. Freilich ist nach Fuentes das Positive der Alten Welt die multikulturelle Mischung von Christen, Arabern, Juden, Griechen, Karthagern, Römern, Goten und Zigeunern. Auch diese positive Grundkultur trifft nun in der Neuen Welt auf die Herausforderung durch „die anderen.“ Das sind die Arawaks, die Azteken, die Quechuas und andere Gruppen von Indios. Demgemäß kulminiert der zweite Teil des Romans in positiver Hinsicht in der Erzählung eines amerikanischen Mythos, der dem Charakter des Pilgrim durch den greisen Häuptling des Dschungelstammes anvertraut wird. Der Alte starrt in eine ungewisse Ferne, als er beginnt: „Wir werden eins werden mit unserem Gegenpol - Mutter, Frau, Erde - die auch nur ein Geschöpf ist und uns als Eines in ihren Armen empfängt.“ Sodann aber, nachdem er die Geschichte der „Erdmutter“ berichtet hat - eine andere Perspektive und eine andere Nebenbedeutung des Titels von Terra Nostra - erklärt er noch folgendes: „Der Himmel ist zeitlos, denn im Himmel ist für immer alles dasselbe … Es ist die Erde, die Zeit braucht, um geboren zu werden, zu wachsen und zu sterben. Und sie braucht Zeit, um wieder geboren zu werden.“ 14 Die Erdgöttin aber erschuf drei Götter, einen rot, einen weiß und einen schwarz. Das bedeutet, daß die Große Mutter der Gnosis ihr paralleles Gegenstück in einer Erdmutter der Indios fand und die drei Stammesväter der judäo-christlichen Tradition Ham, Sem und Japhet durch eine andere, jedoch ähnliche Dreiheit ersetzt wurde. Diese Änderung zieht Sem und Japhet zu einem zusammen, um die Eingliederung Amerikas zu ermöglichen. Die Dreizahl und daneben die dreiunddreißig spielen bei Fuentes eine sehr wichtige Rolle. Wie überhaupt Zahlensymbolik wichtig für den Roman ist. So erklärt der Alte des Dschungelstammes dem Pilgrim die symbolische Bedeutung der Zahlen 20 und 13. Zwanzig ist demnach die natürliche Zahl des vollständigen Menschen, weil es die Zahl aller Finger und aller Zehen ist. Das unterstreicht die Sonderstellung des Pilgrim mit seinen zwei mal sechs Zehen. Dreizehn aber ist die unerfaßbare des Mysteriums und paßt darum für die Götter. 15 13 Terra Nostra, op. cit., S. 295. 14 Terra Nostra, op. cit., S. 452 f. 15 Terra Nostra, op. cit., S. 456. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 116 Der Alte erklärt dem Pilgrim auch, daß Leben, Tod und Erinnerung ein einziges Sein darstellen. Der Roman zeigt nicht nur, wie die Indios den Weißen gegenüberstehen, sondern auch wie die Weißen den Indios als den „anderen“ gegenüberstehen. Der Pilgrim trifft auf seinen Doppelgänger und „Schatten“, der allen anderen Indios erklärt: „Das“ - und er zeigt auf den Pilgrim - „das ist Quetzalcoatl, der weiße Gott, der Feind der Menschenopfer, der Feind des Krieges, der Feind von Blut, der Freund des Lebens, der eines Tages nach dem Osten floh mit Trauer und Zorn im Herzen, weil seine Lehren zurück gewiesen wurden.“ 16 Der weiße Messias, die gefiederte Schlange, der Gott Quetzalcoatl, für den der Pilgrim gehalten wird, war bei den Azteken der Gott des Windes, des Himmels, aber auch der Erde, wodurch dem Titel Terra Nostra noch eine weitere Neben- und Mitbedeutung zuwächst als Gegenpol zum „Terror“. Den Terror schufen die meisten Spanier bei ihrem Zusammentreffen mit den „anderen“. Als die Ausbeutung und Versklavung der Eingeborenen dazu geführt hatte, daß sie zu rebellieren begannen, wurde es noch böser. Die Spanier verwüsteten die Felder und verbrannten Ernten, manchen der Indios wurden „Eigentumsstempel“ eingebrannt, viele wurden ermordet, viele als Sklaven mitgenommen. Kleinkinder wurden dem Verhungern ausgesetzt, größere Kinder wurden getötet. Hoch über alldem steht die distanzierte Weisheit und Prophetie des Stammesalten gegenüber dem Pilgrim, der für ihn Quetzalcoatl repräsentiert und der ja auch völlig verschieden ist von der spanischen Soldateska. Der Kern seiner Botschaft an den Pilgrim aber lautet: „Du wirst immer verlieren. Du wirst immer wieder kommen. Du wirst wieder verlieren. Du wirst dich nicht zerstören lassen. Du kennst die Un-Ordnung des Menschenlebens, denn du hast sie begründet, mit Menschen, die nicht geboren wurden, einander zu verschlingen wie wilde Tiere, sondern um entsprechend den Lehren des Tagesanbruchs zu leben, deinen Lehren.“ 17 Da aber der Pilgrim fragt, ob dieser Kampf niemals ein Ende finden wird, erklärt ihm der Alte: „Niemals, mein Bruder, mein Sohn, niemals. Dein Schicksal ist es, verfolgt zu werden. Zu kämpfen. Besiegt zu werden. Wiedergeboren zu werden aus deiner Niederlage. Wiederrückkehren. Zu sprechen. Die Menschen daran zu erinnern, was sie vergessen haben. Einen Augenblick zu herrschen. Wieder besiegt von den Kräften der Welt. Zu fliehen. Wieder zu kehren. Eine endlose Mühe. Die schmerzvollste aller Arbeiten. Der Name deines Ziels ist Freiheit …“ 18 16 Terra Nostra, op. cit., S. 528. 17 Terra Nostra, op. cit., S. 549. 18 Terra Nostra, op. cit., S. 550. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 117 Als eine Art letzten Trost aber vertraut er ihm an: „Aber es wird Freiheit geben trotz des Todes. Sie kann ausgesprochen werden. Und besungen. Und geliebt. Und geträumt. Und ersehnt. Kämpfe für sie. Du wirst unterliegen. Das ist der Sieg, den ich Dir anbiete im Namen der Freiheit.“ 19 Der dritte Teil des Romans trägt den Titel „Die nächste Welt“. Chronologisch reicht sie vom 16. Jahrhundert bis zum Erscheinungsjahr des Buches und im letzten Kapitel sogar darüber hinaus. Vom Gehalt her geht es darum, zu zeigen, daß die negativen Kräfte nicht aussterben, daß ihnen jedoch im Kampf um die Freiheit zumindest als Beispiele vor allem drei positive Phänomene gegenüberstehen. Die negative Utopie des Abschlußkapitels, das in die Zukunft vorauszuzeigen versucht, schildert in Form einer Zukunftsvision den Untergang von Paris am Ende des Jahres 1999, wohl als Teil des ganzen Weltuntergangs. Der gelehrte Fuentes wußte natürlich, wie bereits beim Jahr 1000 viele an den damit verbundenen Weltuntergang glaubten. Der damalige eschatologische Glaube daran wird bei Fuentes freilich recht rational durch Hinweise auf die Bevölkerungsexplosion einerseits und die Atombombe andererseits ersetzt. Obwohl dies eine sehr viel realistischere Möglichkeit darstellt als die Voraussagen des Jahres 1000, so ist auch diese Vorhersage so wenig wörtlich zu nehmen wie die wolfgeborenen Kinder, sondern besteht ihr Sinn in einer generellen Warnung, die ohne konkrete Datierung in vager Allgemeinheit weniger dringlich wäre. Dazu kommt, daß infolge des Polyperspektivismus des Romans die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum mitunter verschwimmen. So gibt es im Roman selbst auch eine Deutung, wonach der alte Pedro in dem Gemetzel von Cabo de los Desastres umgekommen sei und nur im Traum am Strand der Neuen Welt getötet wurde. Einmal heißt es, der Pilgrim sei der Prophet des dritten Milleniums und Paris die „Hauptstadt des dritten Zeitalters.“ Einmal wird auch die gesamte „spanische Welt“ mit Einschluß Südamerikas als die Region des kommenden, tausendjährigen Reiches der Verheißung apostrophiert. Es ist die Vorstellung, die nach dem Fall von Rom als erstem und Konstantinopel als zweitem Reich als „drittes Reich“ zuerst von der Russischen Kirche für Moskau propagiert wurde und was nach dem Wunsch und der Theorie von Möller van den Bruck auf Deutschland hätte übertragen werden sollen, wo es Hitler für sich in Anspruch zu nehmen versuchte. In die Dichtung fand dieses Konzept in einer regional ungebundenen, allgemein vergeistigten und verinnerlichten Form Eingang in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Fuentes hat es durch das Herannahen des Jahres 2000 auf seine Weise aktualisiert. Fuentes hat in seinem Roman als die drei einzigen Großmächte, die zählen, die USA, Rußland und China genannt. Da er die spanische Vergangenheit 19 Terra Nostra, op. cit., S. 552. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 118 überaus kritisch dargestellt hat, mußte Fuentes bei seiner Vision eines spanisch geprägten Reiches der Verheißung zweifellos etwas Positiveres vorgeschwebt sein, nicht nur als die russische Kirche und der Traum Möller van den Brucks, sondern vor allem auch als der Escorial. 20 Der letzte Ausblick der Vision von Fuentes im realgeschichtlichen Bereich ist negativ. Da er vor der Bevölkerungsexplosion der Erde nicht die Augen verschließt, beschreibt er, wie der daraus entstehende Lebensmittelmangel und die unbewältigbaren Energieprobleme zu einer Art Genozid der eigenen Bevölkerung führen können. In Mexiko werden sämtliche alten Kultstätten der Azteken wieder aktiviert, wo Menschenopfern das Herz aus dem Leib gerissen wird. Brasilien dezimiert seine Bevölkerung durch die Verlängerung des Karnevals von Rio ad infinitum, so daß die Menschen aus Anstrengung am Tanz und Vergnügen sterben. Rußland verteilt Millionen Exemplare des Werks von Trotzki und jeder, der entdeckt wird, daß er es liest, wird erschossen. Was in China vor sich geht, ist aber nicht in Erfahrung zu bringen. Ganz zuletzt wird die Gefahr von Eindringlingen nicht von einem anderen Stern, sondern aus einer anderen Zeit beschworen. In Paris ziehen die Gestalten des ersten Teils des Romans, der „Alten Welt“ des 16. Jahrhunderts durch die Straßen, da Hunger und Epidemien die Menschen getötet haben. Es sind die Gestalten des blinden Flötenspielers, des Mönchs und des Mädchens, wiedergeboren aus dem 16. Jahrhundert. Das Mädchen, es ist Celestina, besucht den wiedergeborenen Pilgrim, der jetzt Pollo Phoibus heißt, in seinem Zimmer im Hotel du Pont Royal. Sie berichtet ihm, drei Minuten bevor das dritte Millenium beginnt, daß Ludovico und der Mönch Simon, zwei der „Träumer“, die fünf Minuten vor Mitternacht starben, die letzen waren. Sie ist nun hier, um ihn „zu holen“. Er bringt sie in sein Bett und beim Koitus verschmelzen sie zu einem Hermaphroditen, Sinnbild des vollständigen Menschen vor der Teilung in Geschlechter. Die Glocken von Paris schlagen nicht mehr Mitternacht, doch der Schneefall endet und am nächsten Tag scheint eine kalte Sonne auf die tote Stadt. Der pessimistischen Vision stehen jedoch spirituelle Errungenschaften gegenüber, welche die Grundlage liefern könnten, all dies zu vermeiden und die Wiederholung der alten Fehler, exemplifiziert an der Wiederkehr der Gestalten aus der „Alten Welt“, zu vermeiden. Sie sind es, die positiv in die Zukunft weisen, obwohl auch sie aus der alten Zeit stammen. Es scheint so zu sein, daß die drei wichtigsten Phänomene in dieser Hinsicht des Cervantes großer Roman Don Quijote, des Hieronymus Bosch Triptychon „Der Garten der Lüste“ und 20 Gleich im ersten Kapitel des Romans, das in Paris an der Wende zum Jahr 2000 spielt, werden fanatisierte Banden erwähnt, deren Verbrechen des Sengens, Brennens und Mordens von Toledo bis Orleans reichen und die im Winter des Jahres auf ihre Weise auf die Erneuerung der Welt durch den Anbruch des dritten Milleniums hoffen, die sie durch ihr Werk der Zerstörung vorbereiten. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 119 in Verbindung mit letzterem gewisse „häretische“ Strömungen darstellen. Da die Heimat von Bosch, Flandern, damals zum spanischen Weltreich gehörte, wäre der positive Ausblick auf das dritte Millenium im weitesten Sinn von spanischem Geist geprägt. Bei seiner Auswahl war Fuentes von folgenden Überlegungen getragen: Cervantes begründete mit seinem Roman eine Modernität, die zu kommen hatte, wollte man überleben in einem Land, „das sich der Modernität widersetzte.“ 21 Cervantes schuf darin die zeitlose Erinnerung an die Herrschaft und Knechtschaft, denen die Menschheit immer wieder zum Opfer fällt. Sein Ritter von der traurigen Gestalt verläßt die ebenso gesicherte wie unrichtige Ordnung des Mittelalters um des Aufbruchs in die Welt der Renaissance willen, die für Zweifel und Offenheit nach allen Seiten steht. Er schafft mit seinem Roman eine „Gattung aller Gattungen“, den Roman, „der die neu gewonnene Gabe besitzt, die ganze Welt zu erfassen und ihre Vielseitigkeit zu verarbeiten.“ 22 Man weiß bei der Lektüre oft nicht, ob man über diesen verrückten alten Mann lachen oder weinen soll. Einerseits wirkt er komisch durch seine Schwierigkeiten mit der Oberflächenrealität, andererseits zeigt er mit dem Finger auf die wunderbare Kraft der Phantasie. So sagt der seltsame Ritter einmal: „Wenn ich glaube, daß die gute Fee Aldanoza schön und ehrbar ist, denn die Frage der Abstammung spielt nur eine kleine Rolle … Ich male sie mir in meiner Phantasie, wie ich sie haben möchte … Und laß jeden Mann sagen, was er will.“ 23 Das Mittelstück und wohl Zentrum des dreifachen Vorausweisens auf positives Spirituelles stellt das berühmte Triptychon von Hieronymus Bosch „Der Garten der Lüste“ dar. Es bildet gewissermaßen den geistig - künstlerischen Gegenpol der „Nächsten Welt“ zum negativen Pol des überaus wirklichen und zugleich doch auch so symbolträchtigen Palast des Escorial, in dem die Welt der Vergangenheit alles überdauerndes Steinmonument geworden ist. Was aber das großartige Bild von Bosch betrifft, so hat Fuentes natürlich nicht einfach eine abstrakte, womöglich kunstwissenschaftliche Bildbeschreibung davon gegeben, sondern indem er gleichzeitig damit die Überlegenheit der Freiheit und des Geistigen über Gewalt und Unterdrückung eindringlich veranschaulicht, hat er mit der schockierenden Beschreibung begonnen, wie König Philipp II. den abgeschlagenen Kopf des häretischen Malers aus einem Kistchen nimmt und mit sich in die Kapelle trägt. Hier aber beginnen plötzlich die Augen des Kopfes zu blinken und lassen nicht nur das Altarbild aus Orvieto verschwinden, sondern beschwören das Erscheinen von Figuren, die sich har- 21 Carlos Fuentes in seinem Buch, das nächst seinem Cervantes Buch eine Art Nebenprodukt und eine Ergänzung zu Terra Nostra darstellte: Der begrabene Spiegel. Frankfurt am Main 2007. 22 Der begrabene Spiegel, op. cit., S. 175. 23 Der begrabene Spiegel, op. cit., S. 175 f. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 120 monisch zu seinem Triptychon zusammenschließen. Der König sieht erstaunt Menschen seiner Familie und seines Hofes und auch sich selbst, bis der Kopf auch zu sprechen beginnt und richtigstellt: „Das ist es, was du siehst, korruptes Stück, das du bist … Ich habe etwas anderes gemalt … Den sexuellen Akt, so rein ist er ein Gebet vor den Augen Gottes … Den Akt des Fleisches, ohne Reue oder Furcht vor Gott … Der äußere Mensch kann den inneren nicht beschmutzen … Links, das ursprüngliche Paradies, als ein bösartiger Gott Mann und Frau trennte, die vorher eins gewesen waren, das Ebenbild Gottes von höchster androgyner Göttlichkeit … Im Mittelteil, das Paradies wieder hergestellt durch den freien Geist des Menschen, ohne Bedarf für Gott: Da gibt es keine Erbsünde, alles Fleisch ist unschuldig … Und jetzt, Tropf, schau nach rechts, sieh die wahre Hölle, deine eigene Schöpfung …“ 24 Später heißt es, daß der Mönch Simon, ein anderer „Träumer“ mit seinen Fastnachts-Dienstag-Mystikern das Triptychon bewachte, von dem sie sagten, einer der ihren hätte es gemalt. Noch später wieder zeigt Toribio, der Bruder Hofastrologe auf das Triptychon und erklärt dem Hofdichter: „Schau auf dieses großartige Triptychon des Jahrtausend Reiches, gemalt von einem demütigen, flämischen Künstler, einem Anhänger des freien Geistes, um im geheimen alle Wahrheiten der menschlichen Welt zu suggeriern …“ 25 Es gibt noch eine dritte spirituelle Errungenschaft, die nicht mit Sicherheit, doch als potentielle Möglichkeit positiv in die Zukunft deutet, und die man sich zusammen mit den beiden ersten auch als eine Art Triptychon des dritten Teils des Romans vorstellen könnte und das sind mystisch-gnostische Traditionen: Links der Don Quijote, in der Mitte der „Garten der Lüste“, der besser „Garten der Liebe“ heißen sollte und rechts die nicht fundamentalistischen, in den Augen von El Señor „häretischen“ Traditionen. Das Triptychon von Bosch ist eigentlich bereits ein Übergang zu diesen. Fuentes bringt es mit den flämischen Adamiten in Verbindung, die El Señor mit Feuer und Schwert bekämpft hatte, wodurch auch der Kopf des Malers in das Kistchen bei ihm gelangte. Adamiten ist eine negativ gemeinte Bezeichnung für eine ganze Reihe von Einweihungsgruppen, die den Zustand der Unschuld Adams und Evas vor dem Sündenfall im Paradies wiederherstellen wollten. Manche von ihnen hatten dafür auch die Nacktheit als ein Symbol dafür gewählt. Wahrscheinlich die erste dieser Verbindungen war eine Gruppe antinomistischer Gnostiker im 2. Jahrhundert in Nordafrika. Auch die Katharer und Waldenser wurden so bezeichnet. Die Gruppe, der Hieronymus Bosch angehört hatte, war eine flämische Rosenkreuzer-Vereinigung gewesen, deren Großmeister das Triptychon als symbolisches Lehrbild anfertigen hat lassen. 24 Terra Nostra, op. cit., S. 719. 25 Terra Nostra, op. cit., S. 863. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 121 Obwohl Fuentes den Namen Rosenkreuzer im Roman nicht erwähnt, muß dies nicht heißen, daß er es nicht gewußt hat. Auf jeden Fall sind abgesehen vom Triptychon des Hieronymus Bosch eine Reihe von Einweihungsgruppen im Roman genannt, die infolge der ihnen allen innewohnenden synkretistischen Tendenz miteinander verwandt sind und sich gegenseitig nicht ausschließen. So sind in dem Kapitel „Der Palast des Diokletian“ die Isis Initiationen genannt, Simon Magus und gnostische Traditionen, Überlieferungen orphischer Geheimnisse und die Sybillen. Im anschließenden Kapitel berichtet Fuentes von einem „Magus des dritten Zeitalters“. Besondere Beachtung wird im Roman der Mystik der Kaballah geschenkt, der nicht nur ein eigenes Kapitel gewidmet ist, sondern zu der im Anschluß daran auch ein eigenes Kapitel über den Sohar und ein weiteres über den Sephirotbaum eingebaut ist. Das Kapitel über die Kaballah aber beginnt mit dem Satz: „Die Kaballah kam vom Himmel herab, sie wurde von Engeln gebracht, um den ersten Menschen, welcher des Ungehorsams schuldig war, zu lehren, durch welche Mittel er den ursprünglichen Adel und die Glückseligkeit wieder erringen könnte.“ 26 Nimmt man die vorausweisenden, spirituellen Züge von Fuentes auch sinnbildlich als ein Triptychon, dann stellt schon allein das Mittelstück, Boschs Gemälde als Gegensatz zum Jammer und Elend des Chaos der wirklichen Welt und ganz besonders jener Philipps II. auf künstlerischer Ebene tatsächlich die Herausarbeitung einer positiven Weltordnung en miniature dar, zumal so, wie der Kopf des toten Meisters es dem König erklärt. Links davon fängt das dichterische Meisterwerk des Cervantes eine Welttotalität ein und rechts davon ist es nicht eine, sondern ist es eine ganze Skala von mehreren esoterischen Traditionen, die einander nicht ausschließen, sondern sich infolge ihrer synkretistischen Tendenzen gegenseitig überlagern und ergänzen. Der Romancharakter Ludovico, eines „Träumers“, wie es auch die Rosenkreuzer und Kabbalisten sind, versucht sogar El Señor das Wesen und den Sinn dieser nach allen Seiten offenen Traditionen zu erklären: Dadurch könne man die Wahrheit und Ordnung der Dinge verstehen im Gegensatz zur Scheinordnung seiner gewalttätigen Tyrannei. Denn es ginge um den Kampf zwischen Chaos und Intelligenz, um das Wiedererlangen der wirklichen menschlichen Natur, jener Menschlichkeit, die göttlich ist. Genau darum geht es auch in dem Roman Terra Nostra. Zehn Jahre nach Terra Nostra erschien der sehr viel kleinere Roman Der alte Gringo. Er ist schon dadurch gestraffter in seiner Handlung, da er einer einzigen Person als Monolog in den Mund gelegt ist. Es ist die amerikanische Lehrerin Harriet Winslow, die diesen Monolog niederschreibt, selbst ein Charakter des 26 Terra Nostra, op. cit., S. 599. Über die Bedeutung der Kaballah für den Roman vgl. Sheldon Penn: Terra Nostra und die Kabbalah. Lewiston - Queenston - Lampeter 2003. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 122 Romans, die der Autor nur vorschob, um ihr seine eigene Phantasie leihen zu können. Wie aber in Terra Nostra der Roman von historischen Personen und Verhältnissen ausgeht, von Philipp II. bis zu Cervantes und Hieronymus Bosch, so stellt die geschichtliche Grundlage dieses Romans des alten Gringo der amerikanische Autor Ambrose Bierce dar, dessen letzte Monate dichterisch verlebendigt, sublimiert und poetisch verzaubert werden. Und wie in Terra Nostra die Begegnung der Alten europäischen mit der Neuen amerikanischen mit einmaliger Tiefe und Überzeugungskraft geschildert wird, so im Tod des alten Gringo die Begegnung der nordamerikanischen und mexikanischen Geistigkeit. Das konnte nur jemand schreiben, der von sich einbekannt hatte, das „Glück“ gehabt zu haben, in „zwei Gesellschaften parallel aufzuwachsen … den Vereinigten Staaten … und Mexiko.“ 27 Allerdings muß diese jahrzehntelange Erfahrung zuerst aus dem Bewußtsein tief ins Unbewußte sinken, - Rilke nannte es einmal dichterisch „Teil des Blutes werden“ - muß sodann aus der tiefen Erinnerung zurückgeholt werden, und wenn es dann von einem dichterisch wirklich bedeutenden Autor gestaltet wird, kann sich solch poetische Verzauberung vollziehen, wie dies hier geschehen ist. Das ist ein Vorgang, wie er sich auch in seiner Darstellung der Beziehung Harriets zum alten Gringo vollzieht, der, selbst Schriftsteller, von seinem „schweifenden Bewußtsein“ gefragt wird: „… Hast du gewußt, Alter, daß wir alle Phantasieobjekte eines anderen sind? “ 28 Es ist Harriet Winslows Monolog, der in der Erinnerung die vergangenen Zeitabschnitte durcheinanderbringt. Erst nach der Beschreibung der Exhumierung des alten Gringo vollzieht sie in der Phantasie seinen Ritt von El Paso nach Mexiko nach. Der Gringo ist der amerikanische Autor Ambrose Bierce, Misanthrop und ehemaliger Journalist des Hearst Konzerns, Verfasser grausamer Erzählungen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, an dem er noch teilgenommen hatte und auch Verfasser eines Wörterbuchs des Teufels. Über dieses hat Edouard Roditi geurteilt, daß der wahre Moralist unter den Schriftstellern oft derjenige sei, der uns bei der ersten Begegnung durch eine zynische Zurschaustellung am tiefsten schockiert. Er hat damit die Methode enthüllt, mit welcher Ambros Bierce Ordnung aus dem Chaos zu erschaffen versucht hat. Der alte Gringo ist verbittert, fertig mit seinem Leben, und da er sterben möchte, so lange er noch einigermaßen gut aussieht und da sein strenges kalvinistisches Bewußtsein Freitod nicht zuläßt, reitet er in die terrorgespickte Hölle des mexikanischen Bürgerkrieges von 1913, um sich der Revolutionsarmee von Pancho Villa anzuschließen, denn an einer mexikanischen Wand füsiliert zu werden, dünkt ihm eine schöne Form der Euthanasie. 27 Carlos Fuentes: Alphabet meines Lebens. Frankfurt am Main 2006, S. 225. 28 Carlos Fuentes: Der alte Gringo. Frankfurt am Main 1998, S. 145. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 123 Der alte Gringo hatte sein ganzes Leben hindurch Enttäuschung auf Enttäuschung auf sich nehmen müssen, sodaß er für sich einen neuen Dekalog erschuf, in dem er zwar die alten judäo-christlichen Gebote aufrechterhielt, ihnen jedoch zynische „Begründungen“ hinzufügte. Schon in jungen Jahren hatte er dem kriegsbedingten Chaos die innere Ordnung seiner streng christlichen Überzeugung entgegen gestellt, die auch völlig in seinen grausamen Kriegserzählungen ihren Niederschlag fand. Als Journalist konfrontiert mit der Riesenkorruption eines Stanford oder Hearst, für den er sogar gearbeitet hatte, setzte er dem Chaos seinen grimmigen schwarzen Humor, seinen zynischen Witz und nicht zuletzt sein Wissen um Todeserkenntnis entgegen, die literarisch ihren Ausdruck in dem Buch deutscher Übersetzungen seiner Erzählungen den Titel erhalten hat: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Zu allem anderen waren es seine beiden Kinder, deren Handlungsweise und Geschick ihm den Rest gegeben hatte, so daß er kapitulierte, das Chaos zu bekämpfen und den Tod in einem anderen Chaos suchte, das diesen Tod mit Sicherheit versprach. Dieser Ritt in den Tod ist die Geschichte des Romans. Die Begegnung mit Harriet bringt ihn zu dem Bekenntnis, daß er „genau so sentimental wie die von ihm Verhöhnten und Verachteten“ war, „ein alter Mann voller Sehnsucht, voller Erinnerungen an Liebe und Lachen“. 29 Zur selben Zeit, da er auf einer Hazienda den unter Villa dienenden jungen General Arroyo mit seiner Truppe trifft, begegnet er auch Harriet Winslow, die auf Einladung der Eigentümer der Hazienda aus Washington gekommen war, um deren drei Kinder in englischer Sprache zu unterrichten. Sie hatte die Hazienda jedoch, ausgenommen den Festsaal, niedergebrannt vorgefunden, von den nach Paris geflohenen Eigentümern längst verlassen. Der alte Mann gibt General Arroyo Proben seiner Schießkunst und seiner Tapferkeit und Harriet, die hier ein Land sah, dessen karge Früchte aus totem Boden entstehen mußten, erklärt er, daß es in Mexiko nichts zu unterwerfen und nichts zu retten gäbe. In einer Vision seines Vaters entdeckt er, „daß er nicht sterben“ würde, wie er es sich vorgenommen hatte, sondern der Liebe eines jungen Mädchens erliegen würde.“ 30 Diese liebt bereits den Alten verehrungsvoll im Unterschied zu ihrem Vater, geht aber mit dem jungen General ins Bett, weil dieser gedroht hatte, den alten Gringo zu erschießen, aber davon Abstand nehmen würde, wenn sie es tut. Als der General den Gringo bald darauf dennoch von hinten erschießt, haßt sie ihn doppelt, obwohl sie durch den Beischlaf zum ersten Mal eine echte Selbstverwirklichung gefunden hatte. Sie beginnt General Arroyo überall des Mordes anzuklagen, sodaß schließlich auch dessen Vorgesetzter, Pancho Villa davon erfährt. Dieser läßt daraufhin den toten 29 Der alte Gringo, op. cit., S. 74. 30 Der alte Gringo, op. cit., S. 83. Carlos Fuentes, der elegante Kosmopolit 124 Gringo exhumieren, an die Wand stellen und auch von vorne erschießen, um sofort darauf auch den überraschten Arroyo exekutieren zu lassen. Harriet aber fordert den Leichnam des alten Gringo, den sie als ihren Vater ausgibt, ein und bringt ihn zum leeren Grab ihres als Offizier verschollenen Vaters auf den amerikanischen Heldenfriedhof von Arlington. „Ach, alter Mann“, klagt sie einsam am Schluß, „du hast deinen Willen bekommen und warst eine anständig aussehende Leiche. Ach, General Arroyo, du hast deinen Willen bekommen und bist jung gestorben. Ach, alter Mann, ach, junger Mann.“ Worauf es nur noch heißt: „Nun sitzt sie allein und denkt nach.“ 31 So schließt der Roman unter anderem auch mit dem Wunsch Harriets in Mexiko für Mexiko zu arbeiten, um die unglückliche Kluft, die zwischen Amerikanern und Mexikanern herrscht und die sie kennengelernt hat, überwinden zu helfen. Fuentes, dem es genau so darum geht, hat aus diesem Grund auch das Gemeinsame unterstrichen. Er hat das gemeinsame Menschliche, dieselben menschlichen Hoffnungen, Sehnsüchte und Erinnerungen und dieselben Schmerzen, Leidenserfahrungen, Enttäuschungen und ganz besonders denselben Tod als das umfassend Wichtigste in den Vordergrund treten lassen. Doch hat er sich noch eine allerletzte Pointe vorbehalten: eine „Nachbemerkung des Autors“. Daraus geht hervor, daß Ambrose Bierce im Jahr 1913 an einige Freunde Abschiedsbriefe geschrieben hatte, in dessen letztem es hieß: „Ach, … ein Gringo in Mexiko zu sein, - das ist Euthanasie“. Der Bericht schließt mit den Worten: „Im November 1913 reiste er nach Mexiko und man hat nie wieder etwas von ihm gehört.“ 32 Damit wird die packend realistische Geschichte mit ihrer oft tiefen, oft zarten Psychologie als reines Produkt der Phantasie enthüllt. 31 Der alte Gringo, op. cit., S. 201. 32 Der alte Gringo, op. cit., S. 202. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit Gao Xingjiang ist Redakteur der gegen Rot-China gerichteten oppositionellen Literaturzeitschrift Today. Es mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen, daß er selbst ursprünglich vom Kommunismus herkommt. Aber es ist schon so, daß die überzeugendste literarische Opposition gegen den Kommunismus und die bedeutendsten dichterischen Leistungen von ehemaligen Mitgliedern der kommunistischen Partei stammen. Arthur Koestler, Manès Sperber, Richard Wright, Ignazio Silone, Alexander Solschenizyn, George Orwell sind nur einige der berühmtesten Beispielsfälle. Bei einiger Überlegung ergibt dieses Phänomen aber insofern einen Sinn, als diese Autoren einen direkteren, genaueren und tieferen Einblick in die totalitären Entsetzlichkeiten besaßen als auch noch so intelligente und gute Autoren, die all das nur aus Beschreibungen und vom Hörensagen kannten. Gao Xingjian ist erst 1989, nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing aus der Partei ausgetreten. 1 Aber auch vorher schon, als er noch Mitglied der Partei war, ist seine Entwicklung fast von Anbeginn an von Schwierigkeiten und Leiden überschattet gewesen, deren Ursache die engstirnige Struktur des totalitären Staates und sein Unterdrückungsmechanismus gewesen ist. Da ihm die Ordnung von Freiheit und Menschenwürde geradezu angeborenes Anliegen waren, sind seine Entschlossenheit und sein Mut gegen das Chaos des Staatsverbrechens anzugehen verständlich. Wenn man auch nur einige Bücher gelesen hat, die sich wahrheitsgemäß mit einer Darstellung des Lebens in Maos China befassen, dann bedarf es keiner Erklärung mehr. Es brauchen keineswegs gezielte Angriffe auf das Regime zu sein 2 , oder auch nur die dramatische Odyssee eines Dissidenten 3 , sondern lediglich anschauliche Beschreibungen des Lebens, wobei es dem tragischen Geschick der Betroffenen nicht einmal half, daß ihre Eltern und zunächst oft auch sie selbst verdienstvolle Anhänger wenn nicht gar Würdenträger des totalitären Staates waren. 4 1 In der Darstellung des geistigen und literarischen Widerstands in China von Germie Barne und Linda Jaivin: New Ghosts, Old Dreams, New York 1992 ist sein Name nur ganz kurz erwähnt. 2 Beispielsweise Roger Failot und Remi Kauffer: The Chinese Secret Service, New York 1987 oder Hongda Harry Wu: The Chinese Gulag, Boulder - San Francisco - Oxford 1992. 3 Anne F. Thurnston: A Chinese Odyssey, New York 1987. Dieselbe Autorin schrieb auch ein bemerkenswertes Buch über die Kulturrevolution unter dem Titel Enemies of the People. 4 Vgl. beispielsweise Sydney Rittenberg: The Man Who Stayed Behind, New York 1992 oder Jung Chang: Wilde Schwäne, München 1993 oder aber auch Jan Wongs Buch Abschied von China, München 1997. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 126 Gao wurde am 4. Januar 1940 in Ganzhou in der chinesischen Provinz Jiangxi geboren. Er war schon früh durch seine Mutter, eine Amateurschauspielerin, für Dichtung und für das Theater interessiert worden. Schon als Fünfjähriger stand er neben ihr auf der Bühne. Als Kind war er vor allem von ihr ermutigt worden, zu malen, zu schreiben und Violine zu spielen. Als er ins Gymnasium ging, las er bereits die großen westlichen Autoren, altgriechische, französische, englische, russische, amerikanische. Wie er später selbst einbekannte, wurde er durch die maoistische Unterdrückung geradezu in die klassische westliche und in die antike chinesische Literatur „getrieben“. Von 1957 bis 1962 hat er am Fremdspracheninstitut in Beijing Französisch studiert. In den Jahren 1980 bis 1987 veröffentlichte er Kurzgeschichten, Essays und Dramen in literarischen Zeitschriften sowie vier Bücher: eines über die Technik des modernen Romans, eines über eine Taube, die Rotschnabel hieß, einen Band gesammelter Dramen und schließlich ein Buch über die Suche nach einer modernen Form dramatischer Darstellung. Im Jahr 1986 war sein Drama Das andere Ufer verboten worden und seither wurde keines seiner Stücke mehr in China aufgeführt. Im Jahr 1985 hatte er ein DAAD-Stipendium in Berlin erhalten und den Kunstsammler Franz Armin Morat kennengelernt. Zwei Jahre später übersiedelte er über Freiburg nach Paris und ließ sich dort als politischer Flüchtling nieder. Er lebte schließlich im zweiten Arrondissement zusammen mit Céline Yang, einer Romanautorin, die China 1989 verlassen hatte. Während der Kulturrevolution war er zur politischen Umerziehung in ein Lager für landwirtschaftliche Zwangsarbeit geschickt worden und durfte später als Dorfschullehrer arbeiten. Er hatte aus Sicherheitsgründen einen ganzen Koffer mit Manuskripten verbrennen müssen. Aus China zu flüchten, gab es keine Möglichkeit. Die Klöster in entfernten Bergen, die in der alten feudalen Zeit eine Zuflucht für Gelehrte und Schriftsteller geboten hatten, waren vollkommen zerstört. Wenn man seine intellektuelle Eigenständigkeit bewahren wollte, konnte man nur mit sich selbst sprechen, in einer geheimnisvollen Weise. Gao bekannte von sich, daß es in jener Periode war, in der Literatur nicht möglich war, in der er verstand, wie wichtig und bedeutend Literatur ist, da sie einer Person erlaubt, ihr menschliches Gewissen zu bewahren. Nach der Kulturrevolution und seiner Rehabilitierung arbeitete er zunächst bei einer Zeitschrift und sodann als Übersetzer für Französisch beim chinesischen Schriftstellerverband. Als Dolmetscher für Delegationen des Verbands konnte er 1978 und 1979 nach Frankreich und Italien reisen und ab 1979 durfte er wieder veröffentlichen. Von 1980 bis 1981 versuchte er als Dramaturg am Volkskunsttheater in Beijing seine eigenen Stücke zur Aufführung zu bringen, die jedoch immer wieder von der Zensur unterdrückt wurden. Durch eine „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“ von 1983 und 1984 erneut bedroht, auf eine Gefängnis- Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 127 Farm geschickt zu werden, floh er auf eine halbjährige Wanderung und 15.000 Kilometer lange Reise, die ihn den 6300 Kilometer langen Jangtsekiang entlang, durch Abweichungen bis in die Urwälder des Kunlun-Gebirges an der tibetischen Grenze und wieder zurück nach Shanghai führte. In der alten chinesischen Tradition der Einheit des Ausdrucks von Dichtung und Malerei entwarf Gao an chinesische Schriftzeichen gemahnende Tuschzeichnungen bewegter Körper. Als 1989 das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattgefunden hatte, schrieb er das Drama Die Flucht (Taowang), in dem er die Tragödie des modernen Menschen beschrieb. Es wurde sein zunächst am meisten aufgeführtes Stück, natürlich außerhalb Chinas. Als Dramatiker war Gao vor allem von der französischen Avantgarde und besonders von Artauds Theorie einer „Heilung“ des Menschen durch das Theater beeinflußt. Ionesco, den er auch übersetzt hat, Beckett, Genet haben auf einzelne Stücke Einfluß ausgeübt. Der reife Gao steht als Dramatiker unter dem Einfluß der chinesischen Oper einerseits und Jerzy Grotowskis „Armen Theater“ andererseits. Manche der frühen Stücke Gaos sind fast durchwegs düster und pessimistisch. In Mingcheng (Die Stadt der Toten) etwa, das nicht nur darum die kommunistischen Eierschalen noch nicht abgestreift hat, weil das Stück den Einfluß Brechts zeigt, hat er die alte Geschichte über Dschuang Dse aufgegriffen, die Hofmannsthal in seinem „Weißen Fächer“ bearbeitet hat. Der berühmte Taoist, von seiner Frau provoziert, führt diese aufs Glatteis, indem er ihr beweist, wie schnell auch sie den tot geglaubten Gatten durch einen neuen Liebhaber ersetzt. Im Gegensatz zur alten Tradition siegt bei Gao jedoch nicht die Weisheit des Taoisten, sondern kehrt ein feministischer Frauenchor die Geschichte in ihr Gegenteil: Anstelle der Weisheit welche die vorgespiegelte Illusion vollständig enthüllt, wird das Ganze als böse Täuschung der Frau gedeutet, für die es auch im Jenseits keine Gerechtigkeit gibt, denn die Stadt der Toten wird von negativ gezeichneten Schauerfiguren buddhistischer und taoistischer Mythologie dominiert und die Gattin wird wegen Treulosigkeit und Lasterhaftigkeit verurteilt. Ganz war es ihm indessen auch in seiner Frühzeit, als er sich „anzupassen“ versuchte, nicht wirklich gelungen, ein kommunistischer Autor zu sein. Im Jahr 2000 gab es aber bereits die Chan- oder japanisch Zen-buddhistischen Szenarien über Ich-Auslöschungsrituale. Es wurde gesagt, daß die Überlebenschancen und das Provokationspotential eines künftigen Welttheaters hier liegen könnten. 5 Als Gao im Jahr 2000 den Nobelpreis erhielt, bezeichnete das chinesische Außenministerium dies als ein politisches Manöver, auf das die Nation nicht stolz sein könnte und bezweifelte, daß er Nobel-Material sei. Die staat- 5 Vortrag von Gao Xingjian: Chan/ Zen im experimentellen Theater, beim Theater Workshop des Sinologischen Seminars der Universität Heidelberg am 28. und 29. Januar 2000. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 128 liche Zeitung Yangcheng Evening News aber nannte ihn einen scheußlichen Schriftsteller und beharrte darauf, daß die Idee, ihm den Nobelpreis zu verleihen, lächerlich sei. In seiner Dankesrede für den Preis am 7. Dezember 2000 lieferte Gao eine Erwiderung darauf, in welcher er ausführte, daß Literatur nur die Stimme eines Individuums sein könnte und daß dies immer so gewesen ist. Wenn einmal ausgeheckt wird, Literatur sei die Hymne der Nation, die Fahne des Volkes, das Mundstück einer politischen Partei oder die Stimme einer Klasse oder Gruppe, dann kann sie ein machtvolles und alles umfassendes Werkzeug der Propaganda werden. Jedoch solche Literatur verliert, was sie ihrer inneren Natur nach ist, hört auf, Literatur zu sein und wird ein Ersatz für Macht und Profit. Wenn man nur den Unterschied betrachtet, den die Rolle des Taoismus und des Taoisten Dschuang Dse in dem 1988 entstandenen Stück Mingcheng mit dessen Rolle im 1990 erschienenen Roman Der Berg der Seele spielen, dann wird die totale geistige Kehrtwendung klar, die Gao vollzogen hat und die durch das Massaker in Beijing endgültig ausgelöst worden war. Dieser radikale Wandel war jedoch zugleich die Voraussetzung zur Schaffung eines seiner bedeutendsten Werke, eben dieses Romans, einem Buch von weltliterarischer Bedeutung. 6 Abgesehen von jener radikalen geistigen Wendung - auch wenn sie sich schon Jahre langsam vorzubereiten begonnen hatte - sind es noch zwei andere biographische Umstände, durch die jenes große Werk entstehen konnte. Einerseits hat ein Akt psychologischer Befreiung von unmittelbarer Todesangst eine Rolle gespielt. Denn 1983 war Gao von den Ärzten eröffnet worden, er leide an fortgeschrittenem Lungenkrebs und stehe unmittelbar vor dem Tod. Sechs Wochen später ergab eine zweite durchgeführte Kontrolluntersuchung, daß die erste Diagnose eine Fehldiagnose gewesen war. Als diesem medizinischen Rettungswunder eine neuerliche, böse politische Bedrohung folgte, entzog sich Gao dieser Verfolgung durch Flucht in die bereits erwähnte, halbjährige Wanderung, die bis in die Kunlun-Berge geführt hatte und die eine weitere und direkte Voraussetzung für den Roman darstellte. Denn es ist diese Wanderung, unterbrochen von kurzen Reisen mit Bahn, Bus, Schiff oder Anhalter, die den äußeren Rahmen des Romangehalts bildet. Der Roman Der Berg der Seele der ungeachtet der jeweils verwendeten Personalpronomina ein moderner, monologischer Roman von der Art eines Joyce oder Broch ist, schildert eine Wanderung des Helden, die äußerlich gesehen ohne ein bestimmtes Ziel ist, deren inneres Ziel jedoch klar und eindeutig auf die Erreichung von Lingshan, den Seelenberg des Titels, gerichtet ist. Klar festgelegt sind die Topographie und Reiseroute dieser inneren Wanderung allerdings nur vom Negativen her als das Hinter-sich-Lassen wenn nicht gar als Flucht vor der geist- und phantasielosen Welt des antireligiösen Materialismus 6 Gao Xingjian: Der Berg der Seele. Frankfurt am Main 2001. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 129 maoistischer Provenienz. Zugleich damit ist die Wanderung eine Suche nach dem Wahren, eigenen Selbst. Die Wanderung vollzieht sich so, daß der Wanderer, völlig unbeeinflußt von jeglichen ideologischen Zwangsmaßnahmen von außen her, seiner eigenen, zutiefst inneren Sehnsucht und Imagination gleichsam in freie Assoziationen völlig offenen Raum läßt. Diese Methode führt ihn einerseits in die Gefilde allgemeiner familiengeschichtlicher Tradition, deren Bausteine vor allem aus Erinnerungen und Träumen der eigenen Kindheit geliefert werden. Andererseits sind es Elemente der Folklore wie alte, vergessene Volkslieder sowie die niemals endende Sehnsucht nach Liebeserfüllung, die von Frau zu Frau führt, und schließlich und vor allem zur Entdeckung vergangener und vielfach vergessener Bilder, Ideen und Erfahrungen verschiedenster Herkunft, die vom Schamanismus und Quigong über den Buddhismus bis eben zu dem nunmehr besonders wichtigen Taoismus reichen. Der so beschriebene Berg der Seele ist es, der als Bild der Ordnung dem Chaos des totalitären Terrors gegenübergestellt wird. Auf den ersten Blick sieht der Roman zwar aus wie das wirre Gestrüpp von 81 zusammenhanglosen kleinen Vignetten oder Kapiteln. Der Autor selbst hat bemerkt, daß sie eine moderne, im westlichen Stil aufgebaute Erzählung darstellten, die aus nichts anderem zu bestehen scheint, als aus Reisenotizen, moralischen Überlegungen, Gefühlen, Aufzeichnungen, Gekritzel, unrhetorischen Diskussionen, fabellosen Fabeln, kopierten Volksliedern, woran noch etlicher legendenartiger Unsinn eigener Erfahrung gereiht ist. Äußerlich betrachtet könnte das Ganze als „Reisenotizen“ betrachtet werden. Allerdings geht es im Wesentlichen nicht nur um eine äußere, sondern auch um eine „innere“ Reise. Das anscheinend zusammenhanglose Gewirr der 81 kleinen Kapitel von Gaos Roman aber schließt sich so gesehen zu einem strukturell umfassenden Abbild der chaotischen Menschenwelt Rot-Chinas, ihrer Wahnhaftigkeit und Krise in Form eines großartigen Mosaiks zusammen. Zunächst einmal stellt die Wanderung zum und auf den Seelenberg eine Art fester Grundstruktur dar, wobei die Flucht vor Verfolgung und der Schrecken vor grundloser Bestrafung mitunter zu hoher Unbill führt. Da der Wanderer einmal eine Frau überredet, vorübergehende Genossin seiner Besteigung des „Lingshan“ zu werden, da bricht sie auf einer besonders beschwerlichen Stelle in wilder Natur unter dem nicht endenwollenden Guß eines Regenschauers in Protest aus, er hätte sie überlistet zu diesem Weg und es wäre bestimmt kein einziger Tourist auf diesem verdammten Seelenberg. Er selbst aber, der allein auch die Wanderung beendet, wünschte sich in diesem Augenblick gleichfalls ein Haus zu finden, wo man in trockene Kleidung schlüpfen könnte, im Korbstuhl am Feuer sitzen würde mit einer Tasse Tee in der Hand, um hinaus zu blicken auf den Regen, der in der Traufe trommelte. Und er wünschte sich, sie wäre ein braves Mädchen auf seinem Schoß, der er eine Geschichte erzählt, die nichts zu tun hätte mit ihr oder ihm oder dem Chaos der Menschenwelt. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 130 Obwohl das Ganze als epische Fiktion sich natürlich auf einer ästhetischen Ebene abspielt, ergeben einen ersten durchgehenden roten Faden die den ganzen Roman durchziehenden autobiographischen Anspielungen des Autors als Hinweise auf die handfeste Realität, aus der heraus die Beobachtungen, Reflexionen und Erinnerungen des monologisierenden Wanderers aufsteigen. Ziemlich am Beginn bereits, wo das Selbst mit dem Ich ein Gespräch führt - eine sehr differenzierte und fortgeschrittene Art des Selbstgesprächs - heißt es: „Während du dem Weg nach Lingshan nachforschst, wandere ich den Jangtse Fluß entlang und halte Ausschau nach dieser Art von Wirklichkeit.“ Die Suche nach Lingshan ist also keine einsträngige, sondern eine mehrschichtige Angelegenheit, wobei eine Reihe der Anspielungen sich auf reale Fakten bezieht. So ist ein autobiographisches Faktum seine Mitgliedschaft beim Schriftstellerverband. Einmal ist von einem „Freund“ von ihm die Rede, der von seinen Erfahrungen auf einer Umschulungsfarm für Zwangsarbeit berichtet und der „Freund“ ist offenkundig er selbst. Auch die Geschichte der Fehldiagnose mit dem Lungenkrebs ist eingearbeitet. Dazu kommt noch, daß der Weg nach Lingshan nicht nur eine Wanderung durch Orte, sondern auch durch die Zeit ist, die mitunter mit einzelnen Orten direkt oder indirekt verbunden ist. Was die Zeit selbst betrifft, so geht der Wanderer nicht immer nur vorwärts, sondern mitunter auch rückwärts, durch den Krieg, durch die Revolution, durch Kampf-Versammlungen mit Kritik und Selbstkritik bis - ja vor allem bis zurück - zur Kindheit in den Armen der Mutter bei Fliegerangriffen - während eines solchen Angriffs war er geboren worden -, zur Amme und ihrer Küche und zu einem Paar von weißen Hasen, die er besessen hatte. Manche der Kindheitserinnerungen beschwören Glück, aber viele beschwören unsagbare Traurigkeit und sie bestätigen seine Annahme, daß er ein Flüchtling gewesen war von der Stunde seiner Geburt an. Zur Kette der autobiographischen Hinweise gehört es auch, daß er einen Möchte-Gern-Autor, der ihn bittet sein Romanmanuskript für ihn einzusenden, darauf hinweist, dieser sollte dies lieber selbst tun. Würde er es nämlich für ihn einsenden, dann wäre die Ablehnung sicher. Den Grund für die gesamte Wanderung aber gibt die autobiographische Bemerkung: „Ich wandere überall hin, um mich der Untersuchung zu entziehen.“ Wie er auch ausdrücklich sagt, daß er auf der Suche nach dem Selbst sei und daß die Abfassung eines Buches über das menschliche Selbst gar nicht der Veröffentlichung bedürfe. Eine gewisse Klarheit und Ordnung innerhalb des scheinbaren Wirrwarrs ergibt sich sofort, wenn man die Frage nach dem Negativen stellt, dem er zu entfliehen sucht und das er ablehnt. Es sind dies die Entsetzlichkeiten des totalitären Staates, in diesem Fall des maoistischen China, das seinen untersten und tiefsten Höllenkreis mit der Kulturrevolution erreicht hatte. Diese war 1966 ausgebrochen und wird wiederholt apostrophiert. So wird beispielsweise vom Lehrer einer Oberschule berichtet, dessen Familiengeschichte auf einer zwölf Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 131 Fuß langen Rolle aufgespannt war, die konfisziert und öffentlich verbrannt wurde. Oder es wird eine Reihe von kostbaren volkskundlichen Masken erwähnt, die zur Geisterbeschwörung getragen wurden, und die darum durch Zufall der Vernichtung entgingen, weil sie in einem Museum landeten. In dem berühmten Tempel des Weißen Kaisers wurden die Altäre zerstört und durch Lehmfiguren nach Visionen der historischen chinesischen Oper ersetzt, sodaß der Tempel jetzt wie ein Opernhaus aussieht. Auf einem Flußboot des Jangtse bei Wanxian sieht er wenigstens einige Fische in Körben, doch sind sie so klein, daß sie in früherer Zeit höchstens als Katzenfutter verwendet worden wären. Er hat ein Gespräch mit dem Ersten Offizier des Boots, der ihm berichtet, wie er in den Tagen der Kulturrevolution, versteckt in seiner Kabine, Zeuge einer Massenexekution geworden war. Menschen wurden in Dreiergruppen mit Draht an den Gelenken zusammengebunden und durch Maschinengewehrfeuer in den Fluß getrieben. Wurde einer getroffen, fielen alle drei in den Fluß, strampelten noch einige Zeit und trieben sodann wie tote Hunde flußabwärts. Gao zieht den Vergleich, daß sowohl große Menschen wie große Fische beseitigt wurden. Es sei klar, daß diese Welt nicht für sie gemeint sei. Stiller und dabei vielleicht sogar noch entsetzlicher als alle körperliche Unbill, Hungertod und Gulag ist aber das Entfernen, Vorenthalten, Verbieten und Vernichten von Nahrung der Seele. In dem Waldgebiet von Sheenongjia trifft der Wanderer auf einen Mann, der Volkslieder gesammelt und aufgezeichnet hat und ist besonders fasziniert von einem solchen Volkslied, das in seinem Text eine ganze Reihe von Liederbüchern aufzählt, deren letztes den Titel „Protokoll der Finsternis“ trägt. Der Gewährsmann des Wanderers erklärt ihm, dies sei eine Liederfolge, welche die Kinder eines Verstorbenen bei dessen Begräbnis sangen, bevor der Sarg ins Grab gesenkt wurde. Diese Liederfolge wurde auf dem Sing-Platz vor der Geisterhalle gesungen, oft drei Tage und drei Nächte lang. Der Gewährsmann berichtet ferner, daß ein alter Vorsänger in seiner Metalltruhe mit Liederbüchern auch eine vollständige Folge des „Protokolls der Finsternis“ besessen hatte, die aber von „Sicherheitskräften“ beschlagnahmt wurde, worauf der Besitzer bald darauf starb. „Wo sonst kann Ehrfurcht für die Seele gefunden werden? “, fragt der Wanderer verzweifelt über den Verlust und folgert: „Was verehrt werden sollte, wird es nicht und statt dessen werden alle möglichen anderen Dinge angebetet.“ Trotz der in völlig regellosen, freien Assoziationen in stets wechselnder Abfolge beschworenen Plätze, Orte, Elemente und Zeiten des Seelenbergs von Kindheit und Traum bis zu Volkslied, Kunst und Religion stellt den gemeinsamen Nenner des Positiven der Selbst- und Seelensuche im Grunde die Summe oder vielleicht besser die Integration all dessen dar, was auf seiner Suche jenseits der durch die atheistische Politik unterdrückte, zerstückte, verbotene und Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 132 vergessene Seelennahrung ausmacht, zu der ihn seine Sehnsucht treibt und die dieser Stimme verleiht. Hier seien als Beispiele einige der religiösen Hinweise herausgegriffen, weil sie besonders deutlich zeigen, daß Gaos Vorstellungen im einzelnen und Konkreten alles andere als vage sind und er genau weiß, was auch heute dem nihilistischen Materialismus als haltbare Sinngebung entgegengesetzt werden kann. So scheint es mir bemerkenswert, daß der Konfuzianismus als Ganzes kaum als sehr wichtig aufscheint, wohl aber die zweite der fünf Tugenden dieses religiösen Systems „Yi“ und ihre Riten. Yi wird wohl am besten durch den deutschen Begriff Gerechtigkeit wiedergegeben, wobei es sich jedoch um eine besondere Art von Gerechtigkeit handelt, nämlich um eine durch Mitleid eingeschränkte und gemilderte. Was den Buddhismus betrifft, so spielt eine ungewöhnlich breite Skala von Möglichkeiten eine allerdings jeweils verschieden wichtige Rolle. Gleich im ersten Kapitel des Romans wird jener Mahakashapa erwähnt, dem Buddha in seiner berühmten „Blütenpredigt“ die esoterische Linie der buddhistischen Religion anvertraut hat und nach Gao hat dies „auf dem Lingshan“ stattgefunden. Man hat offenkundig den „Lingshan“ nicht als einen bestimmt geographischen Punkt zu verstehen, sondern der Lingshan ist überall, wo etwas Wichtiges für die Seele geschieht. Eine eigenartige, wenngleich sogar wahrscheinliche Möglichkeit ist es zudem, daß Gao ZEN und Mahakashapa vielleicht nicht in China, sondern im Westen kennengelernt hat. Neben Mahakashapa gibt es aber auch ein ganzes Kapitel über den exoterischen Theravada-Buddhismus, welches die Rhythmen der Glocken und Trommeln hervorhebt. Gao schließt hier allerdings mit dem Hinweis darauf, daß beim Beten der Sutras jedes Mal am Ende eines Satzes die Stimme mit einer etwas höheren Tonskala ertönt, „sodaß hier die noch nicht überwundene Leidenschaft existiert, daß eine Seele gequält wird“. Über das Christentum äußert sich der Wanderer selbst nicht, aber eine der Frauen, die vorübergehend seine Begleiterin ist, verehrt besonders die heilige Maria als Mutterfigur mit dem Kind. Eine besonders wichtige Rolle spielt der Taoismus und es gibt sogar eine Stelle, an welcher er gegenüber dem Buddhismus als noch positiver abgesetzt wird. Da der Wanderer kurz Gast in einem taoistischen Nonnenkloster ist, bemerkt er: „Frühmorgens und abends hört man durch die geschnitzten Gitterfenster das Lachen und Plaudern der Nonnen. Hier herrschen nicht die erstickende Atmosphäre, die Strenge und Verbote buddhistischer Klöster, stattdessen Ruhe und Weihrauchduft.“ 7 Eine der ausführlichsten Schilderungen ist denn auch der Ausführung taoistischer Riten durch einen Priester dieser Religion nachts in der Gegend des 7 Der Berg der Seele, op. cit., S. 438. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 133 Quingcheng gewidmet, der den Taoisten heilig ist. Der Wanderer schließt mit der überraschenden Einsicht, er hätte niemals in einem so winzigen Dorf eine solch erregende Nacht erwartet. Aber er ist trotzdem kein gläubiger Taoist, so wichtig ihm diese Tradition auch im Gegensatz zum Maoismus als Seelennahrung erscheint. Man fühlt sich an das Nicht-mehr und Doch-schon Hermann Brochs erinnert, zu dem es etliche Parallelen in diesem Roman gibt. Es paßt hier allerdings besonders gut dazu, daß Gao in den Literaturkreisen von Beijing zum ersten Mal 1981 mit einem literaturkritischen Werk über den modernen Roman Aufmerksamkeit erregte, in dem er geradezu dazu aufrief, die chinesischen Schriftsteller mögen sich mit den modernen Erzähltechniken des westlichen Romans bekannt machen. Wie er auch schon in seinen beiden ersten Romanen die in China völlig ungewöhnliche Technik des inneren Monologes angewendet hatte. Wie auch gegenüber der Krise, dem Chaos, dem Wahn unserer Zeit die stille Vorsicht und die dem Taoismus so verwandte, ja gleichartige Bescheidenheit der letzten Schlußzeilen viel angebrachter und überzeugender wirken als die marktschreierischen, lauten Parolen des Maoismus. Diese Abschlußzeilen lauten: „Dinge geschehen hinter meinem Rücken und es gibt immer ein geheimnisvolles Auge, so ist es besser, sich wissend zu stellen. Während ich vorgebe zu verstehen, begreife ich noch immer nicht. Tatsächlich begreife ich gar nichts, ich verstehe überhaupt nichts. So ist es.“ 8 Das klingt fast wie eine chinesische Variation von Goethes „Ehrfurcht vor dem Unerforschlichem“. Wie gering aber dieser Ausspruch auch klingen mag, die durch ihn implizierte, tiefe Toleranz ist das beste Gegengift gegen die Sicherheit ideologischer Selbstüberhebung nicht nur des Maoismus. Wie denn der Roman als Ganzes Zeugnis dafür ablegt, welche wichtige Rolle Dichtung in der spirituell so ausgetrockneten Umgebung eines totalitären Staates leisten kann, um dem Ungeist gegenüber geistiges Bewußtsein zu fördern und spirituelles Verlangen zu stillen. Obwohl oberflächlich betrachtet Gao gegen den Atheismus anschreibt und V. S. Naipaul gegen die After-Religiosität der Fanatiker des islamischen Fundamentalismus, geht es doch beiden im Grund um dasselbe und sind sie innerlich zutiefst verwandt. Der zweite große Roman von Gao, Das Buch eines einsamen Menschen 9 , stellt die bisher wahrheitsgetreueste und packendste dichterische Darstellung der sogenannten „Kulturrevolution“ (1966-1976) in China dar, die Hitlers Konzentrationslager und Stalins Gulag noch übertroffen hat. Der Roman schildert dies am Beispiel des Schicksals und der Entwicklung des bis in zahlreiche 8 Der Berg der Seele, op. cit., S. 547. 9 Gao Xingjian: Das Buch eines einsamen Menschen. Frankfurt am Main 2006. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 134 Details hinein autobiographischen Helden in diesen Jahren des Terrors. Hier geht es nicht einfach um ein Chaos, sondern um Steigerungsformen von jeweils einem Chaos zu einem noch größeren. Die innerchinesische, sogenannte „Wundenliteratur“ ist gegenüber diesem Exilroman die reine Farce. Wenn es in ihr etwa heißt, der Terror sei von den Halbwüchsigen der „Roten Garden“ ausgegangen, dann zeigt Gao, daß diese „Roten Garden“ zwar wild und wahnsinnig gefoltert und gemordet hatten, daß sie jedoch im Grunde selbst Opfer und Marionetten in jenem politischen Spiel gewesen sind, für welches die Gesamtverantwortung einzig und allein bei der Partei und im allerletzten bei Mao lag. Zu den zahlreichen Höhepunkten des Romans gehört darum gerade auch das dreiundfünfzigste Kapitel gegen Ende des Buches, in dem der autobiographische Held einen als Dialog getarnten inneren Monolog angesichts des in einem Mausoleum ausgestellten Leichnams von Mao hält. Gerade weil diese Konfrontation frei von Haß ist, - er nennt Mao „alter Herr“ - ist sie in ihrer nüchternen Sachlichkeit um so vernichtender. Er hat hier den inneren Zustand überwunden, in dem er selbst mit Wandzeitungen von Haß und Anklage als „Rebell“ und Revolutionär auf die Terroristen losgeschlagen hatte und in der Eigenschaft jener Haß-Freiheit kann man dieses Kapitel mit der Größe von Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor vergleichen. Diese Konfrontation mit Mao steht gegen Ende des Romans, dessen letzte Kapitel eine Art Zusammenfassung der geistigen Ergebnisse bieten, die der Held aus Leid und Schrecken seiner Entwicklung schließlich gezogen hat. Im darauf folgenden vierundfünfzigsten Kapitel ist in dieser Zusammenfassung der Begriff der Einsamkeit des Titels besonders positiv besetzt: „Es gab keinen Grund zu Sarkasmus - von Selbstironie und Selbstzerfleischung hattest du genug. Es ging nur noch darum, ganz sachte diese Lebenshaltung zu bewahren und dich, wenn du dich irgendwo in Einsamkeit auf dich selbst besannst, um das Wunder des Augenblicks zu bemühen und in Einklang damit zu sein.“ 10 In einem Kurzvortrag über die Notwendigkeit der Einsamkeit hat Gao sodann die Mehrschichtigkeit der positiven Besetzung des Einsamkeitsbegriffs genauer ausgeführt. Demnach ist Einsamkeit die Motivation des einzelnen, weiter fort zu schreiten und Schwierigkeiten zu überwinden, sie ist überdies wesentlich für die Grundhaltung des Erwachsenen, da sie Unabhängigkeit unterstützt, ja sie ist geradezu eine Voraussetzung für die Freiheit. Die innere Freiheit ist nämlich abhängig von der Fähigkeit zu reflektieren und solche Reflexion kann nur stattfinden, wenn man wirklich allein ist. In der heutigen Zeit mit ihrer ungeheuren Belastung durch die Massenmedien, besonders im Chaos totalitärer Propaganda, ist die Einsamkeit das letzte Bollwerk zumindest einer inneren Ordnung, welche durch die Stimme des Herzens deutlich wird und die 10 Das Buch eines einsamen Menschen, op. cit., S. 439. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 135 Voraussetzung dafür darstellt, daß ein Individuum zur Selbstverwirklichung gelangen kann. 11 Dabei ist auch Zweifelhaftes über die Einsamkeit bei Gao geschrieben worden, etwa daß chinesisch zuletzt nur noch ein Vehikel des Ausdrucks bei ihm darstellt, obwohl er wiederholt und ausdrücklich darauf hingewiesen hat, wie sehr er die alte Tradition Chinas im Roman schätzt. Ja sogar als er begonnen hatte, französisch zu schreiben, fühlte er sich als jemand, der zwei Kulturen, die chinesische und die französische in sich verband. Vor allem aber hat er auf den Chan-Buddhismus und Taoismus als den reinsten Geist der großen chinesischen Kultur hingewiesen und war es sein Vorschlag und Programm, diesen Geist wieder zum Leben zu erwecken und ihn zum Geist der modernen chinesischen Literatur zu machen. 12 Auch wenn man den Einsamkeitsbegriff mit Gaos Exilsituation verbinden wollte, geht die Rechnung keineswegs auf. Nur jemand, der niemals selbst Erfahrung mit einem wirklich fanatischen Totalitarismus gemacht hat oder der einfach unfähig ist, sich in einen solchen hineinzudenken, kann annehmen, daß die Einsamkeit des Menschen im Umerziehungslager nicht wesentlich entsetzlicher gewesen ist als Gaos neue Exilsituation in Frankreich, wo er neue echte wirkliche Freunde gefunden hatte und zudem noch eine gleichgesinnte chinesische Lebensgefährtin. Auch einen wirklichen Bruch zwischen den politischen und den erotischen Abschnitten des Romans zu sehen, wie nahe es bei oberflächlicher Betrachtung auch liegen mag, ist nicht richtig. Denn die geschilderten Affären, mit denen allen er ohnehin scheiterte, waren ihm nicht einfach ein Abstieg ins Animalische gewesen, sondern waren auch Teil seines politischen Kampfes gegen die verkrampft puritanische und geradezu lächerliche Seite des Maoismus, die er auf diese Weise zu durchlöchern versuchte. Freilich war dieser Puritanismus für manche Parteimitglieder nicht gültig und bindend und am allerwenigsten für Mao selbst. Der Roman beginnt mit der Rückerinnerung des Protagonisten an den Garten der Kindheit, was zeigt, für wie wichtig auch Gao die frühe Kindheit gehalten hat. Ausgelöst wird diese Erinnerung durch ein Foto, das den autobiographischen Helden sehr klein, mit geschlitztem Kinderhöschen und Kapitänsmütze zeigte und zwar vor dem Rundtor des sommerlichen Gartens, der von Chrysanthemen und purpurrotem Hahnenkamm übersät war. Von den dreizehn Personen auf dem Foto waren, als er es betrachtete, nur mehr zwei am Leben: eine Tante in Amerika und er selbst. Es war bergab gegangen mit einer Familie, die zu sensitiv und menschlich gewesen war. Man starb auch nicht 11 Gao Xingjian: The Case for Literature. New Haven und London 2007, S. 164-166. 12 The Case for Literature, op. cit., S. 93. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 136 mehr an einer Krankheit, sondern man ertrank, beging Selbstmord oder man folgte dem Ehepartner ins Umerziehungslager. Als Kind hatte ihm in einem Tempel, der jetzt so zerstört war, daß es nicht einmal mehr eine Ruine davon gab, ein Mönch die Zukunft prophezeit. Dieser hatte erklärt, daß dieser kleine Kerl einmal großes Übel bringen würde und daß man es mit ihm nicht leicht haben wird. Dann hatte ihm der Mönch fest gegen die Stirn geschlagen und erst später, als er sich als Erwachsener mit ZEN- Buddhismus beschäftigt und Koans gelesen hatte, ging ihm plötzlich auf, daß ihm dieser Mönch vielleicht eine ersten Lektion über das Leben erteilt hatte. Als Kind war er in seiner Phantasie auf dem Rücken einer Wildgans geritten, natürlich nach der Lektüre von Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen, und einem Märchen Andersens folgend hatte auch er ein Kupferschwein umarmt und war auf seinem Rücken zum Palast in Florenz geritten. Dem Kontrast dieser Kindheitserinnerungen stehen die späteren Erlebnisse als Erwachsener besonders kraß und deutlich gegenüber, etwa die Beschreibung, wie er eingekeilt in die Masse einer Rede Maos zuhört. Während dieser Rede und nachher brechen alle in frenetische Beifallsschreie aus und er weiß, daß es nicht genug ist, die Faust zu heben, da auf dieser Versammlung jede einzelne von der Masse abweichende Bewegung genau beobachtet wurde. Einmal trifft er auf der Treppe den alten Liu, der ihm eröffnet, daß das Zimmer, in dem der Held lebt, durchsucht und versiegelt worden war. Da jemand kam, flüchtete der alte Liu die Treppe hinunter ins Freie und verschwand. Als der Held aus seinem Albtraum erwacht, wird ihm bewußt, daß der alte Liu längst aus dem Fenster eines hohen Stockwerks des Redaktionsgebäudes auf die Straße geworfen worden und daher längst tot war. Schon bald nach dem Beginn der Kulturrevolution hatten junge Menschen an der Universität, die ein paar westliche Bücher gelesen hatten oder sich liberal geäußert hatten, plötzlich zu verschwinden begonnen. Er verstand schnell, daß man eine Maske tragen mußte und zunächst wurde seine Zuflucht die Bibliothek. Sein wirkliches Leben aber begann nach der Arbeit in der Nacht. Er las und schrieb bis zum Morgengrauen. Sein Schreiben begann ursprünglich mit dem Antrieb, sich der Welt um sich wie in sich bewußt zu werden. Tagsüber, während der Versammlungen, holte er den Schlaf nach und wurde darum der „Träumer“ genannt. Als er in ein „Umerziehungslager“ geschickt wurde und noch Böseres zu befürchten hatte, gelang es ihm, mit der Schlauheit eines Fuchses aus dem Lager zu fliehen und einen Unterschlupf in einem abgelegenen Dorf in den Bergen zu finden. Fünf Jahre Arbeit, zuerst kurz als Bauer und sodann als Dorfschullehrer, brachten eine große Erleichterung für ihn, obwohl ihn der neue „Lebensstil“ in einer milderen Form sogar auch hier noch einholte. Damals gab es Zeiten, in denen er so ohne Hoffnung auf eine Flucht war, daß er sich innerlich auf ein primitives Landleben bis zum Tod vorbereitete. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 137 Die Leute, die in der Kulturrevolution an die Macht kamen, entwickelten einen feinen Instinkt für die Schwächen der Menschen, spielten sie gegeneinander aus, säten Haß und das Resultat war ein einziger, gigantischer Terror. Gao hat einmal erklärt, er hätte diesen Roman schreiben müssen, weil dieser nicht bei der Anklage stehenblieb, sondern dem Übel wirklich auf den Grund ging und es entlarvte. Darum hätte er diesen Roman als ein Buch „über das Individuum und die Menge“ geschrieben. Man fühlt sich an Brochs Massenwahntheorie erinnert. Der Mechanismus der „Revolution“ sollte enthüllt werden. Es begann damit, daß die Revolution alles, was vor ihr existiert hatte, zu vernichten trachtete, um ein totales Chaos herbeizuführen. Die Konsequenz davon war eine Diktatur, die noch ärger und entsetzlicher war als alle vorhergehenden. Man kann nicht alle Ordnungen zerstören und auf die Geburt eines Neuen aus dem Nichts hoffen. Was aber Mao selbst betrifft, so hat Gao in seiner Nobelpreis-Rede erklärt, eine Person könne nicht Gott sein und schon gar nicht Gott ersetzen. Dem stellte er den Schriftsteller entgegen, der eine normale Person ist, obwohl vielleicht sensitiver und empfindlicher als andere, der jedoch nur für sich spricht und eine schwache Stimme hat, die dafür allerdings authentischer ist als viele laute Stimmen. Jedenfalls kann Dichtung nur die Stimme eines Individuums sein und nicht irgendeiner Ideologie - welcher auch immer. Wenn es aber einer Ideologie gelingt, durch organisierte und manipulierte Kraft zu einer wirklichen Macht zu werden, dann werden beide, sowohl das Individuum wie die Dichtung zerstört. 13 Wohl zeigte Gott sich im Schicksal oder Zufall. Gao aber trug religiöse Gefühle in sich und erklärte, die Menschen bräuchten Gebete so dringend, wie sie auf der körperlichen Ebene essen und Sex benötigten. Der allerletzte Absatz beginnt mit den Worten „Orgel und Chormusik“, ehe er mitteilt, daß er seine Freunde erwarte, die ihn zum Flugplatz bringen sollten, da kurz nach zwölf seine Maschine nach Paris ging, in die geliebte Wahlheimat seiner Flucht. Was in diesem Roman an Musterbeispielen von individueller Gehirnwäsche, von Massenpsychose, die in totalen Wahnsinn ausartet, von sinnlosen und sadistischen Folterungen und Morden enthüllt wird, ist ebenso abscheulich wie deprimierend und läßt die Verzweiflung Gaos verstehen, aus der heraus sich dies alles durch sein Schreiben nicht nur bewußt zu machen, sondern auch von seiner Seele zu wälzen versuchte. Zunächst wird das jeweilige Phänomen in seiner Ganzheit selbst dargestellt. Zum Beispiel eine Szene, in welcher eine Bande von halbwüchsigen „Rotgardisten“ eine hilflose alte Frau, deren Schuld darin bestand, daß sie mit 13 The Case for Literature, op. cit., S. 32. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 138 einem längst hingemordeten Grundbesitzer verheiratet gewesen war, auf offener Straße mit den Schnallen ihrer Gürtel langsam zu Tode prügeln. Das Entsetzlichste daran ist aber nicht nur, daß sich rings um die Szene ein Kreis von Zuschauern bildet, von denen kein einziger einen Einwand erhebt, geschweige denn, daß er dagegen eintreten würde, sondern daß sogar aus dem Kreis der Zuschauer ein junges Mädchen sich seinen Gürtel löst und ebenfalls beginnt, mit dessen Schnalle auf die alte Frau einzuschlagen. Die letzten Kapitel des Romans bieten eine Art Zusammenfassung dessen, was man die reflektierte Lehre nennen könnte, die Gao aus alle dem gezogen hat, da er anderen Menschen die Erfahrungen selbst ja nicht vermitteln kann. Nachdem er durch so viele ganz besonders ungewöhnliche negative wie positive Erlebnisse gehen mußte, hatte er dadurch zunächst das unbeschreibliche Wunder des Lebens entdeckt. Natürlich weiß er jetzt auch, daß Haß nutzlos ist und schadet und zwar vor allem dem Hassenden selbst. Dafür hat er Ehrfurcht vor dem Leben, das sogar ihm noch Heiterkeit zu erzeugen vermochte. Er entdeckte sogar, daß er selbst nicht ganz so einsam auf der Welt war, sondern daß er gute und vertraute Freunde hatte, besonders auch neue im Westen. Und er fand heraus, daß Kummer nur ein Ausdruck der Suche nach dem eigenen Selbst war. Es war in seinem französischen Exil in der kleinen Grenzstadt Perpignan, in der er die Freude am Leben wiedergewonnen hatte. Hier hatte er den Zustand erreicht, daß er niemanden mehr als Feind betrachtete und in dem auch ein neues Freiheitsbewußtsein in ihm erwachte, nachdem die Furcht verschwunden war. Er fand heraus, daß Perpignan vor achthundert Jahren eine Verfassung gehabt hatte, die Toleranz, Frieden und Freiheit sicherten und machte dies zum Teil, ja zum Schußteil seines Romans. Er dankte dem Leben und konnte schließlich in gleicher Weise seinen Dank an „unseren Herrn“ aussprechen, über dessen genaueres Wesen oder Namen er sich jedoch nicht näher ausläßt. Eine positive Ordnung beginnt gegenüber dem totalitären Chaos Gestalt anzunehmen. Als Anhang zu den beiden Romanen wurde im Fall von Gao hier nicht ein ganzer Essayband genommen, sondern lediglich ein einzelner Essay aus einem solchen Band. Es ist indessen ein so wichtiger Essay, daß sein Titel dem ganzen Band den Titel gegeben hat. Dieser Titel lautet „Die Sache der Literatur“. 14 Es ist Gaos Nobelpreis-Rede und behandelt das Wesen der Dichtung. Die Darstellung ist so kondensiert und verdichtet und zudem von solch großer Allgemeingültigkeit, daß man sie geradezu dem vorliegenden Buch über Dichter als Boten der Menschlichkeit als Vorwort voranstellen hätte können. 14 „The Case for Literature“. In: Gao Xingjiang: The Case for Literature, op. cit., S. 32-48. Der Titel wurde hier nicht oberflächlich mit „Der Fall” übersetzt, da dies das Mißverständnis auslösen könnte, es handle sich um den Absturz. Das Thema ist vielmehr (wie vor Gericht), einen Fall für die große Wichtigkeit der Dichtung vorzutragen, die Gao einfach „Literatur“, in seinem Sinn noch genauer „kalte Literatur“ nennt. Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 139 Gaos Ausgangspunkt ist die chinesische Literatur, die im 20. Jahrhundert immer wieder verschlissen und verbraucht wurde, ja fast ganz abstarb, weil sie durch die Politik völlig manipuliert worden war. Die „revolutionäre Literatur“ verhängte ein Todesurteil über die Literatur sowohl wie über das Einzel-Individuum. Im Namen der Revolution fanden wie bei Hitler Bücherverbrennungen statt. Zahlreiche Autoren wurden hingerichtet, eingekerkert, ins Exil getrieben oder zu Schwerarbeit in Lager deportiert. Autoren, die ihre Freiheit nicht aufgeben wollten, konnten nur schweigen oder fliehen. In den Jahren, in denen Mao eine totale Diktatur errichtet hatte, war es sogar lebensgefährlich, im Geheimen für sich selbst zu schreiben. Den Schritt von der chinesischen zur Weltliteratur macht er bereits im ersten Viertel des Texts, als er ausgehend von den wenig bekannten Autorenpersönlichkeiten größter chinesischer Romane, der Reise nach dem Westen, der Räuber vom Liang Schan Moor, dem Sittenroman Chin-p’ing mei (Pflaumenblüten in goldener Vase) und dem Traum der roten Kammer ausgehend auf Kafka und Pessoa verwies, den Pionier des modernen Romans und den „bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts“. Als diese Autoren zur Sprache griffen, war nichts weniger ihre Absicht, als die Welt zu reformieren. Obwohl sie sich ihrer Hilflosigkeit als Individuen zutiefst bewußt waren, sprachen sie einfach frei heraus, denn darin bestünde die Magie der Sprache. Gao nannte die Sprache die äußerste Kristallisation der menschlichen Kultur, komplex, schwierig zu fassen, durchdringend und universal. Sie erforscht die menschlichen Vorstellungsweisen und verbindet den Menschen als empfindendes Subjekt mit dem Verständnis der Welt. Für ihn ist das geschriebene Wort magisch, weil es eine wirkliche Verständigung zwischen Einzelmenschen erlaubt über die Distanz verschiedener Völker und Zeiten hinweg. Was zählt ist die jeweilige Gegenwart des Geschrieben-Werdens und des Lesens einer Dichtung. Auf dieser beruht der zeitlose, spirituelle Wert eines Werks. Dichtung überwindet nationale Grenzen. Durch Übertragungen gelingt es, örtliche und zeitliche Schranken zu überwinden und grundlegende Einsichten in die Universalität der menschlichen Natur zu gewinnen. Nicht nur nationale Grenzen vermag Dichtung zu überwinden, sondern auch Ideologien und rassische Vorurteile. Und zwar in derselben Weise, in der eine Einzelpersönlichkeit den einen oder anderen „-ismus“ überwindet. Das gelingt darum, weil die existenziellen Bedingungen und Gegebenheiten des Menschen allen reinen Theorien und Spekulationen über das Leben überlegen sind. Dadurch wird Dichtung zur Betrachtung des Dilemmas der menschlichen Existenz und dadurch ist sie von gesamtmenschheitlicher Bedeutung. Beschränkungen werden der Dichtung nur vor außen auferlegt, durch Politik, durch die Gesellschaft, durch Ethik sowie durch Sitten und Gebräuche, die es darauf anlegen, Dichtung zur Dekoration ihrer jeweiligen Agenden zu reduzieren. Dichtung ist jedoch weder eine Verzierung für Autorität, noch ein sozialen Moden adäquater Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 140 Gegenstand, sondern sie besitzt ihre eigene kritische Urteilskategorie in Form der literarischen Qualität. Eine Ästhetik, die auf menschlichen Gefühlen und Problemen begründet ist, wird nicht veralten, trotz des laufenden Wechsels der Moden in der Literatur und in den Künsten. Im Gegensatz dazu stehen literarische Wertungen, die auf Moden beruhen und behaupten, daß das jeweils Neueste das Beste ist. Das ist ein Mechanismus, der oft an die jeweiligen Marktbewegungen gebunden ist, von denen der Buchmarkt keine Ausnahme bildet. Wenn aber ein Autor dem Urteil der Marktbewegungen folgt, wird die Dichtung bald tot sein: ganz besonders dann, wenn man an die gegenwärtige Konsumgesellschaft denkt. Gao selbst nimmt seine Zuflucht zu dem, was er „kalte Literatur“ nennt. Demnach ist Dichtung eine notwendige Aktivität, in welcher Leser und Autor auf Grund ihrer eigenen Willensentscheidung verbunden sind. Daher hat Dichtung keine Verpflichtung gegenüber den Massen. Diese Art von Dichtung, die ihr eigenes, innerstes Wesen wiederentdeckt hat, nennt er „kalte Literatur“. Sie existiert einfach dadurch, daß die Menschheit eine rein spirituelle Tätigkeit jenseits jeglicher Belohnung durch materielle Wünsche anstrebt. „Kalte Literatur“ hat oft die Konsequenz, daß sie fliehen muß, um zu überleben. Es ist eine Literatur, die es ablehnt, von der Gesellschaft im Interesse von deren Trachten nach spiritueller Rettung oder Erlösung geknebelt zu werden. Gaos „kalte Literatur“ umfaßt demnach alle bedeutende und unabhängige Exilliteratur, die nicht einer Ideologie entflieht, nur weil sie dem geschlossenen System einer anderen unzerreißbaren Weltanschauung anhängt. Er schlußfolgert, daß im Fall eines Volkes, das nicht fähig ist, solche nicht-utilitaristische, nicht-opportunistische Dichtung entstehen und sich verbreiten zu lassen, nicht nur ein Unglück für den Autor, sondern eine Tragödie für das ganze Volk darstellt. Abgesehen von allgemeinen Hinweisen, wie etwa, daß die Menschen in der Regel aus der Geschichte nichts lernen oder daß wissenschaftlicher und technischer Fortschritt die Menschheit keineswegs zivilisierter und humaner gemacht hat, erklärt Gao, daß der Autor nicht notwendig ein Prophet zu sein hat. Was er aber muß, ist bewußt in der Gegenwart zu leben, aufzuhören, sich verdummen zu lassen, Täuschungen und Selbsttäuschungen abzuweisen, scharf den gegenwärtigen Augenblick der Zeit ins Auge zu fassen und gleichzeitig sich kritisch selbst zu analysieren. Während man die Welt und die anderen in Zweifel zieht, darf man nicht verabsäumen, auf sich selbst zu blicken. Denn dieses Selbst ist ebenso ein totales Chaos. Obwohl Verderben und Unterdrückung in der Regel von außen kommen, so verstärken die Feigheit des Menschen und seine Angst oft sein Leid und verderben sein Selbst. Das kann dazu führen, daß andere aus diesem Grund leiden müssen. Es geht demnach also um doppelte Chaosüberwindung, solche der Außenwie der Innenwelt. Ob aber durch einen Fluch oder eine Segnung, Sprache hat die Macht, Körper und Geist wachzurütteln. Sprachkunst aber beruht auf der Fähigkeit Gao Xingjian oder der unzerstörbare Drang nach Freiheit 141 dessen, der sie gestaltet, seine Gefühle andern zu übermitteln. Dichterische Sprachkunst ist kein Zeichensystem oder semantisches Arrangement, das nicht mehr erfordert, als grammatische Strukturen. Wenn die lebende Person hinter der Sprache vergessen wird, können semantische Darlegungen leicht zu einem leeren Spiel des Verstandes werden. Das Schreiben von Erzählungen und Dramen ist noch nicht zu einem Ende gekommen und wird auch zu keinem Ende kommen. Die vorschnellen und vorlauten Ankündigungen vom Tod der einen oder anderen literarischen Gattung entbehren einer ernsten Grundlage. Geboren mit dem Erwachen der menschlichen Kultur ist Sprache wie das Leben selbst voll von Wundern und ihre Ausdrucksmöglichkeiten sind grenzenlos. Es ist die Aufgabe des Autors, das latente Potenzial der Sprache zu entdecken und zu entwickeln. Gao weiß, daß der Autor im allgemeinen die Gesellschaft nicht verändern kann. Für ihn repräsentiert das Werk eine unauffällige Haltung mit der Absicht, die Begrenzungen der sozialen Ökologie zu durchbrechen. Aber es ist keine gewöhnliche Haltung, denn sie ist stolz auf die Menschheit. Ihre Bedeutung wächst ihr nach Gao dadurch zu, daß sie die wirkliche, echte Stimme eines Individuums ausdrückt. Er fände es traurig, wenn die menschliche Geschichte sich nur durch unbekannte Gesetze blind mit dem Strom der Entwicklung entfaltete, so daß keine Stimme eines einzelnen gehört werden kann. Vielmehr besäße die Menschheit nicht nur die Geschichte, sondern auch die Erbschaft der Literatur. Ein Werk, das die Kraft besitzt, in der Zeit bestehen zu bleiben, ist eine machtvolle Antwort auf die Zeit und die Gesellschaft. Darin und in der Möglichkeit, einem Leser viel zu bedeuten, wo nicht gar zu helfen, besteht die Eigenwürde der Dichtung. Es war die totale Unterdrückung jeglicher Freiheit, die Gao die ungeheure Wichtigkeit der Freiheit für die Literatur bewußt gemacht hat. Und es war der Versuch des totalen Ausmerzens jeglicher Religiosität, die ihm die Wichtigkeit der Welt jenseits des Verstandes klar gemacht hat. Er hat eine lange und keineswegs geradlinige Entwicklung durchgemacht. Deshalb hat er auch in einem Interview erklärt, daß er nunmehr glaube, ohne Umschweife zu schreiben, „und das nicht nur ein Stück weit, wie es für manche Leser zuträglich ist. Ich sehe den Menschen so, wie er in mir steckt, und das schließt die Hölle mit ein.“ 15 15 Die Zeit vom 27. Mai 2004, Nr. 23. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien Jo-o Guimar-es Rosa wurde am 27. Juni 1908 in Cordisburgo im Bundesstaat Minas Gerais geboren, jenem Bundesstaat Brasiliens, der die meisten in das eigene Innere schauenden Denker hervorgebracht hat. Aus guten Gründen haben einige Kritiker Guimar-es Rosa denn auch einen Mystiker genannt. Wie es wohl auch kein Zufall gewesen ist, daß er als Kind nach außen hin kurzsichtig war. Ob das nicht eine Tendenz zur Isolation und Einsamkeit bedeutete? Grundsätzlich hat es ihm zunächst nicht gefallen, daß seine Geburtsstadt aus Vista Alegre in Cordisburgo umbenannt worden war. Dennoch hat er zu diesem neuen Namen eine wirkliche Affinität entwickelt. War er doch im „Herzen“ von Minas Gerais geboren. Ja er begann und endete seine Antrittsrede bei der Aufnahme in die Brasilianische Akademie für Sprache und Dichtung mit Hinweisen auf diese „Festung des Herzens“. Wenn er später als einsames nationales Genie bezeichnet werden konnte, der keiner „Schule“ angehörte und der auch keine wirklichen Schüler gehabt hat 1 , dann lag der Grund dafür mehr noch als in seiner Herkunft aus dem Staat Minas Gerais, dem nach S-o Paulo bevölkerungsreichsten Staat Brasiliens, in seinem ungeheuren Wissensdurst, auch wenn seine Kindheit allgemein als glücklich dargestellt wurde. Er war der älteste von insgesamt sechs Geschwistern. 2 Nach einer Quelle mit sieben, nach einer anderen Quelle schon mit sechs Jahren begann er allein für sich selbst französisch zu lernen. Neunjährig, setzte er die Seinen „in nicht geringes Erstaunen“, als er eigenhändig eine deutsche Grammatik kaufte, „um sie allein am Straßenrand hokkend zu studieren, „wenn meine Spielkameraden und ich beim Straßenfußball eine Pause einlegten“. 3 Ja man hat angenommen, daß Deutsch immer schon seine Lieblingssprache gewesen sein dürfte. 4 Rosa selbst hat einmal erklärt, er hätte immer gefunden, daß seine Bücher „in erster Linie für deutsche Leser sein müßten“. 5 Brasilianische Wissenschafter wie Horácio Costa sahen eine Wahlverwandtschaft Rosas zur deutschen Sprache und Kultur. 1 Jon S. Vincent: Jo-o Guimar-es Rosa. Boston 1978, S. 11. 2 Franklin de Oliveira: Guimar-es Rosa. In: A Literatura no Brasil. Bd.-5, Hg. von Afr-nio Coutinho, Rio de Janeiro 1970, S. 402 f. 3 Guimar-es Rosa: Rhein und Urucuia. In: Gratulatio für Joseph Caspar Witsch zum 60.-Geburtstag am 17. Juli 1966. Köln 1966, S. 245. 4 Stefan Kutzenberger: Europa in „Grande Sert-o: Vereda“-„Grande Sert-o: Vereda“ in Europa. Amsterdam - Georgia 2005, S. 23. 5 Curt Meyer-Clason: Jo-o Guimar-es Rosa und der Sert-o. In: Curt Meyer-Clason (Hg.): Die Menschen sterben nicht, sie werden verzaubert. München 1990, S. 68. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 144 Als junger Mann war er froh, einen Weißrussen kennenzulernen, durch den er zum ersten Mal die richtige Aussprache des Russischen erfuhr, das er sich auch selbst beizubringen versucht hatte. Ein Kosakenchor erweiterte später seine Aussprachenkenntnisse des Russischen. Als er als Kind nach Minas Belo Horizonte, die Hauptstadt von Minas Gerais zu seinen Großeltern geschickt wurde, um die Elementarschule zu absolvieren, kam es zu einer gewissen Isolation von anderen Kindern und damit zu einer Art Einsamkeit. Sein Wissensdurst aber richtete sich in erster Linie auf Sprachen, die er studierte, weil es ihm „Spaß“ machte. Neben seiner Muttersprache Portugiesisch sprach er Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Esperanto und etwas Russisch. Lesen konnte er Schwedisch, Holländisch, Latein und Griechisch. Sein großes Interesse an Sprachen hat dazu geführt, daß er Grammatiken einer ganzen weiteren Reihe von Sprachen studiert hat, nämlich ungarisch, arabisch, Sanskrit, litauisch, polnisch, die brasilianische Eingeborenensprache Tupi, hebräisch, japanisch, tschechisch, finnisch und dänisch. Abgesehen vom grundsätzlichen Wissensdrang und speziellen Interesse für Sprachen war er davon überzeugt, daß das Verständnis des Geistes und der Regeln anderer Sprachen sehr hilft, die eigene Sprache noch besser zu verstehen und zu beherrschen. Wie der Sprachlehrer James Joyce hat er denn auch in seinen eigenen Werken sprachschöpferisch gewirkt und sein Hauptwerk Grande Sert-o: Veredas ist wiederholt mit dem Ulysses von Joyce verglichen worden und nicht nur, weil es wie dieser ein einziger großer, innerer Monolog ist. Die Elementarschule hatte er bei den Großeltern besucht. Die ersten Klassen der höheren Schule absolvierte er am Santo Antônio College in S-o Jo-o del Rei, doch kehrte er dann nach Belo Horizonte zurück, um die höhere Schule abzuschließen. Bereits im Alter von sechzehn Jahren bewarb er sich um die Aufnahme in die Medizinische Fakultät der Universität von Minas Gerais. Zweiundzwanzigjährig hatte er sein Medizin-Studium abgeschlossen und begann als Arzt in Itaquara zu arbeiten. Im selben Jahr heiratete er ein ganz junges Mädchen, Lygia Cabral Penna, mit der er zwei Töchter hatte. Die kleine Stadt Itaquara aber wurde insofern sehr wichtig für ihn, als er hier zum ersten Mal Menschen aus der Region des Sert-o begegnete, jenes „Hinterlandes“, das in seinem gesamten Werk eine entscheidende und beherrschende Rolle spielen sollte. Im Jahr 1932 diente er freiwillig als Stabsarzt bei der Nationalgarde und war am Militärputsch der „Konstitutionellen Revolution“ beteiligt, der es unter anderem um die Interessen der Kaffee-Oligarchen ging. In Passa-Quartro, Minas Gerais, traf er mit dem späteren Präsidenten Brasiliens Juscelino Kubitschek zusammen, der dort Chefarzt war. Im Jahr 1933 wurde er Militärarzt des Neunten Infanterie-Bataillons in Barbacena. Ein Jahr darauf absolvierte er das Eintrittsexamen in den diplomatischen Dienst und wurde Beamter des Außenministeriums. Hier fand er Zeit zu schreiben und gewann 1937 den Lyrikpreis der Brasilianischen Akademie für einen Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 145 Gedichtband mit dem Titel Magma, der zunächst nicht veröffentlicht wurde. Mit einem riesigen Band von Kurzgeschichten, die er in einer Rekordzeit von sieben Monaten verfaßt hatte und deren tausendseitiges Manuskript den Titel Contos (Kurzgeschichten) trug, gewann er den zweiten Platz des Humberto-de- Campos-Literaturwettbewerbs. Er hatte sein Manuskript unter dem Pseudonym „Viator“ ohne Adresse eingereicht und als einige der Preisrichter und ein Verleger, der den Band bringen wollte, ihn suchten, war er unauffindbar. Das war freilich nur natürlich, weil er Brasilien verlassen hatte, um den Posten eines Vizekonsuls in Hamburg anzutreten. Hier lernte er Aracy Moebius Carvalho kennen, die seine zweite Frau wurde, und der er sein Hauptwerk gewidmet hat. Hier half er auch entgegen den Anweisungen seiner Regierung jüdischen Flüchtlingen bei der Visabeschaffung. Im Januar 1942 wurde er von der Regierung Hitlers in Baden-Baden interniert, doch durfte er im Austausch für deutsche Diplomaten im Mai heimkehren und wurde im Juni Sekretär der Brasilianischen Botschaft in Kolumbien. Im Jahr 1944 kehrte er in das Außenministerium nach Rio zurück. Ein Jahr später wurde er zum Chef des Dokumentationszentrums im Ministerium ernannt. Im Verlauf von fünf Monaten strich er die eine Hälfte seines dicken Manuskripts der Contos zusammen und überarbeitete die verbliebene andere Hälfte mehrmals in jahrelanger Arbeit. Sie erschienen 1946 unter dem Titel Sagarana. Er hatte damit einen neuen Typus brasilianischer Prosa-Erzählungen geschaffen, für welchen der Name „Transzendenter Regionalismus“ vorgeschlagen wurde. 6 Diese Erzählungen waren das erste wichtige Buch Guimar-es Rosas, dessen Titel Sagarana, eine der typischen Wortschöpfungen dieses Autors darstellt. Er ist zusammengesetzt aus dem deutschen beziehungsweise nordischen Wort „Saga“ und einem Suffix der brasilianischen Tupi-Sprache, das so viel bedeutet wie grob oder ungeschliffen. Außerdem weist dieses Suffix darauf hin, daß jede Seite des Buches in Bezug steht zu Elementen des „Sert-o“. Sert-o ist einer der wichtigsten Schlüsselbegriffe von Guimar-es Rosa, der sich auf jenes Hinterland bezieht, das sich halb wüstenartig mit seinen Savannen und seiner Wildnis über riesige Landstriche im Nordosten Brasiliens erstreckt. Der Sert-o hat eine eigene, vielfältige Folklore und hat durch Brauchtum bestimmte Lebensformen hervorgebracht, die in dieser dünn besiedelten und unterentwikkelten Region besonders lange und unbehelligt überleben konnten. Das Innere des Bundesstaates Mina Gerais mit seinen menschenleeren Weiten, seinen winzigen Dörfern und seinen riesigen Viehfarmen gehört zum Sert-o, dessen Menschen für die Moderne irrational, unberechenbar und undurchdringlich nach alten Gesetzen und Vorstellungen leben. 7 Euclides da Cunha hat in seinem 6 Vgl. Jon S. Vincent, op. cit., S. 15 ff. 7 Vgl. Ligia Chiappini und Marcel Vejmelka (Hg.): Welt des Sert-o - Sert-o der Welt. Berlin 2007. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 146 Werk, das grundlegend ist für das Wesen Brasiliens, die Herausbildung eines bestimmten ethnischen Typus dargestellt, der durch Rassenmischung im Sertáo entstanden war und den Prototyp des Brasilianers verkörpert. Beruflich war Guimar-es Rosa von 1946 bis 1951 mit der Brasilianischen Botschaft in Paris verbunden, zunächst als Sekretär der Delegation zur Pariser Friedenskonferenz, sodann als Erster Sekretär und schließlich als Berater der Botschaft. In Jahr 1951 kehrte er als Kabinettschef des Außenministeriums nach Rio zurück. In den Jahren 1948 und 1951 hat er sich besonders mit Homer auseinandergesetzt. Im Jahr 1953 wurde er Budgetchef des Außenministeriums und 1958 wurde er zum Minister Erster Klasse und Botschafter befördert. 1961 erhielt er einen Preis der Brasilianischen Akademie für seine gesammelten Werke. Im Jahr 1962 wurde er zum Chef der Grenzabteilung im Außenministerium ernannt und 1963 erfuhr er, daß er einstimmig zur Aufnahme in die Brasilianische Akademie für Sprache und Dichtung vorgeschlagen worden war. Obwohl dies für ihn die Krönung seiner öffentlichen Anerkennung als Schriftsteller bedeutete, hat er den Termin des feierlichen Antritts seiner Aufnahme immer wieder hinausgeschoben. Er gab ganz offen und offiziell an, er hätte die Vorahnung, daß er der großen inneren Bewegung dieser Aufnahme nicht gewachsen war und daß er an ihr sterben könnte. Am 16. November 1967 fand schließlich die Aufnahmezeremonie statt, wobei er in seiner Antrittsrede die berühmt gewordene Formulierung prägte: „Die Menschen sterben nicht, sie werden verzaubert.“ Nur drei Tage später, am 19. November starb er an seinem Arbeitstisch an einem Herzinfarkt. Schon in den Pariser Jahren war er schriftstellerisch aktiv gewesen und 1956 erschienen die zwei seiner wahrscheinlich wichtigsten Bücher Corpo de Baile (Corps des Balletts) und Grande Sert-o: Veredas (Großer Sert-o: Wasserwege). Es war auf Grund dieser Bücher, daß gesagt werden konnte, daß der Autor der einmalige Maßstab für Exzellenz in der brasilianischen Erzählprosa geworden ist, ja daß es von da an in der brasilianischen Erzählung nur mehr Werke „vor Guimar-es Rosa“ und „nach Guimar-es Rosa“ gab. 8 Das erste der beiden Bücher besteht aus einer Sammlung von sieben Werken. Dabei hat der Autor sein Möglichstes getan, um Konfusion in die Gattungsbezeichnungen zu bringen. Auf dem Titelblatt werden sieben Novellen angekündigt, auf der folgenden Seite sieben Gedichte und schließlich ist im Inhaltsverzeichnis von vier Romanen und drei Kurzgeschichten die Rede. Auf jeden Fall gehören die sieben Prosastücke zur schwierigsten und zugleich zur bedeutendsten brasilianischen Prosa. Außerdem wurde allen Ernstes behauptet, das Buch ließe sich in alle Sprachen übersetzen, nur nicht in das Portugiesische. 8 Jon S. Vincent, op. cit., S. 40. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 147 Schon seinem ersten Buch Sagarana war in seiner Lissaboner Ausgabe ein Anhang von über sechshundert Worterklärungen für den portugiesischen Leser beigegeben worden. Einen Eindruck in seine ungeheure Sprachgewalt vermittelt das Léxico Guimar-es Rosa, das mit seinen achttausend Stichworten sein gesamtes Werk umfaßt und jedes einzelne Wort, jede einzelne Wortschöpfung festhält. 9 Im Unterschied zu dem noch schwierigeren, ganz übersetzten Hauptwerk wurden bis jetzt aus der Sammlung Corpo de Baile nur einzelne Stücke übersetzt: Ins Englische die Kurzgeschichte Buriti und ins Deutsche der Roman Die Geschichte von Lélio und Lina. Das hat gute Gründe. Denn eine einzige Seite dieser Prosaerzählungen enthält mit großer Wahrscheinlichkeit genug sprachliche Neuheiten, um auch „den besten Übersetzer in einen Zustand der Erstarrung zu versetzen“. 10 Die beiden Werke Corpo de Baile und Grande Sert-o: Veredas von denen vom ersten hier nur ein Teil, nämlich der Roman Die Geschichte von Lélio und Lina, vom zweiten aber, vom Hauptwerk das Ganze behandelt wird, sind die beiden Werke Guimar-es Rosas mit der größten sprachlichen Vielfalt und dem häufigsten Gebrauch von experimentellen Formen. 11 Dazu gehören kollektive Substantiva, der häufige Gebrauch gewisser Suffixe zur Schaffung von Wortneubildungen, neue Nominalformen aus Wurzeln von Verben, Verdoppelung, Umkehrung der Wortfolge, Onomatopoesie und Alliteration. Im Unterschied zu so mancher rational konstruierter „Experimenteller Lyrik“, die aus nichts anderem besteht als aus Experiment, welche das völlig ausgetrocknete Werk zu rein Außerliterarischem reduziert, und mit Dichtung gar nichts mehr zu tun hat, dienen die sprachlichen Mitteln Guimar-es Rosas der Einblendung von sprachlichen Möglichkeiten in den großen Kosmos eines Werks und dienen auf diese Weise wie bei Broch der Erfassung neuer Realitätspartikel. Charaktere, Szenen, Höhepunkte und Symbole können bei Guimar-es Rosa mehrschichtig und mehrwertig sein und können immer wieder ins Irrationale hinausgreifen. Es gibt allerdings gewisse Übereinstimmungen, wie etwa daß sechs der sieben Erzählungen des Corpo de Baile Charakter-Erzählungen sind, wobei die Charaktere entweder versuchen, gegen das Geschick anzutreten, oder aber dieses Geschick vorauszusehen, um es zu erfüllen. Allerdings gibt es auch symbolische Charaktere und symbolische Aktionen und die Mischung von Brauchtum, Mythos und Symbolen kann Schwierigkeiten des Verstehens verursachen. Was nun den Roman Lélio und Lina betrifft, so ist der männliche Held die brasilianische Version eines Cowboys, des Viehtreibers Lélio, der natürlich im 9 Nilce Sant’ Anna Martins: O léxico de Guimar-es Rosa. S-o Paulo 2001. 10 Jon S. Vincent, op. cit., S. 43. Vom Autor ins Deutsche übersetzt. 11 Vgl. Mary L. Daniel: Jo-o Guimar-es Rosa: Travessia Literária. Rio de Janeiro 1968, S. 44, 46, 48, 50, 59, 64, 89, 104, 139, 141. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 148 Sert-o lebt. Guimar-es Rosa hatte intime Kenntnis dieses Berufs, da er im Jahr 1952 einen großen Viehauftrieb von Andrequicé nach Araçai, Mato Grosso begleitet und sogar einen Bericht darüber unter dem Titel „Mit Cowboy Mariano“ veröffentlicht hatte. Der junge Lélio ist in allen Fertigkeiten des Cowboyberufs hervorragend, aber von allen wesentlichen Fragen des Lebens und ganz besonders im Hinblick auf das weibliche Geschlecht versteht er gar nichts und ist ein reiner Tor. Eines Abends reitet er in die große Fazenda, das große Gut, von Pinhém ein mit ihrer guten Scholle und Weide und wird vom Eigentümer des Guts als Arbeiter angestellt. Er kannte weder Kummer noch Sorge, aber auch keine Sehnsucht. Als ihn der Gutsbesitzer fragt, wie er in das Hochland des Sert-o gekommen sei, antwortete er: „Ich hatte nur Sehnsucht nach meinem Schicksal.“ 12 Er hätte nur allzu gern schon mehr erlebt gehabt. Der Grund, weshalb er sich nach dem Sert-o der Gerais aufgemacht hatte, war die ebenso kurze wie oberflächliche wie unglückliche Reisebekanntschaft mit einem traumhaft schönen jungen Mädchen, Sinha Linda, das infolge des Reichtums ihrer Eltern in für ihn ewig unerreichbarer Distanz und Ferne bleiben mußte und das ihn überdies denkbar schlecht behandelt hatte. Als er sich von der Gesellschaft trennte, um seinen eigenen Weg zu reiten, wußte er, daß er sie niemals wiedersehen werde. Andererseits konnte er sie nicht vergessen. Er dachte an sie, als ob er bete. Gebet und Religion spielen überhaupt eine wichtige Rolle. So heißt es gleich eingangs: „Somit war der Viehtreiber Lélio vom Higino in der üblichen Form angestellt, als Junggeselle mit freier Station und Lohn und überdies im Namen des Herrn, Amen.“ 13 Jedoch ist die Religion nicht die einzige Form des Transzendenten, sondern wird durch überliefertes Brauchtum und Aberglauben bis zu Zaubertricks und Magie ergänzt. So spuckt Adéha, die Gattin eines der Viehtreiber, sieben Mal kurz in seinen Kaffeesatz, um zu verhindern, daß er ihr auf die Schliche komme. Über einen anderen Viehtreiber, J’sé-Jórjo erfuhr Lélio, daß er jeden Zauberspuk kenne. Lélio selbst glaubt einmal, Lorind-os Gattin habe ihn mit dem bösen Blick verhext. J’sé-Jórjo aber verzauberte einmal eine Kuh, die sich verlaufen hatte, dadurch, daß er ihr eine Maske aus Buruti-Fasern vor das Maul band und an ihrem Horn eine Kuhglocke befestigte, worauf sie an keinem Strick geführt zu werden brauchte, sondern freiwillig den Weg zurück zum Gutshof ging. In diesem Fall hatte der Viehtreiber zur Ergänzung des Zaubers auch noch das kirchliche Glaubensbekenntnis von hinten nach vorn gebetet, das die gleiche Kraft besaß wie das Sankt-Markus-Gebet. Die Transzendenz ist offen und es gibt keine Ausklammerungen oder Verbote. 12 Jo-o Guimar-es Rosa: Lélio und Lina. München - Zürich 1991, S. 8. 13 Lélio und Linda, op. cit., S. 8. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 149 Auch die Frau des Gutsbesitzers läßt Zaubertränke für ihn brauen, damit er außer Haus keine Lust verspürt. Als Lélio zum ersten Mal Rosalina begegnete, die gerade Holz klaubte, fragte sie ihn, ob er ein Zauberer sei. Etwas später, als sich ihr Charakter zu entfalten beginnt, erfährt der Leser, daß sie „eine Herrscherin über Kräutern und Blumen“ sei, was an den Charakter der Mutter Gisson in Hermann Brochs Roman Der Versucher erinnert. Dazu paßt nicht nur, daß Lélio, als er sie zuerst von hinten sah, für ein junges Mädchen hielt, und erst als sie sich umdrehte, entdeckte, daß sie eine alte Frau war. Auch ihre innere Sicherheit und positive Einstellung zum Leben bilden eine echte Parallele zu Mutter Gisson. Eine ältere lokale Prostituierte riet Lélio zu einer Frau zu gehen, die am Fluß wohne und die durch „Zauberspuk“ die Liebe nach dem Willen jedes zu lenken vermochte. Als Lélio das junge Mädchen vergessen wollte, aber nicht konnte, wußte Adéla auch dafür ein Rezept: Drei Tage hintereinander vom selben Baum ein Zweiglein pflücken, es über die Schulter hinter sich werfen und zu sagen: „Hab dich im Blau vergessen.“ Reine Magie aber wurde angewendet, als der Vorarbeiter im März zwei „Gesundbeter“ kommen ließ, „um die Weiden zu schließen“. Was dem Gutsbesitzer eine Menge Geld für Holzpfähle und Draht ersparte. Die beiden schlossen jede angegebene Fläche mit ihrer „Sympathie“. Sie umritten jede einzelne Weide die Grenzlinien entlang, sprachen leise Beschwörungsformeln und wenn sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, rammte der Ältere seine Stange in den Grund. Damit war die Arbeit getan, das Vieh blieb drinnen und brach nicht aus. Nachdem er angestellt worden war, mußte Lélio sich vor allem im Umgang mit dem eigenen Pferd und mit Rindern als fähig und geeignet erweisen, was er auch in geradezu blendender Weise vollbrachte. Sodann aber begann, zum Teil beraten oder behindert von den anderen Viehtreibern, die Entwicklung seines Charakters an dessen Schwachstelle: den Frauen. In der Zeit von seinem Eintreffen auf der Viehfazenda Pinhém bis zu seinem Abschied von ihr machte er jedoch eine Entwicklung von weitgehender Hilflosigkeit bis zu einer im Sinne von Guimar-es Rosa wahrhaften Vollendung durch. Es geht jedoch keineswegs nur um die Entwicklung von Lélios Charakter im Hinblick auf die Frauen, sondern um Grundfragen des Lebens überhaupt und hier kommt wieder der Gegensatz von Chaos und Ordnung zum Tragen. Zunächst fand Lélio, daß das Leben eine ungereimte und ungezügelte Sache sei. Darauf wird ihm erklärt, daß die menschliche Kreatur beständig in ihrer Torheit und von Natur aus töricht sei. Dabei geht es zum Teil um elementare Dinge in der rohen Umwelt der Cowboys, die harte Burschen sind. Dennoch aber, da auf dem Gut eine allgemeine Weihnachtsfeier stattfand, sprach nach dem Essen einer der Viehtreiber ein Gebet, wobei seine Stimme ergriffen und ergreifend klang. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 150 Als Lélio einen seiner Kollegen im Scherz fragte, wo der Schatz der Fröhlichkeit versteckt liege, denn um diese ginge es doch, da erhielt er folgende Antwort: „Ich bin weit weg von hier geboren, habe viele Léguas abgeklappert, hin und her, habe die Nase in viele Töpfe gesteckt … Eines weiß ich: Unglück und Schlechtigkeit habe ich am meisten gesehen. Drum habe ich beschlossen, daß es das beste ist, still in diesem Winkel zu bleiben, wo die Welt nicht so groß ist … Und wenn mir etwas auf den Pelz rückt, schüttle ich es gleich ab, in Versen und Liedchen.“ 14 Es war ein Ausspruch, der dem Autor Guimar-es Rosa aus dem Herzen kam, auch wenn er ihn nicht befolgen konnte. Der Winkel aber, in dem die Welt nicht so groß war, das war natürlich der Sert-o und das Leid sublimierte der Viehtreiber, indem er auf seiner Gitarre phantasierte. Aber gerade dieser Cowboy war dennoch nicht wirklich fröhlich, von tief innen heraus, sondern eher pessimistisch. Echte, unschuldige Freude und Fröhlichkeit strahlte dafür Rosalina aus, die Lélio auch lehrte, daß man zuerst über sich selbst lachen muß. Lélio wußte, daß man die Freude gewaltsam herbeirufen konnte, wie man den Regen ruft im Verhängnis der Dürre. Und Rosalina versicherte ihm, daß sein Herz es auch wüßte, daß das Leben seine eigenen tiefen Gründe hat. Der allwissende Autor attestiert jedenfalls Lélio nicht nur, daß er wüßte, wie am Anfang der schlimmsten Dummheit die Überheblichkeit stünde, sondern auch daß man ahnen konnte, wie sanft und gütig sein Herz war. Das aber ist das Wichtigste und es war auch die Voraussetzung dafür, weshalb die education sentimentale dieses brasilianischen Vaquero (Viehtreibers) aus dem primitiven Hinterland des Sert-o ein Happy-End finden konnte. Nicht daß das gute Herz von vornherein falsche Vorstellungen und dumme Ideen verhindern hätte können oder daß es davor gefeit hätte, aus einer echten oder falschen Erregung heraus kurz in Wut auszubrechen. Aber der lange und zum Teil recht schmerzvolle Umweg Lélios durch all seine Wünsche und Sehnsüchte im Hinblick auf Frauen bringt nicht nur Spannung in die Schilderung der Entwicklung dieses Hauptcharakters, sondern überzeugt zuletzt auch, daß er nach so vielen Zick-Zack-Pfaden und Umwegen tatsächlich und mit Sicherheit die richtige Lösung gefunden hatte. Delmiro, einer der anderen Viehtreiber, ist der erste, der Lélio über lokale Mädchen und Frauen aufklärt. An hübschen Mädchen nannte er ihm drei: Mariinha, Biluca und Manuela. Außerdem gab es zwei ältere, lokale Prostituierte, die „Tanten“ genannt, die schwarze Conceiçao und die weiße Tomázia, die es nicht um Geld, sondern aus Vergnügen taten, so lange sie Lust verspürten. Es kam dann ein Augenblick, in dem Lélio fest zu wissen glaubte, er würde Mariinha oder Manuela heiraten. Vorher hatte er natürlich die „Tanten“ be- 14 Lélio und Lina, op. cit., S. 39. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 151 sucht. Als er aber gemeinsam mit Delmiro von ihnen wegging, erklärte ihm dieser, daß sein muß, was sein muß, weil der Körper sein Recht forderte. Trotzdem sei er selbst nicht ganz dabei. Ja mitunter ginge es ihm hinterher gegen den Strich. Und manchmal packte ihn ein Drang, eine Verzweiflung, sich aus der müden Alltagsleier loszureißen. Dann hatte er den Wunsch, sich etwas ganz besonderes abzuzwingen, was ihm vorher nie gelungen wäre. Lélio ist darum von diesen Worten so erschrocken und bedrückt, weil er selbst ganz genau so fühlte. Delmiro trennte sich von ihm, weil er einen Freund besuchen wollte. Da beschloß Lélio noch einen Spaziergang zu machen und wählte dazu einen Weg, der an der Buschsteppe vorbei zu einer Flußniederung führen mußte. Und da, gerade nach der schmerzvollen Eröffnung von Delmiro, erblickte er zum ersten Mal Rosalina. Er bot ihr an, das Brennholz für sie nach Hause zu tragen, das sie gesammelt hatte und er entdeckte sofort, daß sie anders war als alle Menschen. Wie es auch nicht lange dauerte, ehe sie zu ihm sagte: „Du bist anders.“ Sie hatte ihn sofort geduzt und ihren kleinen jungen Mann genannt. Was sie sagte, das tat man. Sie herrschte, ohne es zu wollen. Ihr schelmisches Wesen tat ihrer Würde keinerlei Abbruch. Sie sprach von Gott, aber so, als wäre er weder sehr fern noch sehr nah. Sie nannte ihren Namen - Rosalina - und lud ihn zum Mittagessen ein. In späterer Zeit wurde es Lélio klar, daß er von Pinhém fortgehen würde. Warum hatte er das nicht längst getan? Da ging ihm plötzlich etwas auf: Hier lebte ein Mensch und wenn er wirklich fortging und ihn verließ, würde dies großen Kummer für ihn bedeuten. Dieser Mensch war Rosalina. Der Vergleich zwischen den Tanten und Rosalina war kein Problem, doch hielt das Schicksal, das er erleben und erfüllen wollte, für ihn noch eine Versuchung von geradezu ungeheurer Wucht bereit in der Person der zauberhaft schönen Mulattin Jini, die mit dem jüngsten und wohl anständigsten Viehtreiber Tomé Cassio zusammenlebte. Sie hatte vom ersten Augenblick an eine Versuchung für ihn bedeutet, die er auf Grund seiner Freundschaft mit Tomé zunächst leicht überwunden hatte. Als aber Tomé für einige Tage fortritt, kam es an einem Abend zu einer Begegnung mit Jini, in welcher beide von ihrer ungeheuren Begierde füreinander einfach hinweggeschwemmt wurden. Es war der Beginn einer einzigen, riesigen Sexorgie, die alles mit sich fortriß und vernichtete mit der weltverschlingenden Gewalt einer Sintflut. Trotzdem gab es mitunter Augenblicke, in denen es Lélio mit der grellen Klarheit eines Blitzes bewußt war, daß sie keinen Funken Liebe für ihn fühlte, ja daß er für sie nicht mehr war, als ein Zeitvertreib, wenngleich ein sensationell aufreizender. Trotzdem löste in ihm der Gedanke, daß der andere in wenigen Tagen zurückkehren werde, eine geradezu verzweifelte Begierde aus und machte seine Lust zur Hölle. Allerdings ließ er sich auch während dieser Tage am Sonntag nicht nehmen, Rosalina zu besuchen. Die aber schien alles zu wissen und brachte es ganz na- Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 152 türlich fertig, ihn aus ihren blanken alten Kinderaugen mit einem schelmischen warmen Lachen anzublicken und zu sagen: „Ja, ich bin wirklich geboren worden, um Dich gern zu haben, mein kleiner junger Mann.“ 15 Nach Tomés Rückkehr begannen böse Auseinandersetzungen zwischen ihm und Jini, die sich immer mehr steigerten, bis endlich Tomé fortritt, um nie mehr wieder zu kommen. Drei Tage später sandte Jini um Lélio, weil sie einen Rat benötigte und wider sein besseres Wissen kam es noch zu einer letzten, leidenschaftlichen Vereinigung. Später kam es zu einer großen Weihnachtsfeier, bei welcher Rosalina mit Lélio eine Mazurka tanzte. Bald darauf aber verschwand auch Jini aus Pinhém, weil sie einen Gutsbesitzer geheiratet hatte. Der Besitzer des Gutes von Pinhém aber hatte bankrott gemacht. Es gab eine Abschiedsfeier und Lélio, der in Pinhém in so kurzer Zeit so viel erlebt und erfahren hatte, war nun fest entschlossen, auch zu gehen. Er dachte immer wieder an ein kleines Lied, das sein Kollege, der Gitarrenspieler wiederholt gesungen hatte: Staub will ich aus Curvêlo Von Pirapora Straßenkot, Hier bleib ich keine Stunde mehr Und geh im Morgenrot. Sie hatten beide alles durchdacht und waren sich einig, weshalb Rosalina ihn bestärkte: „Geh mein kleiner junger Mann! Es ist Zeit für dich. Nicht zu fliehen, nicht weil du’s leid geworden bist, auch nicht aus Angst. Aber ich weiß und dein Herz weiß es auch, daß das Leben seine eigenen tiefen Gründe hat, es wird wohl schon ein anderer Ort auf dich warten.“ 16 Tatsächlich hatten aber beide bei ihren rationalen Überlegungen selbst keine Ahnung gehabt von den tieferen Gründen ihrer eigenen Herzen. Jedoch knapp vor Lélios Aufbruch stieß der Zwang dieser tieferen Gründe mit Gewalt aus dem Irrationalen hervor. Entgegen aller rationalen Überlegungen war eine ungeheure, trotz ihres Widersinns dennoch alles gewaltig überwältigende Macht einer tiefen Liebe hervorgebrochen, so daß der allerletzte Abschnitt des Romans völlig überraschend und unvorbereitet mit der Mitteilung Rosalinas beginnt: „Hab’ meine Siebensachen gepackt, mein kleiner junger Mann.“ 17 Sie brachen schon um vier Uhr früh auf, ohne jemandem Lebewohl zu sagen, nach einem viele Tagereisen entfernten Flecken mit dem Namen „Zahmer Fisch“, wo Rosalina den Besitzer kannte, einen guten Menschen. 15 Lélio und Lina, op. cit., S. 80. 16 Lélio und Lina, op. cit., S. 128. 17 Lélio und Lina, op. cit., S. 129 ff. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 153 „Mutter, wir gehen zusammen. Sonst, das weiß ich, wird mein Los traurig sein.“ Sie aber erklärte zuletzt: „Buriti und Rind! Das werden wir unterwegs haben, auch dort, in Zahmer Fisch, kleiner junger Mann.“ Er aber fragte: „Ist das nichts? “, doch sie erwiderte: „Es ist alles. Wir ziehen weiter in Regen und Sonne, junger Mann, wie es sich gehört.“ Der Hund Hübscher rannte voraus, seine Fröhlichkeit herausbellend. „Eine Höhe und noch eine Höhe, dann stehst du auf dem Hochland und siehst die Weite“, sagte Lélio mit dem Blick auf den Horizont, „Mutter Lina! “ „Lina? “, antwortete sie und strahlte. Sie ritten auf die Gerais, die hohen Felder. Sie blickten einander an und es war wie eine Umarmung. Von den offenkundigsten Fragen, die sich für das Verständnis hier stellen, sollen drei zu beantworten versucht werden: Wieso rennt plötzlich Hübscher freudestrahlend voraus? Wieso „Mutter“ und schließlich, um welche hohen Felder geht es? Hübscher war der Hund, der mißmutig hinter Lélio her trottete, als Lélio in Pinhém eingeritten war. Er fürchtete wohl zu Recht, er würde nun von Lélio weg und zu seiner alten Herrin zurück müssen. Wie er entdeckte, daß Lélio weiter ritt und bereit war, ihn mitzunehmen, ist ein Geheimnis - vielleicht tierischen Instinkts oder einer jener Zufälle, wie der, daß auch Rosalina mit ritt. Wichtig ist, daß für die Menschen aus dem Sert-o die Reaktionen von Tieren wichtige Vorzeichen sein können. Das Nachtrotten beim Einritt und das freudige Vorauslaufen beim Ausritt stehen sinnbildlich für Lélios Geschick. Was die Anrede „Mutter Lina“ betrifft, so wissen wir aus der Erzählung, daß Lélio einen zu Recht berühmten und bewunderten Vater hatte, doch von der Mutter erfährt man nur, daß der Vater ohne sie auf der Gerais gelebt hatte, nachdem er sie verlassen und aus dem Haus hatte laufen müssen, um nach Urucúia zu fliehen. Für Guimar-es Rosa aber war die Mutter von höchster und größter Wichtigkeit. Lélios Äußerung besagt nicht weniger, als daß er überzeugt war, nunmehr eine geistige und seelische, eine wirkliche Mutter gefunden zu haben, nachdem er so lange mutterlos gewesen war. Es ist nicht wichtig, daß es nicht die biologische Mutter ist, sondern nur daß sie erfüllt von Liebe ist. Die hohen Felder, die das Ziel der beiden bilden, beziehen sich aber natürlich auf den Sert-o, von dem es einmal schon früh im Roman heißt: „Dem Gras entquoll Milch und das Vieh entsprang der Erde … Dort, im Sert-o der Gerais gab es weder Zecken noch Fliegenlarven.“ 18 Gerade weil er so weit gereist und weltgewandt gewesen ist, war für Guimar-es Rosa dieses Hinterland wegen der alten, aufrecht gebliebenen Ordnungen, die er durch den Kontrast zu schätzen wußte, seine Lieblingslandschaft, welcher er im Grund sein ganzes Werk gewidmet hat. 18 Lélio und Lina, op. cit., S. 19. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 154 Es gilt bereits für Die Geschichte von Lélio und Lina, was François Bondy über das Hauptwerk geschrieben hat, daß nämlich die eigenartige Verbindung elementaren Geschehens mit sprachlichem Raffinement viele Leser anziehen würde. Der Roman, der im Deutschen den Titel Grande Sert-o trägt 19 , ist als ein einziger, riesiger innerer Monolog angelegt. Es ist die mündliche Erzählung eines Mannes namens Riobaldo Tatarana, der allerdings nicht direkt den Leser anspricht, sondern einen eingeblendeten Zuhörer, dem er alles erzählt, der nicht genannt wird und von dem wir fast nichts erfahren, außer daß der Erzähler selbst auf dessen Reaktionen eingeht und Bemerkungen einflicht. Diese Indirektheit hat eine wichtige Funktion, da durch sie alles offener, flexibler ausgedrückt und eine schwer auf Eindeutigkeit zu reduzierende Unsicherheit und Relativität hervorgerufen wird. Vor allem aber hat der Autor damit als Erzähler des Monologs einen Charakter geschaffen, der sowohl die Sprache der armen Landarbeiter und ihre orale Tradition beherrscht wie auch die intellektuelle, ja gelehrte Sprache der Gebildeten. Es ging ihm ja um eine umfassende Verbindung all dieser Elemente bis hinein ins Sprachliche. Es ist von dem Roman erklärt worden, daß er in der brasilianischen Literatur eine Stellung einnehme wie in der englischen der Ulysses von Joyce. Seiner komplexen Erzählstrategie entspricht sprachlich auch jene Eigenschaft zahlreicher Symbole von den Eigennamen bis zu Schlüsselbegriffen, die einen anderen Kritiker dazu verführte, sie mit der Sprache von Lewis Caroll zu vergleichen. Das letzte Wort des Romans aber, „travessa“ (Die Überfahrt) hat zu einem Hinweis auf den ruhelos durch sein Leben reisenden Abenteurer Odysseus angeregt. Der große Monolog Riobaldos berichtet seine eigene abenteuerliche Geschichte, die äußere und innere Entwicklung seiner Vergangenheit, die vom unehelichen Sohn eines Gutsbesitzers und einer armen Landarbeiterin über eine gewisse Schulbildung zum Hauslehrer und von da zum Banditen, zum Banditenführer und schließlich zum gut situierten Gutsbesitzer führt. Er versucht so genau wie möglich, alle Stationen dieser Entwicklung lebendig werden zu lassen, in der es ihm darum ging, die Welt zu verstehen und mit ihr fertig zu werden. Die zahlreichen Widersprüche dabei, labyrinthischen Umwege, Enttäuschungen wie Rechtfertigungen machen es deutlich, daß es Guimar-es Rosa nicht um ein rein verstandesmäßiges, geradezu mechanisch leicht zu verstehendes Modell des Lebens geht, sondern daß er allen Arten von Paradoxien wie auch dem immer wieder hervorbrechenden Irrationalen ihren berechtigten Platz einräumt. Auch hier geht es in einem gewissen Sinn um Vorstellungen von einer positiven Ordnung, die einer negativen Scheinordnung des Chaos gegenüberge- 19 Jo-o Guimar-es Rosa: Grande Sert-o. Köln - Berlin 1964. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 155 stellt wird. Der Welt der Savannen, der Wälder, der Hochplateaus des wilden Hinterlands von Brasilien, dem Sert-o, steht die modern straff durchorganisierte Welt der „zivilisierten“ Teile des Landes mit ihren Großstädten und ihren Truppen gegenüber, welch letztere mitunter sogar auch im Sert-o auftauchen. Dabei ergibt es sich, daß die zurückgebliebene Wildnis Werte gerettet hat, die den modern organisierten Landesteilen vielfach verloren gingen. So etwa sind viele Politiker, Staatsmänner und Vertreter der Wirtschaft, denen es allein um das Zusammenraffen von Macht und Geld geht, Atheisten, während im Sert-o sogar die meisten Banditen tief religiös sind. Dabei mag es mitspielen, daß die Banditen ein sehr viel bewußteres Leben, ständig am Rand des Todes, zu führen haben, als die Wohlstandsbürger der Städte. Daß abgesehen von dem gebildeten Erzähler Riobaldo die meisten Charaktere Viehtreiber - Cowboys - sind und sogar der Titel des Romans auf die äußerst dünn besiedelte, wilde Region eines Hinterlandes verweist, ist zwar dichterischsymbolisch auf eine ästhetische Ebene gehoben, entwirft aber ein Bild, das durchaus mit den Beobachtungen übereinstimmt, die jeder in der Wirklichkeit machen konnte, der im 20. Jahrhundert in einem totalitären Staat gelebt hat. Die straffe Organisation der Tyrannis vollzieht sich in erster Linie in den Ballungszentren der Städte, während es in der unendlichen Weite einer Wildnis fast unmöglich ist, so etwas zu organisieren. Der Übersetzer der Werke von Guimar-es Rosa ins Deutsche, Curt Meyer- Clason, hat den Sertáo als „eine Art Niemandsland am Rande der modernen Industriezivilisation“ beschrieben, wo „feudale und sogar noch heidnische Formen der Gesellschaft möglich“ sind, „Randerfahrungen, Abenteuer nach Art nordischer Sagas und uralter Epopöen.“ 20 Manche der Banditen sind freilich reine Landsknechte, bezahlt von einem korrupten Politiker (der Stadt), doch gibt es fließende Übergänge zu solchen, die wie Kämpfer einer Résistance oder Guerillas den Truppen der zentralen Staatsmacht die Stirne bieten. Wobei viele politische Führer, wie Offiziere der Armee, wie der Polizei, in einer gerechten, demokratischen Ordnung zwar positive Stützen der Gesellschaft darstellen, in einer Diktatur aber notwendig zu Vertretern der Unterdrückung und des Bösen werden. Umgekehrt stellen dann freiheitlich gesinnte „Banditen“ positive Elemente eines freien Lebens und der Freiheit dar. Wenn aber einer der wichtigsten Charaktere des Romans, Diadorim, Bandit wird, um den Mörder seines Vaters der gerechten Strafe zuzuführen, dann geschieht dies, weil keine andere Möglichkeit besteht, dem Mörder, der ein mächtiger Banditenführer ist, habhaft zu werden. Freilich hütet sich Guimar-es Rosa vor einer übertriebenen Schwarz-Weiß- Zeichnung. Die Auseinandersetzung der Banden des Sert-o mit regulären 20 Curt Meyer-Clason: Vorwort. In: Guimar-es Rosa: Sagarana. Köln 1982, S. 12. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 156 Truppen spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle. Viel mehr ist von „Kriegen“ der Banden untereinander die Rede. Vor allem stellt sich dabei heraus, daß das „Böse“ auch im Sert-o weit verbreitet ist. Der verräterische und schurkische Bandenführer Hermógenes, der Mörder des Vaters von Diadorim, hat zur Religion nur insofern eine Beziehung, als er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Nicht daß das Böse im Sert-o harmlos wäre oder verniedlicht werden sollte. Aber das Böse im Sert-o ist das vielen Menschen eingeborene, gleichsam „natürliche“ Böse, das wohl bekämpft, jedoch nicht verhindert werden kann. Totalitäre politische Systeme, fanatische Orthodoxien und andere Großsysteme fügen jedoch eine Doppelportion an künstlichem Bösen hinzu, das zudem immer heuchlerisch als gut und edel ausgegeben wird. Dieses künstliche Böse wäre durch menschliche Macht zu verhindern. Zum natürlichen Bösen gehört auch die Versuchung dazu und sogar der Held des Romans, Riobaldo, ist einer solchen Versuchung ausgesetzt. Plötzlich fand er sich in einer Lage, in der es ihm fast unumgänglich schien, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Allerdings schwebt ihm eine Art Pakt vor, in dem der Teufel stets nur ihm zu gehorchen hat und niemals umgekehrt. Nimmt man es symbolisch, dann sind solche Versuchungen in Politik und Wirtschaft weit verbreitet. Riobaldo meinte es aber wörtlich. Er ist ja ein besonders komplexer Charakter. Die monologische Erzählstrategie erlaubt es ihm, einerseits die Rolle seines eigenen, theatralischen Ichs zu spielen und andererseits die andere Seite seines Selbst in der Erzählung der Vergangenheit freizulegen: „In einer Verkleidung oder in der anderen spielt Riobaldo die Rollen des Erzählers und des Charakters, des Anführers und des Gefolgsmannes, des Opfers und des Siegers, unschuldig und allwissend, Bandit und Liebhaber. In einem gewissen Sinn ist er auch der Held, der (mögliche) Pakt-Abschließer und der Mystiker.“ 21 Mit dem Mystiker hängt zumindest indirekt auch eine der wichtigsten Eigenschaften Riobaldos zusammen, sein universales, menschliches Mitleid, das einer der Grundbausteine der neuen Ordnung zu sein hätte. Einmal bekennt er in seinem Monolog, daß er kein wirklicher Bandit ist: „Immer ein Bösewicht zu sein, ist mitunter mühsam“, erklärt er, „berufliche Schurkerei will in Übung bleiben. Aber mit der Zeit wurde der Grips jedes einzelnen vergiftet. Ich hatte meine Befürchtung, daß sie mich als Feiglaps ansehen, es spitzkriegen würden, daß ich nicht für dieses Handwerk geschaffen war, daß ich Erbarmen hatte mit allen Jesusgeschöpfen.“ 22 Freilich war es auch für Riobaldo schwer, wo nicht unmöglich, zumindest früh eine Art klar umrissener neuer Ordnung zu erkennen. Stellte sich ihm die Welt doch so dar, daß das Leben ein „einziger Widerspruch“ war: „Es hat Arten 21 Jon S. Vincent, op. cit., S. 81. 22 Grande Sert-o, op. cit., S. 160. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 157 und Unarten, und die Sehnsüchte des Sängers Siriuz. Es hat alle Gesichter des Teufelshundes und die tausend Richtungen des Tuns.“ 23 Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Hinweisen auf eine Chaosüberwindung und richtige Ordnung. Da ist zu allererst die Rückverweisung des einzelnen auf seine Verantwortung. Er hatte im Grunde immer angenommen, daß es das Rezept einer Norm für einen rechten, engen Weg gibt, nach dem ein jeglicher leben sollte. Freilich wird dieser Pfad zur Zeit von den meisten verfehlt. Doch erblickte er es als wichtige Aufgabe, „das Pharmakon, aus dem Gift und Gegengift erstellt“ werden muß, um die „aus den Fugen geratene Welt zu heilen“, die im Chaos zu versinken droht, zu erkennen und zu verbreiten. Er sah darin eine „Unternehmung, in die neben dem schöpferischen Schriftsteller auch der Diplomat und Arzt eingreift.“ 24 Er selbst umspannte alle drei dieser Berufe. Beim Schriftsteller zeichnet sich diese Ordnungserstellung unmittelbar in seiner Sprache ab. Guimar-es Rosa sieht in dieser denn auch die „Verbindung oder Konsequenz, die mit der Realität als manifestierte ererbte Kultur in Harmonie“ zu bringen. 25 Wichtig ist Rosa dabei wie Riobaldo vor allem auch die Freiheit. „Aber die Freiheit“, sagt letzterer, „- wette ich - ist immer noch die Freude eines armseligen Wegleins hinter den Gittern der großen Kerker. Es gibt eine Wahrheit, die man lernen muß, über das Verborgene, und die einem niemand beibringt: die Gasse zur Verwirklichung der Freiheit.“ 26 Für Riobaldo entsteht nach der Erfahrung, die er für einen möglichen Teufelspakt hält, und die ihm als Initiationserlebnis eine gewisse innere Freiheit gab „eine neue Ordnung.“ Er hatte sich vor falschen, einschränkenden Bindungen befreit. Ziemlich am Beginn aber heißt es bereits, daß Joca Ramiro der einzige Mann wäre, um Ordnung im Sert-o zu schaffen. Dies verleiht nicht nur seiner Ermordung und deren Ahndung ein besonderes Gewicht, sondern wirft auch zumindest indirekt ein Licht auf Diadorim, der im Kleinen im Gewirr von Riobaldos Kopf für eine solche Ordnung sorgt. Was die Sprache und die Symbole des Romans betrifft, mag es hilfreich sein, daran zu erinnern, daß Riobaldo allein im ersten Zehntel des Romans vierundvierzig verschiedene Namen für den Teufel als Inbegriff des Bösen gebraucht. Er selbst hat einige Synonyme für ihn geprägt. Eines der interessantesten und zugleich schwierigsten stellt „O“ dar, das nicht als Buchstabe eines großen O 23 Grande Sert-o, op. cit., S. 459. 24 Zitat aus zweiter Hand nach Olgária Matos: Guimar-es Rosa und die Sprachphilosophie. In: Ligia Chiappini und Marcel Vejmelka, op. cit., S. 88. 25 Ligia Chiappino: Zwischen Mythos und Logos. In: Ligia Chiappino und Marcel Vejmelka, op. cit., S. 97. 26 Zitat aus zweiter Hand nach Antonio Candido: Der verkehrte Mensch. In: Ligia Chiappini und Marcel Vejmelka, op. cit., S. 34. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 158 oder für die Null steht. Es bedeutet eigentlich „der“ und steht als Zeichen für den letzten und untersten Höllenkreis in Dantes Commedia. Was linguistische Reflexionen und Theorien über seine Sprache betreffen, so fand sich Guimar-es Rosa mitunter gewaltig mißverstanden. Einem seiner Widersprüche gegenüber solchen Fehleinschätzungen, jener des Philosophen Vilém Flusser verdanken wir eine der schlagendsten Definitionen, die er selbst von seiner Sprache gegeben hat: „Die Sprache ist für mich Werkzeug, ein feines, geschicktes, scharfes, begreifbares, durchdringbares, stets vervollkommbares. Aber im Dienste des Menschen und Gottes, des Gottes-Menschen, der Transzendenz.“ 27 Die alte Vorstellung, wonach gut ohne böse nicht zu existieren vermag, so wie heiß ohne kalt, ist in eine komplexere Vorstellung verwandelt, die sehr viel unsicherer ist im Hinblick auf Regeln und Gesetze und in welcher Sicherheit durch Zweifel ersetzt wird. Das macht die Erstellung einer Ordnung nicht gerade leichter. Der Roman knüpft indessen trotzdem an alte epische und mythische Traditionen an und es geht Guimar-es Rosa wie Riobaldo um moralische Lösungen: „Ein ethisches oder sogar religiöses Lesen ist sehr hilfreich.“ 28 Damit steht auch im Zusammenhang, daß die Bücher von Guimar-es Rosa nach dessen eigenen Mitteilung an seinen italienischen Übersetzer antiintellektuell sind und das hohe Primat der Intuition, der Offenbarung, der Inspiration gegen das eingebildete Flackern der reflexiven Intelligenz, die Vernunft, die kartesianische „Megäre“ verteidigen. Dadurch, daß nicht durchgehend in chronologischer Reihenfolge erzählt wird, gelingt es dem Autor, Simultaneitäten sichtbar zu machen. Allerdings beginnt Riobaldo mit der Erzählung seiner Jugend. Er traf als Junge am Fluß einen anderen Jungen, der sich Reinaldo nannte, den er zunächst aus den Augen verlor und der später eine der wichtigsten Rollen, wenn nicht die wichtigste, für Riobaldos Verständnis der Welt und seine innere Entwicklung spielen sollte. Er sollte Reinaldo wieder treffen. Für Riobaldo kam es zunächst zu zwei Liebesbeziehungen: einerseits zu der sehr machtvollen, jedoch körperlich auf Sex beschränkten Bindung an eine sehr hübsche junge Prostituierte, andererseits zu einer zunächst weniger machtvollen, romantischen Bindung an Otacília, der Tochter eines großen Grundbesitzers. Wirklich im Vordergrund der Fabel stehen aber die Kriege zwischen den Banden. In der Beschreibung der Banden wird jedoch das Leben der Banditen sichtbar, in dem Armut und Macht, Elend und Verbrechen, aber auch religiöse Ergriffenheit sich mischen und in dem sich in symbolischer Weise das Schicksal 27 Curt Meyer-Clason: Über das Unübersetzbare. In: Guimar-es Rosa: Das dritte Ufer des Flusses. München 1975, S. 158. 28 Jon S. Vincent, op. cit., S. 87. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 159 der Menschen und des ganzen Landes abspielt. Die bei Rosa ausschlaggebende metaphysische Perspektive aber verwandelt die Kriege der Banden im Sert-o in einen Kampfplatz, wo das Schicksal der Menschen entschieden wird und wo sich Gott und der Teufel eine kosmische Schlacht liefern, deren Triumph die Rettung oder Verdammung der Seele der einzelnen Menschen ist. Der besonders heldenhafte, edle und berühmte Bandenführer Joca Ramiro, der durch den Verrat eines anderen Führers, Hermógenes, ermordet worden war, fand zunächst einen Nachfolger in Medeiro Vaz. Dieser versuchte, eine wirkliche Ordnung im Sert-o herzustellen, als er seine Bande ganz und lediglich so ausrichtet, daß es ihm nur auf die Herstellung von Gerechtigkeit ging. Nachdem er das Opfer einer Malariafliege geworden war, kam es zu einer Übergangslösung mit Marcelino Pampa als Führer. Sodann kam der alte Haudegen Zé Bebelo aus dem Exil zurück, um den Mord an Joca Ramiro zu rächen. Riobaldo hatte sein Karriere ursprünglich unter ihm begonnen und war sein Hauslehrer gewesen. Nun wurde Zé Bebelo von Riobaldo schließlich selbst verdrängt, der die Führerschaft an sich riß, den Ehrennamen „Weiße Klapperschlange“ erhielt und die Vernichtung von Hermógenes auf seine Fahne schrieb. Es war nun, daß Riobaldo der Versuchung erlag, selbst einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Er suchte um Mitternacht einen einsamen Kreuzweg auf, um ihn zu beschwören. Obwohl der Teufel gar nicht erschien, hatte Riobaldo zumindest vorübergehend das Gefühl, er sei anwesend gewesen und hätte ein Zeichen seiner Zustimmung gegeben. Von da an wurde Riobaldo wiederholt von der Frage verfolgt und gequält, ob es nun zu einem Pakt gekommen sei oder nicht. Aber wenn er auch schließlich der Meinung ist, es wäre kein Pakt gewesen, nach Antonio Candidos Überzeugung war es auf jeden Fall eine besondere Art von Initiationsprüfung, ein magisch-religiöses Ritual gewesen, ähnlich den Prüfungen in der Gralskapelle in den alten Ritterepen. 29 Zuletzt beruhigt ihn der „Padrinho“ seines Vertrauens, indem er ihn überzeugt, den Gedanken überhaupt ganz fallen zu lassen. Obwohl Riobaldo zuletzt an der Seite seiner Gattin Otacília ein geruhsames und glückliches Leben als Gutsbesitzer führte, war von einem spirituellen Gesichtspunkt aus, der bei Guimar-es Rosa von besonderer Wichtigkeit ist, die weitaus wichtigste Liebesbeziehung jene zu Reinaldo. Schon bei der ersten kurzen Begegnung schlossen die beiden Freundschaft fürs Leben und Reinaldos sanfte Augen riefen ihm die Augen seiner alten Mutter wach, die ebenfalls eine besonders wichtige Rolle für ihn gespielt hatte. Es ist auch Reinaldo, der ihm versichert, daß einer, der wirklich und wahrhaftig ein ganzer Kerl ist, gar nicht 29 Antonio Candido: Der verkehrte Mensch. In: Ligia Chiappini und Marcel Vejmelka, op. cit., S. 29. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 160 anders kann, als gut zu sein. Die Überquerung des Flusses in dem kleinen Boot gemeinsam mit Reinaldo ist aber genauso eine Initiationserfahrung wie der vermeintliche Teufelspakt. Als Riobaldo Reinaldo später wieder traf und dieser ihn in das Geheimnis einweihte, sein richtiger Name sei Diadorim, da blieben sie zusammen und Diadorim erwies sich wiederholt als eine Art Kompaß für das rechte Leben in einer echten Ordnung. Dabei ist es interessant, daß die Wiederbegegnung Riobaldos mit dem Jagunço (Banditen) Reinaldo-Diadorim dazu führte, daß Riobaldo in die Bande eintrat. Was zweifellos symbolisch die Einsicht Rosas in die Tatsache signalisiert, daß in gewissen Fällen das Böse nur durch Gewalt beseitigt werden kann. Eine Einsicht, die intelligenten Menschen angesichts seiner Zeitgenossen Hitler und Stalin gewiß sehr oft gekommen ist. Fast den ganzen Roman hindurch wird Riobaldo von dem faszinierenden Verhältnis beunruhigt und begeistert zugleich, das ihn mit Diadorim verbindet. Einmal enthüllt Riobaldo seinem Zuhörer, wenn er Diadorim kenne, dann kenne er sein ganzes Leben. „Es war in der Tat die Begegnung mit der geliebten Person, die die Sensibilität des Protagonisten von Grande Sert-o: Veredas zur Entfaltung brachte und ihm zu einer Erfahrung verhalf, die sich … zu Lehrjahren des Herzens gestaltete. Es ist ein Lehrgang in Gefühlen, die das Leben erst lebenswert machen.“ 30 Schließlich führte er seine Männer, unter ihnen auch Diadorim, durch die gefährliche Sussuar-o-Wüste, zerstörte das Gut des Hermógenes, nahm dessen Frau als Geisel mit und stieß endlich auch auf Hermógenes selbst und dessen Männer. Als die Schlacht begann, lag Riobaldo als Scharfschütze auf einem Dach und schoß einen Gegner nach dem anderen ab. Es war Diadorim, der Hermógenes selbst ausfindig machte und ihn tötete. Dabei fiel auch Diadorim in der Schlacht. Als danach Diadorims Leichnam für das Begräbnis vorbereitet wurde, stellte sich heraus, daß der heiß geliebte Freund ein schönes junges Mädchen gewesen war, zudem die Tochter des berühmten Joca Ramiro, die den Mord an ihrem Vater gerächt hatte. Wenn ein Kritiker jedoch einmal bemerkt hat, daß Riobaldos Erzählung beweise, daß er trotz des oberflächlichen „Happy-Ends“ noch nicht wirklich seinen Frieden gefunden hatte, und daß seine Erinnerung ihn immer wiederum dazu trieb, die Vergangenheit zu klären, um die Welt wirklich zu verstehen - der Zweck des ganzen Romans-- dann war es vor allem anderen die Beziehung zu Diadorim, die ihn bewegt hat. Als Riobaldo vor dem Leichnam des schönen Mädchens stand, brach es aus ihm heraus: „Es war sie, plötzlich entzaubert in schrecklicher Verzauberung. 30 Willi Bolle: Ein Roman der brasilianischen Identitätsbildung. In: Ligia Chiappini und Marcel Vejmelka op. cit., S. 56. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 161 Ich hob die Hand, um mich zu bekreuzigen, unterdrückte aber mit ihr nur ein Schluchzen und wischte mir ein paar große Tränen aus dem Gesicht. Dann brach es aus mir, hemmungslos. Diadorim! Diadorim war eine Frau. Diadorim war ein Mädchen - schöner als das sonnenentflammte Wasser des Flusses Urucúia, ich schrie’s in meiner Verzweiflung … Geliebte! “ 31 Es ist darauf hingewiesen worden, daß der Name im Portugiesischen vor allem auf „dia“ - Tag, „dor“ - Schmerz, Leiden, „do“ - Mitleid und „ador“ von adorare, anbeten verweist. Eine Analogie wäre Diadoro - Ti adoro bedeutet „Ich liebe dich.“ Vor allem aber ist das symbolische Vor- und Ur-Bild im Mythos „Hermaphroditus“, der Sohn von Hermes und Aphrodite, den die Götter mit der Nymphe Salmakis zu einem einzigen, untrennbaren Doppelgeschöpf verbanden. Als Charakter des Romans ist Diadorim mindestens so komplex wie Riobaldo. Wie er, so umfaßt auch ihr Charakter sowohl die Heldin wie die Liebhaberin, sowohl Mut wie auch Zärtlichkeit: „Sie ist die zentrale, alles umfassende Figur auf der metaphysischen Ebene des Romans.“ 32 Die Betonung liegt dabei auf „metaphysischer Ebene“, obwohl „mystische Ebene“ eine noch korrektere Formulierung wäre. Darum ist es ebenso ein Unding von einer „nicht konsumierten“ (körperlichen) Liebe zu sprechen, wie auch zu bedauern, daß vom Autor verabsäumt worden ist, die Beziehung zu einer wirklichen homosexuellen Beziehung zwischen zwei Männern zu entwickeln, Vorwürfe, die beide gemacht worden sind. Diese Art von Liebe kann nur auf einer spirituellen Ebene durch eine mystische Unio vollzogen („konsumiert“) werden. Es scheint, daß Diadorim das wußte, während Riobaldo durch den Schock des Todes von Diadorim eher von einem Verständnis abgehalten wird. Hätte sie es nicht gewußt, sie hätte Riobaldo schwerlich dazu ermuntert, Otacília zu heiraten. Das Motiv der als Mann verkleideten Jungfrau, die zum Krieger wird, findet sich von alten iberischen Romanzen bis herauf zu Conrad Ferdinand Meyers Novelle Gustav Adolfs Page und sie wirken immer faszinierend obwohl sie vergleichsweise oberflächlich sind gemessen an der mystischen Perspektive Diadorims. Ihr steht die moderne Traumgestalt der Hermine in Hesses Steppenwolf sehr viel näher. Riobaldo aber kann nicht aufhören, über Diadorim nachzusinnen und ihm - ihr nach zu forschen. Was seinen Monolog noch länger wach erhält, zeigt, daß er das Gefühl hat, daß es hier noch retrospektiv etwas Wichtiges zu entdecken gilt. Obwohl es nach Diadorims Tod ausdrücklich heißt: „Hier ist die Geschichte zu 31 Grande Sert-o, op. cit., S. 543. 32 Jon S. Vincent, op. cit., S. 82. Eine Art Pendant zu Ulrich-Agathe in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 162 Ende. Hier ist meine beendete Geschichte. Hier endet die Geschichte.“ 33 Die feierliche Dreizahl des Hinweises signalisiert die Endgültigkeit des Endes. Das Wesentliche von Riobaldos Monolog ist wohl vor allem, aber keineswegs allein nach innen gerichtet. Diese innere Entwicklung ist mit Diadorims Tod abgeschlossen, doch wenn es darum geht, die Welt zu verstehen, dann gilt das nicht nur der Innensondern auch der Außenwelt und Guimar-es Rosa weiß sehr wohl um die gegenseitige Abhängigkeit von innen und außen, so daß nach dem Tod Diadorims ein Anhang über die Außenwelt durchaus Sinn macht. In seiner Zeit als Bandenführer hat Riobaldo einen Traum „vom Ende allen Hungers“ in der Welt. 34 Das hängt schon wieder mit einer positiven Ordnung zusammen und ein großer Teil aller Hinweise in diese Richtung betreffen Religion oder die Umwelt und Natur. Als er einmal an der Spitze seiner Männer durch ein Dorf ritt, das durch eine Krankheitsepidemie völlig verseucht ist, da vertrauen seine Banditen nicht mehr allein auf die Amulette und Veronikas, die sie bei sich trugen, sondern sie begannen laut zu beten. Am Beginn des Zuges ritten zwei, die Gebete kannten und sprachen, die von allen Übeln erlösten und die darauf folgenden beteten einfach das Ave-Maria und Vaterunser. Der Hinweis auf Amulette und Veronikas zeigt, daß es neben Religiösem im engeren Sinn auch in diesem Buch über den Sert-o immer wieder Bezüge zu Zauber und Magie gibt und keineswegs nur zu ursprünglichem lokalen Brauchtum. Einmal heißt es sogar, daß die wirklichen Kenner auf diesem Gebiet die Schwarzen sind. Nach einem Kenner der zeitgenössischen brasilianischen Literatur bestehen sowohl die Sprache wie die Literatur Brasiliens aus einer „Fusion dreier ‚magischer Welten‘, die den religiösen und mythischen Vorstellungen der Indios, der europäischen Entdecker und der afrikanischen Sklaven entsprechen.“ 35 Einmal erklärt Riobaldo, daß er eine Stadt gründen wolle, die Religion hat,-- im Unterschied zu den bestehenden Städten. Ein anderes Mal hatte er sogar eine Art Vision: „Mitten im aufgehenden Mond dachte ich an unsere Liebe Frau.“ Allerdings ist seine Auffassung von Religion auf keine bestimmte Konfession beschränkt. „Beten“, sagt er einmal, „das heilt von der Verrücktheit. In den meisten Fällen. Das ist wahre Seelenrettung … Viel Religion, junger Freund. Ich zum Beispiel laß keine Gelegenheit aus. Nutze sie alle. Trinke Wasser aus allen Flüssen … Eine allein ist zuwenig für mich, reicht mir vielleicht nicht …“ 36 33 Grande Sert-o, op. cit., S. 544. 34 Grande Sert-o, op. cit., S. 397. 35 Günter W. Lorenz: Die zeitgenössische Literatur in Lateinamerika. Tübingen - Basel 1971, S.-105. 36 Grande Sert-o, op. cit., S. 19. Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 163 Auch hat er gerade im Hinblick auf eine neue Ordnung eine überaus schöne Auffassung von Gott: „Gott will, daß wir in der Freude fröhlicher und inmitten der Traurigkeit noch froher werden.“ Nicht zuletzt aber weiß er, daß Gott darauf wartet, daß wir handeln. In der Landschaft des Sert-o verbinden sich Menschen und Natur zu sinnvollem Leben. Natürlich gibt es nicht nur positive Meinungen. So heißt es einmal „Sert-o ist da, wo Faust und Verschlagenheit herrschen.“ und ein anderes Mal „Im Sert-o bezwingt das Denken die Macht der Umwelt.“ Aber der erste Satz stammt von einem widerlichen Polizeikommissar, der zweite von Riobaldo. Dann heißt es wieder der Sert-o sei groß wie die Welt und ein anderes Mal, im Sert-o sei alles unsicher - alles sicher. In einer Auseinandersetzung wirft der Volksheld Joca Ramiro seinem Gegenspieler Zé Bebelo vor: „Sie sind her gekommen, um die Sertanejos aus der Bahn zu werfen, sie dem Norden zu entfremden, sie von ihren alten Bräuchen abzubringen …“ Zé Bebelo erwidert: „Alt ist, was in der Welt seinen Einfluß verloren hat. Das Alte galt, solange es neu war …“ Aber Joca Ramiro weist ihn zurück: „Sie gehören nicht zum Sert-o. Sie sind kein hiesiger, sind nicht von unserer Erde…“ Riobaldo hat bald gelernt, daß der Sert-o sich nicht unterkriegen läßt. Jeder, der den Sert-o zügeln und gängeln will, hält sich nur eine Weile im Sattel, aber insgeheim verwandelt sich der Sert-o unter ihm in einen Tiger. Die tiefe Liebe Riobaldos zu diesem wilden Hinterland zeigt sich nicht zuletzt in den immer wieder eingeflochtenen, geduldigen und fast zärtlichen Beobachtungen von Flora und Fauna, welche die geheimen Schönheiten des verachteten Landstrichs sichtbar werden lassen. In dieser Landschaft gibt es nur Armut und Traurigkeit, aber eine Trauer, die froh macht. Der Erzähler Riobaldo würde seinem Zuhörer am liebsten selbst die Bäume und Blumen und Tiere zeigen und es ist kein Zufall, daß es der geliebte Freund Diadorim war, der ihn gelehrt hatte, all diese Schönheiten zu bewundern. Hier scheint eine Parallele zu Rosalina, der Herrin über Kräuter und Blumen sichtbar zu werden. Riobaldo würde seinem Zuhörer den Höhenzug der Almas zeigen, „wo der Fluß entspringt, munter und schäumend und jeder Sturz ein Wasserfall. Oder den schwarzen Tiger auf der Sierra do Tatú und den leuchtenden Dunst über der Sierra von Confins, im Morgengrauen, wenn der Himmel auftaut. Aber auch die Sierra von Raizama, wo sogar die Vögel den Rundlauf des Mondes berechnen, wie man sagt. Oder aber den starken Geruch der Felder im April mit den vielen Blumen: die kleine rote Zigeunerin, die Nhiíca und die Bürste, gelblich. Oder im Sommer in Sarírínhem, unter einem schattenspendenden Tamarindenbaum. Die Grillen zirpen im Verein ihr Konzert. Und im Winter die Kälte. Da setzt sich der Reif sogar auf die Rücken der Ochsen, auf die Dächer. Oder auf dem Me-me-o - dahinter ist die Erde fast blau. Und ein Wind, der keinen Tau aufkommen läßt … oder dann wieder eine Mütze voll warmen Jo-o Guimar-es Rosa oder das Erbe des Hinterlandes von Brasilien 164 Wind zwischen zwei Palmblättern … der Carinhanha führt schwarzes Wasser, der Paracaté braunes, für ihn, Riobaldo ist aber der schönste Fluß der Urucúia-- wie friedlich ist sein Gewässer. Das ist Leben.“ 37 Riobaldo wollte seinem Zuhörer das nahe bringen, was Diadorim ihm nahe gebracht hatte, um sie in gewissem Sinn auf solche Weise neu zum Leben zu erwecken. Was im Hinblick auf Riobaldos Monolog nach dem Tod Diadorims und dem „Ende der Geschichte“ folgt, sogar das oberflächliche Happy-End hat nicht mehr die Intensität der Diadorim Szenen und man hat das Gefühl, daß es den Erzähler gar nicht mehr so interessiert. Sein brennendes Interesse gehörte der Erinnerung der erzählten Zeit, nicht der Erzählzeit. Es ist eine andere Art einer Suche nach der verlorenen Zeit. Die Alten hatten gewußt, weshalb sie Mnemosyne zur Mutter aller Musen gemacht hatten. Aber es gibt zwei Ausnahmen im letzten Stück nach dem Tod der Geliebten. Einerseits sind das Riobaldos Bemühungen, Dokumente aufzuspüren, welche ein Licht auf die Existenz der Geliebten werfen konnten, um sie auf diese Weise indirekt wiederum ins Leben zurückzurufen. Aus solchem Bemühen, auf der Suche der toten Geliebten zumindest in der Erinnerung den tieferen Sinn ihrer faszinierenden Verbundenheit miteinander zu enthüllen, war schließlich die ganze Erzählung Riobaldos und das heißt der ganze Roman entstanden. Andererseits aber ist schon seit Riobaldos Konflikt mit Zé Bebelo Diadorim immer stärker mit Landschaft, Flora und Fauna und auch mit den Menschen des Sert-o verschmolzen und weitet sich der Sert-o in das Wesen Brasiliens aus. Im allerletzten Symbol des Romans, dem Zeichen für das Unendliche, das Guimar-es Rosa an den Schluß des Romanendes gesetzt hat, fügt sich dies alles zu einer allumfassenden, großen Einheit zusammen: Riobaldo, der Sert-o, Brasilien und nicht zuletzt Diadorim. Riobaldo hat ihren wirklichen Namen erst nach einer plötzlichen lebensgefährlichen Erkrankung, einem wahren Wiedergeburtsakt herausgefunden: Maria Deodorina da Fé Bettancourt Marins. Ihre vergangene und seine immer noch weiter währende „Überfahrt“ ins Unendliche, in dem es keine Teufel gibt, fallen in jenem letzten Ziel in eins zusammen. Hier werden beide auf einer anderen Ebene zu jener Einheit werden, welche der spirituellen Vereinigung schon recht nahe sein mag, die sie hier ersehnt hatten und von der wir nicht wissen, ob es ihnen bestimmt gewesen war, sie zu erreichen. 37 Grande Sert-o, op. cit., S. 29 f. Hermann Hesses Weg nach innen Hermann Hesse wurde am 2. Juli 1877 in der kleinen Schwarzwaldstadt Calw in eine Familie von protestantischen Missionaren hineingeboren. Sowohl sein Großvater von mütterlicher Seite, Hermann Gundert wie auch Vater und Mutter waren im Dienst der Basler Mission nach Indien gegangen. Während aber der Großvater Jahrzehnte in Indien blieb, ein Pionier der Indienmission wurde und überdies in fünfunddreißig Jahren Arbeit ein Lexikon der Malabarsprache verfaßte, mußte der Vater schon nach kurzen drei Jahren aus gesundheitlichen Gründen Indien wieder verlassen, da er das tropische Klima nicht vertrug. Nach seiner Rückkehr wurde er dem alten Dr. Hermann Gundert als Helfer und Assistent für dessen Arbeit im Missionsverlag von Calw zugeteilt. „Die gütige Weisheit des Großvaters, die unerschöpfliche Phantasie und Liebeskraft unsrer Mutter und die verfeinerte Leidensfähigkeit und das empfindliche Gewissen unseres Vaters haben uns erzogen.“ Schrieb der fast siebzigjährige Hesse rückblickend und an anderer Stelle berichtete er, daß sich im Eltern- und Großvaterhaus die Strahlen vieler Welten gekreuzt hatten: „Hier wurde gebetet und in der Bibel gelesen, hier wurde studiert und indische Philologie getrieben, hier wurde viel gute Musik gemacht, hier wußte man von Buddha und Lao-Tse …“ 1 Hesse besuchte die Lateinschule in Calw bis er 1890 zur Vorbereitung für das „Landexamen“ in das Gymnasium von Göppingen geschickt wurde. Bis zu seinem dreizehnten Jahr ist Calw seine Heimat gewesen und zurückblickend wurde ihm in der Erinnerung an jene kindheitsverzauberten Jahre das kleine Städtchen zur schönsten Stadt zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapur. Sie ist denn auch oftmals in dichterisch verklärter Form unter dem Namen Gerbersau in sein Werk eingegangen. Die Erinnerungsbilder jener eng verschränkten Kleinstadt hatten dem Kind seine „Urbilder“ geliefert. Im Elternhaus, wo die Welt heil und in Ordnung gewesen ist, war der junge Hermann ein Musterknabe. Kaum aber war er in der Welt draußen, den engen und beschränkten Zwängen, dem Pfahlbürgergeist künstlicher Anordnungen und dessen Lieblosigkeit ausgesetzt, machte ihn sein gesunder kindlicher Instinkt und sein Gerechtigkeitssinn zum Außenseiter, ja Empörer. Die Folge war, daß „mehr als vier Jahre … alles unweigerlich schief“ ging, was man mit mir unternehmen wollte, keine Schule wollte mich behalten, in keiner Lehre hielt ich lange aus. Jeder Versuch, einen brauchbaren Menschen aus mir zu machen, 1 Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main 2001-2007, Bd. 12, S. 537 und 29. Hermann Hesses Weg nach innen 166 endete mit Mißerfolg, mehrmals mit Schande und Skandal, mit Flucht oder mit Ausweisung …“ 2 Erst als er ein Jahr lang, von 1894 bis 1895 die harte Arbeit als Lehrling in der Werkstatt des Turmuhrfabrikanten Heinrich Perrot aushielt, gelang es ihm, durch Selbstdisziplin die Krise zu überwinden. Danach konnte er als Buchhändlerlehrling in der Heckenauerschen Buchhandlung in Tübingen unterkommen, wo eine Zeit strenger Selbsterziehung begann. Nach langer, ermüdender Tagesarbeit gehörten die Abende der Welt der Dichtung. Ganz aus eigenem baute er sich seine Welt des Studiums der Literatur auf, in deren Mittelpunkt Goethe stand. Als er zum „Gehilfen“ ernannt wurde, erweiterte sich dieses Selbststudium noch. Er entdeckte Novalis für sich und veröffentlichte erste Gedichte in der Wiener Zeitschrift Deutscher Dichterhain. Im Jahr 1899 übersiedelte er als Buchhandlungsgehilfe nach Basel, das für ihn die Stadt Nietzsches und Böcklins war. In seinen letzten Jahren hat er rückblickend geurteilt, daß es in seinem Leben drei starke, die ganze Zeit hindurch währende Einflüsse gegeben hat: den christlichen, nahezu völlig un-nationalistischen Geist seines Elternhauses, die Lektüre der großen alten Chinesen und nicht zuletzt den einzigen Historiker, dem er je mit Vertrauen und Ehrfurcht zugetan war: Jakob Burckhardt. Für sein Wesen ist es charakteristisch, daß er niemals eine Zeitung las und auch keinerlei Kontakte zur Literatur seiner Zeit gesucht hat. Seinen ersten größeren Gedichtband, den er der Mutter widmete, erlebte jene nicht mehr und ein Jahr nach ihrem Hinscheiden bekannte er von sich ein, daß er das Beste, was er geistig besitze der Mutter verdanke, die er immer wieder lebendig um sich fühlte. Ein Jahr nach diesem Bekenntnis erschien sein kleiner Roman Peter Camenzind, dem er seinen wirklichen Durchbruch verdankte und nach dessen Erscheinen er sich die Existenz eines freien Schriftstellers leisten konnte. Er lebte mehrere Jahre gemeinsam mit seiner ersten Frau in Gaienhofen am Bodensee, war Mitarbeiter etlicher Zeitschriften und reiste oft umher, um Dichterlesungen zu halten. Hart arbeitete er an seiner ästhetischen Selbsterziehung, die ihn schließlich in technischer Hinsicht einen Höhepunkt in seinem Prosaerzählband Roßhalde erreichen ließ. Für seine Horizonterweiterung wurde vor allem eine Reise nach China und Indien wichtig, die er gemeinsam mit seinem Malerfreund Hans Sturzenegger unternommen hat. Allerdings brachte ihm diese Reise weder die von ihm erhoffte innere Befreiung noch eine geistige Begegnung mit dem „wahren Indien“, die er sich ersehnt hatte. Die Schweizer Gattin, die vor allem die drei Söhne auch zu Schweizern machen wollte, war wohl wesentlich mit ausschlaggebend, daß als nächster Wohnort 1912 die Hauptstadt der Schweiz, Bern, gewählt wurde. An den befreundeten schwäbischen Politiker Conrad Haußmann schrieb er: „Die Heimat 2 Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 12, S. 49. Hermann Hesses Weg nach innen 167 will ich mir nicht dadurch verderben, daß ich meinen Werktag dahin verlege; Kindheit und Schwarzwald sind für mich Heiligtümer erster Ordnung, die ich nimmer gefährden will.“ 3 Zwei Jahre nach der Übersiedlung nach Bern brach der Erste Weltkrieg aus. Schon in früher Jugend geschult, leeren Phrasen und fragwürdigen Autoritäten zu mißtrauen, war Hesse einer der ganz wenigen, die vom ersten Augenblick an der stupiden Massenpsychose der Begeisterung bei Kriegsanbruch entgegentraten. Er war als Einzelgänger und Humanist von einer Entschlossenheit und einem Mut beseelt, der den Haß, der ihm dafür entgegenschlug, ruhig auf sich nahm und sich nicht im mindesten durch die Vorwürfe vor allem aus Deutschland beeindrucken ließ, ein „Verräter“, „Gesinnungslump“ und „Drückeberger“ zu sein. Er hat später seine insgesamt fünfundzwanzig Aufsätze gegen den Krieg zwischen 1914 und 1919 in einem Buch mit dem Titel Krieg und Frieden zusammengestellt, in dessen Geleitwort sich der Satz findet: „Ich hatte meinen politischen Weg begonnen, sehr spät, als Mann von bald vierzig Jahren, erweckt und aufgerüttelt durch die grauenhafte Wirklichkeit des Krieges, tief befremdet durch die Leichtigkeit, mit der sich meine bisherigen Kollegen und Freunde dem Moloch zur Verfügung stellen.“ 4 Abgesehen davon, daß der Kriegsausbruch zum ersten Mal die gesamte Größe des Humanismus und der Menschlichkeit von Hesse herausbrachte, hatte er noch eine weitere positive literarische Folge für ihn: Die Depressionen, die er durch die Zeugenschaft für das ungeheure Leid durchzumachen hatte, führten ihn schließlich dazu, sich an den Arzt Dr. Josef Bernhard Lang, einen Schüler C. G. Jungs um Hilfe zu wenden. Abgesehen von der ärztlichen Hilfe wurde er dadurch in die Geisteswelt von C. G. Jung eingeführt, was für sein Schaffen von schier unabsehbaren Folgen sein sollte. Dazu hatte der Krieg aber auch noch in einer weiteren Weise höchst positiven Einfluß auf sein dichterisches Schaffen, was Hesse selbst viele Jahre später im Rückblick so ausgedrückt hatte: „Dennoch hatte es seinen guten Sinn, daß der damalige Krieg mich aus der Entwicklung riß und mich, statt mich zum Meister guter Formen werden zu lassen, in eine Problematik hinein führte, vor der das rein Ästhetische sich nicht halten konnte.“ 5 Dadurch hatte Hesses dichterisches Schaffen eine neue Höhe und Tiefe erreicht, der es bewußt um Chaos-Überwindung ging und die ihren eindrucksvollsten ersten Ausdruck in seinem Roman Demian gefunden hat. Vor dem Überwindungsversuch stand jedoch notwendig als Voraussetzung der Blick in das Chaos selbst und obwohl er in der sicheren Neutralität der Schweiz lebte, 3 Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. Bd. 1, Frankfurt am Main 1974, S. 209 f. 4 Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 15, S. 646 f. 5 Zitat aus zweiter Hand nach Bernhard Zeller: Hermann Hesse. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 81. Hermann Hesses Weg nach innen 168 hat ihm vor allem seine rastlose Aktivität für die Kriegsgefangenenfürsorge die Möglichkeit gegeben, einen vielleicht tieferen Blick in das Chaos zu tun, als es manche konnten, welche das Grauen, das Leid und den Wahn des Krieges direkt erfahren hatten. Er hat dies in seinem wenig bekannten Buch Blick ins Chaos nachdrücklich zum Ausdruck gebracht. 6 Der Roman Demian erschien in der ersten Auflage unter dem Pseudonym Emil Sinclair und ist als monologisierende Erinnerung dieses Emil Sinclair angelegt, von seiner Kindheit und seiner ersten Begegnung mit dem etwas älteren Max Demian, der ihn vor einem Erpresser rettet und in die Ideenwelt der Gnosis einführt, über das Zusammentreffen mit dem Pastorensohn Pistorius, der die Kenntnis dieser Ideenwelt in äußerlicher Weise erweitert bis zur späten zweiten Begegnung mit Max Demian und Sinclairs Verzauberung durch dessen Mutter, die ihm die dritte und letzte Führerin durch das Chaos wird. Demian selbst ist es, der Sinclair in seiner Todesstunde die Erleuchtung vermittelt, daß er ihn nicht mehr braucht, da er ihn, „seinen Dämon“, - die alten Griechen sprachen vom „daimon“ - in sich selbst trägt. Er hat seine Selbstverwirklichung erreicht. Im Vorwort des Romans, in dem sich Sinclair selbst einen „Suchenden“ nennt, warnt er den Leser, daß seine Lebensgeschichte nicht angenehm sei, nicht süß und harmonisch, wie die erfundenen Geschichten, „sie schmeckt nach Unsinn und Verwirrung, nach Wahnsinn und Traum wie das Leben aller Menschen, die sich nicht mehr belügen wollen.“ 7 Nach Sinclair ist jeder ein Wurf der Natur nach dem Menschen als höchstem Ziel aller Menschlichkeit hin. Das Ziel besteht in Selbstverwirklichung. Um diese geht es von jetzt ab in allen Romanen Hesses und das in besonderer Deutlichkeit und Überzeugungskraft schon im nächsten Roman, in Siddharta (1922). Siddharta ist der Sohn eines indischen Brahmanen, dessen Wege und Umwege ausgehend von der väterlichen, vedantischen Tradition über die buddhistische zur taoistischen führt. Demian war das Buch der durch den Ersten Weltkrieg ernüchterten, verlorenen jungen Generation gewesen. Siddharta war eines der Beispiele dafür, wie für einen kleinen, jedoch wesentlichen Teil der Geistigen Deutschlands nach dem Krieg der Taoismus eine wichtige innere Stütze geworden war. War Hesse durch diese Romane weithin bekannt, sichtbar und berühmt geworden, so setzte er in der Zwischenkriegszeit neuerlich einen Schritt, um sich selbst wie seinerzeit in seinem Auftreten gegen den Krieg wieder einmal zum Ziel von Beschimpfung und Haß zu machen. In der von ihm selbst gemeinsam mit Hans Woltereck 1919 begründeten Zeitschrift Vivos Voco hatte er 1922 ein kleines Buch von Wilhelm Michel Verrat am Deutschtum rezensiert und es war 6 Hermann Hesse: Blick ins Chaos. Drei Aufsätze. Bern (Seldwyla) 1920. 7 Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 3, S. 235. Hermann Hesses Weg nach innen 169 diese kleine Besprechung, die eine große Flut, ja eine Riesenwelle von Zorn, Empörung, Haß und Angriffen gegen ihn ausgelöst hatte. Hesse hatte in seiner Besprechung erklärt, er wolle dieses kleine Buch zum Anlaß nehmen, „auch einmal ein Wort über eine der häßlichsten und törichtesten Formen jungdeutschen Nationalismus zu sagen, über die blödsinnige, pathologische Judenfresserei der Hakenkreuzbarden und ihre zahlreichen, namentlich studentischen Anhänger. Es gab früher einen Antisemitismus, er war bieder und dumm, wie solche Antibewegungen zu sein pflegen, und schadete nicht viel. Heute aber gibt es eine Art von Judenfresserei unter der deutschen, übel mißleiteten Jugend, welche sehr viel schadet, weil sie diese Jugend hindert, die Welt zu sehen, wie sie ist, und weil sie den Hang, für alle Mißstände einen Teufel zu finden, der daran schuld sein muß, verhängnisvoll unterstützt … Daß man … eine Menschenklasse schlechthin für das Übel in der Welt, und für die tausend schlimmen Sünden und Bequemheiten des eigenen deutschen Volkes selbst als Sündenbock aufstellt, ist eine Entartung so schlimmer Art, daß ihr Schade allen Schaden, der je durch Juden geschehen sein mag, zehnfach aufwiegt.“ 8 Bereits im Jahr 1919 war Hesse in das kleine Dorf Montagnola im Tessin übersiedelt und 1931, nach seiner dritten Eheschließung mit Ninon Dolbin, bezog er in Montagnola das neue Haus, das sein Mäzen Hans C. Bodmer für ihn am Rande des Ortes bauen hatte lassen und das er ihm auf Lebenszeit zur Verfügung gestellt hatte. Hier ist jene „Bibliothek der Weltliteratur“, die Hesse einmal beschrieben hat, Wirklichkeit geworden und zwar in dem eigenen, großen Bibliotheksraum, der auch als Empfangszimmer diente. 9 Es war nicht eine zufällig zusammengewürfelte Sammlung verschiedener Werke der Weltliteratur, sondern eine besonnen ausgewählte Sammlung von Büchern, zu denen er im Lauf seiner lebenslangen Erfahrung als Leser, Rezensent und Herausgeber eine positive innere Beziehung gefunden hatte. Zwei Jahre davor war der Roman Der Steppenwolf (1927) erschienen, in dem Hesse mit dem neuen Konflikt seines eigenen, inneren Chaos fertig zu werden versucht hat. Denn einerseits lag ihm „einzig daran, die Welt zu lieben“ und andererseits litt er zutiefst an der modernen, technisch rationalisierten Welt und der zum Selbstzweck gewordenen modernen Zivilisation. Das dichterische Ergebnis war das (Selbst-) Bildnis des Steppenwolfs, von diesem selber verfaßt, jedoch fiktiv von einem betulichen Spießer „herausgegeben“, dem Neffen einer alten Dame, die dem Helden Harry Haller, dem Steppenwolf, ein Zimmer vermietet hatte. Harry Haller, dessen Name wie jener Hesses mit zwei „H“ beginnt, hatte sich selbst dem Neffen als eine Art Steppenwolf vorgestellt. Die von Harry Haller bei seinem Auszug im Zimmer zurückgelassenen Aufzeichnungen 8 Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 16, S. 345. 9 Hermann Hesse: Eine Bibliothek der Weltliteratur. Leipzig 1929. Hermann Hesses Weg nach innen 170 über ihn selbst tragen den Vermerk „nur für Verrückte“. Sie enthalten das Bekenntnis, es brenne förmlich in ihm eine Begierde nach starken Gefühlen und Sensationen ebenso wie eine Wut auf das abgetönte, flache, normierte und sterilisierte Leben wie das des Neffen, der Bankbeamter ist und keinen Alkohol trinkt. Der Neffe und „Herausgeber“ dieser Aufzeichnungen beschreibt sie aus seiner Kontra-Perspektive sehr richtig, als einen „Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selbst zum Gegenstand der Darstellung zu machen.“ Die Aufzeichnungen bedeuten demnach „Ganz wörtlich einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden.“ 10 Die Selbstbeschreibung dieser Höllenfahrt bewegt sich in einer seltsamen Zwischenwelt zwischen Traum, Vision und Wirklichkeit und eröffnet Einblicke in Leidenschaft, Verfehlung, Verständnislosigkeit und einen Lebensekel. Harry Haller ist nahe daran, Eingang in das sogenannte „Magische Theater“ in einem finsteren Seitengäßchen zu finden, doch wird ihm der Eintritt verwehrt und als er später in der Nacht einen Mann mit der Ankündigung dieses „Magischen Theaters“ trifft, erhält er zwar nicht die gewünschte Auskunft, jedoch ein kleines Büchlein mit dem Titel „Traktat vom Steppenwolf“, das ihm Aufklärung über sich selbst gibt und ihm erklärt, daß er zwei Naturen hat, eine menschliche und eine wölfische und daß dies besonders unter Künstlern nicht unüblich sei. Am Schluß heißt es, daß der Steppenwolf Harry Haller Genie genug wäre, um das Ziel der Menschwerdung zu erreichen, ohne daß er sich bei jedem Versagen auf seinen dummen Steppenwolf ausreden müßte. Der Traktat scheint eine Botschaft der „Unsterblichen“ zu sein. Aber obwohl vor Harry, da er übermüdet im Bett liegt, einen Augenblick dieser Begriff aufzuckt, legt sich gleich darauf schwerer Schlaf darüber und die Unsterblichen scheinen aus seinem Bewußtsein verschwunden zu sein. Trotzdem ist das ganze Buch die Schilderung seiner unbewußten Entwicklung zu diesen Unsterblichen hin. Ohne zu ahnen, daß er in gewissem Sinn von seiner inneren Bereitschaft und Notwendigkeit dahin gelenkt wird, begegnet er Menschen, die ihn auf den richtigen Weg bringen. Da ist vor allem ein hübsches, bleiches Mädchen, das er spät abends im Gasthof Zum schwarzen Adler trifft. Sie heißt Hermine und entpuppt sich als sein weiblicher Aspekt, seine Anima und sie nimmt seine „Erziehung“ in die Hand. Zwischendurch übernimmt in einem Traum kein geringerer als Goethe, der sich überdies als Unsterblicher zu erkennen gibt, einen Teil der „Erziehung“ Harry Hallers. Durch Hermine lernt Harry in einem Tanzcafé auch einen südländischen Saxophonisten, Pablo, kennen. Zuletzt gelangt er nach einer auf einem 10 Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 4, S. 23 f. Hermann Hesses Weg nach innen 171 Maskenball durchwachten Nacht wirklich in Pablos „Magisches Theater“, in dem er die seltsamsten Erlebnisse durchmacht, bis er schließlich, konfrontiert mit dem Bild der nebeneinander liegenden nackten Körper von Hermine und Pablo Hermine ersticht, was sie ihm vorangekündigt hatte. Aber er glaubte nur, sie erstochen zu haben. In Wahrheit hatte er innerhalb der imaginären Spiegelwelt des Magischen Theaters nur die gespiegelte Hermine mit einem gespiegelten Messer erstochen. Mozart, der darauf als Vertreter der Unsterblichen erscheint, fragt ihn, ob er dafür zu büßen bereit sei. Da Harry bejaht, schickt er ihn zum „Staatsanwalt“, der ihn zur Strafe des ewigen Lebens, zum zwölfstündigen Eintrittsverbot in das Magische Theater und zum einmaligen Ausgelachtwerden verurteilt. Sodann erscheint Mozart ein zweites Mal und erklärt Harry Haller, worum es wirklich geht: Mit der Pathetik und dem Totschlagen müsse endlich Schluß gemacht werden. Harry hätte Vernunft anzunehmen. Er soll leben und soll das Lachen lernen. Er sollte lernen, die verfluchte Radiomusik des Lebens anzuhören, soll den Geist hinter ihr verehren und über den Klimbim in ihr lachen. Mehr würde von ihm nicht verlangt. Zuletzt begreift Harry auch, daß er, obwohl er dieses erste Mal erbärmlich gescheitert ist, nicht nur eine, sondern etliche weitere Chancen haben wird, die Welt der Unsterblichen und ihren Humor selbst wirklich zu erreichen. Er versteht, daß er alle hunderttausend Figuren des Lebensspiels, ganz nach C. G.-Jung, in seiner Tasche hat. Er ist bereit, dieses Spiel des Lebens ein zweites Mal zu beginnen, seine Qualen noch einmal durchzustehen, seinen Unsinn noch einmal zu ertragen, das Chaos seines eigenen Inneren noch einmal zu durchwandern. Einmal würde er das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde er das Lachen lernen. Denn er wußte jetzt, daß Pablo und Mozart auf ihn warteten. Kein Roman Hesses ist so oft und so gründlich mißverstanden worden wie Der Steppenwolf. Für manche war es nur zu schwer zu verstehen, daß Mozart und Pablo im Magischen Theater austauschbar waren, da sie beide Unsterbliche sind. Hesses Bedingung für die Unsterblichkeit ist in diesem Roman aber nicht der Ruhm, sondern allein der Humor und die Fähigkeit, in entsprechend gespannten Situationen lachen zu können. Die grundlegende Botschaft des Steppenwolf besteht in der Bewußtmachung des eigenen Chaos in uns, in dessen Überwindung und im Hinweis auf die letzte und höchste Stufe der Entwicklung, die in einer Art Humor besteht in dem jene Überwindung gipfelt. Die Funktion des Magischen Theaters aber besteht darin, daß es als Sprachrohr der Hüter dieses Humors, der Unsterblichen, den Menschen, die reif dafür sind, das Göttliche und den Geist unberührt von den Wahnvorstellungen und der Barbarei jedweder Zeit direkt vermitteln. Gewiß war es nicht leicht, die Probleme von Hesses eigener Midlife-crisis, in die auch die Scheidung von seiner zweiten Frau fiel, durch sein neues und Hermann Hesses Weg nach innen 172 besonders tiefes Eindringen in die Psychologie C. G. Jungs - mit dem er bereits 1921 Gespräche in Küsnacht gehabt hatte - in der notwendiger Weise schwierigen und komplizierten imaginären Form des Magischen Theaters den Lesern zugänglich zu machen. Hesse gelang es denn auch, durch die Abfassung eines vergleichsweise einfach verständlichen Romans, der im deutschen Mittelalter spielt, die Sympathie zumal seiner deutschen Leser, im Sturm zurück zu erobern. Er selbst aber hielt an seinem Magischen Theater fest und fand es wichtig genug, daß er dessen Namen in sein abschließendes Opus magnum, Das Glasperlenspiel, aufnahm, in welchem der fiktive Historiker Plinius Ziegenhals diesen Namen für eine Frühform des Glasperlenspiels benützt haben sollte. Als ihm vom nunmehr nazistisch geleiteten Reclam Verlag nahegelegt wurde, für eine Neuauflage des kleinen Buches über Weltliteratur „zeitgemäße“ Änderungen durchzuführen, reagierte er voll Verachtung: „Ich halte nicht heute Bücher und Autoren für minderwertig, weil der Zeitgeschmack es tut, und streiche aus meinem Essay nicht Dinge weg, die mir lieb und wichtig sind - bloß weil die Konjunktur das nahe legt.“ 11 Hatte doch schon im März der Anfang eines unvollendet gebliebenen Gedichts gelautet: Lieber von den Faschisten erschlagen werden Als selber Faschist sein! Lieber von den Kommunisten erschlagen werden Als selber Kommunist sein! 12 Bereits 1931 stand im Zentrum seiner Arbeit der letzte große Roman und sein Opus magnum, Das Glasperlenspiel. Schon sieben Jahre vor dessen Vollendung, 1935, hat er es als das Endziel seines Lebens und seiner Dichtung bezeichnet. Der Roman ist eine Zukunftsvision und spielt erst in späteren Jahrhunderten. Von dieser fortgeschrittenen Warte einer Utopie blickt Hese zurück auf seine eigene Zeit des 20. Jahrhunderts. In dieser fortgeschrittenen Zeit läßt er den freilich etwas krausen Historiker der Zukunft mit dem absichtlich etwas gestelzten Namen Plinius Ziegenhals rückblickend diese, unsere Zeit, ihren Wertzerfall, ihren Niedergang der Künste abschätzig das „feuilletonistische Zeitalter“ nennen. Es geschieht dies in einer Art Vorspann des Romans, dem er den Titel „Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in seine Geschichte“ gegeben hat. Darin heißt es in der Form ein wenig im Stil des I-Ging über unsere Zeit: „Man weiß oder ahnt: wenn das Denken nicht rein und wach und die Verehrung des Geistes nicht mehr gültig ist, dann gehen bald auch die Schiffe und Automobile nicht mehr richtig, dann wackelt für den 11 Zitat aus zweiter Hand nach Bernhard Zeller, op. cit., S. 138. 12 Sämtliche Werke, op. cit., Bd. 10, S. 508. Hermann Hesses Weg nach innen 173 Rechenschieber des Ingenieurs wie für die Mathematik der Bank und Börse alle Gültigkeit und Autorität, dann kommt das Chaos.“ 13 Diesem Chaos stellt das Glasperlenspiel eine neue, geistige Ordnung gegenüber, dessen Idee schon lange vor seiner endgültigen Begründung von kleinen Gruppen der Abwehr dagegen ausging, die dem Geist treu geblieben waren und die „mit allen Kräften einen Kern von guter Tradition, von Zucht, Methode und intellektuellem Gewissen über diese Zeit“ hinweg retteten. 14 Zum Anlaß, wie es zu diesem Roman und der Konstruktion des Glasperlenspiels gekommen war, hat Hesse selbst erklärt: Es „kam mit den Reden Hitlers und seiner Minister, mit ihren Zeitungen und Broschüren war etwas wie Giftgas aufgestiegen, eine Welle von Gemeinheit, Verlogenheit, hemmungsloser Streberei, eine Luft, die nicht zu atmen war. Es bedurfte der erst Jahre später bekannt gewordenen Gräuel nicht, es genügte dies Giftgas, diese Entheiligung der Sprache und Entthronung der Wahrheit, um mich wieder wie während der Kriegsjahre“ 1914-1918 „vor den Abgrund zu stellen.“ 15 Indem er sich vor den Abgrund dieses Chaos stellte, hat er als eine Art Schutzwall sein Glasperlenspiel davor aufgebaut und dieses Glasperlenspiel ist von solch zeitloser Gültigkeit, daß es seiner Funktion auch nach dem Zusammenbruch von Hitler-Deutschland gegenüber neuen Formen des Chaos, manche womöglich noch ärger als jenes Hitlers, seine Schutzfunktion erfüllen könnte, würde es nur zur Kenntnis genommen. Nach der Legende von Hesses Utopie war es der Erfinder Bastian Perrot aus Calw gewesen - Hesse hatte aus seinem früheren Meister, dem Turmuhrfabrikanten Heinrich Perrot einen Musiktheoretiker gemacht - der einen Rahmen mit einer Anzahl von Drähten daran konstruiert hatte, wie es die altertümlichen kleinen Rechenmaschinen für Kinder gewesen waren. Die Glasperlen an den Drähten konnten sowohl mathematischen Größen wie auch Notenlinien mit musikalischen Noten entsprechen. Mathematik und Musik waren die Grundlagen der Synthese von Kunst und Naturwissenschaft und der Abakus von Perrot vermochte eine Zusammenschau und Synthese zu ermöglichen, die später zum sehr viel komplexeren und komplizierteren Glasperlenspiel ausgebaut worden waren, obwohl hier gar keine Glasperlen mehr verwendet wurden. Den wirklichen und entscheidenden Schritt von der primitiven Vorform zu einem Modell universaler Ordnung schuf erst später ein (fiktiver) Mann, dessen Name vergessen war und der in die Geschichte unter seinem Beinamen Lusor Basiliensis eingegangen ist. Er erfand eine Zeichen- und Formelsprache, durch welche es möglich wurde, in universeller Weise alle Inhalte und Werte menschlicher Kultur global zueinander in Beziehung zu 13 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. Frankfurt am Main 1996, S. 35. 14 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 24. 15 Hermann Hesse: Briefe. Frankfurt am Main 1964, S. 436 f. Hermann Hesses Weg nach innen 174 setzen und auf einen Nenner zu bringen. Durch den Bund der ebenso fiktiven „Morgenlandfahrer“, denen es noch mehr als um Wissen, um Frömmigkeit und Ehrfurcht gegangen ist, wurde die Kontemplation und wurden Methoden der Meditation zu einem wichtigen Element des Spiels. Dadurch wurde verhindert, daß die Hieroglyphen des Spiels zu bloßen Buchstaben entarteten und das Spiel in eine rein automatische Technik von Gedächtnis und Kombinationsvermögen veräußerlichte. Schließlich entstand aus den Glasperlenspielergruppen in einem Land eine eigene, „kastalische Provinz“, die an Goethes „pädagogische Provinz“ erinnert und in deren Eliteschulen besonders ausgewählte Spieler zumindest teilweise zu späteren Führungspositionen herangezogen wurden, da sie neben dem Hintergrund einer verläßlichen geistigen Ordnung die wichtigsten Eigenschaften fester und verläßlicher Charaktere mitbrachten. Diese Ausbildung von Schülern war der Gegenwert und Preis, den Kastalien dem Staat dafür leistete, daß er die geistig wie verwaltungsmäßig völlig unabhängige Provinz finanziell subventionierte. Wie aber die Technik, Mechanik und besonders die sprachliche Struktur des Glasperlenspiels als besondere Ausdrucksform von einem wirklichen Menschen- - dem allerdings fiktiv etwas geänderten Bastian Perrot und einer rein erfundenen Person, dem Lusor Basiliensis geschaffen wurden, so wurden auch die inhaltlichen Themen und Ideen vor allem von einer wirklichen und einer erfundenen Person geschaffen. Neben einer ganzen Reihe von anderen wird als wirkliche Person und einer der besonders wichtigen Ideengeber Nikolaus von Kues genannt 16 und als erfundene Person Albertus Secundus, der dem Buch auch das Motto geliefert hat. Der Name kam vielleicht dadurch zustande, daß dieser Albertus Secundus historisch erst nach Albertus Magnus als dem zweifellosen Albertus Primus aufgetreten ist. Besonders wichtig für das Glasperlenspiel ist es, daß seine Ideen und Themen sich nicht zu einem geschlossenen System zusammenschließen, wie eine dogmatische, fundamentalistische Summa Theologiae, sondern zum offenen System, einer nach allen Seiten offenen „Unio mystica aller getrennten Glieder der Universitas Litterarum.“ 17 Darüber hinaus ist das Glasperlenspiel flexibel und kann von den verschiedensten Ideen, Themen und Perspektiven her in Angriff genommen werden. 16 Was die Vorgeschichte des Glasperlenspiels betrifft, so hat es wie alle großen Ideen keinen eigentlichen Anfang. Vorgebildet war die Idee „bereits bei Pythagoras, sodann in der Spätzeit der antiken Kultur in hellenistisch-gnostischen Kreisen, nicht minder bei den alten Chinesen, dann wieder auf den Höhepunkten des arabisch-maurischen Geisteslebens, und weiterhin führt die Spur seiner Vorgeschichte über die Scholastik und den Humanismus der Mathematiker Akademien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts und bis zu den romantischen Philosophen und den Runen der magischen Träume des Novalis.“ Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 14. 17 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 37. Hermann Hesses Weg nach innen 175 Das ganze ungeheure Material von geistigen Werten kann so gespielt werden „wie eine Orgel.“ Diese Orgel aber ist von einer schier unglaublichen Vollkommenheit, „ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos an, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument die ganze geistige Welt sich im Spiele reproduzieren.“ 18 Trotzdem ist der weise Hesse sich sogar der Grenzen und Relativität dieses großen Umfangs bewußt gewesen. Als der Held des Romans, Josef Knecht, im langwierigen Gang seiner Studien auch chinesisch lernt und sodann jemanden sucht, der ihn in das berühmte chinesische Weisheitsbuch I-Ging einführen könnte, wird er an den sagenhaften „Älteren Bruder“ verwiesen. Dieser hatte in seiner Einsiedelei ein Bambusgehölz angelegt und nimmt Josef Knecht als Schüler an. Nach langen Monaten der Einführung in das I-Ging gesteht Knecht dem Älteren Bruder, er wünsche es zu erreichen, das System des I-Ging in das Glasperlenspiel einzubauen. „Nur zu“, lachte der Ältere Bruder, „Du wirst ja sehen. Einen hübschen kleinen Bambusgarten in die Welt hineinsetzen, das kann man schon. Aber ob es dem Gärtner gelingen würde, die Welt in sein Bambusgehölz einzubauen, scheint mir doch fraglich.“ Der Vergleich des Glasperlenspiels mit einem hübschen kleinen Bambusgarten und des I-Ging mit der ganzen Welt zeigt geradezu bestürzend die Grenzen des Glasperlenspiels. Nichtsdestoweniger ist das Spiel eine „lingua sacra“ von höchster Erhabenheit, das hohe intellektuelle Begeisterung getragen von erschauernder Bewegtheit auslösen kann. Die weitaus meisten Charaktere des Romans sind ebenso wie das Glasperlenspiel selbst Erfindungen Hesses. Aber so wie durch die Erzählungen über das Spiel höchste Werte wirklicher menschlicher Kulturtradition einsichtig gemacht werden, so gibt es einige wenige Charaktere, die ihre Modelle in der geschichtlichen Wirklichkeit haben. So steht der Vorläufer von Josef Knecht als Magister Ludi, der Magister Thomas von der Trave für Thomas Mann und trägt der Charakter Fritz Tegularius viele Züge Nietzsches. Carlo Ferromonte aber steht für den Sohn von Hesses Halbbruder Carlo Isenberg und Pater Jakobus schließlich steht für den von Hesse zeitlebens verehrten Jakob Burckhardt. Hesse hat aus dem protestantischen Historiker der Universität Basel einen nicht nur hoch gelehrten, sondern auch kirchenpolitisch überaus einflußreichen Pater des erfundenen Benediktinerklosters Mariafels gemacht, doch für die allmenschheitliche, universalistische Perspektive des Romans waren dies nur Äußerlichkeiten, welche der Gang der Fabel notwendig gemacht hatte: die Verständigung zwischen der liberalen kastalischen Provinz und dem Vatikan. Für Josef Knecht selbst fällt dem Pater Jakobus dazu noch überdies eine wichtige Funktion zu. Er ist eine große Bereicherung für dessen persönliche 18 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 13. Hermann Hesses Weg nach innen 176 geistige Entwicklung. Knecht ist „von keiner seiner Eroberungen seit der des Älteren Bruders im Bambusgehölz so beglückt gewesen, durch keine hat er sich so sehr zugleich ausgezeichnet und beschämt, beschenkt und angespornt gefühlt wie durch diese.“ 19 Zu dieser inneren Bereicherung war es dadurch gekommen, daß eine große Lücke in Knechts Erziehung geschlossen wird. Er erhält den Zuwachs einer für ihn fast völlig neuen Perspektive, jener der Geschichte. Pater Jakobus formuliert dies so, daß es um den Respekt vor der unbegreiflichen Wahrheit, Wirklichkeit, Einmaligkeit des Geschehens geht: „Geschichte treiben setzt das Wissen darum voraus, daß man damit etwas Unmögliches und dennoch Notwendiges und höchst Wichtiges anstrebt. Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren.“ 20 Das ist der Kern der Sache und die äußerliche Kleidung, die der große Historiker trägt, ist eine Nebensache. Der wirkliche Jakob Burckhardt könnte es genau so formuliert haben. Der Grund weshalb die Fabel die Änderung der Person Burckhardts von einem weltlichen Historiker zu einem Benediktinerpater notwendig gemacht hat, betrifft die vielleicht einzige Stelle im Roman, in dem nicht das intellektuelle und ästhetische Wesen des Glasperlenspiels allein im Vordergrund steht, sondern die Bestimmung der Position der utopischen, kastalischen Provinz gegenüber der katholischen Kirche als einer Hauptvertreterin des Christentums. Josef Knecht wird nämlich als offizieller Vertreter Kastaliens zu den Ordensoberen des Benediktinerklosters entsandt, um durch das Erreichen einer positiven Verständigung mit dem einflußreichen Pater Jakobus zu einer freundschaftlichen Verbundenheit, ja wenn möglich zu einem offiziellen Austausch von Diplomaten zwischen der Provinz Kastalien und Rom zu kommen. Der Grund für ein solches Zusammenrücken liegt auf der Hand und wird vom Magister Ludi des Ordens der Glasperlenspieler, der Josef Knecht den Auftrag zur Reise erteilt, klar und bündig formuliert: „Es sei … der historische Augenblick gekommen oder doch nahe für eine Überbrückung der alten Kluft zwischen Rom und dem Orden“ der Glasperlenspieler. In „etwaigen künftigen Gefahren würden sie ganz ohne Zweifel gemeinsame Feinde haben, würden Schicksalsgenossen und natürliche Verbündete sein, und auf die Dauer sei ja auch der bisherige Zustand unhaltbar und eigentlich unwürdig: nämlich daß die beiden Mächte in der Welt, deren geschichtliche Aufgabe die Erhaltung und Pflege des Geistes und des Friedens sei, so nebeneinander und einander beinahe fremd weiterleben.“ 21 Wer die „gemeinsamen Feinde“ sind, ist nur allzu offenkundig: Es ist einerseits der fanatisch antireligiöse Materialismus, der den Faschismus wie den 19 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 203. 20 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 178. 21 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 193. Hermann Hesses Weg nach innen 177 Kommunismus kennzeichnet und es ist andererseits der nicht weniger gefährliche, einseitig konfessionelle Fanatismus terroristischer Verzerrungen und militanter Mißbräuche fundamentalistischen Glaubens. Es scheint merkwürdig und bemerkenswert, daß der Schritt, den Hesse seinen Josef Knecht von Seiten eines erfundenen, weltlichen Ordens als Träger eines mystisch orientierten, liberalen und toleranten Humanismus dem Vatikan gegenüber in dem 1942 vollendeten Roman unternommen wurde, im Jahr 1962 von Seiten des Vatikan in der Person eines Papstes von dem geistigen Rang eines Johannes XXIII. tatsächlich vollzogen worden ist oder zumindest verwirklicht zu werden versucht wurde. Dies geschah im Zweiten Vatikanischen Konzil. Der Roman selbst, der Binnenroman, wenn man so will, die „Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“, in dem seine Begegnung mit dem Älteren Bruder und mit Pater Jakobus Höhepunkte darstellen, reicht von der ersten, einführenden Begebenheit der Berufung des jungen Knaben in eine Eliteschule der kastalischen Provinz bis zu seiner Wahl als deren höchster Vertreter, zum „Magister Ludi“ des Glasperlenspiels, „Führer und Vorbild der geistig Kultivierten und geistig Strebenden.“ 22 Die Berufung in eine Eliteschule vollzog sich so, daß der Musiklehrer des etwa dreizehnjährigen Lateinschülers Josef Knecht im kleinen Städtchen Berolfingen mitteilte, daß der „Magister Musicae“, jener der zwölf obersten Leiter des Landes, der die oberste Instanz in Sachen der Musik bildete, zur Inspektion der Schule kommen würde. Als der große Tag kam, wurde Josef gesagt, er hätte im Musik-Übungszimmer zu warten. Dann trat ein kleiner, weißhaariger Mann ein mit einem schönen, lichten Gesicht und forderte Josef auf, ein Lied seiner Wahl auswendig auf seiner Violine zu spielen. Er selbst spielte auf dem Klavier zuerst eine zweite, sodann eine zweite und dritte und schließlich eine zweite, dritte und vierte Stimme dazu. Je öfter sie gemeinsam das Lied in verschiedenen Tonlagen wiederholten, desto gelöster, freier und freudiger spielte Josef. Als sie aufhörten blickte er den Musiklehrer strahlend an, brachte aber kein Wort heraus. Sodann zeigte ihm der Musikmeister am Klavier, wie eine Fuge „gemacht“ wird und wie sie aufgebaut ist. Dem kleinen Josef war, als hörte er zum ersten Mal in seinem Leben Musik. Dann sagte ihm der Musikmeister: „Nirgends können zwei Menschen leichter Freunde werden als beim Musizieren. Das ist eine schöne Sache. Hoffentlich werden wir beide Freunde bleiben, du und ich. Vielleicht wirst du auch Fugen machen lernen, Josef.“ Das war der Abschied. Als Josef aus der Schule trat, fand er die ganze Stadt, ja die ganze Welt verwandelt und verzaubert. Die amtliche Aufnahme in eine Eliteschule war für Josef durch diesen Auftritt des Musikmeisters mit der inneren Berufung in eins zusammengefallen und vollzogen worden. 22 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 49. Hermann Hesses Weg nach innen 178 Der zweite Eckpfeiler der Fabel des Romans ist der kometenhafte Aufstieg des noch immer jungen Josef Knecht zur letzten und höchsten seine Berufungen, zum „Magister Ludi“, wodurch die kleine Republik der Glasperlenspieler einen neuen Herrn erhielt. Als nicht nur die „Investitur“ vorüber war, sondern als er auch schließlich fest im Sattel saß, entsann er sich des letzten, ihm vorangegangenen Magister Ludi, der kein anderer war als der Bruder Thomas von der Trave, der für Thomas Mann steht. Knecht erinnerte sich in tiefer Ehrfurcht aber auch mit leichtem Grauen der unpersönlichen Vollkommenheit und Zucht dieses Mannes und hatte schon früh gefühlt, wie Kastalien einmal auch nach ihm selbst greifen und ihn an sich saugen würde, um vielleicht auch aus ihm einmal einen solchen Thomas zu machen, einen Meister, einen Regenten und Diener, ein vollkommenes Werkzeug. Der Name Knecht war ja im Hinblick auf vollkommenen Dienst bereits ein Omen gewesen. Ein rein oberflächlicherer Roman würde nun allenfalls mit einer spektakulären Schilderung vorbildlicher Amtsführung Knechts schließen. Aber der späte Hesse ist ein viel zu wissender und viel zu bedeutender Autor, als daß er die so großartig erfundene, beispielhafte und positive Utopie seiner kastalischen Provinz im uneingeschränkt strahlenden Glanz erfüllten Daseinssinns im imaginären Raum stehengelassen hätte. Er zeigt vielmehr an seinem Beispiel Knechts, wie dieser gerade durch seine erreichte Vollkommenheit in seinem hohen Amt nach einigen Jahren sich plötzlich danach sehnte, aus diesem musterhaften, geregeltem Leben innerhalb einer hierarchischen Ordnung, das sich als ein völlig unpersönliches, hartes, opferreiches und recht einsames Leben erwiesen hatte, auszubrechen. Er hatte das Verlangen nach Jugend, nach jungen, unverbildeten Schülern, nach einer bescheidenen Tätigkeit ohne Glanz und ohne ewigen Zwang zur Repräsentation, „nach der Tätigkeit etwa eines Latein- oder Musiklehrers einer niederen Schule.“ 23 Da wurde ihm überdies das Schicksal beschieden, daß ein alter Freund aus der Studentenzeit namens Plinio Designori, der etliche Jahre als Gastschüler und Hospitant der Außenwelt in der Provinz der Glasperlenspieler einiges Wissen erworben hatte, bei ihm wieder auftauchte. Plinio war der Sohn einer alten, einflußreichen Familie, der als Grundbesitzer und Abgeordneter sowohl wertvolle Einsichten wie auch großen Einfluß besaß. Durch die Gespräche mit ihm wird Knecht sich der gefährlichen Spaltung bewußt, die sich als Kluft zwischen der Selbstisolation der Glasperlenspieler einerseits und der „wirklichen“ Welt der Wirtschaft und Politik, der großen Gefühle und echten Leidenschaften andererseits aufgetan hatte. Viele Vertreter der wirklichen Welt erblickten in den Glasperlenspielern Drohnen, die sich in einer künstlichen, sterilen, schulmeisterlich beschnittenen Welt, einer Halb- und Scheinwelt verschanzt hatten, einer Welt ohne Familie, ohne Mütter, ohne Kinder. 23 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 349. Hermann Hesses Weg nach innen 179 In seinen Gesprächen mit Plinio verteidigte Knecht durchaus überzeugend die geistige Welt der Glasperlenspieler mit ihren drei Prinzipien der Wissenschaft, der Verehrung des Schönen und der Meditation. Besonders überzeugend aber verteidigte er die innere Haltung der Heiterkeit, die vor allem von der Musik her das Leben der Glasperlenspieler durchdrang und beherrschte. Man wird hier an die Wichtigkeit des Lachens der Unsterblichen und ihres Humors im Magischen Theater des Steppenwolf erinnert. Auch für Knecht war das Erringen jener inneren Heiterkeit das „edelste aller Ziele“. Obwohl aber Knecht in keiner Weise der im Geistigen so beschränkten Welt der „Außenwelt“ zustimmt, geschweige denn angehört, faßt er den Entschluß, sein hohes Amt niederzulegen. Erst als er dies Plinio anvertraut hat, getraute sich dieser, ihm vorzuschlagen, daß er die Erziehung seines Sohns übernehmen könnte, mit dem er einfach nicht fertig wird. Knecht wußte, daß er damit nicht nur seinen eigenen Wunsch erfüllen würde, sondern auch die wachsende Spannung zwischen Kastalien und der Außenwelt überbrücken helfen könnte. Gehörte doch nicht nur Plinio selbst als Abgeordneter dem Ausschuß an, der für die Kontrolle der Förderung der kastalischen Provinz zuständig war, sondern würde auch sein Sohn gewiß einst eine ähnlich wichtige Stellung bekleiden. Nun erst sandte Knecht das kulturpolitische Meisterwerk seines fast zwanzig Seiten langen Schreibens an die oberste Erziehungsbehörde, in dem er die Gefahren beschwor, die es zu überwinden galt und in dem er um die Zustimmung zu seinem Rücktritt ersuchte. Während der Zeit des sich Ablösens war ihm mehr und mehr der wirklich entscheidende Grund für seinen geplanten Schritt klar geworden. Die ausschlaggebende Stelle lautet: „… daß der eigentliche Grund seines Fremdwerdens und Fortwollens wohl nicht das Wissen um die für Kastalien bestehenden Gefahren und die Sorge um dessen Zukunft sei, sondern daß es einfach ein leer und unbeschäftigt gebliebenes Stück seiner selbst, seines Herzens, seiner Seele sei, das nun sein Recht begehrte und sich erfüllen wollte.“ 24 Das bedeutete jedoch im Klartext nicht mehr und nicht weniger, als daß der höchste Glasperlenspieler im Grunde das Glasperlenspiel überwunden hatte, um eines Schrittes in die soziale oder vielleicht besser menschheitliche Verantwortung willen. Knecht tat, allen Widerständen zum Trotz, seinen vorletzten Schritt und wurde der Erzieher von Tito Designori. Da er seinen Einfluß nur dann voll entfalten konnte, wenn er mit Tito aus der gewohnten Umgebung entfernt sein könnte, wurde beschlossen, daß beide einige Zeit allein verbringen sollten, betreut von einer Magd, im Ferienhäuschen Designoris, das im Gebirge an einem See gelegen war. Als Knecht am Morgen nach der ersten Nacht im Morgen- 24 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 369. Hermann Hesses Weg nach innen 180 mantel aus dem Haus und an das Seeufer trat, entdeckte er Tito bereits in der Badehose. Dieser führte einen fantastischen Tanz zur Begrüßung der Sonne auf und rief sodann Knecht zu: „Wenn wir sehr schnell schwimmen, so können wir gerade vor der Sonne am anderen Ufer sein.“ Obwohl ein Instinkt Knecht davor warnte, der Aufforderung zu folgen, zumal er am Vortag körperliche Schwäche und unregelmäßige Herztätigkeit an sich beobachtet hatte, siegte sein Wille, Tito durch das Eingehen auf dessen Einladung für sich zu gewinnen über seinen Instinkt. Ja, es scheint, daß er ein wohl kalkuliertes Risiko einging, weil er durch seine Menschenkenntnis im vorhinein wußte, daß er in jedem Fall gewinnen würde, ob er sich nun selbst opferte oder ob er den Schwimmwettbewerb bestünde. Knecht sprang in des Bergsees Eiseskälte, die von schneidender Feindseligkeit war. Während er versuchte, den Vorsprung Titos einzuholen, erlag er einem Herzschlag. Als Tito das Verschwinden Knechts entdeckt hatte, war er entsetzt: „Nun bin ich an seinem Tod schuldig! “ reflektierte er, „Und erst jetzt, wo kein Stolz mehr zu wahren und kein Widerstand mehr zu leisten war, spürte er im Weh seines erschrockenen Herzens, wie lieb er diesen Mann schon gehabt hatte. Und indem er sich, trotz allen Einwänden, an des Meisters Tod schuldig fühlte, überkam ihn mit heiligem Schauer die Ahnung, daß diese Schuld ihn selbst umgestalten und viel Größeres von ihm fordern werde, als er bisher je von sich verlangt hatte.“ 25 Der Roman schließt indessen nicht mit diesem Opfertod Knechts, sondern es folgen noch zwei Anhänge, die alles andere als verzierendes Rankenwerk bilden, sondern zum Wesentlichsten überhaupt gehören, um ihn wirklich ganz zu vollenden. Der erste Anhang trägt den Titel „Josef Knechts hinterlassene Schriften“ und besteht aus dreizehn Gedichten, die eine Art verdichteter Zusammenfassung und Sublimierung von der utopischen Idee des Glasperlenspiels darstellen und wenn man die Erzählung der Überwindung des Glasperlenspiels durch den höchsten Glasperlenspieler selbst gerade hinter sich gebracht hat, so wird man sich nun durch diese Gedichte als eine Art Kontrapunkt der Größe dieser Idee, der Weite ihres Horizonts, ihres Edelmuts und ihrer faszinierenden Musikerfahrung bewußt. Als zweiter Anhang aber folgen „Die drei Lebensläufe“ und wenn bereits am Ende der „Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“ das Glasperlenspiel und die ganze kastalische Provinz durch die Konfrontation mit der „wirklichen“ Außenwelt, vor allem repräsentiert durch Plinio Designori und seinen Sohn Tito relativiert wird, so erfolgt hier eine noch viel weiter ausgreifende, sozusagen weitaus gründlichere Relativierung, die zeigt, daß nicht nur 25 Das Glasperlenspiel, op. cit., S. 462 f. Hermann Hesses Weg nach innen 181 Josef Knecht sehr Wichtiges von Pater Jakobus gelernt hat, sondern auch Hesse von Jakob Burckhardt. Es wird nämlich die ungeheure Weite und Breite des Wandels der historischen Umwelt vorgeführt, auch wenn es innerhalb dieses Wandels einen kontinuierlichen, individuellen seelischen Kern gibt. In diesen „drei Lebensläufen“ zeigt sich nämlich entsprechend der Überzeugung Hesses die Richtigkeit der Lehre von der Seelenwanderung. Hier findet sich die Grundlage zum Verständnis des ganzen Romans, über den Hesse einmal ausdrücklich und zusammenfassend eröffnet hat: „Es kam mir eines Tages, manche Jahre, bevor ich mit der Niederschrift begann, die Vision eines individuellen aber überzeitlichen Lebenslaufes: ich dachte mir einen Menschen, der in mehreren Wiedergeburten die großen Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.“ 26 Der Held des ersten der drei Lebensläufe, der den Titel „Der Regenmacher“ trägt, hat darum gleichfalls den Namen Knecht. Nur hat er in grauer Vor- und Frühzeit gelebt, als die primitiven Stämme einen Zauberer und Wettermacher gehabt hatten. Knecht ist durch viele Jahre der erfolgreiche „Regenmacher“ des Stammes, der die guten Ernten sichert. Als aber schließlich in einem besonders bösen Jahr die Kraft der negativen Dämonen stärker zu sein scheint als seine Kraft, bietet er sich selbst - einem alten Stammesbrauch folgend - als Opfer an, um dadurch die bösen Dämonen zu versöhnen und wieder Regen herbeizuholen. Auf einer Waldlichtung wird er mit einer Axt vor den zuschauenden Dorfbewohnern erschlagen und sein Opfertod bringt nicht nur den Regen, sondern macht seinen Sohn Turu zum nächsten Regenmacher. Der Held des zweiten Lebenslaufes, „Der Beichtvater“, trägt zwar nicht den Namen Knecht aber dafür den Namen Joseph oder genauer Josephus, um die Kontinuität sichtbar zu machen. Dieser Josephus mit dem Beinamen Famulus lebte im vierten nachchristlichen Jahrhundert von seinem 36.- Lebensjahr an in der Wüste seiner Heimat Palästina, in welcher der heilige Hilarion eine erste Einsiedlergemeinschaft gegründet hatte. Joseph übt nicht nur Armut, Nächstenliebe und eine Art Ars moriandi, sondern wirkt vor allem als Beichtvater und Berater hilfesuchender Menschen, die in der Wüste zu ihm kommen. Wie der Magister Ludi Josef Knecht war er eines Tages an die Grenze seines Daseins gelangt und der Teufel aller Wünsche versetzt ihn in einen Brand von Selbsthaß und Todesgier nach Selbstmord. Darum packt ihn das Verlangen, selbst zu beichten und er macht sich auf den Weg, den vielleicht noch berühmteren Beichtvater Dion Pugil aufzusuchen. Etwa in der Mitte des Weges trifft er eines Nachts in einer Oase auf Dion, der sich jedoch zunächst nicht zu erkennen gibt. Er selbst aber hatte sich aus demselben Grund auf den Weg gemacht, um bei Joseph zu beichten. Er verspricht Joseph, ihn zu Dion zu führen 26 Hermann Hesse: Briefe. Frankfurt am Main 1964, S. 436. Hermann Hesses Weg nach innen 182 und Joseph entdeckt auf dem Weg, daß er Dion selber vor sich hat. Er beichtet und sie ziehen gemeinsam zur Klause Dions weiter, wo er bei ihm bleibt, zuerst als sein Diener, später als sein Helfer und schließlich nach Dions Tod als sein Nachfolger. Der dritte Lebenslauf, der den Titel „Indischer Lebenslauf“ trägt, hat zum Helden Dasa, den Sohn eines der menschgewordenen Teile des Gottes Vishnu, der den Namen des kriegerischen Fürsten Ravana angenommen hatte. Offiziell war Dasa der Sohn Ravanas. Auf Grund einer Hofintrige ist das Leben des kleinen Prinzen in Gefahr und ein Hofmann und Brahmane, der ihn retten will, gibt ihn vertraulich einem Hirten mit auf den Weg, der im Palast Butter abgeliefert hatte und heilige Kühe des Fürsten im Gebirge weidete. Dasa wächst unter den Hirten auf und da er eines Tages auf der Suche nach Honig in den Wald eindringt, findet er in der Einsamkeit ein aus Farnen gebautes Zelt und davor, in tiefer Meditation einen Yogin sitzend, der ihm noch seltsamer und ehrwürdiger erschien als alle Yogins, die er zuvor gesehen hatte. Der junge Dasa fühlte plötzlich, daß dieser Yogin durch die Oberflächenwelt hinabgesunken war in den Grund alles Seienden und Wandellosen. Dasa brachte ihm von da an täglich Milch und süße Butter, stellte sie vor der Hütte auf den Boden und entfernte sich wieder. Später zogen die Hirten weiter zu neuen Weideplätzen, Dasa wird erwachsen und sieht in der Hauptstadt das große Fest, bei dem sein Stiefbruder Nala zum Nachfolger des Fürsten Ravana gesalbt wird. Später verliebt er sich in die bezaubernd schöne Pravati, verläßt um ihretwillen die Hirten und wird seßhaft. Für alles andere blind lebt er nur für seine Gattin Pravati. Da kommt der neue junge Fürst Nala jagen in die Gegend. Als Dasa eines Tages heimkommt, ist Pravati verschwunden und er erfährt, daß der Fürst sie geraubt und zu sich genommen hat. Dasa tötet den Fürsten, flieht und zieht durch das Land. Er kommt wieder in die Gegend des Yogins, findet ihn auch wieder und bleibt wie erwachend stehen. Die Zeit schien hier angehalten gewesen zu sein. Er riskiert es, an dem in tiefer Versenkung sitzenden Heiligen vorbei in die Hütte zu treten. Er findet nur ein Lager aus Laub, eine Kürbisschale mit etwas Wasser und einen leeren Bastbeutel. Er nahm den Beutel und füllte ihn mit Früchten und süßem Baummark. Dann ging er mit der Schale und füllte sie mit Wasser. Und so blieb er nun bei dem Schweigsamen und sorgte für ihn und für sich, ohne daß er erkennen konnte, ob der Yogin ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Es erwachte der Wunsch in ihm, gleichfalls ein Yogin zu werden. Er begann, gleich dem Ehrwürdigen, mit gekreuzten Beinen regungslos zu sitzen und in eine überwirkliche Welt zu blicken. Sodann begannen Träume Dasa zu quälen, die schienen, ihn in sein früheres Leben zurückholen zu wollen. Aus Angst er möge wieder in dieses Leben zurückfallen, tritt er dem Yogin entgegen, als dieser aufsteht, um in seine Hütte zu gehen. Er bekennt, daß er Frieden sucht und erzählt seine ganze Geschichte, von seiner blinden Liebe zu Pravati, von der Ermordung Nalas, von seiner Hermann Hesses Weg nach innen 183 Flucht und Verfolgung. Der Yogin aber ist zuletzt von Lachen geschüttelt und sagt nur: „Maya! Maya! “ Dasa verstand nicht, was dieses Wort bedeutete. Er fürchtete, die Yogakunst niemals zu erlernen, während sein früheres Leben wieder nach ihm griff. Er beschloß, am nächsten Tag den Einsiedler zu verlassen und hatte nur eine letzte Bitte, ihm zu erklären, was Maya sei. Anstatt einer Antwort in Worten befahl der Yogin nur durch eine Handbewegung Dasa, wieder Wasser zu holen. Als Dasa an der Quelle die Schale gefüllt hatte, entdeckte er plötzlich die so heiß geliebte Pravati, schöner als je. Sie erzählte ihm, daß die Verfolgung längst eingestellt war und daß ein alter Hirte und ein Brahmane die Wahrheit an den Tag gebracht hätten, wonach Dasa der rechtmäßige Erbe und Nachfolger des Fürsten Ravana sei. Er werde überall gesucht, um als Fürst eingesetzt zu werden. Dasa wird Fürst und hat ein Leben voll von Festen und von Glück und zudem schenkt ihm Pravati auch noch einen Sohn. Bis räuberische Einfälle des Nachbarfürsten Govinda dieses Glück gefährden, die sich zu einem richtigen Krieg ausweiten. Dasa verliert die große Schlacht und wird als Gefangener mit seiner Gattin konfrontiert, die den Verstand verloren hat und den kleinen toten Sohn im Schoß hält. Einsam im Kerker erwartet er seinen Tod und fällt aus Erschöpfung in einen tiefen Schlummer. Als er wieder erwacht, steht er in einem Wald und hält eine mit Wasser gefüllte Kürbisschale in den Händen. Den zweiten, möglicherweise künftigen Teil seines Lebens hatte ihm der Yogin nur durch Hypnose vermittelt und er hatte ihn geträumt. Es war eine etwas drastische Art gewesen, ihm zu eröffnen, was Maya bedeutete. Nun beginnt er zu ahnen, daß auch der erste, „wirkliche“ Teil seines Lebens im Grunde Maya gewesen war. Als er mit dem Wasser zurück zum Yogin kommt, empfängt ihn dieser mit einem leicht fragenden, halb mitleidigen, halb belustigten Blick. Mit einem anderen, darauf folgenden Blick nimmt er Dasa als Schüler auf und nimmt ihn damit in Zucht und Dienst. Dasa hat den Wald nicht mehr verlassen. Das Glasperlenspiel brachte den Nobelpreis, doch wurde es bald darauf still um Hesse. Er kam gewissermaßen aus der Mode. So sehr einige der neuen Linken vor allem den Steppenwolf aus einem Mißverständnis heraus bewunderten, so sehr versuchten andere von ihnen die Zweitrangigkeit Hesses als Schriftsteller zu beweisen und „es galt als fortschrittlich, mit geringschätzigem Mitleid über den Gärtner von Montagnola, den Epigonen der Gartenlaube zu sprechen, jenen esoterischen Idylliker, der sich aus Enttäuschung über die Entwicklung der abendländischen Kultur auf eine romantische Oase der Literatur geflüchtet habe.“ 27 Die oberflächliche Verständnislosigkeit der Ablehnung wurde aber nach etlichen Jahren abgelöst von einer Massenbegeisterung, an der zu einem Teil eine 27 Bernhard Zeller, op. cit., S. 180. Hermann Hesses Weg nach innen 184 ebensolche oberflächliche Verständnislosigkeit Teil hatte. Am besten zusammengefaßt wurde dies alles in einem einzigen Absatz einer populären Biographie: „Daß ein Dichter wie Hermann Hesse, der stets in Widerspruch zu den Mächten seiner Zeit gestanden hat, der ein sensibler, eigensinniger Individualist, ja zeitlebens immer wieder aus den Bindungen der Gemeinschaft ausgebrochener Außenseiter der Gesellschaft war, der so schwer die Beziehung zu den Normalitäten der Wirklichkeit fand und dessen gesamtes Werk im Grunde eine einzige große Autobiographie darstellt, dieses weltweites Echo gewann, gehört zu den merkwürdigen Phänomenen der Wirkungsgeschichte.“ 28 Das Fazit ist jedenfalls, daß Hesse seit der Mitte der Sechzigerjahre plötzlich zum meistgelesenen und meistübersetzten europäischen Schriftsteller des 20.-Jahrhunderts wurde. 28 Bernhard Zeller, op. cit., S. 186. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce James Joyce, am 2. Februar 1882 in einem Vorort von Dublin geboren, war sofort und blieb durch seine Fröhlichkeit der Liebling seiner Eltern. Nachdem die Familie in den Badeort Bray am Meer, südlich von Dublin, übersiedelt war, trat der Sechsjährige bei einem Sommerfest des Bray Boat Clubs zum ersten Mal mit seinen Eltern als Sänger öffentlich auf. Schon zwei Monate später endete die glückliche Zeit der Geborgenheit und wurde abgelöst durch die Ängste und den Druck der Jesuiten-Internatsschule Clongowes Wood, woran auch die Tatsache nichts zu ändern vermochte, daß die Schulleitung ihrem jüngsten Schüler sehr entgegen kam und ihm sogar die Erlaubnis erteilte, anstatt im großen Schlafsaal mit vielen anderen allein im Krankenzimmer zu übernachten, wo sich die Krankenschwester besonders um ihn annahm. Dabei hatte die Schule natürlich auch ihre positiven Seiten und als er später einmal gefragt wurde, was von seiner jesuitischen Erziehung geblieben sei, da antwortete er: „Ich habe gelernt, die Dinge so zu ordnen, daß es leicht fällt, sie zu überblicken und zu beurteilen.“ 1 In einem Osterspiel der Schule war er als Teufelchen aufgetreten und als Neunjähriger schrieb er sein erstes Gedicht. Es blieb das einzige politische Gedicht, das Joyce je geschrieben hat und ist gegen Tim Healy gerichtet, der den beliebten irischen Politiker Charles Stewart Parnell verraten und gestürzt hatte. Da der Vater seinen Posten verlor und das Geld für die teure Privatschule nicht mehr zahlen konnte, mußte Joyce bald darauf Clongowes Wood verlassen. Nach kurzem Zwischenspiel in einer Armenschule erhielt Joyce durch die Fürsprache des mächtigen Paters Conmee einen Freiplatz am Belvedere College in Dublin, wieder einer Jesuitenschule und wiederum ist er der jüngste. Durch seine großartigen Leistungen wurde er zum Lieblingsschüler aller Lehrer. Als Vierzehnjähriger begann er Lyrik und Prosa zu schreiben. Obwohl die Exerzitien sein Gewissen belasteten, ging er im Hinblick auf die Literatur von Anfang an einen sehr unjesuitischen Weg. Abgesehen davon, daß er Dante über Shakespeare stellte, liebte er William Blake und entdeckte Ibsen für sich. Der Sechzehnjährige inskribierte sodann am University College von Dublin im Fach moderner Sprachen. Seine literarischen Vorbilder waren jetzt die französischen Symbolisten und Ibsen. Des Achtzehnjährigen Rezension von Ibsens letztem Stück Die Toten erwachen in der damals angesehenen Fortnightly Review löste am University College Aufsehen und Bewunderung für ihn aus. Er schrieb seine ersten zwei Dramen A Brilliant Career und Dreamstuff und wendete sich als literarischem Vorbild seinem irischen Landsmann Yeats zu. Dadurch, 1 Richard Ellmann: James Joyce. Frankfurt am Main 1959, S. 41. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 186 daß er die lyrische Empfindsamkeit von Yeats mit der nüchternen Härte von Ibsens Dramen verband, gelangte er zu seinen „Epiphanien“, jenen plötzlichen geistigen Manifestationen einer wesentlichen Phase des Geistes. Es kann die Momentaufnahme einer denkwürdigen Situation sein, ein Traumfragment oder ein Kurzdialog. Ausgehend von einem praktischen, nüchternen und präzisen Detail machen diese Epiphanien eine höhere Wahrheit einsichtig und stellen das durchgehende Stilprinzip des Werkes von Joyce dar. In der Konzentration auf einen Augenblick beginnt dadurch eine alltägliche Banalität in einem höheren Licht zu erstrahlen. Etliche dieser Epiphanien hat Joyce „eucharistisch“ genannt, wobei dieser Ausdruck seines spezifisch christlichen Charakters völlig entkleidet ist und sich auf den göttlichen Funken des Erstrahlens der Seele im Anblick eines alltäglichen Gegenstandes bezieht. Die Wahrheit solch alltäglicher Durchschnittlichkeit stellt auch den thematischen Hintergrund seines ersten wichtigen Werkes, der Dubliners, dar, deren tiefere Bedeutung jenseits der Oberfläche auch erst in der besonderen Offenbarung liegt, wie sie ein einfühlsamer Leser empfinden kann, der sich dieses Stilprinzips der Epiphanien bewußt ist und diese Art zu schreiben sollte sein gesamtes Werk zumindest bis einschließlich des Ulysses kennzeichnen. Die ersten drei Erzählungen der Dubliners hatte Joyce bereits sehr früh geschrieben, als er eingeladen worden war, ganz „etwas Einfaches“ für die Landwirtschaftszeitung Irish Homestead zu schreiben. Er hatte sie unter dem großartig klingenden Pseudonym Stephen Daedalus veröffentlicht. Damals hatte er auch bereits theosophische und sozialistische Literatur wie auch Nietzsche gelesen. Die drei Beiträge waren entgegen seiner Absicht so kompliziert, daß man ihn wissen ließ, er hätte die Leser der primitiven Zeitung hinreichend strapaziert. Es war die Zeit, in welcher Nora Barnacle in sein Leben trat, die zwar ein kaum sehr gebildetes Zimmermädchen war, die jedoch ganz wie er selbst dem verlogenen Spießertum Irlands entfliehen wollte. Sie war aufgeweckt und beweglich und der aktive Teil des Paares. Der Tag seines ersten sexuellen Erlebnisses mit ihr, der 16. Juni 1904, sollte später als „Bloomstag“ ein Schlüsseldatum seines Lebens und Werkes werden. Nachdem die Mutter 1903 nach langem Leiden verstorben war, worauf Joyce zu trinken begonnen hatte, floh er schließlich in der Begleitung von Nora aus Dublin nach Zürich auf das Versprechen einer englischen Agentur hin, dort den Posten eines Sprachlehrers an der Berlitz-Schule zu erhalten. Er mußte aber erfahren, daß es in Zürich keine freie Stelle gab und die englische Agentur völlig unbekannt war. Der Schulleiter bemühte sich jedoch um ihn und schickte ihn weiter nach Triest. Dort gab es zwar auch keine freie Stelle, aber der Besitzer der Schule war gerade im Begriff in Pola, dem damaligen Hafen der österreichischen Flotte, eine Schule zu eröffnen und stellte Joyce für diese Schule an. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 187 Er fand die Stadt trostlos, ein „maritimes Sibirien“, hatte aber das Glück, im folgenden Jahr doch nach Triest versetzt zu werden. Nach der Flucht aus der „Paralyse“ von Dublin, „wo man nichts wird“, und der Versagung einer Stelle in Zürich erwies sich die Versetzung nach Triest als schicksalhaft. Denn die weltoffene Hafenstadt - zu jener Zeit der zweitgrößte Hafen im Mittelmeer - war gleichzeitig ein richtiges Miniaturmodell der altösterreichischen Gesellschaft der Donaumonarchie. Obwohl die Mehrheit der Einwohner Italiener waren, gab es doch auch Österreicher und Ungarn, einen bedeutenden Anteil von Slowenen und sogar auch Griechen. Auch existierte eine ansehnliche jüdische Gemeinde. Die weit verbreitete Umgangssprache in Triest aber war eine Mischung des Italienischen mit zwölf anderen Sprachen: Armenisch, Deutsch, Griechisch, Kroatisch, Maltesisch, Sizilianisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch, Türkisch und Ungarisch. Hier liegt die historische Quelle der Sprachvielfalt von Finnegans Wake. Joyce sprach nicht nur mit seinem erwachsenen Schüler und späteren Freund, dem großen Romancier Italo Svevo die Sprache dieses „Triestino“, sondern es blieb auch die Sprache der Familie, als er in den Dreißigerjahren längst in Paris lebte. Durch den Hafen kamen aber ebenso Einflüsse des Nahen Ostens herein. Joyce war auch tief beeindruckt von dem friedlichen Zusammenleben so zahlreicher religiöser Konfessionen. Er war Stammgast im Café Bizantino und empfand Triest als einen positiven Gegensatz zu Dublin, wo es fast nur einander hassende Katholiken und Protestanten gab. Er schrieb gleichzeitig an Dublin, am Jugendbildnis und an Stephan Daedalus, doch gelang ihm zuerst die endgültige Fertigstellung von Dublin, das schließlich nach langen Schwierigkeiten 1914 erschien. Joyce sah in der Stadt selbst eine Person und gliederte die vierzehn Erzählungen in vier Lebensphasen von Kindheit, Jugend, Reife und öffentlichem Leben. Es war die Starrheit, die „Paralyse“ von Dublin, die hier zum Ausdruck gebracht wurde und die einen „Geruch von Verderbtheit“ hatte. Freilich beginnen sich vor allem die beiden letzten Erzählungen in gewisser Weise zu öffnen. Die vorletzte, „Arabia“, enthält Elemente einer Gralssuche und die letzte, „Gnade“, ist eine subtile Parodie von Dantes Commedia, die in einer Dubliner Bar als Hölle einsetzt, in der Schilderung der Heilung eines Säufers zum Purgatorium überleitet und im Paradies einer sehr verweltlichten Kirche von Dublin endet. Es ist der erste, frühe Auftakt zum späten Höhepunkt von Finnegans Wake. Dabei sind die Erzählungen gegeneinander verzahnt und ausgewogen. Sie sind bis in detaillierte Wendungen hinein von teils einander ergänzenden und kontrastierenden Motivketten durchzogen, die den ganzen Band zur Einheit einer hohen Sprachkunst gestalten. Als sein Posten bei der Berlitz-Schule gefährdet erscheint und Nora, die seine Frau geworden war, ihm droht, ihn wegen seines Trinkens zu verlassen, versucht Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 188 er eine Änderung zum Besseren und nimmt einen Posten bei einer Bank in Rom an, den er 1906 antrat. Von Rom war er sehr enttäuscht. Im Unterschied zu Triest fand er, daß diese Stadt kein einziges anständiges Kaffeehaus hatte und Rom kommt ihm vor wie ein Mann, der davon lebt, daß er die Leiche seiner Großmutter zur Schau stellt. Vor allem aber ist er nicht fähig, in Rom zu schreiben. Er kündigt die Stelle an der Bank und kehrte im März 1907 mit Sohn Giorgio und der schwangeren Nora ohne einen Groschen Geld wieder zurück nach Triest, wo er zunächst seine alte Stelle bei Berlitz wieder erhielt, die er aber später aufgab. Im selben Jahr schrieb er noch seine Erzählung „Die Toten“ zu Ende. In Triest und Rom war ihm wieder zu Bewußtsein gekommen, was er in Dublin verdrängt gehabt hatte, daß er nämlich ein Dubliner sei. Die Erzählung „Die Toten“ war „sein erster Gesang aus der Verbannung.“ 2 Nun wendete er sich wieder seinem Roman Jugendbildnis zu, den er von 63- Kapiteln auf 5 verdichtete und von dessen neuer Fassung er zunächst die ersten 3-Kapitel fertigstellte. Er hielt zwölf Vorträge über Hamlet, was ihm die Lehrerstelle an einer höheren Handelsschule eintrug. Nach Kriegsausbruch verlor er jedoch diese Stelle wieder und hatte das Glück, daß die österreichischen Behörden ihn, den englischen Bürger, im Juni 1915 nach Zürich ausreisen ließen. Zürich war wie Triest eine Stadt, in der es neben den eingeborenen Schweizern viele Ausländer gab. Dennoch bestanden Unterschiede. Nicht nur war Zürich sehr viel reinlicher als das mediterrane Triest, sondern in Triest waren die meisten Vertreter nichtitalienischer ethnischer Gruppen österreichische Bürger, während hingegen die Nichtschweizer im Zürich alle Ausländer waren, was ein etwas verschiedenes geistiges Klima schaffte. Joyce erklärte, er sei „nie glücklicher gewesen als unter der laxen Herrschaft des österreichisch-ungarischen Kaisers in Triest.“ 3 Einer der wichtigsten Bekannten von Joyce in Triest war der Triestiner Ottocaro Weiss gewesen, Bruder eines der ersten Freud-Schüler Dr. Edoardo Weiss und Bekannter von C. G. Jung. Er hat Joyce vieles über die Psychoanalyse erzählt, „über die sich Joyce zwar abschätzig ausließ, die ihm aber dann doch zustattenkam.“ 4 Als Joyce sich mit dem Jugendbildnis 5 dem eigenen Inneren zuwandte, da war die „Grundidee“ des Buches, wonach „wir sind, was wir waren“ und „un- 2 Richard Ellmann, op. cit., S. 259. 3 Richard Ellmann, op. cit., S. 283. 4 Richard Ellmann, op. cit., S. 387. 5 James Joyce: Portrait of the Artist as a Young Man. New York 1916. Deutsch: Jugendbildnis. Basel u. a. 1926. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 189 sere Reife nur eine Ausweitung unserer Kindheit ist“ 6 , eine Grundidee der Psychoanalyse. Später spielte er mit Freuds Idee der freien Wortassoziationen. Der Plan, nach dem Krieg in ein ganz verändertes Triest zurückzukehren, scheiterte. Sodann plante Joyce über Paris nach London zu gehen. Als er in Paris eintraf, wartete Ezra Pound auf ihn, der ihn schon seit Jahren verehrt hatte, und stand zu seiner Verfügung. Er brachte ihn in einem kleinen Privathotel unter und aus dem geplanten Aufenthalt von einer Woche wurde einer für zwanzig Jahre. Seit 1907 hatte Joyce seinen Roman Ulysses geplant und als er 1915 mit der Niederschrift begonnen hatte, wollte er nicht nur die Verwendung mehrerer Stile fortsetzen, wie er sie im Jugendbildnis angewandt hatte, sondern trat auch gleich am Beginn der Held Stephan Daedalus auf, dem in dieser Dubliner Modernisierung des Odysseusmythos die Rolle des Telemach zufiel. Schon als Zwölfjähriger hatte Joyce in der Schule Odysseus als seinen Lieblingshelden genannt und nun betrachtete er ihn als die humanste Gestalt der Weltliteratur. Er war der einzige gewesen, der in Griechenland zunächst gegen den Trojanischen Krieg aufgetreten war und der sich sodann mit oft humorvoller Schlauheit durch die Feindseligkeiten von Natur, Göttern und Menschen durchschlug. Als Jahr der Handlung seines Romans wählte Joyce das Jahr 1904, das Jahr, in dem er selbst aus der Heimat aufgebrochen war und als Tag wählte er den 16. Juni, den Tag, an dem sein wirkliches erstes Treffen mit Nora Barnacle stattgefunden hatte, die später seine Frau wurde. Der äußerliche Gehalt von Ulysses zeigt achtzehn Episoden, die achtzehn Stunden dieses Tages entsprechen aus dem Leben des Protagonisten. Da Joyce als moderne Entsprechung des alten Odysseus einen modernen „heidnischen“ Helden erschaffen wollte, den er im katholischen Dublin ansiedeln konnte, kürte er den Charakter von Leopold Bloom. Dieser sticht einerseits als Jude von der Dubliner Norm ab. Andererseits ist er aber auch kein volltypischer Jude, da er nur vom Vater her Jude und zudem gleich drei Mal getauft ist, zwei Mal katholisch und ein Mal protestantisch. Er paßt in keine enge Schablone, so daß das allgemein Humane dominiert. Dieser Leopold Bloom hat gegenüber dem jungen Stephan Daedalus eine Art Vaterrolle, obgleich er nicht dessen biologischer Vater ist. Wie aber der mythische Odysseus zwanzig Jahre die Heimat verlassen hatte, ehe er heimkehren konnte, so wandert Leopold Bloom achtzehn Stunden durch Dublin, ehe er in sein Haus zurückkehrt. Zu den direktesten Parallelen der Odyssee gehören im Ulysses die Szene mit dem fanatischen Nationalisten Bürger, der dem Cyklopen entspricht und die Szene mit der Bordellmutter, die Circe entspricht. Wenn aber die nachhomerische Legende vom Diebstahl einer Statue der Pallas Athene durch Odysseus 6 Richard Ellmann, op. cit., S. 295. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 190 berichtet und diesem Diebstahl der erotische und entweihende Blick entspricht, den Bloom auf die Göttinnen im Nationalmuseum wirft, dann ist dies ein geradezu heiterer Bezug. Ja es wurde erwogen, den ganzen Ulysses-Roman als Scherz zu betrachten. Wenn das so sein sollte, dann ist er aber einer jener „sehr ernsten Scherze“, wie Goethe unter anderem ja gerade auch den Helena-Akt im Faust-II genannt hat und das heißt ein tragikomischer Scherz. Die Sachlage liegt aber grundsätzlich dadurch ziemlich schwierig, als der Leser immer wieder auf eine komplizierte Vielschichtigkeit stößt. So steht etwa Stephan Daedalus nicht nur für Telemach, sondern manches Mal auch für Ikarus, Hamlet, Shakespeare und Luzifer und überdies trägt er noch Züge seines Autors Joyce. Da der Roman indirekt an das Jugendbildnis anknüpft, beginnt er durch die autobiographischen Züge des Stephan Daedalus mit drei Telemach Episoden. Daedalus-Telemach wird als Sohn eingeführt, den die tote Mutter bewegt und der in einem Gespräch über Hamlet die Vaterproblematik aufwirft. Beginnt man flüchtig diese ersten Kapitel des Romans zu lesen, dann wirken sie wie oberflächlicher Naturalismus. Joyce selbst hat in einer frühen Buchbesprechung auch tatsächlich einmal Zolas Naturalismus positiv gewürdigt und der irische Autor George Moore hat nach Lektüre des Ulysses dessen Autor verächtlich einen herabgekommenen Zola genannt. Freilich kannte Joyce auch die berühmte Grabrede von Anatole France am Grab Zolas und im Hinblick auf dessen „J’accuse“ stand Joyce ganz hinter ihm und gegen die fanatischen Schwachköpfe, die Dreyfus verfolgt hatten. „Die Konzeption des liebenswerten Juden zog ihn an, ohne ihn zu überwältigen. Er beschloß, Bloom liebenswert zu machen und sogar edel auf eine etwas langweilige Art, ihn aber vor der Sentimentalität zu retten, indem er ihn gleichzeitig etwas absurd zum Konvertiten und Hahnrei machte.“ 7 Wiederholt war Joyce gegen den Antisemitismus in Wort wie Tat aufgetreten. Die sensiblen Antennen des genialen Autors realisierten bereits die kommende Gefahr der sich anbahnenden Riesenkatastrophe. Im Irland des Jahres 1904, in dem der Roman spielt, waren freilich direkte antisemitische Ausschreitungen überaus selten. Aber eine allgemeine Grundlage dazu war durchaus bereits gegeben: „Die Regierung säte Hunger, Syphilis, Aberglauben und Alkoholismus. Puritaner, Jesuiten und Betbrüder hatten sich breit gemacht … Die Dubliner sind die hoffnungsloseste, nutzloseste und widerspruchsvollste Rasse von Scharlatanen …“ 8 Bloom ist einerseits ein bescheidener Durchschnittsmensch mit banalen Gedanken und Gefühlen, die in einer erweiterten Form von Naturalismus zum Ausdruck gelangen, wie es sie vorher kaum gab, doch ist er gleichzeitig auch ein Gefäß, die edelsten Geistesgaben zu bewahren und unversehrt weiter 7 Richard Ellmann, op. cit., S. 368. 8 Richard Ellmann, op. cit., S. 224 und 225. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 191 zu geben. Die Absicht von Joyce ging dahin, zu zeigen, daß das Gewöhnliche das Außergewöhnliche sein konnte. Ein Unterschied zu vielen und auch bedeutenden Vertretern des Naturalismus lag also in der Perspektive, die banale und oft schreckliche Alltagswirklichkeit nicht als hoffnungslose Armut in jeder Hinsicht zu sehen, sondern in ihr wie auch in der Natur nicht nur ein gräßliches Dokument, sondern eine geheime Offenbarung zu erblicken. Die negativen Eigenschaften der Dubliner verwandeln sich in der geradezu mikroskopisch genauen Weise der Beobachtung des einen Dubliners Leopold Bloom und ganz besonders durch die nach innen gewandte Perspektive des inneren Monologs zu etwas Positivem. Ein anderer Unterschied zu vielen geläufigen Beispielen des Naturalismus besteht darin, daß nicht nur sozial wie biologisch abschreckende Scheußlichkeiten gezeigt werden, sondern auch positive geistige Bezüge eine wichtige Rolle spielen. So werden Villiers de l’Isle-Adam und Mallarmé genannt, Pico della Mirandola und Mozart und auch Don Quijote und Adam Kadmon. Was aber die Erwähnungen von Dramen Shakespeares betrifft, so könnte man aus ihnen allein eine eigene Abhandlung zusammenstellen. Ein dritter Unterschied zum Naturalismus besteht in der doppelten Ebene der Parallele und inneren Entsprechung des Ulysses Bloom mit Homers Odysseus. Gewiß ist äußerlich gesehen der lächerliche Annoncenacquisiteur der Dubliner Zeitung Freeman Bloom keine direkte und ebenbürtige Parallele zu Odysseus, dem König von Ithaka. Und dennoch ist Bloom „in einem sehr bedeutsamen Sinne Odysseus.“ 9 Was dieser Annoncenacquisiteur dem König gegenüber äußerlich verloren hatte, das hatte er innerlich irgendwie dazugewonnen: „Der göttliche Teil Blooms ist einfach seine Menschlichkeit - die Annahme eines Bandes zwischen ihm und den anderen Geschöpfen.“ 10 Hier liegt ein wesentlicher Beitrag von Joyce zur Überwindung des Chaos. Joyce wächst aber auch in noch einer anderen Hinsicht über den Naturalismus hinaus, da er Zügen, die er bewusst seinem monologisierenden Bloom verlieh, einzelne Wirklichkeitsfacetten oft transzendente oder mythische Bedeutung gab, wie er ja auch in seinem Werk prophetische Akte setzen wollte und sie nicht nur im Hinblick auf die Judenverfolgung auch tatsächlich gesetzt hat. „Für Joyce stand das Leben unter Zauberkräften; die Natur war unerschütterlich und magisch zugleich, ihre alltäglichen Details von Wundern durchdrungen …“ 11 Für T. S. Eliot kam die Schöpfung einer kontinuierlichen Parallele zwischen Gleichzeitigkeit und Antike, wie Joyce sie geschaffen hatte, geradezu einer wissenschaftlichen Entdeckung gleich, die tatsächlich das Mythische in moder- 9 Richard Ellmann, op. cit., S. 357. 10 Richard Ellmann, op. cit., S. 357. 11 Richard Ellmann, op. cit., S. 531. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 192 ner Dichtung freilegen konnte. Ezra Pound sah zwar nicht diesen Aspekt des Ulysses, doch erkannte er, daß die Parallele zur Odyssee dem Roman eine relativ geschlossene Struktur und Festigkeit auch von der Gestalt her verlieh und das scheinbare Chaos der schier endlosen Gedanken- und Gefühlsabläufe Blooms in einen festen Rahmen stellte. Der ganze Roman ist symmetrisch und geschlossen aufgebaut. Er hat drei Teile, von denen der erste drei Episoden umfaßt, der zweite Mittel- und Hauptteile zwölf Episoden und der Schlußteil wiederum drei Episoden. Die Weise in welcher die durchgehende doppelte Ebene des Bezugs von Blooms Geschichte zur Odyssee deutlich wird, verdeutlicht eine von Ellmann erstellte Tabelle der achtzehn Episoden: Telemachos, Nestor, Proteus, Calypso, Die Lotophagen, Hades, Äolus, Die Lästrygonen, Scylla und Charybdis, Die Irrfelsen, Die Sirenen, Der Cyklop, Nausikaa, Die Rinder des Sonnengottes, Circe, Eumäus, Ithaka, Penelope. Was am mythischen Vorläufer von Bloom-Ulysses Joyce besonders beeindruckt hat, war der Umstand, daß Odysseus das war, was er einen „ganzheitlichen Menschen“ genannt hatte, denn er war der Sohn des Laertes, der Vater von Telemach, der Gatte von Penelope, der Geliebte von Calypso, ein Waffengefährte der Griechen und König von Ithaka. Nicht zuletzt aber war er auch ein Mann, der dem Chaos seiner Zeit erfolgreich zu trotzen vermocht hatte. Denn er hatte viele Schicksalsschläge zu erdulden und überwand sie alle durch Weisheit und Mut. Bloom hat dagegen unendlich viele Facetten, alle potentielle Möglichkeiten des modernen Menschen. In der zwölften Episode des zweiten Teils, in der dieser zentrale Hauptteil gipfelt und die ihn abschließt, entwickelt Joyce in dramatischer Dialogform an Bloom die Gabe eines Chamäleons, indem er die verschiedensten Wesensteile zur Schau stellt. Bloom zeigt sich als Jüngling, als Mann, als Volksführer, Reformer und Wundertäter, als Bordellhure und als Ehemann, als Gebärende und sogar als Siebenmonatskind. Die Dialoge sind eigentlich Teil eines riesigen Monologs von Bloom, in welchem er all diese Facetten tagtraumhaft freisetzt. Trotz der vielen und oftmals obszönen Stellen des Romans aus dem sexuellen Bereich, die der erweiterten naturalistischen Grundlage entstammen und die bei oberflächlicher Lektüre von großer Wichtigkeit zu sein scheinen, ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß im Ulysses die Vaterschaft ein mächtigeres Motiv darstellt als die Geschlechtsliebe. 12 Als der Vater von Joyce starb, hat dieser erklärt, daß der Humor im Ulysses der Humor seines Vaters sei, die Menschen im Roman des Vaters Freunde waren und der ganze Roman im Grunde der Abklatsch des Vaters ist. Wie Joyce auch für die Hingabe und 12 Richard Ellmann, op. cit., S. 367. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 193 Liebe von Blooms Vater zu seinem Sohn durch einzelne Wendungen aus dessen Abschiedsbrief vor seinem Selbstmord an seinen „lieben Sohn Leopold“ Zeugnis ablegt. Auch die Zuneigung zu Tieren macht Joyce zu einer Eigenschaft Leopold Blooms. Die unsentimentale Art, wie er diese Tierliebe herausstreicht, darf nicht täuschen. Der im Ulysses geschilderte Tag Blooms beginnt mit Tieren. Er füttert seine Katze und sodann einige Möwen. In der wichtigen letzten Episode des zweiten Teils aber füttert er einen Hund. Sein Vater legt ihm in seinem Abschiedsbrief seinen Hund ans Herz. Weit mehr im Vordergrund als die Tierliebe steht aber natürlich die Menschenliebe. Bloom gedenkt seines früh verstorbenen toten Sohns und seines toten Vaters. Er macht sich Sorgen um seine Tochter und seine Gattin. Er hilft einem Blinden über die Straße und er stiftet mehr Geld, als er sich leisten kann, für die Kinder des toten Freundes, an dessen Begräbnis er eben an jenem Tag teilnimmt. Schließlich beginnt er in Daedalus eine Art Sohn zu entdecken und nimmt sich seiner an. Er hält ihn vom Trinken ab, verhindert, daß er ausgeraubt wird und legt sich sogar mit der Polizei an, um ihn zu verteidigen. Wobei weder Bloom selbst noch Daedalus „echte“ Helden im üblichen Sinne sind, sondern sie werden mit all ihren Schwächen gezeigt, die sie freilich auch sympathisch menschlich machen. Bullenhafte Stärke zumal im Zusammenhang mit Gewalttätigkeit und Brutalität gehören aber zum Negativsten. Dies tritt besonders drastisch in der neunten Episode des zweiten Teils zu Tage. Es sind Hauptmerkmale des fanatischen Nationalisten Bürger, der im Ulysses die Rolle des Zyklopen in der Odyssee übernimmt. Er ist überdies noch ein Rassist, für den als Modell Michael Cusack, der Gründer der Gälischen Athletischen Gesellschaft gedient hat. Wie der Zyklop Odysseus gegenüber mit Felsblöcken handgreiflich wird, so Bürger gegenüber Bloom mit Blechdosen. Nur mit Mühe vermag Bloom dem aufgestachelten Pöbel zu entgehen. Das Entkommen aber endet in einer förmlichen Gloriole, denn in einer - seiner - Vision erhebt sich Blooms Pferdewagen plötzlich ganz wie weiland der Wagen des Propheten Elias und er fährt in den Himmel: „Und sie sahen Ihn, Ihn selbst, den Bloom Elias, wie er inmitten von Wolken von Engeln über Donohoe in der Little Green Street in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in die strahlende Helligkeit aufstieg, als würde er mit der Schaufel hineingeworfen.“ 13 Natürlich ist nicht nur der Schaufelwurf eine Parodie. Aber aus der Toleranz und Liebe, für welche Bloom gegenüber Bürger eingetreten ist, fällt dennoch ein Strahlenkranz der Verklärung auf den von sich so begeisterten Bloom in dieser Abschlußvision, welche den Fanatismus Bürgers tief unter sich läßt. 13 James Joyce: Ulysses. Revidierte Ausgabe. Frankfurt am Main 1967, S. 388. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 194 LeopoldBloom,derPrototypdes kleinenMannes,dessen Schicksalsbewältigung im Spiegel seines eigenen Bewußtseins und Unterbewußtseins im Rahmen eines exemplarischen Tages aus seinem Leben vorgeführt wird, ist als ein Wanderer durch diesen Tag und über ihn hinaus dargestellt. In der elften Episode des zweiten Teils sieht er sich selbst wiederholt als Wanderer. Die Episode beginnt mit der dreimaligen Wiederholung, gleichsam magischen Anrufungen, von drei Wörtern. Das erste Wort ist gälisch, das zweite englisch, das dritte lateinisch: „Deshil Holles Eamus.“ Frei übersetzt bedeuten sie: Nach rechts wendend nach Holles wollen wir gehen. Und Holles ist die Holles Street in Dublin. Die Episode, die im Hinblick auf die Odyssee dem Gesang mit den Sirenen entspricht, schildert Blooms Gang nicht zu erotisch erregenden Schönheiten mit wunderbarem Gesang, sondern seinen Gang zu den Müttern, hier tragikomisch persifliert als Gang in ein Entbindungsheim, wie sich ein solches tatsächlich in der Holles Street befunden hatte. Dieser eher nüchterne Gang zum Entbindungsheim wird von Joyce durch einen Stil kontrastiert, der pure Romantik zu sein scheint. Bloom empfindet sich selbst als mittelalterlicher Junker und Ritter und das Entbindungsheim nimmt in seiner wuchernden Phantasie die Züge eines Schlosses an, in dem er sich an die Tafel von Freisassen und Rittern einladen läßt. Die Parodie macht das Ganze nicht nur erträglich, sondern geradezu komisch und heiter und dient doch gleichzeitig auch als Medium dazu, ernsthafte Wahrheiten freizusetzen: „Aus Israels Volk war dieser Mann, der auf Erden wandernd, weit gefahren war. Tiefes Mitleid mit Menschen allein war der Grund, der den Einsamen nach diesem Hause trieb.“ 14 Wie weit Joyce allerdings den Spaß in dieser Episode trieb, zeigt sich unter anderem darin, daß er Stephan Daedalus einmal mit einem Frater vergleicht, ein anderes Mal einen Koadjutor nennt und daß Zarathustra, als er „spricht“, ein königlicher Professor für französische Kondome an der Universität Ochsenschwanz ist. Wie sehr sich allerdings manches Mal auch hinter äußerlichem Scherz innerliche Ernsthaftigkeit verbirgt, zeigt besonders deutlich eine Wendung wie „Lasset die Gottlosen mit Glauben und Eifer beten.“ 15 In der ungeheuren Fülle von Beobachtungen, Gedanken, Erinnerungen, Visionen, die durch Blooms Bewußtseinsstrom hier zum Leben erweckt werden, ist unter anderem auch der Bezug auf eine wahre Begebenheit aus dem Leben von Joyce selbst, wenn nämlich sein Alter ego im Roman, Stephan Daedalus, mit der Frage konfrontiert wird, weshalb er nicht das Mönchsgelübde abgelegt hat. Hier wird außerdem klar, daß Stephan Daedalus einem „pervertierten Transzendentalismus“ zugetan war und taucht überdies aus der Phantasie die Vorstellung einer Jahrhunderte zurückliegenden Wiedergeburt von Stephan 14 Ulysses, op. cit., S. 434. 15 Ulysses, op. cit., S. 442. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 195 Daedalus auf, der zur Zeit des Alkibiades als Bous Stephanoumenos und „ochsenfreundlicher Dichter“ sein Haar mit einem Kranz aus Weinlaub bekränzte. Nie noch hatte die hohe Halle des Entbindungsheims, sprich, des Hauses der Mütter, eine so repräsentative und so verschiedenartige Versammlung gesehen und nie hatten die alten Sparren der Anstalt einer so enzyklopädischen Sprache gelauscht. Blooms Bewußtseinsstrom löst seine Phantasie und er erlebt seine Freunde (und Gegner) in großartigen Kostümen mit eigenartigen Aussprüchen und Ideen und in noch eigenartigeren Zusammenhängen. Abgesehen davon, daß auch das Chamäleon von Blooms Seele sich verjüngt und er in knapper Bilderfolge Augenblicke seiner Jugend und Kindheit neu und wieder erlebt, so beobachtet er sich auch einmal selbst und sieht, wie er heuchelt. Er weiß, daß er nur ein vergängliches Gleichnis war und hört im Getöse die Stimme Gottes. Die Episode schließt mit der Verspottung eines um 1904 besonders umtriebigen Evangelisten und Wunderheilers John Alexander Dowie, der mehr als die Hälfte des Planeten von Frisko bis Wladiwostok an den Haaren zum Heil geschleift hat und der in der Hintertasche für seine Wunderheilungen einen Hustensaft mit Punsch trägt, den man versuchen sollte. Joyce war nichts weniger als Atheist, doch stand er grundsätzlich und kompromißlos gegen jegliche Art von Gewalt, auch jene missionarische des an den Haaren Schleifens. Er hatte für sich die geistig weiträumige, freie Bekenntniskirche entdeckt und hinter der riesigen Fülle von Einzelheiten im Ulysses, die alle gar nicht beim ersten Lesen nachvollzogen werden können, steht das Wissen darum, daß die gesamte westliche Kultur auf drei Säulen ruht, Antike, Judentum und Christentum, die auch alle im Roman repräsentiert sind. Der Roman schließt mit den beiden großen Monologen „Ithaka“ und „Penelope“, der erste von Leopold Bloom, der zweite von seiner Gattin Molly. Das zeigt, wie ihm nach seinem Künstlertum einer der höchsten Werte die Familie war. Der Monolog Blooms ist geprägt durch Verstand, Vernunft und geordnetes, klares Denken. Der Monolog Mollys ist geprägt durch Gefühl, Instinkt, Intuition und auch durch etwas praktisches Denken. Obwohl Joyce Weininger und seine Theorie kannte, wonach die Frauen in „Heniden“ denken, ist der Monolog Mollys im Gegensatz zu Weiningers Theorie sehr viel positiver, da sie jene „Nachtseiten“ vertritt, um die es Finnegans Wake in erster Linie zu tun sein wird. Dies ist auch der Grund, weshalb Ulysses mit einem Monolog Mollys endet, Finnegans Wake aber mit Anna Livia Plurabelle die durch ihren Bezug zum Fluß, ihrer Identifikation mit diesem und ihrer Verwandlung in diesen bei ihrem Tod die Reintegration zur Lebensganzheit wieder herstellt. Seinen Leopold Bloom läßt Joyce die ersten zwei Zeilen einer hebräischen Hymne singen. Ihr Textdichter war Naftali Herz Imber, geboren im altösterreichischen Galizien der Donaumonarchie, der sechsundzwanzigjährig nach Palästina ging, später nach London und dessen Leben nach einem Besuch Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 196 Indiens in New York endete. Die Hymne aber, deren erste zwei Zeilen Bloom singt, war Tikvateinu. Sie wurde sechsundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Ulysses als Hatikva die israelische Nationalhymne. Auch wenn sie bereits zur Zeit von Joyce das Lied der zionistischen Weltbewegung gewesen ist, so ließ sich diese Entwicklung doch damals kaum voraussehen und seine Intention Prophezeiungen zu schreiben, ist auch hier in Erfüllung gegangen. Leopold Blooms Monolog aber endet mit dem Beschwören der Erinnerung an seinen einzigen Sohn, der bereits im Alter von zwölf Tagen verstorben war, ein weiterer Hinweis sowohl auf die Wichtigkeit der Vaterschaft wie der Familie für den Dichter. Gleichsam am Rande hineingeschrieben ist die Gestalt des Stephan Daedalus, der Züge seines Autors Joyce trägt. Wie Bloom in seiner Beziehung zu Odysseus gesehen wird, so Daedalus nicht nur zu jener des Telemach, sondern gleichzeitig auch zu jener des mythischen Daedalus, dem Erbauer des Labyrinths, das auch für das Chaos steht und das er zugleich als Magier und Astrologe zu überwinden versteht. Stephan Daedalus versteht wie Joyce die irrationalen Kräfte und beherrscht sie durch seine Gestaltungskraft. Wie er auch auf seine moderne Art das Humane mit dem Kosmischen zu verbinden versteht. Nun steht grundsätzlich in der Idee der Zivilisation einer Stadtkultur als Prototyp gemeinschaftlicher Ordnungsplanung die Stadt dem Chaos als Gegensatz diametral gegenüber. In einer Schicht des Romans erfüllt Dublin diese Funktion im Ulysses. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, daß Joyce von der mythischen Stadt ausgeht, wie auch im Bewußtsein seines Stephan Daedalus die Ur-Stadt Eden wiederholt auftaucht. Teilweise parodistisch verknüpft ist dabei das Dublin von 1904 mit der archetypischen Himmelsstadt Edenville, die Joyce aus dem Werk des irischen Mystikers Thomas Traherne kannte. Hier wird die Wichtigkeit der Parodie einsichtig, da Dublin natürlich nicht die ideale Verwirklichung der platonischen Idee eines vorbildlichen Ordnungsprinzips entsprach. Leopold Blooms Monolog aber endet mit dem Beschwören der Erinnerung an seinen Sohn. Der Monolog Mollys hingegen endet mit der Beschwörung der Erinnerung, als Bloom um ihre Hand angehalten und sie ihm ihr Ja-Wort gegeben hatte. Der bisher souveränste Kenner von Leben wie Werk des James Joyce Richard Ellmann hat zusammenfassend über den Roman geurteilt: „Der Ulysses war tatsächlich, wenn man sich die Mühe macht, es zu überprüfen, ein so antiautoritäres Buch, daß darüber kein Wort verloren zu werden brauchte.“ 16 Zwei Mal war Joyce durch Yeats nach Irland eingeladen worden. Er hatte beide Einladungen abgelehnt. Auch hat er weder im Ersten noch im Zweiten 16 Richard Ellmann, op. cit., S. 675. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 197 Weltkrieg Zuflucht in seinem Heimatland gesucht. Als aber manche Iren im Zweiten Weltkrieg mit Hitler-Deutschland wegen dessen Englandfeindlichkeit liebäugelten, hatte er nichts damit zu tun. Im Gegenteil: Er war es, der keinem geringeren als Hermann Broch zu einem britischen Visum verhalf, durch welches diesem die Flucht aus Hitler-Deutschland glückte. Und Broch war lediglich der erste und keineswegs der einzige, dem er half. Freilich erkundigte sich Joyce einmal hoffnungsvoll, ob seine wohl wichtigste Mäzenin, Harriet Shaw Weaver, ohne die sein Werk wahrscheinlich nicht in dieser Weise entstehen hätte können, nicht „irisches Blut“ hatte. Sie antwortete, sie sei hoffnungslos englisch. Und da Leopold Bloom in seinem letzten großen Monolog sich seiner jüdischen Wurzeln entsinnt, Thora, Talmud, Massorah und Pentateuch, da entsinnt er sich auch trotz seines ungarischen Vaters ältester und größter Bücher irischer Tradition. Als Joyce am 15. Januar 1941 in Zürich begraben wurde, war der erste Grabredner der englische Botschafter Lord Derwent. Nach seinem Tod aber erklärte Maria Jolas: „Was ist das für ein Gerede über den Ulysses? Finnegans Wake ist das entscheidende Buch.“ 17 Wie Joyce im Ulysses achtzehn Stunden aus dem Leben des Leopold Bloom schildert, so stellt Finnegans Wake achtzehn Stunden aus der Nacht des „Helden“ Humphrey Chimpden Earwicker dar, der in einem Dubliner Vorort eine Kneipe betreibt und im Bett träumend sein Leben überblickt. In Finnegans Wake wächst die Vaterstadt von Joyce geradezu zu einer Behausung der Weltgeschichte empor. Und so, wie der Bloom der Gegenwart dem Odysseus entspricht, so entspricht H. C. Earwicker der Sagengestalt von Finn MacCool des irischen Mythos. Nach dem Werk von Joyce ist dieser Finn MacCool in der Zwischenzeit ein Teil der Landschaft von Dublin geworden, wobei sein Kopf Howth Castle entspricht, sein Bauch der Stadt selbst und seine Beine Castle Knock im Phönix Park. H. C. Earwicker träumt nicht nur von sich selbst, sondern sein Traum schließt die Mitglieder seiner Familie ein, seine Gattin Anna Livia Plurabelle sowie auch deren Zwillingssöhne Shem und Shaun und der Tochter Isabel, wobei Shem so wie Daedalus im Ulysses Züge des Autors Joyce trägt. Wenn aber Joyce einmal erklärt hat, die wahren Protagonisten des Romans seien die Zeit und der Fluß und der Berg, dann ist das so zu verstehen, daß Earwicker ebenso einem Berg, wie einem Riesen der Urzeit, wie einem Gott mit Doppelaspekt durch seine beiden Söhne entspricht, während Anna Livia Plurabelle dem Fluß Liffey und einem Naturprinzip entspricht und ihre Tochter einer Wolke. Damit hängt auch zusammen, daß das Werk mit einem Fluß beginnt, sich flußaufwärts entwickelt und über einen Berg wieder zurückführt zu 17 Richard Ellmann, op. cit., S. 707. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 198 dem Fluß, an dessen Mündung in den Ozean es endet. Die ersten Abschnitte des ersten Kapitels von Buch I der insgesamt IV Bücher des Romans stellen den schwebenden Augenblick einer Zeit zwischen einem gerade vergangenem und einem neu beginnenden Zyklus der Zeit dar. Durch die Zwänge und den Einfluß ihrer Zyklen wird auch die Zeit zu einem Protagonisten. Die Zyklen aber gehen auf den aufklärerischen Humanisten Giambattista Vico zurück, der Joyce besonders tief beeindruckt hat. Er hat nicht nur wie Vico Etymologie und Mythologie zur Sichtbarmachung der Bedeutung von Zusammenhängen - Koinzidenzien - verwendet, sondern er hat vor allem die Zyklentheorie des Vico weiterentwickelt und für sein eigenes Werk adaptiert. Nach Vico wird die Universalgeschichte durch vier Zyklen gekennzeichnet, die jeweils durch einen Donnerschlag eröffnet werden. Einem theokratischen Zeitalter folgt als zweites ein aristokratisches, diesem wiederum als drittes, ein demokratisches. Diesem folgt als „Ricorso“ ein viertes als Übergang zu einem neuen Zyklus. Joyce hat nicht nur die Zyklen im Großen übernommen, sondern zusätzlich auch auf kleine Entwicklungen angewendet. Der erste „Donnerschlag“ beendet gleich zu Beginn des Romans die Episode des Mörtelträgers Tim Finnegan, der nach dem Text eines Vaudville-Liedes bei seiner Aufbahrung - „Wake“ - durch einen Zufall von seinen früheren Zechgenossen mit Whisky überschüttet wird, worauf er Anstalten macht, sich zu erheben und ins Leben zurückzukehren. Im Unterschied zum Lied genügt in der Wiedergeburtsparodie des Romans von Joyce schon die Erwähnung des Wortes „Whisky“, um die Wiederbelebung einzuleiten. Hier aber beruhigen ihn seine früheren Trinkkumpane und legen ihn wieder als Toten zur letzten Ruhe. Denn die neue Wiedergeburt des Ur-Finnegans, repräsentiert durch H. C. Earwicker, ist bereits vom Meer her eingetroffen und hat sich als Kneipenwirt und Familienvater H. C. Earwicker in einem Dubliner Vorort etabliert. Er hat als neuer Finnegan den Mörtelträger verdrängt und repräsentiert nun den urzeitlichen „Finn“, den Finn MacCool des irischen Mythos. Der Name Finnegan aber, direkt aus dem Lied übernommen, wird nun als Wortspiel aus der Wendung „Finn again“ erklärt. Das wichtigste Modell für Earwicker ist der Vater des Autors. Aber die Funktion des dichterischen Charakters von Earwicker im Roman ist eine wahrhaft universale. Denn so wie Finn MacCool - Joyce verwendet die anglisierte Form des Namens - nicht nur der legendäre Jäger und Held des irischen Mythos ist, sondern als Typus für alle großen Heroen steht, für Thor, Prometheus, Osiris, Buddha und Christus, so stehen die Anfangsbuchstaben des Namens von Earwicker H. C. E. allein schon auch für „Here Comes Everybody“ und „Haveth Children Everywhere“. Er ist zugleich der Urahn vieler Völker, wanderte vom Kleinasien Trojas über die Länder der Goten, Franken und Norweger zu den Inseln Englands und Irlands. Seine germanischen Manifestationen sind Wotan und Thor, seine keltische ist Manannán, und schließlich die christ- Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 199 liche St. Patrick, als welcher er den neuen Glauben brachte, während er als Strongbow die anglo-normannische Eroberung führte und er ist sogar noch der blutige Cromwell. Vor allem ist er aber gerade jetzt der stotternde anglikanische Wirt einer Taverne in Dublins Vorstadt Chapelizod. Das erste Kapitel von Buch I schließt mit dem Erscheinen von H. C. E., das zweite ist seinem Namen und Ruf gewidmet, das dritte behandelt seinen Prozeß und seine Einkerkerung und das vierte sein Ableben sowie seine Auferstehung. Die folgenden vier Kapitel wechseln über zu seiner Gattin Anna Livia Plurabelle (ALP). Das fünfte Kapitel ist ein Manifest von ALP, das sechste klärt Rätsel und Personen des Manifests, das siebente ist eine Vorstellung ihres Sohnes Shem, des Schriftstellers und das achte, das wohl berühmteste - nicht nur von Buch I - besteht in einer Vorstellung von ALP durch zwei Wäscherinnen, die an gegenüberliegenden Ufern des Flusses Liffey miteinander sprechen und ALP vorstellen. Da es schließlich Nacht wird, verwandeln sich die beiden Wäscherinnen, die eine in eine Ulme und die andere in einen Stein. Da ALP auch den Fluß repräsentiert, kennen Ulme und Stein natürlich den Flußlauf zwischen sich. Der erste Satz des Romans beginnt mit den berühmten Worten „riverrun, past Eve and Adam’s …“ anspielend auf den Fluß und flußaufwärts weisend zu der alten Franziskanerkirche Eva und Adam am Südufer des Liffey. Von hier aus entfaltet sich Buch I mit einem Bericht über die beiden Eltern HCE und ALP, Buch II über die Söhne, und Buch III über die Leute bis zu Buch IV, das entsprechend der Zyklentheorie des Giambattista Vico zu einem „Ricorso“, der Wiederkehr zu einem neuen Zyklus führt. Dieses vierte Buch endet damit, daß Anna Livia Plurabelle als lebensbeschmutzte Strömung in die See mündet. Zuvor hat sie Todesvisionen und sie kehrt schließlich in positiver Weise zu ihrem Triton Vater zurück. Im letzten Augenblick, da sie ihre Augen öffnet und der Traum zusammenbricht, beginnt ihr Lebenszyklus von neuem. Der unvollendete letzte Satz des Werks erhält seinen Sinn erst dann, wenn man den ersten Satz von Buch I daran anschließt. Im Grunde umspannt Finnegans Wake nach Vico den vierfachen Aspekt jedes lebendigen Augenblicks eines Gesamtzyklus, wobei das Buch IV jenem Aspekt gewidmet ist, der das „noch nicht“ des folgenden Zyklus bereits in das „jetzt“ übersetzt. Während der Ulysses in der deutschen Übersetzung Georg Goyerts und der Überarbeitung zuerst durch Iwan Goll und schließlich durch Daniel Brody durchaus vollständig verstanden werden kann und dem Original außerordentlich nahe kommt, gibt es bei Finnegans Wake sehr viel mehr Schwierigkeiten. Zum ersten darum, weil die Sprache des Iren eine dichterische Urkraft besitzt, welche der modernen, nüchternen Abstraktheit des Deutsch nahezu sämtlicher Übersetzungen und Teilübersetzungen mangelt, sodann aber auch die schier riesige Unmenge an etymologischen Wortspielen und Anspielungen auf vielen Gebieten fast durchwegs zu Unterinterpretierungen führen müssen. Joyce hat hier eine Art völlig neuer Sprache geschaffen, da er den zugrundegelegten eng- Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 200 lischen Text mit Worteinblendungen und Wortneubildungen aus nicht weniger als vierzig Sprachen vom Irischen bis zu Kisuaheli verbunden hat. Schließlich aber und nicht zuletzt, weil Joyce der Idee des „Nachtbuches“ entsprechend in einer Art Nachtsprache geschrieben hat, die halb bewußte und unbewußte Zustände ausdrücken sollte. War der innere Monolog Blooms in der klaren Tagessprache im Ulysses bereits kompliziert genug, so war der neu geschaffene innere Traum-Monolog von noch ungleich größerer Schwierigkeit nach zu vollziehen. 18 Mag auf den ersten Blick dieses Puzzlewerk und Kaleidoskop eines scheinbaren Chaos völlig unerschließbar wirken, so erweist es sich bei genauerem Durcharbeiten doch als das genaue Gegenteil und paradoxer Weise spielen gerade die unerhörten sprachlichen Schwierigkeiten mit eine wichtige Rolle bei der Reintegration zu einem Ganzen. Zunächst dient das Ineinanderschieben verschiedener Sprachen dazu, einen ersten Schritt zurück zu einer gemeinsamen Ursprache, gleichsam vor dem Turmbau von Babel, zu machen. Diese Tendenz wird durch die „Nachtsprache“ noch wesentlich verstärkt 19 , denn diese Nachtsprache führt hinunter in tiefe Schichten des Unbewußten, in denen gewisse archetypische, den Menschen gemeinsame vorbewußte Vorstellungen, Bilder und Visionen herrschen, bevor noch die Trennungen des klaren Tagesbewußtseins und seiner präzisen einschichtigen und eindeutigen Sprache eingesetzt haben. Es ist diese Nachtsprache, die in einem gewissen Sinn den Eintritt zur „Babel-Revokation“ 20 und ihrer ursprünglichen und ganzheitlichen Einheit zumindest teilweise möglich macht und auf jeden Fall die Richtung weist. Dieser integrativen Tendenz vom Sprachlichen her entspricht eine ebensolche des Gehalts schon durch das „Weltbürgertum“ von Joyce. 21 Daher konnte auch in einer der frühesten und zugleich besten Einführungen in den Roman von seinem „überwältigenden Makro- und Mikrokosmos“ gesprochen werden. 22 Zu einer derartigen, Chaos überwindenden Tendenz der Integration gehört im Grunde auch der Umstand, daß Joyce trotz seiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber der theosophischen Praxis ein großes und äußerst tiefgehendes Interesse an deren theoretischen Grundfragen hatte wie „Zyklen, Reinkarnation, 18 Vgl. Max Eastman: The Literary Mind, New York 1931, S. 101 und Lucia Boldrini: Joyce, Dante, and the Poetics of Literary Relations. Cambridge 2001, S. 31. 19 Vgl. Klaus Reichert: „Nacht Sprache. Zur Einführung“. In: James Joyce. Finnegans Wake. Deutsch, herausgegeben von Klaus Reichert und Fritz Senn, Frankfurt am Main 1989, S.-10-11. Reichert hat die Nachtsprache als Hauptproblem zum Titel seiner Einführung in Finnegans Wake gemacht und hat natürlich auch das Problem selbst angeschnitten. 20 Klaus Reichert, op. cit., S. 11. 21 Richard Ellmann, op. cit., S. 77. 22 Joseph Campbell und Henry Morton Robinson: A Skeleton Key to Finnegans Wake. New York 1944, S. 4. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 201 Stufenfolge der Götter, und den ewigen Mutterglauben, der allen vergänglichen Religionen zugrunde liegt.“ 23 Auch seine innere Verwandtschaft mit Dante weist in diese Richtung. 24 Samuel Beckett hat mit seinem ersten gedruckten Essay „Dante … Bruno. Vico … Joyce“ jedenfalls ins Schwarze getroffen. Das vierte und letzte Buch von Finnegans Wake, das eine Art Ende von H. C. Earwicker und A. L. Plurabelle schildert, die nach dem Ende ihrer Entwicklung durch Buch I, II und III zurück in die Vergangenheit fallen, beginnt mit drei Ausrufen „Sandhyas! Sandhyas! Sandhyas! “, die an das Sanctus, Sanctus, Sanctus der katholischen Messe anklingen. Sandhya ist ein Sanskritwort, das Zwielicht oder Übergangsperiode bedeutet und daher auf den „Ricorso“ der Zyklentheorie Vicos, die besonders Finnegans Wake tief beeinflußt hat, ausgezeichnet paßt. Dazu ist Sanskrit die Sprache der vedantischen und buddhistischen Tradition, Strömungen, die wie alle nicht monotheistischen Religionen des mittleren und fernen Ostens das Menschheitsdrama als stetige Wiederholung von kosmischen Zyklen in unendlicher Zeit ohne Anfang und Ende sehen. Es folgen denn auch auf den dreifachen Aufruf der engelhaften Stimmen, welche die mystischen Wächter des neuen Zyklus auf ihre Posten rufen, immer mehr Sanskrit-Ausdrücke und auch eine ernsthafte Anspielung auf die Kabbala, die Joyce in II, 2 noch parodiert hatte. Später erhält das eigentliche Wesen des ganzen Werks - und das ist das Wesen des Traums, des Schlummers und des Mythos - einen tödlichen Schlag durch den heiligen Patrick, den Sonnenaufgang des neuen Tages nach dem langen Traum Earwickers. Freilich beginnt mit diesem Sieg auch das klare Bewußtsein des Tages einzusetzen, dem er entspricht und damit scheint im Grunde die gesamte Vision der ganzen Dichtung wiederum aufgehoben zu werden. Aber tatsächlich bedeutet dieser Sieg nur den vierten Teil des Gesamtzyklus, der am Ende wieder in den ersten Teil des nächsten Zyklus übergeht. Hier hat Joyce einen Schritt über Vico hinaus getan durch die Hereinnahme der östlichen Vorstellung der ewigen Wiederkehr im Sinn vedantischer und buddhistischer Tradition. Denn so wichtig und richtig die rationale Seite des Wachbewußtseins auch ist und so positiv sie auch von Joyce gesehen wird, so stellt sie doch auch, einseitig und allein genommen, nur die eine Hälfte der Daseinsganzheit dar. Zudem aber stellt sie jene Hälfte dar, die in unserer Zeit einseitig betont in gefährlichster Weise die andere Hälfte des Unbewußten, des Traums, der Phantasie und auch des Todes unterdrückt. Damit stellt sie in solcher Einseitigkeit nicht nur einen gefährlichen Austrocknungsprozeß dar, sondern stellt darüber hinaus das Trennende über das Verbindende. Finnegans Wake aber erfüllt als dichterische 23 Richard Ellmann, op. cit., S. 77. 24 Vgl. Lucia Boldrini, op. cit. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 202 Vision die Einbindung der Kräfte des Unbewußten und Jenseitigen, die weit größer und gewaltiger sind als die Kräfte des Bewußtseins. Das Hauptgleichnis ist dabei der Schatz der verdrängten mythischen Vergangenheit, die Finn MacCool in sich birgt und welcher durch die Dichtung der Wiederherstellung der einen integralen Ganzheit des Menschen (und damit der Chaosüberwindung) dienstbar gemacht werden soll. Es ist kein Zweifel, daß St. Patrick und der Tagesanbruch durch die aufgehende Sonne als positiv und sehr wichtig gesehen werden. Jede Einseitigkeit, die sich allein auf die Tagesseite des Bewußten beschränkt und die Nachtseite des Unbewußten und Jenseitigen verdrängt, wird jedoch bewirken, daß dieses Positive in ein Negatives umschlagen kann. Das ist die Botschaft der Zyklentheorie von Joyce, die nicht drei, sondern vier Aspekte (oder Bücher) umschließt, um einen Gesamtzyklus zu gestalten. Obwohl Joyce die Idee der unendlichen Wiederkehr der östlichen Religionen offenkundig akzeptiert hatte, gab es doch innerhalb der wiederkehrenden Zyklen ein Auf und Ab, Zeiten besseren, erfüllteren und glücklicheren Lebens und Zeiten des Niedergangs und Wertzerfalls, wie sie im Abstieg von Odysseus zu Ulysses und von Finn MacCool zu H. C. Earwicker sichtbar gemacht werden. Dabei sind die Höhepunkte zweifellos jene, in denen zugleich mit einem Höhepunkt der rationalen „Tagesentwicklung“ es vielen Menschen gelingt, die Nachtseiten, wie sie in Finnegans Wake die Oberhand haben, nicht zu verdrängen, sondern mit einzubeziehen, damit eine Vollintegration zur Ganzheit des Selbst im Sinn von C. G. Jung vollzogen werden kann. Drei der vier Bücher von Finnegans Wake sind der Seite des Unbewußten, dem Jenseits, der Nacht gewidmet und das Ganze ist als Nachtbuch des Traumes von Earwicker angelegt. Der Roman will der Unterdrückung und Verdrängung des Unbewußen entgegenwirken, denn Verdrängung bedeutet in diesem Fall nicht Aufarbeitung und Bewältigung, sondern bedeutet Begrenzung, Unzulänglichkeit und Chaos. Das grundsätzliche Problem ist in der westlichen Kultur von den bedeutenden Vertretern der Tiefenpsychologie aufgedeckt worden und macht einen wesentlichen Teil des Werks aller wirklich bedeutenden Autoren der Zeit aus. Joyce ist jedoch der einzige, der so weit gegangen ist, das Problem durch die Konstituierung einer eigenen dichterischen Nachtsprache anschaulich zu machen. Gerade das, was den oberflächlichen Leser gleich bei Beginn der Lektüre durch scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten des Verstehens abstößt, ist es, was die besondere Bedeutung des Romans ausmacht. Die Nachtsprache ist das adäquate Medium zur Vermittlung der mythischen und religiösen Inhalte und nicht zuletzt auch der dichterischen Phantasie, die dieser Roman der Phantasielosigkeit, Einseitigkeit und Beschränktheit der Computerwelt unserer Zeit entgegenzusetzen hat. Auf den ersten Blick erscheint es unglaublich naiv, ja geradezu lächerlich, wenn Joyce bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erklärt hat, daß der Krieg auch darum so schrecklich wäre, weil er von der Lektüre von Finnegans Wake Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 203 ablenke. 25 Es war jedoch nicht grenzenlose, narzistische Eitelkeit eines Autors, die hinter dieser Äußerung stand, sondern die nicht unrichtige Einsicht, daß das Lesen und richtige Verstehen der angestrebten Chaosüberwindung von Finnegans Wake das Chaos verhindern helfen könnte, das durch den Krieg geradezu ins Gigantische gesteigert werden würde. In ihrer praktischen Undurchführbarkeit ist die Idee ein würdiges Gegenstück zur Hermann Brochs Anregung an das amerikanische State Department, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Volksausgabe seines Tod des Vergil zwecks Erziehung zur Demokratie an die Deutschen verteilen zu lassen. Wenn aber der irische Autor und Mystiker George Russell dem damals noch jugendlichen Joyce bei dessen mitternächtlichen Besuch vorwarf, er hätte nicht genug Chaos in sich, um eine Welt zu erschaffen, dann war dies nicht wirklich ernst gemeint gewesen: Ernst war es ihm aber, zu glauben, Joyce wäre ein neuer Jünger für seine Hermetische Gesellschaft. Ellmann hat diesen Besuch jedenfalls zum Anlass genommen, um darauf hinzuweisen, daß gelegentliche Einwürfe von Joyce gegen die Theosophie nicht hat dessen ernsthaftes Interesse für jene Lehre beeinträchtigen können. Denn es seien genau die Fragen der Theosophie gewesen, die Joyce bewegt hatten, wie Zyklen, Reinkarnation, Stufenfolge der Götter und der ewige Mutterglaube, der allen vergänglichen Religionen zu Grunde liegt. Ja, nach Ellmann vereinigt Finnegans Wake alle diese Fragen zu einer Halb-„Geheimlehre“. Wie der Biograph von Joyce auch betont, daß Russell auf verschiedenen Bewußtseinsebenen ganz zu den Plänen von Joyce gehörte, da der irische Mystiker ein großes und wertvolles Wissen über die Philosophie des Ostens besaß und gleichzeitig ein Zugang zu anderen Schriftstellern war. Mit Recht wurde gesagt, daß eine der Hauptaufgaben eines schöpferischen Autors in der Bereitstellung neuer Nahrung für die unersättliche Gorgo in ihm liege und daß er durch die Seelennahrung „nebenbei“ den Hunger seiner ganzen Generation befriedige - vorausgesetzt, daß sie ihn liest und versteht. 26 Es ist wiederholt vorgekommen, daß Finnegans Wake als geheime Botschaft eines Geistes des Untergangs verstanden worden ist. Die beiden Autoren des ersten Buches über den Roman, das einen ausführlichen und zugleich einen der besten Kommentare dazu liefert, sind jedoch überzeugt, daß diese „Saga der tragikomischen Bestimmung des Menschen“ nicht ein Zerfallssymptom darstellt, sondern einen nachdrücklichen Akt der Reintegration. Auch wenn Finnegans Wake kein Buch der „Süßigkeit“ und des reinen Lichts ist, so ist es doch grundsätzlich das Buch einer wirklichen Lebensbejahung. 27 Das geht sogar so weit, daß selbst das letzte Ende, welches den Tod von Anna Livia Plurabelle als Fluß an der Mündung des Liffey in den Ozean berichtet, 25 Richard Ellmann, op. cit., S. 694. 26 Joseph Campbell und Henry Morton Robinson, op. cit., S. 360. 27 Joseph Campbell und Henry Morton Robinson, op. cit., S. 364. Die tragikomische Hochkunst des James Joyce 204 als außerordentlich positiv dargestellt wird. Sie ist tatsächlich die Trägerin eines ewigen „Ja“. Denn sie setzt all den Schrecken und Verbrechen, all der Schuld und dem Haß dieser Welt ihre Liebe zum Menschen entgegen. Ja, da sie sich in einen Teil des Flusses verwandelt und auf ihre allerletzte Reise in das Meer zur Erneuerung geht, ist es in einer Art Todeserkenntnis, die Joyce ihr als letztes Wort des ganzen Buches in den Mund gelegt hat. Daß das Buch mit einem unvollständigen Satz endet, der erst seinen Sinn erhält, wenn man den ersten Satz des Buchanfangs daran anschließt, versinnbildlicht ihre Wiederkehr zum „riverrun“. Sie wird als Tau in den Himmel aufgesogen werden und als Regen wieder herunter kommen. Die Sonne eines ganzen, nicht wörtlichen, sondern ebenso sinnbildlichen Tages wird ihren Lauf nehmen, an dessen Ende die Nacht des Traums neu anbrechen wird, erneuert und noch großartiger denn zuvor als die zeitlose Geschichte der ewigen Wiederkehr von der Wanderung der Seele des Menschen. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere Kawabata war am 11. Juni 1899 in Osaka als Sohn eines überaus belesenen und gebildeten Arztes in eine schwere Kindheit hineingeboren worden. Sein Vater starb, als er drei Jahre alt war. Ein Jahr später starb die Mutter, worauf ihn die Großeltern aufnahmen. Als er acht Jahre alt war, starb auch die Großmutter, als er zehn war, die einzige Schwester und als er vierzehn Jahre alt war auch noch der letzte nahe Verwandte, der Großvater. Kawabata, der den blinden und schwerkranken Invaliden gepflegt hatte, hat die letzten zwölf Tage von dessen Sterben in seinem ersten bedeutenden Werk, Tagebuch eines Sechzehnjährigen beschrieben. 1 Dieses „Tagebuch“ erschien erst elf Jahre nach dem Tod des Großvaters und viele Kritiker nehmen an, daß es erst im Erscheinungsjahr 1925 verfaßt worden ist. Dabei war das Leid des Waisen, der sogar den Beinamen „Meister der Begräbnisse“ erhalten hatte, nur die eine Wurzel der Trauer seines frühen Lebens. Die zweite Wurzel seines Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg hat einen viel deutlicheren und direkteren Ausdruck in seinem Werk hinterlassen und das war die Trauer des überaus sensiblen und feinfühligen Kawabata über den Verlust der Werte der japanischen Tradition unter dem Ansturm des westlichen Materialismus, vor dem er in eine Schreibweise der Distanziertheit floh, die leicht als Gleichgültigkeit und Kälte mißdeutet werden könnte. Während Kawabata noch an der Universität Tokio studierte, erneuerte er bereits die mehr als vier Jahre stillgelegt gewesene Literaturzeitschrift Schin-schicho (Neue Gezeiten des Denkens), in welcher er 1924 seine erste veröffentlichte Kurzgeschichte „Schokonsai Ikkei“ publizierte. Sie beschreibt die Kunstreiterin eines Zirkus und deren Freunde. Die Gespräche sind manchmal fragmentarisch und dazu noch kryptisch und der Autor gestaltete die Erzählung zwischen Traum und Wirklichkeit, wobei deren Grenzen mitunter verschwimmen. Besonders wurde die objektive Darstellung der Charaktere ohne Anteilnahme des Autors so geschätzt, daß Kawabata die Bewunderung einer Persönlichkeit von großem literarischem Einfluß, Kikuchi Kann, errang, der ihn mit Jokomitsu Riichi bekannt machte. Dieser wurde sein wichtigster persönlicher Freund, der sein Erzählschaffen die nächsten zehn Jahre mitbestimmte. In Abkehrung von der damals verbreiteten Schule des Naturalismus wie auch von der proletarischen Arbeiterliteratur wurde Kawabata Mitbegründer einer 1 Der Titel, der von einem Sechzehnjährigen spricht, bezieht sich auf die alte japanische Altersbestimmung. Nach der modernen japanischen Altersbestimmung wie auch nach der westlichen war er vierzehn. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 206 neuen literarischen Zeitschrift Bungai Jidai (Das künstlerische Zeitalter). Sie vertat eine Richtung, die man wohl am, besten mit „Neue Gefühle“ oder „Neue Empfindsamkeit“ wiedergibt. Ein Jahr nach der ersten Kurzgeschichte erschien das Tagebuch eines Sechzehnjährigen, das als direktestes autobiographisches Zeugnis und als Zeugnis für die tiefe Bedeutung von Kawabatas Großvater auf seine Geisteshaltung ein besonders helles Licht auf die Lebensanschauung und das Wesen des Autors wirft. Waren die Eltern doch so früh verstorben, daß er sich kaum an sie erinnern konnte und war die Fürsorge und Anteilnahme des Großvaters von so großer Intensität gewesen, daß sie kaum überschätzt werden können. Der kranke, blinde Großvater war früher Grundbesitzer und Bürgermeister und damit Mitglied der Dorfaristokratie gewesen, der unter dem Ansturm des modernen Kapitalismus der frühen und mittleren Meji-Periode allerdings das gesamte Vermögen der Familie verloren hatte. Der vierzehnjährige Kawabata wurde zu einem „Wohlfahrtskind“, ausgeliefert dem Mitleid und den Launen einer entfernteren Verwandtschaft. Wenn er später selbst den Begriff einer „Waisen-Psychologie“ geprägt hat, dann hat das eine wichtige Rolle dabei gespielt. Die Abneigung gegen den modernen Kapitalismus, dem der Großvater nicht gewachsen gewesen war, hatte Kawabata von diesem übernommen. Aber er hatte noch sehr viel anderes von ihm gelernt. Denn der Großvater hatte sich nicht nur selbst im Schreiben von Literatur und in der Malerei versucht, sondern war auch ein Gelehrter von Kangaku (chinesischer Weisheit) gewesen. Auch mit Astrologie und Weissagung hatte er sich beschäftigt. Schließlich stellte er in einem gewissen Sinn auch die Grundlage für das dar, was man Kawabatas „Subjektivismus“, ja „Solipsismus“ genannt hat, die sich nach außen hin abschließende, innenorientierte Lebenshaltung des Großvaters. Allerdings hat Kawabata als junger Mann auch nach außen hin tatkräftig an der literarischen Schule der Neuen Empfindsamkeit mitgewirkt, hatte in der Jugend zahlreiche Rezensionen zeitgenössischer Romane verfaßt, war Preisrichter für den angesehenen Akutagawa-Preis gewesen, hatte sich 1940 dem japanischen Schriftstellerverband angeschlossen und 1942 der Japanischen Patriotischen Schriftsteller-Assoziation. Im Jahr 1944 war er Preisrichter eines Kriegsliteratur-Preises gewesen und im April 1945 wurde er sogar als Marine- Korrespondent in die Präfektur Kagoshima gesandt, um über eine spezielle Angriffsgruppe zu berichten. Im Jahr 1943 hatte er eine Tochter adoptiert. Nach dem Krieg war er durch siebzehn Jahre Präsident des japanischen PEN- Zentrums gewesen und zwei Mal hatte er sich sogar aktiv an der Wahl von politischen Kandidaten beteiligt. Und dennoch sind fast alle Kritiker fest davon überzeugt, daß er im Grunde von seiner sozialen Umwelt weitgehend isoliert gelebt hat und zutiefst in sich gekehrt gewesen ist. Des Großvaters Bemühen, ihn von unangenehmen Einflüssen und Bedrohungen der Außenwelt abzuschirmen, mußte doch Folgen gehabt haben. Ein bedeutender Kritiker hat Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 207 darauf hingewiesen, daß er trotz allem und gerade infolge seiner innerlichen Isoliertheit ein „existenzieller Denker par excellence“ gewesen ist, da seine Bemühung und Besorgnis der Existenz des einzelnen und des Selbst galt, nachdem man alle sozialen Äußerlichkeiten abgestrichen hatte. 2 Dadurch, daß es ihm um die Existenz des einzelnen ohne Rücksicht auf die Gesellschaft geht, versucht er Chaosüberwindung, Klarheit und Ordnung in das Problem der Stellung des Menschen im Universum zu bringen, des Menschen, von dem Rousseau gesagt hat, daß er nackt geboren wird und nackt stirbt. Obwohl Kawabatas Held in seiner Geschichte Kinju (Von Vögeln und Tieren) mehr um die Tiere besorgt ist als um die Menschen, obwohl diese Haltung mitunter auch Kawabata selbst nicht fremd erscheint und obwohl er sich bei den Menschen gerne mit Außenseitern befaßt, einem „ewigen Wanderer“ oder einem „Fremden im eigenen Land“, ist das Problem des rechten Lebens und der inneren Entwicklung des einzelnen doch eine Hauptsorge für ihn. Wie in vielen alten, geistigen Traditionen enthüllen sich auch bei Kawabata die Probleme der menschlichen Existenz vielfach in Polaritäten, die einander bedingen: Sein und Nichts, Gut und Böse, Schönheit und Häßlichkeit, Jugend und Alter, Reinheit und Korruption. Wie es aber schon im Tagebuch eines Sechzehnjährigen der Fall ist, besteht jenseits dieser einander anscheinend ausschließenden Polaritäten eine Möglichkeit, sie zu transzendieren und die Gegensätze zu überwinden. Dies geschieht in Kawabatas Romanen vor allem an jenen Stellen, an denen er die Trennwand des diesseitigen Verstandes durchbricht und durch Beschwörung von Träumen das scheinbar Unmögliche mit unabweisbarer Autorität erscheinen läßt. Aber auch die lyrisierende Haiku- Qualität seiner Erzählprosa mit ihrer manches Mal schillernden Ambivalenz gehört hierher. Wie auch immer wieder in seiner Entwicklung das Interesse für das Übernatürliche, für Wiedergeburt und zumal in der Frühzeit für manche Aspekte eines westlichen Spiritismus erwacht, der in der späteren Zeit durch japanische Geister abgelöst wird. Solche Züge treten bereits früh in den ersten seiner kurzen, besonders knapp verdichteten, Geschichten auf, die er wegen ihrer Kleinform „Handtellergeschichten“ genannt hat. Die erste größere Gruppe von ihnen - etwa drei Dutzend - entstand zwischen 1923 und 1930. Mitunter hat er diese Handtellergeschichten das eigentliche Wesen seiner Kunst genannt. Sie enthalten autobiographische Fragmente, Reiseskizzen, Stücke im Stil der „Neuen Empfindsamkeit“ und eben nicht zuletzt auch surreale Episoden und traumartige Beschwörungen. 2 Roy Starrs: Soundings in Time. The Fictive Art of Kawabata Yasunari. Richmond, Surrey 1989, S.-33. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 208 Spielerisch einfaches Verlassen der empirischen Realität um einer irrealen, traumverklärten oder mystisch orientierten Ebene willen sowie eine einzigartige Feinfühligkeit und Sensibilität ziehen sich durch Kawabatas gesamtes Werk. Der Hauptunterschied zwischen dem frühen Werk und dem späten nach dem Zweiten Weltkrieg besteht darin, daß er im Frühwerk vieles vom westlichen Roman gelernt und übernommen hat - er hatte die ersten Semester an der Universität englische Literatur studiert und war erst in den letzten Semestern zur japanischen Literatur übergegangen. So finden sich im Frühwerk nicht nur der innere Monolog von Joyce, sondern auch Züge von Lawrence, Proust, Woolf, Fitzgerald und Hemingway. Infolge seiner westlichen Orientierung einerseits und seiner antinaturalistischen Entschlossenheit hat er sich in der Frühzeit auch mit dem deutschen Expressionismus und sogar mit dem Dadaismus auseinandergesetzt. Er hat ja der „dritten Generation“ moderner japanischer Romanciers angehört, die im Unterschied zu den ersten beiden Generationen nicht China orientiert, sondern westlich orientiert waren. Allerdings hatte diese Entwicklung neben dem Aufnehmen bereichernder Techniken und Strukturen vor allem des lyrischen Romans für den Kawabata des Spätwerks auch insofern eine schmerzliche Seite, als er nach der Hinwendung zu den eigenen japanischen Wurzeln herausfinden hatte müssen, wie vieles dadurch am Reichtum der eigenen Tradition verlorengegangen war. Andererseits hatte die Beherrschung westlicher Techniken ihm auch im Japan orientierten Spätwerk nützliche Hilfe geleistet. Die Trauer um den Verlust wesentlicher Teile der großen, alten, geistigen Tradition wog für seine Melancholie und Trauer mindestens ebenso stark wie die „Waisen-Psychologie“ und erhielt eine zusätzliche Belastung durch die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg, auch wenn er dies nach außen hin kaum zeigte. Er versuchte, dem Verlust dadurch zu begegnen, daß er sich als Präsident des japanischen PEN-Zentrums vor allem für die Verbreitung japanischer Literatur im Ausland einsetzte. Im Jahr 1920 hatte er sich entschlossen, die literarische Laufbahn einzuschlagen, 1925 erschien sein autobiographisch besonders wichtiges Tagebuch eines Sechzehnjährigen und ein Jahr später kam der rauschende Publikumserfolg der Erzählung Die kleine Tänzerin von Izu. Im Frühling und im Herbst 1934 besuchte er die heißen Quellen von Yuzowa. Und in jenem Herbst begann er auch mit der Niederschrift seines berühmtesten Romans Schneeland. Zu einem ersten Abschluß gelangte dieser schon 1937, doch hat er später zwei Kapitel dazu geschrieben und zu einem endgültigen Abschluß gelangte der Roman erst 1947. Die endgültige Buchfassung erschien 1948. Schneeland ist auch der erste Roman, in dem er sich voll und ganz der eigenen japanischen Tradition zuwendet. Es ist darauf hingewiesen worden, wonach die Tatsache, daß er knapp vor seinem Tod eine radikal verkürzte „Handteller“-Version des Buches verfaßt hat, den Nachweis erbringt, daß er Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 209 diesen Roman als „das wesentliche Werk seiner gesamten Karriere“ betrachtet hat. 3 Schneeland entstand also in den vierzehn Jahren zwischen 1935 und 1948 und zwar stufenweise in immer mehr und zudem immer neu überarbeiteten Kapiteln bis zur Überarbeitung der beiden letzten Einzeltexte für die Buchveröffentlichung 1948. 4 In diese Jahre fallen der Ausbruch des Krieges mit China 1937, der Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg 1941 und der Zusammenbuch Japans 1945. Wenn Kawabata 5 einmal erklärt hatte, daß er einer jener Japaner gewesen sei, die vom Krieg am wenigsten betroffen waren und am wenigsten gelitten hätten, ja daß es keine bemerkenswerte Veränderung in seinem Werk vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg gegeben hätte und daß es zu keinem wahrnehmbaren Bruch gekommen wäre, da er niemals ein fanatischer Glaubensanhänger der japanischen Militaristen gewesen sei, dann stimmt dies insofern genau, als er niemals literarische Posaunenstöße der Kriegshetze von sich gegeben hatte. Dennoch hatten allerdings in seinem eigenen Inneren zumal das Kriegselend, der Zusammenbruch Japans und das Chaos der Nachkriegszeit eine geradezu fassungslose Depression hinterlassen, die ihren Ausdruck auch in seinem Werk gefunden hat. Er nannte es seltsam, daß diese Depression eine Wirkung hatte, als sei es mit seinem Leben zu Ende. Doch die Niederlage hatte diesen Schock bewirkt und ihm blieb nach seinen Worten keine andere Wahl, als die Wirklichkeit hinter sich zu lassen und seine Füße in das Firmament wandern zu lassen: „Es mag leicht gewesen sein, dies zu tun, da ich niemals einen besonders engen Kontakt zur Außenrealität besessen habe. Es war wohl nicht mehr als der Wunsch, die Welt zu verlassen und sich in einem Bergdorf zu verbergen.“ 6 Man entsinne sich nur an Brochs Versucher- Roman. Allerdings war der Wunsch, sich hier auf der Erde zu verstecken, nur der negative Aspekt dieser Haltung, deren positiven er nicht nur durch die Perspektive des Unendlichen im Firmament zu erfassen versuchte, sondern auch dadurch, daß er seine Romane in einer Art japanischem Haiku-Stil zu schreiben begann. Die Kenntnis der japanischen Tradition war für ihn zwar nicht völlig neu, aber jetzt mußte er die Berge und Flüsse seines Landes sehen, nachdem es besiegt worden war, „bevor alles andere verschwinden konnte.“ 7 In seiner Nobelpreis-Rede hat er ausgeführt, daß dies dazu geführt hätte, daß der Schauplatz seines Romans die „Hinterseite“ Japans war, da, wo die 3 Donald Keene: Dawn to the West. Japanese Literature of the Modern Era. New York 1984, S. 815. 4 Vgl. das „Nachwort“ zu Schneeland. Frankfurt am Main 2004, S. 183. 5 Vg. Donald Keene, op. cit., S. 823, Anmerkung 99. 6 Zitat aus zweiter Hand nach Donald Keene, op. cit., S. 825. 7 Donald Keene, op. cit., S. 825. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 210 Winde über die japanische See von Sibirien herunterkommen. 8 Das erinnert an Guimar-es Rosa. Diese Wahl der „Hinterseite“ hatte sich bereits 1934 ergeben, als sie mit dem Kriegsgeschehen noch nicht das Mindeste zu tun gehabt hatte. Eine parallele Entwicklung hatte dazu geführt: Kawabata hatte im Frühling 1934 selbst die heißen Quellen am oberen Tone-Fluß besucht und fuhr überraschender Weise im Herbst desselben Jahres noch einmal dort hin. „Jenseits des langen Tunnels erschien das Schneeland. Der Nacht Tiefe wurde weiß. Die Dampflok hielt an einem Signal.“ 9 So beginnt der Roman. Sein moderner Antiheld heißt Shimamura und ist ein korpulenter, kleiner, reicher Nichtstuer, der in Literatur dilettiert. Er ist kein japanischer Autor, sondern übersetzt den wahrscheinlich größten französischen Lyriker des Jahrhunderts, Paul Valery, und dazu noch den sozialistischen Pazifisten Emile Alain ins Japanische. Außerdem schreibt er Sachliteratur über Tänze zur Blütezeit des russischen Balletts. Er ist alles andere als eine autobiographische Figur, doch besitzt er einzelne Züge, durch die er mit Kawabata verwandt erscheint. Die französischen Übersetzungen zeigen ein ähnliches Interesse wie das des frühen Kawabata. Auch interessiert sich Shimamura so wenig wie Kawabata für die sich entwickelnde Textilindustrie im Schneeland, dafür aber für die Häuser im alten Stil eines Badeorts, für die alten Bräuche und auch den alten Mythos des Tanabata-Festes. Es ist der Mythos einer Wäscherin, die ihre Arbeit vernachlässigt hatte und zur Strafe als Stern an den Himmel versetzt worden war. Mehr distanziert und kühl interessiert er sich auch für die reizende, charmante und ihn liebende junge Komako, die in ihrer Reinheit, Natürlichkeit und Klarheit fast eine Art Personifikation des Schneelandes zu sein scheint, und über welcher wie über diesem eine klare, in sich ruhende Harmonie liegt. Shimamura ist aber auch keine abstrakte, allegorische Figur, sondern - wenngleich auf der ästhetischen Ebene der Dichtung - eine überaus „wirkliche“ Figur, verfangen in seinem verstockten, narzistischen Egoismus, der fast völlig in der materialistischen Oberflächenwirklichkeit aufgeht. Er ist aber doch auch ein Mensch mit einer gewissen Sensibilität für geistige Werte und er scheint zumindest instinktiv erkannt zu haben, daß er sich von der großstädtischen Welt Tokios mit ihrer Kompliziertheit und ihrer Zerstreutheit eher abkehren sollte, da in der Reinheit des Schneelands wahrscheinlich die Antwort liegt, die er sucht und von der er sich bis jetzt selbst abgesondert hat. Komako besitzt für Shimamura die Funktion eines negativen Spiegels, da sie alles das ist, was er selbst nicht ist. Obwohl er einerseits ihre Liebe zu ihm sehr genießt, ist er andererseits tief beunruhigt durch sie, da sie unausgesprochen eine Gegenseitigkeit verlangt, deren er nicht fähig ist. Ja, Shimamura beginnt 8 Sture Allen (Hg.): Nobel Lectures. Literature 1968-1980. Singapore et al. 1993, S. 11. 9 Schneeland, op. cit., S. 9. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 211 sogar nach einem anderen Mädchen, Yoko, Ausschau zu halten, die zurückgezogen und geheimnisvoll mehr dem Sterben und dem Tod als dem Leben zugewandt ist. Sie erscheint ihm zumindest mitunter noch reiner und mütterlicher als Komako. Bis es dann doch dahin kommt, daß ein Funken Anständigkeit und Gefühl in ihm erwacht, da er angesichts des Leidens von Komako „ein Stechen in seiner Brust fühlt“ und er eine deutliche Spur von Schuld empfindet. Hier tut Kawabata einen Schritt zur Chaos-Beseitigung, da Shimamura, ungeachtet des Umstandes, daß die Gesellschaft ihn durchaus im Recht sehen würde, entdeckt, daß es ein Gesetz des Herzens gibt, das er verletzt hat. Genau wie Shimamura ist auch Komako ein Charakter von Fleisch und Blut, so lebendig und intensiv, daß gesagt werden konnte: „Hätte er kein anderes Werk geschrieben, das Porträt von Komako allein hätte ihm den Ruf geerntet, ein Meister weiblicher Psychologie zu sein.“ 10 Dennoch steht Komako außerdem auch noch für etwas anderes als ihre eigene Individualität. Denn der Roman Schneeland ist zweifellos dem Geist der Heian-Kultur eng verbunden. Die Heian-Kultur zeigte die Macht der Frauen zu jener Zeit zwischen 794 und 1185. Es waren die Frauen, welche die Formen der Schönheit im eigenen japanischen Stil etabliert hatten. Die Männer schrieben chinesisch, während die Frauen eine japanische Silbenschrift entwickelten und sich über die Männer lustig machten. Als Komako etwa bei ihrem Shamisen-Spiel für Shimamura als drittes Stück das Mijakodori aus der Heian-Zeit spielt, erwärmt er sich innerlich und fühlt eine tiefe körperliche Verbundenheit mit ihr. Aber dennoch: „Je mehr sie sich ihm voller Erwartung und doch ganz hoffnungslos näherte, desto mehr quälte ihn ein Gefühl, in einer Art Leblosigkeit zu verharren.“ 11 Es zeigt sich, daß das Schneeland nicht nur den positiven Aspekt der Flucht aus der verwestlichten Großstadt besitzt, sondern den negativen Aspekt der inneren Kälte Schimamuras versinnbildlicht. „Sie teilte sich ihm ganz mit, doch schien es, daß nichts von ihm auf sie überging. Als ob sich auf dem Grunde seiner Brust, tief in ihm selbst, Schnee häufte, hörte Shimamura einen Ton, der wie ein Echo Komakos klang, die gegen eine hohle Wand lief.“ 12 Diese Kälte wird indessen am letzten Schluß- und Höhepunkt des Romans hinweg geschmolzen durch einen Riesenbrand, den ein Kritiker treffend eine „spektakuläre Götterdämmerung, alles Feuer und Wahnsinn“ genannt hat. 13 Wohl ist es zu spät für Komako und zu spät für Shimamuras Rettung seines 10 Donald Keene, op. cit., S. 815. 11 Schneeland, op. cit., S. 151. 12 Schneeland, op. cit., S. 151. Vgl. auch Paul Zweig: The Heresy of Self-Love. Princeton 1980, S. VI. 13 Roy Starrs, op. cit., S. 133. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 212 Verhältnisses zu ihr. Die Trennung ist unausweichlich. Aber gerade da er im Anblick des Brandes des Kokonspeichers endgültig von ihr getrennt wird, da er taumelt, wieder Fuß faßt „und nach der Höhe blickte, schien der Himmelsfluß rauschend in ihn zu strömen.“ 14 „Himmelsfluß“ ist die japanische Bezeichnung für die himmlische Milchstraße und dieser Himmelsfluß steht nicht einfach isoliert für die astronomische Erscheinung, sondern hat hier einen intertextuellen Bezug zu einem berühmten Haiku des größten japanischen Haiku-Dichters aller Zeiten Bashô. Das aber führt hinein in das Zentrum der dichterischen Gestaltung des Romans Schneeland, von dem zu Recht wiederholt gesagt wurde, er wäre im Haiku-Stil geschrieben. Natürlich ist es Komako, die Liebende, die Shimamura, den Lieblosen auf den Himmelsfluß aufmerksam macht, während sie gemeinsam zur Brandstätte laufen. „Ah! “ wiederholt Shimamura das Wort: „Der Himmelsfluß“ und sodann heißt es: „Er hatte seinen Blick noch kaum nach oben gerichtet, da schien sein Körper schon ganz leicht mitten im Himmelsfluß zu schweben. Sein Strahlen war so nahe, daß es ihn emporzuheben schien. Ähnelte dies der Weite des sternklaren Himmelsflusses, den der Wanderer Bashô über dem wilden Meer sah? “ 15 Dies ist ein ganz klarer Hinweis auf ein ganz bestimmtes, berühmtes Haiku von Bashô: Rauhes Meer - und über Sado zieht sich der Himmelsfluß. Shimamura hat seine Chance der Liebe verdorben und keineswegs, weil er an die Frau und die zwei Kinder daheim gedacht hatte, die aus seinem Bewußtsein verschwunden zu sein schienen. Er ist gescheitert. Doch über seinem Elend gibt es einen geradezu „himmlischen“ Trost, der „rauschend in ihn strömt.“ Und der die Winzigkeit des persönlichen Chaos gegenüber der kosmischen Ordnung des Universums ins Bewußtsein ruft. So weit die Geschichte der individuellen Entwicklung Shimamuras, der trotz seiner narzistischen Beschränkung ein echter Suchender ist. Doch gibt es noch eine zusätzliche, weitere Deutungsmöglichkeit: Nach dem Zusammenbruch Japans im Zweiten Weltkrieg hatte Kawabata, der weder den falschen Hurra- Patriotismus der japanischen Militärs noch die neue Hinwendung Japans zum Westen nach dem Krieg begeistert aufgenommen hatte, erklärt, er wäre von jetzt ab nur mehr fähig Elegien zu schreiben. Eine solche war der Roman The Master of Go, der vor dem Krieg 1938 begonnen worden war und der erst 1954 endgültig fertiggestellt wurde. Er beschreibt die in Japan berühmte Partie des 14 Schneeland, op. cit., S. 171. 15 Schneeland, op. cit., S. 161. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 213 Go-Spiels, in welcher der bekannte, große Meister Shūsai bei diesem, seinem letzten Spiel geschlagen wird. Etwa ein Jahr später war er verstorben. Viele Kritiker haben in der Schilderung dieser Go-Partie und der Niederlage Shūsais sinnbildlich auch eine Darstellung der Niederlage Japans gesehen. Schneeland ist ebenfalls vor dem Krieg begonnen, aber erst nach dem Krieg fertiggestellt worden. Der narzistische Shimamura scheitert endgültig durch die unwiderrufliche Trennung von Komako in der „Götterdämmerung“ des Riesenbrands des Kokonspeichers, die sinnbildlich für den Atombombenabwurf stehen könnte. Dem Brand können nur unzureichende, veraltete Pumpen entgegengestellt werden. Aber auch Komako, die für die alte japanische Kulturtradition steht, erleidet Strafe und wird zugleich Opfer. Das einzige, was wirklich überlebt, ist die große kosmische Weltordnung und dies wird durch ein berühmtes Haiku, das zugleich in gewissem Sinn die poetische Ausdrucksform des ZEN-Buddhismus ist, übermittelt. Dem entspricht auch der Sinn von Kawabatas Nobelpreis-Rede. Arthur Koestler aber hat ZEN die Reaktion der ersten intellektuellen Generation auf das nukleare Zeitalter genannt. Dem Herzen Kawabatas stand am nächsten der Roman The Master of Go, doch verlangt dessen volles Verständnis eine so detaillierte Kenntnis des Go- Spiels, daß er allen, die dieses Spiel nicht wirklich beherrschen, wahrscheinlich verschlossen bleiben muß. Daher gilt für die meisten Kritiker im Westen als Kawabatas größter Roman Ein Kirschbaum im Winter. 16 Für einen Kritiker ist dieser Roman ein Meisterwerk, das höchstens Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vergleichbar ist und für einen anderen stellt er nicht nur Kawabatas größten Roman dar, sondern auch den Höhepunkt der japanischen Nachkriegsliteratur. 17 Auch wenn dieser Roman realistischer wirken mag als Schneeland, so ist er doch nicht ein vordergründig realistischer Roman, da er ebenso auch das traditionelle ästhetische buddhistische Einfühlungsvermögen in das Wesen der Dinge voraussetzt. Dingsymbole wie etwa der tausend Jahre alte Lotossamen oder die „Jido“ No-Maske spielen eine womöglich wichtigere Rolle als einzelne Charaktere, und dies obwohl diese Charaktere genauer und lebendiger gezeichnet sind als in anderen Romanen Kawabatas. Der Gang der Erzählung wird immer wieder plötzlich unterbrochen durch das monologisierende Ich- Bewußtsein des Helden, des alten Shingo. Es gibt keine einsträngig fortlaufende Zeit mit konsequenten Schlußfolgerungen, sondern nur eine Art qualitativen Fortschritt zunehmender Vertiefung und wichtiger Motivketten. Dies hat die Funktion der Schaffung von Augenblicken einer unterbrechenden Stockung oder Lücke, die dem integralen Teil einer „Ästhetik der Leere“ entspricht. Kawabatas Nobelpreis-Rede, in der er gezeigt hat, welch tiefes Wissen er von 16 Yasunari Kawabata: Ein Kirschbaum im Winter. München 2004. 17 Vgl. Roy Starrs, op. cit., S. 191 und Donald Keene, op. cit., S. 832. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 214 ZEN besitzt, gipfelt am Schluß nicht zufällig in dem Hinweis auf die Begriffe der Leere und des Nichts im Fernen Osten und er macht klar, daß diese Begriffe nichts mit westlichem „Nihilismus“ zu tun haben. Im Gegenteil verweisen sie auf eine Manifestation der letzten Wahrheit in Form innerer Erleuchtung. 18 Kawabata gehört denn auch zusammen mit Tanizaki und Mishima zu den Großen der japanischen Nachkriegsliteratur, nach denen der Abstieg beginnt. So hat etwa Kenzaburo Oe den Massenmörder Mao in China besucht und hat Grass für einen großen Dichter gehalten. Doch ist auch der Nobelpreis nicht imstande, ihm künstlerisch eine Bedeutung zu verleihen, die er nicht besitzt. Der japanische Titel des Romans Ein Kirschbaum, im Winter lautet Yama no oto und in der englischen Übersetzung The Sound of the Mountain. Das zielt insofern in das Zentrum des Romans, als das Hauptthema Altern und Todeserkenntnis sind und der Held des Romans, der alte Shingo, im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels jenes „Dröhnen“ des Berges hört, nach dessen Verstummen ihn die Furcht packt, es könnte eine Todesahnung oder sogar Todesankündigung gewesen sein. Dieses Dröhnen oder dieser Ruf des Berges ist gleichsam der einleitende Paukenschlag zu diesem zentralen Thema. In den meisten seiner Träume erscheinen Shingo tote Bekannte oder Freunde und immer wieder reflektiert er über den Tod. Aber auch das Reflektieren über tausendjährige Lotossamen oder der Besuch bei einem sterbenden Kranken weisen in diese Richtung. Shingo ist bestimmt keine wirklich autobiographische Figur - Kawabata hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es in diesem Roman keine wirklichen „Modelle“ gibt - aber der Held, der zehn Jahre älter ist, als der Autor bei der Niederschrift war, ist in gewissem Sinn eine Art Projektion, wie der Autor sich vorstellt, welche Probleme er zehn Jahre später haben würde oder zumindest haben könnte, wenn Körper und Geist langsam nachzugeben beginnen. Gleich zu Beginn des Romans kann Shingo sich nicht an den Namen des kürzlich gekündigten Hausmädchens erinnern und später erlebt er einen kleinen Schock, als er plötzlich vergessen hat, wie er seine Krawatte zu binden hätte. Als ihm zwei tote Bekannte im Traum erscheinen, überlegt er, ob sie nicht gekommen wären, um ihn „abzuholen“. Einmal aber läßt Kawabata seinen Shingo darüber monologisieren, daß man früh genug aus dem Leben scheiden sollte, „so lange man noch geliebt wird“ - eine mögliche vorausgeahnte Überlegung zu Kawabatas eigenem Freitod. Im vorletzten Kapitel des Romans aber produziert Shingo ein geradezu kindlich-naives Wunschdenken. Er fragt sich, ob man nicht auch wie ein Lotossamen tausend oder zweitausend Jahre in der Erde liegen könnte, ohne zu sterben, nur um auszuruhen. „Wirklich, wäre das nicht schön? Und nach 50.000 Jahren steht man auf, da sind alle Schwierig- 18 Sture Allen, op. cit., S. 16. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 215 keiten und gesellschaftlichen Probleme gelöst und vielleicht ist die Welt ein Paradies geworden.“ 19 Einerseits ist Shingo als leitender Beamter einer großen Firma und als Kaufmann im Grunde geradezu das Gegenteil eines Künstlers, wie sein Autor. Andererseits aber stellt sich zuletzt, im allerletzten Abschnitt des Romans heraus, daß auch er in seiner Jugend, als er die schöne, ältere Schwester seiner Frau sehr liebte, Haikus „gedrechselt“ hatte. Es gibt aber auch einzelne Parallelen zwischen dem Leben Shingos und dem seines Autors. So etwa pendelt Shingo ganz wie Kawabata täglich zwischen Tokio und Kamakura hin und her. Kawabata erblickte eine Parallele zwischen der kriegerischen Zeit der Muromachi Periode und seiner eigenen Zeit. Dabei sah er, daß die Eigenschaften und Tugenden der Weiblichkeit in der großartigen alten Erzählung von Genji die Unbeständigkeit und Wechselfälle des Krieges weit besser überlebt hatten als die stärkste Burg. So sind denn auch die jüngeren Männer von Shingos Familie eher negative Figuren und die Frauen weitaus eher positive Charaktere. Sein Sohn, der im Krieg in einer Maschinengewehrabteilung gekämpft hat, ist durch den Krieg brutalisiert worden, so daß er sich nicht nur neben seiner Frau eine Freundin anschafft, sondern daß er sich mit seiner Geliebten betrinkt und sodann von deren Gefährtin fordert, sie müsse obszöne und gemeine Lieder singen. Shingos Schwiegersohn aber verläßt seine Frau und seine beiden Kinder überhaupt ganz, wird ein Rauschgifthändler und endet in einem Doppelselbstmord. Umgekehrt erweist sich Shingos Tochter als gute Mutter und ist schon gar die Schwiegertochter durch ihre großzügige Anständigkeit, ihre Warmherzigkeit und ihren Altruismus die strahlendste Figur des ganzen Romans, die dadurch auch dem Herzen des alten Shingo noch näher steht als seine eigenen Kinder. Für Kawabata hatte der Krieg eine Lebenswende mit sich gebracht und der Schock der Niederlage hatte ihn dazu geführt, zu realisieren, daß er vor allem Japaner war, und daß er als Japaner nunmehr alles daran zu setzen hatte, um so weit wie möglich die alte Ordnung wiederherzustellen und zu erhalten, was an wesentlicher japanischer Schönheit noch erhalten geblieben war, obwohl es ihm sehr bewußt ist, daß es „überall trist“ ist. Aber er ist stolz darauf, daß es ihm gelungen ist, bei manchen Artikeln seiner Firma zu erreichen, daß sie „fast“ wieder Vorkriegsqualität haben. Was aber die Schönheit Japans betrifft, so spielt neben der Schönheit der Kunst und jener der Frauen vor allem die Naturschönheit eine besonders wichtige Rolle. Da ist etwa ein Winterkirschbaum, der im Garten eines Hotels in Atami Mitte Januar in voller Blüte steht - es ist der Kirschbaum des Romantitels der deutschen Übersetzung - dessen Blüten Shingo in der Spiegelung eines Teichs bewundert. Aber die Bewunderung für den blühenden Kirschbaum im Winter 19 Ein Kirschbaum im Winter, op. cit., S. 219. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 216 hat noch einen tieferen symbolischen Sinn als jenen der Verzauberung durch die Naturschönheit. Der mitten im Winter blühende Baum steht für Shingos Transzendieren der Zeit und in diesem Fall geht es um eine ganz besondere Art des Transzendierens, das einerseits mit Todesankündigung und andererseits mit einem Ruf verbunden ist, der diese Ankündigung voll ins Positive hebt. Schon daß Shingo die Blüten nicht direkt, sondern indirekt als Spiegelung im Wasser des Teichs betrachtet, ist ein Anstoß, die Realität zu verlassen. Als er sodann auf seine beiden Uhren blickt, seine Taschen- und seine Armbanduhr, stellt er fest, daß sie eine verschiedene Zeit anzeigen. Dies ist ein weiterer Schritt aus der Gewißheit und Sicherheit der Realität heraus. Als ihm übel wird und er sich Genick und Stirn massiert, empfindet er im Zimmer den Klang des Regens im Sturm als „Tosen des Meeres“, ein Klang, der sich steigert und zu einem fernen Donnern wird. Shingo träumt, daß es das Donnern ist, mit dem der Zug den Tanna-Tunnel durchfuhr. Als die Dampfpfeife der Lokomotive ertönt, wacht er auf und findet es zuerst seltsam und später geradezu unheimlich, daß er dieses Donnern - ein Parallelgeräusch zum Dröhnen des Berges - aus so großer Entfernung so deutlich gehört haben sollte. Und da ertönt in seinem Dahindämmern nach dem Donnern plötzlich ein ganz anderer Ruf: „Shingosaan! Shingo-saan! “ So hatte ihn niemand anderer als die ältere Schwester seiner Frau gerufen, an die ihn eine unvergeßliche Liebe bindet, obwohl sie längst früh verstorben war. Das alles schwingt im Bild des blühenden Kirschbaums im Winter mit, der dem ganzen sechsten Kapitel den Titel gegeben hat und dieses Bild beschwört den positiven Aspekt der Todesvorahnung. So gesehen besitzt der Titel des Romans in seiner deutschen Übersetzung Ein Kirschbaum im Winter einen tiefen Sinn, auf den Shingo im letzten Kapitel des Romans noch einmal zurückzukommen scheint. Im Gespräch mit der geliebten Schwiegertochter bemerkt er, daß man eigentlich jeden Abend seinen Kopf in der Schlafklinik abgibt - denn der Tod ist ja des Schlafes Bruder - und im Dunkel versinkt. Shingo schiebt es auf sein Alter, daß er so viel träumt. Es fällt ihm ein, daß er irgendwo einmal ein Gedicht gelesen hat, „Da ich meine Qualen in mir trage, träume ich im Traum die Wirklichkeiten weiter“ und er selbst setzt erklärend hinzu „Meine Träume sind freilich keine Fortsetzung der Wirklichkeit“. Er mag sich wohl des Kirschbaums im Winter entsonnen haben, der die Traumstimme des Rufs der unvergeßlichen Geliebten angekündigt hatte. Aber Naturschönheit kann auch durch sich allein wirken und verzaubern. Im freigegebenen, ehemaligen kaiserlichen Park in Tokio bewundert er einen hohen Baum auf dem Rasen: „Während er an dem Baum hinaufsah und sich ihm näherte, war es Shingo, als dringe die Natur mit dem Erhabenen und Mächtigen des hochgetürmten Grüns gewaltig auf ihn und Kikuko ein und spüle alle ihre Schwermut und Qualen fort.“ 20 20 Ein Kirschbaum im Winter, op. cit., S. 169. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 217 Aber auch die Ammern und Sperlinge und weit mehr noch die Weihe nahe dem Haus, die Hündin Teru, welche Shingo und seine Familie adoptiert hat und die dicke Hausschlange sind Teile der großen Natur und erhalten positive Vorzeichen. Dabei wirkt die Natur keineswegs immer nur aus sich selbst heraus, sondern sie wird mitunter durch Kultur und Kunst gestaltet und entwickelt dann zusätzliche Schönheit. Die japanische Kunst- und Kulturtradition ist ein wichtiger chaosüberwindender Teil vom Kawabatas Überzeugung. Er ist geistiger Traditionalist. „Es ist ein Teil der Disziplin der verschiedenen Künste von Japan“, hat er geschrieben, „wie auch ein Wegweiser für den Geist für einen Mann, daß er seinen Weg in den Fußspuren seiner Vorgänger sucht, hundert Male zu den berühmten Plätzen und Orten geht, nicht aber seine Zeit vergeudet, indem er herumlungert an unbekannten Bergen und Flüssen … Die Geräte, die die Männer der Vergangenheit benützt haben, sind als Schätze betrachtet worden und haben neue Schönheit hervorgebracht. Schüler, die noch unreif waren und die versucht haben, mit ihrer eigenen Individualität zu protzen, wurden abgelehnt. Der Brauch, im Hinblick auf die Überlieferung der Künste strenge Kontrolle auszuüben, hat seine Ursprünge im nationalen Charakter Japans.“ 21 Shingo freilich hat es in seiner Zeit des Wertzerfalls schwer genug. Dazu macht ihm noch seine Frau Yasuko Vorwürfe, daß er lediglich die Schwiegertochter Kikuko verwöhnen kann, aber unfähig ist, das eigene Problem mit dem Sohn zu lösen. Dieser Sohn ist von den Erfahrungen des Krieges gezeichnet und Shingo weiß nicht, wie er ihn „bei seinem Gewissen packen kann.“ Auch er selbst ist ja durch den Krieg verändert worden. So hat der Krieg seine Beziehung zu den Frauen zerstört. Unter dem Druck der Verhältnisse fällt ihm einmal der No- Text ein: „Ist einer, während die frühen Buddhas bereits dahingegangen, die künftigen Buddhas noch nicht erschienen sind, in dieses Zwischenreich des Traums geboren, - was soll er für wirklich nehmen? Durch Zufall hat er den schwer zu erlangenden Menschenleib erhalten.“ 22 Gleich zu Beginn heißt es, daß Shingo spürte, wie ihm sein Leben entglitt. Zwischen dem Widerspruch, unter dem zerfallenden Wertsystem der Nachkriegszeit zu leben einerseits und der Begeisterung für die Schönheit andererseits träumt er mehr und mehr vom Tod. Als er einen krebskranken, sterbenden Bekannten im Krankenhaus besucht, bringt dieser die Rede auf die Schwierigkeiten der Altersbeschwerden und die Furcht vor der letzten Krankheit. Schließlich bittet er ihn, ihm durch einen gemeinsamen Freund, der Zugang dazu hat, Zyankali zu beschaffen. Shingo erfüllt ihm den Wunsch nicht. Aber er kann den Bekannten nicht vergessen und das bringt ihn dazu, über seine Schwiegertochter nachzudenken. Er ver- 21 Zitat aus zweiter Hand nach Donald Keene, op. cit., S. 822. 22 Ein Kirschbaum im Winter, op. cit., S. 138. Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 218 mutet, daß sie sich einfach, ohne sich selbst darüber klar zu sein, gehorsam den Geheimnissen der Natur überließ, den Wogen des Lebens. So wie Shingos Leben zwischen Schönheit und Trauer ausgespannt ist und schwankt, so schließt der Roman gleichzeitig mit einem positiven und einem negativen Aspekt. Einerseits, und das ist sehr positiv, ist an jenem Abschluß- Sonntag die ganze Familie - alle sieben Mitglieder - friedlich zum Abendessen versammelt. Die drei vorhandenen großen Forellen werden harmonisch verteilt. Shingo berichtet von seinen jugendlichen Haiku Versuchen. Die beiden jungen Frauen machen positive Pläne: Die Tochter möchte ein kleines Geschäft eröffnen und die Schwiegertochter möchte ihr dabei helfen. Zu allerletzt schlägt Shingo vor, daß am nächsten Sonntag, da es Herbst ist, alle zusammen aufs Land fahren sollten, um die herrliche Verfärbung des Herbstahorns anzusehen. Die Augen seiner Frau leuchten auf und die Schwiegertochter kommt sehr gerne mit. Das ist für Shingo darum umso schöner, als die Fahrt ja in die Heimat seiner Kindheit, zurück zu den Wurzeln gehen soll, die er der Schwiegertochter zeigen möchte. Alle erheben sich und Shingo wirft noch einen Blick in das Empfangszimmer, wo die Schwiegertochter Kikuko in der Schmucknische ein Ikebana-Gesteck zusammengestellt hat. Shingo liebt sie wegen dieser Hinwendung zur Tradition besonders, doch muß er entdecken, daß das Blumengesteck zerfällt. Darum ruft er in die Küche: „Kikuko, die Krähenkürbisranken sind umgesunken. Weil sie zu schwer sind.“ Doch wegen des Geklappers beim Geschirrspülen schien sie nicht zu hören. Die praktische und notwendige Arbeit kann sie beherrschen, Ikebana aber offenkundig nicht. Und das ist, wie Shingo sehr wohl weiß, kein Einzelfall. Die geistige Tradition wird wohl noch gepflegt, doch ist sie veräußerlicht, herabgesunken und zum Scheitern verurteilt. Der vorletzte Satz des Romans entpuppte sich durch den letzten als ein Ruf in der Wüste. Kawabata hatte in seiner Nobelpreisrede ausdrücklich gegen den Selbstmord Stellung genommen. Er hatte seinen eigenen Essay „Die Augen der Sterbenden“ zitiert, in dem es heißt: „Wie sehr man der Welt auch entfremdet sein mag, Selbstmord ist keine Form der Erleuchtung. Wie bewundernswert ein Mann auch sein mag, wenn er Selbstmord begeht, ist er weit entfernt vom Bereich des Heiligen.“ Als im November 1970 der ihm befreundete Dichter Yokio Mishima Selbstmord beging, war dies ein böser Schlag für Kawabata, um so böser, als sein Biograph Takeo Okuno berichtet, daß er durch zweiwenn nicht dreihundert Nächte danach unaufhörlich von Albträumen gequält und verfolgt worden war. In einem fast andauernden Zustand der Depression hatte er manches Mal Freunden erzählt, daß er sich wünsche, sein Flugzeug würde bei einer seiner Reisen zerschellen. Am 16. Mai 1972 verließ er sein Haus, wo er an einem Manuskript gearbeitet hatte und ging zu einer Wohnung, die er für sein Schreiben gemietet hatte Yasunari Kawabata und die Ästhetik der Leere 219 und von der aus man das Meer überblicken konnte. Er verübte Selbstmord, indem er Gas einatmete. Im Unterschied zu seinem Freund Mishima hinterließ er keine Abschiedsnachricht, weshalb einige ihm Nahestehende nicht an einen Selbstmord glauben. Es sieht aber ganz so aus, als hätte all seine große Liebe und Hingabe an die Schönheit der japanischen Landschaft, der japanischen Frauen und der japanischen Kunst ihn nicht davon abhalten können, sich in tiefster Trauer das Leben zu nehmen. Auf seinem Tisch fand sich ein Gedicht der japanischen Autorin Kanoko Okamoto: „Wuchs auch tiefer Jahr für Jahr die Trauer noch, war es doch um so herrlicher ein Leben.“ Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung Nikos Kazantzakis wurde am 19. Februar 1883 in Heraklion auf der griechischen Insel Kreta geboren, die damals noch zum Osmanischen Reich des türkischen Sultans gehörte. Hier, in Heraklion, das damals noch Megalo Kastro hieß, wuchs er auf, studierte in Athen Rechtswissenschaften und ging sodann nach Paris, um beim wichtigsten Lehrer seines Lebens, Henri Bergson am elitären Collège de France Philosophie zu studieren. Obwohl er im wesentlichen immer sich selbst treu blieb, hat er in seiner Entwicklung eine stattliche Reihe von Wandlungen durchlaufen. Er begann als Anhänger eines Ästhetizismus, wandelte sich aus diesem heraus zu einem griechischen Nationalisten und aus diesem zu einem Kommunisten. Tief enttäuscht wurde er wie viele - von Koestler bis Solschenizyn - zu einem Antikommunisten. Die griechischen Kommunisten nannten ihn daraufhin idealistisch, bürgerlich, unrettbar religiös, mystisch und einen Anhänger von Krieg, was in einem gewissen Sinn auch alles stimmte. Jedoch die griechisch-orthodoxe Kirche schickte sich an, ihn als Atheisten zu verfolgen, die Monarchisten hielten ihn für einen Bolschewisten und der Führer einer kommunistisch organisierten Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung verdächtigte ihn als Angehörigen des britischen Geheimdienstes. Wobei Kazantzakis jedoch keineswegs ein passives Opfer dieser Angriffe war, von denen die meisten falsch waren. Er hatte sie vielmehr fast immer selbst heraufbeschworen. Alles das zusammengenommen, hat er es selbst auf den gemeinsamen Nenner gebracht: „Es gibt kein Regime, das mich tolerieren kann und dies ist auch richtig so, denn es gibt kein Regime, das ich tolerieren kann.“ 1 Einer seiner wichtigsten Biographen hat diese Grundhaltung, sich immer in Politik einzumischen und dabei gleichzeitig über jeglichen einzelnen Parteien zu stehen, sehr glücklich als „metapolitisch“ bezeichnet. 2 Er hat darauf hingewiesen, daß das wichtigste Bedürfnis von Kazantzakis jenes nach persönlicher Erlösung gewesen ist und daß er selbst das richtige Motto für sich gefunden hatte, als er als Grundleitlinie seines Lebens den Dante-Vers wählte, wonach der Mensch danach trachten soll, sich ewig zu machen. 3 Obwohl er eine ideale Gesellschaft erträumte, wußte er, daß es sie nicht geben kann und versuchte jeweils aus jeder Situation innerhalb des permanenten Wandels das Beste zu machen. Denn im einzelnen hielt er die richtige Aktion und Reaktion für durchaus machbar. Das ist bereits eine Möglichkeit, dem 1 Zitiert nach Peter Bien: Kazantzakis. Politics of the Spirit. Princeton 1989, S. 6. 2 Peter Bien, op. cit., S. 3-5. 3 Dante: Inferno, 15, 85 „come l’uom s’eterna“. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 222 Chaos entgegenzutreten. Eine andere Möglichkeit hat Kazantzakis in seiner spirituellen Autobiographie Rechtfertigung vor El Greco selbst direkt gegeben, als er schrieb: „Nachdem wir die Wirklichkeit nicht ändern können, laß uns unsere Augen ändern, welche die Wirklichkeit sehen.“ 4 Das sagt einer seiner byzantinischen Lieblingsmystiker. Kazantzakis war wie wir alle in vieler Hinsicht ein Produkt seiner Herkunft, seiner Umgebung, seiner Erfahrungen und Bildungserlebnisse. Als er ein Kind war, fand ein Aufstand der Christen gegen die brutale Herrschaft der Türken auf der Insel Kreta statt. Viele Türken flohen in seine befestigte Heimatstadt Megalo Kastro, deren feste Tore die ganze Nacht geschlossen und verbarrikadiert blieben und die eine türkische Garnison hatte. Die Tore verhinderten nicht nur das Eindringen der aufständischen Christen, sondern auch die Flucht der christlichen Bewohner aus der Stadt. Als eines Nachts die Gefahr drohte, Türken könnten in das Haus einbrechen, stand der Vater des Kindes mit geladenem Gewehr an der Haustür, um den ersten Türken zu töten. Sodann aber, verkündete er seiner Frau und dem kleinen Sohn, würde er sie selbst töten, damit sie nicht den Türken in die Hände fielen. Das Haus der Kazantzakis blieb verschont und am nächsten Morgen nahm ihn sein Vater bei der Hand und führte ihn durch die leeren Gassen, vorbei an einem niedergebrannten und noch rauchenden Haus und vorbei auch an einzelnen Häusern mit niedergebrochenen Türen und Blut auf der Schwelle hinunter in die Hafengegend. Als sie den Hauptplatz erreichten mit der riesigen, alten Platane am Rand, blieb der Vater stehen und sagte zu ihm: „Schau! “ Er deutete mit der Hand nach oben und das Kind stieß einen Schrei aus. Drei Männer schwangen an einem starken Ast, barfuß, in ihren Nachthemden und tief grüne Zungen hingen aus ihrem Mund. Das Kind kehrte sich ab und umklammerte des Vaters Knie, doch dieser nahm seinen Kopf in beide Hände und richtete seinen Blick wieder den Baum hinauf. „So lange du lebst“, sagte der Vater, „sollst du diese gehenkten Männer nie mehr aus dem Blick verlieren.“ „Wer hat sie getötet? “ fragte das Kind. „Freiheit. Gott segne sie.“ 5 In seinem Roman Freiheit oder Tod hat Kazantzakis später ein getreues Bild seines todesverachtenden, kühnen Vaters, der Kapétan Mihális gerufen wurde, gezeichnet und zusammen mit der provinziellen Gedrücktheit blieben solche Schockerlebnisse tief in seiner Seele haften. Es war in Paris, wo er eine völlig andere, „große“ Welt kennenlernte und dies keineswegs nur im Hinblick auf sein Studium der Philosophie, sondern auch auf den Gebieten der Kultur, der Erziehung, der Frauen und der Politik. Hier nahm er die welterfahrene, fein gebildete Haltung eines weiten Horizonts an. Er hat in dieser Pariser Zeit viel Nietzsche gelesen und auch der amerikanische Pragmatiker William James hin- 4 Nikos Kazantzakis: Report to Greco. London 1973, S. 45. 5 Report to Greco, op. cit., S. 89. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 223 terließ einen bleibenden Eindruck, doch der Haupteindruck war von Anfang an und verblieb dies auch weiterhin der Einfluß Bergsons. Nachdem Nietzsche ihn gelehrt hatte, jeder optimistischen Theorie zu mißtrauen, ging er nach Wien. Er nannte die Stadt eine charmante, verlockende Frau, wunderschön, leichtsinnig, kokett. Sie weiß sich zu kleiden, wie sich auszukleiden, wie sich hinzugeben, perfide zu handeln, nicht aus Liebe oder Haß, sondern im Scherz. Sie geht nicht, sie tanzt, sie spricht nicht, sie singt. Sie liegt ausgestreckt auf ihrem Rücken entlang der Donauufer. Der Regen durchnäßt sie, der Schnee bedeckt sie, die Sonne wärmt sie. Man sieht sie - sie verbirgt nichts - und man ruft aus: Thalia, Aglaia, Euphrosine, Wien - die vier Grazien. Aber im Lauf der Zeit begann die Fröhlichkeit dieser vierten Grazie außerordentlich hohl und frivol zu wirken. Für Kazantzakis, der den Menschen als metaphysisches Geschöpf betrachtete, waren Gelächter, Sorglosigkeit, Operetten im Grunde Verrat und Schamlosigkeit. Er reagierte so, daß er sich des Lächelns von Buddha erinnert, dessen Schriften er Jahre zuvor gelesen hatte, als er noch nicht reif dafür war und die plötzlich Wichtigkeit und einen tiefen Sinn annahmen. Er schloß sich in sein Zimmer ein, studierte Buddha und fand heraus, daß die niemals versagende Leitidee das Mitleid war, durch welches wir uns mit dem Nichts vereinigen. Er schrieb einen Dialog zwischen Buddha und dessen Lieblingsschüler Ananda mit der Schlußfolgerung, die höchste Freiheit bestehe in der Aufgabe einer Hoffnung auf Erlösung. Er ging ins Kino, traf ein Mädchen, machte ein Treffen für die nächste Nacht aus und wurde von einem lepraartigen Ausschlag befallen. Der Freudschüler Stekel, den er konsultierte nannte den Ausschlag die Asketenkrankheit. Seine Seele empfand den sexuellen Akt als Todsünde und revoltierte dagegen. Vergeblich wehrte sich Kazantzakis gegen den Vorschlag der einzigen Therapie: Wien und das Mädchen zu verlassen. Zuletzt mußte er aufgeben, entdeckte, daß nichts auf der Erde Gott so ähnlich ist wie die Seele und ging nach Berlin. Die Schlüsselerlebnisse in Berlin waren die Treffen mit je einem jüdischen Mädchen. Das erste nannte sich selbst einen haßerfüllten, weiblichen Wolf und konnte sich niemals mit ihm vertragen. Das zweite Mädchen traf er in einem ethnologischen Museum vor afrikanischen Masken. Sie verkündete ihm, der Messias sei schon gekommen und sein Name sei Lenin. Itka, das war ihr Name, sagte ihm, daß sein Buddha ein Gummibonbon sei, genau so wie die anderen und sie nahm ihn auf eine Tour mit durch die Proletarierviertel von Berlin. Niemals hatte er so viel Leid gesehen, so viel Hunger und Ungerechtigkeit. Ja, er konnte so viel Schreckliches nicht ertragen: Wangen eingefallen vor Hunger, kleine Kinder, die durch Abfallhaufen gehen, um eine Kleinigkeit an eßbarem Abfall zu finden, ihre Bäuche grün geschwollen, ihre Beine nichts als Knochen überzogen mit gelber Haut. Nach dem erschütternden Erlebnis des Marsches einer Hungerarmee durch ihre Straße hat Kazantzakis eine letzte, radikale Auseinandersetzung mit Itka, Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 224 nach der sie verschwand. Jedoch nach wenigen Wochen erhielt er ein Telegramm, in dem er eingeladen wurde, als Vertreter der griechischen Intellektuellen den zehnten Jahrestag der Revolution in Moskau zu feiern. Kazantzakis fuhr nach Moskau und Rußland hinterließ einen tiefen Eindruck auf ihn und einen ebensolchen die Begegnung mit Panait Istrati, dem bekanntesten kommunistischen Schriftsteller Rumäniens der Zeit, einem Halbgriechen, der ebenso wie Kazantzakis selbst später ein radikaler Gegner des Kommunismus werden sollte. In Italien hatte er die für ihn wichtigste Stadt des Landes besucht: Assisi. Schon vor seinen großen Auslandsreisen hatte er die berühmten, symbolischen vierzig Tage zusammen mit einem wahren Freund den heiligen Berg Athos besucht, war als Suchender von Kloster zu Kloster gewandert und zuletzt noch bis zur Eremitage des berühmten, vergeistigten Makarios, wo er ein wirkliches Wunder erlebte. Trotzdem hatte er im nachhinein die feste Empfindung gehabt, nicht gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Im einsamen Winter eines mazedonischen Dorfes hatte er einen Traum oder Tagtraum oder eine Vision, worin er zu erleben glaubte, daß Christus stirbt, die Apostel über den Tod des Rabbi verzweifeln und nur eine Frau aufspringt, weil sie seinen Tod nicht akzeptiert: Maria Magdalena. Der Osterfrühling ruft in seiner Erinnerung das Wort des Rabbi Nahman empor, der gepredigt hatte, man müsse nach Palästina gehen. Er ging, wurde wieder enttäuscht und wendete sich, inspiriert von der Inschrift auf einem alten Bild, dem Berg Sinai zu. Er entsann sich, daß das alte Testament immer tiefer dem Verlangen seiner Seele entsprochen hatte. Im berühmten Kloster auf dem Berg Sinai war er nahe daran, ein Mönchsgelübde abzulegen, aber er ging dann doch nach Kreta zurück. Schon acht Jahre bevor er nach Moskau ging, war er als Generaldirektor des griechischen Ministeriums für soziale Wohlfahrt im Auftrag des Ministerpräsidenten Venizélos in die Sowjetunion gegangen, um 150.000 so genannte Pontos-Griechen zu repatriieren. Diese Griechen waren von der sowjetischen Regierung verfolgt worden, weil sich die griechische Regierung an der Expeditionsarmee der Alliierten gegen die Sowjets beteiligt hatte. In dieser Phase seines Lebens übersetzte Kazantzakis Spitzenwerke der Weltliteratur ins Griechische: Dantes Komödie und Goethes Faust. Einerseits schrieb er in den Zwanzigerjahren in der Prawda, andererseits erklärte er, er sei kein Marxist, weil ihn sein metaphysischer Sinn nicht genug primitiv mache und er überdies kein „Mann der Aktion“ sei. Das Zwischenspiel mit den Pontos-Griechen war tatsächlich eine Ausnahme gewesen. Ja, es war gerade während seiner Zeit in Rußland, daß er alle Hoffnung auf die Schwarzen Afrikas richtete, als die letzten verbliebenen, fruchtbar werdenden Barbaren, die von der westlichen Kultur nicht vergiftet waren. Wie einer seine Biographen scharfsichtig beobachtet hat, negierte der Metakommunismus von Kazantzakis nicht den Kommunismus, sondern überholte ihn, indem er durch ihn hindurch ging. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 225 Er war auch nach China und Japan und Spanien gegangen und nachdem er Anfang der Dreißigerjahre mehrere Monate in einem kleinen Erzgebirgsdorf gelebt hatte, um in Ruhe arbeiten zu können, fand er schließlich 1936 eine Heimat auf der griechischen Insel Ägina, wo er sich gemeinsam mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Eléni Samíou niederließ, die später seine Frau wurde und die er in seiner Autobiographie, die an El Greco gerichtet war, mit dessen berühmter Gefährtin Jeronima de las Cuevas verglichen hat. Ab 1942 durfte er wegen des Krieges die Insel vorübergehend nicht verlassen. Hier auf der Insel hatte er 1938 sein eigenes, riesiges Odyssee-Epos vollendet, dessen Handlung da einsetzt, wo Homers Odyssee endet. Hier begann er auch die Bücher Die letzte Versuchung Christi und Freiheit oder Tod, ein Werk über Buddha sowie Alexis Sorbas. Die biographische Grundlage seines Romans Alexis Sorbas bildet sein eigener Versuch, 1916-1917 als Pächter eines Bergwerks im Dorf Prastova auf der Halbinsel Mani im Peloponnes sein Leben einzurichten. Das Experiment scheiterte. An seinem Buch über Buddha, das im Roman genannt wird, hat er erst später zu schreiben begonnen. Dafür gibt es auch für den Titelhelden Alexis Sorbas ein autobiographisches Modell, seinen Freund Georgios Zorbas, den er auf dem Berg Athos kennengelernt hatte und der ihn nach der Bergwerksaffäre auch auf seiner Mission in den Kaukasus begleitet hatte. Im Roman gibt es trotz eines einzigen Titelhelden im Grunde zwei Charaktere als Helden, den Ich-Erzähler, der zahlreiche autobiographische Züge aufweist und Alexis Sorbas, der viele Züge des wirklichen Giorgios Zorbas trägt. Die Handlung ist vom Peloponnes weg auf die Insel Kreta, der Heimat von Kazantzakis, verlegt. Der fiktionale Alexis Sorbas stößt im Roman auf den Ich-Erzähler, als dieser im Hafen von Piräus am frühen Morgen auf sein Schiff nach Kreta wartet. Er starrt ihn als Unbekannter durch eine Glastüre so an, daß er sich innerlich auf ihn einstellt. Der Unbekannte ist Alexis Sorbas und ermuntert den Ich-Erzähler, ihn nach Kreta mitzunehmen und sei es als Koch guter Suppen. Es stellt sich heraus, daß er zuletzt in einem Bergwerk gearbeitet hat, wodurch er tatsächlich angeheuert wird. Das einzige flache und wohl verpackte Gepäcksstück, das er bei sich trägt, ist ein Santuri, ein iranisches Seiteninstrument. Es war auch ein orientalischer Lebemann, der Türke Retsep Effendi, der ihn gelehrt hat, dieses Instrument zu spielen. Alexis Sorbas spielt darauf allerdings mit besonderer Vorliebe Kephtenlieder, also Lieder von griechischen Freiheitskämpfern gegen die türkische Unterdrückung. Das Paar des Ich-Erzählers und Alexis Sorbas ist nach dem alten Modell des Don Quijote angelegt, wobei allerdings der Ich-Erzähler selbst keine modischkitschigen Ritterromane verehrt, sondern als „Reisegefährten“ Dante mit sich führt und ein Buch über Buddha schreibt. Was ihn als Erben des Don Quijote ausweist, ist nach Kazantzakis der Umstand, daß er auch ein „Empörer“ ist. Denn nach Kazantzakis sind es „die stolzen Ritter von der traurigen Gestalt“, Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 226 die sogar gegen die eherne Notwendigkeit anstürmen und das äußere Gesetz dem inneren Gesetz ihrer Seele unterwerfen möchten. Sie verleugnen die Wirklichkeit, ja sie mißachten sie und wollen frei nach den Gesetzen ihres Herzens eine reine, sittlichere, bessere Welt erschaffen. Einmal nennt er sie die „dritte Gruppe“ von Menschen, die wissen, daß sie aus dem gleichen Stoff wie Pflanzen, Tiere und Sterne bestehen, die wie alle Wesen den gleichen furchtbaren Kampf führen, nämlich sich in Geist zu verwandeln. Aber auch sein Gegenspieler und seine Ergänzung zugleich, Alexis Sorbas, ist trotz seiner elementaren Primitivität von weit höherem Niveau als Sancho Pansa. Er ist ein freier Mensch, der sein Santuri nur spielt, wenn es ihn von innen her dazu drängt und das Spiel erfüllt die Funktion, durch Kunst Leid zu sublimieren. Gewiß, die Urbedürfnisse, Essen, Trinken, Weiber, Tanz, hausten noch unerschöpflich in dem begehrlichen und robusten Körper dieses mazedonischen Griechen, aber zugleich hatte der Ich-Erzähler noch nie einen Menschen erlebt, der in einem so engen und harmonischen Verhältnis zur Welt gestanden wäre. Die Höhe der Bildung und die Kühnheit der Gedanken des Ich-Erzählers, die mitunter allzu sehr ins bläßlich Abstrakte zu verschweben drohen, werden von seinem Freund Alexis ins plastisch-drastische Leben zurückgeholt und ihm einverleibt und die Geschichte der Einbeziehung der Ergänzung der Ideen des Ich-Erzählers durch Sorbas durch ihre Freundschaft versinnbildlicht im Grunde das Wesen des ganzen Romans, der eben dadurch zum ersten großen Durchbruch im Schaffen von Kazantzakis führte, nach dessen Erscheinen er erstmals von der Schriftstellerei leben konnte. Wie auch ein kluger Instinkt Kazantzakis geleitet hat, die wirkliche Geschichte seines Bergwerksunternehmens von der Halbinsel Mani weg auf die geliebte Insel seiner Geburt Kreta zu verlegen, deren Menschen durch den jahrzehntelangen Freiheitskampf gegen die Türken mit seinem unseligen Leid eine zusätzliche Dimension zu den friedensgewohnteren Griechen hatten. Denn er fühlte sich diesen Menschen von Kreta ebenso zugehörig mit jedem Tropfen seines Blutes, ebenso wie Sorbas, der in Kreta gekämpft hatte, und die er besser verstand als irgendeiner, da er sie so liebte. Was aber sein Verhältnis zu Sorbas betrifft, so heißt es einmal ausdrücklich: „Ich beneidete den Mann vor mir. Alle Erfahrungen, um die ich mich mit Papier und Tinte bemühte, waren bei ihm Fleisch und Blut. Er hatte sie gelebt, hatte gekämpft, getötet, geküßt! Alle Probleme, die ich in meiner Einsamkeit, an den Stuhl gefesselt, Knoten für Knoten zu lösen versuchte, hatte dieser Mann in den Bergen, in freier Luft, schon längst mit seinem Säbel gelöst.“ 6 Der Ich-Erzähler hat als eine Art Ausweg oder letzte Lösung die von ihm schriftlich aufgenommene und erarbeitete Mystik zur Verfügung. Deshalb 6 Nikos Kazantzakis: Alexis Sorbas. München o. J., S. 250. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 227 leuchtet ihm einmal das Leben in einer geradezu märchenartigen Weise auf wie in Shakespeares Sturm. Deshalb kann er bemerken, daß Gott die unzerstörbare Macht ist, welche die Materie in Geist verwandelt und daß jeder Mensch ein Stück dieses göttlichen Wirbels in sich hat, weshalb er das Vegetative in Gedanken und Tat zu verwandeln vermag. Deshalb erwähnt er auch einmal den gnostischen Ouroboros, jene mystische Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, um den vollendeten Ring zu schließen, innerhalb dessen die Erde ihre Kinder gebiert und verschlingt. Und deshalb schließlich verbindet er auch Christus vor seinem Tod mit der Hierophantenweisheit der eleusinischen Mysterien, in denen ein Saatkorn in die Höhe gehalten wurde, um den zeitlosen Zyklus von Wachsen, Sterben und Wiedergeburt zu veranschaulichen. Alexis Sorbas aber, dem diese Bildung fehlt, hat dafür etwas sehr Handgreifliches und doch besonders Ausdrucksvolles, nämlich das Medium des Tanzes. Zu diesem greift er, wenn ihn ein Gefühlsüberschwang von der Macht einer Ekstase überwältigt oder eine ganz tiefe Verzweiflung bedrückt, Dinge, denen er in Worten nicht Ausdruck zu verleihen vermag. Als er einmal auf diese Weise tanzt, beschreibt der Ich-Erzähler es so, daß es war, als befände sich in diesem wurmstichigen Körper die Seele im Kampf mit dem Fleisch, als wollte sie es mit sich reißen und sich gleich einer Sternschnuppe mit ihm in die Finsternis stürzen. Bis er zuletzt, außer Atem zusammengesunken auf dem Boden saß und sein ganzes Gesicht vor Glück glänzte. Das ärgste Trauma im Leben des Alexis Sorbas war der Tod seines dreijährigen Sohnes. Auch damals war ihm kein anderer Ausweg geblieben, als zu tanzen. Man sagte ihm zwar, er sei verrückt, doch war es gerade das Tanzen gewesen, das ihn davor bewahrt hatte, verrückt zu werden, in totalen Wahnsinn zu verfallen oder zu sterben. Aber auch der Ich-Erzähler hat etwas Besonderes für sich, zwar keine praktische Kunst wie das Tanzen, sondern ein besonderes Wissen. Er weiß nämlich, daß das Höchste, das der Mensch erreichen kann, nicht in Erkenntnis, Tugend oder Güte, ja auch schon gar nicht in einem Sieg begründet liegt, sondern in der Erfahrung des Erschauerns einer Ehrfurcht. Es liegt beim Goethe-Kenner Kazantzakis nahe hier an die drei Ehrfurchten oder die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen Goethes zu denken. Gerade weil dies dem Ich-Erzähler so wichtig ist, versucht er es, sogar Alexis klarzumachen. Er versucht es ihm so zu erklären: Einige wenige Menschen, die Furchtlosen, beugen sich über das Chaos hinab und erschauern vor dem furchtbaren Abgrund. Es ist eine Art Parallele zu dem fünften Koan des Mumonkan im ZEN-Buddhismus, in dem die richtige Antwort lautet, sich selbst in den Abgrund zu stürzen und durch Ich-Überwindung zur Erleuchtung zu gelangen. Auch beim Ich-Erzähler - wie bei Kazantzakis - geht es um eine solche Ich-Überwindung, doch besteht seine „Antwort“ nicht im Absturz in den Abgrund, sondern in der Sublimierung der Wirklichkeit durch die Poesie. Bei ihm beginnt mit der Erfahrung des Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 228 Abgrund-Chaos die Einsicht in die Rettung und Lösung durch Poesie. Er bricht aber die Erklärung für Sorbas ab, weil er nicht weiß, wie er es anstellen soll, diesem das Wesen der Poesie anschaulich zu machen. Vielleicht, wenn er auf dessen Santuri verwiesen hätte. Doch die Kluft zwischen den beiden ist einfach zu groß trotz aller tiefgreifenden Verbundenheit. Darum vermochten sie auch nicht ihren gemeinsamen „großen Plan“ zu verwirklichen, ein Kloster zu gründen, ohne Gott und Teufel, mit freien Menschen, wie es als Utopie durch die Weltliteratur geistert, von Fançois Rabelais’ „Abtei Télema“ bis zu Hermann Hesses kastalischer Provinz. Darum kommt es schließlich auch zur Trennung der beiden Freunde, vielleicht, weil der Ich-Erzähler nicht stark genug ist, diese Freundschaft weiter durchzuhalten, vielleicht aber auch, weil er - ein echt autobiographischer Held - ein wirklicher Einzelgänger ist, der seinen eigenen Weg allein zu Ende zu gehen hat. Der Roman endet mit einer äußerlichen totalen Niederlage und einem innerlichen großen Sieg. Die Seilbahn, war beim ersten Versuch, schwere Baumstämme damit hinunter zum Meer zu transportieren völlig zusammengebrochen. Damit war für den Ich-Erzähler nicht nur sein gesamtes Vermögen, sondern waren auch die Arbeiter, die Loren, der angelegte Hafen und vor allem die Drahtseilbahn selbst verloren. „Und gerade jetzt“, heißt es, „empfand ich wider Erwarten eine Erlösung. Mir war, als hätte ich in den harten und gräßlichen Falten der Notwendigkeit einen Winkel entdeckt, in dem die Freiheit gelassen spielte. Und ich spielte mit ihr.“ 7 Als kontrapunktisches Gegenstück erhält der Ich-Erzähler gerade dann auch die Nachricht, daß sein enger Freund, der ausgezogen war, die Pontos-Griechen zu befreien und zu repatriieren, bei seiner Rettung erfolgreich gewesen war und kurz darauf die Nachricht, daß der Freund plötzlich verstorben war. Er hatte gesiegt und war verstorben. Der Ich-Erzähler war gescheitert und lebte. Wie sich aber sein Freund durch den Tod von ihm trennte, so trennt er sich nun von seinem Freund Alexis Sorbas. Vergessen allerdings konnte er Alexis niemals. Von Zeit zu Zeit erhielt er überdies Postkarten als Lebenszeichen von ihm. Und eines Tages, nachdem Alexis ihm im Traum erschienen war, ergriff ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht, ihr gemeinsames Leben am Strand von Kreta aufzuzeichnen: die Gespräche, die Gesten, das Gelächter, die Tränen und des Sorbas’ Tänze. Einige Zeit widersteht er der Versuchung, doch eines Tages stößt ihn förmlich eine unsichtbare Hand dazu, die Feder zu ergreifen, um das Leben und die Taten des Alexis Sorbas aufzuzeichnen. Er arbeitete „wie ein Zauberer der wilden Stämme Afrikas, die in ihren Höhlen den Ahnen abbilden, den sie im Traum gesehen haben. Auch sie sind 7 Alexis Sorbas, op. cit., S. 268. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 229 bestrebt, ihn möglichst getreu wiederzugeben, „damit seine Seele ihren Körper wieder erkennt und in ihn einkehrt.“ 8 Schließlich war die „Legende von Sorbas“ beendet: geradezu das Gegenteil äußerlicher naturalistischer Detailschilderung, aus ferner Erinnerung geschöpft und dennoch von wirklichem Leben strotzend. Gerade dann bringt ihm ein Bauernmädchen einen Brief und er hatte gewußt, daß er diesen Brief nach dem Abschluß seiner Arbeit erhalten würde und daß es die Todesnachricht seines Freundes Alexis Sorbas war, der eben jetzt ein neues Leben auf der ästhetischen Ebene der Dichtung antreten würde. Es ist von schöner sinnbildlicher Bedeutung, daß Alexis ihm sein Santuri vermacht hatte, als hätte er gewußt, daß er zum Sänger der Legende des Alexis Sorbas werden würde - vielleicht hatte er es sogar wirklich gewußt. Nachdem es Kazantztakis mißglückt war, mit seiner Odyssee, welche die Verbindung mit dem Mutterschoß abendländischer Tradition abgekappt und alle Hoffnung auf Afrika gesetzt hatte, die ursprüngliche Form des Epos zu erneuern, war ihm mit dem Alexis Sorbas dafür wirklich etwas gelungen: Er hatte die drei großen Säulen westlichen Kulturerbes, Antike, Judentum und Christentum, in der neuen Form von einer Art Prosaepos erneuert, in welchem der Ich-Erzähler vorwiegend die judäo-christliche Tradition, Alexis Sorbas aber die antike vertritt. Dazu paßt es sehr gut, daß im Verlauf seiner eigenen inneren Entwicklung der Ich-Erzähler seine Verehrung Buddhas überwindet. Aus diesem Grund hörte seine Arbeit an Buddha auf, ein literarisches Spiel zu sein und wird zu einem Kampf auf Leben und Tod gegen die beängstigende Macht der Zerstörung in ihm selbst. Von der Entscheidung dieses Kampfes hing das Heil seiner Seele ab. Zuletzt erscheint ihm Buddha als der letzte Mensch in der Entwicklung, während er selbst und Sorbas am Beginn stehen: „Wir haben noch nicht gegessen, getrunken, sattsam geliebt, wir haben überhaupt noch nicht gelebt! Dieser schwierige, kurzatmige Greis ist zu früh erschienen.“ 9 heißt es und etwas später berichtet er: „Die Austreibung Buddhas ergoß sich ungehindert auf dem Papier.“ 10 Dabei geht es ihm nicht um die äußerlichen Details der Exoterik - die freilich ihre Funktion in der Erhaltung alter Geistestradition haben kann, aber nicht haben muß. Das zeigt sich drastisch an dem Beispiel, als Alexis Sorbas in einer Art Raserei gegen Betrug, Lüge und Heuchelei einen Mönch anstiftet, sein Kloster, in dem nicht nur betrogen und geheuchelt, sondern sogar gemordet wird, in Brand zu setzen. Es geht ihm vielmehr um das innere Wesen abendländischer Geistigkeit, die wirkliche Antike, den wahren Christus. Bezeichnend dafür ist eine Stelle, an welcher der Ich-Erzähler beschreibt, wie er abends am 8 Alexis Sorbas, op. cit., S. 284. 9 Alexis Sorbas, op. cit., S. 128. 10 Alexis Sorbas, op. cit., S. 147. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 230 Strand auf dem Rücken liegend die Sterne betrachtet und verfolgt, wie sich die Sternbilder langsam drehten. Da entsinnt er sich des Ausspruchs eines alten Kaiser-Philosophen: „Betrachte den Gang der Sterne, als ob du mit ihnen kreisest …“ und er schreibt: „Dieser Ausspruch des Marcus Aurelius erfüllte tief harmonisch mein Herz.“ Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als folge der Roman Griechische Passion 11 unmittelbar auf Alexis Sorbas, denn 1948, in dem Jahr, in dem Alexis Sorbas von englischen, amerikanischen, schwedischen und tschechischen Verlegern angenommen wurde - Kazantzakis war zunächst in großen Teilen der Welt bekannter als in seiner eigenen griechischen Heimat - schrieb er innerhalb von drei Monaten in einem Zug die erste Fassung der Griechischen Passion. Tatsächlich hatte er aber die erste Fassung von Alexis Sorbas, die den Titel Das heilige Leben des Zorbas getragen hatte, bereits 1941 nach der Invasion Griechenlands durch die Deutschen begonnen. Jedoch von der behandelten Thematik her liegt sehr viel mehr zwischen den beiden Romanen. Der wirkliche Sorbas, das Urbild des Romanhelden, hatte dem Autor bereits 1917 geholfen, ein Bergwerksunternehmen in Schwung zu bringen. Zusammen mit dem Freund von Kazantzakis Stavridakis war er sodann Mitglied der Kommission gewesen, die Kazantzakis selbst im Auftrag des Ministerpräsidenten Venizélos geleitet hatte, um die Pontos-Griechen zu repatriieren und Vorfälle beim Versuch der Wiedereingliederung dieser aus Rußland geflohenen Griechen lieferten den Stoff zum Thema des Romans Griechische Passion. Es mögen nicht zuletzt die unendlich bitteren menschlichen Enttäuschungen gewesen sein, die den stolzen Kreter seinen griechischen Patriotismus vergessen ließen, so daß er nicht nur vorübergehend an die Sowjetunion glaubte, sondern in der letzten Fassung seines Odyssee-Epos das ganz alte, heruntergekommene, faule Europa - er hatte Faschisten und Bolschewisten schließlich als politische Arbeitsgenossen erkannt-- aufgab, hinter sich ließ und vorübergehend auf Afrika setzte. 12 Später hatte allerdings die deutsche Besetzung zu einem weit verbreiteten Wunsch nach einem erneuerten, verstärkten und veredelten Griechentum beigetragen und er hatte sich wohl auf sein eigenes „Glaubensbekenntnis“ aus dem Jahr 1925 zurückbesonnen 13 , in dem er es als seine Aufgabe angesehen hatte, Religion, Familie und dem Land einen höheren und tieferen Inhalt zu verleihen. Ja, es ging ihm darum, eine höhere Moral zu schaffen, der Welt Gerechtigkeit zu bringen und den Begriffen von Tugend, Ehre und Menschheit eine tiefere Bedeutung zu geben. Darum geht es in seiner Griechischen Passion, in der er dem reinen Lippenbekenntnis, ja der Heuchelei des griechischen Popen eines 11 Nikos Kazantzakis: Griechische Passion. Berlin 1951. 12 Peter Bien gebraucht in seinem Buch: Kazantzakis. Politic of the Spirit, Princeton 1989, das Wort „fellow workers“. 13 Abgedruckt bei Peter Bien, op. cit., S. 90-92. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 231 anatolischen Dorfes das wahrhafte, zutiefst empfundene Christentum einiger Männer des Dorfes gegenüberstellt, die als Darsteller von Christus und drei Aposteln für das alle sieben Jahre zu Ostern stattfindende Mysterienspiel ausgewählt worden waren. Die Ankunft einer verhungerten, heruntergekommenen Gemeinde von vertriebenen griechischen Christen - im Fall des Romans nicht von den Sowjets, sondern von den türkischen Moslems in Anatolien vertrieben - die hofft, in dem reichen Dorf endlich aufgenommen zu werden, löst die Dynamik der Handlung aus. Der halb verhungerte Priester, der die vertriebene Gemeinde führt, erweist sich als wahrhafter Christ und der als Darsteller von Christus in Aussicht genommene Manolios nimmt zuletzt wie der historische Christus bewußt den Märtyrertod auf sich. In seiner psychologisch meisterhaft durchgeführten Darstellung zeigt Kazantzakis, wie alle wichtigen Gestalten der christlichen Osterpassion ihre modernen Entsprechungen in den Bürgern des Dorfes Likovrisi finden. Der Priester des Dorfes, Grigoris, entpuppt sich als Pharisäer, die Witwe Katarina zu einer Maria Magdalena, der „Gipsesser“ Panagiotaros zu einem Judas. Wie aber die alten Christen in Palästina den römischen Prokonsul Pilatus hatten, so besitzt das griechische Dorf in Anatolien einen türkischen Aga als obersten Herrn, der ganz wie Pilatus zuletzt seine Hände in Unschuld wäscht und Manolios seinem Märtyrertod ausliefert. Die Flüchtlingsgruppe unter Führung ihres Priesters Fotis löst in den griechischen Bauern des reichen Dorfes jene Dynamik aus, die sie genau in der Osterwoche mit der Passion Christi im wahrsten Sinne des Wortes blutigen Ernst machen läßt. Die Flüchtlingsgruppe aus dem geplünderten und zerstörten Dorf aber gewinnt sinnbildlich weltweiten Charakter in einer Zeit wie der unseren, in welcher das Flüchtlingsschicksal zu einem der brennendsten Weltprobleme geworden ist. Es ist ebenso bestürzend wie bezeichnend, wie Kazantzakis mit messerscharfer Folgerichtigkeit dargestellt hat, auf welche Weise der Priester wie die Gemeindeältesten des Dorfes Likovrisi die übelsten Lügen und Verleumdungen ersinnen und verbreiten, die, obwohl sie ganz offenkundig leere Phrasen sind, auf die Bauern des Dorfes überzeugend wirken. Der türkische Aga jedoch, der trotz unendlich vieler Schwächen als ein im Grund anständiger Mensch geschildert ist, durchschaut zwar die Lügen, gibt aber schließlich dem Druck nach - ganz wie Pilatus. Kazantzakis aber hat seine Botschaft nicht nur dem Darsteller Christi Manolios in den Mund gelegt, sondern nicht weniger dem abgemagerten und zerlumpten Priester der Gemeinde der Flüchtlinge, der vor den zuständigen Bischof ohne Schuhe tritt, weil er keine besitzt, und der von diesem abgewiesen wird. Einmal erklärt dieser Priester Fotis dem Manolios: „In dem geringsten kleinen Stein, in der anspruchslosesten kleinen Blume und in der dunkelsten Seele ist Gott. Laßt uns aus diesem kleinen Dorf diesen Bienenstock machen, Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 232 was wir können, daß er arbeitsam und segenbringend von Gottesfurcht strahlt. So wie wir es wünschen, daß die ganze Welt werden soll. Denn du weißt, auch in der entlegensten Wüste hat eine gute Tat ihre Weiterwirkung auf die ganze Welt.“ 14 Als aber Manolios diesen wahren Priester fragt: „Wie sollen wir Gott lieben? “, da gibt dieser die Antwort, die der Autor als Motto vor den ganzen Roman gesetzt hat: „Indem wir die Menschen lieben, mein Junge.“ „Und wie sollen wir die Menschen lieben? “ „Indem wir sie auf den rechten Weg führen.“ „Und welcher Weg ist der rechte Weg? “ „Der Weg empor.“ 15 Manolios versucht diesen Weg mit eiserner Konsequenz zu gehen und als er erkennt, daß es Kampf kosten wird, den Verhungernden der Flüchtlingsgruppe zu ihrem Recht gegenüber den egoistisch verstockten Dorfbewohnern zu verhelfen, da wendet er sich wieder an den Priester Fotis mit der Frage: „Lohnt es die Mühe, so viel Zeit an das Irdische zu vergeuden? “ Der Priester aber antwortet: „Ja, es lohnt! “ Und er erklärt: „Einmal habe auch ich gesagt: Weshalb kämpfe ich um das Irdische? Ich bin ein Flüchtling aus dem Himmel und habe es eilig, in mein Vaterland zurückzukehren. Doch allmählich begriff ich, daß keiner in den Himmel zu gelangen vermag, der nicht erst die Erde bezwungen hat. Und keiner vermag die Erde zu bezwingen, der nicht tapfer, zäh und ohne Zugeständnisse mit ihr kämpft. Nur auf der Erde kann der Mensch zum Sprung ansetzen, um in den Himmel zu gelangen.“ Alle die Grigoris - der schlechte Priester des Dorfes - und Ladas - der größte Geizhals und Wucherer des Dorfes - all die Agas - der zwar nicht sadistische, aber faule, versoffene und gleichgültige Herr des Dorfes - sind Kräfte des Bösen, „die zu bekämpfen, unser Schicksal geworden ist. Wenn wir die Waffen niederlegen, sind wir hier auf der Erde wie oben im Himmel verloren.“ 16 Manolios geht diesen Weg und erleidet den Märtyrertod. Gerade am Ostertag, als die Glocke zum Hochamt geläutet wird, um die Auferstehung Christi zu verkünden, murmelt Fotis im Angesicht der Leiche des einfachen Hirten Manolios: „Vergebens, Christus, vergebens! … Nun sind fast zweitausend Jahre vergangen und immer noch … immer noch kreuzigen sie Dich. Wann wirst Du geboren werden, Christus, um nicht mehr gekreuzigt zu werden, um ewig unter uns zu leben? “ 17 Kazantzakis hat einen Roman geschrieben, in dem oberflächlich betrachtet, der Kampf der Guten gegen die Bösen verloren wurde. Der Aga hatte heimlich einen Boten in die Stadt geschickt, um Infanterie und Reiter für das Dorf an- 14 Griechische Passion, op. cit., S. 325. 15 Griechische Passion, op. cit., S. 326. 16 Griechische Passion, op. cit., S. 378 f. Den esoterischen Kenntnissen von Kazantzakis ist es zuzutrauen, daß er die „Tabula Smaragdina“ kennt, deren Wortlaut der Priester hier leicht variiert. 17 Griechische Passion, op. cit., S. 456. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 233 zufordern, da er schließlich den Verleumdungen der griechischen Gegner der Flüchtlingsgruppe Glauben schenkt, die ihm sagen, der Priester Fotis wäre ein Bolschewik, der gekommen sei, ihn zu ermorden. Da aber der Kampf verloren ging, bleibt der Flüchtlingsgruppe keine andere Wahl, als weiterzuziehen. Vor dem Grab des Manolios singen sie noch: Des Jünglings Name ward in den Schnee geschrieben, die Sonne kam, zu Wasser schmolz der Schnee, zerronnen ist der Name. Der Priester Fotis hob die Hand: „In Gottes Namen! Jetzt beginnt unsere Wanderung von neuem. Frischen Mut, meine Kinder! “ 18 Obwohl dies ein trostloses Ende zu sein scheint, ist zu Recht erklärt worden, daß die Wiederkreuzigung die entscheidende Antwort des Autors auf die Frage der Gerechtigkeit ist. Der wahre Christ wird immer wieder bereit sein, Opfer zu bringen, ja sich kreuzigen zu lassen. Im Sinne von Kazantzakis ist der Tod des Manolios keine Niederlage, sondern ein Sieg, ja im Sinn des großen alten griechischen Weisen Sokrates ein glänzender Sieg der Tugend. Die Entwicklung von Kazantzakis von einer objektiven zu einer subjektiven Gerechtigkeitsauffassung aber bedeutet „den Aufstieg von der Ebene der Eudämonismus zu derjenigen der Selbstentsagung.“ Gemeint damit ist im Grunde vollständige Ich- Überwindung und das bedeutet letzte Freiheit. 19 Ein amerikanischer Kritiker erblickte in der Griechischen Passion die subtilste Umsetzung der Grundideen des Lehrers von Kazantzakis Henri Bergson in die Fabel eines Romans. Demnach ist diese Fabel so angelegt, daß zwei gegenläufige Strömungen aufeinandertreffen: die Flüchtlingsgruppe, ständig in Bewegung, repräsentiert die aufwärts strebende Lebenskraft, die Dorfbevölkerung die Abwärtsentwicklung in Richtung von Stabilität und Unveränderlichkeit. Auch hier wird der Tod von Manolios als letzte Krönung seines Lebens gesehen, da alles Materielle an ihm abgestreift und in die unmittelbare Lebenskraft umgesetzt wird. Obwohl diese Ansicht durchaus richtig ist, wäre nichts falscher, als den Roman völlig auf eine solche abstrakte Idee zu reduzieren und anzunehmen, daß man ihn damit ganz erfaßt hätte. Die künstlerische Größe liegt in der Handlungsführung in Verbindung mit den lebendig dargestellten Charakteren und überdies verbunden mit den zur Geltung gebrachten Ideen im einzelnen. Manolios, der Held des Romans, der wieder gekreuzigte Christus, steht aber in einer Reihe sowohl mit anderen Charakteren, die Kazantzakis geschaffen hat, 18 Griechische Passion, op. cit., S. 459. 19 Pavlos Tzermias: Nikos Kazantzakis und die Gerechtigkeit. Zürich - Stuttgart 1963, S. 24. Des Nikos Kazantzakis Weg zur Vergeistigung 234 wie Nikoforos Fokás, Kapodístrios, Kapétan Mihális und Vater Yánoros wie auch von geistigen Leitbildern seines Lebens wie Sokrates, Christus und Franz von Assisi. In allen Fällen wird ein frei gewählter Tod zur einzigen Lösung, vom Übergangszustand eines zeitlich begrenzten Lebens weg zum Höhepunkt einer letzten Vergeistigung und Freiheit hin. Kazantzakis hat sich durch seine Kompromißlosigkeit sowie seinem unbedingten Wahrheits- und Gerechtigkeitsstreben viele Gegner gemacht. Seine Romane waren auf der Welt verbreitet, ehe sie in seiner griechischen Heimat Anerkennung fanden. Ausgerechnet sein Roman Die letzte Versuchung Christi wurde vom Papst auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Sein pirandelloartiges Stück Othello kehrt zurück ist sein ganzes Leben unbekannt geblieben. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Es war in Spanien, wo Kazantzakis zum ersten Mal im Jahr 1933 Verse über seinen „General“, den in Spanien berühmtesten Griechen, den großen Maler El Greco geschrieben hat. Es war der Samen zu seinem letzten Werk, seiner „spirituellen Autobiographie“, die eigentlich keine Autobiographie im engeren Sinn darstellt, obwohl die einzelnen berichteten Begebenheiten für sich authentisch und richtig sind. Im Epilog des Buches hat er ein Gespräch mit der zwar traumhaften, doch sehr wirklich wirkenden Erscheinung des Malers, den er hier als „Großvater“ anspricht. Dieser verdeutlicht ihm Sinn und Bedeutung der abschließenden vollständigen Vergeistigung seiner, des Kazantzakis Helden. Als Maler bedient er sich natürlich malerischer Begriffe: „Sie malen“, erklärt er, „den heiligen Geist, wie er auf die Aposteln herab kommt, in der Form einer Taube. Was für eine Schande! Haben sie denn niemals gefühlt, wie der heilige Geist sie brennt? Wo haben sie ihren unschuldigen, eßbaren Vogel gefunden? Wie können sie ihn uns als Geist vorstellen? Nein, der heilige Geist ist keine Taube, er ist Feuer, ein Menschen verschlingendes Feuer, das seine Krallen in die Kronen der Heiligen, der Märtyrer und der großen inneren Kämpfer krallt und der sie in Asche verwandelt.“ 20 Viele der Romanhelden von Kazantzakis von Alexis Sorbas über seinen Odysseus bis zu Manolios sind von solchem Feuer des Geistes lichterloh in Brand gesetzt worden und wie hätte er sie so packend schildern können, wäre er nicht tief innen selbst in Flammen gestanden. 20 Nikos Kazantzakis: Report to Greco. London 1973, S. 508. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten Auch die große Erzählerin und Frühvertreterin der Schwedischen Moderne 1 Selma Lagerlöf hat ihre Bestimmung als Schriftstellerin bereits in den allerersten einsamen Kindheitsjahren erfahren. Nicht nur ist der Kern ihres autobiographischen Werkes, sind die drei Bände Mårbacka, Aus meinen Kindertagen und Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf keine übliche Darstellung der eigenen Lebensgeschichte, sondern fußen auf Erzählungen aus ihrer Kindheit, welche die Hintergründe ihrer Werke erhellen sollen. Sie selbst hat jedenfalls mit Nachdruck folgendes erklärt: Als ihre spätere Freundin Valborg Olander sie um ihre großen Erfolge beneidete, da fragte sie diese: „Wie würdest du eine Schwäche ertragen wollen, die andauernd in deinem Bewußtsein ist? “ Als daraufhin Tränen in Valborgs Augen erschienen, fuhr Selma fort: „Oh nein! Ich sollte wirklich dankbar dafür sein. Es ist jene Unfähigkeit, die mich geprägt hat, still zu sitzen und in mich selbst zu schauen, und das ist der Grund, weshalb ich eine Autorin wurde. Wäre ich gesund gewesen wie alle anderen, ich wäre wahrscheinlich die Frau eines Betriebsmanagers geworden.“ 2 Die ungewöhnliche Schwäche hatte darin bestanden, daß sie als Folge einer Krankheit an beiden Beinen vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr gelähmt gewesen und darum an das Bett gefesselt worden war. Den Segen in dieser Einsamkeit hatte die Großmutter väterlicherseits ausgemacht, eine wahre Märchen-Großmutter. Sie starb als Selma fünf Jahre alt war, aber da hatte sie bereits durch ihre Sprachgewalt und ihre Fülle an Geschichten, auch solchen von übernatürlichen Begebenheiten, die Phantasie der kleinen Selma in einer Weise angeregt und entwickelt, daß es kein zurück mehr gab. Der erste Band der Autobiographien trägt den Titel Mårbacka, das ist der Name des Gutes in der heutigen Gemeinde Sunne in Värmland, Südschweden, auf dem Selma Lagerlöf am 20. November 1858 geboren wurde und das sie sehr geliebt hat. Das Gut mußte 1890, als Selma Lagerlöf bereits weggezogen war, verkauft werden, doch gelang es ihr, ihr Mårbacka 1908 zurückzukaufen und 1914 sogar das Land zu verdoppeln. Schließlich ließ sie das Hauptgebäude 1921-1923 zu einem repräsentativen Herrenhaus umbauen und wohnte von da an bis zu ihrem Tod wieder in Mårbacka. 1 Vgl. Annegret Heitmann: Die Moderne im Durchbruch. In: Jürg Glauser (Hg.): Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart 2006. 2 Zitiert nach F. S. De Vrieze: Fact and Fiction in the Autobiographical Works of Selma Lagerlöf. Assen, Niederlande 1958, S. 36, FN 1. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 236 Schon als junges Mädchen interessierte sich Selma Lagerlöf sehr für die Sagen, Märchen, Mythen und Geschichten ihrer Heimat, die ihr zunächst von ihrer Großmutter und später von ihrem Vater erzählt worden waren. Sehr früh begann sie auch bereits selbst zu lesen und sie führte selbst geschriebene Puppenspiele auf dem Dachboden auf. Lagerlöf begann in Mårbacka ihre Kindheit vom vierten Lebensjahr an zu beschreiben. Dabei schrieb sie nicht in der Ich-Fom, sondern in der dritten Person, wahrscheinlich um den Eindruck einer distanzierteren Objektivität zu erwecken. Mit Sicherheit aber hat sie darum mit der Kindheit der Vierjährigen begonnen, weil sie wohl zu Recht zutiefst davon überzeugt war, daß bereits in dieser frühen Phase der allererste Beginn und frühe Einstieg zu ihrer Schriftstellerlaufbahn zu suchen war. Der erste Band der drei Autobiographien befaßt sich vor allem mit dem Gut Mårbacka, mit seinen einzelnen Gebäuden und mit seiner Geschichte von einer frühen Sennhütte über ein Farmhaus und den Sitz eines Vikars bis zu einem Landhaus. Vor allem aber unterläßt es die Autorin nicht, die Wichtigkeit und Dankbarkeit zu unterstreichen, die ihrer Großmutter zukommen. Dies geht weit über deren Tod hinaus und führte zu einer Gedichtstrophe, die frei übersetzt lautet: Meine alte Oma, die tot und gegangen ist, sitzt an meiner Seite und nimmt die Geschichte auf, jedes Mal, wenn mich mein Gedächtnis verläßt. Ich brauche nicht die Worte und Gedanken zu wählen, meine Oma tut es, die tot und gegangen ist. 3 Daneben besaß Selma Lagerlöf auch eine ungewöhnlich starke Vaterbindung, was mitunter zu einem jähen Wechsel von besonders inniger Liebe zu starrem Widerstand gegen den Vater führte. Während der Vater, ein pensionierter Offizier, alle Mädchen zu Hause privat erzogen haben wollte, ging Selma gegen seinen Willen 1881 nach Stockholm und besuchte zunächst ein Mädchengymnasium und anschließend das königliche Lehrerinnenseminar. Von 1885-1895 war sie Volksschullehrerin in Landskrona. Während dieser Zeit schrieb sie ihren ersten Roman, Die Saga von Gösta Berling, sandte einige Kapitel zu einem literarischen Wettbewerb der Zeitschrift Iduna und gewann einen Preis und einen Verlagsvertrag für das ganze Buch. Das Buch war zunächst ein Mißerfolg. Erst nachdem Georg Brandes eine sehr positive Besprechung der dänischen Übersetzung veröffentlicht hatte, wurde es auch in Schweden ein Riesenerfolg. Nun war es ihr möglich, durch ein Stipendium des Königs Oskar und finanzielle Unterstützung durch die Schwedische Akademie ganz als freie Schriftstellerin zu leben. 3 Zitiert nach F. S. De Vrieze, op. cit., S. 39. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 237 Ursprünglich wollte Selma Lagerlöf vor allem ihre värmländische Heimat und deren Menschen darstellen und durch Jahrzehnte wurde sie als värmländische Heimatdichterin abgestempelt. Obwohl es für eine Reihe von ihren Werken zutrifft, daß sie Värmland gelten, so gibt es doch eine ganze Reihe anderer Werke, die eine weitaus breitere Thematik behandelt haben. Die freie Schriftstellerin ist ja überhaupt aus Värmland weg nach Falun in Dälarma übersiedelt, weil dessen Landschaft als das Zentrum schwedischer Überlieferung und Volkskultur galt. Wie es auch zu einschränkend ist, sie in Leben wie Werk allein als Vertreterin der Rechte der Frauen zu sehen, obwohl sie dies überaus radikal, konsequent, überzeugend und in besonders weitgehender Weise auch gewesen ist. Sie hat sich jedoch auch überdies zur Sprecherin der Tiere und besonders der wilden Tiere gemacht, die selbst keine menschliche Stimme erheben konnten. Bereits 1894 war Lagerlöf der Schriftstellerin Sophie Elkan begegnet, die ihre lebenslange Begleiterin werden sollte und zwar auch auf Reisen. Einer ausgedehnten Reise nach dem Süden, vor allem durch Sizilien, folgte eine weitere nach Ägypten und Palästina. Die Erfahrungen dieser zweiten Reise waren wichtig für ihre Arbeit an jenem Roman, der ihren wirklichen Durchbruch als Schriftstellerin und ihren eigenen Stil bescheren sollte und der den Titel Jerusalem trug. Die äußere Anregung dafür lieferte der Umstand, daß in Lagerlöfs unmittelbarer Nachbarschaft, in der Gemeinde Nås bei Falun 1896 eine Gruppe von Bauern infolge einer religiösen „Erweckung“ nach Jerusalem ausgewandert war, um sich dort einer amerikanischen Sekte anzuschließen. Auf ihrer Reise nach Palästina hatte sie mit etlichen der ausgewanderten schwedischen Bauern sprechen können. Bereits der erste der beiden Bände des Romans war sofort bei seinem Erscheinen ein ungewöhnlicher Erfolg sowohl bei den Lesern als auch bei der Kritik. Später war es nicht zuletzt dieser Roman, an dessen Beispiel die Literaturwissenschaft die anspruchsvolle Ganzheit des epischen Aufbaus und des Zusammenfügens der einzelnen Kapitel einsichtig machen konnte. Dadurch wurde der lang und immer wieder geäußerte Vorwurf völlig entkräftet, wonach Lagerlöf nur eine unbedeutende „Märchentante“ wäre. Dabei war ihr Stil nach Gösta Berling von denkbar größter Einfachheit. Man hat ihn eine lakonische, schlichte, an die alte isländische Saga gemahnende Schreibart genannt. Er war das Ergebnis bewußter künstlerischer Anstrengung und aus guten Gründen hatte die Autorin einmal geklagt, es strenge an, einfach zu sein. Der Roman Jerusalem behandelt im Grunde das Thema, wonach eine alte, geschlossene und orthodoxe Ordnung zumindest in einem wichtigen Punkt die unverzeihliche Schwäche zeigt, warme, lebendige Menschlichkeit zu verhindern, wodurch Kritik und Reform notwendig werden. Dieser eine Punkt, den Lagerlöf bei ihrem ersten bewegenden Beispiel herausgreift, stellt ein Problem dar, das Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 238 für sie von besonderer Wichtigkeit ist, nämlich das Problem der Verachtung der Frau und die große alte Ordnung, die in so vielen anderen Punkten funktioniert, ist die orthodoxe protestantische schwedische Staatskirche, die im Roman zu der Erweckungsbewegung einer neuen Sektegründung führt, der es um die Rückkehr zu einer Art Urchristentum geht. Lagerlöf weiß, daß es zunächst um einen individuellen Einzelfall als lebendiges Beispiel einer Unmenschlichkeit ankommt. Sie beschreibt, wie eine junge Frau, Brita, entgegen ihrem Willen von dem werbenden Liebhaber wie von den eigenen Eltern im Lauf längerer Unterdrückung und einer Kette von Demütigungen gezwungen wird, der Heirat mit dem Besitzer des weitaus größten und schönsten Hofes, des Ingmarshofes, zuzustimmen, so daß sie sogar noch vor der Hochzeit hinunter in den Ingmarshof zieht. Da aber die Ernte schlecht ist und der Bräutigam nicht wie geplant, den Hof streichen lassen kann, schiebt er die Hochzeit auf, ohne mit der zu dieser Hochzeit völlig unwichtigen Person, nämlich der Braut auch nur darüber zu sprechen. So wird das erste Kind geboren, ehe noch die Ehe geschlossen ist und auf diese letzte Demütigung nach einer langen Kette von anderen reagiert die Braut mit einer Kurzschlußhandlung und ermordet das neugeborene Baby. Der festgefügten und gut funktionierenden Ordnung der Staatskirche entsprechend ist sie die einzige Schuldige und eine durch und durch verworfene Person. So sehen es alle bis auf den Bräutigam Ingmar, der durch den Schock des Kindesmordes plötzlich aufgeschreckt wird und nachzudenken beginnt, was dazu führt, daß er bei der Gerichtsverhandlung versucht, alle Schuld auf sich zu nehmen. Das führt wiederum dazu, daß während seiner Aussage der häßliche Bräutigam Brita plötzlich schön erscheint und sie ihn im Gefängnis wirklich zu lieben beginnt. Obwohl die eigene Familie sorgfältige Vorbereitungen getroffen hatte, den „Schandfleck“ der Familie, Brita, sofort nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis nach Amerika abzuschieben, holt sie der Bräutigam Ingmar vom Gefängnis ab und fährt über den Umweg zum sonntäglichen Kirchgang mit ihr nach Hause. Obwohl sämtliche Kirchgänger von ihr abrücken und sie verbannen möchten, ist es gerade der Pfarrer, der eine wirklich christliche Haltung an den Tag legt. Dazu kommt neben der für Lagerlöf bezeichnenden Art der Unterdrückung der Frau noch eine nicht weniger für sie charakteristische Erklärung der Fabel durch „übernatürliche“ Einflüsse. Der trockene und einfallslose Ingmar, der alles andere eher vermag als vor Phantasie überzusprudeln, hat plötzlich beim Ackern Visionen, wie er seinen hoch angesehenen toten Vater im Kreis der anderen toten Vorfahren im Himmel besucht, und ihn um Rat in jener so unglücklich verstrickten Lage bittet. Sowohl die direkten Worte, wie die indirekten „Zeichen“, die der Vater zu schicken scheint, werden von Ingmar so interpretiert, daß er die Ehe vollziehen soll. Das Einverständnis des Himmels ist jedenfalls weitaus größer als jenes sämtlicher Kirchgänger des Dorfes. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 239 Den äußeren Anstoß für die Geschichte hatte eine Zeitungsnotiz gegeben, in der gemeldet worden war, daß ein Mann seine Verlobte vom Gefängnis abgeholt hatte, obwohl diese das gemeinsame, neugeborene Kind getötet hatte. Das Motiv der Versöhnung lag Lagerlöf ganz besonders am Herzen und je unwahrscheinlicher und drastischer es sich manifestierte, umso lieber war es ihr. Nun ist es nach solcher Eingangshandlung völlig klar, daß es in der großen alten Ordnung der Kirche einzelne Punkte einer falschen Scheinordnung gab, die Unmenschlichkeiten nicht nur zuließen, sondern geradezu herausforderten. So ist es nur allzu verständlich, daß es nun plötzlich eine ganze Reihe von Predigern außerhalb der Kirche gab. Was die Größe, den Glanz, vor allem aber die abgelegene Einsamkeit des Ingmarshofes betrifft, so ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß die Beschreibung des Hofes keine oberflächliche naturalistische Darstellung bietet, da die schwedischen Großbauern bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht auf großen, einsamen Höfen gelebt hatten, sondern in Dörfern. Es geht daher eher um eine ins Mythische gesteigerte symbolische Darstellung des schwedischen Bauerntums, dessen eigenständige Unabhängigkeit und dessen Stolz beschrieben werden sollten, wobei Lagerlöfs Herkunft von einem „Herrenhof“ (nicht Bauernhof ) in einsamer Lage die Darstellungsart erklären könnte. Nachdem Ingmarstochter Karin eine der starken Frauengestalten, wie sie Lagerlöf besonders liebte, und die die Herrin des einmalig großen und prächtigen Ingmarshofes in späterer Zeit war, aus psychosomatischen Gründen bereits als Erwachsene an beiden Beinen gelähmt und an das Bett gefesselt worden war, da besucht sie nicht nur den besonders populären Prediger Dagson in Storms Missionshaus, sondern auch alle anderen Prediger, die vorbeikamen und sie ließ auch die Heilsarmee nicht aus, bis sie endlich aufgab und keinen Prediger mehr sehen wollte. Das schloß auch einen Schweden namens Hellgun aus, der in Chicago die Tochter von Stark-Ingmar geheiratet hatte und der nun mit seiner Frau im Dorf war, um den Schwiegervater zu besuchen. Hellgun war ein paar Mal bei Gebetsversammlungen aufgetreten und hatte seine eigene Lehre erläutert, die er das einzige und wahre Christentum nannte, doch besaß er nicht die Rednergabe Dagsons und hatte nur wenige Anhänger gefunden. Einmal, als Ingmarstochter Karin erwachte, hörte sie jemand unter ihrem Fenster im Hof sprechen, und sie erkannte, daß es ein Gespräch zwischen ihrem Gatten Halvor und Hellgun war. Hellgun erklärte Halvor, daß es dem Teufel gelungen sei, einen Satz aus der christlichen Lehre zu entfernen und daß gerade an diesem Satz alles gelegen sei. Es war der Satz: „Ihr, die ein christliches Leben führen wollt, sollt Hilfe bei euren Mitmenschen suchen.“ Karin hatte aufmerksam zugehört und zustimmend genickt. Als Hellgun aber später mit ihr spricht, und ihr erklärt, seine Gemeinde stelle das wahre, neue Jerusalem dar, das vom Himmel hernieder gekommen ist, da scheiden sie in Unfrieden, nicht ohne daß Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 240 Hellgun ihr eine baldige Wunderheilung prophezeit hätte. Diese Heilung tritt auch prompt darauf ein. Bald danach laden Halvor und seine Frau Karin Hellgun und dessen Frau ein, auf den Ingmarshof zu kommen. In der großen Stube erwarten sie viele Menschen und am folgenden Tag macht im ganzen Kirchspiel die Neuigkeit die Runde, auf dem Ingmarshof sei eine neue Sekte gegründet worden, die das einzig rechte und wahre Christentum zu besitzen vorgäbe. Die spannend geschilderte Naturkatastrophe eines nächtlichen Organs, der von vielen Dörflern bei der Tanzunterhaltung in der Hütte von Stark-Ingmar als „wilde Jagd“ und als das Sichtbarwerden des Bösen empfunden wird, schafft zugleich die Voraussetzung, daß es zu Zwietracht und Streit zwischen den Christen der alten Ordnung der Kirche und den neu erweckten Sektierern kommt, obwohl es ihnen doch beiden gleicherweise um die Botschaft Christi zu tun ist. Eingeschoben wird sodann aus notwendigen inneren Gründen die Geschichte des Untergangs des Schiffes „L’Univers“, bei dem die Amerikanerin Mrs. Gordon ihre beiden Kinder verliert, jedoch gleichsam durch ein Wunder ihr eigenes Leben rettet und mit ihm die Botschaft Gottes, daß alles auf Eintracht ankomme. Neue Zusammenstöße und Zwietracht schafft die Auktion des Ingmarshofes, durch die nicht zuletzt die Mittel für die Überfahrt der Sekte nach Jerusalem erworben werden sollen. Ingmarstochter Karin und ihr Gatte Halvor machen viel Unangenehmes mit, bis sich als letzte Überraschungslösung herausstellt, daß ein anderer Ingmarsson, dadurch daß er seine Braut verriet und sitzen ließ, wodurch er eine reiche Frau heiraten konnte, plötzlich genug Geld besaß, um den Hof ersteigern zu können, so daß er weiter ein „Ingmarshof “ blieb. Inzwischen wurden die Vorbereitungen für die Abfahrt der neu „erweckten“ Christen getroffen, die ihre Lehre nicht durch Predigten in Kirchen oder auf Marktplätzen, sondern durch ihr Leben verkünden wollen. Die Jerusalemfahrer aus der Nähe von Falun in Schweden hatten Verbindung mit parallelen schwedischen Sektenmitgliedern in Chicago aufgenommen, die sie einluden, sich ihnen bei der Fahrt nach Jerusalem anzuschließen. Halvor, der den Brief mit der Einladung verlas, schloß im Sinne Hellguns mit der Aufforderung, nun mögen alle still in sich lauschen, ob sie Gottes Stimme vernehmen würden, der sie aufriefe zu fahren. Im Kontrast zu dem hochschlagenden religiösen Idealismus der Jerusalemfahrer gab es auch einige böse Vorzeichen. So tauchte etwa eine alte, einsam lebende Propst-Witwe auf und warnte sie, in die böse Stadt Jerusalem zu ziehen, wo sie „unseren Erlöser“ gekreuzigt hatten. Noch weit eindringlicher ist der Protest der Kinder, die sich während des Aufenthalts auf dem Abfahrbahnhof selbständig machten und wieder zurückgehen wollten. Sie brachen auch tatsächlich in Zweierreihen auf, wurden aber eingeholt und als sie einer der Männer fragte: Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 241 „Aber Kinder, wo wollt ihr denn hin? “ da antwortete der älteste Junge: „Wir wollen nicht nach Jerusalem. Wir wollen nach Hause.“ Wie der erste Band des Romans mit einer Art Einführung in das schwedische Bauerntum und die schwedische Kirche durch eine eingehende Darstellung der Ingmarsöhne und des Ingmarshofes beginnt, so steht am Beginn des zweiten Bandes, der in Jerusalem spielt, wie die oberste Leiterin der Sekte, Mrs. Gordon, in einer schlaflosen Nacht, in der sie das Haus verließ, einem gespenstischen Dialog zwischen dem heiligen islamischen Felsen und dem heiligen christlichen Grab auf dem Tempelberg lauschte. Dieser Dialog entwickelt sich nur allzu rasch zu einem unwürdigen Streit darüber, welcher der beiden Orte der ältere, berühmtere und heiligere sei und dies gibt der entsetzten Mrs. Gordon Einblick in eine in Jerusalem durchaus weit verbreitete „Geistigkeit“. Sie schreit zuletzt auf: „Was seid ihr für Heiligtümer? Ihr kämpft und streitet miteinander und durch euren Zwist kommt Unfrieden, Haß und Verfolgung in die Welt. Aber das letzte Gebot Gottes heißt Einigkeit! “ Hier endet der Streit, aber nicht, weil die beiden Heiligtümer auf Mrs. Gordon gehört hätten, sondern weil der Morgen anbricht. Noch weniger aber, als ein geschlossenes, orthodoxes System für alle Möglichkeiten reinen Menschentums und wahren Christentums Raum bieten kann, noch weniger ist es einer idealistischen Sekte möglich, in einer praktisch organisierten Welt, und schon gar in Jerusalem zu leben, ohne in die größten Schwierigkeiten zu kommen. Lagerlöf hat dies auf Grund ihrer Reiseerfahrungen durch ihren weisen Scharfblick nüchtern erkannt und hat deshalb vor allem über den westlichen Teil Jerusalems vor der Mauer folgendes Urteil abgegeben: „Hier ist es, wo der Katholik den Protestanten, der Methodist den Quäker, der Lutheraner den Reformierten, der Russe den Armenier verleumdet. Hier schleicht der Neid umher, hier verdächtigt der Schwärmer den Beschwörer, hier streitet der Rechtgläubige mit dem Ketzer, hier wird kein Erbarmen geübt, hier haßt man um Gottes höherer Ehre willen jeden Menschen.“ 4 Wenige Jahrzehnte später sollte Arthur Koestler in Jerusalem am unangenehmsten den orthodoxen Klerus aller lokalen Religionen finden, ohne Unterschied ob islamisch, christlich oder jüdisch. „Die geistige Erstarrung jeglicher Orthodoxie machte Jerusalem zu einer pharisäischen Stadt, erfüllt von Haß. Mißtrauen und falschen Reliquien. Die Stadt lieferte für ihn den Beweis für den Mißerfolg des Menschen, mit Gott ins Reine zu kommen.“ 5 Die Gordonisten, die ohne Geld dafür zu nehmen, sich um die Nöte aller Armen und Kranken ohne Unterschied der Herkunft annahmen und die einen Musterbetrieb menschlicher Hilfeleistung geschaffen hatten, wurden von allen 4 Selma Lagerlöf: Jerusalem. Berlin o. J., S. 272. 5 Joseph P. Strelka: Arthur Koestler. Tübingen 2006, S. 22. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 242 verleumdet und verfolgt: Von den Vertretern der schwedischen Staatskirche zu Hause, von der amerikanischen diplomatischen Vertretung, von all den vielfältigen Missionaren sämtlicher Religionen, die ihnen nachtrugen, daß es ihnen um praktische Hilfe ging und nicht um theoretisches Predigen und sogar von ihrem Hausherrn, dem islamischen Baram Pascha, der ihnen seinen Gouverneurspalast vermietet hatte und der von christlichen Vertretern gegen sie aufgehetzt worden war. Baram Pascha freilich ließ sich zuletzt von den Tatsachen überzeugen und wurde ein Freund. Einer der letzten spannenden Höhepunkte der Fabel entstand dadurch, daß plötzlich ein Plan entworfen wurde, wie man das gesamte Werk der Gordonisten zerstören und sie alle aus dem Land vertreiben könnte. Jener jüngere Ingmar Ingmarsson, der durch seine reiche Heirat den Ingmarshof erworben hatte, hielt sich gerade in Jerusalem auf, war zu einem Freund und Gast der Gordonisten geworden und hatte durch Zufall einige Brocken des Plans aufgeschnappt. Der Plan war vor allem darauf gegründet, daß sich die Leiterin der ganzen Sekte, Mrs. Gordon, vorübergehend in Jaffa aufhielt und in Jerusalem nicht anwesend war. Ingmar Ingmarsson fühlte sich als Retter berufen und machte sich am Abend zu Pferd auf den Weg nach Jaffa, um Mrs. Gordon zu warnen und zur raschesten Heimkehr zu bewegen. Doch das Pferd begann bald zu lahmen und er mußte den Weg zu Fuß fortsetzen. Er begann zu laufen, stürzte, verletzte sich das Knie und blieb hilflos am Rand der Straße liegen. Hier läßt Lagerlöf, ihrer Zeit voraus, Telepathie eingreifen. Plötzlich ging die Gestalt des Ingmar Ingmarsson langsam durch die Straße, die quer durch die deutsche Kolonie vor Jaffa führt und sie blieb vor dem Haus stehen, auf dessen Altan die schlaflose Mrs. Gordon auf die Straße hinunterblickte Die Traumgestalt sagte ihr, es sei dringlich, sofort nach Jerusalem zurückzukehren und sie folgte dem Rat. Als sie mit ihrem Wagen in eine Talsenke hinabfuhr, sah sie einen Mann am Wegrand sitzen und erkannte Ingmar Ingmarsson. Wie ist es möglich, daß er schon so weit gekommen ward, dachte sie. Und er erklärt es ihr: Er hätte sie holen wollen, sei aber gestürzt und mit seiner Knieverletzung die ganze Nacht hier gesessen. Als sie ihn fragte, ob er nicht bereits in der Nacht in Jaffa gewesen sein, bestätigt er: „Nicht in Wirklichkeit, wohl aber im Traum.“ Und nun berichtete er, was er vom Plan der Vernichtung der Gordonisten wußte, bei dem ein Amerikaner mit dem Namen Clifford eine Hauptrolle spielen sollte. Er fuhr mit Mrs. Gordon zurück nach Jerusalem und deren überraschende Ankunft vereitelte tatsächlich den bösen Plan. Clifford aber starb eines plötzlichen und unnatürlichen Todes. Ingmar Ingmarsson übernahm die Mühle von Baram Pascha und es begann mit seiner Hilfe eine zusätzliche Pionierarbeit vieler der schwedisch-amerikanischen Kolonisten von der Sekte Mrs. Gordons. Die kurze Beschreibung ihrer Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 243 Arbeit in jenem 1901-1902 erschienenen Roman wirkt wie ein Vorausblick auf die Arbeit, welche Jahre später die Israelis in diesem Land leisten sollten. Ingmar Ingmarsson ist jedenfalls in mehrfacher Hinsicht ein Retter, muß jedoch aus Gesundheitsgründen zurück nach Schweden. Seine letzte und wichtigste Leistung war jedoch, wie er durch die Gerechtigkeit und Liebe, die er seiner Gattin Barbro entgegenbringt, diese glücklich macht. Ja, seine Liebe hatte die Macht, einen alten Fluch aufzuheben. Vielleicht ist die letzte Botschaft des Romans darum die, daß mit Sicherheit am ehesten im kleinen und individuellen Bereich echte Lösungen im Hinblick auf Sinnverwirklichung und Glückserringung möglich sind und daß sich dies im Stillen ohne einen großen Aufbruch nach einer heiligen Stadt vollziehen läßt, so fern die Heimat nur ein im Grunde freier Staat ist, wie eben das von Lagerlöf so sehr geliebte Schweden. Von solcher Heimat aus kann man zuletzt auch den Himmel offen sehen wie es im letzten Satz des Romans im Hinblick auf den Tod von Stark-Ingmar heißt. Mit Jerusalem kam rasch der internationale Durchbruch von Lagerlöf und seine Hochschätzung und zeitlose Aktualität hat keineswegs abgenommen, sondern noch 1996 zu einer besonders erfolgreichen Verfilmung geführt. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, daß der Roman einer der Hauptgründe für die Verleihung des Nobelpreises an die Autorin gewesen ist. Abgesehen von der Anprangerung falscher Scheinordnungen hat die Kritik auf die emotionale Tiefe des Buches und vor allem darauf hingewiesen, daß sein eigentliches Thema der Triumph der Liebe ist. Daß auch der monumentale Wurf dichterischer Neuordnung der Welt des gewaltigen Dante zuletzt dahin ausmündet, verkleinert keineswegs seine Bedeutung, sondern bestätigt sie nur. Darum konnte von diesem Roman auch gesagt werden: „In diesem ergreifenden Epos“, das manchen für das beste Werk von Lagerlöf gilt, erleben wir schwedische Bauern, die „Gottes Wege gehen wollen.“ 6 Ihr berühmtestes Buch Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen schrieb Selma Lagerlöf 1906 im Auftrag des schwedischen Verbandes von Volksschullehrern. Es sollte in den Schulen als Lesebuch verwendet werden. In den Händen eines großen Künstlers kann aber auch eine Auftragsarbeit zu einem ganz großen Kunstwerk werden. Von Mozarts Requiem bis zu Ernst Schönwieses Ein Requiem in Versen gibt es zahllose Beispiele dafür. Es ist kein Zufall, daß ein Autor vom Rang des Nobelpreisträgers Czesław Miłosz in seiner Nobelpreis-Rede einbekannt hat, daß Selma Lagerlöfs Buch von Nils Holgersson seine Vorstellung von Dichtung tief beeinflußt hat. Es erschien ihm als wesentlich, daß die Autorin ihrem Helden eine Doppelrolle verliehen hat: Er fliegt über die Erde und blickt auf sie von oben aus der Distanz 6 Gisbert Kranz in: Lexikon der christlichen Weltliteratur. Freiburg im Breisgau 1978, Spalte-612. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 244 hinab und dennoch erblickt er, wenn die Wildgänse mit ihm landen, zugleich jedes Detail aus der nächsten Nähe. Dieser Doppelblick scheint Milosz eine Grundmetapher für die Berufung des Dichters zu sein. 7 Karl Popper aber hat erklärt, daß er dieses Buch durch viele, viele Jahre zumindest einmal im Jahr wieder gelesen hat. 8 In etlichen Ausgaben deutscher Übersetzungen des Werks, besonders in solchen, die sich als „Kinderbuch“ geben, sind die beiden Gedichte, die Lagerlöf dem Ganzen vorangestellt hat, weggelassen. Diese beiden Gedichte waren aber keineswegs nur für das „Schulbuch“ wichtig, wie vermutet worden ist, sondern für das gesamte Werk in Hinblick auf sämtliche Leser. Zunächst ist da ein spirituelles Gedicht, das den Titel „Das christliche Tageslied“ trägt und sodann ein säkulares Gedicht „Schwedens Karte“ von Carl Smoilsky. Im ersten Gedicht wird die Metapher gebraucht, die Seele hebe sich voller Herzensfreude zum Himmel, so wie der Vogel sich auf den Flügeln zur Höhe des Himmels schwingt. Nicht zufällig gibt es im Werk eine wichtige Stelle, in der Nils Holgersson plötzlich das Gefühl hat, noch höher aufzusteigen und in den Himmel zu fliegen. Es ist die Einarbeitung und Herstellung eines Kontakts zur Transzendenz, die durch das ganze Werk in der Geistigkeit der Autorin mit vorhanden ist. Das zweite Gedicht enthält jedoch ausgehend von der Landkarte Schwedens die Verse „Und präge lebendig und warm / ein Bild von Schweden in der Brust des Kindes / das es als Mann bewahren soll.“ Obwohl hier ausdrücklich die Brust des „Kindes“ beschworen wird, ging es ihr doch um eine solche Wirkung in allen Lesern, an die sie zuerst vielleicht gar nicht gedacht hatte und auf die sie selbst erst aufmerksam wurde, als von dem Werk im ersten Jahre allein 100.000-Exemplare verkauft worden waren. Das Buch ist die phantastische Geschichte des vierzehnjährigen Sohns armer Bauern Nils Holgersson, der als Strafe für seine boshaften Taten in ein Wichtelmännchen verwandelt wird und mit einer Schar von Wildgänsen durch ganz Schweden reist. Der dichterische Reiz liegt dabei nicht zuletzt darin, daß die Autorin ihr liebevolles Bild Schwedens oftmals durch Sagen, Märchen und Mythen darstellt. Daneben gibt es freilich auch Berichte über Wirtschaft, Gesellschaft und Brauchtum der einzelnen Regionen des Landes. Die Fabel von einem Gänserich namens Martin, auf dem Nils Holgersson reitet, ist begründet auf einem Thema aus der Geschichte von Mårbacka und war von Selmas Tante Lovisa, der Schwester ihres Vaters, erzählt worden. 9 7 Vgl. Sture Allen (Hg.): Nobel Lectures. Band: Literature 1968-1980. Singapore, New Jersey, London, Hong Kong 1993, S. 190. 8 Karl Popper: Unended Quest. New York 1974. 9 Vgl. F. S. De Vrieze, op. cit., S. 57. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 245 Es hat nämlich tatsächlich zur Zeit von Lagerlöfs Urgroßvater, Pastor Wennerwik, auf dem Gut einen zahmen Gänserich gegeben, der sich im Frühling einmal den Wildgänsen angeschlossen hatte und der im Herbst „mit Frau und sieben Kindern“ zurückgekehrt war. Alle neun Gänse wurden geschlachtet. In ihrem Märchenroman hat Lagerlöf nicht nur die Kinder aus der Realwirklichkeit gestrichen, sondern auch das Leben des Gänserichs Martin und seiner Gefährtin gerettet. Die Geschichte von Nils Holgersson aber ist die Leistung von Lagerlöfs Phantasie und ist in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden. Als der japanische Autor Ōe Kenzaburō nach Stockholm reiste, um den Nobelpreis entgegenzunehmen, da erklärte er, in seiner Jugend das Buch viele Male gelesen zu haben, sodaß er Schweden bereits gut kenne. Einen äußeren Anstoß zu dem Buch haben Rudyard Kiplings Tiergeschichten gegeben. Selma Lagerlöf ging es im Ganzen zunächst um die Botschaft, die Natur mehr zu achten und zu ehren, was heute womöglich noch wichtiger ist als damals, und ganz besonders die hilflosen wilden Tiere. Darüber hinaus ging es ihr aber grundsätzlich um die Herausarbeitung eines moralischen Ordnungsprinzips, für welches dasselbe gilt. Nils Holgersson ist ein vierzehnjähriger boshafter Tunichtgut, der allen Menschen und Tieren nur Schabernack antut und Sorgen bereitet. Eines Sonntags, als seine Eltern in der Kirche waren, gelang es ihm, ein Wichtelmännchen zu fangen. Während er mit ihm über den Lohn verhandelte, um den er es wieder freilassen würde, versuchte er, es zu betrügen. Daraufhin wird er zur Strafe selbst in ein Wichtelmännchen verwandelt, wodurch er plötzlich die Sprache der Tiere versteht. Nun hörte er, wie die vorüberziehenden Schwärme von Wildenten die zahmen Hausenten unten einluden, doch mit ihnen mitzufliegen. Auf seinem Hof war es von allen lediglich der Gänserich Martin, der mitfliegen wollte. Als Nils Holgersson ihn daran zu hindern suchte, wurde er selbst mit Martin in die Höhe gehoben und mußte sich plötzlich festhalten, um nicht abzustürzen. Nun flog er mit einer Schar von dreizehn Wildgänsen mit, deren Anführerin die erfahrene, alte Akka von Kebnekaise war. Die innere Entwicklung und Läuterung von Nils Holgersson beginnt damit, daß er den Tieren hilft, wie diese ihm helfen und daß er zudem durch die Kenntnis der Tiersprache lernt, daß viele Menschen gar keinen Begriff von dem hatten, was sie den Tieren antaten, ja was sie überhaupt taten. Was seine äußere Bildung betrifft, so lernt er durch den Flug mit den Wildgänsen von allen schwedischen Regionen nicht nur die Landschaft, das Wirtschafts- und Arbeitsleben, das Brauchtum und die Lebensbedingungen der Menschen kennen, sondern Lagerlöf läßt ihn immer wieder die empirischen Grenzen durchstoßen und versetzt ihn in Bezirke des Traums, der Sagen und der Märchen. So lernt er die wunderschöne, alte Stadt Vineta kennen, die im Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 246 Meer versunken ist und die nur alle hundert Jahre wieder für eine Stunde an der Oberfläche auftaucht. Oder er erhält Eintritt in einen Zaubergarten nördlich von Groß-Djulö. Er erlebt eine eigenartige Neujahrsnacht der Tiere und hört auch eine Geschichte von Meerjungfrauen. Dazu hat Lagerlöf mit ihrer Geschichte von Karr und Graufell eine der berührendsten Tiergeschichten überhaupt geschrieben. Abgesehen davon hatte die Reise mit den Wildgänsen ihre eigenen Höhepunkte. So hatte Nils Holgersson einmal das Gefühl, daß sie geradewegs in den Himmel hinein flögen: „Ringsumher sah er nichts als Wolken und Vögel, und allmählich kam es ihm ganz wahrscheinlich vor, daß sie in den Himmel flögen. Da wurde er sehr vergnügt und fragte sich, was er wohl da droben sehen würde. Auf einmal fühlte er sich ganz frei von Schwindel, und der Gedanke, daß er in den Himmel fliege und die Erde verlasse, machte ihn überglücklich.“ 10 Ganz allgemein aber heißt es gegen Schluß: „Wo immer er hinkam, - überall war das Land wunderschön.“ 11 Was nicht heißt, daß es nicht besondere Höhepunkte gibt. So wird die Geschichte und Beschreibung der Stadt Stockholm von keinem geringeren als dem König selbst erzählt. Ein ganz besonderer, der Autorin besonders zu Herzen gehender Höhepunkt ist natürlich der Besuch von Nils Holgersson auf ihrem alten Heimatgut Mårbacka: „Es war ein kleiner Herrenhof, der ganz einsam und weltabgeschieden dalag, und auf dem sich noch viele altertümliche Sitten und Bräuche erhalten hatten.“ 12 Ja, hier führt die Autorin sogar sich selber ein, um zu verkünden: „Nirgends in der weiten Welt verstehen es die Menschen so gut, sich das Leben schön einzurichten, als sie es zu meiner Zeit auf einem solchen kleinen Herrenhofe verstanden haben … Da hatte die Arbeit ihre Zeit und das Vergnügen seine Zeit, aber die Freude herrschte jeden Tag.“ 13 In diesem Kapitel bekennt die Autorin auch, wie sie zunächst der Verwirklichung der Auftragsarbeit mit großen Schwierigkeiten und hilflos gegenüberstand, bis zur „Begegnung“ mit dem kleinen Nils Holgersson, die sich freilich nicht wörtlich wie hier geschildert vollzog, sondern die sich nur in ihrem eigenen Inneren allein, im Reich der Phantasie abgespielt hatte. Eine besondere Stellung nimmt auch die Schilderung der Werkschule auf Naas ein, wo die Autorin gleichfalls sich selbst in das Kapitel einzeichnet und beschreibt, wie ihr die Wichtigkeit der Handarbeit in der Schule zu Bewußtsein gebracht wurde. 10 Selma Lagerlöf: Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. München o. J., S. 84. 11 Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson, op. cit., S. 424. 12 Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson, op. cit., S. 455. 13 Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson, op. cit., S. 458. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 247 Was die Folge der Beschreibungen und Geschichten als Fabel zusammenhält ist in erster Linie der Flug des kleinen Nils Holgersson auf dem Rücken des Gänserichs Martin, kurz unterbrochen von Flügen auf dem Rücken des Adlers Gorgo, des Raben Bataki und des Storches „Herrn Ermenrichs“. Daneben geben eine Art stützenden Rahmen für den Zusammenhalt der Fabel das Gänsemädchen Åsa und ihr Bruder Mats ab, die einzigen Kinder, ja Menschen, mit denen sich Nils Holgersson in seiner boshaften Frühzeit einigermaßen vertragen hatte und die von Zeit zu Zeit auf seiner Reise immer wieder auftauchen. Die beiden Kinder Åsa und ihr kleiner Bruder Mats sind aber nicht nur eine Stütze für den Rahmen und den Bezug zur Realwirklichkeit. Sie hatten plötzlich in rascher Folge ihre Mutter und alle Geschwister durch den Tod verloren. Die Menschen ihrer ländlichen Umgebung glaubten, daß der Fluch einer Zigeunerin dies verschuldet hätte. Der verzweifelte Vater war nach dem hohen Norden Schwedens geflohen, um eine Arbeit in einem Bergwerk anzunehmen Als die beiden Kinder durch einen Vortrag gelernt hatten, daß die tatsächliche Ursache des Sterbens ihrer Familie Tuberkulose gewesen war, machten sie sich auf, um zu Fuß zu ihrem Vater zu wandern, damit auch er die Wahrheit erfahren sollte. Auf diese Art entstand eine Art kontrapunktischer Gegengeschichte der Fußwanderung der Kinder zur „Flugreise“ von Nils durch das Land. 14 An einigen Punkten des Märchenromans kommt es auch zu „Begegnungen“ zwischen Nils und den beiden Kindern, was eben eine Stütze des Rahmens bewirkt. Lagerlöf benützt die Geschichte jedoch nicht nur, um die negativen Auswüchse eines gefährlichen Aberglaubens - den Fluch der Zigeunerin - zu beseitigen, sondern auch um am Beispiel des Todes und Begräbnisses des kleinen Mats - für ein Kinderbuch ungewöhnlich - einen Versuch und eine Anmahnung zur Todeserkenntnis zu geben. Die einzelnen Geschichten und Märchen, die in den Reiseablauf überaus geschickt eingefügt sind, erzeugen jeweils ihre eigene Spannung und halten sie jeweils bis zum Ende der Geschichte aufrecht. Was die Gesamtfabel betrifft, so hat Lagerlöf sich für den Schluß noch eine besondere Spannungssteigerung ausgedacht. Nahezu die ganze Reise hindurch glaubt Nils Holgersson, daß er seine menschliche Gestalt nach seiner Heimkehr wiedererhalten werde, wenn es ihm nur gelingt, den Gänserich Martin ebenfalls wieder gesund nach Hause zu bringen. Erst als sich die Wildgänse bereits seinem Heimathof wieder nähern, erfährt er zu seinem Schrecken, daß er einen wesentlichen Teil der Bedingung der Voraussage nicht mitbekommen hat: Der Gänserich Martin, der ihm zu einem geliebten Freund geworden ist, soll gesund wieder zurückkommen, um geschlachtet zu werden. Im letzten Augenblick gelingt Martins Rettung. 14 Vgl. zur Reiseroute Sabine Schwieder und Wolfram Schwieder: Wunderbare Reise durch Schweden. Auf den Spuren Nils Holgerssons. München 2006. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 248 Die Führerin der Wildgänse aber, Akka, gibt Nils Holgersson gleichsam zum Abschied, eine Art Vermächtnis und geistigen Auftrag, wobei sich eben Lagerlöf Akkas bediente, um ihren eigenen Auftrag zu verkünden: „Wenn du etwas Gutes gelernt hast, Däumling, dann bist du vielleicht jetzt nicht mehr der Ansicht, daß die Menschen allein auf der Welt herrschen sollen … Bedenke, ihr habt ein großes Land für euch, und deshalb könntet ihr uns recht gut ein paar Schären und einige sumpfige Seen und Moore, so wie einige öde Felsen und abgelegene Wälder überlassen, wo wir armen Tiere im Frieden leben könnten. Solange ich lebe, bin ich nun beständig verfolgt und gejagt worden. Es wäre eine Wohltat, wenn sich für solche Geschöpfe, wie wir sind, auch irgendwo eine richtige Freistatt fände.“ 15 Der Abschied von den Wildgänsen war nicht leicht. Wiederum Mensch geworden, konnte Nils Holgersson weder mit ihnen sprechen, noch sie verstehen. Beide, Nils und die Wildgänse, sind sich der unüberwindlichen Schranke bewußt, die es plötzlich zwischen ihnen gibt. Einsam schaute er den Vogelscharen nach, die über ihn hinwegzogen, vor allem aber jener, die keinen Laut ausstieß, sondern schweigend ihres Weges zog. Da ergriff Nils eine heftige Sehnsucht nach den Davonziehenden, „wieder der Däumling zu sein, um mit einer Schar Wildgänse über Land und Meer hinfliegen zu können.“ 16 Im Jahr des Erscheinens von Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerssons 1907 erhielt Selma Lagerlöf die Ehrendoktorwürde der Philosophie der Universität Uppsala. Sie hatte dieser das 35. Kapitel, eines der schönsten des ganzen Buches gewidmet. In diesem Kapitel tritt wie Mephisto im Faust der Rabe Bataki als Versucher auf und er fragt Nils Holgersson: „Möchtest du nicht lernen, zwischen gut und böse zu unterscheiden, zwischen Recht und Unrecht? “ Die Geschichte, die ein Student der Universität Uppsala Nils erzählt, erleichtert es ihm sehr, der Versuchung zu widerstehen und sie zurückzuweisen. Hier ist einer jener Punkte erreicht, an dem Lagerlöf in nüchterner Weisheit einbekennt, welche Schwierigkeiten der Errichtung einer alles umfassenden, positiven Ordnung zur Chaosüberwindung entgegenstehen. Es ist nahezu eine Unmöglichkeit, fast so wie die Fehlerlosigkeit eines geschlossenen orthodoxen Systems oder die Unmöglichkeit der idealistischsten Sekte Verleumdungen zu entkommen. Das, was sie leisten konnte, hat sie in ihren praktischen Urteilen in Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson niedergelegt und spielt sich nicht zufällig jenseits der „wirklichen“ Menschenwelt ab. Zwei Jahre später erhielt Selma Lagerlöf als erste Frau den Nobelpreis für Literatur „auf Grund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der see- 15 Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson, op. cit., S. 504. 16 Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson, op. cit., S. 504. Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 249 lenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen“. Im Jahr 1914 wurde sie zum ersten weiblichen Mitglied der Schwedischen Akademie gewählt. Sie hat sich immer wieder für Frauenrechte eingesetzt. So hielt sie im Jahr 1911 bei einem internationalen Frauenkongreß in Stockholm ihre berühmt gewordene Rede „Heim und Staat“, in der sie die weibliche Leistung, durch ein Heim Frieden und Geborgenheit zu schaffen über alles stellt und sie der „männlichen“ Leistung, Macht und Gewalt des Staates zu begründen entgegensetzt. Man fühlt sich an Mutter Gissons „Weiberwissen“ in Hermann Brochs Roman Der Versucher erinnert. Daß die Frauen in Schweden im Jahr der Rede nicht einmal noch das Wahlrecht besaßen, hat den Erfolg und Ruhm dieser Rede sehr gefördert. Unter den Leiden und Schrecken des Ersten Weltkriegs hat Lagerlöf - obwohl sie praktisch im neutralen Schweden weitgehend abgeschirmt davon war,-- entsetzlich gelitten. Das hat seinen Niederschlag in dem erschütternden pazifistischen Roman Das heilige Leben gefunden. In den Zwanzigerjahren hat sie sich wiederum Frauenproblemen zugewendet. Darüber hinaus war sie ihr ganzes Leben hindurch sozial engagiert. Sie war Mitglied des Gemeinderats ihrer Heimatgemeinde Östra Ämzervik und war auch Mitglied der Armenverwaltung. Infolge ihrer Berühmtheit erhielt sie viele Bettelbriefe, nicht nur aus Schweden, sondern auch aus dem Ausland. Sie half so oft und so gut sie konnte. In den bösen Jahren der Weltwirtschaftskrise entließ sie keine Arbeiter, sondern stellte in Mårbacka sogar neue ein, um die Not der Menschen zu bekämpfen. Sie hat ja in Mårbacka nicht nur Landwirtschaft betrieben, sondern auch eine Fabrik zur Erzeugung von Hafermehl errichtet. Es wurde zu Recht gesagt, daß Nils Holgerssons wunderbare Reise als ein vollwertiger Roman aufgefaßt werden kann. Der Roman wurde auch von Bjørn Howard Kruse als Oper komponiert und es gibt eine ganze Reihe von Spiel- und Zeichentrickverfilmungen, von denen die bekannteste die Anime-Serie von 1980 „Nils Holgersson“ ist. In Karlskrona gibt es ein Nils Holgersson-Denkmal von Ralf Borselius und in Smygehuk in der Gemeinde Trelleborg gibt es sogar ein kleines Denkmal für Akka von Kebnekaise. Deren Name ist aus den Namen von zwei Bergen in Lappland zusammengesetzt. Kebnekaise ist der höchste Berg Schwedens und Akka bedeutet auch noch auf samisch Mutter und auf samisch wie auf finnisch zudem „Die Alte“ und „Die Weise“. Der Begriff spielt auch in der samischen wie in der finnischen Mythologie eine Rolle. Kaum aber war das Buch erschienen, das Schweden in den Herzen aller schwedischen Kinder und darüber hinaus auch unter Erwachsenen in aller Welt bekannt und beliebt machen sollte, als auch schon dichtungsfeindlicher Schwachsinn pedantischer Bürokraten Proteste anmeldete. Ein Vertreter der schwedischen Staatskirche rügte, daß Nils niemals in die Kirche ginge und die Selma Lagerlöf und die Rechte der Unterdrückten 250 Schulbehörde fand es falsch, daß ein Schulbuch unterhaltsam sein und dazu noch überdies märchenhafte Zügen tragen sollte. Besonders in ihren Anfängen wurde Lagerlöf von ihrer Freundin, der Baronin Sophie Aldersparre, unterstützt. Lebenslange Freundinnen, die für ihr Leben von Bedeutung gewesen sind, waren vor allem die Autorin Sophie Elkan und Valborg Olander. Die Briefe an beide bilden eine wichtige Quelle für Lagerlöfs Leben und Werk. Da die beiden eifersüchtig aufeinander waren, gingen sie einander aus dem Weg. Bis in ihr hohes Alter bezog Selma Lagerlöf Stellung gegen die beiden größten frühen totalitären Bewegungen des Jahrhunderts - ehe noch die fanatischen Mullahs dazu kamen - gegen den Nationalsozialismus und gegen den Kommunismus. Bereits 1933 gehörte sie einem Komitee zur Rettung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland an und im Jahr 1940 verhalf sie der jüdischen Autorin Nelly Sachs zur Flucht nach Schweden, wodurch diese vor dem Todeslager gerettet wurde. Nelly Sachs verblieb den Rest ihres Lebens in Schweden und hat später auch den Nobelpreis erhalten. Ihr Werk, das frei von Haß und Rachegedanken ist, erinnert in manchem an Lagerlöf. Als sowjetische Truppen im Winter 1939 in Finnland einfielen, spendete Lagerlöf ihre goldene Nobel-Medaille, um der finnischen Bevölkerung zu helfen. Während ihrer ausgedehnten Anstrengungen, Hilfe für die Finnen zu organisieren, starb sie am 16. März 1940 an einem Schlaganfall. Am Beginn ihrer Arbeit an der Wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson hatte sie - wie sie in einem Brief im Jahr 1905 schrieb - geplant, eine „originelle und lustige Arbeit“ zu verfassen, die „zugleich Kunstwerk und Schulbuch sein sollte“. Sie hat jedoch sehr viel mehr geleistet und verwirklicht als diesen Plan. Denn sie hat nicht nur in Hinblick auf Nils Holgersson selbst, sondern vor allem in Hinblick auf die gesamte Reise eine Art schwedischer Gesamt- Totalität geschaffen, in welcher nicht nur die „lustigen“, sondern auch traurigen Aspekte der Gesamtwirklichkeit sichtbar werden. Dabei mag es in der Zeit der Niederschrift vor dem Ersten Weltkrieg freilich etwas leichter gewesen sein, zumal gestützt auf den sicheren Instinkt der Tiere und Kinder, in Form jener Reise mit den Wildgänsen, abgehoben von der wirklichen Welt des menschlichen Chaos, das gleichsam märchenhafte Bild einer Welt der Ordnung zu beschwören, deren Wesen und Sinn dem herandrängenden Chaos entgegengehalten werden konnte. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle Malcolm Lowry war der Sohn eines Baumwollhändlers und Enkel eines Seekapitäns, der eines der späten großen Segelschiffe kommandiert hatte, welche die Weltmeere überquerten. Dieser Großvater war die Leitfigur des Kindes und von ihm hatte er das Fernweh geerbt und die Liebe zum Meer, sodaß es ihn oftmals von Reise zu Reise getrieben hatte. Kaum hatte er die vornehme Leys School in Cambridge beendet, als er seinem Vater die Erlaubnis abrang, ein Jahr zur See zu gehen. So heuerte er als Schiffsjunge und Helfer eines Heizers auf einem Frachter ohne regelmäßige Route an, der zunächst nach China fuhr. Als er heimkehrte, um an die Universität Cambridge zu gehen, hatte er Shanghai, Hongkong, Yokohama, Singapur und Wladiwostock gesehen. Er hatte seine Lebensodyssee aber nur unterbrochen, um in Cambridge Philosophie zu studieren. Allerdings war es eine Unterbrechung, die ihm überaus eindrucksvolle und weiter wirkende Einsichten vermittelte. So hatte er im College jenes Zimmer inne, das dreieinhalb Jahrhunderte vor ihm Christopher Marlowe bewohnt hatte. Dieser stand der kirchlichen wie der säkularen Bürokratie seiner Zeit ähnlich ehrfurchtslos gegenüber wie Lowry der seinen. Einer von Marlowes Tutoren, Francis Kett, der Einfluß auf ihn genommen hatte, war ein Mystiker, der als Häretiker verbrannt wurde. In London gehörte Marlowe sodann dem Kreis der Kabbalisten und Okkultisten an, die sich in der Mermaid Tavern um Sir Walter Raleigh versammelt hatten und einer von Ihnen, Thomas Kid, wurde durch die Folter so weit gebracht, auch Marlowe als einen frei denkenden Geist zu nennen. 1 Wahrscheinlich war die Beziehung durch sein Zimmer zu Marlowe der Anstoß für Lowry, sich mit Kabbalismus, Numerologie und esoterischen Traditionen zu beschäftigen, was seinen Niederschlag in seinem Werk fand. Aber auch Nordahl Grieg, Bret Hart, Rilke, Yeats und ganz besonders Dante wurden für ihn wichtig, denen sich später andere dazu gesellten wie William Blake und D. H. Lawrence, James Joyce und Hermann Broch. Conrad Aiken aber, mit dem er sich anfreundete, wurde ihm ein persönlicher, einflußreicher Mentor. Gleich nach Studienabschluß ging es wieder hinaus, zuerst auf den Kontinent und zuallererst auf eine Seereise nach Norwegen, der Heimat des Kapitän- Großvaters, wo er die norwegische See lieben lernte und den ersten, frühen Roman Ultramariné zu Ende führen konnte. Sodann ging es nach Paris, wo er ein amerikanisches Mädchen kennenlernte, heiratete und nach Guernavaca mitnahm, wo er sich in Tequila und Schreiben vertiefte. Ein Jahr später war 1 Vgl. Paul Arnold: Esoterik im Werke Shakespeares. Berlin o. J., S. 41 f. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 252 er in New York, das er nicht mochte, so daß es nur Ausgangspunkt für viele weitere Reisen wurde. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratete er in Hollywood Margerie Bonner, Starlet und Schriftstellerin, die mit ihm nach Kanada zog, wo sie in der Dollarton-Bucht, in Vancouvers oberem Hafen, ein kleines Haus zwischen Wäldern und Meer bezogen. Hier lebte er mit seiner zweiten Frau von 1940-1954, abgesehen von kürzeren Abstechern. Hier hat er die meisten seiner Werke verfaßt, und obwohl er in England geboren und besonders tief von Mexiko beeindruckt war, muß er als Wahl-Kanadier gelten. Es ist kein Zufall, daß sich sein Nachlaß in der University of British Columbia in Vancouver befindet, daß nach wie vor eine besonders gute Informationsquelle über ihn die Lowry-Sondernummer der Zeitschrift Canadian Literature bildet 2 und daß seinem Wunsch gemäß, rings um sein Hauptwerk, den Roman Unter dem Vulkan einen siebenbändigen Romanzyklus zu bilden, dieser als Endziel und Höhepunkt die Erzählung „Der Waldpfad zur Quelle“ hätte haben sollen, die tatsächlich auch geschrieben wurde und in der Hütte spielt, die in der Bucht oberhalb Vancouvers lag und die er nach der Hochzeit mit seiner zweiten Frau bezogen hatte. Der siebenbändige Zyklus, der den Titel The Voyage That Never Ends hätte tragen sollen und die als eine moderne Göttliche Komödie geplant gewesen war, ist niemals zustande gekommen. Aber die fertiggestellte Schlußerzählung des Ganzen zeigt in aller wünschenswerten Deutlichkeit, wie sehr die große, weitläufige und elementare Natur der Wälder und der Küste von West-Kanada ihn in Bann geschlagen hatte. Hier spielt überdies auch noch der letzte Roman Lowrys October Ferry to Gabriola, denn Gabriola liegt ebenfalls in Britisch Kolumbien. Es ist die Trauminsel, welche sich die Protagonisten Ethan und Jacqueline ersehnen und die sie schließlich auch erreichen. Lowrys Hauptwerk, den Roman Unter dem Vulkan 3 , hat er bereits 1934 in Mexiko zu schreiben begonnen, hat ihn aber immer wieder umgeschrieben und hat ihn zuletzt in Dollarton fertiggestellt, so daß er 1947 erscheinen konnte. Dieser Roman ist auch allein und selbstständig von ihm „eine trunkene Divina Commedia“ genannt worden. Es ist ganz besonders ein Zitat, das immer wieder in Arbeiten über Lowry gebracht wird, das tatsächlich ein geradezu grelles, schlagartiges Licht auf diesen Roman wirft und das zum Teil bereits den Vergleich mit der Göttlichen Komödie verständlich macht. Es ist eine Notiz, die der Protagonist Geoffrey Firmin, pensionierter britischer Konsul, mit Bleistift auf Hotelpapier geschrieben hat: „Und so denke ich manchmal an mich selbst wie an einen großen Forscher, der irgendein unbekanntes Land entdeckt hat und niemals von dort zurückkehren kann, um der Welt davon Kenntnis zu geben; aber der Name dieses Landes ist Hölle. Natürlich liegt es nicht in Mexiko, sondern es liegt im Herzen.“ 2 Canadian Literature, 8, Spring 1961. 3 Malcolm Lowry: Unter dem Vulkan. Reinbek bei Hamburg 1963. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 253 Schon dieses Zitat allein macht es völlig klar, daß es Lowry bei seinen rastlosen Reisen nicht um eine äußerliche Odyssee gegangen ist und um Entdeckungen der Außenwelt, wenn er auch noch so interessante und schöne Plätze, Landschaften und Menschen dabei kennengelernt hat, sondern um eine spirituelle Odyssee und die Erweiterung seines inneren Erfahrungsbereichs. Wie Dante fühlte er sich als eine Art Forschungsreisender durch die Hölle. In der Methode der Darstellung hatte sich Lowry dabei an Joyce geschult, von dem er den inneren Monolog, die Assoziationen, gelehrte Einschübe und oftmalige Anspielungen übernommen hat. Auch die Gesamtanlage des Romans, von dem elf der zwölf Kapitel an einem einzigen Tag spielen, erinnert an den Ulysses-Roman. Allerdings geht es bei Lowry in der Sache selbst um ganz andere Dinge als bei Joyce, und die Parallele zu Dantes Höllenfahrt ist nur ein Aspekt von Lowrys Roman, wenngleich ein sehr wichtiger. Lowry hat dabei außerdem auf seine Weise versucht, wie Dante das Chaos in eine Art Ordnung zu bringen. Das zeigt sich bereits in der formalen Äußerlichkeit der Zahlensymbolik bei der Gesamtanlage. Die Göttliche Komödie umfaßt hundert Gesänge, was zahlensymbolisch auf die Vollkommenheit einer Totalität verweist. Dem entspricht durchaus der Umstand, daß Lowrys Roman zwölf Kapitel hat. In Mythen wie in religiösen Traditionen bis Legenden und dem abgesunkenen Kulturgut der Märchen steht auch die Zwölfzahl immer für eine vollständige Entwicklung in Raum und Zeit und damit auf ein sich darin verwirklichendes totales Schicksal. Wenn auch Dantes Numerologie auf die Templer-Gnosis zurückgehen mag, jene Lowras aber auf die Kabbala 4 , so bleibt doch die Parallele. Lowrys Versuch, das Chaos seiner Zeit in Ordnung zu verwandeln, mag nur auf den ersten oberflächlichen Blick befremdend wirken, da man sagen hat können, daß er die Ausgestoßenen liebte, die Sträflinge und die Möwen, während er wenig Achtung für die „Patrioten, Evangelisten, Kritiker“ aufbrachte. Es beginnt jedoch sofort Sinn zu machen, wenn man bedenkt, daß in den letzteren drei Gruppen „Hüter einer Massengeistigkeit“ sah, was bereits in Richtung auf einen Massenwahn deutete. 5 Robert Musil hat in ähnlichem Zusammenhang von Blindenverbänden des Nächstenhasses gesprochen. Hatte aber nicht auch Dante - eine geradezu gewaltige Kühnheit zu seiner Zeit - den eben regierenden Papst in den untersten Höllenkreis verdammt? Und wie viele Mächtige, die eine äußerliche „Ordnung“ durch Gewalt aufrecht erhielten, spielen nicht führende Rollen in seiner Hölle. Dazu paßt es sehr gut, daß Lowry den Helden seines Hauptwerkes so schildert, daß der einzige „Prominente“, den er respektiert, Mahatma Gandhi ist, dessen entschei- 4 Vgl. Gershom Scholem: Kabbalah. New York 1978, S. 38, 39, 54 und 198 sowie 337- 343. 5 Vgl. Earle Birney: Introduction. In: Selected Poems of Malcolm Lowry. San Francisco 1962, S. 8. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 254 dendes Merkmal sein Eintreten für Gewaltlosigkeit darstellt. Es geht um das Durchschauen der Heuchelei vieler äußerlicher „Ordnungen“, die durch ihr Beruhen auf Macht und Gewalt tatsächlich chaotische Gebilde darstellen, ohne Rücksicht auf die unwahren Theorien ihrer ideologischen Rechtfertigungen. In solchen Fällen kann man nur sagen: je strenger die Pseudoordnung, desto größer die Heuchelei. Die geistige Ordnung, die Dante dem Chaos seiner Zeit entgegengestellt hatte, war eine spirituelle Ordnung für geistige Menschen, die auf der Templer-Gnosis beruhte. Lowrys Roman ist in der Technik der Darstellung nach-joycesisch und mehrperspektivisch, voll von erlebter Rede und inneren Monologen, die äußerlich oft darum dialogisch wirken, weil er der inneren Stimme des Autors oder einem imaginären inneren Ratgeber das Wort verleiht. Was die Mehrperspektivität betrifft, so hören etwa im vorletzten Kapitel die Exgattin des Konsuls und sein Halbbruder Hugh im Wald drei Schüsse und nehmen an, daß es sich um „Schießübungen“ von Vigilanten und faschistischen Terroristen handelt. Im letzten Kapitel wird der Leser Augenzeuge dieser drei Schüsse, die zwar aus der Pistole eines Terroristen kommen, die aber keine Übungsschüsse, sondern Schüsse sind, die den Konsul töteten. Obwohl also Anlage und Technik des Romans modern sind, beruht die Fabel auf der Tradition eines jahrhundertealten Modells. Dem Konsul und Helden steht als Gegenbild sein Halbbruder Hugh gegenüber, so wie Don Quijote dessen Diener Sancho Pansa. Dazu ist ihnen als dritte wichtige Person, die Exgattin des Konsuls, Yvonne, zugesellt. Die Parallele zum Roman von Cervantes geht sehr weit. Der Konsul ist so wie der spanische Ritter von der traurigen Gestalt durch seinen Alkoholismus auch ein Held von der traurigen Gestalt und kaum weniger idealistisch als Don Quijote. Allerdings ist er nicht so wie Don Quijote besonders belesen in kitschigen und modischen (Ritter-)Romanen, sondern in Spitzenwerken der Weltliteratur und in ausgesucht interessanten und zudem für den Roman relevanten esoterischen Werken. Ganz wie Don Quijote versucht der Konsul aus der Wirklichkeit zu fliehen, während Hugh ganz wie Sancho Pansa ein Mann der Wirklichkeit ist, so gut wie bildungslos und in einer ahnungslosen Weise darauf aus, sich einzumischen. Yvonne spricht deshalb von seinem „absurden Drang zur Tat“. Im Gegensatz zum Konsul respektiert Hugh sogar Stalin und Cárdenas und empfindet sich in einem Tagtraum als „Held der Sowjetrepublik und der allein selig machenden Kirche“. Dazu paßt auch, daß er einmal erklärt, zur Gitarre singen zu wollen, „um die Menschen zu belügen“. Lowry gibt in seinem Roman sogar eine direkte Anspielung auf das Modell des Romans von Cervantes. Als Hugh an der Stelle, an der sie einen ermordeten Indio fanden, sich mit drei Vigilanten und Kryptofaschisten anlegen will und sich zuletzt wider Willen doch auf dem von der Stelle davonfahrenden Bus befindet, vom Konsul festgehalten, um die gefährliche Szene zu verlassen, Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 255 da sagt dieser zu ihm: „Gib’s auf, alter Junge, es wäre schlimmer geworden als mit den Windmühlen.“ Da fragt der ungebildete Hugh ahnungslos: „Was für Windmühlen? “ Obwohl der Konsul keine rein autobiographische Figur ist, trägt er doch zahlreiche autobiographische Züge. Die beiden wichtigsten davon sind einerseits sein Alkoholismus und andererseits seine geistigen Interessen. Wie Christopher Marlowe, der vor ihm sein Zimmer im College von Cambridge innegehabt hatte, und der nicht weniger als sechs Mal zitiert wird, ist er an der Kabbala und an Alchemie interessiert, was nicht weniger als zehn Mal zitiert wird. Ja, er plant immer noch ein Buch darüber zu schreiben. Als er sich für die Fahrt nach Tomalin fertig macht und Hugh kommt, um ihm zu helfen, da entdeckte er wieder in den Buchregalen zwei lange Reihen von Büchern wie Dogme et Ritual de la Haute Magie, Schlangen- und Shiva-Anbetung in Mittelamerika sowie zahlreiche kabbalistische und alchemistische Bücher, die Goetia des Lemegeton des Königs Salomo, den Rig-Veda, aber auch Shakespeare und William Blake. Etwas später erklärt er Hugh „Meinen Boehme habe ich in Paris gelassen.“ Und wieder etwas später tauft er den durch und durch unsportlichen Stier „Nandi“, nach dem Namen des Fahrzeugs von Shiva, aus dessen Haar der Ganges fließt und der identisch ist mit dem vedischen Sturmgott Vindara - dem Huracan der alten Mexikaner. Dabei sind es keine gelehrten, abstrakten Begriffe, die er von sich gibt, sondern es ist offenkundig, daß er in diesen Vorstellungen wirklich lebt und sie ihm erst zu leben ermöglichen, ähnlich wie der Alkohol. In der Stierhatz-Arena von Tomalis begibt sich schließlich entgegen jedem Programm der Aktivist Hugh von seinem Zuschauerplatz in die Arena hinunter, zwingt den Stier aggressiv zu werden und reitet ihn, bis er zusammenbricht. Yvonne aber dachte daran, wie oft sie im Elend des letzten Jahres versucht hatte, den Alkoholismus zu bekämpfen, wobei es eine wichtige Rolle gespielt hatte, daß sie auch hatte Zeugin werden müssen, wie ihr eigener Vater am Alkohol zugrunde gegangen war. Sie dachte daran, wie oft sie dem Konsul geschrieben hatte, zunächst noch voll Hoffnung, sodann noch dringender, halb wahnsinnig und schließlich in letzter Verzweiflung und nie war eine Antwort gekommen. Der Konsul hatte die Briefe zwar aufgehoben, aber er hatte sie gar nicht gelesen und hatte sie später, alkoholisiert, dem Wirt einer Schenke gegeben. Es gibt jedoch außer dem Alkoholismus und den geistigen Interessen noch weitere, kleinere autobiographische Züge des Helden in Lowrys Roman. Wie Lowry selbst hatte er seine Kindheit an der englischen Nordwestküste verbracht und den Rauch, der von Liverpool ausfahrenden Frachter beobachtet, die in See stachen. Wie der Konsul auch tagträumend und monologisierend sich eingesteht: „Ich liebe die See, die reine, norwegische See.“ Aber auch Yvonne trägt biographische Züge von Lowrys zweiter Gattin Margerie, vor allem die Vergangenheit ihrer Hollywood-Karriere. Sie ist es auch, Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 256 die trotz seiner Schwächen und Fehler dem Konsul menschlich ebenbürtig ist, im Unterschied zu dem praktischen Aktivisten Hugh und dessen Schwachsinn. Dem Konsul geht es „um das Überleben des menschlichen Geistes“, er leidet in der kleinen, mexikanischen Stadt unter dem Vulkan: „… aber mein Gott, diese Stadt, - dieser Lärm. Dieses Chaos! “ heißt es ziemlich spät im zehnten Kapitel und fast im taoistischen Sinn wendet er sich gegen „die Motive zum Eingreifen“, die mindestens zur Hälfte Katastrophensucht sind, Neugier, etwas zu erleben - aber im Grunde nichts Positives. Er erinnert an Cervantes und an Tolstois Roman Krieg und Frieden, von dem er die Stelle beschwört, an welcher die Gespräche der Kriegsfreiwilligen in der Eisenbahn berichtet werden. Der erste entpuppt sich als degenerierter Aufschneider, der zweite als ein Mann, der alles versucht und überall versagt hat und der dritte als ein Kadett, der durch das Examen gefallen war: alles gescheiterte Existenzen, Feiglinge, Affen, Wölfe im Schafspelz, Schmarotzer, Leute, die sich fürchten, der eigenen Verantwortung ins Auge zu sehen. Yvonne, die den Konsul nicht nur betrogen, sondern auch verlassen hat, liebt ihn wirklich und kehrt gerade an jenem Allerseelentag zurück, um ihn zu retten. Dabei weiß sie genau, in welches gefährliche, wenn nicht aussichtslose Abenteuer sie sich einläßt, denn sie hat als Teenager bereits ihren eigenen Vater erhalten, ehe er am Säuferwahnsinn zugrunde ging. Einmal sitzen sie denn auch einander stumm gegenüber „wie zwei Festungen“. Dann gibt es Augenblicke, in denen die alte Liebe zwischen Ihnen wieder aufzusteigen scheint, aber immer wieder versinkt er im Abgrund der Selbstzerstörung durch den Alkohol. Schon gegen zwei Uhr nachmittags erkennt er, daß dieser Allerseelentag der längste Tag war, den er erlebt hatte. Dabei ist er in mancher Hinsicht klarsichtiger und intelligenter als viele seiner nüchternen Zeitgenossen. So sieht er zwei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das Menetekel für diese Welt wie für sich an der Wand. Er spürte, wie gerade jetzt, während er dies dachte, „hinter den Kulissen gewisse Drähte gezogen wurden, die ganze Kontinente in Brand setzten“. Am Vorabend jenes letzten Tages, an dem er seinem Tod entgegenlebt, hatte sein Arzt ihn in eine Kirche der Stadt geführt, die er nicht gekannt hatte und in der, irgendwo im Dämmern, eine barmherzige Jungfrau schwebte, zu der er gebetet hatte: „Bitte laß mich sie“ - Yvonne - „glücklich machen, befreie mich von dieser furchtbaren Selbsttyrannei. Ich bin tief gesunken. Laß mich noch tiefer sinken, auf daß ich die Wahrheit erkenne. Lehre mich wieder lieben, das Leben lieben.“ Angesichts des Chaos der heraufdämmernden Weltkriegskatastrophe erblickt er sogar durch die Schleier des Dämmerns im Alkoholismus den drohenden Untergang. Dabei sind sowohl manche Bemerkungen des auktorialen Erzählers wie auch manche monologisierende Stellen des Helden voll von poetisch-esoterischen Anspielungen, die eine zweite, tiefere Hintergrund-Dimension sichtbar machen. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 257 So geht etwa der Konsul nachmittags in einen Vergnügungspark und steht plötzlich vor einer Tafel, auf welcher als „Tolle Attraktion“ eine „Höllenmaschine“ angekündigt ist. Der Konsul zahlt und besteigt einen der „Beichtstühle“, die an Stahlarmen hängen. Diese Stahlarme schleudern die Kabinen einmal hoch nach oben und dann ebenso plötzlich wieder nach unten. Als er zum zweiten Mal in die Höhe geschleudert wird, bleibt er eine endlose, unerträglich spannende Zeit lang bewegungslos hängen mit dem Kopf nach unten. Plötzlich ist ihm klar, daß das Ganze symbolisch war, nur wofür die Symbolik stand, fiel ihm nicht ein. Die ganze Situation erinnert eindeutig an die zwölfte Karte des esoterischen Tarot, die den Namen „der Gehängte“ trägt und korrespondiert symbolisch auch mit den zwölf Kapiteln des Romans. Was den Sinn der Tarot-Karte betrifft, so erbringt in dieser Situation die göttliche oder halbgöttliche Gestalt das höchstmögliche Opfer, nämlich sich selbst, um höhere Weisheit zu erlangen. Beim Legen der Tarot-Karten steht diese Figur für Selbstaufopferung, Hingabe, Verzicht um eines höheren Zieles willen. Als Bedeutung werden oft Ausweglosigkeit wegen falscher Handlungen, Mangel an Bewußtsein, Loslassen, Opfer, Unterwerfung und Verzicht angegeben. Wenn an anderer Stelle auf die tiefenpsychologische Perspektive des Problems angespielt wird, fällt das Wort „Katabasis“. Der Konsul aber verliert bei dieser Gelegenheit seinen Paß, der ihm beim kopfabwärts Hängen aus der Rocktasche fällt, was ihm beim Angehalten werden durch die faschistische Terrorbande zum Verhängnis wird. Drei Kapitel später, als Yvonne und Hugh verzweifelt den allein fortgelaufenen, total betrunkenen Konsul suchen, treffen sie bei einer Cantina „El Popo“ auf eine Art Autostraße, die rechtwinkelig zu ihrem Weg quer durch den Wald zum Restaurant „Farolito“ führt, wohin er gewollt hatte. Yvonne geht es bei diesem Kreuzweg durch den Kopf, ob jener Querweg nicht den Kreuzesbalken repräsentiere, an dem die Arme des Mannes hängen. Eine Verbindung der Fabel zum indianischen Mythos stellt der lokale Hintergrund der beiden Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl dar, die durch einen Sattel verbunden sind und immer wieder als Motiv auftauchen, da sie dem Konsul sehr wichtig sind. In der tragischen Indiolegende war Popocatepetl der Krieger und Träumer, dessen Liebesglut für Ixtaccihuatl, die schlafende Frau, brannte, die er, kaum gefunden, wieder verlor und in ihrem endlosen Schlaf bewachte. In der letzten Station des Konsuls, im Restaurant „Farolito“ erblickt er vor dem Fenster den Popocatepetl. Sein Gipfel versperrte den Himmel, als wäre er fast senkrecht über dem Konsul, als lägen die Barranca und das „Farolito“ unmittelbar an seinem Fuße. Unter dem Vulkan! Nicht umsonst hatten die Alten den Tartarus unter dem Ätna angesiedelt oder den Typhon in seinem Inneren. Für den Konsul wird der Punkt unter dem Vulkan auch zu seinem Tartarus, und als der „Propagandachef“ seinen ersten Pistolenschuß auf ihn abfeuert, er- Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 258 blickt er, taumelnd, einen Augenblick die Masse des Popocatepetl über sich, von Glanz durchtränkt. Der sterbende Konsul wird sodann einfach in den Abgrund einer Schlucht geworfen und jemand warf ihm noch einen toten Hund nach. Die drei Pistolenschüsse des „Propagandachefs“ aber hatten das Pferd wild gemacht, das der Konsul am Zügel gehalten hatte. Es stürmte - durch das anbrechende Gewitter noch mehr beunruhigt - galoppierend in den Wald, durch den Yvonne und Hugh auf der Suche nach dem Konsul herannahten. Yvonne, die gestürzt war und die sich den Fuß verstaucht hatte, konnte nicht auf und wurde von dem Pferd zu Tode getrampelt. Während der sterbende Konsul glaubte, in den Vulkan zu stürzen, bis nicht nur der Vulkan, sondern die ganze Welt in einem Flammenmeer zerbarst, wobei er immer näher auf Bäume zu fiel, die sich zuletzt mitleidsvoll über ihn schlossen, hatte die sterbende Yvonne das Gefühl aus einem brennenden Traum empor gehoben zu werden zu den Sternen, wobei, da sie dem Orion zuflog, die Plejaden erschienen. Genau so wie das Motiv der beiden Vulkane den ganzen Roman durchzieht, deren positiver Aspekt das Inbild der vollkommenen Ehe darstellt, während zuletzt ihr negativer Aspekt des Todes die Oberhand behält, so durchzieht auch das Motiv Kanada den ganzen Roman. Es steht für eine Art utopischer Hoffnung eines irdischen Paradieses, das am fernen Horizont erglänzt. Das wird sinngemäß ergänzt durch die Skepsis der englischen Vergangenheit des Konsuls. Dieser monologisiert einmal, daß er sich abzufinden hätte, daß er ein „Gefühlsdusler, ein Pfuscher, ein Realist, ein Träumer, Feigling, Heuchler, Held - kurzum ein Engländer“ - sei: „Getarnter Snob und Pionier, Bilderstürmer und Entdecker: ein furchtloser Tropf gelähmt von Trivialitäten.“ Am Abend, als Yvonne und Hugh bereits auf der Suche nach dem Konsul sind, finden sie auf einer alten Speisekarte in seiner Schrift das Fragment eines Gedichts von ihm, über eine arme Seele, dessen letzter Vers lautete: „Die einst gen Norden floh …“ Schon lange vorher hatte Hugh Yvonne von Kanada erzählt und ihr empfohlen, im Westen Kanadas eine Hütte am Meer zu kaufen, entfernt von der Großstadt Vancouver. Eine Hütte im Wald, wo man sich das Wasser aus dem Brunnen holt und das Holz aus dem Wald. Lowry zeigt dabei auch, wie sich zwischen zwei sensiblen Menschen, die einander psychisch nahe sind, telepathische Verbindungen entwickeln können: Der Konsul hat den Brief, in dem er Yvonne zu kommen gebeten hatte, nicht abgeschickt - und sie kommt trotzdem. Yvonne hing, angeregt durch Hugh, ihren Tagträumen über Kanada nach und in etlicher Entfernung von ihr bleibt der Blick des Konsuls an einem Bild von Kanada in einem Wandkalender haften. Unter einem strahlenden Vollmond stand ein Hirsch an einem Fluß auf dem ein Mann und eine Frau in einem Kanu aus Birkenholz paddelten. Dieser Kalender zeigte die Zukunft an, den nächsten Monat Dezember. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 259 Wenig später, vor dem Restaurant im Freien konzentrieren sich die Gedanken des betrunkenen Konsuls auf Britisch-Kolumbien und darauf, daß es vielleicht ein unentdeckbares Paradies war, auf „seine“ Insel und ganz kurz vor seinem Tod formt sich in ihm der Gedanke, ein gemeinsames Leben mit Yvonne in Kanada wäre eine mögliche Lösung gewesen. Aber kaum war die Hoffnung leise erwacht, als ihm schon klar war, daß es zu spät ist. Dabei fühlt er sich seltsam erleichtert. Der Konsul wird ermordet und Yvonne stirbt unter den Hufen eines Pferdes. Vielleicht mußten sie sterben, damit sie als Malcolm und Marjorie Lowry wiedergeboren werden konnten, um den Traum vom Paradies in Britisch-Kolumbien in Wirklichkeit zu verwandeln. Es gibt mehrere Parallelfälle in der Literatur dazu. Goethes Werther und Hermann Hesses Hans Giebenrath in Unterm Rad sind nur zwei Beispiele dafür. Jedenfalls lebten Lowry und seine zweite Gattin von 1940-1954 mit kurzen Unterbrechungen in den Wäldern von Britisch-Kolumbien an der Küste und Lowry vollendete nicht nur den Roman Unter dem Vulkan dort, sondern sublimierte sein eigenes Ich in einen dichterischen Charakter, den amerikanischen Schriftsteller Sigbjörn Wilderness, der die zentrale Figur eines ganzen Romanzyklus von sieben Bänden hätte werden sollen. Am Ende dieses Zyklus hätte die Erzählung „Der Waldpfad zur Quelle“ stehen sollen, die tatsächlich geschrieben wurde. In ihr wurde der Traum vom Paradies in der Natur zur dichterischen Wirklichkeit. Sie ist in der Ich-Form geschrieben und trägt die Widmung „Für Margerie, meine Frau“. War der Konsul im Roman Unter dem Vulkan seiner Katabasis gefolgt, als er Yvonne und Hugh durch das Fenster der Taverne zuruft: „Mir gefällt es in der Hölle“ und „Ich liebe die Hölle“, ehe er ihnen davonläuft, in den Wald und in den Tod. So errichtet die Erzählung „Der Waldpfad zur Quelle“ 6 eine positive Idylle als Gegenbild nicht nur zum Roman, sondern auch zum Morden im Zweiten Weltkrieg. Im Roman Unter dem Vulkan steht neben einem positiven Aspekt der Bewußtseinserweiterung und wachsenden Todeserkenntnis durch die Katabasis des Konsuls - Lowry hat Hermann Brochs Tod des Vergil sehr geschätzt - ein negativer Aspekt der Selbstzerstörung. Allerdings hat Lowry als drittes Motto vor den Roman das Faust-Zitat Goethes gesetzt: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Auch das macht klar, daß wir das Ende des Konsuls, dessen heimliches Leitbild Marlowe einmal ausdrücklich als „faustischer Mensch“ bezeichnet wird, trotz seines Selbstzerstörungstriebs durch den Alkohol durch seine Ermordung positiv als Martyrium zu bewerten haben. 6 „Der Waldpfad zur Quelle“. In: Malcolm Lowry: Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 226-300. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 260 Bei der Erzählung „Der Waldpfad zur Quelle“ ist es freilich so, daß das ganze Werk von vornherein als positive Antwort und als Gegenbild gegen das Chaos des Zweiten Weltkrieges angelegt ist. Während einige der geschriebenen Sigbjörn-Wilderness-Geschichten in der dritten Person erzählt werden, ist „Der Waldpfad zur Quelle“ in der ersten Person erzählt. Die Erzählung knüpft in mehrfacher Hinsicht direkt an den Roman Unter dem Vulkan an. Die Fabel setzt am Beginn des Zweiten Weltkrieges ein, wenn die Handlung des Romans bereits vorbei ist und zieht sich durch all die Jahre des Krieges und darüber hinaus. Außerdem wird von den beiden Protagonisten erklärt, daß sie von ihrer Waldhütte aus die „Cascades“ der großartigen Kordilleren sehen können, die sich durch den ganzen Kontinent ziehen und zu denen auch der Popocatepetl gehört, der Vulkan des Roman-Titels. Schließlich berichtet der Ich-Erzähler, daß er in seiner städtischen Vergangenheit ein Alkoholiker gewesen war und in tausend alkoholische Morgendämmerungen hinausgestolpert sei, während er nunmehr höchstens ein paar Glas trank und auch das nur, wenn er es sich leisten konnte oder wenn etwas zu trinken da war. Nie hatte er sich in seiner städtischen Vergangenheit einen Sonnenaufgang angesehen wie jetzt, wobei die Sonnenaufgänge zwar nur einen kleinen, jedoch sehr wichtigen Teil des Naturparadieses darstellen, in dem er jetzt lebt und das ihn entzückt. Er fragt sich, wie es kommt, daß er mit seiner Frau geradezu in einer „Rumpelkammer des Daseins“ lebte, unter so elenden Bedingungen, daß die Presse und die Gesundheitsbehörden sie als menschenunwürdig bezeichneten, und ihnen dabei ihr Leben in Eridanus trotzdem „der Himmel“ zu sein schien, die übrige Welt aber, mit ihren großartigen Rezepten für die Erfüllung der eingebildeten Bedürfnisse der Menschen, die in Wirklichkeit ihr Verderben waren, die Hölle. Die Vorliebe des Guimar-es Rosa für ein „Hinterland“ scheint eine echte innere Verwandtschaft darzustellen. Der Name des Ortes, Eridanus, der freilich nur aus einer Gruppe von auseinanderliegenden, einzelnen kleinen Häusern und Hütten bestand, verweist darauf, daß es selbst in dieser Erzählung vom einfachen Leben in der Natur überaus mehrschichtig zugeht. Der Name stammte von einem alten Dampfer der Astra Linie, der hinter der Landspitze mit dem Leuchtturm gestrandet war. Zunächst war die Bucht und auch der Fluß, der aus ihr hier ins Meer floß, nach ihm benannt worden, später auch der Ort der Gruppe von verstreuten Squatter Hütten im Wald. Die Frau des Erzählers macht ihn aber darauf aufmerksam, daß es auch ein Sternbild mit dem Namen Eridanus gibt, sowohl als Strom des Todes wie des Lebens bekannt und von Jupiter auf das Firmament gesetzt zum Gedächtnis von Phaeton. Das junge Hochzeitspaar, der Ich-Erzähler und seine Frau, das seine Hochzeitsreise aus Geldmangel hinaus in die gewaltige Naturszenerie machte, hatte nicht im Traum daran gedacht, hier zu bleiben. Sie waren zunächst für Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 261 eine Monatsmiete von zwölf Dollar in die Hütte eines Schotten eingezogen. Sodann wollten sie ein wenig länger bleiben und entschlossen sich schließlich, zu ihrer eigenen Überraschung, im Unterschied zu den meisten anderen Hüttenbewohnern von Eridanus auch den Winter hier zu verbringen. Sie wechselten über zu einer anderen Hütte, kauften schließlich eine eigene für hundert Dollar und gehörten plötzlich ganz zu Eridanus. Ihr eigenes Haus „brannte drei Jahre später ab“ heißt es lakonisch in der Erzählung und das geschah auch Lowry und seiner Frau selbst in der Wirklichkeit. Während sie einige Zeit abwesend waren, hatte die „öffentliche Hand“ alle Squatterhütten, für die keine Steuer entrichtet wurde, die verbotener Weise in Staatswäldern errichtet worden und von der Gesundheitsbehörde als gefährlich erklärt worden waren, niedergebrannt. Die lokale Zeitung hatte dies schon lange gefordert gehabt. Der Ich-Erzähler aber baut wie Malcolm Lowry selbst am Platz des abgebrannten Hauses ein neues auf. Wie es überhaupt eine ganze Reihe weiterer autobiographischer Anspielungen gibt. So war auch der Ich-Erzähler einstmals Schiffsheizer gewesen und hatte seine Gitarre gerettet. Am Heck des alten, gestrandeten Dampfers aber konnte man noch die verblaßten Worte „Eridanus. Liverpool“ lesen und der Ich-Erzähler war in dieser schrecklichen Stadt geboren wie Lowry in der Nähe davon. Auch hatte sich der Ich-Erzähler wie Lowry selbst durch Nachtarbeit und das tägliche Reisen um den halben Erdball die Gesundheit verdorben und sogar Lowrys norwegischer Kapitäns-Großvater taucht in der Erzählung auf. Die Menschen von Eridanus sind durchwegs freundlich, entgegenkommend und hilfsbereit. Mitunter sitzt das junge Paar im Haus eines alten Bootsbauers von der Insel Man, welcher der Vater und Großvater der meisten anderen Fischer in Eridanus zu sein schien, die draußen auf See waren. Sie tranken Tee oder Whisky und sangen einen alten Fischerchoral von der Insel Man: „Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst.“ Sie sangen ihn etwas ironisch und dennoch ergriffen und der Ich-Erzähler kommentiert dazu: „Es gibt nichts Großartigeres als diesen Choral, gesungen zur Melodie von Peer Castle mit ihren dumpfen Mollakkorden, aus der die ganze Wildheit des Meeres klingt, aber seine flehentlichen Worte wirken weniger wie eine Anrufung Gottes als wie eine Verherrlichung seiner Gnade“ 7 und er ist der Ausdruck der tiefen Beglückung des Lebensgefühls des jungen Paares in der grandiosen Naturlandschaft des westlichen Kanada. Insofern hat es auch einen tieferen Sinn, daß der erste Vers des Chorals zum Titel des gesamten Bandes später Erzählungen Lowrys wurde, an dessen Schluß als Höhepunkt die Erzählung „Der Waldpfad zur Quelle“ steht. Es gibt Schilderungen der Gefährdungen, der Gewalt und des Schreckens der Natur, besonders im Winter und seinen Schneestürmen wie es auch Natur- 7 Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst, op. cit., S. 233. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 262 schilderungen von bezaubernder Schönheit gibt. Wenn etwa einmal, abends, am dunklen nordwestlichen Himmel in einer Kreisfläche die Saling eines brennenden riesigen Segelschiffes emportauchten, keine Segel, nur die flammenden Masten und Rahen und ein einsamer silbriger Mast mit schrägliegenden Rahen und Querbalken sank unter den Rand der kreisenden Scheibe, die in feurigem Gold emporstieg: und plötzlich lachten sie laut auf, denn es war nur der Vollmond, der hinter den fichtenbestandenen Bergen aufging. Der Ich-Erzähler vermutet, daß der Mond das wohl oft tat. Aber wer bemerkte es? Wer konnte es sehen? Sah es jemand außer den beiden? Er hatte es vorher nie gesehen. So ist die Erzählung ein Zeugnis für die Andacht zum Kleinen, aber auch zur großen kosmischen Ordnung der Natur und ein Zeugnis der Stille. Manchmal, heißt es einmal, trat zwischen den Gezeiten eine Weile absoluter Stille ein, so wie man sich das Tao der Chinesen vorstellt, das, was sie sagen, vor der Entstehung des Himmels und der Erde da war, etwas so Stilles, so Unwandelbares und doch allumfassend und sich nie erschöpfend - „das, was so still und doch ständig im Fluß ist, was sich weiter fließend entfernt und im Entfernteren wieder zurück kehrt.“ 8 Das junge Paar aber hatte in dieser Umgebung Selbstlosigkeit gelernt, oder zumindest waren sie anders geworden, „als die Dogmen der selbstischen Welt vorschreiben“. Für Haß war da kein Raum. Da der Ich-Erzähler Musiker ist, verdient er mitunter ein wenig durch kleine Kompositionen oder Bearbeitungen oder aber auch nur durch das Erfinden von passenden Titeln von Musikstücken und einmal geht er sogar so weit, sich an einer Symphonie zu versuchen. Bevor sie noch vollendet ist, verbrennt sie mit dem Haus und er vermag nicht, sie zu rekonstruieren. Aber einmal findet er ein angesengtes Notenblatt, auf das er seine Ästhetik in äußerst verdichteter Form, zusammen gepreßt, gleichsam in einer Nußschale, niedergelegt hatte und dieser Kurzabriß ist so gehalten, daß er die Grundlage aller Werke Lowrys und sogar auch des hier vorliegenden Buches bilden könnte. „Lieber Herrgott“, hatte er geschrieben, „ich bitte Dich ernstlich, hilf mir, in diese Arbeit, wie häßlich, chaotisch und sündhaft sie auch sein mag, eine Ordnung zu bringen, die vor Deinem Angesicht bestehen kann; auf daß sie - so erscheint es meinem unvollkommenen und ungeordneten Verstand - die höchsten Anforderungen der Kunst erfüllt, dabei aber der Anfang von etwas ist und wo notwendig, mit alten Regeln bricht. Sie muß voll von Aufruhr, Sturm und Donner sein, das lebenspendende, dem Menschen Hoffnung verheißende Wort Gottes muß hindurch klingen, aber sie muß auch ausgewogen und ernst, voller Güte, Mitgefühl und Humor sein. Ich bin ein sündiger Mensch und in falschen Begriffen befangen, aber laß mich Dir wahrhaft dienen dadurch, daß ich aus dieser Arbeit etwas Großes und Schönes mache, und wenn meine Motive un- 8 Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst, op. cit., S. 247. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 263 klar, und die Noten konfus und oft sinnlos sind, hilf mir bitte, sie zu ordnen, sonst bin ich verloren …“ 9 Der Titel der Erzählung aber ist zugleich ihr Hauptmotiv. Denn der Ich- Erzähler freut sich den ganzen Tag auf den abendlichen Gang zur Quelle, um Wasser zu holen. Und wenn er bei der Quelle angelangt ist, freut er sich noch mehr auf die Rückkehr nach der zwanzig Minuten langen Trennung von seiner Frau. Ja, es war mitunter, als blende eine Abenddämmerung in die andere über und als ginge er ohne Unterbrechung stets den Waldpfad entlang. Als er sich eines stillen Abends wieder auf den Weg gemacht hatte, schimmerte aus drei Hütten von Bekannten bereits stiller Lampenschein. Die Stille, die Ruhe der hochstehenden Flut und die brennenden Lampen in den Häusern am Meer bewirkten, daß ihm plötzlich die Insel der Seligen einfiel. Bei Renan hatte er einmal darüber gelesen, daß auf dieser Insel die Vögel zur vorschriftsmäßigen Zeit die Frühmette und die Laudes singen, daß sich dort die Lampen für den Gottesdienst von selbst anzündeten und nie ausbrannten, da sie vom spirituellen Licht gespeist würden. Dort herrsche eine absolute Stille, jedermann kenne die Stunde seines Todes, und es gab weder Kälte noch Hitze, weder Traurigkeit noch Krankheit des Leibes und der Seele. Was ihn auf die Idee bringt: diese Lampen hier in Eridanus sind wie jene Lichter, diese Stille ist wie jene. Hier ist die Insel der Seligen. Ja, einmal ist es ihm, als hätte er auf seinem Waldpfad eine Art Erleuchtungserlebnis gehabt. Als er nach Hause kommt, ist er nicht imstande, es seiner Frau zu beschreiben. Er muß sich auf das Klischee beschränken, eine Last sei von seiner Seele genommen und er versteht plötzlich, weshalb es Mystikern so schwer fällt ihre wirklichen Erleuchtungen zu beschreiben. Auch sein Erlebnis hing mit Licht zusammen und als es lange Zeit später wiederum im Traum empor kam, da beschrieb er es so, daß er das Gefühl gehabt hätte, sich selbst in die Bucht verwandelt zu haben und als wäre sein Spiegelbild plötzlich von der Sonne durchleuchtet gewesen. Es war bei hellem Tag, doch die Sonne schien er in seinem eigenen Inneren zu tragen. Das Licht und die Wärme dieser Sonne verwandelte sich bei seinem Erwachen in etwas ganz Einfaches: „Etwa wie bei Swedenborg“ 10 , fügte er hinzu. Was an Czesław Miłosz erinnert. Dieses ganz Einfache aber war etwa der Wunsch, ein besserer Mensch zu werden, gütiger, verständnisvoller, liebevoller sein zu können. Es war so einfach, wie das einfache Leben in der Natur und trotzdem scheinbar für viele unmöglich, die Schönheit und Größe eines solchen Lebens zu erkennen und einen so einfachen Wunsch zu verwirklichen. Am Schluß der Erzählung aber steigen plötzlich drei Regenbogen auf, einer für ihn, einer für seine Gattin und einer für ihren Kater. Von der Landspitze 9 Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst, op. cit., S. 281. 10 Hör uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst, op. cit., S. 284. Malcolm Lowry: Zwischen Katabasis und Idylle 264 her sandte der Leuchtturm seine ersten, segensreichen Strahlen ins Zwielicht. Der Ich-Erzähler selbst aber, eine Sublimierung des Alkoholikers Lowry, der mit seinem Roman Unter dem Vulkan die vielleicht erschütternste Geschichte des Untergangs eines Alkoholikers gestaltet hatte, beugt sich nahe der Quelle mit seiner Frau lachend über den kleinen Bach, der aus ihr fließt, um zu trinken. Wasser zu trinken. Die Idylle hat im Grunde einen geradezu dämonischen Hintergrund, der sie jedoch nur umso wahrhafter, tiefer und tröstlicher macht. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht Wie bei vielen Autoren dieses Bandes von Faulkner bis Hesse spielte auch des arabischen Dichters Nagib Machfus aus Kairo die Zeit der Kindheit und Jugend eine besonders wichtige Rolle für sein Werk. Was für Hesse die kleine Schwarzwaldstadt Calw bedeutet hatte, in der er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr wohnte, das bedeutete für Machfus „die Welt von hara“, das ist die Welt der Hintergassen und in seinem besonderen Fall der Hintergassen des Viertels Jamaliyya in der Altstadt von Kairo, in die er am 11. Dezember 1911 hineingeboren wurde. Dabei ist es wichtig zu wissen, daß in der Zeit von Machfus und bis hinein in die Dreißigerjahre in diesen Hintergassen nicht nur die niedersten Klassen wohnten wie heute, sondern daß ihre Menschen ein ideales Spiegelbild der gesamten Gesellschaft Ägyptens, „ja der Menschheit überhaupt“ bildeten. 1 Da waren die Verbrecherbanden der Straße, sodann ein etwas weiter entferntes Derwischhaus mit türkischen und iranischen Insassen, die geheimnisvolle Lieder sangen, da war ein alter Torbogen, der einst die Stadtgrenze bezeichnet hatte und eine antike Trinkquelle, nicht zu vergessen den Friedhof am Rande des Viertels und in seinem Zentrum die Geschäfte und Cafés. Zu den wichtigsten Kindheitseindrücken gehörte der ägyptische Aufstand gegen die britischen Besatzungstruppen im Jahre 1919, als der Achtjährige von einem Fenster seiner Volksschule aus beobachtete, wie auch Frauen aus Eselskarren an der Demonstration teilnehmen, wie britische Soldaten in die Menge feuerten und wie die Körper der Toten und Verletzen auf der Straße lagen. Diese Bilder machten ihn für den Rest seines Lebens zu einem Verfechter nationaler Unabhängigkeit und zu einem geistigen Anhänger der liberalen und demokratischen Wafd-Partei. 2 All das hat seinen Niederschlag in einem seiner berühmtesten Werke, der Kairo-Trilogie, gefunden. 3 Machfus’ Vater war so streng, daß seine Freunde ihn niemals in seinem Haus besuchen konnten. Auch spricht der Autor von dem rein religiösen Klima in seiner Familie. Am ehesten versteht man die Entwicklung des Autors Machfus, wenn man an die autobiographische Figur Kamals in seiner Kairo-Trilogie denkt, an deren Beispiel die Selbstbefreiung von jeglicher organisierter und vorgeschriebener, fundamentalistischer Religion ausführlich beschrieben wird. Umgekehrt war von bleibendem Einfluß für ihn der Umstand, daß seine Mutter bereits den Vierjährigen mitgenommen hatte, um die Pyramiden und 1 Rasheed El-Enany: Naguib Mahfouz. Kairo 2007, S. 2. 2 Rasheed El-Enany, op. cit., S. 3. 3 Die drei Bände sind: Zwischen den Palästen, Palast der Sehnsucht und Das Zuckergäßchen. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 266 die Sphinx anzusehen und im Nationalmuseum besonders die Säle mit den Mumien zu besuchen. Als Machfus zwölf Jahre alt war, zog die Familie in das Viertel Abbasiyya, das heute durch dichte Übervölkerung gekennzeichnet ist, damals aber eine grüne Gegend war. Jedes der kleinen Häuser war von einem Garten umgeben und offene Felder dehnten sich bis zum Horizont. In diesem Viertel sollte Machfus eine der tiefstreichenden und zugleich geheimnisvollsten Erfahrungen seines Lebens machen, die mit gleicher Intensität in der unerwiderten Liebe seines Charakters Kamal zu Aida Schaddad in der Kairo-Trilogie wiedergegeben wurde. In Wirklichkeit hat sich diese erste Erfahrung wahrer Liebe in einer viel kürzeren, ja plötzlichen und ereignislosen Weise abgespielt, die fast an Dantes Beatrice-Erlebnis erinnert, da sie in fast mysteriöser Weise im Bewußtsein des Autors für den Rest seines Lebens haften blieb. Noch in seinem letzten Buch, dem Buch der Träume hat sie einen geradezu zauberhaften, poetischen Niederschlag gefunden. Hier schildert er als Traum, wie das Mädchen, das ihn bezauberte, in einem Wagen angefahren kam, der von einem geflügelten Pferd, wie Pegasus, gezogen wurde. Er sprang auf den Hintersitz und da spreizte das Pferd seine Flügel und der Wagen hob von der Erde ab, flog höher als die Dächer und Minarette zur Spitze der großen Pyramide, wo er absprang und auf deren Spitze landete. Er vermochte es aber nicht, seine Augen von dem verführerischen Mädchen abzuwenden, die in ihrem Wagen höher und höher in die einbrechende Nacht empor getragen wurde, bis sie schließlich am Himmel als strahlender Stern stand. Die Schulerziehung von Machfus begann in einer Koranschule, in welcher er etwas über Religion sowie lesen und schreiben lernte. In der einzigen kurzen Erinnerung daran ist aber sehr wenig von Religion die Rede, doch dafür um so mehr über seine erwachenden Gefühle zu einem Mädchen in derselben Klasse. In der Volksschule und Oberschule begann seine Faszination mit dem Lesen, nachdem ihm ein Schulfreund einen Kriminalroman geborgt hatte. Es folgten historische und Abenteuerromane von Walter Scott und Henry Rider Haggard, die er in arabischem Übersetzungen las nach denen sodann der sentimentale ägyptische Autor Mustafa Lutfi al-Manfaluti kam. Erst dann begann jene Zeit seiner Lese-Erfahrungen, die er die „Periode des Erwachens“ genannt hat. Die drei wichtigsten dieser „Neuerer“ des Lesens, wie er sie nannte, waren Taha Husayn, Salama Musa und Abbas Mahmud al-Aqqad. 4 Taha Husayns 4 Manche nennen als die drei wichtigsten Namen zwar auch Taha Husayn und al-Aqqad, jedoch als zweiten Namen anstatt Salama Musa steht bei ihnen Tawfiq al-Hakim. Grundsätzlich am Beginn des modernen ägyptischen Romans steht das Buch Die Tage, das erschien, als Machfus fünfzehn Jahre alt war und das auch auf ihn einen so tiefen Eindruck machte, daß er sogar ein frühes, unveröffentlichtes Werk Die Jahre als eine Art Gegenstück dazu schrieb. Machfus fand später rückblickend, daß Husayn, al-Hakim und al-Aqqad vor ihm und eher als er den Nobelpreis verdient hätten. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 267 Buch über die Vor-Islamische Dichtung nannte Machfus als das Buch, das den tiefsten Einfluß auf seine intellektuelle Entwicklung gehabt hatte. Die säkulare und evolutionäre Haltung von Salama Musa findet sich in fast jedem Buch von Machfus und Musa hat auch die erste Buchübersetzung von Machfus aus dem Englischen und seinen ersten Roman veröffentlicht. Abbas Mahmud al-Aqqad aber war der Autor, der Machfus für die Philosophie eingenommen hatte, die er in den ersten zwei Jahren an der Universität von Kairo zu seinem Hauptgebiet machte. Von westlichen Denkern war es in erster Linie Bergson, dessen Einfluß sich nicht nur in der Kairo-Trilogie, sondern weit über sie hinaus bis in Die Kinder unseres Viertels findet. Am allerwichtigsten jedoch ist, daß sich ab 1960 sein gesamtes Werk hindurch Einflüsse des Sufismus, der islamischen Mystik, finden. Er schaffte es nicht bis zum Magistergrad in Philosophie, da er sich der Weltliteratur zuwandte. Joyce war ein Autor, „den man gelesen haben mußte“ und dessen inneren Monolog er übernahm. Seine große Bewunderung gehörte Shakespeare und zu den größten Romanen, wenn nicht als allergrößten überhaupt, rechnete er Moby Dick. In seiner realistischen Phase hat Machfus vor allem von Aldous Huxley, D. H. Lawrence, Flaubert und Stendhal gelernt. Einmal nannte er in einem Interview als für ihn besonders wichtige Autoren Tolstoi, Proust und Thomas Mann. Wiederholt hat er betont, daß sein Werk nichts mit westlichem Naturalismus zu tun hätte. Machfus ist sein ganzes Leben bis zu seiner Pensionierung Beamter gewesen. Nach Abschluß der Universitätsstudien war er zuerst von 1934-1938 Sekretär an der Universität. Im Jahr 1938 wurde er parlamentarischer Sekretär des Ministers für religiöse Stiftungen und 1945 beantragte er seine Versetzung zur al-Ghuri-Bibliothek. Von 1951 an war er in einem staatlichen Kreditbüro tätig, später im Kulturministerium und zuletzt bei der Kunstaufsichtsbehörde. Seine langjährige Hinwendung zur westlichen Kultur erfuhr insofern in den späten Jahren einen Wandel, als er sich zwar nicht von ihr abwandte, aber versuchte, seinen Ausblick noch zu erweitern. Aus diesem Grund wuchs sein Enthusiasmus für universal menschliche Eigenschaften und Segnungen wie die Naturwissenschaften. Er beschrieb selbst seine Haltung als eine „eklektische“, die „versuchte, die gesamte menschliche Erbschaft zu nützen“ 5 . Obwohl Machfus niemals Mitglied einer politischen Partei war oder ein politisches Amt bekleidete und obwohl sich seine praktischen politischen Aktivitäten auf die Teilnahme an politischen Aktionen wie Demonstrationen und Streiks beschränkte, war er ein zutiefst politischer Autor und zudem ein zutiefst sozialer Autor, auch wenn er niemals Marxist war. Eher war er ein radikal demokratischer Autor. Einmal hat er ein interessantes, eigenes und persönliches 5 Rasheed El-Enany, op. cit., S. 25. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 268 Sieben-Punkte-Programm seines politischen Glaubensbekenntnisses zusammengestellt, das so aussah: 1. Der Mensch soll aus dem Klassensystem befreit werden, das auf Privilegien wie Erbschaft beruht. 2. Der Mensch soll aus allen Formen der Ausbeutung befreit werden. 3. Die Lage des Individuums soll auf seinen natürlichen wie erworbenen Qualifikationen beruhen. 4. Der Lohn soll den jeweiligen Bedürfnissen entsprechen. 5. Das Individuum soll sich der Freiheit des Denkens und Glaubens erfreuen, dem sowohl die Herrschenden wie die Beherrschten unterliegen. 6. Demokratie soll im vollsten Sinn des Wortes verwirklicht werden. 7. Die Macht der Zentralregierung soll auf Sicherheit und Verteidigung beschränkt bleiben. Als Machfus im Jahre 1952 die Niederschrift der Kairo-Trilogie fertiggestellt hatte, entsprach ihr Gehalt durchaus der Haltung dieser sieben Punkte. Die Trilogie wurde in Buchform erst 1957 veröffentlicht. Dazwischen liegen die fünf Jahre, die seit der „Revolution der Freien Offiziere“ vergangen waren und in denen Machfus sein Schreiben völlig unterbrochen hatte. Die Trilogie stellte freilich einen Wendepunkt nicht nur in der Produktion von Machfus und nicht nur in der Geschichte des ägyptischen, sondern des gesamten arabischen Romans dar. Der Doyen der modernen arabischen Literatur jener Tage, Taha Husayn, hat das Werk darum auch sehr richtig als „die größte Errungenschaft der arabischen Sprache auf dem Gebiet des Romans“ gefeiert, da es „mit den größten Werken der Weltliteratur vergleichbar war“. 6 Die „Revolution der Freien Offiziere“, die Oberst Nasser an die Macht gebracht hatten, war der Anlaß zu einem fünfjährigen Schock literarischen Schweigens von Machfus. Zwar war er durchaus befriedigt, daß die Korruption der Monarchie abgeschafft worden war, doch war ihm der Preis viel zu hoch. Er stand in vehementer Opposition zu Nassers Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der beschämenden Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Wie er auch nicht das geringste für die unnötigen und zudem verlorenen Kriege Nassers gegen Israel übrig hatte. Als Nassers Nachfolger Anwar Sadat 1977 Friedensverhandlungen mit Israel einleitete, war Machfus ganz auf seiner Seite und dies, obwohl der weitaus überwiegende Großteil der ägyptischen Schriftsteller und Intellektuellen und damit einige seiner engsten Freunde dagegen waren. Trotz seiner klaren und eindeutigen Haltung, die sich auch gegen die Unterdrückung der koptisch-christlichen Minorität richtete, war er in seinen dichterischen Werken notwendigerweise sehr vorsichtig und griff immer wieder zu indirekten Äußerungen hauptsächlich allegorischer Art oder zu historischen 6 Menahem Milson: Najib Mahfuz. The Novelist-Philosopher. New York - Jerusalem 1998, S. 15. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 269 Parallelsituationen, um allen einigermaßen intelligenten Lesern seine Meinung zu vermitteln. Das rettete diese Werke zugleich auch vor dem Absinken in direkte, politische Reportage. Seine Hartnäckigkeit und sein Mut als Einzelkämpfer gegen nahezu alle anderen erinnert an Hesses Stellung im Ersten und Zweiten Weltkrieg und seine Kunst verschlüsselter Kritik erinnert an die so hoch entwickelte parallele Kunst der polnischen Autoren, die sich als Dissidenten gegen die Unterdrückung durch das kommunistische Regime gewendet hatten. Seine Verachtung und sein Abscheu gegen den Fanatismus und Haß der vorgeblich religiösen, fundamentalistischen Moslem-Bruderschaft sind sein ganzes Leben konstant gleich geblieben. Aus dieser Geistigkeit heraus ist auch die Roman-Parabel Die Kinder unseres Viertels entstanden, jenes seltsame Werk über das Räderwerk der Gewalt, über die Wohltat wirklicher Demokratie und über den Fluch des Vergessens. Im Jahr 1957 hat er mit der Arbeit daran begonnen und 1959 erschienen erste Folgen davon in der Zeitung al-Ahram, doch mußte die Veröffentlichung abgebrochen werden. Als Buch wurde der Roman zum ersten Mal 1959 in Beirut, der konfessionell vielfältigsten Stadt und dem „Paris“ des Nahen Ostens veröffentlicht. In Ägypten selbst konnte er fast dreißig Jahre lang nicht erscheinen. 7 Im Dezember 1988 kündigte der Chef des Beiruter Verlags eine zweite Auflage des Romans an, den europäische Literaturwissenschafter als das „fesselndste“ und „originellste“ Buch von Machfus und zudem als „Höhepunkt moderner arabischer Geistesgeschichte“ gepriesen hatten. 8 Es war die Zeit, in welcher die liberale Einstellung des neuen Staatsoberhaupts Mubarak allgemein Hoffnung auf größere Geistesfreiheit erlaubte und es war das Jahr, in dem Machfus als erster arabischer Autor den Nobelpreis zuerkannt erhielt. Überdies hatte er in diesem Jahr den besonders hohen ägyptischen „Orden des Nils“ erhalten. Aber schon fünf Monate nach der Ankündigung der zweiten Auflage des Romans, den Machfus einmal seinen besten genannt hatte, rief Scheich Umar Abd ar-Rahman, das religiöse Haupt der militant extremistischen Gruppe al-Dschama’a al-islamiyya, der auch von der Extremistengruppe Islamischer Dschihad verehrt wurde, dazu auf, Nagib Machfus zu ermorden. Nachdem eine Reihe von Gründen für diesen Mordaufruf gegeben wurden, unter anderem die, daß der Roman 114 Kapitel umfasse, genau so viele, wie des Koran 114-Suren, was auf eine Beleidigung des heiligen Buches hinauslaufe und daß in dem Roman heilige Werte des Islam verspottet würden, war das Buch wahrschein- 7 Die erste englische Übersetzung erschien unter dem Titel Children of Gebelawy 1981 in London, die deutsche Übersetzung 1990 in Zürich. 8 Doris Kilias: Nachwort. In: Nagib Machfus: Die Kinder unseres Viertels. Zürich 1995, S.-563. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 270 lich der Hauptanstoß des Todesurteils, welches das iranische Staatsoberhaupt Ajatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie in Abwesenheit „erlassen“ hatte. Hätte Machfus nicht dreißig Jahre früher diesen „schändlichen“ Roman geschrieben und hätte er damit nicht die Hemmungen und die Furcht beseitigt, Rushdie wäre vorsichtig genug gewesen, sein Buch überhaupt nicht zu schreiben. 9 Machfus hat sich durch diese öffentliche Aufforderung, ihn zu ermorden, in keiner Weise einschüchtern lassen, nicht einmal dann, als fünf Jahre darauf am 14. Oktober 1994 tatsächlich ein Mordanschlag auf ihn unternommen wurde, der zu lebensgefährlichen Stichwunden und einem langen Spitalsaufenthalt geführt hatte. Der Möchte-gern-Mörder hatte das Buch nicht einmal gelesen. Die Übersetzerin des Romans ins Deutsche, Doris Kilias, hat das Grundproblem ausgezeichnet im Nachwort des Buches in einen einzigen Absatz zusammengefaßt: „Der mit Nobelpreis und Morddrohung gleichermaßen bedachte Nagib Machfus hat sich immer zum Islam bekannt, aber jede Art von religiösem Fanatismus abgelehnt.“ „‚Die fundamentalistische Bewegung‘, sagte er in einem Interview, ‚ist deshalb so gefährlich, weil sie eine Phase der Krise auszunützen versucht, um zur Gewalttätigkeit und zum Bürgerkrieg aufzuwiegeln … Das Grundproblem für mich und viele ägyptische Intellektuelle ist die Frage der Demokratie. So lange es keine Demokratie gibt, oder wenn sie verschwindet, wären der Gewalt Tür und Tor geöffnet, und zwar von beiden Seiten: vom Staate wie von subversiven Elementen, die sich auf die Religion oder andere Ideologien beziehen. Und die Gewalt ist ein Teufelskreis ohne Ende.‘“ Hier aber schlußfolgert Doris Kilias sehr richtig: „Das ist genau das Thema des Romans Die Kinder unseres Viertels“ und demonstriert, daß es sich um das Problem von Chaos und Chaosüberwindung handelt. Machfus selbst ist im Grunde sogar noch weiter gegangen, als er berichtete, er hätte die fünf Jahre der Schreibpause dazu verwendet, um über den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte nachzudenken, denn obwohl die Gefahren wie die Rettung in verschiedenen Zeitperioden unter verschiedenen Namen auftraten, geht es im Grunde immer wieder um dasselbe Problem. 10 Was den Roman besonders kennzeichnet, ist nicht nur sein parabolischer Charakter, sondern die besondere Art, wie die Parabolik durchgeführt wurde. Zu den wichtigsten Personen gehört zunächst vor allem Gabalawi, der Mann vom Berg, der „Stiftungsgründer“, der das „Viertel“ gegründet und sich seither in Unsichtbarkeit zurückgezogen hat. Das von ihm „gestiftete“ oder erschaffene „Viertel“ steht aber nur einerseits für Kairo und das Kairo umgebende 9 Vgl. Samia Mehrez: „Respected Sir“, in: M. Beard and A. Haydar (Hg.): Naguib Mahfouiz. From Regional Fame to Global Recognition, New York 1993, S. 61-80. 10 Doris Kilias, op. cit., S. 567. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 271 Wüstengebiet. Andererseits steht es für die gesamte Welt. Und da der Herr aller Güter, als sein „Stiftungsgründer“ und „Ursprung“ andererseits von Allah selbst abgesetzt wird, so kann sich die parabolische Anspielung nicht auf Gott beziehen, sondern allenfalls auf eine Art gnostischen Demiurg. Nach ihm und mit ihm zusammen gehören die wichtigsten Charaktere Adham, Gabal, Rifaa und Kasim. Ihr parabolischer Hauptbezug sind der biblische Adam, Moses, Christus und Mohammed. Da die moslemischen so wie alle anderen Fundamentalisten in ihrer antireligiösen, rationalistischen Beschränktheit unfähig sind, irgendein mehrschichtiges parabolisches oder esoterisches Symbol zu verstehen, sondern sich immer nur eindimensional in logisch einfachen Beziehungen von Ist-Gleich-Zeichen zu klammern vermögen, so lesen sie den Roman so, daß Gabalawi gleich Gott ist, ja identisch mit Gott ist, und sie sehen daher darin eine Profanierung und Beleidigung Gottes. Sehr wohl verstehen dagegen den Roman die wirklichen Vertreter islamischer Mystik, die Sufis, und es ist kein Zufall, daß sich in vielen Erzählungen von Machfus Sufis als Charaktere finden, Sufi-Terminologie auftaucht und es auch zu Auseinandersetzungen über die mystische Grundhaltung kommt. Ebenfalls nicht verstehen werden ihn aber wohl auch jene Möchte-Gern-Sufis, welche die Mystik rationalisiert haben und die Esoterik exoterisch zu machen versuchten. Dagegen verstehen ihn andererseits sehr wohl jene ägyptischen Literaturwissenschafter und Intellektuellen, welche durch ihr echtes Verständnis der großen, altpersischen mystischen Dichtung einen wirklichen Zugang dazu besitzen. Der erste und wichtigste parabolische Bezug des Charakters Rifaa ist jener auf Christus und seine „Anhänger“ die Christen. Deshalb heißt es auch einmal von ihm, daß er nur das Beste wollte und zuletzt doch auf schreckliche Weise umgebracht wurde. Erzählt wird der Roman von einem anonymen Erzähler, der nur im wichtigen Prolog auftaucht, wo berichtet wird, daß er selbst ein Kind der Hintergassen ist, der die letzte Epoche des Viertels noch miterlebt hat und den Hauptcharakter des fünften und letzten Kapitels selbst kannte. Nachdem Machfus ihn mit Nachdruck hat erklären lassen, daß er nicht über sich und seine Ängste schreiben wird, sondern ausschließlich über die Leiden des „Viertels“, verschwindet er völlig und tritt im ganzen Roman nie wieder in Erscheinung. Er nimmt nicht die Rolle einer handelnden Person ein, sondern jene der platonischen Idee eines Beobachters, der in einem einzigen inneren Monolog - den Machfus von Joyce übernommen hat - die vielen und zusammenhanglosen Geschichten „geschlossen aufzeichnet“. Damit hat dieser Stil mit der herkömmlichen Guckkastenmanier der epischen Darstellung im Roman des 19. Jahrhunderts gebrochen und stellt aus der eigenen inneren Notwendigkeit, vom Machfus entwickelt, eine echte Parallele zum Stil von Brochs Tod des Vergil dar. 11 11 Vgl. Joseph P. Strelka: Vergessene und verkannte österreichische Autoren. Tübingen 2008, S.-57. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 272 Dieses platonische Beobachter-Ich bringt das Chaos der konkreten, einzelnen geschichtlichen und politischen Abläufe in eine erstaunliche parabolische Ordnung. Der Roman ist streng geschlossen so aufgebaut, daß das Kapitel 1 als Einleitung und das Kapitel 5, das in die Zeit der Gegenwart des platonischen Beobachters und seines Autors Machfus zielt, die drei Kapitel 2, 3 und 4 wie ein Rahmen umschließen. Der Held des ersten Kapitels ist Ahdam, der erste Mensch, und der Held des fünften Kapitels ist Arafa, der die mächtige Magie der modernen Wissenschaft betreibt. Die Kapitel 2, 3 und 4 aber haben nicht nur Gabal (Moses), Rifaa (Christus) und Kasim (Mohammed) als Thema, sondern mit ihnen zusammen zugleich auch die Geschichte ihrer nachfolgenden Anhänger. Das heißt, daß sie nicht nur die Geschichten der Begründer der großen monotheistischen Religionen erzählen 12 , sondern die Geschichten der Menschen ihrer Nachfolge, deren Triumphe und Leiden, der Verständnis von Hoffnung und Spiritualität, von Moral und Gerechtigkeit und deren Reaktionen auf die Gewalttätigkeiten von Seiten des Staates wie von Seiten aufständischer Terroristen. Dabei wird ein Schema freigelegt, das sich in jedem der Kapitel 2, 3 und-4 wiederholt: Immer wieder ersteht ein „Erlöser“, der die Bewohner der „Hintergassen“ von den bösartigen Gewalttätern der jeweiligen Provenienz errettet und ein friedliche und wohltuende Ära einleitet und ebenso immer wieder fallen nach dem Tod des Erlösers die Menschen zurück in die alte Feindseligkeit, den alten Haß, die alten Gewalttätigkeiten, für deren Welt parabolisch die Hierarchie eines Oberwächters, vieler Wächter und zahlloser Schergen und Helfer der Wächter steht. Machfus zeigt auch, wie sich unter den bedrückten und leidenden Menschen einerseits immer wieder Erzähler und Sänger finden, welche die Helden, die gegen die Gewalttätigkeit aufstehen, in Liedern, Gedichten und Geschichten preisen, andererseits aber auch wie immer wieder die Menschen in denselben bösartigen Zyklen verfangen sind, und nichts aus der Geschichte lernen. Der Held des fünften und letzten Kapitels, Arafa, ist ein Zeitgenosse des anonymen, fiktiven Erzählers aber nicht der Zeit von Machfus. Nimmt man die Darstellung wörtlich, dann lebt er nur eine Generation nach Mohammed. Aber wenn man sie wörtlich nimmt, dann irrt man, denn sie ist parabolisch gemeint und parabolisch reicht das letzte Kapitel bis in die Zeit von Machfus und in unsere Zeit herein. Arafa symbolisiert die Wissenschaft, vor welcher nicht der ursprüngliche Geist der Konfessionen selbst, wohl aber der Haß zwischen den Konfessionen zu lächerlichem Aberglauben verblaßt. Arafa versucht, in das geheimnisvolle große Haus von Gabalawi selbst einzudringen und als es ihm schließlich ge- 12 Die Geschichte der großen östlichen Religionen, Hinduismus, Buddhismus und Taoismus, bleiben ausgeklammert. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 273 lingt, wird er mitschuldig an dessen Tod oder glaubt zumindest daran, Mitschuld zu tragen. Der dem Sufismus zutiefst verbundene Machfus weiß sehr wohl, daß Allah nicht getötet werden kann, wohl aber allenfalls ein Demiurg, der an der Entwicklung des konfessionellen Hasses mitbeteiligt war. Ja es ist wahrscheinlich, bleibt aber in schwebender Ambivalenz, daß Gabalawi sogar selbst mit seinem Abtritt einverstanden war. Ursprünglich hatte Adham, im ersten Kapitel, „den Höllengrund der Verzweiflung“ zu durchschreiten, um schließlich auf Gabalawi zu stoßen. Dieser erscheint ihm denn auch vor seinem Tod und erklärt ihm, er hätte ihm vergeben. Er prophezeit ihm, daß die „Stiftung“ seinen Nachkommen gehören soll, empfiehlt ihm zu schlafen und so entschläft er für immer. Wenn Machfus in die Zeit Kasims, das ist Mohammeds, einen Sportverein verlegt, dann erfüllt dies nicht nur die Funktion der Relativierung durch Humor, sondern zugleich auch das Unterstreichen der Zeitlosigkeit seiner Parabel, die bis in die Gegenwart reicht. Die Gewalt der „Wächter“ hat während der Lebenszeit von Machfus freilich wesentlich zugenommen. Der Held des fünften Kapitels, Arafa, das sich direkt auf unsere Zeit bezieht, hat ein „Buch des Wissens“ geschrieben und hat es gewagt, den „Wächtern“ den Kampf anzusagen. Zwar wird er getötet, aber die Menschen wissen, daß sein Bruder Hanasch lebt und daß der Großtyrann, der den arglos klingenden Titel „Der Verwalter“ trägt, vergeblich nach ihm fahnden läßt. Obwohl die Unterdrückung noch zunimmt, sind die Menschen erfüllt von Geduld und Hoffnung. Nicht zuletzt hat ja Machfus eine Waffe gegen die Tyrannei geschmiedet, die unbesiegbar ist: den Humor, der all den Fanatikern zutiefst wesensfremd ist. Der Humor ist insofern eine sehr ernste Angelegenheit, als er die Toleranz zu einer Selbstverständlichkeit zu machen imstande ist. Nicht zufällig spielt der Humor der „Unsterblichen“ auch in Hesses Steppenwolf eine Hauptrolle wie in der kastalischen Provinz des Glasperlenspiels die Heiterkeit. So schließt denn der Roman mit den Worten: „Das Viertel lebte in düsterer Furcht und erbittertem Haß. Aber die Menschen ließen alle Ungerechtigkeiten über sich ergehen und faßten sich in Geduld. Sie hielten an ihrer großen Hoffnung fest. Wann immer ihnen ein Leid geschah, sagten sie: ‚Wie der Tag die Nacht ablöst, so wird auch die Tyrannei ihr Ende finden. Wahrlich, wir werden noch den Untergang der Gewaltherrschaft erleben. Mit eigenen Augen werden wir den Anbruch der lichten Zeit erleben.‘“ 13 Wenn also die allgemeine Darstellung des menschlichen Dramas und seiner Zyklen letztlich zu der deprimierenden Einsicht führt, daß man in jeder Ecke und in jedem Winkel des „Viertels“ einen Beweis finden kann, daß es „Wächter“ gibt, aber nirgends eine Spur finden kann, daß hier Menschen wie 13 Die Kinder unseres Viertels, op. cit., S. 560. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 274 Gabal, Rifaa und Kasim je gelebt haben, so ist der allerletzte Schluß doch die auf der innerlichen Gewißheit des Glaubens an den Menschen beruhende Hoffnung, daß kein Gewaltregime sich auf die Dauer halten kann. Von all seinen insgesamt fünfunddreißig Romanen verdienen drei, die unmittelbar vor der Verleihung des Nobelpreises 1988 erschienen, besondere Beachtung. Ein vierter Roman, der auch in diese Zeit fällt und den Titel Hadith al-sabah wa-z-masa (Morning and Evening Talk) trug, ist davon ausgenommen. Er schildert auf der Grundlage von siebenunddreißig Lebensläufen aus drei Familien das Versagen des Experiments der Modernisierung Ägyptens. Die drei bedeutenden Romane sind Vor dem Thron, der sich auf den Thron des altägyptischen Gottes Osiris als Totenrichter bezieht, Der letzte Tag des Präsidenten, dessen Titel sich auf die Ermordung des in der ganzen Welt angesehenen ägyptischen Staatsmanns Anwar Sadat bezieht und Echnaton, mit dem Untertitel Der in der Wahrheit lebt, der sich auf den rätselhaftesten der ägyptischen Pharaos bezieht, der seinen Untertanen, fast tausend Jahre vor Moses, einen einzigen, monotheistischen Gott verordnet hatte, ein neues Weltbild schuf und zu Ehren des neuen Gottes Aton eine glänzende Residenz baute. Drei äußerst ägyptische Themen von Weltgeltung also. Der Echnaton-Roman, der von hoher Kunst und großer Schönheit ist, gipfelt im Besuch des fiktiven Erzählers, des jungen Historikers Merimun bei der vierzigjährigen Witwe Echnatons, der Königin Nofretete, die in der verfallenden und völlig vereinsamten, einst glänzenden Residenzstadt Achetaton in einem gewaltigen Palast umgeben von einem üppigen Garten gefangengehalten wurde. Nachdem Merimun die verschiedenartigsten Zeitzeugen befragt hatte, was es mit Echnatons „einem“ Gott, mit seiner Entdeckung des menschlichen Gewissens, mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott und seinem Plan der Errichtung eines Reiches von Harmonie, Frieden und Zärtlichkeit wirklich auf sich hatte, was alles der Eifersucht und dem Eiferertum einer geistig beschränkten, jedoch politisch mächtigen und korrupten Priesterklasse zum Opfer gefallen war, gibt ihm zuletzt endlich die Begegnung mit der Königin die völlige Sicherheit seines Urteils. Sollte jemals einer der Scheichs der fanatischen Moslem-Bruderschaft aus einem Irrtum oder Mißverständnis heraus zu diesem Buch greifen, wird er zufrieden die negative Beschreibung der Priesterkaste des falschen, nicht wirklich religiösen moslemischen Glaubens, sondern einer erstarrten und vertrockneten Abart davon lesen, ohne daß die geringste Gefahr besteht, daß er die Parallele zur jetzigen moslemischen Priesterkaste wahrnehmen würde. Machfus aber, der sich bei seiner Dankesansprache für die Nobelpreis-Verleihung auch als ein Abkömmling der pharaonischen Tradition bekannt hatte, dachte bestimmt vor allem an den außergewöhnlichen und geistigen Pharao Echnaton. Da er jedoch sowohl revolutionäre Umwälzungen wie auch hohles Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 275 Pathos verabscheute, hat er den letzten Absatz des Buches, in dem der junge Historiker sich selbst seiner Entscheidung bewußt wird, mit sorgfältiger Zurückhaltung und in heruntergespielter Tonart formuliert, was eine um so tiefere Wirkung hinterlassen kann. Zurückgekehrt von seinem Treffen mit Nofretete berichtet er seinem Vater alles - fast alles: „Zwei Dinge verheimlichte ich ihm: meine wachsende Leidenschaft für die Hymnen“ der monotheistischen Religion Echnatons, „und meine tiefe Liebe zu dieser wunderbaren Frau Nofretete.“ 14 Wie Arafa im Viertel unserer Kinder, getötet wurde und untergehen mußte, weil er gegen die negative Kräfte seiner Zeit aufbegehrte, so war es auch mit Echnaton gegangen, dessen Leibarzt Banto nach der Darstellung von Machfus dem jungen Historiker erklärt, er sei überzeugt, daß sein Nachfolger als Leibarzt, den die Priester bestellt hatten, Echnaton meucheln würde. Was den Roman Vor dem Thron betrifft, so konnte von ihm gesagt werden, daß er nichts gleicht, was Machfus vorher oder nachher geschrieben hat. 15 Mit der gesamten Anlage des Romans hat der Autor zwei Ziele zugleich erreicht: Erstens hat er den alten ägyptischen Mythos in Romanform erneuert und damit jene Dimension erreicht, über die Hermann Broch in seinem Aufsatz „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ alles Wesentliche gesagt hat. Zweitens aber hat Machfus damit auch seiner alten Überzeugung neuen Ausdruck verliehen, wonach eine übergreifende Einheit der Tradition des ägyptischen Volkes besteht, die tiefer reicht als der äußerliche Wechsel von der altägyptischen Religion der Pharaonen über das Christentum und den Islam hinweg. Denn die Reihe der ägyptischen Persönlichkeiten, die in diesem Roman vor den Thron von Osiris gerufen werden, um entsprechend dem alten Mythos abgeurteilt zu werden, beginnt mit Mina (oder auch Menes,) dem Begründer der Ersten Ägyptischen Dynastie, der Ober- und Unter-Ägypten geeinigt hatte, und reicht herauf bis zu Präsident Sadat. Durch Einbezug des Mythos hat Machfus jene Todeserkenntnis und metaphysische Ebene zugleich erreicht, die ein Urteil jenseits aller irdischer Voreingenommenheiten ermöglicht. Hier hat auch direkt der Einfluß Dantes mitgewirkt, denn ganz so wie Dante sein Jenseits nach der katholisch-thomistischen Auffassung seiner Zeit in Hölle, Fegefeuer und Himmel untergeteilt hat, so verurteilt auch der Osiris des Machfus die Seelen zu je einer dieser drei Regionen. An Dante gemahnt außerdem auch die unerbittliche „objektive“ Strenge, mit welcher Osiris seine Urteile fällt. Der Totengerichtshof von Machfus sieht so aus, daß die einzelnen Personen aufgerufen werden und selbst ihren „Fall“, die Summe ihres Lebens vortragen. Neben Osiris sitzen seine Schwester-Gattin Isis und deren Sohn Horus. 14 Nagib Machfus: Echnaton. Zürich 1999, S. 184. 15 Rasheed El-Enany, op. cit., S. 46. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 276 Nachdem der Aufgerufene sein Leben geschildert hat und Zeugen einvernommen worden sind, greift Isis als eine Art Verteidigerin ein und nimmt die Seite des Abgeschiedenen. Sodann erfolgt das Urteil des Osiris und alle, die positiv abschneiden, erhalten den Rang von „Unsterblichen“ und nehmen ebenfalls im Gerichtshof Platz, wo sie in allen folgenden Fällen ihre Meinung abgeben dürfen. Durch die Darstellung der einzelnen Fälle wird es offenbar, daß Osiris in keiner Weise die jeweilige öffentliche Meinung über die einzelnen Toten berücksichtigt, sondern, wiederum wie Dante, können Seelen, die im Leben einen überaus positiven Ruf hatten, durchaus negativ abgeurteilt werden wie umgekehrt mitunter Seelen mit einem sehr schlechten Ruf rehabilitiert werden. Es ist die grandiose Neuschaffung einer spirituellen Ordnung ganz in der Art Dantes. Obwohl der nicht-ägyptische Leser viele der historischen ägyptischen Herrscher und Persönlichkeiten nicht kennen wird, lesen sich die Selbstdarstellungen ihres Lebens vor allem auch durch die Einwürfe der einzelnen „Unsterblichen“ und mancher Zeugenaussagen oft überaus interessant, da die jeweils dramatisch spannende Szene oft überraschende Argumentationen bringt. So etwa wird der schwarze Enuch Kafur al-Ikshidi aufgerufen, der Ägypten über zwei Jahrzehnte als Pharao regiert hatte. Ein armer Wasserträger sagt als Zeuge aus, daß Kafur ein starker und gerechter Herrscher gewesen sei, der trotz seiner niederen Abkunft die Achtung und Liebe des Volkes errungen habe. Der Wasserträger gibt auch die Weisheit von sich, daß ein gerechter Sklave besser sei als ein ungerechter Prinz und Kafur wird tatsächlich von Osiris entgegen der überkommenen Tradition der öffentlichen Meinung für „unsterblich“ erklärt. Wie aber Hermann Broch, als er seinen Tod des Vergil schrieb, nicht das Rom des Augustus vor Augen hatte, sondern seine eigene Gegenwart, so ist es auch Machfus um vieles zu tun, aber gewiß nicht um einen „historischen Roman“. Aus diesem Grund sind auch die beiden letzten Kapitel über die Präsidenten Nasser und Anwar Sadat, beide Zeitgenossen von Machfus, die beiden weitaus längsten. Die Selbstdarstellung, die Machfus der Seele Nassers geben läßt, ist schamloses Eigenlob. Genaues Lesen enthüllt ironische Äußerungen, wie etwa Nassers Behauptung, er hätte eine „mächtige moderne Armee“ begründet, oder seine Meinung, er hätte mit der Unterstützung aller arabischen Revolutionen in Afrika besonders Vorbildliches geleistet. Obwohl er eines natürlichen Todes gestorben war, beendet er seine Selbstdarstellung mit dem Hinweis, er sei ein muslimischer Märtyrer, getötet im heiligen religiösen Krieg. Der erste Unsterbliche, der das Wort ergreift, ist der Begründer der Ersten Dynastie Menes, der Nasser vorwirft, er hätte die Araber so sehr über Ägypten als Staat gestellt, daß er sogar den Namen „Ägypten“ abgeschafft hätte, um des Namens einer „Vereinigten Arabischen Republik“ willen. Wie er ihm auch vorwirft, viele Ägypter ins Exil getrieben zu haben. Thutmosis wirft Nasser Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 277 vor, trotz seiner beruflichen militärischen Ausbildung ein schlechter Oberkommandierender gewesen zu sein. Es ist aber Mustafa Nahhas, Minister und Führer der Wafd-Partei, der nach der Überzeugung von Machfus die schärfsten Anklagen gegen Nasser erhebt: Er hätte sich nicht um Freiheit und Menschenrechte gekümmert. Zwar hätte er die Armen geschützt, doch wäre er ein einziges Unglück für die Intellektuellen und Gebildeten gewesen. Die wurden verhaftet und eingesperrt, gehenkt und umgebracht und ihre Menschenwürde war vollständig zerstört worden. Und was war das Ergebnis gewesen? Viel Lärm und Geschrei und wertlose Legenden, die auf Ruinenhaufen lagen. Als Nasser zu widersprechen versucht, wird Nahhas sogar noch konkreter: Die Entwicklung der ägyptischen Dörfer wäre wichtiger gewesen, als sich um die Revolutionierung der ganzen großen Welt anzunehmen. Die Förderung der wissenschaftlichen Forschung wäre wichtiger gewesen als der Krieg in Jemen. Der Kampf gegen das Analphabetentum aber sollte Vorzug haben vor dem Kampf gegen den Imperialismus. Es sei ein wirkliches Unglück, daß so viele Gelegenheiten versäumt wurden, da es zum ersten Mal war, daß ein Ägypter das Land regierte, ohne Opposition durch einen König oder eine Kolonialmacht. Aber anstatt seine kranken Mitbürger zu heilen, hätte er sie angetrieben, in Wettbewerb um die Weltherrschaft zu treten, während sie noch überlastet waren durch Krankheit und Probleme und dadurch verlor er den Wettbewerb und verlor sich selbst. An diesem Punkt greift die Göttin Isis als Verteidigerin ein. „Meine Freude darüber“, sagt sie, „daß eines meiner Kinder den Thron übernommen hat, ist grenzenlos! “ Sie schließt allerdings mit dem Hinweis, daß sie im Hinblick auf seine Fehler nicht wüßte, wie sie ihn verteidigen könnte. Der Richter Osiris faßt zusammen, daß wenige Menschen so viel für ihr Land getan hätten, aber auch nur wenige so viel Böses angerichtet haben. Angesichts der Tatsache jedoch, daß Nasser der erste geborene Ägypter auf Ägyptens Thron gewesen sei und daß er sich der Armen angenommen hätte, wurde ihm erlaubt, unter die Unsterblichen einzugehen. Damit greift Osiris den wesentlichen Pluspunkt auf, den die Verteidigerin Isis vorgebracht hatte. Nasser sei der erste gebürtige Ägypter, der das Land regiert hätte. Die „wirkliche“ Göttin Isis hatte sich damit gegen die angemaßte Göttlichkeit der Pharaonen gewandt, die sich Göttlichkeit arrogiert hatten, wodurch sie dem totalitären Charakter ihres Herrschens die letzte, unmenschliche Grundlage gegeben hätten. Nicht die praktisch-politische Frage des Parteiführers Nahhas fällt hier ins Gewicht, sondern das Problem wird auf einer metaphysischen Ebene entschieden. Nasser hat sich nicht Göttlichkeit angemaßt, hat nicht seine menschliche Endlichkeit dem Unendlichen gleichgesetzt- - wie viele andere Gewaltherrscher und Diktatoren - und hat damit auch nicht das wirklich Unendliche und Absolute des Göttlichen und der mythischen Ur- Eigenschaft verendlicht. Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 278 Freilich macht Machfus, der ja die Richtsprüche von Osiris tatsächlich lenkt, doch gewisse keineswegs unwichtige graduelle Unterschiede. Das kommt besonders deutlich durch den Vergleich zwischen Nasser und Sadat heraus, welcher der letzte Abgeurteilte des Romans ist. Denn kaum hat Nasser unter den Unsterblichen Platz genommen und ist damit selbst Richter geworden, und kaum war Sadat aufgerufen worden, als Nasser diesen auch schon mit Vorwürfen empfängt und heftig kritisiert. Es kommt zu einem Schlagabtausch zwischen den beiden Präsidenten, bei dem freilich Nasser sehr schlecht abschneidet. Einer der wesentlichsten Punkte von Sadats Verteidigung seiner Vorgangsweise ist der Hinweis auf den Umstand, daß er seine Herrschaft zu dem Zeitpunkt eines „schwarzen Terrors“ angetreten hätte, als ein Vater seinen eigenen Sohn und ein Mann seinen eigenen Bruder fürchten mußte. Machfus läßt auch Osiris in seiner Wortwahl und Begründung wesentliche Unterschiede machen. Nasser wird nur erlaubt, unter den Unsterblichen Platz zu nehmen, Sadat wird unter den Unsterblichen willkommen geheißen. Die Aufnahme Sadats unter den Unsterblichen wird als „würdig“ oder „ruhmreich“ beschrieben, die Aufnahme von Nasser lediglich als zureichend! Auch hier hatte die Göttin Isis als Verteidigerin schon vor dem Urteilsspruch das Wesentliche zusammengefaßt: „Dank diesem Sohn“ - das ist Sadat - „ist der Geist in das Land zurück gekehrt und Ägypten hat jene vollständige Unabhängigkeit erreicht, die es vor der persischen Invasion gehabt hatte.“ Es sollte nicht vergessen werden, daß Machfus in seiner Jugend durch eine Phase von Hoffnungslosigkeit, von Pessimismus, wenn nicht Nihilismus gegangen war, besonders nachdem einer seiner Romane, die er bei einem Wettbewerb der Arabischen Sprach-Akademie eingereicht hatte, aus moralischen Gründen abgelehnt worden war. Er hatte sich damals wie ein Held von Camus gefühlt, bevor dieser über ihn schrieb und er hatte den Glauben an die Dichtung verloren. Es war ein grandioser Weg des Aufstiegs bis zur Höhe seiner parabolischen Romane, nicht so abstrakt und zeitenthoben wie jene Kafkas, doch nicht weniger gleichnishaft und nicht weniger in das Zentrum der Conditio Humana zielend und mit einem Werk wie Vor dem Thron geradezu an Dante gemahnend. In seinem letzten Buch, dem Buch der Träume hat sich Machfus dann wieder dem Absurden von Camus, ja dem Surrealen und Irrationalen ganz geöffnet. So heißt es etwa im Traum Nr. 104: Er sah sich in Abbasiya - dem Viertel seiner Jugend - wandernd durch die Welt seiner Erinnerungen und gedachte besonders der verstorbenen Lady A. So lud er sie telefonisch ein, ihn beim Brunnen zu treffen und hier hieß er sie leidenschaftlichen Herzens willkommen. Er schlug vor, sie sollten den Abend gemeinsam im Café Fishawi verbringen wie in ihren glücklichen Tagen. Als sie aber den bekannten Ort erreichten, kam der verstorbene blinde Buchhändler zu ihnen herüber, und begrüßte sie herzlich, allerdings nicht ohne die liebe, verstorbene A. wegen ihrer langen Abwesenheit zu tadeln. Sie sagte ihm, daß es der Tod gewesen war, der sie abgehalten hatte, Nagib Machfus und das ägyptische Totengericht 279 doch wies er diese Entschuldigung zurück. Denn, sagte er, Tod kann niemals wirklich zwischen jene kommen, die lieben und ihre Geliebten.“ Einer der Biographen von Machfus hat versucht, eine Art Ordnungsprinzip in seine Romane zu bringen, doch das maximale Ergebnis war die Herausarbeitung einer Anzahl von „Achsen“, um welche die Romane immer wieder kreisen und die im Zentrum seines Lebens standen. Es waren dies: Zeit, Erinnerung, Tod, Schicksal, Zufall, Gott, Vernunft, Liebe, Politik, Sufismus und nicht zuletzt Arbeit als ein absoluter menschlicher Wert. Das Buch der Träume ist das einzige, in dem er Nachsicht in Hinblick auf die Form sowohl wie in Hinblick auf logisch deduzierbare Zusammenhänge walten hat lassen und in dem er seinem Sinn für das Mysteriöse und für Verzauberung freien Lauf hat lassen. Alle anderen Bücher zeigen die Hand des disziplinierten Handwerkers, der Klarheit und Vernunft walten läßt. Machfus starb in einem Krankenhaus in Kairo am 30. August 2006. Präsident Mubarak sprach der Familie sein Beileid aus und lobte den Verstorbenen als großen Autor, der immer für Toleranz eingetreten sei. Die arabische Liga erklärte, Machfus sei „die Nummer eins unter den arabischen Romanautoren“ gewesen. Er hat den arabischen Roman in weiter reichender Weise und Tiefe beeinflußt als irgendjemand anderer. In der Meldung einer Presseagentur über seinen Tod hieß es, daß er all das verkörpert hatte, was an seinem Heimatland liebenswert ist, daß er bescheiden und kreativ gewesen sei mit einem großartigen Sinn für Humor und daß er die Gesellschaft der Menschen geliebt habe. Für seinen Freund und Schriftstellerkollegen Gamal al-Ghitani war er die Verkörperung des „guten Menschen“, der alle durch Weisheit und Bescheidenheit für sich einnahm. Ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte er in einem Presse-Interview erklärt: „Die uneingeschränkte Meinungsfreiheit und der Respekt vor der Ansicht des anderen sind und bleiben meine Maximen. Allein Demokratie ist die Lösung.“ Ein bedeutender Kritiker aber hat einmal erklärt: „Sogar wenn man hunderte von Büchern über ägyptische Geschichte und Politik liest, kann man Ägypten nicht verstehen, es sei denn, man liest Nagib Machfus. Nagib Machfus gibt einem den wirklichen Geschmack von Ägypten. Er legt einem die Schlüssel zum Verständnis Ägyptens in die Hände und dann führt er einen in die verborgene Kammer der authentischen ägyptischen Geistigkeit.“ 16 16 Raja’ al-Naqqash: „Najib Mahfuz wa’l-mishwar al-tawil min al-Husayn ila Stockholm.“ In: al-Musawwar, vom 21. Oktober 1988, S. 36. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit „Thomas ist in Ginie an der Issa geboren. Um die Zeit, wenn in der nachmittäglichen Stille der reife Apfel mit hartem Aufschlag auf die Erde fällt …“ 1 Das ist die ins Dichterische transponierte Version für den 30. Juni 1911, als Czesław Miłosz geboren wurde und wenn er in dem wunderbaren autobiographischen Roman seiner Kindheit Das Tal der Issa sich selbst den Namen Thomas, seinem Geburtsort Šeteniai den Namen Ginie, dem Fluß Niewiażą aber den Namen Issa gegeben hat, dann sind diese klangvolleren poetischen Vereinfachungen dichterische Freiheiten von sehr geringem Belang, gemessen an der minutiösen Beschreibung der Flora und Fauna seiner Heimatlandschaft, gemessen an den Kindheitserlebnissen von der Geburt bis zum vierzehnten Jahr und nicht zuletzt auch gemessen an der Geschichte der Familienmitglieder rings um ihn, deren Dienstboten und seine eigenen wechselnden Freundschaften. Tatsache ist, daß er ganz wie im Roman im Herrenhaus einer alteingesessenen polnischen Landadelsfamilie im damaligen Rußland und heutigen Litauen geboren worden war. „Das Haus ist weiß, so niedrig, daß das Dach, auf dessen Schindeln hie und da Moos und Gras wächst, es zu erdrücken scheint … Auf der Rückseite hat man einen Hausflügel angebaut … Thomas’ Wiege war in dem alten Hausteil an der Gartenseite aufgestellt, und der erste Laut, der ihn begrüßt hat, waren wohl die Vogelrufe hinter den Fenstern.“ 2 Auch als Thomas bereits gehen konnte, nahm es lange Zeit in Anspruch, die hinteren Stuben und Kammern kennenzulernen und noch längere Zeit währte es, bis er die unmittelbare weitere Heimat, das Tal der Issa, entdecken konnte. Dieses Flußtal stellte in mancher Hinsicht eine Ausnahme zum nördlichen Land der Seen dar. Der Fluß ist nämlich nicht nur schwarz, tief und von sehr langsamem Lauf, dicht mit Wasserweiden bewachsen und von den Blüten der Wasserlilien oftmals völlig verdeckt, sondern er beschert seine Ufer mit seltener schwarzer Erde, ganz verschieden vom sandigen Boden der Seelandschaft. Nicht weniger gesegnet ist dieses Flußtal durch seine Weltabgeschiedenheit, die niemals als störend empfunden wurde. Die Landschaft ist auf ihre Weise ein „Hinterland“, die an des Guimar-es Rosa Sert-o erinnert. „Die Sammler der Folklore haben viele Motive an der Issa aufgeschrieben, die noch aus der heidnischen Zeit stammen, wie etwa die Geschichte vom Monde (bei uns ist er ein Mann), der aus seinem Bett steigt, wo er mit seiner Gemahlin - der Sonne - geschlafen hatte.“ 3 1 Czesław Miłosz: Das Tal der Issa. Frankfurt am Main 1999, S. 11. 2 Das Tal der Issa, op. cit., S. 13. 3 Das Tal der Issa, op. cit., S. 8. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 282 Das Gemüt des Kindes Thomas bewegte auch besonders der Aberglaube der besonders großen Anzahl von Teufeln an der Issa, welche die Gestalt von Halbwüchsigen haben und Kostüme aus dem 18. Jahrhundert tragen. Hier fügt der Autor erklärend hinzu, es sei wahrscheinlich, daß die Teufel, da sie „die abergläubische Bewunderung des Volkes für die Deutschen kennen - Menschen des Handels, der Erfindung und der Wissenschaft“ - versuchten, sich mehr Ansehen zu geben, „indem sie sich wie Immanuel Kant aus Königsberg kleideten. Nicht umsonst ist an der Issa der andere Name für unheilvolle Macht Niemczyk“ - kleiner Deutscher - „der bedeuten soll, daß der Teufel auf Seiten des Fortschritts ist“ 4 . Das große unverändert bewunderte und geliebte Vorbild des kleinen Thomas, der seine Eltern kaum kannte, war der Großvater Kasimir Surkont- - der in Wahrheit Zygmunt Kunat hieß - der Herr des Gutes, der in seiner Jugend in der Stadt gelernt und Bücher von Auguste Comte und John Stuart Mill gelesen hatte, von denen außer ihm kaum jemand sonst an der Issa je gehört hatte. Er repräsentierte eine eigene, in sich ruhende harmonische Ordnung, die freilich sehr wenig mit der allgemeinen, konventionellen „Ordnung“ zu tun hatte. So gab es auf dem ganzen Gut keinen einzigen Jagdhund und auch kein Gewehr. Auch trug er keine Schaftstiefel und Sporen wie die anderen Herren des Landadels, sondern er trug Hosen, die an den Knien ausgebeult waren und Schnürstiefel. Auch daß er alle seine Gäste gleich freundlich empfing, ob es ein Jude war, ein Bauer oder ein anderer Aristokrat, stieß auf Mißbilligung. Das einzige, was Großvater Surkont wirklich sehr schätzte, waren Ruhe und Bücher über Pflanzenkultur, in deren stilles Geheimnis er einzudringen suchte. Ja, es mag sein, daß er sich den Menschen gegenüber ähnlich verhielt wie zu seinen geliebten Pflanzen, denn er ließ sich durch ihre Leidenschaften nur schwer aus der Ruhe bringen. Er versuchte sie alle zu verstehen, und da er „zu gut“ war und zudem noch eine Abneigung gegen Kartenspiel und Lärm besaß, fanden sich seine aristokratischen Nachbarn von ihm abgeschreckt. Dabei bedeutete sein Wohlwollen den anderen Menschen gegenüber keineswegs seine Bereitschaft, alles Eigene aufzugeben und fallen zu lassen. Während es mit dem Dorf Ginie keine Probleme gab, lag das Dorf Pogiry permanent im Streit über das Weiderecht. Zornig aufgebracht schickten die Bauern eine Abordnung der Dorfältesten zu Surkont. Während dieser sie mit Schnaps und Aufschnitt bewirtete, begann die Empörung abzuflauen, umso mehr, als er sich ehrlich um eine Entwirrung der Streitpunkte bemühte. Also schlossen sie einen neuen Vergleich und erst auf dem Nachhauseweg begannen sie sich der Argumente zu entsinnen, die sie nicht vorgebracht hatten. Zu spät wurden sie böse darüber, daß er sie abermals bezaubert hatte. 4 Das Tal der Issa, op. cit., S. 9. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 283 Für Thomas bedeutete es Glückseligkeit, auf nackten Sohlen von der Glätte der Fußbodenbretter zu der Kälte der steinernen Korridorfließen und zu den Rundungen des Pflasters zu laufen, wo der Tau trocknete: „Und er war, das muß man erwägen, ein einsames Kind im Königreich, das sich je nach seinem Wunsch wandelte.“ 5 Die Issa selbst war für Thomas riesengroß. Er liebte es, sich im Gebüsch zu verstecken, kletterte auf einen Weidenstamm und verbrachte horchend einige Stunden im Anschauen des Wassers. Manchmal tauchte aus der Tiefe ein größerer Fisch empor, und dann klopfte Thomas’ Herz vor Ergriffenheit. Es kam auch der Tag, an dem er die Bibliothek entdeckte. Das erste Buch, das er herausgriff, war ein „falsches“, denn es war französisch geschrieben. Einen größeren Erfolg stellten bereits Shakespeares Tragödien dar. Er lag mehrere Stunden jeden Nachmittag auf dem Rasen, um zu lesen, kam aber schließlich doch zu der Entscheidung, daß es hier eigentlich um Angelegenheiten der Erwachsenen ging. Dafür waren zwei Reisebücher ganz nach seinem Geschmack, von denen das eine die Tierwelt Afrikas beschrieb, während das zweite die heimliche Reise eines Jungen seines Alters auf einem Schiff schilderte, wo er zwischen Zwieback und einem Faß von Süßwasser dahinlebte. Thomas schloß daraus, daß Schiffe Zuckerwasser mit sich führen. Nichts aber wäre falscher, als anzunehmen, daß der Roman von Miłosz eine rosarot eingefärbte Beschreibung eines fehler- und sorgenfreien Kindheitsparadieses wäre. Die für ihn als Kind schweren und harten Belastungen werden in all ihren Konsequenzen geschildert, mit denen sie erfahren wurden, wie harmlos sie auch einfühlungslosen Erwachsenen erscheinen mochten. Da ist seine erste Begegnung mit dem Bösen in der Person eines älteren Jungen namens Dominik, da ist das wiederholte Eingreifen des Todes, der ihm nahe Menschen fällte, und da ist nicht zuletzt auch die Erfahrung des Tötens, da ein Gutsnachbar den Zehn- und Elfjährigen mit auf die Jagd nimmt. Und schließlich gibt es durch ein Mißverständnis sogar einen Anschlag auf das Leben des kleinen Thomas selbst, der aber ins Leere verpufft. Im Rahmen der Spannungen zwischen den polnischen Herren und den litauischen Dienstboten hatte sich auch in Litauen eine kleine, fanatisch-nationalistische Gruppe gegen die Polen gebildet. Wie man bei derlei Menschen fast immer eine todesverachtende, finstere Entschlossenheit bis zum Letzten findet, so kommt gottlob auch eine Portion Dummheit für die technische Ausführung hinzu. Der Fanatiker hatte nämlich ausgerechnet den Großvater von Thomas, den menschlichsten und liebenswürdigsten Gutsbesitzer der Region, als Opfer seines „gerechten“ Hasses ausgewählt, um an ihm ein Exempel zu statuieren. Todesmutig schlich er sich eines Nachts zum Herrenhaus des Gutes, in dem alles, einschließlich der Hunde, friedlich im Schlaf lag. Zunächst verwechselte er 5 Das Tal der Issa, op. cit., S. 25. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 284 das Schlafzimmer des kleinen Thomas mit jenem seines Großvaters und sodann warf er seine - nicht entsicherte - Granate durch das geschlossene Fenster in dessen Zimmer. Als die Granate am nächsten Morgen gefunden wurde, sandte man nach einem Mann im Dorf, der im Militär gedient hatte. Dieser rekonstruierte den Vorgang und von da an schlief jede Nacht ein Knecht im Freien, gefährlich bewaffnet mit einem Holzprügel, aber die „Eisernen Wölfe“ Litauens schienen ihre lokalen Aktivitäten eingestellt zu haben. Die Entwicklung von Thomas freilich schien einen Schritt vorwärts gemacht zu haben. Nicht nur hatte die Jagd seine Faszination verloren, sondern sogar die Issa hatte ihre Zauberkraft eingebüßt. Dafür begann der Wunsch in den Vordergrund zu treten, die Mutter von Thomas möge ihre Versprechen wahr machen und kommen, um ihn mit in die Stadt zu nehmen, wo er ins Gymnasium gehen könnte. Vielleicht ist dieser Roman, gerade weil er die Ganzheit der Kindheit von Thomas umspannt, nicht nur das berührend Kindliche und Schöne, sondern auch das Leid und die Belastungen ein so besonders ergreifendes und wunderbares Heimwehbuch eines Exilanten geworden. Denn als Miłosz das Buch schrieb, hatte er längst das kommunistische Polen verlassen und war in die Freiheit geflohen. Jedenfalls kam der Tag, an dem die Mutter erschien. Ein Planwagen mit zwei Pferden wurde voll bepackt und eines Morgens saß Thomas neben seiner Mutter, knallte mit der Peitsche, der Wagen fuhr an und als sich die beiden umdrehten, sahen sie hinter sich, durch die immer kleiner werdende Öffnung des grünen Tunnels der Allee die flatternden Tücher, die erhobenen Hände, denn Thomas war kaum weniger geliebt worden als sein Großvater. Freilich mußte nach den entsetzlichen Exzessen der Nazis in Polen, die er durchleben hatte müssen und nach dem bald darauf einsetzenden Druck des Stalinismus, der ihn in das Asyl des Auslandes getrieben hatte, das weltabgeschiedene und friedliche Tal der Issa seiner Kindheit wirklich wie eine Art Paradies erscheinen. Was zunächst die Parzen für ihn in Vilnius bereithielten, das waren zunächst der Besuch des Gymnasiums und ein Jura-Studium an der Universität. Wesentlich weiter und tiefer reichte allerdings der Beginn seiner literarischen Karriere, der in seine Studienjahre fiel. Als 1930 die ersten Gedichte des Neunzehnjährigen im Universitätsblatt Alma Mater Vilenensis erschienen, da war er weit davon entfernt, zu glauben, daß er jemals ein Schriftsteller werden könnte. Bald darauf folgten jedoch Schritt auf Schritt Ereignisse, die ihn in diese Richtung wiesen. So schloß er sich einem Kreis von Literaten an, die sich im Café Rudnicki trafen und hier wurde er einer der zwei Gründer des kleinen Avantgardeblattes Żagary („Fanal“), in dem der Kreis seine neue Kunstrichtung des „Katastrophismus“ verkündete. Von der ersten Planung her war dieser Katastrophismus tiefer und weiter reichend als in Hinblick auf die alsbald in Polen einsetzenden politischen und menschlichen Katastrophen. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 285 Im Jahr 1933 kam sein Lyrikband Poemat o czasie zastygłym heraus und 1934 schloß er sein Studium ab. Er erhielt den ersten seiner zahlreichen literarischen Preise und dazu noch ein Jahresstipendium, das ihm ermöglichte, sich in Paris weiterzubilden. Als er sich nach seiner Heimkehr und auch später noch, im Exil, der Einsamkeit ergab und den seltsamen Beruf wählte, polnische Gedichte zu schreiben, versuchte er ein bestimmtes Idealbild eines Dichters aufrechtzuerhalten. Sein Wunsch war, wenn er Ruhm ernten sollte, dies nur im Dorf oder in der Stadt seiner polnischen Heimat zu erreichen. Er hat auch tatsächlich einen geradezu unglaublichen Einfluß auf die polnische Literatur genommen. Während der Jahre der Besetzung Polens durch deutsche Truppen arbeitete Czesław Miłosz in Warschau im Untergrund gegen die NS-Tyrannei und auch für das Radio. Er war so erfolgreich in seiner Untergrundarbeit, daß er nach dem Krieg durch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde. Mit seiner dichterischen Produktion während der Kriegsjahre war er ganz und gar nicht zufrieden: „Ich wüßte nicht, wie ich über Lyrik im allgemeinen sprechen könnte. Ich muß über Lyrik in ihrer Begegnung mit bestimmten Umständen von Zeit und Ort sprechen. Heute sind wir von einer bestimmten Perspektive her fähig, Grundlinien von Vorgängen zu unterscheiden, die durch ihre todbringende Wucht alle uns bekannten Naturkatastrophen weit übertreffen. Aber Lyrik, meine wie jene meiner Zeitgenossen, gleichviel ob in traditionellem oder avantgardistischem Stil, war nicht vorbereitet darauf, für diese Katastrophen einen entsprechenden Ausdruck zu finden. Wie blinde Männer tasteten wir unseren Weg entlang und waren Versuchungen ausgesetzt, mit denen sich der Geist selbst in unserer Zeit überschwemmte …“ 6 Miłosz hat in seiner Nobelpreise-Rede darauf hingewiesen, wie geradezu „organisch“ aus den Verbrechen der Komplizen Hitler und Stalin neue Verbrechen hervor gewachsen sind. Er begann mit der Erinnerung an zwei seiner Freunde, Wladyslaw Sebyla und Lech Piwowar, deren Gedichte in Anthologien polnischer Lyrik aufzutauchen begannen und als deren Todesdatum nur 1940 angegeben war. Er nannte es absurd, daß man nicht schreiben durfte, wie sie starben, obwohl jedermann in Polen die Wahrheit wußte. Sie hatten das Schicksal von mehreren tausend polnischen Offizieren, entwaffnet und interniert, ermordet von Hitlers Komplizen, den Henkern Stalins. Und es sollten diejenigen Generationen des Westens, wenn sie schon Geschichte studieren, von den 200.000 Menschen hören, die 1944 in Warschau getötet worden waren, einer Stadt, verurteilt zur Vernichtung durch die beiden Komplizen. Die beiden völkermordenden Diktatoren sind nicht mehr und dennoch, wer weiß ob sie nicht einen dauerhafteren Sieg errungen haben als ihre Armeen. 6 Czesław Miłosz: Nobel-Ansprache. In: Nobel Lectures in Literature 1968-1980. Hg. von Sture Allén, Singapore u. a. 1993, S. 191. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 286 Trotz der Atlantic Charter ist das Grundprinzip der Nationen etabliert worden, wonach Nationen wie Gegenstände im Tauschhandel, wenn nicht Wertmarken im Kartenspiel sind. Auf diese Weise wurde Europa in zwei Zonen geteilt. Mögen aber westliche Mächte Kolonien aufgegeben haben, so hat dafür die Sowjetunion neue Satelliten-Kolonien gegründet. Diese Entwicklung wurde schicksalhaft für Miłosz. Zwischen 1945 und 1949 war er als polnischer Diplomat an amerikanischen Vertretungen tätig. Im Jahr 1950 wurde er nach Paris versetzt. In Polen wurde mehr und mehr der Stalinismus zum Staatsprinzip und die Kluft zwischen dem Denken, Schreiben und Handeln von Miłosz und seiner Zentrale verschärfte sich immer mehr. Bei einem Urlaub in Warschau im Dezember 1950 wurde ihm der Paß entzogen. Es gelang ihm, den Paß durch einflußreiche Persönlichkeiten zurückzuerhalten. Er erkannte dies als seine letzte Chance. Am 1. Februar 1951 reiste er nach Paris und erhielt von Frankreich politisches Asyl. Im Jahr 1953 erschien gleichzeitig in New York und Paris in englischer Sprache sein Buch The Captive Mind (Verführtes Denken). Im Jahr 1960 wurde er als Dozent am Department of Slavic Languages and Literatures der University of California at Berkeley eingeladen, 1961 wurde er ordentlicher Professor und 1970 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im Jahr 1980 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Lars Gyllenstein hat ihn 1980 der schwedischen Akademie in doppeltem Sinn als Exilanten vorgestellt, im äußerlichen wie in einem verinnerlichtem Sinn. Denn das physische Exil war in seinem Fall tatsächlich eine Wiederspiegelung eines metaphysischen oder sogar religiösen Exils, was nichts mit irgendeinem Fundamentalismus zu tun hat. Aber die Welt, wie Miłosz sie in seiner Lyrik wie in seiner Prosa darstellt, ist die Welt, in welcher der Mensch lebt, nachdem er aus dem Paradies vertrieben worden ist. Doch das Paradies, aus dem er verbannt worden war, ist nicht ein kosiges Idyll, sondern ein genuines Eden des Alten Testaments mit der Schlange als Rivalin um die Herrschaft. 7 Im Grunde gilt für alle seine Bücher, was er über seine Lyrik gesagt hat: „Wie alle meine Zeitgenossen habe ich das Zerren der Verzweiflung verspürt, die drohende Nähe des Untergangs, und ich warf mir selbst vor, einer nihilistischen Versuchung zu unterliegen. Auf einer tieferen Ebene jedoch, glaube ich, daß meine Lyrik gesund blieb und ich in einer finsteren Zeit der Sehnsucht nach dem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit Ausdruck verlieh.“ 8 Diese Tendenz tritt besonders deutlich in einem reifen Prosabuch hervor, das zweiundzwanzig Jahre nach dem frühen Kindheitsroman erschien und das seine „intellektuelle Autobiographie“ genannt worden ist. Miłosz selbst hat es zwar auch als seine „geistige Biographie“ bezeichnet, doch im zusammenfassen- 7 Vgl. Lars Gyllenstein in Nobel Lectures 1968-1980, S. 185. 8 Nobel Lectures, op. cit., S. 196. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 287 den Abschlußkapitel hat er es aus guten Gründen eine „Erzählung“ genannt. Die Darstellung erfolgt auch immer wieder in einer Art Erzählung, nur daß an Stelle von fiktionalen Romanfiguren Dichter und Denker treten, die seine Überzeugungen und seine Welthaltung positiv oder negativ beeinflußt haben. In dieser Hinsicht wird wie in einem Roman eine Totalitätsschau angestrebt. In untrennbarem Zusammenhang mit der „Erzählung“ dieser „geistigen Biographie“ entfaltet sich das Buch jedoch zu dem weiträumigen Versuch, die Scheinordnung und das Chaos unserer Zeit zu enthüllen und die Richtung auf eine wirkliche, tiefere Ordnung hin aufzuzeigen. Dieses Buch Ziemia Ulro (1977) ist deutsch unter dem Titel Das Land Ulro (1982) erschienen. Das Motto des Buches ist wie der Begriff Ulro selbst William Blake entlehnt: „Sie rasen gleich wilden Tieren in den Wäldern der Pein: In den Träumen von Ulro bereuen sie ihre menschliche Güte.“ Ulro, das ist das geistige Land der „Heimatlosigkeit, der ‚Enterbtheit‘, des aus dem Paradies der Ganzheitlichkeit vertriebenen Geistes“ 9 , das „Ödland der rationalistischen Zersetzung“, der mechanistisch mißverstandenen Welt, welche die Voraussetzungen lieferte für all die Massenaktionen fanatischer Grausamkeit und Unmenschlichkeit des ganzen 20. Jahrhunderts. In einem gewissen, sinnbildlichen Sinn verläuft die Grenze zwischen Ulro und der eher heil gebliebenen Welt zwischen dem atlantischen Westen und einem „Osten“, der für den Osten Europas und auch für Asien steht. Damit ist auch die polnische Heimat von Miłosz abgedeckt. Natürlich weiß der gebildete Autor genau, daß es im Bereich geisteswissenschaftlicher Belange nicht so „exakt“ zugehen kann wie in der Mathematik und in der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts. Geradezu ehrfürchtig verweist er auf westliche Kämpfer gegen Ulro, Vorläufer seiner eigenen Bestrebungen, die Leitbilder für ihn bedeuten. Sie kennen auch heilende Gegengifte gegen Ulro und haben sie bekanntgemacht. Da ist vor allem der Schöpfer des Begriffes selbst, William Blake und zusammen mit ihm sein Vorbild Swedenborg. Da ist aber auch Goethe, denn obwohl Miłosz kaum deutsch liest, hat er das Grundprinzip der Goetheschen Geisteshaltung in erstaunlicher Genauigkeit dem hervorragenden Buch von Erich Heller The Disinherited Mind entnommen. Der Titel dieses Buches „Enterbter Geist“ bedeutet ja geradezu wörtlich „Ulro“. Eine für Miłosz besonders wichtige Gestalt in dieser Hinsicht, ist sein entfernter Verwandter O. V. de L. Milosz, das ist Oscar Venceslas de Lubécz- Milosz. Geradezu spannend erzählt er dessen Leben und geistige Entwicklung. Dieser war zwar auch in Litauen geboren doch im Unterschied zum polnisch schreibenden Czesław Miłosz schrieb er französisch, denn er war litauischer 9 Jeannine Luczak-Wild: „Vorwort“ zur deutschen Ausgabe von Das Land Ulro, Köln 1982, S. 12. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 288 Gesandter in Frankreich gewesen und späterhin französischer Staatsbürger. Obwohl er aber in einer westlichen Ulro-Sprache geschrieben hatte, war er nicht weniger ein Vorkämpfer gegen Ulro als Blake und Swedenborg und bewundertes Vorbild von Czesław Miłosz. Allerdings war letzterer nicht ganz so der Realität und Gegenwart abgewandt wie sein Verwandter. In seiner Nobelpreis-Rede hatte er ausdrücklich erklärt, er wolle nicht den Eindruck erwecken, als sei sein Geist der Vergangenheit zugekehrt. Wohl spielen geistige Traditionen und Vorgänger gewiß eine große Rolle bei ihm, doch werden sie freizügig in ihrem wesentlichen Sinn verstanden und der Gegenwart angepaßt. Übrigens hat O. V. Milosz ganz wie Blake vieles von Swedenborg übernommen und hat ähnlich wie Blake ein „Neues Zeitalter“ und eine „Zweite Renaissance der Imagination“ verkündet. Durch die Berührung mit jüdischchristlicher Esoterik wie Kabbala und Gnosis verstand er sich als Begründer einer universellen Geistigkeit und ist dadurch nicht nur ein Bluts-, sondern auch ein Geistes-Verwandter von Czesław Miłosz. Wie es aber im westlichen Bereich Kämpfer gegen Ulro gibt, so gibt es umgekehrt auch im ulro-freien Osten Autoren, die für Ulro stehen. Eine im Buch von Miłosz besonders wichtige Gestalt dafür ist sein polnischer Exilkollege Witold Gombrowicz. Er ist darum besonders wichtig, weil sich Miłosz seiner als einer Art Gegenfigur bedient, um seinen eigenen, einsamen Kampf gegen Ulro anschaulich zu machen. Denn obwohl Gombrowicz mit seiner Dichtung auf den „unaufhebbaren Gegensätzen“ der östlichen „Ganzheit“ steht und damit der Tradition des Ostens angehört, „bedient“ er sich doch der „Kampfmittel des Gegners,“ der Ironie, der Groteske, der ‚schwarzen‘ Literatur des Absurden. Damit aber hat er kapituliert und „das Bürgerrecht von Ulro erworben.“ 10 Jeannine Luczak-Wild weist darauf hin, das auch Weltschau und Menschenbild des ostjüdischen Chassidismus „ganzheitlich“ und das heißt gegen Ulro gerichtet sind. Wenn aber die Ausführlichkeit, mit welcher Czesław Miłosz den Einfluß seines Verwandten O. V. Milosz beschreibt oder mit welcher er sich mit Gombrowicz auseinandersetzt, der Suche nach seiner eigenen Heimat und seiner geistigen Biographie zugehören, so reichen andere Teil des Buches weit über das Persönliche hinaus, da sie all das behandeln, was für die Anti-Ulro-Tradition des gesamten Abendlands relevant ist. So etwa, wenn er am Beispiel von Mickiewicz zeigt, daß es diesem um die Entscheidungen zwischen der Welt des Chaos und der Welt als Ordnung ging und daran erinnert, daß der große polnische Dichter in seinem Pan Tadeusz eine besondere Art der Ordnung einer Theorie der Rechtfertigung des Schöpfers als des Schöpfers des Erden-Gartens geschaffen hat. 10 Jeannine Luczak-Wild, op. cit., S. 12. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 289 Zwei besonders wichtige Kapitel sind das 26. und 27. über Swedenborg. Hier rührte er an ein Tabu der polnischen Literatur, Religion nicht ernstzunehmen: „natürlich durfte man immer als katholischer Schriftsteller auftreten, aber das kam einer Einordnung in die minderwertige Literatur gleich.“ 11 Dies war ganz verschieden von der französischen Literatur, die große katholische Autoren hervorgebracht hatte. Es ist aber die unorthodox-mystische Religiosität Swedenborgs, die Miłosz fasziniert und er zählt eine ganze Reihe von großen Autoren auf, die „mit vollen Händen aus seinem Werk geschöpft haben.“ Er sagt sogar eine Swedenborg Renaissance voraus, weil wir durch dessen Einsichten geradezu einen Einblick in die Wirkungsgesetze der menschlichen Einbildungskraft gewinnen könnten. Ja er geht so weit, Swedenborgs Werk als das zweite große Unterfangen nach Dantes großer Dichtung im abendländischen Kulturraum zu bezeichnen. Auch betrachtet er Swedenborg als einen Nachfahren Pascals. Blake aber hat Swedenborgs Himmel und Hölle ganz wie Dante als real gesehen, weil sie imaginär sind. Miłosz erläutert auch, daß Swedenborgs Vorhersage des Jüngsten Gerichts für das Jahr 1757 nicht wörtlich, sondern allegorisch zu verstehen sei. Denn dieses Gericht sollte im Jenseits stattfinden und könnte kein Ende der Erde noch der Menschen bedeuten, da ja die höhere Welt nicht ohne die Menschen bestehen kann, wie auch diese nicht ohne die höhere Welt bestehen könnten. Auf ähnliche Weise hatte sich auch die Wiederkunft Christi bereits ereignet, jedoch eben auch nicht wörtlich, sondern in Form der Herabsendung der Wahrheit in Swedenborgs Schriften, welche die Grundlage der „Fünften Kirche“ des neuen Jerusalem bildeten. Was Miłosz an Swedenborg fasziniert, sind nicht zuletzt seine gnostischen Züge. Seine Auffassung von der menschlichen Göttlichkeit verweist religionsgeschichtlich auf Gnosis und Manichäismus. Von hier stammt das Bild des durch den König der Helligkeit - des Lichts - gezeugten Urmenschen im Himmel ebenso wie das vom Adam Kadmon der Kabbala. Swedenborgs „vier Zeitalter“ aber entsprechen dem bei vielen Völkern verbreiteten Paradiesmythos, wobei es bei ihm zu einer Verbindung der eschatologischen Erwartung eines tausendjährigen Gottesreiches auf Erden mit einem zyklischen Geschichtsbild kommt. Im Grunde geht es Miłosz nicht um eine detaillierte Übernahme von Swedenborgs Theologie, sondern um seine eigene Auslegung der heiligen Schrift und die damit verbundene „Schaffung eines verbalen Raumes“, wie Osip Mandelstam es mit Bezug auf Dante genannt hat. Die innere Verwandtschaft zwischen dem prosaischen Werk Swedenborgs und der dichterischen Großtat Dantes besteht darin, daß sie einer „großen Honigwabe“ gleichen, die von den „Immen der Imagination“ einer gewissen Notwendigkeit entsprechend gebaut worden sind. „Denn der Mensch bedarf einer Behausung, und es genügt 11 Das Land Ulro, op. cit., S. 185. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 290 ihm nicht, ein Dach über dem Kopf im physischen Sinn zu haben; sein Geist braucht Bezug und Richtung in der Vertikale wie in der Horizontale.“ 12 Miłosz bekennt von sich ein, daß er einerseits an eine metaphysische Begründung seiner individuellen Existenz glaubt und darum überzeugt ist, im voraus zu etwas berufen zu sein, daß er jedoch andererseits ständig der Versuchung eines radikalen Skeptizismus ausgesetzt ist, welcher die Quelle der Überzeugung des Ungenügens seiner eigenen Existenz darstellt. Voll Bewunderung beschwört er jene groß geschriebene Imagination, die für Blake das Göttliche überhaupt bedeutet hat. Er fürchtet, daß seine Einbildungskraft selten auch nur annähernd an diese wahre Imagination heranreicht, weshalb er den Glaubensakt des modernen Menschen mit einer Wette oder einem Roulettespiel vergleicht. Zunächst scheint er aus Unsicherheit am Beginn des letzten Kapitels die Fragen zu stellen: „Wohin sind wir geraten? Was ist das? Wo gehen wir hin? “ 13 Doch stellt sich eine erste Sicherheit ein, wenn er die Antwort darauf weiß, wohin wir nicht gehen wollen. Denn auf jeden Fall steht für ihn fest, daß das Land Ulro keine ausgefallene Erfindung William Blakes war, da man es doch am eigenen Leib erfährt. Damit steht auch fest, daß seit dem 18. Jahrhundert etwas gewachsen und übermächtig geworden ist, was man mit verschiedenen Namen bezeichnet hat. Alle Versuche jedoch, aus dem Waste Land - ein zweiter Name für Ulro - auszubrechen, waren berechtigt und verdienten alle Anerkennung, sogar wenn sie gescheitert sind. Zuvor schon hatte er erklärt, daß die moderne Wissenschaft und Technik, die sich die Menschen aller Rassen und Völkerschaften anzueignen suchen, das Werk des winzig kleinen Westeuropa, jener Heimat von Ulro darstellen. Nun aber fragt er sich, ob er sich solche Überheblichkeit gegenüber dem Westen herausnehmen kann, wenn er nicht voraussetzt, daß er, gerade weil er polnisch schreibt, dort siegen wird, wo sie da im Westen am Verspielen sind. „Nicht weil ich aus Osteuropa komme. Ich bin ja kein Russe.“ 14 Zudem weiß er nur allzu genau, daß sich der Traum vom baldigen Sonnenaufgang eines Zeitalters des Geistes nicht national begrenzen läßt. Im Grunde hatte er sich bereits in seiner Jugend, innerhalb der polnischen Literaturströmung des „Katastrophismus“ mit Ulro auseinandergesetzt und war erfüllt von einer eschatologischen Erwartung gewesen. Erst später wurde dann der Katastrophismus zu einem Alarmruf für die Ereignisse in Polen von 1939- 1945 umstilisiert. Zunächst war es eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der viel größeren und tieferen Zivilisationskrise Ulros, wobei der Zweite Weltkrieg lediglich einer der Ausläufer dieser Krise war, die weitaus länger anhalten sollte. 12 Das Land Ulro, op. cit., S. 206 f. 13 Das Land Ulro, op. cit., S. 351. 14 Das Land Ulro, op. cit., S. 353. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 291 Im Großen hat Miłosz sich dem Gesetz der Imagination, wie Blake sie verstand, gefügt. Steigt man indessen von den eschatologischen Höhen zum Alltag hinunter, so schließt das Buch mit zwei letzten, anscheinend bescheidenen, tatsächlich jedoch bemerkenswerten Ergebnissen ab. Das erste besteht darin, daß Miłosz berichtet, wie er bereits als Kind zum Visionär geworden war. Schon zwölf- und dreizehnjährig hatte er von des Lehrers Worten nur ein eintöniges Gemurmel gehört, da er vollständig versunken in exotisch ferne Traumländer seine Hefte mit phantastischen Zeichnungen füllte: Deren Grenzen, deren Seen und Flüsse dienten dem Ordnen des Raumes, einer Chaosüberwindung also, die darin bestand, daß er die Zeit seiner Gegenwart hinter sich ließ, denn er zeichnete Länder, die später einmal sein sollten. Es waren allerdings keine menschlichen Länder, sondern Urgefilde, Heiligtümer einer Natur, in der nicht einmal Fußpfade bestanden, sondern nur eine Ordnung von Wasserläufen, welche mit dem Boot befahrbar waren. Diese waren das Ergebnis, das seine Phantasie aus Büchern und Zeitschriften über Einbäume von Eingeborenen und aus Erzählungen über die amerikanische Wildnis gezogen hatte. Diese Traumbefassung während der an die Mathematik und Physik verschwendeten Schulstunden, nahm er damals so ernst, wie seine jetzigen utopischen Träume von einer Zivilisation, welche die Unterdrückung durch Ulro überwinden könnte. Lediglich der Schauplatz hatte gewechselt, denn wenn es damals dem „Thomas“ aus dem „Tal der Issa“ um den Schutz der natürlichen Umwelt gegangen war, so ging es dem Autor jetzt um den Schutz der menschlichen Umwelt. Waren die Dreißigerjahre mit ihrer grellen Absurdität in kollektive Verblendungen, einer Flucht in Dummheit und Fanatismus böse genug gewesen, so schienen ihm die siebziger Jahre in keiner Weise viel besser. Seine Vision einer Erneuerung war auf eine fernere Zukunft gerichtet, in der manche vor langer Zeit bekannte, aber seither vergessene oder aus dem Bewußtsein verbannte Entdeckungen zum allgemeinen Wissensgut werden sollten: „daß die Unfreiheit nicht von dort herrührt, wo das zwanzigste Jahrhundert ihre Ursachen gesucht hat; daß die Lüge als Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen tiefere Wurzeln hat als bloß Angst und Machtgier; daß die Auflehnung der Menschen gegen ihre als unmenschlich erkannten Lebensbedingungen Bestrebungen in sich barg, denen die Schlagworte von Diktatoren und demagogischen Tribunen nur scheinbar einen Namen verliehen“. 15 Miłosz fand es durchaus natürlich, daß er sich der Versuche des Knaben in den Schulheften erinnerte. Bei chiliastischer Sehnsucht meinte er, käme immer wieder Kindlichkeit zum Durchbruch. Auch als junger Mann und Lyriker des 15 Das Land von Ulro, op. cit., S. 359. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 292 „Katastrophismus“ hatte er in einer bösen und grausamen Zeit von einer ländlichen, heilen Erde geträumt, wo „das Heu nach Träumen duftet“, wie Jósef Czechowicz gedichtet hatte. Ja, wenn er rückblickend darüber nachsann, daß der Schulknabe, der junge Lyriker und nunmehr der alte Professor in Berkeley der gleiche Mensch waren, dann hielt er es mit dem Grundsatz des ganzen Buches über Ulro, das kindlich und erwachsen, erhaben und erdgebunden war. Dies aber führt zum zweiten und letzten Ergebnis, das die beiden letzten Sätze des Buches bestimmt, eine Aufforderung zur Toleranz als tragender Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Dabei ist der Begriff hier zweifellos im aktivistischen Sinn verstanden, den er im 18. Jahrhundert besessen hat und der nicht das Geringste mit Gleichgültigkeit oder Laxheit zu tun hat, sondern die Intoleranz gegenüber der Intoleranz mit einschließt. Wenn aber die Flammenschrift des Menetekel der Absurdität eines Camus langsam in Vergangenheit zu versinken droht, dann ist er nicht allein. Denn das Buch, in dem Miłosz die Maske verkitschter Schönheit vom Medusenhaupt Ulros gerissen hat, scheint vollends in den Schächten weniger großer Bibliotheken verschwunden, wie sogar auch Hermann Brochs Theorie des Massenwahns kaum mehr wirklich erinnert wird. Das Buch von Miłosz ist nicht einmal antiquarisch leicht zu finden, als hätte ein böser Geist Ulros es aufgekauft und der Menschheit entzogen. Als Miłosz 1978 seine Lehrtätigkeit in Berkeley aufgab, verlieh ihm die Universität ihre höchste Ehrung: Er erhielt die Berkeley-Citation. Im Jahr 1980 erhielt er den Nobelpreis und es wurde das Verbot seiner Bücher in Polen aufgehoben. Im Juni 1981 reiste er nach langem zum ersten Mal wieder nach Polen, kehrte aber bereits bald wieder nach Berkeley zurück. Im Dezember des Jahres wurden seine Bücher in Polen zum zweiten Mal verboten. Nach dem Jahr der „Wende“ 1989 begann er abwechselnd in Krakau und Berkeley zu leben, bis er im Jahr 2000 endgültig nach Krakau ging. Bereits sehr früh, 1953, war seine Antwort auf den kommunistischen Totalitarismus, der Essayband Zniewolony umysł erschienen, der bald darauf auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Verführtes Denken herauskam. Es ist unmöglich, dem dichten Netz von Beobachtungen, Einsichten und Ideen auf knappem Raum wirklich gerecht zu werden. Jedenfalls zeigt Miłosz am Modellfall Polens nach 1945 und am Beispiel des Stalinismus, wie der Westen den Osten und wie der Osten den Westen sah und nicht immer wirklich verstand. Wie die totalitären Kräfte des Ostens mit unvergleichlicher psychologischer Meisterschaft daran gingen, aus antikommunistischen Autoren gläubige Anhänger des Gewaltregimes herauszubilden. Man fühlt sich an die gleichfalls glänzende Beschreibung solch psychologischer Meisterschaft in Koestlers Roman Sonnenfinsternis erinnert, in dem der Autor am Beispiel des höchsten, verdienten Kämpfers, Führers und Mitbegründers des Sowjetstaates zeigte, wie es zuging, daß dieser sich in offener Gerichtsverhandlung selbst in Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 293 völlig unwahrer Weise beschuldigte, ein ausländischer Agent und Verräter zu sein. Gewiß ist Miłosz nicht der einzige, der den kommunistischen Totalitarismus und den Totalitarismus als solchen überhaupt nicht lediglich unter dem Gesichtspunkt von Macht und Gewalt sieht - man denke nur an Erich Fromm- - doch geht kein anderer so weit, die „positiven“ Möglichkeiten eines entspannten, heiteren und glücklichen Daseins zu beschreiben, wie sie vor allem Intellektuelle aus dem System eines „Neuen Glaubens“ zu gewinnen imstande waren. Milos bedient sich zur Veranschaulichung solcher Entwicklung der Metapher der „Murti-Bing“-Pillen, welche in kondensierter Form die Murti Bing Weltanschauung enthielten, ein Begriff, der dem polnischen Roman Unersättlichkeit von Stanislaus Ignatius Witkiewicz entnommen ist. Dieser zeigt an einem Beispiel innerer Zersetzung, und eines Wertzerfalls, wie sie jener des freien Westens entsprechen eine Welt der inneren Spannungen, der Psychopathologie und der Drogensucht. Plötzlich bewirken die von Hausierern verkauften Murti-Bing-Pillen in jenen, die sie nehmen, eine innere Entspannung, überlegene Ruhe und Sicherheit sowie innerliche Zufriedenheit. Sie werden zu Menschen, die dadurch ihr inneres Verlangen Harmonie und Glück finden. Im Roman von Witkiewicz macht diese Weltanschauung des mongolischen Philosophen Murti Bing auch die Stärke der chinesisch-mongolischen Armee aus, die schließlich den Westen besetzt, unterwirft und ein totalitäres Regime errichtet, das soziale Wohlfahrt mit verkitscht verkürzten, bequemen und selbstgefälligen, problemlosen und antimetaphysischen Anschauungen verbindet. Freilich werden die Menschen gleichzeitig zu wahren Musterexemplaren einer Persönlichkeitsspaltung. Witkiewicz hatte wiederholt das nahende Ende von Religion, Philosophie und Kunst verkündet. Als ihm am 17. September 1939 mitgeteilt wurde, daß die Rote Armee dabei sei, in Polen einzumarschieren und Ost-Polen zu besetzen, nahm er sich das Leben, weil er ein Leben ohne Religion, Philosophie und Kunst als unerträglich empfand. Es folgt sinngemäß ein Kapitel „Der Westen vom Osten gesehen“ und es gelingt Miłosz darin, eine Überlegenheit des europäischen Ostens gegenüber dem Westen aufzuzeigen, keineswegs weil seine Menschen besser oder intelligenter wären, sondern weil er anschaulich zu zeigen vermag, daß das menschliche Leid im Osten noch viel umfangreicher, entsetzlicher und vernichtender gewesen ist als es das Leid im Westen war, obwohl es auch dort wahrhaftig groß genug gewesen ist. Miłosz hat beschrieben, weshalb darum der Intellektuelle aus dem Osten ein besonders harter Kritiker an all dem ist, was aus dem Westen kommt: „Der Krieg hat ihn scharfsinnig und mißtrauisch gemacht und gelehrt, den falschen Schein zu demaskieren … Wahrscheinlich hat nur das einen Wert, was Bestand Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 294 hat, auch in dem Augenblick, da der Mensch vom sofortigen Tod bedroht ist.“ 16 Man fühlt sich an den westlichen Broch-Roman Der Tod des Vergil erinnert. Diese Schilderung des Scharfsinns und des Mißtrauens war bis zum Erscheinen des Buches von Miłosz und darüber hinaus vor allem für Polen durchaus richtig. Andererseits aber, als die europäischen Oststaaten nach der so genannten Wende von 1989 zumindest zunächst völlige Freiheit erlangt hatten, ergab sich das paradoxe Problem, daß in einzelnen Fällen und auf manchen Gebieten vom Westen eher der Mist als die wirklichen Errungenschaften entlehnt wurden. Miłosz hat jedoch für die Zeit des totalitären Drucks den Zusammenhang zwischen diesem und der Haltung der gesteigerten, ernsthaften Kritik hervorragend beschrieben: „Ein Mann liegt unter Maschinengewehrfeuer, er liegt auf der Straße einer heiß umkämpften Stadt. Wie er das Straßenpflaster betrachtet, sieht er ein seltsames Schauspiel. Die Pflastersteine richten sich auf wie die Stacheln eines Igels. Das sind die Kugeln, die ihre Ränder streifen und sie in die Schräge drücken. Ein solcher Augenblick fällt im Bewußtsein eines Menschen das Urteil über Dichter und Philosophen.“ 17 Ein wesentlicher Teil des Buches ist sodann der Vorgangsweise, den Möglichkeiten und der Funktion der im Totalitarismus entstehenden Persönlichkeitsspaltung gewidmet. Den Schlüsselbegriff dafür, „Ketman“, hat Miłosz dem Buch des Protofaschisten Eugen Graf Gobineau Religions et Philosophies dans l’Asie Centrale entlehnt. Er bezeichnet die islamische Haltung in Persien, die wahre eigene Meinung zu verschleiern, die dummen Menschen und gefährlichen Bestien zu täuschen, um allenfalls zuletzt, wenn es ungefährlich ist, die Maske fallen zu lassen. Der islamische und der volksdemokratische Ketman sind durch das Ausmaß an Kühnheit leicht verschieden: „Nichdestoweniger ist der Ketman in seiner engeren und strengeren Form in den Volksdemokratie weit verbreitet. Ähnlich wie im Islam bildet das Gefühl der Überlegenheit über diejenigen, die der Wahrheitserkenntnis unwürdig sind, eines der größten Vergnügen des dortigen geistigen Lebens, das mit Vergnügen nicht allzu reichlich gesegnet ist.“ 18 Miłosz beschreibt sieben verschiedene Grundtypen dieses „Ketman“, vom „nationalen Ketman“ bis zum „ethischen Ketman“. Eigentlich sind es sieben verschiedene Grundformen eines reinen Nihilismus, denn „im Menschen drin ist nichts“, wie ihm ein Freund und dialektischer Materialist erklärt hatte, im Gegensatz zu dem im Land Ulro zitierten Pico della Mirandola, der im Menschen das Göttliche erblickt hatte. 19 16 Czesław Miłosz: Verführtes Denken. Köln und Berlin 1954, S. 52. 17 Verführtes Denken, op. cit., S. 52. 18 Verführtes Denken, op. cit., S. 68. 19 Verführtes Denken, op. cit., S. 87. Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 295 Eine Art Höhepunkt des Buches bildet das Kabinettstück der ebenso detailliert konkreten wie überzeugenden Beschreibungen von vier Grundtypen totalitärer Autoren: Alphas, des Moralisten, Betas, des unglücklich Liebenden, Gammas, des Sklaven der Geschichte, und Deltas, des Troubadours. Sie sind 1. aus Enttäuschung, 2. aus Verzweiflung, 3. aus Überzeugung und 4. durch Anpassung zu Kommunisten geworden. Alle vier weichen dem Aussprechen der ganzen Wahrheit ängstlich aus, was etwa dazu führte, daß der konkret und ausführlich geschilderte Typ Alpha, der „Moralist“, von manchen seiner Kollegen treffend eine „Dirne mit Grundsätzen“ genannt worden ist. Manche polnische Kritiker haben im Modellfall des Typus Alpha wahrscheinlich zu Recht den früheren Freund von Miłosz Jerzy Andrzejewski erkannt und als Modell des Typus Gamma Jerzy Putrament. Den „Abgesang“ des Buches, dieses Dialogs von Miłosz „mit dem Stalinismus und mit sich selbst“ bilden die beiden Kapitel „Die Feinde“ und „Die baltischen Völker“. Sie sind nicht weniger voll von scharfsichtigen und manchmal überraschenden Einsichten als alle anderen Abschnitte. Miłosz, der selbst nie zu den „Gläubigen“ gehört hatte, war imstande, die Kombination von Beschreibung und Reflexion seines Buches völlig „sine ira et studio“ zu schreiben, wenngleich mitunter mit glänzenden satirischen Untertönen. Er hat die Dialektik des kommunistischen Autors ebenso treffend wie anschaulich in all ihren labyrinthischen Winkelzügen beschrieben: wie dieser seine Unterwerfung zur Überlegenheit umstilisiert, seine Niederlage in einen Sieg und seine Lüge in eine Entlarvung. Die Persönlichkeitsspaltung dieses Autors sitzt so tief, daß er diese künstliche Maske wirklich glaubt und dazu noch gemeinsam mit dem geschlossenen Block von Gleichgesinnten eine unerhörte Macht darstellt. Miłosz mußte sich dessen in hoffnungsloser Klarheit bewußt werden. Es half nichts, daß er niemals der kommunistischen Partei beitrat und sich der Kluft zwischen sich und den anderen immer bewußt geblieben war. Ein bedeutender Kritiker sah es so, daß er einem gepanzerten und bewaffneten Gegner nur seine eigene Schwäche und Demut entgegenstellte. Daß er durch seine Flucht nach Paris eine glänzende Karriere als Dichter und Diplomat geopfert hatte, war für einen kommunistischen Parteipsychologen in Paris so unverständlich, daß er in seiner Analyse die These aufstellte, Miłosz hätte geisteskrank sein müssen, als er um Asyl ansuchte. Freilich war es den Machthabern in Polen nicht klar, daß sie nicht nur einen der größten Dichter verloren hatten, der Polen sehr viel eindrucksvoller repräsentiert als sie alle zusammengenommen, sondern überdies einen patriotischen Polen, der wesentlich mitgeholfen hat, die Verbindung seines Volkes mit der Weltliteratur als Teil der Weltkultur zu erweitern und zu bereichern, indem er Shakespeare, Whitman,T. S. Eliot, Baudelaire und andere ins Polnische übersetzte. Im Jahr 1980 wurden seine Bücher plötzlich im kommunistischen Polen wieder erlaubt und 1981 besuchte er seit langem seine polnische Heimat wie- Czesław Miłosz oder ein unbequemer Zeuge der Wahrheit 296 der, welcher er durch seine ganze Exilzeit durch die polnische Sprache seiner Dichtung die Treue gehalten hatte. Er mußte aber wohl Gründe gehabt haben, daß er bald wieder nach Berkeley zurückreiste. Im Dezember 1981 wurden seine Bücher zum zweiten Mal verboten. Erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, nach der sogenannten Wende, begann er abwechselnd in Berkeley und Krakau zu leben und ließ sich schließlich im Jahr 2000 ganz in Krakau nieder. Dort starb er auch am 4. August 2004. Er hatte tiefen Einfluß auf die polnische Literatur genommen. Der russische Nobelpreisträger Joseph Brodsky hat ihn als einen der größten (vielleicht den größten) Dichter seiner - unserer - Zeit bezeichnet. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist Vidyadhar Surajprasad Naipauls Großvater war aus Utar Pradeshin in Indien nach Trinidad ausgewandert, wo Naipaul am 17. August 1932 in Chaguanas bei Port of Spain geboren wurde. Der Großvater war als Kontraktarbeiter auf einigen Zuckerrohrplantagen und als Devotionalienhändler tätig. Der Vater hatte die geradezu unglaubliche Leistung fertiggebracht, bevor er zwanzig Jahre alt war, sich selbst englisch lesen und schreiben zu lehren und so dem Schicksal eines analphabetischen Landarbeiters zu entgehen. Dieser Vater, Seepersad Naipaul war es, der auf die Vorderseite seines Buches Lessons in Truth. A Course of Twelve Lessons in Practical Christianity mystische Zitate von Epiktet, Kabir und Plotin, gefolgt von einer Zeile von Tagore eingetragen hatte. Mit der Gattin eines schottischen Gutsverwalters, Margaret Sheldon, hatte er über Religion und Theosophie korrespondiert. In seiner Zeitung griff er Rituale des rückständigen exoterischen Kali-Kults an. Dieser Vater war es auch, der bereits seinem noch kaum vierjährigen Sohn Vidyadhar ein Buch mit gefühlvollen Gedichten für Kinder schenkte, in das er die Widmung eingetragen hatte: „Lebe für die Würde des Menschen, befolge die Wahrheit, sei gütig und sanft und vertraue auf Gott.“ 1 Der Vater liebte und verwöhnte die Kinder, konnte aber streng, wenn nicht bösartig gegenüber seiner Frau sein. Als er schließlich geistesgestört wurde, war es jedoch die Mutter, die alles zusammenhielt. Nachdem die Eltern geheiratet hatten, übersiedelten sie in den Markt Tunapuna, wo hinter dem Geschäft des Vaters eine Hütte stand, die aber kein richtiges Heim war. Ein solches war das „Löwenhaus“, so benannt nach den beiden Löwenskulpturen auf dem großen Balkon. „Vidu“, wie Vidyadhar als Kind gerufen wurde, erinnerte sich, wie er in Gesellschaft der älteren Schwester Kamla mit dem Bus zwischen dem Geschäft des Vaters und dem Löwenhaus hin und her gefahren war. „Im Löwenhaus, das mein Großvater gebaut hatte“, erinnerte sich Vidu ebenfalls, „erhielten wir die Idee von einer Art von Kasten-Erbe.“ Die spätere Generation konnte weder das verstehen, noch Vidus Interesse an und Stolz auf Indien oder seine Beschäftigung mit indischer Architektur und Kunst. „Aufgewachsen unter solchen Bedingungen war ich voll von Selbstbewußtsein.“ 2 Sehr viel später, als der Einundfünfzigjährige in einem Interview gefragt wurde, ob er in Trinidad geboren sei, erwiderte er: „Ich bin da geboren, ja. Ich glau- 1 Patrick French: The World is what it is. The Authorized Biography of V. S. Naipaul. London, Basingstoke und Oxford 2009, S. 15. 2 Patrick French, op. cit., S. 23. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 298 be, es war ein großer Fehler.“ 3 Erst weitere vierundzwanzig Jahre später bei seiner lang erwarteten Rückkehr nach Trinidad kam es zu totaler Versöhnung und war er von Studenten wie Intellektuellen warm willkommen geheißen worden. Seit Naipaul in seiner Kindheit in Trinidad zu Bewußtsein gekommen war, fand er sich jedenfalls von indischen Dingen umgeben. Eine seiner ersten Erinnerungen waren die mütterlichen Großeltern Goldzahn Nanee und ihr ernster, würdevoller Gatte, die nur Hindi sprachen und in einer geradezu militanten Weise an indischer Lebensart hingen, so sehr, daß sie in Trinidad wie Ausländer wirkten. Indien existierte aber auch in vielen Dingen, die ihn umgaben und die der Großvater aus Indien mitgebracht hatte: die Bettstatt und die geflochtenen Strohmatten, die zahlreichen Messinggefäße, die grell gefärbten Bilder von Göttern aus rosa Lotus oder aber vor dem Schnee des Himalaya und alle die Gegenstände im Gebetsraum, die Bilder, die glatten Steine und die Stücke Sandelholz. Obwohl er jedoch innerhalb dieses Indiens seiner nächsten Umgebung lebte, hatte er nicht die innerliche, geschlossene Einheit geerbt, die der Großvater besaß. Dieser trug sein indisches Dorf in sich selbst und diese innerliche Neuschöpfung ermöglichte ihm, Trinidad völlig auszuklammern und zu negieren. Als aber Naipaul heranwuchs, begann Indien mehr und mehr zurückzutreten. Zwar hatten die Rituale und Zeremonien überlebt, doch besaß er keinen wirklichen Zugang zu ihnen. Niemand hatte ihm die Gebete und Rituale erklärt. Alles, was ihm vom Hinduismus blieb, war das Verständnis dafür, daß die Menschen verschieden sind, außerdem ein vages Verständnis des Kastenwesens und ein Schrecken vor Unreinheit. Er hatte bis zu seinem sechsten Lebensjahr seinen Vater nicht gesehen, sondern in der Familie der Mutter gelebt. Als aber der Vater auftauchte, erwies sich dieser als leidenschaftlicher Leser und Vorleser, auch der von ihm selbst verfaßten Geschichten, in denen das indische Dorfleben beschrieben und gefeiert wurde. Naipaul hat später erklärt, daß der Vater für sein Erwachen literarischer Neigungen ausschlaggebend gewesen sei. Was aber Indien betrifft, so wirkte der Besuch bei der Familie des Vaters so, als wäre ein indisches Märchen Wirklichkeit geworden. Als der fünfzigjährige Naipaul eingeladen wurde, eine kurze Autobiographie für die Zeitschrift Vanity Fair zu schreiben, da geriet diese hauptsächlich zu einer Beschreibung seiner Anfänge als Autor und zu einem Tribut für den Vater. Naipaul hatte sich seine eigene, doppelte Lebensform zurechtgelegt. Das private Familienleben war indisch, das öffentliche Leben außerhalb des Hauses war von Trinidad geprägt. Trinidad aber war multiethnisch. Abgesehen von 3 The Listener, 23. Juni 1983. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 299 zwei größeren Gruppen von Afrikanern und Indern gab es da Spanier, Franzosen, Briten, Holländer und Menschen aus dem Nahen Osten. Obwohl es Spannungen gab, vor allem zwischen den Indern und Afrikanern, lebten sie im wesentlichen alle friedlich zusammen. Die Lingua Franca war Englisch und Englisch war auch die Sprache, die Naipaul in der Schule lernte. Er besuchte zunächst die Tranquility Boys School und sodann das Queen’s Royal College in Port of Spain. Ab 1950 studierte er mir einem Stipendium in Oxford, wo er auch sein Studium mit Auszeichnung in Englisch abschloß. Naipauls Ansuchen um Aufnahme war bereits von fünf oder sechs Colleges abgelehnt worden, als Peter Bayley, Fellow des University College in Oxford sein Ansuchen erhielt. Nicht nur wegen der hervorragenden Zeugnisse aus Trinidad, sondern auch wegen seiner Liebe zu Indien, wo er im Krieg fast vier Jahre gedient hatte und nicht zuletzt wegen des beiliegenden Fotos eines lächelnden Naipaul war er dazu bestimmt worden, Naipaul sofort als Studenten für Oxford anzunehmen. Bailey berichtet, daß er Naipaul niemals unglücklich gesehen hat. Dieser wurde auch unüblich früh in die Literaturgesellschaft des College, die „Martlets“ aufgenommen, und wurde auch schon sehr bald „feature reporter“ der Universitätszeitschrift Isis. Er studierte Shakespeare, Vergil und Angelsächsisch. Nach Bayleys Bericht wollte er Engländer werden und nach seiner eigenen Erklärung wollte er die Engländer in ihrer eigenen Sprache schlagen. Er hatte auch begonnen, einen Roman zu schreiben. Der Franzose Yves Leclerc, der in großem Tempo spannende englische Romane ins Französische übersetzte und den Naipaul privat beim Besuch indischer Bekannter in London kennengelernt hatte, ermutigte ihn, den Roman auch zu beenden. Nach dem Abschluß seines Studiums blieb Naipaul, abgesehen von oft sehr langen Reisen, ja nach langen Aufenthalten in anderen Ländern in England, wo er zuerst bei der BBC in London und zwar für deren karibisches Programm „Caribbean Voices“ arbeitete. Von 1956-1961 war er Literaturkritiker beim New Statesman. Seine oft sehr langen Reisen führten ihn auf den Kontinent, nach Indien, Afrika, in den Nahen Osten und nach Südasien, aber auch nach Nord- und Südamerika, was ihm die Bezeichnung „Weltumsegler“ einbrachte. Im Jahr 2000 wurde er von Königin Elisabeth in den Adelsstand erhoben. Schon im College hatte er die gleichaltrige Pat Hale kennengelernt, die Mitglied der Dramen-Gesellschaft der Universität Oxford war und die an einem Frauen-College studierte. Sie verteilte am Abend Programme eines Universitätsstücks von Jan de Hartog, für das er die Plakate entworfen hatte, als er sie zum ersten Mal sah. Sie wurde seine Frau, wurde eine Art Lektorin seiner Bücher und er war mit ihr einundvierzig Jahre verheiratet, bis sie an Krebs verstarb. Naipaul hat sich später Vorwürfe gemacht, daß er durch seine totale Hingabe an sein Schreiben und durch seine Untreue ihren Tod beschleunigt hat. Unter anderem machte er seit 1972 Reisen mit einer Anglo-Argentinierin, Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 300 Margaret Gooding. Zwei Monate nach dem Tod seiner Gattin brach er abrupt seine Beziehung zu ihr ab und heiratete Nadira Khannum Alvi, eine geschiedene Journalistin aus Pakistan. Es war in den frühen Sechzigerjahren, daß er zum ersten Mal Indien besuchte. Die Reise bedeutete für ihn einen Kulturschock, der seinen Ausdruck im ersten seiner drei Essaybände über Indien Land der Finsternis gefunden hat. Er fand die indische Realität völlig verschieden von jener Märchenvorstellung, die seinen Erwartungshorizont gebildet hatte. Das Buch, das in Indien auf große Ablehnung stieß, ist tatsächlich kein Buch über Indien, sondern ein Buch, in dem er sich verzweifelt bemüht, den inneren Frieden seines in Trinidad aufgebauten Doppel-Ichs von realer Umwelt und privater Märchenvorstellung zu retten. In Indien fand eine andere Spaltung seiner Persönlichkeit statt. Einerseits war er der selbstbewußte Ungläubige, der für Rituale nur eine radikale Ablehnung hatte und andererseits war er ein Empörer, der nicht akzeptieren wollte, daß Kerzen und Glühbirnen die alten Öllampen aus Ton bei Diwali in Bombay ersetzt hatten. Das Buch endet mit einem Epilog „Flucht“, die er schließlich aus Indien ergriff. Doch es blieb nicht bei der Flucht, sondern diese wurde vielmehr der Auftakt zu einer Reihe weiterer Reisen nach Indien, die zu einem zweiten Buch, Indien, eine verwandte Zivilisation führte. Obwohl er sich jedoch bewußt geworden war, daß er seine ursprünglichen Wurzeln nicht würde einfach erfolgreich völlig verdrängen können, geriet auch dieses Buch wieder weitgehend ins Negative. Naipaul beklagt, daß das Land durch sein Hängen an der Vergangenheit eines exoterischen Hinduismus seiner eigenen, notwendigen Entwicklung im Wege stünde. Ja er geht so weit, zu sagen, daß die Inder anstatt ihren Armen zu helfen, sie noch weiter ins Unglück stürzten. Das Land müsse im Chaos verbleiben. Erst im dritten und zugleich umfangreichsten seiner Essaybände über das Land, Indien: ein Land im Aufruhr, beschrieb er, wie innerhalb der „Revolution“ der Unabhängigkeit von England viele kleinere Revolutionen stattgefunden hatten und wie durch lokale politische Führer und neue Aktivitäten die Menschen sich und ihre Siedlungen aus schweren Bedingungen vorwärts arbeiteten. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem zweiten Buch hatte er entdeckt, daß die Belastungen der Vergangenheit schneller vergessen werden konnten, als er es sich hatte träumen lassen. Das Ergebnis der langsam um sich greifenden persönlichen Freiheit ist eine Verwirrung, die durch eine „Million kleiner Meutereien“ entsteht, die der Vergangenheit Widerstand leisten, doch gerade in jener Verwirrung wird der Fortschritt sichtbar. Er beschreibt die zahllosen neuen kleinen Versuche dramatischen Wandels durch eine menschliche Geistigkeit, was ihm wichtiger erscheint als die radikaler werdenden Konflikte zwischen Hinduismus und Moslems, als die sezessionistischen Bewegungen und ihre Fronten innerhalb einzelner Gebiete und als der Kastenkrieg, der neu auszubrechen drohte. Er sah nun hinter den Ausbrüchen Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 301 der Gewalt und jenseits der Korruption ein neues Erlösendes, Rettendes sich anbahnen, indem er verborgene Stimmen hörte und Geschichten erzählte, die niemals zuvor erzählt worden waren. Abgesehen von dieser „Indischen Trilogie“ haben auch zwei späte Romane von Naipaul gemeinsam einen indischen Protagonisten. Im ersten Roman wird die erste Hälfte, im zweiten, die zweite Hälfte des Lebens dieses Helden erzählt, dem Naipaul in seiner Hochschätzung von Somerset Maugham den Vornamen Willie gegeben hat: Willie Chandran. Es ist darauf hingewiesen worden, daß es im ersten Roman, Ein halbes Leben eine Reihe von Parallelen zwischen Willie und Naipaul gibt. 4 Im zweiten Roman, Magische Saat, ist es der Charakter von Roger, Willies Freund, der eine Reihe von Ansichten Naipauls ausspricht. Im ersten Roman versucht Willie eine Rebellion gegen das Kastenwesen, an der er jedoch scheitert. Er flieht in eine Ehe mit Ana, der er nach Portugiesisch- Afrika folgt und die er später betrügt und schließlich verläßt. Im zweiten Roman schließt sich Willie einer revolutionären Rebellengruppe in Indien an, bis er die heuchlerische und verlogene Seite dieser Revolution durchschaut, ein gescheiterter Zerrissener. Seine letzte Einsicht ist: „Man darf keine Idealvorstellung von der Welt haben. Das ist die Wurzel alles Übels.“ 5 Einer der Spitzenromane von Naipaul ist Ein Haus für Mr. Biswas (1961). Er führte ihn zurück zu seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen in Trinidad und war ein dichterischer Tribut an seinen Vater, der zeigt, wie viel er ihm zu verdanken hatte. Naipaul hat aus seinen Erinnerungen heraus mit Hilfe seiner Phantasie seine eigene Version des Lebens seines Vaters geschrieben, denn Mr. Mohun Biswas spielt natürlich die Rolle seines Vaters. Der hatte sich als Assistent eines hinduistischen Pandit, als Schildermaler, als Geschäftsmann, als Aufseher einer Zuckerrohrplantage, als Beamter und als Journalist beim Trinidad Sentinel versucht. Im Grunde stellt der Roman eine Art Fortsetzung der karibischen Romane von Naipaul dar, von Der mystische Masseur und von Wahlkampf auf karibisch oder eine Hand wäscht die andere, wenngleich auf wesentlich höherer dichterischer Ebene. Obwohl er aber drei Jahre daran gearbeitet hatte, war der Roman nicht sofort so erfolgreich, wie er gehofft hatte. Denn die Arbeit hatte ihm das Gefühl gegeben, damit wirklich ein Schriftsteller geworden zu sein. Ein Hauptgrund für das Ausbleiben eines sofortigen Großerfolgs war nach Meinung seines Biographen, daß der „postkoloniale Roman“ noch nicht „erfunden worden war“. Verglichen jedoch mit den späteren Romanen, Chinua Achebes Things Fall Apart und Salman Rushdies Midnight’s Children erhält Naipauls Roman die zusätzliche Bedeutung, den Keim zur Entwicklung dieser Gattung gelegt zu haben und war zudem keine völlige Ungewöhnlichkeit 4 Patrick French, op. cit., S. 13 und 146 f. 5 V. S. Naipaul: Magische Saat. Berlin 2004, S. 320. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 302 mehr. 6 Später freilich schrieb der Kritiker Edward Brathwaite, daß die Romane von Naipaul fast über Nacht erschienen waren, um die gesamte Hierarchie „unserer literarischen Werte“ umzuwerfen und einen neuen kritischen Standard für den westindischen Roman zu begründen.“ Der Ausgangspunkt des Romans sind einige Möbelstücke, die der Vater erworben hatte und die er die ganze Zeit von einem Haus zum anderen mitnahm, das er bewohnte. Es geht jedoch nicht in erster Linie um die Möbelstücke und Häuser, sondern diese bilden vielmehr den Hintergrund für die Darstellung des Vaters einerseits und Trinidads andererseits. Er zeigt die Entwicklung der Insel vom späten Feudalismus zum frühen Kapitalismus und gibt wie die meisten großen Romane eine Totalitätsschau, weshalb man das Buch auch „universal“ wie die Romane von Dickens und Tolstoi genannt hat. Die Erinnerungspartien des Romans aber sind mit Proust verglichen worden. Das ist auch der Grund, weshalb Naipaul, der seinen Vater doch ehren wollte, diesen als dickköpfig und unfähig dargestellt hat. Das allgemeine Chaos war so aussichtslos gewaltig, daß eine Lösung der Bemühung um Ordnung sich nur im eigenen Innern und im Gegensatz zur Außenwelt verwirklichen zu lassen schien. Sein Mr. Biswas wurde dadurch zu einer Art Held ähnlich wie in einem Schelmenroman. Er bewahrt auf seine Art seine Menschlichkeit einer Umwelt gegenüber, von der man gerade im Hinblick auf diesen Roman sagen hat können, er zeige, was Kolonialismus anzurichten vermocht hat. Wie auch gesagt werden konnte, Naipaul hätte das Leben seines Vaters so geschildert, als hätte er selbst dieses Leben gelebt. Fast alle Absichten von Mr. Biswas werden durch äußere Umstände, durch die Abhängigkeit von seiner Stellung sowie auch durch Verhinderung seitens der kolonialen Gesellschaft durcheinandergebracht oder vereitelt. Durch die Tulsi-Familie in einer Ehefalle gefangen, beherrscht von einer machtvollen Mutterfigur, verbringt er sein Leben mit Versuchen, deren Einfluß zu entkommen, obwohl er sie für sein Überleben braucht. Der Roman beginnt mit der Geburt von Mr. Biswas, die überaus ungünstig verlief. Der Pandit, der nach seiner Geburt geholt wurde, um ihm sein Horoskop zu stellen, muß erfahren, daß er verkehrt aus dem Mutterleib gekommen war, daß er dazu noch um Mitternacht geboren wurde und überdies mit einem sechsten Finger an einer Hand. Er versuchte indessen, durch geschickte Auslegung seiner Schriften mit der unglücklichen Fügung des „unseligen Knaben“ fertigzuwerden. Er verlangte, daß das Kind durch sein ganzes Leben von Gewässern wie Flüssen, Teichen oder dem Meer ferngehalten werde. Außerdem hielt er es für notwendig, zu fordern, daß der Vater ihn erst am einundzwanzigsten Tag nach seiner Geburt sehen dürfe. 6 Patrick French, op. cit., S. 200. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 303 Sogar das Niesen des Babys schien Gefahren für die Umwelt in sich zu bergen und unglücklich wie die Geburt vollzog sich die Kindheit. Das begann mit der Unterernährung, die bereits den sechsten Finger hervorgebracht hatte. Das Kind wurde von Ekzemen und Entzündungen heimgesucht, die anschwollen, später aufbrachen und schließlich häßliche Narben hinterließen. Seine beiden älteren Brüder mit neun und elf Jahren verdienten schon Geld und „halfen den Plantagenbesitzern frohgemut, das Gesetz gegen Kinderarbeit zu unterminieren.“ 7 Er wuchs in solcher Armut auf, daß es die Familie bereits mit Freude erfüllte, als der Nachbar dem kleinen Mohun Biswas den Auftrag gab, sein frisch geborenes Kalb zu hüten und ihm zu trinken zu geben, wofür er ihm einen Penny pro Tag bezahlen würde. Da aber eines Tages der kleine Mohun lieber die Fische in einem kleinen Fluß beobachtete, als auf das Kalb acht zu geben, war dieses plötzlich verschwunden. Trotz verzweifelter Suche vermochte Mohun das Kalb nirgends zu finden. In seiner Panik versteckte er sich unter dem Bett des Vaters. Das führte zu doppelter Suche sowohl nach dem Kalb wie nach Mohun. Als der Vater im nahen, großen, durch Untiefen gefährlichen Teich tauchte, und er das tote Kalb fand, brachte er es an das Ufer. Bei einem weiteren, längeren Tauchversuch ertrank er. Die Warnung des Pandit, Mohun von Wasser fernzuhalten, schien tatsächlich einen Sinn gehabt zu haben und das Schuldgefühl, irgendwie am Tod des Vaters mitschuldig zu sein, überschattete Mohuns Kindheit. Die Mutter versuchte die vier Kinder trotz größter Armut aufzuziehen. Mohun, der jüngste, wurde schon früh zu einem Pandit gegeben, um selbst ein Pandit zu werden, doch wurde er nach acht Monaten fortgejagt. Als nächstes arbeitete er in der Rum Schänke seines Onkels, doch diese Beschäftigung scheiterte an der Bösartigkeit der Umwelt der Schänke. Ein Pandit hätte er nur werden können, weil er der höchsten Kaste, der Kaste der Brahmanen angehörte. Als er seinem Lehrer bei religiösen Handlungen assistierte, wurde er mit eben solcher Ehrfurcht behandelt wie dieser selbst. Andererseits stand er auf der profanen Ebene als Gehilfe in der Schnapsschenke und später als Schildermaler auf einer besonders niederen Stufe. Das zeigt die frühe innere Gespaltenheit von Mr. Biswas, welche die Übergangszeit Trinidads vom Feudalismus zum frühen Kapitalismus versinnbildlicht und zugleich den Zerfall der alten Ordnungen wie den Versuch, neue Ordnungen zu etablieren, sichtbar macht. Naipaul selbst, der anglisierte Oxford-Graduate, der nur allzu bald bei seinem ersten Besuch Indiens in eine parallele Gespaltenheit getrieben werden sollte, hat diese tragische Zerrissenheit seines Vaters bezogen auf die Entwicklung Trinidads besonders gut verstanden und nachvollziehen können. Darum 7 V. S. Naipaul: Ein Haus für Mr. Biswas. München - Zürich 2003, S. 30. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 304 ist der immer wieder scheiternde Mr. Biswas, der sich immer wieder in eine Art von Schelmenreaktion rettet, - er wird im Roman als Clown, als Schalk, als Possenreißer, als grotesk, ja auch als Schelm apostrophiert - gleichzeitig eine so tief tragische Figur, eine Art innerlicher Ritter von der traurigen Gestalt, nicht von der Mancha, sondern von Trinidad, der zudem Sancho Pansa gleich mit in sich selbst eingebaut in sich trug. Das eigentliche Geschick dieses Mr. Biswas begann sich zu entfalten, als er zum ersten Mal ein Mädchen sieht, das ihm ernsthaft gefiel. Obwohl er wußte, daß sie zu der reichen Familie gehörte, die ihn angestellt hatte, das Innere ihres Geschäfts auszumalen und mit Bildern zu schmücken, war er von ihr so bezaubert, daß er ihr nach einigen Tagen einen kleinen Zettel mit zwei Sätzen zuschob: „Ich hab dich lieb. Ich möchte mit dir sprechen.“ Sie ließ den Zettel unbeachtet liegen, der jedoch sehr viel mehr Interesse fand, als die tyrannische Mutterfigur der Tulsi-Familie ihn entdeckte. Das Interesse wuchs noch, als sie herausfand, daß der arme Schildermaler der Kaste der Brahmanen angehörte. Diese Tatsache war für eine so superorthodoxe Familie wie die Tulsis von allerhöchster Wichtigkeit und Grund genug, um den ahnungslosen jungen Mann Hals über Kopf als Schwiegersohn zu vereinnahmen. Von diesem Punkt an entfaltet sich die Fabel des Romans in zwei Strängen, die einander gegenseitig durchdringen: in den positiven Strang der Entwicklung des Charakters und Wissens von Mr Biswas und sein weiteres Bemühen um seine Karriere und Unabhängigkeit und den negativen seines Kampfes in Permanenz mit den Tulsis. Am Anfang weigerte er sich konsequent, sich weder geistig noch beruflich in den weitverzweigten Familienbetrieb des heuchlerischen und menschenverachtenden Clans einspannen zu lassen. Er wollte Schildermaler bleiben, scheiterte aber geschäftlich, übernahm sodann einen Kaufmannsladen in einem abgelegenen kleinen Dorf, wo er ebenso scheiterte und nahm schließlich den Aufseherposten in einer der Zuckerrohrplantagen der Familie an, wo er wiederum scheiterte. Von den Szenen über den ständigen Kampf von Mr. Biswas mit den Tulsis sei hier nur jene herausgegriffen, in welcher er nach Weihnachten von seinem hart ersparten Geld aus dem schlechtgehenden Kaufmannsladen seiner Tochter Savi als freilich verspätetes Weihnachtsgeschenk ein wunderschönes, großes Puppenhaus kaufte. Er wußte nur zu genau, daß „Weihnachten“ im Hanumanhaus lediglich in großen Erwartungen bestand, und daß die Kinder kein einziges wirkliches Geschenk, sondern lediglich ein einziges wirklich gutes Essen erhielten. Savi war überglücklich über das Puppenhaus und unter den zahlreichen Kindern herrschte große Aufregung. Als Mr. Biswas nach einer Woche wiederkam, wurde er von einer weinenden Savi empfangen. Nachdem Savi ihm das in viele Stücke zerhackte Puppenhaus auf dem Müll gezeigt und er seine Frau beschimpft hatte, nahm er das Kind mit sich in sein gottverlassenes Dorf. Erst später konnte ihm seine Frau erklären, was vor sich gegangen Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 305 war: „Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe. Das ganze Gerede Tag und Nacht … Die Kinder haben Schläge gekriegt, wenn sie mit Savi geredet haben. Mit mir hat sowieso keiner geredet. Sie haben mich alle behandelt, als hätte ich ihren Vater umgebracht … Ich hab’ das Puppenhaus zerhackt und alle waren zufrieden.“ 8 Durch den Antagonismus zu den ultraorthodoxen Tulsis wurde er von den Ideen jener reformistischen Hindu-Missionare angesteckt, die predigten, „daß die Kaste keine Rolle spielte, daß die Hindus Konvertiten aufnehmen sollten, daß Götzenbilder abgeschafft gehörten und Frauen ein Anrecht auf Bildung hätten.“ 9 Nach seinem Scheitern als Plantagenaufseher kehrte Mr. Biswas in das große Haus der Tulsis zurück, das an das „Löwenhaus“ der Naipauls erinnert, nur daß an Stelle der beiden Löwenskulpturen eine Skulptur des Affengottes Hanuman getreten war, wohl nicht zuletzt, um Mr. Biswas die Chance zu geben, vom „Affenhaus“ zu sprechen. Nach seiner Rückkehr in dieses Hanuman-Haus war er sodann nichts anderes als der Gesprächspartner und Antipode des Haus-Pandit Hari, der zwei Mal täglich eine Puja abhielt und die Glaubenstradition wacker aufrecht erhielt. Bis Mr. Biswas wegen angeblicher Geistesgestörtheit zu einem Arzt in die Hauptstadt Port of Spain geschickte wurde. Er selbst empfand das Ganze als eine Art Flucht und kam beim seinem Schwager Ramchand unter. Damit beginnt der zweite Teil des Romans, der in der Hauptstadt Port of Spain spielt, durch die der Glanz des Hanuman-Hauses sehr in den Schatten gestellt wird, und in dem auch der Sohn von Mr. Biswas, Anand, eine durchaus wichtige Nebenrolle zu spielen beginnt. Dabei nimmt der autobiographische Charakter der einzelnen Züge des Romans keineswegs ab. So entspricht etwa der Herausgeber des Trinidad Sentinel Mr. Sutton im Roman recht genau dem Herausgeber des wirklichen Trinidad Guardian Gault MacGowan, der Mr. Biswas zunächst als Schildermaler beschäftigte, ihn sodann zu schreiben lehrte und eine Spalte für indische Affären gab. Alsbald wurde er ein Günstling des Herausgebers, „denn der Schalk, der ihm im Nacken saß, sobald er den Stift auf das Papier setzte, und die Phantasie, die er bis dahin in Kabbeleien“ mit seiner Frau Shama und „Schimpfreden gegen die Tulsis verpulvert hatte, waren genau nach Mr. Suttons Geschmack.“ 10 Damit begann seine große Zeit, in der auch sein kleiner Sohn Anand, gezeichnet nach dem Modell des Autors Naipaul selbst, seine ersten Triumphe feiert. Einer der größten Triumphe ist dabei die spannend geschilderte Geschichte seiner Teilnahme am Prüfungswettbewerb für die Aufnahme in das Gymnasium, wo er als drittbester von ganz Trinidad abschnitt. 8 Ein Haus für Mr. Biswas, op. cit., S. 281. 9 Ein Haus für Mr. Biswas, op. cit., S. 144. 10 Ein Haus für Mr. Biswas, op. cit., S. 399. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 306 Die große Zeit endete jedoch plötzlich, als Mr. Sutton als Herausgeber abtrat und ein neues Regime beim Trinidad Sentinel ausbrach. Mr. Biswas schrieb nicht mehr spannende Reportagen über Einäugige, sondern nüchterne Statistiken über Blindeninstitute und nicht nur das: „Seine Aufgabe war es, zu loben, den Blick an den Tatsachen vorbei auf die offiziellen Statistiken zu lenken, denn zur neuen Politik der Nüchternheit … gehörte auch die Auffassung, daß dies die beste aller Welten sei und Trinidads öffentliche Einrichtungen ihr wohl großartigster Aspekt.“ 11 Seinem Sohn kaufte Mr. Biswas zum Geburtstag Bücher des seinerzeitigen Redakteurs der Leeds Times Samuel Smiles Selbst ist der Mann und Pflichterfüllung, dazu aber auch das Shakespeare-Geschichtenbuch von Charles Lamb. Er selbst wendete sich mehr und mehr Reportagen über soziale Probleme Trinidads zu und als infolge des Verlusts von vielen Lesern die Zeitung als Reaktion darauf einen eigenen „Fond für Unterstützungswerte und Bedürftige“ einrichtete, wurde Mr. Biswas als Fachmann zum „Ermittler“ bestellt. Durch diese Arbeit wurde er so bekannt, daß Miss Logie, die für die Regierung von Trinidad ein eigenes Fürsorgeamt einrichtete, ihm den Posten eines Wohlfahrtsbeamten anbot mit dem doppelten Gehalt dessen, was er von der Zeitung bezog. Auch für Miss Logie gibt es ein wirkliches Modell in der Person der Britin Dora Ibberson, die wie Miss Logie zuallererst Naipauls Vater und seine Familie auf eine Woche auf Urlaub an das Meer schickte. Mr. Biswas wohnte in einem der drei Häuser, die dem Drachen von einer Schwiegermutter in Port of Spain gehörten. Auch sie selbst war mit ihrem jüngsten Sohn dahin übersiedelt. Außerdem wohnte noch ein Schwager von Mr. Biswas, Govind, in dem Haus sowie Mr. W. C. Tuttle, der sich als eine der letzten Säulen des Brahmanentums in Trinidad empfand. Mitunter kamen aber auch Töchter aus dem Hanuman-Haus zu Besuch. Der Kampf von Mr. Biswas gegen den Tulsi-Clan hatte sich lediglich von Arwaca nach Port of Spain verlagert. Die Tulsi-Mannschaft war dabei zwar kleiner, aber keineswegs weniger aggressiv geworden. Der häufige Streit von Mr. Biswas mit seiner Frau, der Tulsi-Tochter, brachte seinen Sohn Anand zunächst gegen den Vater auf und die Mutter übernahm die Rolle der Beschützerin. Allerdings teilte Anand die Abneigung seines Vaters gegen religiöse Rituale. Trotzdem machte er eine Ausnahme und unterzog sich dem brahmanischen Initiationsritus, da dies auch die meisten seiner Vettern getan hatten. So wurde er kahl geschoren, erhielt die heilige Schnur, erhielt kleine Bündel und es wurden ihm die geheimen Verse eröffnet. Schließlich wurde er - natürlich nur symbolisch - nach Benares zum Studium geschickt. Da Anand oft die Schule schwänzte, blieb er in den Sommerferien zu Hause, um den Stoff aufzuarbeiten. Mr. Biswas büffelte mit ihm die Grammatik, prüf- 11 Ein Haus für Mr. Biswas, op. cit., S. 463. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 307 te ihn in Geographie, kontrollierte die Englischaufgaben und die abendlichen Gebete zur Göttin Lakshmi fanden ein Ende. Anands frühere spöttische Distanz war nur eine dem Vater nachgemachte Pose gewesen, die später in Verachtung übergegangen war und bald ein wirklicher Teil seines Wesens wurde. Sie hatte ein gesteigertes Selbstbewußtsein zur Folge aber auch anhaltende Einsamkeit. Doch war sie auch ein Schutz. Owald, der jüngere Sohn von Mrs. Tulsi war einige Jahre nach England gegangen, um zu studieren. Als er seine Rückkehr ankündigte, teilte Mrs. Tulsi Mr. Biswas mit, daß sie seine zwei Zimmer nun selbst benötigte. Wieder einmal war er auf Wohnungssuche und auf der Flucht. Als dann das große Ereignis eintrat und Owald aus England eintraf, gab es einen feierlichen Empfang im Hafen und sollte es ein Fest zu Hause geben. Owald hatte in England die Inder aus Indien verachten gelernt. Andererseits war er bemüht zu zeigen, wie wenig England ihn verderben hatte können. Er hatte einfach den blinden Autoritätsglauben an die Rituale der Göttin Kali mit einem anderen blinden Autoritätsglauben vertauscht, dem an die Sowjetunion. Er hatte Geld für den französischen Kommunistenführer Maurice Thorez gesammelt, er schien mit der Kriegsführung der russischen Generäle bestens bekannt, sprach ihre russischen Namen fehlerlos aus und fand in krassem Gegensatz zu Mr. Biswas den Namen Joseph Dschugaschwili schön. Ja, er stellte die Lügen der sowjetischen Propaganda noch in den Schatten verglichen mit seinen eigenen hymnischen Tiraden. So behauptete er, in Rußland gebe es keine Rückenschmerzen vom Sich-Bücken beim Reispflanzen. Die Sowjets, erklärte er, schießen den Reis einfach anstatt Kugeln aus dem Flugzeug auf das Land darunter ab. Da wäre ein ganzer Hektar in wenigen Sekunden bepflanzt. „So lange du nicht daneben schießt.“ konterte Mr. Biswas trocken. Am Ende des Romans zeigt Naipaul die Gefahr, daß und wie aus einer falschen Scheinordnung eine andere Scheinordnung hervorgehen kann, die im Grunde nur Leid und Unmenschlichkeit zur Folge hat und wie sehr die Liberalität und im Praktischen die pragmatische Nüchternheit seines Mr. Biswas trotz all seiner Schwächen und seiner Probleme höher steht. Das Ergebnis seines Lebens ist nicht eine neue, falsche Welterlösungsideologie, sondern sein Sohn Anand. Auch Owald, der aus England als Arzt zurückgekommen ist, machte indessen eine Wandlung durch. Er verkehrte hauptsächlich mit Kollegen, die sich von der „gewöhnlichen Gesellschaft“ absonderten. Er fuhr in den Süden und spielte Tennis im India Club. Das Thema Revolution war erledigt, aber eine neue „Kaste“ war etabliert worden. Für Mr. Biswas jedoch ist das wesentliche Hauptergebnis, daß er schließlich ein Haus fand, das - zumindest auf den ersten Blick - einfach großartig erschien. Der Preis schreckte ihn nur kurz. Er borgte den größten Teil der Summe von seinem Onkel Ajodha als Kredit auf fünf Jahre mit Zinsen. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 308 Zu seinem Unglück wurde das Amt für Wohlfahrt von der Regierung in Trinidad aufgelöst. Mr. Biswas mußte zurück zu seiner Zeitung. Als er wegen eines Herzleidens ins Krankenhaus mußte und behindert war, halbierte überdies die Zeitung seinen Gehalt. Nun konnte er gerade die Zinsen bezahlen, doch schien es ihm, daß er warten konnte. Wenn die fünf Jahre vorbei waren, würde man weiter sehen. Anand und Savi studierten mit Stipendien im Ausland. Mr. Biswas wartete auf Savi, wartete auf Anand, wartete auf das Ende der fünf Jahre und wurde dabei immer nervöser und schwieriger. Dann kam zu allem Unglück noch die Kündigung von der Zeitung, was nur mehr für drei weitere Monate einen Gehalt bedeutete. Da zeigte sich zuallerletzt ein Licht am Ende des Tunnels. Savi kehrte heim und konnte sofort einen Posten antreten mit einem Gehalt, von dem Mr. Biswas nur träumen konnte. Er hatten ein zweites Mal ins Krankenhaus müssen und dieses Mal war es viel ernster. Zwar kam er wieder nach Hause, doch bald darauf meldete der Trinidad Sentinel „Journalist unerwartet gestorben“. Alle die Tulsi-Schwestern seiner Frau versammelten sich zum Begräbnis. Alles in allem hatte Mr. Biswas sein ganzes Leben um Unabhängigkeit von den Tulsis gekämpft, die gleichzeitig geistige Unabhängigkeit von Auswüchsen des exoterischen Hinduismus bedeutet hatte. Die wichtigste Hauptvoraussetzung zur Verwirklichung dieser Unabhängigkeit wäre ein eigenes Haus gewesen. Als er es schließlich errungen hatte, starb er. Es war der Sohn, der verwirklichen konnte, was dem Vater versagt geblieben war und er konnte es nur verwirklichen durch die aktive Hilfe seines Vaters. Der Roman ist ein Tribut an das Gedächtnis des Vaters, der sein Leben auch dazu verwendet hatte, dem Sohn einen guten Start zu geben. Er ist aber weit mehr, nämlich ein Sinnbild für die Entsetzlichkeit der kolonialen und postkolonialen „Ordnung“, die eine freie Entfaltung der Persönlichkeit verhindern konnte. Insofern ist es ein Aufschrei nach einer besseren Ordnung, wie besonders Dichtung ihn am lebenden Beispiel eines einzelnen Menschen auszustoßen vermag. Im wirklichen Leben war es nach dem Tod von Naipauls Vater so, daß Vidia ein Telegramm an die Familie sandte: „Er war der beste Mann, den ich kannte. Stop. Ich verdanke ihm alles. Seid stark meine Lieben und vertraut mir.“ Unterschrieben hatte er sich in berührender Weise mit seinem kindlichen Rufnamen „Vido“. Es wurde von dem Roman gesagt, daß er eines der klarsten und feinsten Beispiele dafür darstellt, welche Ergebnisse Kolonialismus zeitigen kann. Ja Naipaul wurde sogar ein Historiker der Geschicke von Weltreichen im moralischen Sinn genannt und ein Erbe von Joseph Conrad. Seine Autorität als Erzähler sei in der Erinnerung an das begründet, was andere zu zeigen vergessen haben: die Geschichte der Besiegten. So konnte sein Haus für Mr. Biswas denn auch als das Epos Westindiens apostrophiert werden. Nach der Fertigstellung dieses Romans fuhr er nach Indien, wo er sein erstes Essaybuch, Land der Finsternis, darüber schrieb, das in Indien selbst zwar auf Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 309 Ablehnung stieß, außerhalb Indiens jedoch durchaus Anerkennung erntete. So hatte V. S. Pritchett es etwa das unwiderstehlichste und lebendigste Buch über Indien genannt, das seit langer Zeit erschienen war. Nach seiner Rückkehr nach England war Naipaul zunächst deprimiert, doch richtete ihn bald darauf die Bekanntschaft mit „Lady Antonia“ - Antonia Fraser- - wieder auf. Sie bescherte ihm von 1963 bis in die Siebzigerjahre hinein immer wieder eine Gastlichkeit und Freundschaft, durch die er Politiker, Autoren und gesellschaftliche Berühmtheiten von Jackie Kennedy bis zu Rebecca West kennenlernte. Ja als 1968 seine finanzielle Situation bedrohlich wurde, stellten ihm Lady Antonia und ihr Gatte Hugh ihr Landhaus auf einer privaten Insel im Fluß Beauly in Nordschottland zur Verfügung. Von Schottland ging es nach Jamaika, Belize, New York, Kanada, Gloucester, wieder nach Indien, in die Karibik und schließlich nach Argentinien, wo er Borges kennenlernte, über den er auch schrieb, und Margaret Gooding begegnete, die seine langjährige Reisegefährtin werden sollte. Zunächst war sie allerdings gar nicht an ihm interessiert, da sie Bestsellerautoren vorzog. Als Naipaul 1975 für die Sunday Times und die New York Review of Books Zaire besuchte, fand er eine Radikalisierung der Revolution vor. Vieles von der ehemaligen, despotischen Kolonial-Gesetzgebung des belgischen Königs Leopold II. war durch die spätere Kolonial-Verwaltung weitergegeben worden und wurde jetzt als angestammter „afrikanischer Sozialismus“ präsentiert. Der „charismatische Kleptokrat“ und Präsident Mobutu war Eigentümer des Landes Zaire ganz wie seinerzeit König Leopold II. von Belgisch Kongo. In Naipauls Notizbuch finden sich viele Eintragungen, die als Details in seinen zweiten Spitzenroman An der Biegung des großen Flusses eingegangen sind. 12 Die wirkliche Idee zu dem Roman kam ihm 1977, wieder in Zaire, als sein Flugzeug in Kisangani plötzlich nicht weiterfliegen konnte. Da sich Mobutu gerade in Kisangani aufhielt, waren alle Hotels ausgebucht. Ein junger Inder, den er am Flugplatz getroffen hatte, lud ihn ein, den Aufenthalt in seiner Wohnung zu verbringen. Alles, was in den nächsten zwei Tagen geschah, verwendete Naipaul in seinem Roman. Lediglich die vietnamesische Freundin des jungen Inders ließ er fort. Naipaul gab ihm in seinem Buch den Namen Salim und der ganze Roman präsentiert sich als ein einziger innerer Monolog des Geschäftsmanns Salim, der in Kisangani, der Stadt an der Biegung des großen Flusses, einen Laden gekauft hatte, in dem er Bleistifte und Schreibhefte, Rasierklingen, Spritzen, Seife, Zahnpasta und Zahnbürsten, Stoff und Plastikspielzeug, Eisentöpfe und Aluminiumpfannen, emaillierte Teller und Schüsseln verkaufte. Der Roman beginnt mit einem kurzen Satz wie mit einem Paukenschlag, der zugleich die verdichtete letzte Schlußfolgerung des Gesamtthemas darstellt und 12 V. S. Naipaul: A Bend in the River. London 1979. Deutsch: Köln 1980. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 310 zudem so bezeichnend für Naipauls Gesamtwerk ist, daß sein Biograph ihn zum Titel seines Buches gemacht hat: „Die Welt ist, was sie ist.“ Salim aber, der aus einer indischen Familie stammt, die seit Generationen an der Ostküste Afrikas lebte und der zudem britischer Bürger war, beschreibt seine Art die Welt zu betrachten so, daß er vom frühen Alter an die Gewohnheit entwickelt hatte, sich von „einem vertrauten Anblick“ loszulösen und „zu versuchen, ihn aus der Entfernung zu betrachten.“ 13 Es ist jene Doppelperspektive, die Czesław Miłosz an Lagerlöfs Nils Holgersonns wunderbarer Reise mit den Wildgänsen so sehr geschätzt und als wichtig für den modernen Roman gepriesen hatte. Sie vertieft tatsächlich dessen Totalitätsschau, die bei Naipaul durch die großartig einmaligen Analysen der Gesamtsituation des Landes, seiner Zeitgeschichte und Gesellschaft, oft verlebendigt durch die idealtypischen Charaktere des Romans zum Ausdruck gebracht wird. Dies alles aber wirkt nicht als künstliche Konstruktion, sondern ist gleichsam aus einem Guß. Dieser eine Guß besteht im vorliegenden Fall aus dem großen inneren Monolog Salims und wenn etwa das ganze neunte Kapitel auch dessen Freund Indar in den Mund gelegt ist, so wird dieses doch durch die Gesamtkomposition zu einem Teil von Salims Monolog. Salim, der einer indischen Familie angehörte, die seit langer Zeit an der Ostküste Wohlstand und Reputation aufgebaut hatte, fühlte instinktiv, daß die gegenwärtige Ordnung auseinanderzubrechen begann, daß weder er jemand anderen beschützen werde können, noch daß jemand ihn beschützen würde können. Er bekennt ein, daß er einfach „ausbrechen“ mußte. Da er aber ausbricht, bricht er innerlich wie äußerlich in die falsche Richtung aus. Der Wertverlust und das Chaos der Gesamtsituation sind so mächtig, daß sie ihn in ihren Bann schlagen. Innerlich hilft er selbst, die alte Ordnung zu zerstören: „Mein Wunsch war nicht, gut zu sein, wie unsere Tradition lehrte, sondern Güter zu erlangen.“ 14 Äußerlich bricht er in die falsche Richtung aus, nämlich in das innerste Afrika, sein eigenes Heart of Darkness. Als ihm Nazruddin, ein Freund der Familie und ein Freund auch von ihm selbst und sein Vorbild, der aus der Stadt an der Biegung des großen Flusses weggegangen war, ihm seinen Laden dort anbot, hatte er sofort zugegriffen. Nazruddin hatte das Geschäft besonders billig abgegeben, nicht ohne den Freund zu warnen, weshalb es so billig war. Ja er hatte dem Freund prophezeit, daß er es nicht leicht haben werde. In jenem Staat im Landesinneren hatte es nach der Unabhängigkeit böse Krisen gegeben und die Stadt hatte fast aufgehört zu bestehen. Aber Salim hörte nicht, was er nicht hören wollte, sondern erinnerte sich, wie der Freund früher von den Reizen der entlegenen Welt gesprochen hatte und der Drang auszubrechen ließ ihn das Abenteuer riskieren. 13 V. S. Naipaul: An der Biegung des großen Flusses. Köln 1980, S. 25. 14 An der Biegung des großen Flusses, op. cit., S. 31. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 311 In seinem Peugot trat er die Reise an. Als er Nazruddin wegen der Visa gefragt hatte, um in die neuen Staaten hineinzukommen, die er durchqueren mußte, da hatte ihm dieser gesagt, Banknoten seien besser als Visa und in die Staaten hineinzukommen sei leicht, das Schwierige sei das Herauskommen. „Als ich tiefer nach Afrika hineinkam - Gestrüpp, Wüste, ein felsiger Aufstieg ins Gebirge, Seen, Nachmittagsregen, Schlamm und dann auf der anderen, der niederschlagsreichen Seite des Gebirges Farnwälder und Affenwälder - als ich tiefer hineinkam, dachte ich: ‚Das ist verrückt. Ich fahre in die falsche Richtung. Es kann einfach am Ende kein neues Leben sein.‘“ 15 Schließlich gelangte er aber doch in die Stadt und sie war halb zerstört. Die ehemalige europäische Vorstadt war niedergebrannt und nur das Büro- und Handelsviertel in der Nähe des Hafens sowie einige Wohnstraßen im Zentrum hatten überlebt. Nazruddins Geschäft war intakt, wenngleich voll von Ratten und Unrat. Die Lagerbestände, die er ebenso mit gekauft hatte wie die Kundschaft waren jedoch beide verschwunden. Die Menschen waren zurück in den Busch gegangen, in die Sicherheit ihrer Dörfer, die an kleinen, versteckten, schwer zugänglichen Nebenflüssen lagen. Aber die Ruhe hielt an und allmählich kehrten die Menschen in die Stadt zurück. Einzelne Kunden kamen aber auch aus den Dörfern, wie die Detailhändlerin Zabeth, die en gros für ihr Dorf einkaufte und alles bar mit Geld bezahlte, das sie in einem kleinen Kosmetikköfferchen ständig bei sich trug. Sie machte ihre Reisen durch den Urwald ohne Furcht. Sie hatte einen seltsamen Geruch von Schutzsalben, galt als Zauberin und Seherin und übte sogar auf Salim einen gewissen Zauber aus. Zu Salims wenigen, wenn nicht einzigen Freunden gehörte das Ehepaar Mahesh und Shoba, die wie er von der Ostküsten gekommen waren, an der nicht wirkliche Afrikaner lebten, sondern Araber, Inder und Perser, Menschen vom Indischen Ozean. Die wirklichen Afrikaner lebten im Busch oder in den „cités“, besonderen Vierteln der Stadt. Schon bald nach der Ankunft Salims erzählte ihm sein Freund Mahesh, daß die Frauen mit allen Männern schliefen, die sie fragten; ein Mann konnte an die Tür jeder Frau klopfen und mit ihr schlafen. Mahesh sagte es ohne Aufregung oder Beifall. Es gehörte für ihn mit zum Chaos und zur Korruption des Landes, in dem Salim, wenn er eine schwierigere Einfuhr hatte, die Zollerklärung immer über fünfhundert Francs zusammenfaltete und so dem leitenden Zollbeamten übergab, der daraufhin zustimmte. Sein Freund Mahesh war es auch, der Salim erklärte, daß die dortigen Afrikaner „malines“ waren. Er gebrauchte absichtlich das französische Wort, weil es im Englischen kein wirkliches Äquivalent dafür gab. Ein Hund, der eine 15 An der Biegung des großen Flusses, op. cit., S. 10. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 312 Eidechse jagte, war „malin“ oder eine Katze, die einen Vogel jagte. Die Leute waren „malines“, weil sie mit dem Wissen lebten, daß Menschen Beute waren. Trotz der Freunde fühlte Salim sich im Grunde einsam. Er hatte hier in der Stadt entdeckt, was Einsamkeit war und die Melancholie, die der Religion zugrunde lag. Es war die Religion, die sie in ermutigende Furcht oder Hoffnung umzuwandeln vermochte. Aber er hatte die Gebräuche und Tröstungen der Religion verlassen und mußte mit der Traurigkeit der Welt ganz allein fertig werden. Dabei waren es nicht nur Einsamkeit und Traurigkeit, sondern seit die Stadt nicht mehr einen verlassenen, sondern einen geradezu überfüllten Eindruck machte und zudem aus der großen unbekannten Welt von außen das Gerücht von einem Krieg in die Stadt gedrungen war, gesellte sich vielleicht noch nicht Angst, doch Besorgnis dazu. Salim hatte von Mahesh und Shoba aus der Zeit des vorigen Krieges Grauen erregende Geschichten entsetzlicher Raserei gehört. Soldaten und Rebellen und Söldner hatten durch Monate hindurch wahllos gemordet. Menschen, auf grausame Art zusammengeschnürt, waren gezwungen worden, bestimmte Lieder zu singen, während sie auf der Straße totgeprügelt wurden. Die Raserei war durch die aufgestaute Wut der Kolonialzeit und neu erwachte Stammesängste entstanden. Die Stadt war vielen Einheimischen wegen der Mächtigen, die hier geherrscht und Terror verbreitet hatten, verhaßt. Sie konnten sich nicht vorstellen, sie könnten die Stadt selbst übernehmen und so blieb ihnen nur, sie zu zerstören. Nachdem das Zerstörungswerk getan war, bedauerten sie, daß die Stadt tot war und wollten sie zu neuem Leben erwecken. Aber als sie sahen, daß die Stadt zu neuem Leben erwachte, begannen sie sich erneut zu fürchten. Es begann mit Überfällen aus dem Hinterhalt, mit angegriffenen Dörfern, mit getöteten Häuptlingen und Beamten. Der „Krieg“ begann langsam wieder aufzuleben. Die Nichtafrikaner der Stadt wußten es und konnten sich mit Ausnahme des reichsten Mannes, der nach Australien wegzog, keine andere Vorstellung machen, als „weiter zu machen“. Das Chaos aber war vorprogrammiert. Da tauchte plötzlich aus seiner Vergangenheit an der Ostküste Salims alter Freund Indar auf, den er immer bewundert und beneidet hatte. Dieser machte ihn mit der „Domäne“ außerhalb der Stadt bekannt, an welcher er bis jetzt nicht das geringste Interesse gezeigt hatte, da sie ihre eigene Existenz, völlig getrennt von der Stadt, gehabt hatte. Nun erfuhr er, daß es da ein Polytechnikum gab, Vorträge, hochinteressante Menschen und daß Indar hier für ein Semester als Dozent lehrte. Der Sohn der Zauberin Zabeth aus dem Busch aber, Ferdinand, den Zabeth Salim für einige Zeit in der Stadt anvertraut hatte, war dort Student und bereitete sich auf die höhere Beamtenlaufbahn vor. Auf einer Party, zu der Indar ihn mitnahm, lernte Salim „den Weißen Mann des Großen Mannes“ und dessen faszinierend schöne Frau Yvette kennen. Salim, der in seinen früheren Jahren in der Ordnung der Küste Ehebruch mit Abscheu abgelehnt hatte, begann eine Affäre mit Yvette und war ihr zunächst Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 313 erotisch geradezu verfallen. Dann aber, als sie sich nicht in eine tiefere Liebe verwandelte, ebbte diese Leidenschaft ab. Das Chaos der individuellen Leben spiegelten bestens das wachsende allgemeine und große Chaos des Landes wieder. Der Diktator hatte bereits die Stufe erreicht, auf welcher er seine Mutter, die ein armes Dienstmädchen gewesen war, zur schwarzen Madonna Afrikas hinaufstilisierte. Es wurden Statuen von ihr angefertigt, Gedenkstätten errichtet und Wallfahrten zu ihnen organisiert. Damit ist der äußerste Punkt des Chaos erreicht, an dem das Endliche zum Absoluten erhoben und verklärt wird. Gleichzeitig begann es in der Hierarchie der Diktatur zu knistern. Der „Große Mann“ fühlte sich gezwungen, seine eigene „Junge Garde“ aufzulösen. Die in den Untergrund gedrängte Organisation wurde damit zu einem Oppositionselement gegen seine Scheinordnung. Doch es geht dieser Gruppe um nichts weniger als um eine wirkliche neue Ordnung, sondern nur um Zerstörung und noch größeres Chaos. Aus der Druckerei, in welcher das Wochenblättchen der „jungen Garde“ gekommen war, wurde nun ein anonymes Flugblatt produziert, herausgegeben von der „Befreiungsarmee“, die darin erklärte: „… Wir haben keine Bildung erhalten. Wir erkennen dieses Land als das Land der Menschen an, deren Vorfahren nun gellend vor Angst um sie aufschreien. UNSER VOLK muß den Kampf verstehen. Es muß heraus, mit uns zu sterben.“ 16 Als Salim wußte, daß der Krieg im Busch wieder begonnen hatte, obwohl die Zeitungen nichts darüber schrieben, und als ihm klar geworden war, daß er nun selbst persönlich gefährdet war, flog er nach London, um seinen alten Freund Nazruddin zu besuchen und dessen Tochter zu heiraten. Sie sowohl wie ihr Vater, dessen Glücksträhne plötzlich ganz abgerissen war, hatten seit Jahren darauf gewartet. Als er zurückflog, fand er bei seiner Ankunft, daß ein „öffentlicher Verwalter“ sein Geschäft übernommen hatte. Der Präsident hatte es wie sämtliche anderen Geschäfte verstaatlicht. Von Salim wurde erwartet, daß er es als „Geschäftsführer“ weiter besorge. Seit der „Radikalisierung der Revolution“ hatte er begonnen, heimlich illegale Geschäfte mit Gold und Elfenbein zu machen. Nachdem sein eigener, noch recht junger Diener Metty, den ihm die Familie von der Ostküste nachschickte, bei der Polizei deshalb angezeigt hatte, und bekannt gab, wo er vier Elefantenzähne vergraben gehabt hatte, wurde er verhaftet. Seine Lage verschärfte sich noch, als er sich weigerte, dem Polizeioffizier, der die Ermittlung leitete, drei bis viertausend Dollar Bestechungsgeld zu bezahlen. Er wurde ins Gefängnis geworfen, wo er Zeuge des Schicksals der jungen Menschen wurde, die nach einer Massenverhaftung ideologisch neu ausgerichtet wurden. 16 An der Biegung des großen Flusses, op. cit., S. 283. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 314 Nach einigen Tagen holte ihn der Polizeioffizier, der ihn verhaftet hatte, aus dem Gefängnis, um ihn an den neuen „Bevollmächtigten des Präsidenten“ zu überstellen, der ein persönliches Interesse an seinem Fall gezeigt hatte. So stand er plötzlich vor dem jungen Ferdinand, den dessen Mutter ihm einmal für einige Zeit in der Stadt anvertraut hatte. Dieser meinte es gut mit ihm, gab ihm die Freiheit zurück und riet ihm dringend, so rasch als möglich mit dem Dampfer die Stadt zu verlassen. Von der Hauptstadt aus, könnte er ins Ausland fliegen Er wollte in der Zwischenzeit den Polizeioffizier auf dem Flugplatz beschäftigen. Als er auf der nächtlichen Dampferfahrt plötzlich erlebte, wie eine Bande junger Männer mit Gewehren das Schiff entern wollte, wurde ihm klar, daß er dabei war, das Land im letzten Augenblick zu verlassen, wo er noch lebte. So fuhr der britische Bürger hinaus durch das Dunkel dieser Nacht des Wahnsinns und der Raserei des neuen afrikanischen Hexenkessels in eine Londoner Zukunft. Nur knapp zwei Jahre nach diesem Roman erschien einer seiner bekanntesten Reise-Essaybände Eine islamische Reise 17 . Diese führte ihn durch vier Staaten: Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien. Er kam in Teheran sechs Monate nach der Revolution an, die den Schah gestürzt hatte. Sie hatte den Ayatollah Khomeini zum Diktator gemacht, der sich als nichts weniger denn „als Interpret des Willen Gottes“ 18 deklarierte. Ayatollah Khomeini sprach im Namen Gottes, des Rächers.“ 19 Auf dem Gebiet der Literatur war es dementsprechend nur „logisch“ und konsequent, daß Khomeini einen Autor wie Salman Rushdi für sein für islamische Fundamentalisten blasphemisches Buch Die satanischen Verse in absentia zum Tod verurteilt hatte und daß die sinnlose Wut außerdem dazu führte, daß ein Kopfgeld auf Rushdie ausgesetzt wurde, daß die Premierministerin Margaret Thatcher den Autor durch den britischen Geheimdienst beschützen ließ, daß Menschen, die sich um das Buch verdient gemacht hatten, tatsächlich ermordet wurden, daß das Buch in England von Moslems verbrannt wurde, daß in den USA zahlreiche Buchhandlungen das Buch aus ihren Schaufenstern entfernten und nicht zuletzt, daß Khomeinis Bannstrahl des Hasses in der freien Welt das Buch zu einem Weltbestseller und Rushdie zu einer Weltberühmtheit gemacht hat. V. S. Naipaul hat sich aber als einer der hervorragendsten Kenner der fundamentalistischen „Revolution“ des Islam erwiesen. Er ist ein glänzender Analytiker der Zustände in etlichen islamischen Staaten und der Warner einer ebenso arglosen wie gedankenlosen Welt. Als Naipaul ankam, gab es ein halbes Jahr nach der Revolution noch immer neue Hinrichtungen. Zuletzt waren gerade Prostituierte und Bordellbesitzer 17 V. S. Naipaul: Among the Believers. An Islamic Journey. London 1981. Deutsch: Köln 1982. 18 Eine islamische Reise, München 1993, S. 24. 19 Among the Believers, op. cit., S. 379. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 315 exekutiert worden. Die chaotische neue Scheinordnung gefiel sich, so zu tun, als wäre sie auf unwesentlichen Gebieten besonders moralisch, um die eigenen Verbrechen zu kaschieren. Man berichtete Naipaul, Khomeini hätte nun auch die Musik verboten. Auf Badestränden trennten die Revolutionswachen die badenden Männer von den badenden Frauen. Einen Monat später besuchte ihn ein junger, britischer Journalist, der ihm berichtete: „Sieben Monate lang hat kein Mensch in diesem Land auch nur einen Schlag Arbeit getan. Wo sonst kann man das machen und leben? “ 20 Naipaul gelangte zu der Überzeugung, daß „Einigkeit“ das große Thema war: „Einigkeit, Einheit, die Rücken beugten sich in Gebeten, die wie Exerzierübungen waren, der Glaube des einzelnen war der Glaube aller, der Glaube aller floß in den Glauben des einzelnen und wurde göttlich, Persönlichkeit und Hilflosigkeit waren abgeschafft: Einheit, Hingabe, Gesichtslosigkeit, Himmel.“ 21 Er fuhr nach Ghom, der Stadt eines berühmten Heiligtums. Das Grab der Schwester des achten Schia-Imams befand sich an diesem tausendjährigen Wallfahrtsort. Hier empfing ihn der Ayatollah Khalikhalli, Khomeinis Henkersrichter. Er hatte viele dieser schnellen islamischen Prozesse geführt, die alle mit Hinrichtungen endeten. Einer der großen Lehrer Ghoms hatte einen fünfundzwanzigbändigen Kommentar zu einem wohlbekannten Buch über die Vorstellung der Schiiten vom Imam verfaßt. Sieben von diesen Bänden waren veröffentlicht. Nun arbeitete eine ganze Gruppe von Gelehrten - ohne Zweifel verglichen sie ihre Vorlesungsmitschriften untereinander: die mittelalterliche Methode der Textüberlieferung - an den restlichen achtzehn. In den Abschnitten über Pakistan finden sich zusammenfassende Charakteristiken des Landes von schlagender Knappheit, wie etwa: „Dieser islamische Staat konnte nicht einfach verfügt werden, er mußte erfunden werden, und bei dieser Erfindung war der Glaube keine große Hilfe. Der Glaube konnte im Augenblick nur die einfachen Negierungen liefern, die emotionalen Bedürfnissen entsprachen: kein Alkohol, keine weibliche Unkeuschheit, keine Bankzinsen. Aber bald sollten in Pakistan zu diesen Negierungen noch andere hinzukommen: keine politischen Parteien, kein Parlament, kein Dissens, keine Gerichtshöfe. So wurden existierende Institutionen für unislamisch gehalten und untergraben oder abgeschafft, der Glaube wurde verfochten, weil nur der Glaube ganz zu sein schien, und in dem Vakuum konnte nur die Armee herrschen.“ 22 20 Eine islamische Reise, op. cit., S. 58. 21 Eine islamische Reise, op. cit., S. 59. 22 Eine islamische Reise, op. cit., S. 177. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 316 Ein pakistanischer Bekannter, Ahmed, erzählte Naipaul, daß am Beginn des Jahrhunderts die Inder beschlossen, alles, was schieflief, Ausländern anzulasten. Im zweiten Viertel des Jahrhunderts seien die Moslems aufgewacht, die doppelten Haß empfanden: nicht nur gegen die Ausländer, sondern auch gegen die Hindus. Darum sei das Land Pakistan lediglich auf Haß aufgebaut. Die Leute seien nicht reif dafür. Fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten, der Fundamentalismus erstickte die Universitäten. Es gab weder Industrie noch Wissenschaft. Die Wirtschaft lebte von Überweisungen aus dem Ausland. Legale und illegale Emigranten verließen das Land. Es gab kaum etwas, das Naipauls Augen entging, als er über Indien, die islamischen Staaten und Afrika schrieb. In einem Kapitel über austauschbare Revolutionen in seinem Indonesien- Abschnitt berichtet er, wie ihm ein islamischer Bekannter, der „sanfte Masood“ sagte: „Millionen werden sterben müssen.“ Wie in Hitlers Mein Kampf werden diese Dinge offen vorausgesagt, aber entweder werden sie nicht gelesen oder gehört, oder aber sie werden nicht geglaubt. Ein indonesischer Geschäftsmann und fanatischer Moslem erklärte Naipaul in Djakarta „Die meisten PhD’s sind Chinesen. Sie sind wie eine Krebszelle, immer weiter wachsend und kräftig und sie werden ihre Umwelt vernichten und wir können sie nicht stoppen. Wenn diese Leute in irgendein System eindringen, dann überwinden sie es in geistiger wie tatsächlicher Hinsicht.“ 23 Derselbe Geschäftsmann in Djakarta gab die einer Drohung Masoods durchaus ähnliche Prophezeihung von sich: „Der Kampf, der kommen wird“, sagte er, „wird zwischen den Menschen an den Universitäten und den Menschen in den ‚pesantren‘ 24 stattfinden. Eines Tages werden die Studenten aus den ‚pesantren‘ nach Djakarta kommen und dieses schöne Hotel hier niederbrennen. Der Islam kann ein Rauschgift werden. Er versetzt einen in einen Rauschzustand. Du gehst in diese Moschee und der Rausch setzt ein. Und wenn er eingesetzt hat, dann wird alles, was geschieht, Allahs Wille.“ 25 Wenn die Welt war, was sie ist, und man betrachtete sie ohne Scheuklappen, dann gab es viel Bedrückendes, ja Abschreckendes und es wurde oft auch der gute Wille durch Dummheit in die falsche Richtung von Niedergang und Elend, Zerstörung und Chaos gelenkt. Darum ist es besonders bemerkenswert, daß Naipaul selbst, je mehr er an Erfahrungen und Einsichten zunahm, trotzdem immer positiver wurde. Was einen Kritiker seines dritten Indien- Buches veranlaßt hat zu schreiben, daß er eine gütigere, sanftere, unendlich 23 Among the Believers, op. cit., S. 381. 24 Koranschulen. 25 Eine islamische Reise, op. cit., S. 546. Vidyadhar Surajprasad Naipaul oder die Welt ist, was sie ist 317 mehr tolerante Person geworden sei. 26 Als sich aber der späte Naipaul in New Yorks Manhattan-Institut der Aufgabe unterzog, seine eigene Welthaltung und Überzeugung darzulegen, da geschah dies unter dem geradezu optimistischen Titel „Unsere universale Zivilisation“. Er erklärte hier, daß eine „universale Zivilisation oder Modernität in der Welt nunmehr existiere. Sie hat eine lange Entwicklung durchgemacht und transzendiert jegliche rassische Begrenzung.“ 27 Nicht daß er sich von der positiven und überaus wichtigen Kassandra-Funktion vieler seiner Bücher abgewendet hätte: doch dem tiefen Wissen und der hohen Sprachkunst hatte sich Weisheit zugesellt. 26 Vgl. Patrick French, op. cit., S. 454. 27 Patrick French, op. cit., S. 458. Pirandello oder der Zerfall des Ich Luigi Pirandello, geboren am 28. Juni 1867 in Cavusu (Chaos! ), einer Art Vorort von Agrigent in Sizilien hatte in Rom und Bonn trockene Sprachwissenschaft studiert. Dabei hatte er in Bonn auch Jean Paul, Tieck, Chamisso, Heine und vor allem Goethe kennengelernt. Er hatte nicht die Bonner Haustochter, bei der er gewohnt und die er geliebt hatte, geheiratet und auch nicht seine Cousine in Sizilien, die dies erwartet hatte, sondern er hatte sich von seinem körperlich wie psychisch übermächtigen Vater an die Tochter von dessen Geschäftspartner und Mitinhaber einer Schwefelgrube verkuppeln lassen. Er hatte Antoinette Portulano 1894 geheiratet und die Hochzeitsnacht in einer Villa verbracht, die gleichfalls den Namen Chaos getragen hatte. Die Gattin wurde seine große Liebe. Nach einem Wohlleben in Rom im Kreis einer glücklichen Familie war 1903 die Katastrophe hereingebrochen, als eine Überschwemmung die Schwefelgruben zerstört hatte. Der Sturz in die Armut war für Antoinette von so verheerender Wirkung, daß sie in eine Lähmung gestürzt wurde, welche sich als Vorstufe zum Ausbruch eines entsetzlichen Verfolgungs- und Eifersuchtswahns entpuppte. Pirandello, der zuerst an die Möglichkeit eines Selbstmords gedacht hatte, gab zunächst Nachhilfestunden in Italienisch und Deutsch, unterrichtete sodann an einem pädagogischen Mädcheninstitut und war zugleich Hausmann und Kindererzieher. Er stemmte sich gegen die negativen Aussagen der Ärzte und versank in einem ersten, tiefen persönlichen Chaos. Während der aufopferungsvollen Nachtwachen am Bett der kranken Gattin schrieb er seinen zweiten und bis heute meistgelesenen Roman Mattia Pascal. Obwohl Pirandellos Leben durch die Eifersuchtsszenen des Verfolgungswahns seiner Frau zur Hölle wurde und obwohl die Ärzte dringend zur Einweisung seiner Gattin in eine Anstalt rieten, wehrte er sich durch viele Jahre dagegen. Erst als seine Frau ihn in einem ihrer Anfälle des Inzests mit der eigenen Tochter, seinem Lieblingskind, beschuldigte, gab er nach und sie wurde in eine Heilanstalt eingewiesen. Die Tochter heiratete später nach Chile. Pirandello hatte aber aus der Psychose seiner Frau gelernt, aus welchen Zusammenhängen ihre Ängste und Aggressionen gespeist worden waren und er hat dieses Wissen in seinen Dramen verarbeitet. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß der Persönlichkeitszerfall aller Geistesgestörten seiner dramatischen Personen durch den Druck einer terroristischen Außenwelt verursacht ist, die für ihn das Spiegelbild der sizilianischen Gesellschaft war. Der psychologische Druck seiner verzweifelten Situation führte dazu, daß er sich ein sublimiertes Reich seiner eigenen Phantasie schuf, in welchem er einen Pirandello oder der Zerfall des Ich 320 Ausgleich zur Wirklichkeit fand. In dieser Phantasiewelt schuf er einen Helden, der gleich zwei Mal sein „wirkliches“ Ich aufgibt, um es mit einem neuen Ich zu vertauschen, indem er seinen eigenen Tod vortäuscht. Dadurch, daß sein Romanheld sein eigenes altes Ich abstreift, hat Pirandello seine Flucht aus der Wirklichkeit gleichsam verdoppelt. Der innere Zwang, aus dieser Wirklichkeit zu entfliehen, muß sehr groß gewesen sein, da die Ärzte ihm immer wieder rieten, die Frau in eine Anstalt zu geben. Vorher schienen nur der Tod des Ich und ein neues Leben eine echte Überlebenschance zu gewährleisten. Kein geringerer als Benedetto Croce hat gegen Mattia Pascal den Vorwurf erhoben, daß der Stoff eigentlich dürftig sei und besser für eine kurze Erzählung geeignet gewesen wäre als für einen breit ausgeführten Roman. Das ist theoretisch richtig. Croce wußte nichts von den Entstehungsbedingungen. Aber auch wenn man diese nicht kennt, so ist es doch so, daß Pirandello gerade durch jenen Zwang des Ausweichens in eine Phantasiewelt den Roman „so sehr mit der Weißglut seines dichterischen und menschlichen Sprengkerns erfüllt“ 1 , daß er entgegen jeder ästhetischen Theorie bis heute der lebendigste seiner Romane geblieben ist. Mit dem breiten Ausufern hängt außerdem auch der Drang zusammen, die Phantasiewelt an die äußersten Grenzen menschlicher Existenz zu treiben, wofür das Glückspiel, die Séance und die Theosophie stehen sowie die Grenzerweiterung des Geistes durch einen sehr viel berühmteren Pascal, Blaise Pascal, von dem Mattia Pascal wohl seinen Namen erhalten hat. Der Vorname Mattia aber ist zweifellos eine Anspielung auf das Wort „mattìa“, was Verrücktheit bedeutet. Wenn Pirandello später einmal einbekannt hat, eine Verrückte, nämlich seine Gattin, hätte ihm fünfzehn Jahre lang die Hand geführt, dann wies dies einerseits darauf hin, daß er bis an die äußersten Grenzen des „normalen“ Denkens gegangen war und andererseits zugleich darauf, daß jene, durch den Umgang mit der Verrückten entstandene und erschaute Welt ihm das Überleben im Raum einer letzten Ausgesetztheit ermöglicht hat. Aus der zweimaligen Ich-Metamorphose seines Romanhelden Mattia und dessen Phantasiewelt entwickelt sich fast konsequent und natürlich der Grundgedanke Pirandellos über die Gebrechlichkeit der menschlichen Persönlichkeit und später des Zerfalls und der Relativität des Ich, der sich durch alle seine fiktionalen Charaktere - nicht nur der Dramen - zieht. In seinem großen Essay von Buchlänge Humor hat er sich selbst einen „Rettungsring“ zurechtgemacht, um nicht in dieser Einsicht und „im Chaos des Lebens unterzugehen.“ 2 Darin 1 Federico Hindermann: Nachwort. In: Luigi Pirandello: Mattia Pascal. Zürich o. J., S.-412. 2 Hanspeter Plocher: Die Welt auf der Bananenschale. In: Luigi Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor. Stuttgart 1995, S. 105. Pirandello oder der Zerfall des Ich 321 erklärt er, wie sich jeder eine äußere Maske zurechtmacht, die mit seiner inneren, wirklichen Maske nicht übereinstimmt. Das bedeutet eine zumindest teilweise Parallele wenn nicht Vorwegnahme der Grundidee C. G. Jungs über die menschliche Persönlichkeit. Als dahinterstehendes „Lebensgefühl“ Pirandellos ist aber die „Angst vor der Isolierung, der chaotischen Leere eines Bewußtseins“ bezeichnet worden, „das die Hinfälligkeit aller Normen und Kategorien erkannt hat“ 3 , aus der es keine wirkliche Befreiung gibt, sondern lediglich die Flucht einer stets wechselnden Anpassung, wie sie aus der Brechung von Bergsons élan vital, dem fließenden, stets sich wandelnden wirklichen Lebensstrom mit der „unbeweglichen Form“ ergibt. In dem Drama Sechs Personen suchen einen Autor, jenem seiner Stücke, das heute zum festen Bestand nahezu jedes wichtigen Theaters auf der Welt gehört, geht es bei den sechs Personen um solche einer lebendigeren Phantasiewelt eines Autors als der Welt, der scheinbar „wirklichen“, viel oberflächlicheren des Theaterdirektors und seiner Schauspieler. In seiner bedeutendsten Schrift zum Theater, dem Vorwort zu diesem Drama in dem sechs solche Phantasie- Personen einen Autor suchen, hat er darum schreiben können, daß es in diesem Stück um ein „organisches und natürliches Chaos“ ginge, das er dem sinnlosen Chaos der persönlichen Welt der Verzweiflung entgegenstellt, wie er die Phantasiewelt Mattias der empirischen Welt seiner eigenen konkreten Verzweiflung entgegengestellt hatte. „Aber gerade dieses organische und natürliche Chaos mußte ich darstellen; ein Chaos darstellen bedeutet aber keineswegs chaotisch, also romantisch darstellen. Und daß meine Darstellung alles andere als konfus, sondern im Gegenteil sehr klar, einfach und geordnet ist, zeigt sich darin, daß in den Augen des Publikums in aller Welt die Handlung, die Charaktere, die phantastischen und wirklichen dramatischen und komischen Ebenen des Werks deutlich sichtbar werden und daß für den, der einen schärferen Blick hat, die besonderen Bedeutungen, die es enthält, zum Vorschein kommen.“ 4 Das Stück beginnt damit, daß einige Schauspieler, noch nicht in Kostümen, sondern in farbenbunten Straßenkleidern unter der Regie des Theaterdirektors eine Komödie von Pirandello proben, die sie weder mögen noch verstehen. Da kommt der Pförtner durch den Zuschauerraum auf die Bühne zu und kündigt die Ankunft von sechs Personen an, von denen es in der Bühnenanweisung heißt: „Die (sechs) Personen sollen … nicht als Trugbilder erscheinen, sondern als erschaffene Wirklichkeiten, unveränderliche Produkte der Phantasie, und folglich wirklicher und beständiger als die Schauspieler in ihrer natürlichen Wechselhaftigkeit.“ Diese sechs Personen tragen dunkle Trauerkleidung und 3 Renate Matthaei: Luigi Pirandello. Velber bei Hannover 1967, S. 10. 4 Sechs Personen suchen einen Autor, op. cit., S. 19. Pirandello oder der Zerfall des Ich 322 tragen auch Masken, die zeigen sollen, daß sie künstlich geschaffen sind und von denen jede einzelne unwandelbar auf den Ausdruck des ihr eigenen, in ihr vorherrschenden Gefühls festgelegt ist.“ 5 Eine der sechs Personen, der Vater, erklärt dem Theaterdirektor, sie seien auf der Suche nach einem Autor. Er macht den Direktor darauf aufmerksam, daß sie alle sechs als lebendige Bühnenfiguren auf die Welt gekommen seien, lebendiger als jene, die atmen: weniger wirklich möglicherweise, aber wahrer. Der Autor, der sie aus seiner Phantasie geschaffen hatte, hat sie nicht mehr in die Welt der Kunst versetzt, nicht zu einem Stück gestaltet. Jetzt trügen sie ihre Manuskripte in sich und brennen darauf, das Stück aufzuführen. Da eine der Personen, die Stieftochter, durch ein kleines Lied und einen Tanz eine Probe von dem gibt, was diese „lebendigen“ Phantasie-Personen eines Autors vermögen, werden die Schauspieler des Theaters so mitgerissen, daß sie sich so sehr mit den sechs Personen und deren Lebenstragödie identifizieren, daß es ihnen gelingt, eine siebente Person, die zu dem unbeschriebenen Stück gehörte, die Bordellbesitzerin Madame Pace auf solche Weise aus dem Nichts zu beschwören, so daß sie für alle gleich sichtbar auftritt und in das Geschehen des ersten Aktes eingreift. Nun beginnen die Schauspieler die Vorstellung der sechs Personen aufmerksam zu studieren, um von ihnen zu lernen, doch erweisen sie sich als unfähig, an sie auch nur heranzukommen und sie ernten bei ihrem Versuch, das Stück selbst zu proben, von den einzelnen Vertretern der sechs Personen nur Spott und Hohn. Das Stück führt die Unzulänglichkeit des Theaters mit der Wirklichkeit seiner Schauspieler vor, die tatsächlichen Phantasie Personen des Autors zu vollständig zu erfassen und darzustellen. Pirandello macht sich über die Person des Theaterdirektors lustig, wenn er ihm die Worte in die Mund legt: „Das heißt wir“ - das sind des Direktors wirkliche Schauspieler - „machen die Probe dann später allein, wie immer. Es ist mir immer ein Greuel gewesen, vor den Autoren zu proben. Sie sind nie zufrieden.“ 6 Darum klingt es zwar schön, wenn ein Kritiker schrieb: „Aus der Negation der Kunst erwächst die Kunst der Negation“ 7 , ist aber völlig falsch. Das genaue Gegenteil ist richtig, denn es geht nicht um die Negation der Kunst, sondern um die Negation der Wirklichkeit des Theaters im besonderen und die Negation der Wirklichkeit im allgemeinen. „Pereat mundus, fiat ars! “ hat einer der bedeutendsten Kunst- und Literaturkenner des 20. Jahrhunderts dazu erklärt und hat darüber hinaus außerdem 5 Sechs Personen suchen einen Autor, op. cit., S. 29. 6 Sechs Personen suchen einen Autor, op. cit., S. 75. 7 Karl Hölz: Doppelsinn und Widerspruch. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge, Bd. 31 (1981), S. 182. Pirandello oder der Zerfall des Ich 323 noch festgestellt, daß Pirandello mit seinem Stück Sechs Personen suchen einen Autor ein für allemal sein letztes Wort gesprochen hat. 8 Denn eingebettet in die Fabel des Stücks sind außerdem Pirandellos wichtigste Grundideen über Leben und Kunst überhaupt. Die Welt wird erkannt als Chaos, in welcher nur der Künstler Richtung, Ziel und Sinn zu erkennen vermag. Der Autor legt vor allem der Figur des Vaters die Einsicht in den Mund, welche dieser dem Theaterdirektor zu vermitteln sucht, wonach jeder nur seine eigene Welt kennt, die allen anderen unverständlich bleibt. Aber das ist noch nicht alles, denn diese Welt der jeweils eigenen Wahrheit ist nichts weniger als statisch und feststehend. Obwohl sich jeder für „einen“ hält, ist er tatsächlich „viele“, da er in einem dauernden Wandel begriffen ist, all den „Seinsmöglichkeiten“ entsprechend, die in jedem Menschen selbst latent angelegt und verfügbar sind. Allerdings gilt dies nur für die wirklichen Menschen und nicht für die aus des Künstlers Phantasie geschaffenen „Personen“, wie die sechs des Stücks, die feststehende konstante Masken tragen: Der Vater etwa trägt eine Maske der Reue, die Stieftochter eine Maske der Rache, der Sohn eine solche der Verachtung. Obwohl sie alle einerseits die Schöpfung eines Autors darstellen, hat dieser andererseits keinerlei Macht willkürlich einzugreifen, sondern muß diesen Figuren seiner Phantasie ihre Unabhängigkeit und ihre eigenen Rechte belassen. „Manchmal“, heißt es, wieder von der Figur des Vaters berichtet, nimmt eine der Personen auch „eine Bedeutung an, die der Autor ihr nicht einmal im Traum zugedacht hätte“. Eingeschränkt wird diese Einsicht freilich durch das, was die Stieftochter dem Theaterdirektor erzählt, daß sie nämlich dem Autor die schönsten Szenen vorgesetzt hätte, ohne daß er darauf eingegangen wäre. Ja schließlich hätte er alle sechs Personen einfach liegenlassen, ohne sie zu dem einen Stück zusammenzufügen, das sie nun selbst dem Theaterdirektor präsentieren. Als aber der Vater der Stieftochter vorhält, es wäre nur deren Aufdringlichkeit gewesen, weshalb der Autor sich von ihnen abgewendet hätte, da erklärt diese einerseits: „Wenn er mich selbst doch so gewollt hat“, und andererseits, daß der Autor in Wahrheit von ihnen tatsächlich nur abgelassen hätte aus Enttäuschung, wegen seines „Widerwillens gegen das Theater, so wie das Publikum es gewöhnlich sehen und haben will“. Es ist allerdings gesagt worden, daß im Grunde dennoch die Schöpfung der Dramen nach Pirandellos Überzeugung seine eigene Schöpfung war, „um den Preis, daß sein Theater ein Marionettentheater war, dessen Figuren am Draht einer allzu bewußten Absicht gelenkt werden und dessen Tragik - dem Autor unbewußt - weit tragischer ist, als die Stücke, die er sie spielen läßt“. 9 Dies al- 8 Wladimir Weidlé: Die Sterblichkeit der Musen. Stuttgart 1958, S. 70. Über Pirandellos Verachtung des Theaters vgl. Renate Matthaei, op. cit., S. 21. 9 Wladimir, Weidlé, op. cit., S. 71. Pirandello oder der Zerfall des Ich 324 lerdings gibt durch das Unbewußte trotzdem einer „Eingebung“ weiten Raum, die in den rein verstandesmäßigen Konstruktionen vieler Fälle des „experimentellen Theaters“ völlig fehlt. Damit hat Pirandello nichts zu tun und er hat sich bereits in den Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio dagegen energisch zur Wehr gesetzt. Ein Jahr nach der Erstaufführung des Dramas Sechs Personen suchen einen Autor erklärte Pirandello in einem Interview von seinem letzten und größten Roman Einer, keiner, hunderttausend „erst hätte er das Vorwort zu meinem dramatischen Werk werden sollen und wird nun so etwas wie dessen zusammenfassender Epilog“. 10 Dieser Roman, begonnen bereits 1911 und abgeschlossen 1925, stellt tatsächlich eine Art „Summa“ als „Resumee des Gesamtwerks“ dar. 11 Er besteht aus einem einzigen, großen, inneren Monolog. Wie der Ulysses von Joyce oder Der Tod des Vergil von Hermann Broch wurde er neben der Dramatik Pirandellos, die bereits Weltbedeutung errungen hatte, wenig beachtet. Wenn in der „Verleihungsrede“ für den Nobelreis der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie und Präsident des Nobelpreiskomitees für Literatur Per Hallström 1934 erklärt hatte, „voll entfalten aber sollte sich Pirandellos Meisterschaft im dramatischen Werk“, wenn es an anderer Stelle hieß, daß Pirandello den Preis für die von ihm geleistete „kühne und geistvolle Erneuerung von Drama und Bühnenkunst“ erhielt und wenn Professor Mario Apollonio in seiner Darstellung von Pirandellos Werk in der der „Sammlung Nobelpreis für Literatur“ vorangestellten Ausgabe des Romans im selben Jahr nahezu hilflos fragte, wie man „Einer, keiner, hunderttausend einen Roman nennen könnte“, um so rasch wie möglich zu Pirandellos Novellen überzugehen, dann hat sich das bis jetzt kaum geändert. 12 Es ist bisher weitgehend übersehen worden, daß Pirandello mit diesem Roman ein durchaus originales Werk von kafkaähnlicher Bedeutung geschaffen hat. Freilich, so wie Brochs großer Monolog Der Tod des Vergil in einem sehr wesentlichen Punkt das genaue Gegenteil des großen Monologs des Ulysses- Romans von Joyce darstellt, so hat Pirandello die aus den verwinkelten Straßen der Prager Altstadt stammende metaphysisch-magische Welt des Indirekten bei Kafka in eine direkte Darstellung von romanischer Helle und Klarheit gleichsam umgestülpt. Zwar ist die Sprache selbst auch bei Kafka von solcher Helle und Klarheit, doch vertieft diese helle Nüchternheit der Einkleidung die magisch verfremdete Dunkelheit des Gehalts. Bei Pirandello ist der Gehalt von 10 Zitat aus zweiter Hand nach Johannes Thomas in seinem „Nachwort“ zu Luigi Pirandellos: Einer, keiner, hunderttausend. Berlin 1997, S. 459. 11 Johannes Thomas: Nachwort, op. cit., S. 459. 12 Per Hallström: Verleihungsrede und Mario Apollonio: Leben und Werk von Luigi Pirandello. In: Luigi Pirandello: Mattia Pascal und Einer, keiner, hunderttausend. (=-Nobelpreis für Literatur, Bd. 34), Zürich o. J., S. 19 und 36. Pirandello oder der Zerfall des Ich 325 ebensolcher Helle und Klarheit, doch stößt der Monolog des Helden Moncardo die gewohnten Vorstellungen und Klischees des „normalen“ praktischen Lebens durch seine Reflexionen um, die ihn an den äußersten Rand denkbar möglicher Einsichten und Schlußfolgerungen führen, welche rational klar formuliert werden. Wenn man aber von Kafka sagen hat können, daß er sich „in Bewußtsein und Unterbewußtsein bis hart an die Grenze des Wahnsinns versenkt“ hat 13 , dann gilt dies auch für Pirandello, der in jahrelanger Pflege seiner geistesgestörten, geliebten Gattin eine wahrhaft harte Schule des Wahnsinns durchlaufen hat. Was aber bei Kafka durch Veränderung der Erzählperspektive erreicht wird, das wird in der radikalen Umstülpung ins romanisch Helle und Klare von Pirandello durch die radikale Relativierung der Ich-Perspektive des monologisierenden Erzählers erreicht. Besonders klar macht Pirandello dies am Beginn des Sechsten Buches des Romans, wenn er schreibt: „Aber was war denn sonst in mir, außer dem Leiden an der Entdeckung, daß ich keiner und hunderttausend war? Mein neuer Wille, mein neues Gefühl waren blindlings der Wunde entsprungen, die einer unbekannten Stelle in mir zugefügt worden war; doch sie schwanden gleich wieder, mehr und mehr, in dem unheimlichen Licht, das mit furchtbarer Stetigkeit aus meiner Entdeckung hervorbrach.“ An die Stelle des Wechsels der Erzählperspektive tritt die Zersetzung der historisch-sozialen oder psychologischen Erscheinungen durch das radikal relativierte Ich aus immer derselben eigenen Perspektive, so daß der Roman kein traditioneller psychologischer Roman der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts mehr ist. Dabei eröffnet er dem Leser Einsichten in die Gedanken eines außergewöhnlichen Menschen, der für sich selbst nicht „irgendeiner“ bleiben möchte, sondern den allgemeinen Klischees und dem mit diesem verbundenen Chaos entkommen möchte. Er steht völlig außerhalb der Gesellschaft, frei, niemandes Herr und niemandes Untertan. Jemand, der jede Verstandesarbeit aufgibt, damit er in einem Akt äußerster Ich-Überwindung eins mit der Natur werde. Einer, der den üblichen Zeitbegriff aufgibt, um in der ursprünglich monotheistischen Vorstellung einer „Ewigkeit“ zu leben, der einen inneren und einen äußeren Gott unterscheidet, ja einen, der mit jedem Augenblick stirbt und wiedergeboren wird, neu und ohne Erinnerung: nicht mehr in sich selbst, sondern „in jedem Ding draußen“ lebendig und ganz. Hier ist der Versuch einer dichterischen und zugleich rationalistischen Darstellung eines Zustandes zu geben, der einer letzten und äußersten Ich-Überwindung und damit einer Selbst- Verwirklichung gleichkommt, wie er wiederum an C. G. Jung erinnert. Für Pirandello war es vor allem wichtig, daß der Roman seine Anforderung erfüllt, die er an die humoristische Reflexion stellt. Diese zerlegt die konstruie- 13 Wladimir Weidlé, op. cit., S. 347. Pirandello oder der Zerfall des Ich 326 rende Illusion der praktischen und normalen Lebensauffassungen und hebt sie auf. Pirandello hat darum diesen Roman als ein zutiefst humoristisches Werk bezeichnet. Natürlich gibt es neben der humoristischen Reflexion auch die Möglichkeit einer komischen oder satirischen Reflexion, die illusionszerstörend wirken kann. Aber der komische Autor wird über die Illusion „nur lachen“ und der Satiriker wird nur „Empörung zeigen.“ Der Humorist aber ist es, der durch das Lächerliche seiner Entdeckung hindurch zugleich auch „deren ernsthafte und schmerzliche Seite“ sehen wird. Dabei wird der Humorist zwar „auch diese Konstruktion auseinander nehmen, aber nicht nur, um darüber zu lachen, und statt verärgert zu sein, wird er allenfalls Mitleid empfinden“. 14 Schon in dem Buch über den Humor finden sich neben zahlreichen anderen Namen auch jene von Cervantes und Manzoni. Sie werden in dem Stück Sechs Personen suchen einen Autor wiederholt, bei deren Humor durch das Medium des Grotesken einerseits 15 und den größeren gehaltlichen Kontext andererseits der Leser oft nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll. So geht es auch mit dem Helden Moscardo, der sich zu den geläufigen Illusionen des praktischen Lebens so querlegt, daß man ihn entmündigen lassen möchte. Wenn er zunächst nur nicht als Wucherer gelten wollte und später seine Entmündigung verhindern wollte, dann sind dies nur die äußeren Anlässe für seine letztliche Entscheidung, sein gesamtes Vermögen Don Antonio Sclepis, Kapitelmitglied der lokalen Kathedrale und Direktor des Kollegiums der Oblaten zu übergeben, der damit ein Bettlerhospiz, eine Volksküche und eine jährliche Kleiderverteilung an Arme finanzieren soll. Aber diese Schenkung ist im Grunde nur der äußere Ausdruck für die innere Entwicklung Moscardos und die verschiedenen grotesken Situationen und Gespräche führen langsam aber konsequent zu diesem Schluß. Alles beginnt mit der geradezu banal grotesken Situation, daß Moscardos Frau ihn auf den Umstand aufmerksam macht, daß seine Nase eigentlich schief sitzt und führt in einer Art von Kettenreaktionen bis zu seiner Begegnung mit Don Antonio Sclepis, dem Haupt der Oblaten, und zu der vollzogenen Schenkung. Wie es auch zu einem Vergleich führt, den Moscardo zwischen sich und Don Antonio zieht und der das schließliche Ergebnis von Moscardos eigener Entwicklung sehr klar verdeutlicht. Denn auch der asketische Priester hatte es wie Moscardo selbst erreicht, „keiner“ für sich selbst zu sein und sein Ich völlig zu überwinden. Vielleicht, überlegt Moscardo, war dies der Weg einer für alle zu werden. Aber, heißt es dann, „diesem Priester wohnte ein zu großer Stolz auf seine Macht und sein Wissen inne. Obgleich er für die anderen lebte, wollte er doch einer für sich selbst sein, wohl unterschieden von den anderen durch sein Wissen und sei- 14 Luigi Pirandello: Der Humor. Berlin 1997, S. 192. 15 Walter Starkie spricht in seinem Buch Luigi Pirandello. London o. J., S. 43 geradezu von dessen „teatro grottesco“. Pirandello oder der Zerfall des Ich 327 ne Macht und auch durch seine bewährte Treue und seinen unübertrefflichen Eifer. Aus diesem Grund tat er mir, während ich ihn ansah - ja, ich bewunderte ihn weiterhin -, trotz allem auch leid.“ 16 Moscardo selbst endet mit der Kappe, den Pantinen und der blauen Bluse der Armenhäusler, ohne Vorgesetzte, ohne Untergebenen, in einer letzten Freiheit, in einer anmutigen Gegend auf dem Lande, wo er täglich frühmorgens in die Natur aufbricht, in einer Geisteshaltung, welche verhindert, daß er in seinem Inneren die falsche Leere eitler Gedankenkonstruktionen entstehen lassen könnte. Um einen solchen Schluß schreiben zu können, hatte Pirandello in einer Art „Schule des Lebens“ das Chaos um sich wie in sich zu überwinden gehabt, jener Schule, welche als einzige einem „aufmerksamen, nachdenklichen, geduldigen und anfangs wahrlich kindlichen Menschen“ wie ihm 17 weiterhelfen kann, sich zu entwickeln durch ihre „bitteren Enttäuschungen, grausamen Erfahrungen, schrecklichen Wunden und allen Irrungen der Unschuld“, unter denen die Jahre der Pflege und des Ertragens der geliebten, geistesgestörten Gattin, die zwischen Mattia Pascal und dem letzten Roman lagen, bestimmt nicht die geringste Rolle gespielt haben. So endet denn der Roman mit einem geradezu tröstlichen Bild des Abends in der Landschaft, da Moncardo die fernen Glocken aus der Stadt hört, nicht mehr in sich, sondern draußen für die anderen, an dem schönen Sommertag, in dem die Schwalben lärmen und der Wind Wolken vor sich hertreibt: „An den Tod denken, beten. Es gibt immer noch jemanden, der dessen bedarf, und die Glocken leihen ihm ihre Stimme. Ich bedarf dessen nicht mehr, denn ich-- ich sterbe mit jedem -- Augenblick und werde wieder geboren, neu und ohne Erinnerungen: lebendig und ganz, nicht mehr in mir, sondern in jedem Ding draußen.“ 18 Jenen Humor aber, den Pirandello in Manzonis Figur des Don Abbondio gefunden hat, findet man auch hier bei ihm: die groteske Ungeschicklichkeit Moncardos, den seine Frau aus guten Gründen ihren „Gengé“, das ist Dummkopf gerufen hat, führt als Leserreaktion zu Gelächter über die menschlichen Schwächen. Die Reflexion darüber führt aber durch die Weise des Dargestellten, sodann zu einem Gelächter des Lesers über sich selbst, wobei schließlich das Gelächter in Mitleid umschlägt, zunächst für den Helden des Romans, sodann aber auch mit sich selbst und allen anderen Menschen: „Das Erkennen universaler Mitleidsbedürftigkeit zerstört jedoch die Grundlage für das Mitleid mit dem einzelnen und provoziert universales, gebrochenes Gelächter. Das Erbarmen 16 Luigi Pirandello: Die Ausgestoßene - Einer, keiner, hunderttausend. Band 5 der Gesammelten Werke. Hg. von Michael Rössner. Berlin 1997, S. 455. 17 Per Hallström: Verleihungsrede, op. cit., S. 14. 18 Luigi Pirandello: Die Ausgestoßene - Einer, keiner, hunderttausend, op. cit., S. 457. Pirandello oder der Zerfall des Ich 328 des Humoristen ist eben, wie Pirandello sagt, erbarmungslos. Dennoch ist die beliebte Interpretation Pirandellos als eines Autors der Menschlichkeit und des Mitleids damit nicht widerlegt.“ 19 Nach Pirandello ist es ein wesentlicher Bestandteil humoristischer Weisheit, daß der Humorist sich dessen bewußt ist, sich nicht einmal im eigenen Kopf verläßlich auszukennen, was zum weiten Raum einer Flexibilität führt, die sich der Relativität der meisten Vorstellungen bewußt ist. Der Humorist hat erkannt, daß er nicht wirklich Herr seiner eigenen Gedankenwelt ist und somit sein eigenes, tiefstes Selbst nicht wirklich kennt. Wie er auch weiß, daß Erinnerungen und Erfahrungen ebenso wie Wünsche und Hoffnungen, bewußte wie unbewußte Motive und Kräfte ein „niemals entflechtbares, chaotisches Durcheinander bilden.“ 20 Der Humorist wird dadurch zu einem bescheidenen und zugleich skeptischen Beobachter des Lebens mit einer weitgehend unvoreingenommenen Grundhaltung, welche die Illusionen vielen Denkens und vieler Theorien durchschaut und damit die Voraussetzung zu humoristischer innerer Ruhe und Ausgeglichenheit bereitstellt. Eine Autorin, die über Pirandello schrieb, hat ein eigenes Kapitel „Faschismus“ eingefügt, um die Beziehung des Dichters zum Faschismus darzustellen, und sie hat sich vom Beginn seines Interesses im Jahr 1924 bis zu seiner grundsätzlichen Abkehr im Jahr 1931 gewiß um Objektivität bemüht. 21 Man könnte noch hinzufügen, daß Mussolini vom Spielplan der Königlichen Oper in Rom das Musikdrama Gian Francesco Malipieros La favola del figlio cambiato absetzen hat lassen, zu dem Pirandello den Text verfaßt hatte, weil es der faschistischen Ideologie widersprach. Im Jahr 1934 aber hat das nationalsozialistische hessische Kultusministerium dasselbe Stück nach der Uraufführung in Braunschweig und Darmstadt verboten, da es „zersetzend“ sei und dem Wesen der deutschen Volksgemeinschaft zuwiderlaufend. Mehr als eine endgültige Absage, einen Angriff auf den Faschismus stellt das letzte Drama Pirandellos dar, sein „wohl … faszinierendstes und zugleich schwierigstes Stück“ 22 , Die Riesen vom Berge, das Züge des Dramas Sechs Personen suchen einen Autor mit solchen aus dem Roman Einer, keiner, hunderttausend verbindet. Eine heruntergekommene Theatergruppe langt in der abgelegenen „Villa Pechvogel“ ein. Der Graf, einer von der Truppe, hat sein ganzes Vermögen aus- 19 Johannes Thomas: Nachwort zu Luigi Pirandello: Der Humor, op. cit., S. 243. 20 Johannes Thomas: Nachwort in Der Humor, op. cit., S. 244. 21 Renate Matthaei, op. cit., S. 14-19. 22 Michael Rössner: Ergänzende Bemerkungen des Herausgebers. In: Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge: die Mythen und andere späte Stücke. Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von Michael Rössner, Berlin 1997, S. 345. Pirandello oder der Zerfall des Ich 329 gegeben, um den Wunsch seiner Gattin zu erfüllen, das Stück La favola del figlio cambiato (Das Märchen vom vertauschten Sohn) aufzuführen, jenes Stück, das sowohl vom italienischen Faschismus als auch von den NS-Behörden verboten worden war. Wie Moscardo im letzten Roman Pirandellos hat auch der Graf sein ganzes Vermögen dafür hingegeben, diesem Stück zu einem Erfolg und Durchbruch zu verhelfen. Die Schauspielertruppe seiner Frau aber entspricht den Schauspielern des Theaterdirektors in Sechs Personen suchen einen Autor und die Bewohner der „Villa Pechvogel“ unter der Leitung des Zauberers Cotrone entsprechen weitgehend den Phantasiegestalten der „sechs Personen“. Zumindest einige von ihnen besitzen aber überdies noch eine zusätzliche Eigenschaft: sie sind kleine oder heruntergekommene Mythen: Sigricia, welcher der „Engel Hunderteins“ den Tod vorausgesagt hat, und die jetzt, nachdem sie starb, als Geist aus dem Jenseits weiterlebt, Quaqueo, der dicke Zwerg, Mara-Mara das aufgeblasene Gummifrauchen, genannt die Schottin, die Geistererscheinung Duccio und Maria Maddalena, die Schwachsinnige, die alle Männer erhört und ihre neugeborenen Kinder im Gras zurückläßt. Einige sind sizilianische Sagengestalten, der Zwerg klingt an den Zwerg Perqueo eines Heidelberger Studentenliedes an. Wie der Graf und die Gräfin sind auch sie alle völlig verarmt. Sie sind von allem entblößte Pechvögel, die aber einen großen Reichtum besitzen, nämlich „brodelnde Träume“, die ihnen die Macht der Phantasie ganz entsprechend jenen der „sechs Personen“ verleiht. Ihr Leiter und Sprecher, der Zauberer Cotrone, erklärt dem Grafen und der Gräfin: „Schauen wir auf die Erde, was für ein Trauerspiel! Vielleicht ist da unten einer, der sich einbildet, er lebe unser Leben. Aber das ist nicht wahr! Keiner von uns ist in dem Körper, den der andere sieht, sondern in der Seele, die sonst woher spricht-…“ Die Handlung spielt denn auch in einem Land an der Grenze zwischen Märchen und Wirklichkeit und die mythischen Züge sind insofern wichtig, weil das Stück das dritte und letzte einer Trilogie darstellt, die Pirandello „Mythen“ genannt hat. Sein erster moderner Mythos, der für den religiösen Mythos steht, ist das Stück Lazarus, der zweite moderne Mythos, der den gesellschaftlichen Mythos repräsentiert, ist das Stück Die neue Kolonie und das Stück Die Riesen vom Berge, deren endgültiger Abschluß durch den Tod des Autors verhindert wurde, steht für den Mythos der Kunst. In den Riesen vom Berge steht die Theatergruppe zunächst mythischen Geistererscheinungen der Pechvögel gegenüber, die ihnen bei ihrer Aufführung helfen wollen und sie sollte im letzten, ungeschriebenen Akt mit dem negativen Mythos der Riesen konfrontiert werden. Wie aber in dem Stück Sechs Personen suchen einen Autor die sechs Personen die magische Kraft der Phantasie besitzen, neue Phantasie-Figuren zum Leben zu erwecken, was sie in Form der Bordellmutter Pace tun, so beschwört Cotrone für die Pechvögel die Gestalten der „Ersten“ und „Zweiten Nachbarin“, weil diese für die Aufführung des Märchens Pirandello oder der Zerfall des Ich 330 vom vertauschten Sohn gebraucht werden, da sie der kleinen, auf acht Personen zusammengeschmolzenen Theatergruppe fehlen. Im ungeschriebenen letzten Akt des Stücks hätte es durch die Aufführung des Märchens vom vertauschten Sohn zu einer Konfrontation mit den „Riesen“ oder zumindest mit deren Helfern und Arbeitern kommen sollen. Hier ist es zweifellos richtig, daß Michael Rössner in seiner Ausgabe der Riesen vom Berge, die in den letzten Jahren unterdrückte Darstellung des Plans für diesen Akt, die der Dichter zwei Tage vor seinem Tod seinem Sohn Stefano diktiert hat, abdrucken ließ. Auf Grund dieses Plans hätte es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Theatergruppe und den Bediensteten und Arbeitern der Riesen kommen sollen. Ob aber die Riesen selbst oder deren Stellvertreter, auf jeden Fall wäre es die Konfrontation mit einem Mythos geworden, denn die Riesen sind mit ihren Helfern dabei, gleichsam übermenschliche Leistungen zu vollbringen: Wasser in aufgestaute Seen zu leiten, Großfabriken, Straßen und landwirtschaftliche Kulturen zu gründen, freilich unter völliger Nichtachtung des Geistigen und jeglicher Kultur. So besitzt der Ort, an dem die Theatergruppe ankommt zwar ein Theater, aber es dient nur als Wohnung für Mäuse und würde man es öffnen, würde kein Mensch hineingehen. Es sollte abgetragen werden, um entweder ein kleines Stadion für Rennen und Ringkämpfe zu errichten oder aber um ein Kino zu bauen. Auf jeden Fall wäre die Theatergruppe in der Konfrontation unterlegen. Gleichviel ob von den Riesen selbst oder von deren Gefolgsleuten wären die Schauspieler durch deren barbarische Grundhaltung an der Aufführung gehindert worden. Wenn aber die Leiterin der Gruppe, die Gräfin, protestiert und das Publikum beschimpft hätte, sollte sie zusammen mit zwei anderen Schauspielern ermordet werden. Wenn das Stück Die Riesen vom Berge für den Mythos der Kunst stehen sollte, dann wird es nicht von einem Mythos im positiven Sinn gestützt. Die Riesen und ihre Helfershelfer stehen für einen negativen Mythos, einen Pseudomythos. Der Mythos wurde ja durch den Faschismus mißbraucht. Wenn die Gräfin dem massenwahnhaften Toben des Publikums, das von einem solchen mißbrauchten Mythos besessen ist, entgegentritt, dann hat sie keine Chance. Waren in dem Drama Sechs Personen suchen einen Autor noch die Phantasiegestalten den wirklichen Schauspielern einander entgegengestanden, so waren sie nunmehr als Theatergruppe der Gräfin einerseits und der Pechvögel andererseits vereint. Aber die mythische Kraft der Pechvögel ist so dekadent geschwächt und hilflos, daß sie auch vereinigt einfach unterliegen müssen. Man darf nicht vergessen, daß es bei dem Stück, um dessen Aufführung die Gräfin kämpft, um jenes Märchen vom vertauschten Sohn geht, das 1934 sowohl im faschistischen Italien wie im nationalsozialistischen Deutschland verboten worden war. Es ist völlig klar, daß Pirandello den Eindruck gewinnen mußte, daß dichterische Phantasie „in der neuen, technokratischen Diktatur keine Pirandello oder der Zerfall des Ich 331 Chance habe“ und daß Die Riesen vom Berge das „Dilemma des Autors behandeln, der sein Forum verloren hat“. 23 Wenn aber die Riesen zuletzt durch den Haushofmeister dem Grafen eine angemessene Entschädigung für den Tod seiner Gattin überreichen lassen, dann ist es bezeichnend, daß er damit ein großartiges Mausoleum bauen lassen will, das für seine Gattin sowohl wie auch sinnbildlich für die Kunst steht. Der verquere Aftermythos des Nationalsozialismus hat in Form der Reichsschrifttumskammer auch ein grandioses Mausoleum errichtet. Weshalb auch für das letzte Werk des Autors zumindest in eingeschränktem Maß als seine Antwort auf das Chaos seiner Zeit gelten kann, was bereits zwei Jahre zuvor in der Verleihungsrede für den Nobelpreis gesagt wurde: „In seinen moralischen Anschauungen ist Pirandello weniger verwirrend, da er keine Ordnungen auflöst. Was gut ist, was schlecht ist - seine Weltanschauung wird von einer althergebrachten Humanitas bestimmt. Sein bitterer Pessimismus erstickt den Idealismus nicht, und seine durchdringende analytische Vernunft schneidet die Wurzeln des Lebens nicht ab. Wenn auch das Glück keinen großen Platz in seiner fiktive Welt einnimmt, so bewahrt das Leben darin immerhin eine gewisse Würde.“ 24 Jedenfalls zeigen nicht nur die drei hier herausgehobenen Werke, aber sie ganz besonders, Auswege und Wege dem Chaos selbst in unserer Zeit des Zerfalls zu begegnen. Vor allem aber hat der Festredner weder Pirandellos Buch über den Humor ganz gelesen, dessen Geistigkeit die fiktiven Schicksale aller seiner Stücke wie Erzählungen durchdringt und dadurch eine Überwindung des Oberflächen- Pessimismus darstellt. Noch hat er das Mitleidsethos genug hervorgehoben. Besonders aber beschreibt das Ende von Pirandellos Roman Einer, keiner, hunderttausend zwar kein äußerliches und kein sehr konventionelles, dafür jedoch ein fester fundiertes und dauerhafteres Glück des Helden als viele oberflächliche „happy endings“ einer Verlobung, Heirat oder eines großen Treffers in der Lotterie. 23 Renate Matthaei, op. cit., S. 94. 24 Per Hallström: Verleihungsrede, op. cit., S. 24. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung Schon die Geburt des Kindes fand unter bösen, chaotischen Umständen statt. Während der Vater, Isaaki Solschenizyn, als Offizier an der Front stand, war seine schwangere Mutter bei ihrer Familie im Sommerkurort Kislowodsk. Dann kam ihr Mann und nahm sie mit sich zurück zum Landgut seines Vaters in Sabbia. Sie war die behütete Tochter reicher Eltern gewesen, hatte vier fröhliche Jahre in einer Internatsschule und vier weitere Jahre an der Universität Moskau hinter sich, als sie sich in den stattlichen Offizier verliebt und ihn geheiratet hatte. Das erwartete Kind sollte ihre glückliche Ehe krönen und segnen. Bald nach ihrer Ankunft in Sabbia, dem Landgut ihres Gatten, ging dieser mit einem Freund in einem Pferdewagen auf die Jagd nach Niederwild. Durch eine Unachtsamkeit Isaaki Solschenizyns entlud sich sein geladenes Gewehr, das er an die Wand des Wagens gelehnt hatte und die ganze Schrotladung entlud sich in seine Brust und seinen Bauch. Seine Gattin Taissija fuhr mit dem Schwerverletzten im selben Wagen, ganz langsam, wegen seiner Schmerzen, die vierzig Meilen nach Georgiewsk ins Krankenhaus, wo er sofort operiert wurde. Aber der Zustand des Krankenhauses war infolge des Bürgerkriegs katastrophal und die Operation oberflächlich und schlampig, so daß Isaaki nach sieben Tagen starb. Die schwangere Taissija begrub ihn und ging sodann mit ihrer Schwägerin, die zum Krankenhaus gekommen war, in die schöne Villa nach Kislowodsk zu ihren Eltern. Die Lage in dem reichen Kurort hatte sich infolge des Bürgerkrieges allerdings bereits sehr verschlechtert. Die Bolschewiken hatten im Süden Rußlands die Hauptzentren des Widerstands durch die Donkosaken und die Kubankosaken überrannt und der Nordkaukasus einschließlich der Kurorte wurde in den neuen Sowjetstaat eingegliedert. Die Sowjet-Soldateska brach, oftmals betrunken, in die reichen Villen ein unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, doch tatsächlich um Gold, Geld und Wertgegenstände zu plündern. Zudem wurden den besitzenden Familien Geldbußen auferlegt, die sie nach der Plünderung oft nicht bezahlen konnten. Um sicherzustellen, daß das Geld trotzdem bezahlt wurde, hatten die Soldaten die wichtigsten Bürger des Ortes als Geiseln verhaftet und nach Pjatigorsk gebracht. Bald darauf wurden schlecht gedruckte Proklamationen an die Wände geklebt, in denen verlautbart wurde, die Geiseln seien als Folge des Klassenkampfes liquidiert worden, da sie Feinde des Volkes gewesen wären. In Kislowodsk war infolge des Kommandeurs der lokalen Garnison, eines ehemaligen Kutschers, die Situation besonders böse, da er dem Vorsitzenden des Stadtsowjets, einem früheren Monteur, bei der Terrorisierung der Einwohner besonders fleißig assistierte. Auch der Oberkommandierende der Revolutionsarmee Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 334 im Nordkaukasus hatte sein Quartier in Kislowodsk aufgeschlagen. Als er nach Moskau berufen wurde, erschienen zwei neue Kommissare, Axelrode und Gaj. Die Frau des letzteren gab gerne große Empfänge, bei denen sie schwer mit Schmuck beladen war. Dieser stammte von Geiseln, die dadurch ihr Leben erkauft hatten. Jene, die sich weigerten zu zahlen oder aber nicht zahlen konnten, wurden im Keller des Nachbarhauses erschossen. Eines Nachts brach eine Horde von Sowjetsoldaten in die Villa der Solschenizyns ein und verhaftete Taissijas Schwager. Er wurde nach Pjatigorsk genommen und zum Tode verurteilt. Seine waghalsige Frau Irina jedoch gab nicht klein bei, sondern raffte allen Schmuck und viel Geld zusammen, und es gelang ihr, ihn freizukaufen. Ein früherer Kosaken-Oberst hatte eine kleine Guerillatruppe organisiert und da der Großteil der Bevölkerung vom sowjetischen Terror genug hatte, gelang es ihm, unter anderem auch Kislowodsk zu befreien. Nun gab es Exekutionen der Bolschewiken-Führer. Aber bald mußte er Kislowodsk wieder aufgeben und der rote Terror brach noch ärger als zuvor los. Da kam der Kosaken-Oberst wieder zurück und eroberte nicht nur Kislowodsk, sondern auch Pjatigorsk und Jessentuki. Es war inmitten dieses abwechselnden Plünderns und Mordens, daß Alexander Solschenizyn am 11. November 1918 in Kislowodsk geboren wurde. Da schließlich der Großteil des Kaukasus in den Händen der Weißen war, kehrten die beiden Familienmitglieder Sachar und Jewdokija, die nach Kislowodsk geflohen waren, nach Armawir zurück und Taissija zog mit dem Säugling zu ihrer älteren Schwester Maria. Diese wohnte in der Tolstoi-Straße in Kislodowsk und hier verbrachte Alexander Solschenizyn die ersten sechs Jahre seines Lebens. Im März 1920 war es schließlich so weit gewesen, daß die Herrschaft der Bolschewiken gesichert war. Taissija, die ursprünglich sehr liberal gedacht hatte, wurde durch das Elend der roten Mißwirtschaft in die orthodoxe Kirche getrieben, die damals eine Art Widerstand und Schutz bot. Der weniger als drei Jahre alte Alexander erinnerte sich noch viele Jahre später der schutzversprechenden Ikone, die in einer Ecke seines Zimmers hing und erinnerte sich auch, daß bei einem Besuch der Messe in St. Panteleimon plötzlich Sowjetsoldaten in die Kirche eindrangen, um im Staatsauftrag Kirchengut zu plündern. Als er fünf Jahre alt wurde, waren die Ersparnisse der Mutter aufgebraucht. Sie fand ihn alt genug, um eine Trennung zu ertragen, überließ ihn der Obhut ihrer Schwester Maria und fand in Rostow am Don eine Stellung als Sekretärin. Als Marias Villa konfisziert wurde, landete der Sechsjährige bei seiner Mutter Taissija in Rostow und Rostow gefiel ihm sofort. Es hatte eine gemischte Bevölkerung von Kosaken, Juden, Griechen und Armeniern und im Hafen lagen griechische und italienische Schiffe. Vor allem aber hatte es sich durch die Revolution weniger geändert als viele andere Orte. Taissija wohnte bei den Andrejews, der Familie der Direktorin der Internatsschule, die sie als Mädchen besucht hatte und die sie schon damals sehr geliebt hatte. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 335 Alexander erinnerte sich, daß seine Mutter ihn gebeten hatte, ihr beim Vergraben von drei Auszeichnungen seines Vaters zu helfen, wie sie auch in vielen Fragebogen verschwieg, daß dieser im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen war. Sie machte ihn zu einem „Büroangestellten“, da sie sonst nicht nur ihren Posten, sondern auch ihre Lebensmittelkarten verloren hätte. Als sie dann jemand bei den Behörden als ehemalige Frau eines Offiziers denunzierte, verlor sie nicht nur das Anrecht auf einen anständigen Posten, sondern auch auf eine normale Wohnmöglichkeit. Sie mußte mit ihrem Sohn in eine kleine Hütte ziehen, deren einziger Raum dreimal vier Meter groß war und in der es weder Wasser noch Abflüsse gab. Hier wohnten die beiden zwölf Jahre bis 1936. Und hier war Taissija „in weniger als zehn Jahren zwanzig Jahre gealtert.“ 1 Solschenizyns Entwicklung neben seiner weichherzigen, den harten und raffinierten Verhältnissen sowjetischen Lebens in keiner Weise gewachsenen Mutter führte zu Einsamkeit, Selbständigkeit und nicht zuletzt auch dazu, daß er oft Zuflucht zu einem Buch zu nehmen begann. Seine Besuche bei Tante Irina in Jejsk, der es gelungen war, eine hervorragende Bibliothek zu retten, gaben ihm die beste Gelegenheit, seinen wachsenden Hunger nach geistiger Nahrung zu befriedigen. Ein zweiter wichtiger Einfluß war, daß er in der Umgebung von Ingenieuren aufwuchs, was seine spätere Hinwendung zu Mathematik und Physik erklärt. Dabei war es freilich besonders folgenschwer, daß er sich oft bei Wladimir Twardowski aufhielt, dessen Familie und Ingenieur-Freunde alle Gegner der Bolschewiken waren und völlig offen über alles sprachen. Das war es, „was sein Schicksal entschied“. 2 Zuvor, in den Kindheitstagen war er auch vorübergehend unter dem Einfluß des Zeitgeistes geraten, vor allem durch Klassenkameraden, die der Organisation der „Pioniere“, der Indoktrinierungsorganisation der Kommunisten für Kinder angehörten. Damals hatte es ihm Spaß gemacht, gemeinsam mit den Schulfreunden durch die Straßen zu marschieren, rote Fahnen zu schwingen, Trommeln zu schlagen und revolutionäre Lieder zu singen. Freilich war er wohl der einzige Pionier, der auch nach seinem Eintritt in die Organisation weiterhin das Kreuz um seinen Hals trug, das ihm seine Mutter bei der Geburt geschenkt hatte. Als er zehn Jahre alt war, die Pioniere in der Schulklasse das Kreuz entdeckten und es ihm vom Hals rissen, da gab er in der Sache selbst wohl klein bei und opferte ein Stück jener Unabhängigkeit, durch die er sich immer schon „verschieden“ gefühlt hatte, doch trat dafür eine stärkere innere Hinwendung zur Tradition der Kirche ein. 1 Michael Scammel: Solzhenitsyn. London u. a. 1984, S. 49. Diese ausführlichste und einzig autorisierte Biographie Solschenizyns zeigt seine Entwicklung vor dem Hintergrund einer der besten Darstellungen der sowjetischen Geschichte. 2 Michael Scammel, op. cit., S. 58. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 336 In seiner späteren Jugendzeit hatte er zwei besonders enge Freunde, Kirill Simonjan und Nikolaj Witkewitsch. Sie nannten sich die „drei Musketiere“. Zusammen mit diesen beiden Freunden und dazu noch mit zwei Freundinnen, Natalia Reschetowskaja und Lidia Escherets waren sie besonders an Literatur interessiert. Sie schrieben Aufsätze über Shakespeare, Byron und Puschkin und wetteiferten miteinander, außerhalb der Schule zusätzliche Informationen über die geliebten Dichter zu finden. Zunächst verfaßten sie auch alle schlechte Imitationslyrik bis Anastasia Sergejewna, die sich zu ihnen gesellt hatte, vorschlug, sie sollten gemeinsam einen Roman schreiben. Dabei fiel jedem ein Kapitel zu, in dem er eine Fortsetzung zu den vorhergehenden Kapiteln schaffen mußte, während der Schluß offenzubleiben hatte. Niemand wußte, wie der Roman enden sollte. Die Gruppe produzierte in der neunten und zehnten Klasse eine handschriftliche satirische „Zeitschrift“ und wandte ihre Liebe auch dem Theater zu. Ein „Drama Klub“ wurde gegründet und Stücke von Dostojewski, Tschechow und Rostand wurden aufgeführt. Eine wesentliche Rolle für diese Entwicklung hatte ihre Literaturlehrerin Anastasia Grünau gespielt, die Solschenizyn viele Jahre später in Moskau besuchen sollte, um ihr noch einmal zu danken. Damals hatte er den Wunsch gefaßt, Schriftsteller zu werden. Seine ersten Versuche hatte er schon als Zehn- und Elfjähriger unternommen, mit einer Geschichte „Piraten“, der als eine weitere „Der blaue Pfeil“ folgte, der wiederum gefolgt war von einer Science-Fiction-Geschichte, die alle in großer Handschrift auf die Rückseite von Papieren der Firma „Melstroj“ geschrieben waren, für die seine Mutter arbeitete. Der Dreizehnjährige schrieb in Schulübungshefte eine „Literarische Zeitschrift“, die unter anderem seine Komödie „Bankette“ enthielt. Einen eigenartigen Zufall stellte es dar, daß die Heldin seiner frühen Geschichte „Die Geldkiste“ den Namen Natalia Swetlowa trug, den Namen der Frau, die er erst viele Jahre später kennenlernen und heiraten sollte. In seinem zehnten Schuljahr verließ er die Pioniere, um in die altersmäßig nächsthöhere Organisation einzutreten, den Komsomol. Bald darauf begann er sich mehr und ernsthafter für den Komsomol zu engagieren und obwohl sein Hauptfach an der Universität Rostow Mathematik wurde - Literatur wurde auf höherer Ebene gar nicht gelehrt -, begann er sich nun auch in das Studium des Dialektischen Materialismus zu vertiefen. Ja, für etliche Jahre war er sehr davon gefesselt. 3 Solschenizyn selbst, Enkel eines Millionärs und Sohn eines zaristischen Offiziers, der die Entsetzlichkeiten des Terrors der Revolution und des Bürgerkrieges zumal aus Erzählungen sehr gut kannte, erklärte diese Wandlung so, daß eine neue Generation aufgewachsen war, die keine persönlichen Erinnerungen an das alte Rußland mehr hatte. Das Land aber hatte eine große Wandlung 3 Vgl. Michael Scammel, op. cit., S. 87. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 337 durchgemacht. Die Partei wurde der Vater dieser Generation und die Kinder gehorchten. Auf die Frage seines Biographen Michael Scammel, was das entscheidende Motiv dafür gewesen wäre, antwortete Solschenizyn klipp und klar „Gerechtigkeit“. Dabei gab es vieles, was ihm hätte zu denken geben sollen. Denn gerade in jener Zeit, in der er ganz Kommunist war, 1937, verschwanden mitunter plötzlich Studenten von der Universität und es gab Erzählungen, daß auch Professoren verschwunden waren. Ja, als er sich einmal in einer langen Schlange um Brot angestellt hatte, wurde er selbst verhaftet unter der Anschuldigung, als Saboteur Panik verbreitet zu haben, indem er die Menschen glauben machte, es existiere ein Lebensmittelmangel. Am 27. April 1940 heiratete Solschenizyn Natalia Reschetowskaja, indem sie ohne jegliche Zeremonie und ohne irgendjemanden etwas davon zu sagen zur städtischen Registratur gingen und sich als Ehepaar eintrugen. Natalia, die schon lange den „drei Musketieren“ nahegestanden hatte, war schön, charmant und hatte ein gutes Benehmen. Es schien aber, als betrachte Solschenizyn die Ehe eher als eine unangenehme Aufgabe und als ein Hindernis, das man hinter sich zu bringen hatte, ohne daß das Studium im geringsten behindert wurde. Sein Studium fand damals gerade am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte (MIFLI) statt, der höchsten Institution des Landes für die Geisteswissenschaften und Solschenizyn hatte sich für das Fach Literatur entschieden. Im Juni 1941 hatte Solschenizyn sein Studium der Mathematik und Physik in Rostow abgeschlossen gehabt und fuhr nach Moskau, um die Schlußprüfungen nach dem zweiten Jahr am MIFLI anzulegen, wo er gleichzeitig studiert hatte. Am Tag seiner Ankunft in Moskau, dem 22. Juni 1941, erklärte Deutschland der Sowjetunion den Krieg. Er versuchte zuerst in Moskau und als dies nicht möglich war, ein zweites Mal in Rostow als Rekrut angenommen zu werden, wobei er sich im Andenken an seinen Vater zur Artillerie meldete. Das zweite Mal wurde er aus gesundheitlichen Gründen abgewiesen. Auch ein dritter Versuch, einige Wochen später, scheiterte. Dabei hatte Solschenizyn keinen Zweifel, weder an der Gerechtigkeit noch an der Notwendigkeit dieses Krieges. Erst als die Deutschen vor Moskau standen, mobilisierten die Sowjets alle verfügbaren Reserven. Solschenizyn, der einen Posten als Dorflehrer im Kosakendorf Morosowsk angenommen hatte, meldete sich wieder und wurde dieses Mal zum vierundsiebzigsten berittenen Transport-Bataillon am Fluß Busuluk, 150 Meilen nordwestlich von Stalingrad geschickt. Die Einheit bestand aus hauptsächlich älteren und auch kranken Donkosaken. Er wollte um jeden Preis an die Front, endete aber zunächst in einem Trainingskurs für künftige Batteriekommandanten in Semjonow. Als sich herausstellte, daß dort nur längst gediente Offiziere waren, wurde er zuerst zur dritten Leningrader Artillerieschule und von hier weiter zu einem Blitzkurs für Instrumenten-Aufklärung in die Nähe von Kostrama im nördlichen Rußland versetzt. Er haßte Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 338 die Grundausbildung, erhielt aber schließlich Ende Oktober 1942 sein Leutnantspatent. Anfang November wurde er als stellvertretender Kommandant einer Lautmessungsbatterie im 796. Artillerie-Aufklärungsbataillon nach Saransk abkommandiert. Infolge einer organisatorischen Veränderung hatte er bald darauf sein eigenes Kommando als Batteriechef und verließ Saransk am 13.-Februar 1943, um vorerst östlich von Orjol zu landen. In den freien Stunden begann er in seine Notiz- und Tagebücher Kriegsgeschichten zu schreiben. Die Wartezeit endete, als die Deutschen ihren Angriff auf einen vorspringenden Punkt der Verteidigungslinie bei Kursk begannen, was der Anfang der Wende in diesem Krieg werden sollte. Für Solschenizyn war es der erste Geschmack von Kampfhandlungen und am 5. August zog er mit der siegreichen russischen Armee in Orjol ein. Er erhielt den Orden des Vaterländischen Krieges II. Klasse, wurde zum Oberleutnant befördert und nicht lange darauf zum Hauptmann. Als er mit seiner Batterie bereits in Ostpreußen einmarschierte, erreichte ihn ein Anruf, er solle sich sofort beim Brigadekommandeur melden. Dieser nahm ihm seinen Revolver ab und zwei Offiziere von „Smersch“, der militärischen Abwehr, nahmen rechts und links von ihm Aufstellung, rissen ihm seine Epauletten ab, den Stern von der Mütze, nahmen ihm auch den Gürtel ab und rissen ihm die Kartentasche aus der Hand. Der Brigadekommandeur fragte ihn noch, ob er einen Freund in der ersten Ukrainischen Armee hätte, was er als eine Warnung verstand und sofort an Nikolaj, einen der drei Musketiere dachte. Dann stand der Kommandeur auf, drückte ihm die Hand und wünschte ihm Glück, worauf ihn die beiden Abwehroffiziere aus dem Raum führten. Zuerst wurde er zum lokalen Hauptquartier der Abwehr gebracht, das in einem Pastorenhaus des ostpreußischen Dorfes Osterode untergebracht war. Auf dem Umweg über Brodnitz ging es nach Moskau und in das berüchtigte Gefängnis Lubjanka, wo er am 20. Februar 1945 eintraf. Nach all den Demütigungen der Durchsuchung, des Haarscherens und der Einkleidung landete er nicht in einer Zelle, sondern in einem Loch, das so klein war, daß man darin weder stehen noch liegen konnte. Sein Untersuchungsrichter, Hauptmann I. I. Jesepow las ihm die Punkte der Anschuldigungen vor. Er erfuhr, daß er unter Absatz 58 des Strafgesetzes, Paragraph 10 antisowjetische Propaganda getrieben hätte und außerdem gemäß Paragraph 11 eine feindliche Organisation gegründet hätte. Er hatte tatsächlich, während er vor Orjol lag, seinen alten Freund Nikolaj Witkewitsch, einen der „drei Musketiere“ getroffen und hatte mit ihm wie schon in der Studienzeit, politisiert. Sie hatten sogar in der besten marxistischen Tradition ein Manifest niedergeschrieben, das sie „Resolution Nr. 1“ genannt hatten und das Solschenizyn später ein Leninistisches Dokument genannt hat. Darin wurde vor allem gesagt, daß das gegenwärtige Sowjetsystem sowohl die wirtschaftliche Entwicklung hemmte und blockierte, wie es auch die Literatur Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 339 und Kultur unterdrückte. Es wurde sogar darin auch gesagt, daß man dagegen ankämpfen müßte, daß dies nur durch eine Organisation möglich sei und daß darum eine neue Partei gegründet werden müßte. Solschenizyn entdeckte rasch, daß Hauptmann Jesepow Kopien all seiner Briefe an Nikolaj, Kirill und Lidia vom April 1944 bis Februar 1945 besaß, in denen er negative Auslassungen über Stalin gab. Auch ein Exemplar der „Resolution Nr. 1“ besaß er, die in Solschenizyns Kartentasche gewesen war. Was ihn allerdings verblüffte und was er einfach nicht fassen konnte, war die daraus abgeleitete Schlußfolgerung Jesepows, daß er das Sowjetregime stürzen wollte. Er verstand nicht, daß der Mann, der ihm gegenüber saß, ein zynischer Apparatschik war, den Vorhaltungen über Wahrheit und Humanität nicht im geringsten interessierten, am wenigstens aber Solschenizyns Hinweise, daß sie lediglich das System im Sinne Lenins reformieren und verbessern wollten, daß sie loyale Bürger waren und in ihren Plänen nichts von subversiv oder umstürzlerisch war. Das gesamte Rechtssystem war indessen genau so konstruiert wie der Kopf des Apparatschiks. Nur Beweise, welche die Anschuldigungen stützten, waren zugelassen und Beweise für das Gegenteil nicht. Lagen aber nicht genug Beweise vor, wurden Geständnisse wichtig und genügend Mißhandlungen und Folter konnten Angeklagte überreden, fast alles zu unterschreiben. Solschenizyn wurde denn auch dazu gebracht, ein Geständnis zu unterschreiben, daß er eine „Organisation“ gegründet hätte, die aus ihm und Nikolaj bestand. Diese Zwei-Mann-Organisation erlaubte die Verurteilung auch nach Paragraph 11, was eine erhebliche Erschwernis bedeutete. Ohne je zu erfahren, wie er verurteilt worden war, wann und von wem, wurde ihm eines Tages von einem NKWD-Major ein kleiner Zettel ausgehändigt, der zudem nur eine Kopie war und in dem ihm mitgeteilt wurde, er sei zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Die Verurteilung war durch ein „Besonderes Komitee“ verhängt worden, das geheim operierte, dessen Mitglieder ebenfalls geheim waren und das überdies die Macht besaß, nach abgebüßter Strafe eine Verlängerung zu verhängen. Zuerst wurde Solschenizyn in das Butyrki-Gefängnis gebracht, von hier ging es nach Krasnaja Presnja und von da nach Neu-Jerusalem in die „russische Schweiz“, wo Lehm für Ziegeln gestochen wurde. Sodann wurde der Lehm auf Loren verladen und zur Ziegelpresse transportiert. Hier lernte Solschenizyn die ganze Mitleidlosigkeit und Brutalität des GULAG kennen: Er fühlte sich bereits mit einem Fuß im Grab und seine Zukunft schien ihm völlig finster. Dabei hatte er erst drei Wochen der Strafe verbüßt. Die Rettung kam überraschend, als das Lager geschlossen wurde, um Platz für deutsche Kriegsgefangene zu schaffen und er zurück nach Moskau beim Kalugaer Tor im Süden der Stadt versetzt wurde. Sein Leben nahm hier eine drastische Wendung zum Besseren, denn er erhielt einen eigens für ihn geschaffenen Posten als Aufseher über die gesamte Produktion des Lagers. Er schlief Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 340 mit nur fünf, gleichfalls privilegierten Häftlingen und genoß etliche Vorteile. Zwar verlor er diesen Posten wieder, doch wurde er bald darauf stellvertretender Aufseher der Produktion mit denselben Privilegien. Er fand sogar Gelegenheit, am Abend an den Treffen und Vorführungen der „Theater-Sektion“ des Lagers teilzunehmen. Am 18. Juli 1946 wurde ihm mitgeteilt, daß er wiederum versetzt worden war und zunächst ging es zurück in das Butyrki-Gefängnis, wo er zu Beginn seiner Haft war. Er entdeckte, daß es hier in der großen Zelle Nr. 75 eine „Naturwissenschaftliche Sektion“ gab. Der „Präsident der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft der 75. Zelle“ Professor Timofejew-Ressowski fragte ihn, ob er bereit wäre, am nächsten Tag einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten und über welches Thema. Solschenizyn hatte im Lager am Kalugaer Tor zufällig ein Buch über die amerikanische Atombombe gelesen. Darüber sprach er und obwohl ihm bei einigen Kleinigkeiten ausgeholfen werden mußte, war es ein Erfolg. Nun erfuhr Solschenizyn mehr über eigene „Lager-Institute“, die im Russischen von den Insassen aus unbekannten Gründen den Namen „Scharaska“ erhalten hatten und er wurde auch für kürzere Zeit zu mehreren dieser Lager geschickt: zuerst zu einem in Rybinsk, sodann zu einem in Sagorsk und schließlich zu jenem in Marfino, das den offiziellen Namen Sondergefängnis Nr. 16 führte und das er in seinem Roman Der erste Kreis beschrieben hat. 4 Der Roman spielt in dieser Scharaska von Marfino, in der Häftlings-Wissenschafter zusammen mit freien Wissenschaftern arbeiteten und die Solschenizyn im 11. Kapitel als „Verwunschenes Schloß“ beschrieben hat. Die Lebensqualität der Häftlinge war nämlich verglichen mit den gewöhnlichen Lagern hervorragend und das Hauptgebäude des als Gefängnis adaptieren früheren Priesterseminars hatte etwas Schloßähnliches an sich. Hier hat Solschenizyn sein erzählendes Gedicht „Der Weg“ geschrieben, in dem er zeigte, wie sehr auch er die frühe Kindheit als besonders prägend empfand, mit welcher das Gedicht beginnt. Hier hat er mehr gelesen als irgendwo sonst seit seiner Universitätszeit. Die wichtigsten Autoren waren Nikolaj Nekrasow, Alexander Twardowski und der geliebte Sergej Jesenin. Solschenizyn hat sich selbst unter dem Namen Gleb Nerschin in dem Buch verewigt und zusammen mit sich selbst auch seine zwei besten Freunde aus jener Zeit, Lew Kopelew und Dimitri Panin. 4 Der Roman wurde 1955-1958 geschrieben, wurde erstmals 1964 in einer gekürzten und entstellten Form unter dem Titel Der erste Kreis der Hölle verändert, um ihn überhaupt einer Redaktion mit der Hoffnung auf Veröffentlichung vorlegen zu können und wurde zunächst auch so gedruckt. Im Jahr 1968 hat der Autor sodann nicht nur die ursprüngliche Form wieder hergestellt, sondern auch noch einige Kapitel ergänzt. So erschien er unter dem Titel Der erste Kreis und aus der deutschen Übersetzung dieser Letztfassung, Frankfurt am Main 2002, stammen die folgenden Zitate. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 341 Aus seinen Diskussionen mit Kopelew, der im Roman den Namen Rubin führt, geht hervor, daß fernöstliche Weisheit Einfluß auf ihn gewonnen hatte. Er zitierte nicht nur den großen Taoisten Lao Tse, sondern auch das uralte philosophischen System Indiens Sankhya, dessen Weisheit die Veden erfüllt hatte und eine Art Theorie zur Praxis des Yoga darstellte. Rubin hatte sich zwar zu einem Hemingway-Liebhaber entwickelt, hielt aber im Grunde noch immer am Glauben der möglichen Verwirklichung eines idealen Kommunismus fest, während Nerschin bereits den Widersinn und Wahnwitz des Systems durchschaut hatte. In den Diskussionen mit dem Freund versucht er auch diesen vom ersten notwendigen Schritt der Chaosüberwindung zu überzeugen, die anstelle der falschen Scheinordnung des Kommunismus zu treten hatte: „Lew, versteh mich doch! Es war für mich kein Kinderspiel - es tat mir tief in der Seele weh, als ich mich von dieser Lehre trennte! Sie war doch Glockenklang und Pathos meiner Jugend, für sie habe ich alles andere vergessen und verdammt! Heute bin ich ein Grashalm, der in einem Bombentrichter sprießt, nachdem der Baum des Glaubens getroffen und entwurzelt wurde. Nachdem ich mich in den Gefängnisdiskussionen immer wieder geschlagen geben mußte, … mußte ich ehrlichkeitshalber eure wackligen Konstruktionen aufgeben und mich nach anderem umsehen. Das ist gar nicht so einfach. Meine Skepsis ist möglicherweise nichts anderes als eine Scheune am Weg, wo man sich bei Unwetter unterstellen kann.“ Als es dann zu einer Auseinandersetzung über den Begriff Skepsis kommt und Rubin von Nerschin eine bessere Definition als seine eigene fordert, da erwidert ihm dieser: „Man könnte vielleicht so sagen: Skeptizismus ist eine Form der Eindämmung des Fanatismus. Skeptizismus ist eine Form der Entkrampfung dogmatischer Denkweisen.“ 5 Hier ist der erste und vielleicht wichtigste Schritt zur Überwindung der chaotischen Scheinordnung des totalitären Staates vollzogen, der viele Millionen eingekerkerter, geschundener, gemarterter und ermordeter Menschen produziert hatte und alles nur um eines blassen, abstrakten und rein theoretischen Versprechens willen auf ein künftiges Paradies hin. Nerschins Arbeitsplatz war im Akustiklabor, das ganz der gleiche Raum war wie das Labor Nr. 7 nur ein Stockwerk darunter. Seinem Schreibtisch gegenüber war der Schreibtisch der kleinen Frau Leutnant der Sicherheitspolizei MGB, die wie ein Vögelchen wirkte und entgegen jeder Dienstvorschrift den körperlich großen und gelehrten Nerschin, den sie sich gerne in Hauptmannsuniform vorstellte, sehr bewunderte. Als sie sich eines Tages in einer engen Kabine bei der Arbeit mit ihm, gemeinsam über ein schadhaftes Mikrofon gebeugt, Wange an Wange mit ihm berührte, nahm er ihren Kopf in die Hand, küßte sie und es 5 Der erste Kreis, op. cit., S. 54 f. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 342 entstand - ganz wie in der Realwirklichkeit Solschenizyns - eine Liebe zwischen Wächter und Bewachtem. Als Nerschin einmal in einer Art Anfall aufgetragene Arbeit hinter sich zu bringen, mit größter Schnelligkeit reagiert hatte, da gestand er ihr ein: „Ich handle, weil ich das Handeln hasse.“ Und als sie erstaunt gefragt hatte: „Aber was lieben Sie denn? “, erhielt die die geradezu taoistische Antwort: „Nachdenkens.“ 6 Das war alles andere als ein Augenblicks Bonmot, sondern das Einbekenntnis der Wahrheit. Denn wenn sich auf Nerschins Schreibtisch wahre Barrikaden von teils geöffneten Büchern, von Mappen und Zeitschriften türmten, damit jeder eifrige Kontrollor daraus schließen mußte, daß dies die Spuren eines emsigen, ja stürmischen Forschergeistes waren, so war dies doch „nichts als eine Kulisse“, für den Fall, „daß einer der Vorgesetzten im Labor auftauchte“. Er selbst schaute „durch die Scheiben des schwarzen Fensters hinaus“, wo in der Tiefe der nächtlichen Dunkels „die ersten Lichter Moskaus“ aufleuchteten. Vor diesem Bild saß er, nachsinnend und meditierend über die wunderschönen Verse Jesenins oder über Goethes Faust, oder aber über sich selbst und seine Erinnerungen und über die Rätsel des Lebens und der Zeit. Und während es äußerlich gesehen taoistisches Nichtstun war, so tat sich doch innerlich eine ganze Welt von Wundern auf. „Gesegnet sei das Gefängnis“, heißt es einmal im Roman, „Es hat mich in die Lage versetzt, nachzudenken.“ 7 Eine andere Art von Diskussion als mit Rubin hatte Nerschin in der Scharaska mit seinem zweiten guten Freund Dimitri Sologdin, der für den wirklichen Dimitri Panin steht. Als Nerschin ihn fragte, ob es weniger moralisch wäre, wenn er erkannt hätte, „daß es keinen Gott gibt“, da erwiderte dieser: „Zwei-fel los! “ Und er setzte noch fort: „Wenn Du auch nur an einem einzigen Wort der Heiligen Schrift, an einem einzigen Glaubenssatz zweifelst - dann ist alles verloren. Dann bist du ein Gottloser! “ Worauf Nerschin mit den Worten reagierte: „Ich kann nur das eine sagen: Ich weiß, daß ich nichts weiß.“ 8 Was den Kommunisten Rubin, den Sokratiker Nerschin und den unerschütterlich glaubensfesten Sologdin einigte, verband und trotz aller geistigen Gegensätzlichkeiten zu Freunden machte, das war neben ihrer Anständigkeit vor allem die Gemeinsamkeit ihres Gefängnisschicksals, zu dem das sowjetische System sie verurteilt hatte. Auf Grund der mitleidlosen Grausamkeit und raffinierten Bösartigkeit hatte das sowjetische System sie weit tiefer geeinigt, als die radikal verschiedensten Denkungsarten sie zu trennen vermochten. So stimmte denn auch Sologdin sofort mit dem Ausruf „Ausgezeichnet! “ zu, als Nerschin über seinen Plan eine Geschichte der Revolution zu schreiben, erklärte: „Das 6 Der erste Kreis, op. cit., S. 44. 7 Der erste Kreis, op. cit., S. 51. 8 Der erste Kreis, op. cit., S. 196. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 343 Leid, das ich am eigenen Leib erfahren habe und an anderen sehe, könnte mich auf manche Idee über den Verlauf der Geschichte bringen.“ 9 Als der allmächtige Generalkommissar und Minister für Staatssicherheit Abakumow, der alle Gegner in Rußland sofort lebenslang ins Lager bringen und alle Gegner im Ausland umbringen lassen konnte, zwei Häftlinge der Scharaska Marfino zu sich bringen ließ, um sie nach dem Zeitpunkt der Fertigstellung der von Stalin höchst persönlich anbefohlenen „Geheimtelefonie“ zu befragen, da er seinen eigenen Untergebenen mißtraute, da mußte er erfahren, daß die Gründlichkeit und Radikalität der Unterdrückung bei manchen Häftlingen geradezu zu einer Art Immunität führen konnte. Der Häftling und zugleich leitende Ingenieur Bobynin erklärte ihm auf seine Frage: „Den Unterschied zwischen uns sehe ich sehr deutlich. Sie brauchen mich, aber ich brauche Sie nicht.“ Als der Minister daraufhin zu drohen begann, machte dies einen sehr geringen Eindruck: „Ich habe nichts“, erklärt ihm Bobynin, „überhaupt nichts! An meine Frau und mein Kind kommt ihr nicht ran. Die hat die Bombe geholt. Meine Eltern sind schon tot. Mein ganzes Hab und Gut hier auf Erden besteht aus einem Taschentuch. Meine Kombination 10 und meine Unterwäsche … gehören dem Staat. Die Freiheit habt ihr mir schon längst genommen, und es steht außerhalb eurer Möglichkeit, sie mir wieder zu geben, denn ihr seid selbst nicht frei … Was können Sie mir noch wegnehmen? Die Arbeit als Ingenieur? Aber in diesem Fall werden Sie mehr verlieren als ich …“ 11 Er nennt die Sicherheitsoffiziere „Schmarotzer“ und fragt Abakumow, wozu er eigentlich dieses „Sicherheits-Kunstgewerbe“ brauche. Schließlich kommt er auf die „Ordnung“ zu sprechen: „Ordnung! Die Ordnung bereitet Euch Kopfzerbrechen! Ihr werdet bald vor lauter Ordnung den Verstand verlieren.“ 12 Deutlicher läßt sich die Schein-Ordnung, die nur Chaos gebiert, kaum beschreiben. Der Kitt, der diese Schein-Ordnung aber zusammenhält, ist die Lüge. Ein Kabinettsstück in dieser Hinsicht liefert das Kapitel 59, „Das Lächeln des Buddha“, das den Besuch der Witwe des Präsidenten Roosevelt im Butyrki- Gefängnis schildert. Sie hatte viel für den Schutz der Menschenrechte getan und wollte sehen, ob das boshafte Gerücht stimmte, wonach die amerikanischen UNRRA-Spenden das einfache Volk nicht erreichten. Die Häftlinge der Zelle 72 wurden zu ihrer Überraschung plötzlich alle in die Badeanstalt geführt. Nach dem Bad wurden sie mit feiner Unterwäsche und schönen Anzügen ausstaffiert. Bei ihrer Rückkehr in die Zelle aber entdeckten sie zu ihrer noch immer weiter anwachsenden Überraschung, daß ihre Holzpritschen mit den Wanzen verschwunden waren und durch wunderbare Feder- 9 Der erste Kreis, op. cit., S. 198. 10 Das Wort „Kombination“ wird in der Übersetzung für „Overall“ benutzt. 11 Der erste Kreis, op. cit., S. 109. 12 Der erste Kreis, op. cit., S. 111. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 344 betten ersetzt wurden. In einer Ecknische, in welcher sonst der riesige Latrinenkübel stand, entdeckten sie aber eine Ikone mit der Mutter Gottes und dem Kind, dazu noch eine katholische Madonna, ein ewiges Licht, eine Bibel, einen Koran, einen Talmud und einen kleinen dunklen Buddha, der zu lächeln schien. Dann erschien der Gefängnisdirektor mit Gefolge und vor allem mit Mrs. Roosevelt. Diese fragte, weshalb einer der Häftlinge bestraft wurde, der zehn Jahre für die unvorsichtige Bekanntschaft mit einem amerikanischen Touristen erhalten hatte. Der Gefängnisdirektor erzählte ihr, der Häftling hätte für die Gestapo gearbeitet, ein russisches Dorf angezündet, drei Bäuerinnen vergewaltigt und eine unbekannt große Zahl von Kindern ermordet. Dafür sei er zu zehn Jahren ehrlicher Arbeit verurteilt worden. Dann fragt Mrs. Roosevelt den Gefängnisdirektor, ob die Sträflinge vielleicht eine Beschwerde bei der UNO einreichen wollten. Daraufhin wendet sich der Gefängnisdirektor - natürlich russisch - an die Häftlinge, erinnert sie daran, daß sie vor dem Besuch instruiert worden seien, die Packung von Zigaretten, die ostentativ auf dem Tisch lag, ja nicht anzurühren. Zwei von ihnen hatten sich aber durch den Schutz des hohen Besuches eine Zigarette genommen und angezündet. Er versprach ihnen, daß sie dafür bestraft würden. Diese Strafandrohung löste unter den Häftlingen laute Rufe aus, die teils Entschuldigungen ausdrückte, teils ihrer Empörung Luft machten. Die hohe Besucherin wollte natürlich wissen, worum es ging. Die Antwort des Gefängnisdirektors war: „Sie protestieren einmütig gegen die schwierige Lage der Neger in Amerika und bitten darum, diese Frage vor die UNO zu bringen.“ 13 Schließlich trat auch noch ein Geistlicher mit großem Perlmutterkreuz auf, der vorgab, den üblichen Rundgang zu machen und dann wurde ein großartiges Mittagessen serviert. Als die Besucherin sah, mit welcher Gier es verschlungen wurde, fragt sie, ob die Häftlinge vielleicht hungrig seien und mehr wollten. Worauf der Gefängnisdirektor fragt, ob jemand „nachfassen“ wolle. Nicht nur weil dieses Wort immer nur gebraucht wurde, um eine Strafverlängerung auszudrücken, sondern auch weil die Häftlinge klug genug waren, nicht den Zorn des Direktors herauszufordern, meldet sich keiner. Kaum hatte der Besuch die Zelle verlassen, als sie sofort wieder im Korridor antreten mußten. Wieder wurden sie in die Badeanstalt geführt, erhielten ihre alte, abgetragene Unterwäsche zurück und nach der Rückkehr in die Zelle fanden sie wieder ihre alten Holzpritschen mit den Wanzen vor. Auch die religiöse Nische war verschwunden und an ihrer Statt stand wie gewöhnlich der riesige Latrinenkübel dort. Lediglich der kleine, dunkle Buddha war in der Nische vergessen worden und lächelte geheimnisvoll. Solschenizyn hat in den 96 Kapiteln des Romans zwar vor allem die Scharaska Marfino geschildert, daneben aber auch ebenso drastisch wie lebendig Einblicke 13 Der erste Kreis, op. cit., S. 455. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 345 in andere Teile des Gulag gegeben: Vom Verhältnis der Gefangenen zu ihren Frauen draußen, über das Spitzelwesen und die Schärfung des Verstandes und des Instinkts der Häftlinge unter dem Druck des Gefängniswesens bis zum Terror der „Sicherheitsoffiziere“ hat er in dichterischer Form eine Psychologie und Soziologie des kommunistischen Strafvollzugs gegeben. Als er 1968 daran ging, nicht nur die ursprüngliche Form der Kapitel wiederherzustellen und durchaus wesentliche Ergänzungen vorzunehmen, da ging es bei diesen Ergänzungen nicht nur um das Leben hinter dem Stacheldraht, sondern auch vor ihm, um eine Totalitätserfassung des Sklavenstaates zu geben. Dabei gilt das weitaus längste der neuen Kapitel seinem alten Erzfeind Stalin, das in der Form eines inneren Monologs nicht nur einen Rückblick auf die eigene Entwicklung des Diktators gibt, sondern in Verbindung damit einen Überblick über die russische Geschichte der Zeit aus seiner Perspektive. Eines der allerergreifendsten Kapitel des Romans ist aber das Kapitel 86, „Ich bin kein Menschenfänger“. Es enthält nicht nur die im Grunde schockierende Offenbarung „Den Freien fehlt die unsterbliche Seele, die sich die Häftlinge in endlosen Haftzeiten erwarben, die Freien konnten die ihnen gewährte Freiheit nur gierig und stümperhaft gebrauchen und gingen in kleinlichen Absichten und eitler Geschäftigkeit unter.“ 14 In diesem Kapitel spielt der Generalmajor Oskolupow, Leiter der technischen Spezialabteilung, die Rolle des bösen Versuchers, indem er dem gefangenen Ingenieur Illarion Gerassimowitsch das Angebot macht, den Rest seiner Haftzeit auf sechs Monate zu verkürzen, falls er in dieser Zeit zwei optische Geräte entwickelt - Gerassimowitschs Spezialgebiet -, die in Türrahmen und Wänden versteckt dazu führen können, Beweise gegen politische Gegner zu liefern. Gerassimowitsch kann es nicht vermeiden, im Geist das ausgemergelte Gesicht und die in gläsernen Tränen schwimmenden Augen seiner Frau vor sich zu sehen, für die seine Haftverkürzung die Erlösung von allem Leid bedeuten würde. Der Generalmajor hakt noch nach: „Aber was gibt es eigentlich für Sie zu bedenken? Das ist doch genau Ihr Fach! “ Aber da setzt plötzlich eine ganz irrationale Kraft machtvoll ein und Gerassimowitsch entgegnet: „Nein, das ist nicht mein Fach! … Menschen ins Gefängnis bringen - das ist nicht mein Fach! Ich bin kein Menschenfänger! Es genügt, daß wir eingesperrt sind …“ 15 Das Kapitel ist so eingebaut, daß es ein Gegenstück zum folgenden bildet, in dem der noch immer Kommunist gebliebene Rubin geholfen hat, den verdächtigen russischen Diplomaten Wolodin ans Messer zu liefern. Die Wolodin-Geschichte bildet eine Art Rahmen des ganzen Romans: In den ersten beiden Kapiteln wird gezeigt, wie Wolodin sich durch die versuchte tele- 14 Der erste Kreis, op. cit., S. 670. 15 Der erste Kreis, op. cit., S. 670. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 346 fonische Warnung eines amerikanischen Diplomaten verdächtig macht. Dann folgt der Hauptteil der „Binnengeschichte“ der Scharaska, in der mit besonderer Ausführlichkeit die akustische Forschung der Stimmen-Identifikation behandelt wird. In den Kapiteln 91 bis 93, fast ganz am Ende des Romans, schließt sich der Rahmen. Hier wird die Geschichte der Verhaftung, der Einlieferung und der ersten Gefängniszeit Wolodins gezeigt und die Mittäterschaft Rubins durch die Arbeit an der Stimmenidentifizierung wird veranschaulicht. Das System ist so angelegt, daß Häftlinge mithelfen, neue Häftlinge zu machen. Die drei allerletzten Kapitel führen sodann gleichsam aus der Scharaska heraus und deuten in eine neue Richtung. Nerschin hat es bewußt abgelehnt, ein ähnliches Angebot wie Gerassimowitsch anzunehmen und verliert daher das Privileg, in einer Scharaska zu arbeiten. Er wurde nunmehr verständigt, daß er in ein anderes Gefängnis kommt. In einem geschlossenen Wagen wird er wieder einmal in das Butyrki-Gefängnis transportiert. Dies entspricht wie fast alles im Roman den Tatsachen. Als Nerschin gemeinsam mit Sologdin gerade im Hof Laub rechte, am 19.- Mai 1950, war die Nachricht gekommen: „Nerschin und Sologdin, alles zusammenpacken zum Abtransport.“ Hier folgt zuletzt auch die Erklärung des literarischen Romantitels. Als nämlich die Gefangenen zusammengedrängt in dem geschlossenen Wagen fahren, ereifert sich einer von ihnen, Chorobrow, über die Zustände in der Scharaska. Er findet, es sei nicht schade, von da fortzukommen, denn es sei die Hölle gewesen. Aber Nerschin berichtigt ihn: „Nein … das war nicht die Hölle. In die Hölle kommen wir jetzt … die Scharaska - das ist der höchste, der beste, der erste Kreis der Hölle“ - ganz nach dem Modell in Dantes gigantischem Epos. Für den endgültigen Abschluß hat sich Solschenizyn sodann noch eine Art letzter Überpointe aufgespart, welche die Welt des Gulag in Kontrast zur Naivität der westlichen Außenwelt setzt. Während die Häftlinge, eng zusammengepreßt, in ihrem außen fröhlich orange und blau lackiertem Wagen in Richtung Hölle transportiert werden und dieser bei einer Verkehrampel vor einer Kreuzung halten mußte, hielt neben ihm der Wagen eines französischen Journalisten, dessen Zeitung ironischer Weise den Namen „Liberté“ führt und der gerade zu einem Hockeyspiel im Stadium „Dynamo“ unterwegs ist. Der Journalist liest die Aufschrift auf dem orange-blauen Wagen: „Mjaso - Viande - Fleisch - Meat“ und es fällt ihm ein, daß er in Moskau bereits öfter solche Wagen gesehen hatte. Er zieht einen Block und notiert: „In den Straßen Moskaus sieht man immer wieder Lieferwagen mit Lebensmitteln, die einen sehr sauberen und hygienisch einwandfreien Eindruck machen - die Versorgung der Hauptstadt kann nur als hervorragend bezeichnet werden.“ 16 16 Der erste Kreis, op. cit., S. 782. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 347 Im wirklichen Leben, nach dem Romanschluß, landeten Solschenizyn und Panin in einem Sonderlager für politische Gefangene in Ekibastus in Kasachstan. Zweieinhalb Jahre später, im Februar 1953, wurde Solschenizyn entlassen und in ein „permanentes Exil“ im Distrikt Kok-Terek am südlichen Rand der Wüste Betpak-Dala, wiederum in Kasachstan geschickt. Hier war es den Exilierten erlaubt, sich selbst private Quartiere zu suchen. Hier erreichte ihn auch ein Brief, in dem seine Frau völlig mit ihm brach. Und hier hatte er neuerlich Beschwerden mit seinem Magen. Schon zuvor, in Ekibastus, hatte er sich einer Krebsoperation unterziehen müssen. Jetzt wurde neuerlich eine ernsthafte Behandlung notwendig, die nur in Taschkent durchgeführt werden konnte. Als er nach Taschkent aufbrach, konnte er kaum gehen. Im Januar 1954 begann sodann die Behandlung durch Radiumbestrahlung. Er hatte durch sechs Wochen fünfundfünfzig Sitzungen von je einer halben Stunde. Es war dieselbe Behandlung, die auch sein Charakter des Studenten Oleg Kostoglotow in seinem Roman Krebsstation erhält, einer der beiden Haupthelden des Buches. Kostoglotow ist wie Solschenizyn ein früherer Häftling in einem Arbeitslager und zur Zeit des Romangeschehens wieder wie Solschenizyn im permanenten Exil. Der zweite Hauptheld ist Pawel Rusanow, ebenfalls Patient und ein hoher Funktionär der Kommunistischen Partei. Solschenizyns Roman ist weniger ein Erzählwerk über die existenziellen Herausforderungen durch den drohenden Tod als über das Licht, welches Krankheit und Tod auf das ethische Dilemma werfen, welche das Leben ausmacht. Dabei wird besonders auch die gegenseitige Abhängigkeit der körperlichen Erkrankung von psychologischen Problemen gezeigt, die in diesem Fall besonders mit sozialen und politischen Aspekten zusammenhängen. Der Roman zeigt diese engen Beziehungen auf: Wenn die Genesung Kostoglotows einen Höhepunkt erreicht, dann fällt dieser mit einem Höhepunkt der Entstalinisierung zusammen und genau dann wird die Krankheit Rusanows bösartiger. Ja, einer der besten Kenner von Solschenizyns Leben und Werk hat erklärt, daß nicht nur Krankheit und Gesundheit der beiden Haupthelden mit der Entwicklung Rußlands zusammenhängt, sondern daß das wirkliche, versteckte Thema des Romans die Entstalinisierung Rußlands darstellt und daß Solschenizyn aus diesem Grund den Roman nicht 1954, sondern 1955 spielen läßt. In diesem Jahr hatte diese Phase ernsthaft eingesetzt, obwohl sie noch immer leidenschaftlich diskutiert und auch bekämpft wurde. 17 Freilich wird der Sinn der politischen Auseinandersetzung in der Fabel auf die medizinische Metaphorik einer Krebsstation verlagert, was eine indirekte Behandlung des politischen Problems bewirkt und das Ganze zu wirklicher Dichtung macht. Wenn etwa die Chefin der Radiologieabteilung den Standpunkt einnimmt, daß die Ärzte das Recht hätten, die Behandlungsweise 17 Michael Scammel, op. cit., S. 565. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 348 zu bestimmen und den Patienten ihrem Machtwort zu unterwerfen, da sie die Fachleute wären, und keine Rücksicht darauf zu nehmen brauchten, ob dadurch den Patienten geholfen oder aber seine Gesundheit noch mehr geschädigt und sein Leben ausgelöscht wurde, dann ist dies der medizinische Ausdruck der „wohlmeinenden Despotie“ Stalins. Das zweite Buch der Krebsstation hat Alexander Twardowski, der Herausgeber von Nowy mir und Freund Solschenizyns drei Mal besser gefunden als das erste Buch. In der Fabel dieses zweiten Buches wird zwar die Behandlung Kostoglotows grundsätzlich abgeschlossen, doch hat er einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Er hat unter den Folgen der Radiumbestrahlung zu leiden und hat durch Hormontherapie sein Sexualleben eingebüßt. Am Ende des Romans gibt es einen Besuch des Taschkenter Zoos durch Kostoglotow, wie auch Solschenizyn den Zoo besucht hatte. Hier erinnern ihn manche Tiere an bestimmte Personen. Ein Makak-Rhesus-Affe, der dadurch sein Augenlicht verloren hatte, daß jemand Tabak in seine Augen geworfen hatte, erinnert ihn an sein eigenes Geschick. Ein bösartiger und blutdürstiger Tiger erinnert ihn an Stalin. Dies wird nicht plump direkt ausgesprochen, sondern durch große Kunst indirekt klar gemacht. Kostoglotows Widersacher Rusanow wird völlig wiederhergestellt und noch vor ihm entlassen. Das Auto, das ihn abholte, hätte in der Einfahrt des Krankenhauses Kostoglotow beinahe überfahren. Im zweiten Buch wird es noch deutlicher, daß die Krebsstation dem Autor als ein Miniaturmodell der Sowjetunion dient. Es wird eine große Gruppe von Ärzten geschildert, wobei die „guten“ den „bösen“ gegenüberstehen. So hat einer der Ärzte, Lew Leonidowitsch seine unübliche Anteilnahme am Leiden der Patienten als Häftling in einem Arbeitslager gelernt. Die hingebungsvolle Radiologin Ljudmila Donzowa war durch ihren großen Einsatz durch die Radiumbestrahlung selbst an Krebs erkrankt. Der Prototyp der schlechten Ärzte ist aber der korrupte Chef Nisamutdin Bachramowitsch, wie es auch einen neu hinzugekommenen „bösen“ Patienten, den kommunistischen „Geschäftsmann“ Maxim Tschalyj gibt. Das zweite Buch schließt mit der Entlassung Olegs und seiner Rückkehr mit der Bahn zum Ort seiner Verbannung. „Andere hatten die Krankheit nicht überstanden“, reflektierte er bereits im Zug: „Aber er, er würde nicht am Krebs sterben. Auch die Verbannung würde bald von ihm wie eine Eierschale abfallen.“ 18 Solschenizyn zeigt an seinem Charakter Kostoglotow, wie Todeserwartung und Todesbewußtsein die Bedrohung des Menschen durch die alltäglichen irdischen Mächte relativiert, so daß der Tod eigentlich Anlaß zu einem Erweckungserlebnis werden kann. Man wird fast an Brochs Tod des Vergil erin- 18 Alexander Solschenizyn: Krebsstation. Buch 2, Neuwied und Berlin 1969, S. 327. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 349 nert, nur daß Solschenizyns Held Oleg nicht so unmittelbar vor dem eigenen körperlichen Tod steht, sondern eine Art geistiger Wiedergeburt durchmacht. Einerseits dringt er nicht so weit vor wie Brochs Vergil, andererseits wird das Erlebnis insofern intensiviert und vertieft, als er es in vervielfachter Form durchmacht, da er als einzelner Teil einer ganzen krebskranken Patientengemeinschaft, die insgesamt vom Tod bedroht ist, diese Erfahrung durchmacht. Dadurch daß er durchkommt, hat er in einem gewissen Sinn eine geistige Wiedergeburt erlebt. Solschenizyn hat den Roman sein persönlichstes Buch und das gewichtigste seiner Werke genannt. Im Jahr 1968 traf er zum ersten Mal Natalia Swetlowa. Es war von beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick. Sehr bald vertraute er ihr seine konspirativen Aktivitäten an und sie wurde seine zweite Frau. Im Jahr 1969 wurde er aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen, was im Unterschied zum Ausschluß aus dem Schriftstellerverband einer westlichen Demokratie böse Konsequenzen hatte. Am 28. Dezember 1973 hörte er im Radio, daß der erste Band seines epochalen Sachbuches Der Archipel Gulag in Paris veröffentlicht worden war, neun Tage bevor er es geplant gehabt hatte. Er hat das Buch „ein Denkmal der Solidarität mit all den Märtyrern und Toten von 1918 bis 1959“ genannt und zugleich einen „Aufruf an die zweihundert Millionen Einwohner meines Landes und an die gesamte Menschheit“. 19 Erst nach fünf Tagen reagierte die sowjetische Regierung mit einem Kommuniqué der TASS: Die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur nannte das Buch einen „Roman“, in dem er sein „altes Lied“ von den Ungerechtigkeiten in den Arbeitslagern sang. Der „Roman“ der TASS beginnt mit den zwei Sätzen: „In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen noch erfundene Ereignisse. Menschen und Schauplätze tragen ihre eigenen Namen.“ 20 Solschenizyns Leistung an diesem Buch ist nicht nur eine sprachkünstlerisch literarische, sondern nicht zuletzt auch die große Mühe, das Material zusammenzutragen. Das Buch enthält nicht nur nach dem Ende des Textes eine Karte, in der alle ihm bekannten Arbeitslager der Sowjetunion eingezeichnet sind, sondern er hat auch versucht, in den Kapiteln des Buches einen Gesamtüberblick über das Wesen von Aufbau, Funktion und Konsequenzen der verschiedenen Lager zu geben. In einem totalitären Staat, in dem die Normalbürger weder etwas von den Lagern wußten, noch darüber sprechen durften, hat er es trotz der sehr strengen Geheimhaltungsregeln von MWD und NKWD geschafft, 227 Personen ausfindig zu machen, Zeitzeugen aus den Lagern, deren 19 Times, London vom 29. Dezember 1973. 20 Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Frankfurt am Main 2008, S. 11. Es wird hier aus einer Ausgabe zitiert, obwohl sie gekürzt ist. Sie ist aber nicht nur vom Verfasser autorisiert, sondern vor allem auch überarbeitet. Das bedeutet, daß sie die letzten, bestimmenden Formulierungen enthält. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 350 Erzählungen, Erinnerungen und Briefe er gesammelt hat, um sie zu einer einzigen, allumfassenden Gesamtüberschau zusammenzustellen. Jeder der sieben Teile umfaßt mehrere einzelne Kapitel über Einzelaspekte, die ein Bild geben von der Gefängnisindustrie, der „ewigen Bewegung“, der Arbeitslager, die zur Ausrottung führten, der seelischen Konsequenzen hinter Stacheldraht zu leben, der Wiederkehr der entsetzlichen zaristischen „Katorga“-Lager-Gefängnisse, der Probleme der Verbannung und der neuen Zustände nach Stalin. Im fünften Kapitel des fünften Teils über die Katorga, das den Titel trägt: „Verscharrte Dichtung, vergrabene Wahrheit“ schildert er den Häftling Silin, der als Waisenhauszögling und Atheist aufgewachsen war, sich zum Philosophen und Theologen gewandelt und sich zu einem wirklichen Dichter entwickelt hatte, der seine Verse weder aufschreiben durfte noch konnte, doch der zwanzigtausend Verse im Kopf trug. Eine der Strophen, eine Rechtfertigung des Bösen in der Welt (! ), hatte Solschenizyn in Erinnerung behalten: Es duldet der Vollkommene Geist Das Leid der Unvollkommenheit, Da ohne Leid die Seelen nie Den Wert der Seligkeit erkennen. Auf Grund der körperlichen Schwächung Silins in der Katorga war vorauszusehen, daß er seine zwanzigtausend Verse bald mit sich ins Grab nehmen würde. Ein zweites besonders denkwürdiges Beispiel ist der innerhalb wie außerhalb Rußlands streng geheim gehaltene Bericht über die ganz aus dem Volk gekommene, von niemandem vorbereitete, geplante oder geleitete Erhebung einer ganzen Stadt, der Stadt Nowotscherkassk, nicht allzu weit von Rostow, im Juli 1962. Nachdem am selben Tag eine beträchtliche Erhöhung der Preise für Fleisch und Butter bekannt gegeben worden war und gleich darauf in einem anderen Bericht die Kürzung der Lohnsätze in der sehr großen Fabrik für Elektrolokomotiven bis zu dreißig Prozent, brach ein Streik in der Fabrik aus, der bald um sich griff. Die Parteifunktionäre flohen nach Rostow. Der Aufstand wurde vom Militär blutig niedergeschlagen. Die Verwandten der Getöteten und Verwundeten, die ihre Verwandten suchten, wurden vom Militär in Bussen abtransportiert und nach Sibirien verschickt. Keiner der Verwundeten war je wiedergesehen worden. Solschenizyn beendete das Buch im Februar 1967 im Zufluchtsort Rjasan. Als es 1973 veröffentlicht wurde, versetzte es die Sowjetregierung in Aufregung. Am 7. Februar 1974 sandte der oberste Chef des KGB Jurij Andropow eine „Top Secret“- Botschaft an den Partei- und Staats-Chef Breschnew, in welcher er diesem berichtete, daß der Geheimdienst ausführliche Untersuchungen angestellt hätte. Er riet Breschnew trotz der Gefahr, dadurch die internationalen Beziehungen der Sowjetunion zu schädigen, eine „Lösung des Solschenizyn Problems rasch in Angriff zu nehmen“. Weitere Untersuchungen des KGB Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 351 hätten ergeben, daß durch die Deportation Solschenizyns ins Ausland weniger Schaden entstehen würde als durch seine neuerliche Verhaftung. 21 Darauf wurde der Dichter am 13. Februar aus dem Land unter Verlust der Staatsbürgerschaft ausgewiesen und ging über Langenbroich und Zürich in die USA, wo er in Cavendish, Vermont in ländlicher Einsamkeit lebte. Einer der wenigen Fälle, wo er seinen Wald verließ, war die Commencement adress, die er in Harvard vor Tausenden von Zuhörern hielt. Im Jahr 1990 wurde er rehabilitiert und kehrte 1994 nach Rußland zurück. Bitter enttäuscht über die chaotischen Zustände seiner Heimat wurde er aus sehr verständlichen und wohlgemeinten Motiven heraus Vertreter eines neuen russischen Nationalismus, der sich auch auf die Tradition der orthodoxen Kirche stützte. Einige der Spitzenvertreter dieser Kirche hatten schon Jahrzehnte mit den Spitzen der Sowjetregierung und dem KGB kollaboriert und da es immer schon eine Staatskirche gewesen ist, wurde die enge Zusammenarbeit mit den alten KGB-Offizieren, welche jetzt Staatsmänner eines weiß-blau-roten Rußland waren um so leichter. Das emotionale Engagement über der Notwendigkeit und den Erfolg dieser nationalistischen Entwicklung verschloß dem Dichter die Augen dafür, daß diese Entwicklung zu Scheindemokratie und einem Imperialismus führte, der sich dem stalinistischen Imperialismus immer mehr anzunähern begann. Solschenizyn trat plötzlich in seinem Buch Russland im Absturz für den Anschluß der Ukraine an Rußland ein, für die mitleidlose und brutale Niederwerfung der Freiheitsbestrebungen der Tschetschenischen Republik, für den Wiederaufbau der russischen Waffenproduktion in größtmöglicher Schnelligkeit. Er traf sich mit Präsident Putin zu einem Gespräch über die Größe Rußlands. Bereits im Jahr 2000 hatte er den damals schon vier Jahre verstorbenen Schicksalsgenossen im Exil und russischen Nobelpreisträger Joseph Brodsky in einer geradezu fanatischen Weise als völlig verwestlicht, gottfern und menschenfeindlich beschimpft und derart attackiert, daß es manche Kritiker an stalinistische Kampagnen erinnerte. Sein ursprünglich zweibändiges Werk Zweihundert Jahre zusammen 22 wurde von vielen westlichen Kritikern als antisemitisch empfunden. Die dichterische Produktion schien verstummt zu sein und die Qualität der neuen Arbeiten hatte zu jenem Absturz eingesetzt, wie er zumindest im Wirtschaftlichen wenn auch nicht im Politischen längst überwunden ist. Nichts aber ist imstande, die Größe der Romane wie Der erste Kreis und Krebsstation oder des welterschütternden Sachbuches Der Archipel Gulag zu verkleinern. 21 Vgl. Michael Scammel (Hg.): The Solzhenitsyn Files. Chicago u. a. 1995, S. 342-344. 22 Deutsch: Alexander Solschenizyn: Die Juden in der Sowjetunion. München 2003. Alexander Solschenizyn und die Warnung vor Vollversklavung 352 Alexander Solschenizyn starb am 3. August 2008 in Moskau an den Folgen eines Gehirnschlags. Er wurde im Moskauer Donskoj Kloster aufgebahrt und auch im Kloster beigesetzt. Bereits Jahre vor dem Zusammenbruch des Kommunismus war er im Gegensatz zu seinen Freunden von Nowy mir zu der Überzeugung gelangt, daß die Revolution vollständig abgewiesen werden müsse im Namen der russischen nationalen Tradition. Am aufgebahrten Sarg im Kloster erschienen auch der russische Präsident Medwedew und Premierminister Putin, beide ehemalige hohe Offiziere jenes Geheimdienstes, der Solschenizyn im Lager geschunden und gemartert hatte. Die neue Diktatur, die Putin errichtet hatte, stand freilich nicht mehr im Zei chen von Sichel und Hammer, sondern ganz im Sinne Solschenizyns im Zeichen der russischen Tradition. War aber wirklich nicht nur das Zeichen der Tradition, sondern auch die auf diesem Zeichen aufgebaute Diktatur im Sinn des Toten? Offenkundig doch, denn wie hätte er sonst im Jahr 2007 den Staatspreis der russischen Föderation aus den Händen Putins entgegennehmen können? In Solschenizyns Roman Der erste Kreis steht der Satz: „Je edler und ehrlicher ein Mensch ist, desto schweinischer wird er von seinen Landsleuten behandelt.“ 23 Der große Dichter der Freiheit, der unter härtesten und unmenschlichsten Bedingungen edel und ehrlich geblieben war, ja der bewiesen hatte, daß die Feder mächtiger sein kann als das Schwert, war er schließlich blind geworden für die Gefahren der neuen Diktatur? Zuletzt stand er jedenfalls auf der Seite der Mächtigen und vielleicht hatte er für die Ehren und die Preise und das Gefeiertwerden einen hohen Preis bezahlt? Vielleicht war er nicht mehr ganz so edel und ehrlich wie zuvor, vielleicht bestand ein innerer Zusammenhang zwischen dem Verstummen der großen Dichtung und den roten Blumen Putins auf dem Sarg? 23 Der erste Kreis, op. cit., S. 91. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit Der Doppelname von Vargas Llosa ist zusammengesetzt aus dem Namen seines Vaters Ernesto J. Vargas und dem seiner Mutter Dorita Losa Laguno. Die Familie der Mutter stammte vom Feldmarschall Don Juan de la Llosa Laguno ab, war aber zu einer bescheidenen Mittelklassenfamilie abgesunken. Die Mutter traf Ernesto, als sie neunzehnjährig zu einem Verwandtenbesuch nach Tacna kam, wo er als Funker für die Fluglinie Panagra den Radiotelegraphen im Flughafen bediente. Es war Liebe auf den ersten Blick. Als sie nach wenigen Wochen in ihr Elternhaus nach Arequipa zurückkehrte, besuchte er sie kurz, ehe ihn Panagra nach Ecuador versetzte. Bei diesem Besuch verlobten sie sich formell und ein Jahr später, als er wiederum - dieses Mal nach Lima - versetzt wurde, heirateten sie. Ernesto hatte trotz seiner weißen Haut und seinen lichtblauen Augen gegenüber der Llosa-Familie böse Minderwertigkeitskomplexe wie ein Mestize. Vor allem darum wohl hielt er seine Frau wie eine Gefangene. Als sie fünf Monate schwanger war und er nach La Paz versetzt wurde, schlug er vor, sie sollte das Kind bei ihrer Mutter in Arequipa zur Welt bringen. Er verabschiedete sich von ihr wie ein liebender Gatte, verschwand und gab erst nach elf Jahren wieder ein Lebenszeichen von sich. Die Mutter erzählte dem Kind, der geliebte Vater sei tot. Ein Jahr nach der Geburt Marios am 28. März 1936 übernahm der Großvater die Verwaltung der Saipina Hazienda in Cochabamba, Bolivien und die ganze Familie zog in ein riesiges Haus, in dem der Kleine seine Kindheit „wie im Paradies“ verbrachte. Er besuchte die La Salle-Schule und spielte mit Schulfreunden und seinen beiden Cousinen Nancy und Gladys die Tarzan-Filme und andere Filmserien nach. Der Neunjährige war sehr religiös und glaubte noch, daß das Jesukind die Geschenke und der Storch die Kinder brachte. In die Zeit von Cochabamba fallen auch seine frühesten Leseerlebnisse: Genoveva von Brabant und Wilhelm Tell, König Arthur und Cagliostro, Robin Hood und Kapitän Nemo, vor allem aber eine Serie über den schelmischen Jungen Guillermo, mit dem er sich identifizierte. Bereits in jener frühen Kinderzeit begann er auch seine allerersten Versuche als Geschichtenerzähler. Seine Geschichten waren entweder in Versen abgefaßt oder sie waren „Fortsetzungen“ von Geschichten, die er gelesen hatte. Die Familie lobte ihn dafür sehr und der Großvater ließ ihn Verse von Campoamor und Ruben Darío auswendig lernen. Als der entfernte „Onkel José Luis“ Bustamante y Rivera zum Präsidenten von Peru gewählt wurde, bot er dem Großvater zwei Posten an, von denen dieser den zweiten wählte, die Position eines Präfekten der Provinz Piura, wo Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 354 Vargas Llosa in die fünfte Klasse der Salesianer Volksschule eintrat. Piura sollte einen tiefen Eindruck auf ihn hinterlassen. Hier wurde ihm von Schulfreunden beim Baden das Geheimnis eröffnet, woher die Babies wirklich kamen. Er versuchte mit seinen Freunden, sich in Filme einzuschmuggeln, die Jugendverbot hatten. Und er spähte mit ihnen aufgeregt und schuldbewußt auf das „Grüne Haus“, das Bordell von Piura, das außerhalb der Stadt stand und das Thema und Titel eines seiner frühen Romane werden sollte, mit dem er beim Rómulo Gallegos International Novel Prize von 1967 den gefeierten Gabriel Garcia Márquez weit hinter sich lassen sollte. Er liebte es, immer wieder im großen Opernbuch der Großmutter zu lesen, das die Fabeln aller großen italienischen Opern enthielt und einmal schlich er sich entgegen dem ausdrücklichen Verbot zu einer Demonstration der APRA, der politischen Gegner seines Großvaters, des Präfekten, auf der Plaza de Armos. Als seine Mutter wegen einer kleinen Operation nach Lima mußte, arrangierte die Schwägerin ihres früheren und jetzt geschiedenen Mannes ein Treffen mit diesem, er zog sie wiederum auf seine Seite und überredete sie, heimlich mit dem Sohn zu ihm nach Lima zu ziehen. Das erste Jahr in Lima wurde eines der quälendsten und verzweifeltsten seines Lebens. Kaum waren sie in das kleine Haus in Lima eingezogen, als er beim Abendessen in Tränen ausbrach, und er auf die Frage des Vaters erklärte, er vermisse seine Großeltern. Wann immer er mit seiner Mutter allein war, machte er ihr von da an Vorhaltungen, daß er seinen Vater nicht lieben konnte und zurück nach Piura wollte. Seine Flucht aus der Einsamkeit wurde das Lesen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es in einer Garage eine Buchhandlung, wo er neben Zeitschriften vor allem Bücher kaufte von Salgari, Karl May, vor allem aber von Jules Verne. Er begann auch in der Einsamkeit seines Zimmers zu phantasieren, zu träumen und ein „alternatives Leben“ zu seinem wirklichen zu führen, das die Wurzeln zum Geschichtenerzähler in ihm wachsen ließ. Dann begann der Vater ihn von Zeit zu Zeit zu schlagen, „um einen Mann aus ihm zu machen“. Er lebte in dauernder Spannung. Eine Erleichterung brachte es, daß er in die sechste Klasse der La Salle-Schule eintrat, deren blauer Bus ihn zwei Mal am Tag in die Schule abholte. Dann kam der Tag, an dem es eine besonders böse Auseinandersetzung gab, bei welcher der Vater nicht nur den Sohn schlug, sondern auch die Mutter verletzte, woraufhin Mutter und Sohn zur Familie entflohen, die in der Zwischenzeit auch nach Lima übersiedelt war. Natürlich holte sie der Vater nach einigen Tagen zurück und in den folgenden zwei Jahren gab es ein halbes Dutzend weiterer „Fluchtversuche“. Schließlich war aber Mario so weit, daß er bei guten Schulerfolgen die Wochenenden bei den Großeltern verbringen durfte. An seinem zwölften Geburtstag gaben Tante Lola und Onkel Juan eine Party für seine gleichaltrige Cousine Gladys und ihn, bei der zum ersten Mal nicht Kinderspiele im Mittelpunkt standen, sondern bei der Schallplatten auf- Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 355 gelegt wurden, zu denen man tanzte. Die Pubertät setzte ein und er begann Briefe und Gedichte an ein kleines Mädchen namens Helena zu schreiben. Das Gedichteschreiben befriedigte ihn doppelt, einerseits weil es einer inneren Notwendigkeit entsprang und andererseits, weil es zugleich ein Widerstandsakt gegen den Vater war, der es haßte und der niemals etwas anderes las als die Zeitung. Am Ende der Mittelschule, wenige Tage nach seinem vierzehnten Geburtstag, trat er in die Leonico-Prado-Militärakademie ein. Der Vater hatte ihn immer schon dorthin schicken wollen und Mario war in diesem Fall einverstanden, weil er in jenen Jahren gar nicht daran dachte, daß er ein Berufsschriftsteller werden könnte. Sein Wunsch war es, ein Seemann zu werden. Er liebte die See und er liebte Abenteuerromane und der Beruf eines Seemanns schien eine gute Verbindung der beiden zu sein. Der Besuch der Militärakademie aber war eine gute Vorbedingung, wenn man am Ende, als ausgemusterter Reserveoffizier die Marineakademie besuchen wollte. Die Praxis der Militärakademie führte eher zum Gegenteil dessen, was sich der Vater davon erhofft hatte, nämlich den Sohn zu einem jungen Mann zu machen, der diszipliniert, mutig, voll Respekt für die Autorität war und die richtige Einstellung zu Sex hatte. Denn Mario fand hier mehr Zeit zu lesen und zu schreiben als jemals zuvor und er fing an, freilich ohne sich dessen selbst bereits bewußt zu sein, ein Schriftsteller zu werden. Zudem hielt er es für ein sehr wichtiges und positives Nebenprodukt, daß er auf diese Weise wirklich die Gesellschaft seines Heimatlandes Peru kennenlernte. Denn die Leonico- Prado-Militärakademie war eine der wenigen, wenn nicht die einzige, die ein Spiegelbild der ethnischen und regionalen Verschiedenheiten Perus darstellte. Da gab es neben wenigen Weißen zahllose Indios, Mestizen, Schwarze und Mulatten sowohl aus dem Dschungel als auch aus den Bergen und von jeder nur möglichen sozialen Herkunft. Er las hier in der Akademie über Jack Londons Alaska und Walter Scotts schottische Schlösser und irrende Ritter. Von unvergeßlichem Eindruck blieben Victor Hugos Les Misérables. Der Autor aber, dem er am dankbarsten war, ist Alexandre Dumas gewesen und die Saga von d’Artagnan in den Drei Musketieren nannte er eines der wichtigsten Dinge, die in seinem Leben je geschehen waren. Dumas schuldete er viele Dinge, die er später tat und war und dank Dumas faßte er den Plan, einmal Französisch zu lernen und in Frankreich zu leben. Erst als er die Akademie bereits verlassen hatte, entdeckte er, daß einer seiner Lehrer ein großer peruanischer Dichter war und ein bewundernswerter Intellektueller, César Moro. Seine zwei Kadettenjahre aber hat er 1963 zum Thema seines ersten Romans La ciudad y los perros gemacht. Im Sommer 1952, vor seinem letzten Oberschuljahr, arbeitete er als Reporter für die Tageszeitung La Corona in Lima, was ihn in enge Bekanntschaft mit Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 356 der Unterwelt und der Prostitution brachte und was er 1969 in seinem Roman Gespräch in der Kathedrale dichterisch verarbeitet hat. Für seine geistige Entwicklung war in diesem Jahr vor allem die Bekanntschaft mit seinem älteren Kollegen Carlos Ney Barrionuevo wichtig, der vieles an moderner Literatur gelesen hatte, wovon Mario weder an der Oberschule noch später an der Universität etwas hören sollte. Carlos Ney machte ihn mit André Malraux, mit den amerikanischen Autoren der „verlorenen Generation“, vor allem aber mit dem Ulysses von Joyce bekannt. Aber auch peruanische Lyriker lernte er durch ihn kennen, wie vor allem Eguren, der dem französischen Symbolismus tief verbunden war, und den wenig bekannten Martin Adán, dessen Leben sich zwischen psychiatrischer Klinik und der Cordano Bar neben dem Königspalast abspielte. Es war Onkel Lucho, die Stütze der Familie und sein Lieblingsonkel, der ihm dazu verhalf, im letzten Augenblick noch in die letzte Oberschulklasse in Piura aufgenommen zu werden. Es war das Colegio San Miguel. Gleichzeitig arbeitete er wiederum für eine Zeitung und zwar für La Industria. Onkel Lucho gesteht er ein, daß er ein Schriftsteller werden wollte, und sei es um den Preis des Verhungerns, weil es die beste Sache der Welt sei. Unter den Büchern von Onkel Lucho fand er auch eines der erregendsten und abenteuerlichsten überhaupt, Jan Valtins Out of the Night, ein Buch, dem man den Beinamen „Tagebuch aus der Hölle“ gegeben hatte. Der wirkliche Name Valtins war Richard Krebs, ein deutscher Kommunist, der in den zwanziger Jahren ein Agent der GPU, der Vorläuferorganisation des KGB gewesen war. Was den jungen Mario noch mehr faszinierte als die Bekenntnisse des Moralisten und Aussteigers Jan Valtin, der versuchte, jegliche Unmenschlichkeit zu bekämpfen, war die geheime Welt der todesmutigen Untergrundaktionen. Das letzte Oberschuljahr entwickelte sich als ein größerer intellektueller und bildungsmäßiger Gewinn als erwartet. Zudem ermutigte ihn Onkel Lucho dazu, ein Schriftsteller zu werden. Freilich nicht als Hauptberuf, sondern neben einer juristischen Laufbahn. Auch zur geplanten Reise nach Paris ermutigte er ihn, und sechs Jahre später ging Mario wirklich nach Paris. Denn welcher Peruaner, hatte er sich gefragt, der hier in Peru blieb, hatte es je fertiggebracht, ein bedeutender Autor zu werden. Als einen heftigen Schlag empfand er es - und mit ihm alle anderen in seiner Klasse - als der Schuldirektor plötzlich bekannt gab, daß die Schlußprüfungen nicht wie sonst entsprechend einem vorher bekanntgegebenen Plan erfolgen sollten, sondern aus experimentellen Gründen vollständig überraschend stattfinden sollten. Ein Schulstreik wurde geplant und auch begonnen, doch bekamen einige solche Angst, daß sie zu den Klassen zurückkehrten und dieser Streik schließlich zusammenbrach. Da die Idee natürlich von Mario stammte, wurde er für eine Woche aus der Schule verwiesen. Wie so oft wurde auch hier das wirkliche Erlebnis zum Kern einer dichterischen Gestaltung. Die erste Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 357 ernsthafte Short-Story, die er 1957 unter dem Titel „Die Anführer“ veröffentlichte, hatte jenen Schulstreik zum Gegenstand. Als er dann endlich am Ende des Schuljahres die Schlußprüfungen bestanden hatte und mittags nach Hause kam, physisch erschöpft durch lange schlaflose Nächte, in denen er gebüffelt hatte, da konnte er trotzdem nicht einschlafen und holte sich ein Buch von Onkel Lucho ins Bett, dessen Titel anziehend klang: Die Brüder Karamasow. Nie wiederum hat er später diesen Roman so intensiv gelesen wie damals, als die Lektüre den Schulabschluß gekrönt hatte. Im Sommer 1953 bezog er die Nationale Universität San Marco und schrieb sich gleichzeitig in die Alliance Française ein. Die Vorlesungen an der Universität waren enttäuschend bis auf eine über Quellen der Geschichte Perus. Durch die Besprechung vorspanischer Mythen stieß er auf Frazers Buch The Golden Bough, das er verschlang. Es war die Zeit der Militärdiktatur Odrías und Mario wurde „sympathisierendes Mitglied“ einer Studentenzelle von Cahuide, der kommunistischen Partei Perus im Untergrund. In dem einen Jahr, in dem er dazugehörte, blieben seine Kenntnisse des Marxismus äußerst oberflächlich, als er Cahuide schon wieder verließ. Durch seinen Individualismus, seine Berufung zum Schriftsteller und sein Temperament blieb er dem Ganzen zutiefst fremd. Erst in den Sechzigerjahren, als er in Europa lebte, kam es zu einem neuen Erwachen seines Interesses am Marxismus, das durch die Revolution in Kuba geweckt worden war. Von 1954-1959 arbeitete er als eine Art wissenschaftlicher Assistent für den einzigen von ihm bewunderten Professor Porras Barrenechea, jenen Historiker, dessen Vorlesungen über die Quellen der Geschichte Perus ihn von Anfang an fasziniert hatten. Er zitiert in jenen Jahren Arthur Koestlers Ausspruch, wonach der Intellektuelle alles demonstrieren könne, woran er glaubt, und an alles glaubt, was er demonstrieren könne. Der am meisten bewunderte Autor jener Zeit ist Faulkner. Ein neuer Studentenfreund, Luis Loayza, zog Camus Sartre vor und bewunderte Borges so sehr, daß auch Mario ihn zu lesen begann. Wie es Luis überhaupt gelang, Vargas Llosa für lateinamerikanische Autoren zu interessieren, unter anderem für Juan José Arreola und Octavio Paz. Bei den Studentendemonstrationen gegen Odriás Diktatur marschierte Mario in der ersten Reihe und als sie gestürzt war und eine christlich-soziale Partei entstand, wurde er eines der ersten Mitglieder. Ende Mai 1955 kam „Tante Julia“ nach Lima, um ihre ältere Schwester, die Gattin des berühmten Onkel Lucho zu besuchen. Als Mario eines Tages zum Mittagessen auftauchte, fand er die jugendliche Tante beim Auspacken der Koffer. Er war neunzehn und sie war zweiunddreißig. Nach einiger Zeit verliebte er sich in sie und als er ihr seine Liebe gestand, erklärte sie, sie hätte in ihrem Leben schon viel Verrücktes getan, aber das sei doch zu viel. Sie sei keine Verführerin von Minderjährigen. Trotzdem heirateten die beiden und das Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 358 Ganze war eine einmalige Verbindung von Familienskandal, Kriminalstück und wahrer Liebesgeschichte, die Vargas Llosa denn auch zu einem seiner Romane verarbeitet hat: La tia Julia y el escribador (1977). Durch einen Kurzgeschichtenwettbewerb der Revue Française gewann er 1957 eine Reise nach Paris mit mehrwöchigem Aufenthalt, wo er im vornehmen Hotel Napoléon wohnte und wo er Camus die Hand schütteln konnte. Nachdem er sein Studium an der Universität San Marco abgeschlossen hatte, erhielt er ein Stipendium, um an der Complutense Universität in Madrid zu studieren und als dieses Stipendium 1960 abgelaufen war, reiste er in der Hoffnung nach Paris, auch dort ein Stipendium zu erhalten. Obwohl sich diese Hoffnung nicht erfüllte und obwohl es um seine und Julias Finanzen sehr traurig stand, beschlossen sie, in Paris zu bleiben. Die Geldnot mag mitgeholfen haben, die Eheprobleme zu vergrößern und 1964 ließen sie sich scheiden. Ein Jahr später heiratete er eine Cousine ersten Grades, Patricia Llosa. Im Jahr 1963 war sein erster Roman erschienen, 1965 sein zweiter, Das grüne Haus, und 1969 sein dritter, das Gespräch in der Kathedrale. Das Gespräch findet nicht in einer Kirche, sondern in einer Bar mit dem Namen Kathedrale statt. In den siebziger Jahren folgten satirische Romane, in denen er den Humor entdeckt hatte und 1981 kam der erste historische Roman heraus, Der Krieg am Ende der Welt, den einige Kritiker für sein bestes Buch hielten und das Vargas Llosa selbst besonders liebte. Obwohl er zuletzt politisch sehr links gestanden hatte, war er durch die Einkerkerung des Schriftstellers Heberto Padilla zu einem erbitterten Castro Gegner geworden. Er identifizierte sich nicht nur mit einem konsequenten Neoliberalismus, den er aber immer nur Liberalsims nannte, und wurde politisch sehr aktiv. Er führte die Einigung der Freiheitsbewegung von Peru mit den zwei führenden konservativen Politikern des Landes herbei, so daß er sich plötzlich nach Gründung der dreifachen Mitte-Rechts-Koalition, dem „Frente Democratico“ als ernsthafter Kandidat für die Präsidentschaft von Peru fand. Er siegte auch bei der ersten Runde der Wahlen, da er die meisten Stimmen von allen (34%) erhielt, doch war dadurch eine Stichwahl notwendig geworden, die er an den zunächst völlig unbekannten Agrar-Ingenieur Alberto Fujimori verlor. Fujimori wurde erst später sehr bekannt, als er durch Mißwirtschaft und Korruption gezwungen war, aus dem Land nach Japan zu fliehen. Vargas Llosa hat die Vorgänge seiner Kandidatur in seinem Erinnerungsbuch Der Fisch im Wasser ausführlich beschrieben. Nachdem er die Stichwahl verloren hatte, wandte sich Vargas Llosa wieder ganz der Literatur zu. Der Wahlausgang war gewiß für Peru schlecht gewesen, war aber umso besser für die peruanische Literatur. Im selben Jahr, 1993, in dem die spanische Ausgabe des Erinnerungsbuches erschienen war, erschien auch in Barcelona einer der wichtigste späten Romane von Vargas Llosa Tod in den Anden. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 359 Bevor er sich auf die Politik einließ, hatte der Einundfünfzigjährige versucht, mit zwei der schwierigsten Romane fertigzuwerden, die er vorher nie bewältigt hatte, mit Finnegans Wake von Joyce und mit dem Tod des Vergil von Hermann Broch. 1 Dann hatte die Sorge um das Land alles andere verdrängt. „Populismus war ein katastrophales Versagen für Allendes Chile wie für das Bolivien von Siles Suazo“, schrieb er, „warum sollte er in Peru erfolgreich sein? “ 2 Nun aber, nach dem politischen Zwischenspiel kam ein Roman, der zwar seinen Verkaufserfolg dem Umstand verdankt, daß er sich wie ein spannender Kriminalroman liest, der aber sehr, sehr viel mehr ist. Denn Vargas Llosa hat sowohl Gebrauch gemacht von dem, was er bei Joyce und Broch gelernt hatte wie auch von seinen Erfahrungen über das Land Peru, das er durch seine Touren anläßlich der Wahlreden genauer kennengelernt hatte denn je zuvor. Abgesehen von der meisterhaften Analyse einer der bösartigsten und grausamsten Terroristengruppen des Jahrhunderts, der maoistischen Untergrundbewegung „Leuchtender Pfad“ gibt der Roman Tod in den Anden einmalige Einblicke in die Menschen wie in die Landschaft Perus überhaupt. Und er gibt einmalige Einblicke in die irrationale Natur des Menschen. Dazu benützt Vargas Llosa als Technik einen eigenartigen, oftmals sprunghaften Wechsel der Erzählperspektiven der jeweiligen dargestellten Ansichten, um die Verflechtung menschlicher Schicksale in kleinen Geschichten anschaulich zu machen. Es ist der Versuch, einen Blick hinter das Geheimnis des menschlichen Geschicks zu tun. Die vordergründige Fabelist einfach.DerProtagonist,derGendarmeriekorporal Lituma ist in ein kleines Dorf in den Anden namens Naccos abkommandiert, um zusammen mit dem jungen Gendarmen Tomás Carreñio einen Posten zu errichten, der zugleich Kontrollpunkt und Schutz für die fast zweihundert Arbeiter bieten soll, die hier an einem Straßenbau arbeiten. Nachdem er ein kleines Haus als Posten befestigt hat, beginnt er Ermittlungen durchzuführen, da drei Leute verschwunden sind. Er nimmt an, daß sie Opfer der Terroristen des „Leuchtenden Pfads“ geworden sind und richtet sich darauf ein, daß sie eines Nachts kommen werden, um auch ihn und den jungen Gendarmen zu töten. Lituma stammt aus dem vom Autor so geliebten Piura, vom Küstenland, und ist ein intelligenter und „aufgeklärter“ Mann, der sich in dem Hochgebirgsdorf der Anden wie auf dem Mond fühlt, da die Menschen hier erfüllt sind von heidnischen Vorstellungen grauer Vorzeit, bevor die Spanier das Christentum gebracht hatten. Für ihn ist es bei seiner Ankunft so, daß er den lokalen Aberglauben, das Innere der Berge sei „von Stieren, Schlangen, Kondoren und Geistern“ bevölkert, wie diese „Hochlandtrottel“ glaubten, für baren Unsinn 1 Mario Vargas Llosa: A Fish in the Water. New York 1994, S. 28. 2 A fish in the Water, op. cit., S. 29. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 360 hält. Aber von der Indiofrau, die gerade kommt, um das Verschwinden ihres Mannes-- der dritten abgängigen Person - zu melden, heißt es: „Sie war klein und alterslos, ihre Knochen wirkten zerbrechlich wie die eines Vogels, und sie verschwand fast unter den zahlreichen dicken Röcken und dem zerfransten Hut, der halb herunter gerutscht war. Aber in ihrem Gesicht und in ihren runzeligen, kleinen Augen lag etwas Unzerstörbares.“ 3 Zunächst hat Vargas Llosa die Geschichte der Ermittlungen des Korporals Lituma um eine Gegengeschichte erweitert, eine abenteuerliche Liebesgeschichte, die ihm sein Amtsgehilfe, der junge Gendarm Tomás in allen Details in mehreren Abfolgen erzählt. Aber der Roman ufert noch mehr aus, denn der Autor schaltet vier Episoden ein, um die wahnwitzige Grausamkeit der Terroristen vom „Leuchtenden Pfad“ und ihre taktische Vorgangsweise zu demonstrieren. Die erste Episode berichtet, wie ein altertümlicher Bus, in dem außer etlichen Indios auch zwei bescheidene französische Rucksacktouristen sitzen, auf seinem Weg von Lima nach Cusco von einer Gruppe von Terroristen angehalten wird, welche die Indios bis auf einen weiterfahren lassen, das junge Touristenpaar jedoch durch Steinigung ermorden. Die zweite Episode berichtet, wie eine Gruppe der Terroristen sogar eine Reservation der wilden Vikunjas, Verwandten der domestizierten Alpaka, aufsuchen und alle geschützten Tiere abschießen. Als der kleine, stumme Pedrito, der mit den Tieren in der Reservation lebt, sich zwischen die Terroristen und die Tiere stellt, um die Vikunjas zu schützen, da erklären sie ihm: „Es ist ein Befehl der Führung … Das hier ist Krieg … Ein Reservat, das der Imperialismus erfunden hat.“ 4 Die dritte Episode schildert, wie das Dorf Andamarca überfallen wird. In einer großen „Gerichtsversammlung“, an welcher alle Dorfbewohner teilnehmen müssen, werden zuerst alle „Hyänen der Marionettenregierung“ verurteilt und sodann ermordet. Daraufhin wird den „schlechten Bürgern, den schlechten Ehemännern, den schlechten Ehefrauen, den Parasiten der Gesellschaft, den Entarteten, den Huren, den Schwulen, den Würdelosen von Andamarca“ der Prozeß gemacht, dem „verfaulten Bodensatz“, den das „feudale, kapitalistische System, unterstützt vom nordamerikanischen Imperialismus und vom sowjetischen Revisionismus nährte, um den kämpferischen Geist der Massen einzuschläfern.“ 5 Ein schlechter Ehemann wird nur ausgepeitscht, ein Schwuler wird ermordet und zuletzt wird ein Dorfgemeinderat bestehend aus fünf Männern und vier Frauen gewählt, denen das verläßliche Terroristenpaar der Genossin Teresa und des Genossen Juan „helfen“ würden. Die beiden sollten auch den Kontakt zur Führung aufrechterhalten. 3 Mario Vargas Llosa: Tod in den Anden. Frankfurt am Main 1997, S. 13 und 15. 4 Tod in den Anden, op. cit., S. 68 und 69. 5 Tod in den Anden, op. cit., S. 95 f. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 361 Die vierte Episode schildert die Gefangennahme der Señora d’Harcourt und des Ingenieurs Cañas, die als Umweltschützer für alle Peruaner einschließlich der Terroristen zu arbeiten glauben. Sie werden bei ihrer Arbeit an einer Aufforstungsstelle überfallen und zur Steinigung verurteilt. In einer Art Kontrastgeschichte zu diesen vier Episoden zeigt Vargas Llosa, auf welche Weise einfache Menschen freiwillig Mitkämpfer der Terroristen werden. Der Wanderhändler Casimiro Huarcaya, der mit seinem Lieferwagen von Ort zu Ort und von Fest zu Fest fährt, wird eines Tages von einem Mädchen angesprochen, das ihm vorhält, er hätte sie geschwängert. Er behandelt die Kleine denkbar schlecht, obwohl ihr in der dort herrschenden Macho-Gesellschaft manche Männer noch übler zugesetzt hätten. Als er sie schließlich schuldbewußt aufsuchen will, kann er sie nicht mehr finden. Die Familie hat sie offenkundig wegen des unehelichen Kindes verstoßen und die Paten, zu denen sie ziehen wollte, mußten umgezogen sein. Nun war der arme Casimiro ein Albino mit heller Haut und hellem Haar und auf Grund der alten Tradition der Bergmenschen galt er darum als „nacaq“ und „pishtaco“, der andere Menschen tötet, um ihnen das Fett auszusaugen oder auszupressen. Als er eines Nachts ein Gasthaus verließ, sah er sich darum plötzlich von einer ganzen Gruppe feindseliger Männer und Frauen umringt, die begannen auf ihn einzuschlagen, ohne auf seine Erklärungen zu hören. Als er schon glaubte, es gäbe keinen Ausweg mehr, hörte er Schüsse. Er sah bewaffnete Männer und Frauen und hörte, noch auf dem Boden liegend, wie seine Retter der Menge erklärten, es sei falsch, an „pishtacos“ zu glauben. Diese abergläubischen Vorurteile seien dem Volk von seinen Feinden eingetrichtert worden. Da erkannte er unter den Bewaffneten plötzlich Asunta, das Mädchen das er geschwängert und später gesucht hatte. Er hörte, wie sie der ganzen Terroristengruppe erklärte, daß er sie vor fünf Jahren unter der Ausnutzung der Festlichkeiten in einem anderen Dorf vergewaltigt und geschwängert habe, daß er sie später wie eine Prostituierte behandelt und ihr schließlich Geld für eine Abtreibung gegeben hätte. Casimiro vermochte das schüchterne, kleine Mädchen, das ihm damals die Hand geküßt hatte, kaum in der kalten, belehrenden Frau wiederzuerkennen. Sie trat schließlich an ihn heran, mit dem Gewehr auf seinen Kopf zielend und drückte ab, doch war nur eine Platzpatrone im Lauf gewesen. Auch wenn die Vergewaltigung nicht stimmte, so war ihr doch böse mitgespielt worden und es waren vielfach solche „Opfer“, die sich den Terroristen anschlossen. Aber auch wenn es ihnen um Gerechtigkeit gegangen sein mag, so war das abschließende Urteil des Korporals Lituma trotzdem die nüchterne Wahrheit, wenn er einmal gedacht hatte: „Brachten die Terroristen nicht aufs Geratewohl Leute um, bloß wegen diesem dummen Märchen von der Revolution? “ 6 Noch 6 Tod in den Anden, op. cit., S. 31. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 362 eine weitere Geschichte blendet Vargas Llosa ein, um die ganze Wahrheit darzustellen, die Geschichte von der neuerlichen „Befreiung“ der kurz vorher bereits „befreiten“ Ortschaft Andamarca. Achtundvierzig Stunden nach Abzug der Terroristen war dort eine Patrouille der Republikanischen Garde und der Gendarmerie unter der Führung eines Leutnants mit dem Spitznamen „Harke“ eingetroffen, der auch von dem stellvertretenden Gouverneur und Bürgermeister Medardo Llantac begleitet wurde, dem es gelungen war, beim Überfall der Terroristen zu fliehen. Man hatte nicht einmal gewagt, die Toten zu begraben, aus Angst, man könnte die Terroristen ein zweites Mal anlocken. Der Leutnant verhörte die Leute den ganzen Tag und einen Teil der Nacht, ohne sich auch nur Zeit zum Mittagessen zu nehmen. Es gelang ihm, in groben Zügen zu rekonstruieren, was geschehen war. Und am nächsten Tag wurden die fünf Männer und vier Frauen festgenommen, die unter dem Druck der Terroristen als neue Führer des Dorfes gewählt worden waren. Genosse Juan und Genossin Teresa waren sofort weggerannt, so schnell die Beine sie tragen konnten, als sie die Patrouille anmarschieren gesehen hatten. Schließlich hielt der Leutnant den versammelten Bewohnern eine Strafpredigt, weil sie mit den Terroristen zusammengearbeitet hatten, weil sie sich zu dieser Parodie eines Prozesses hergegeben hatten und weil sie dieses groteske Massaker verübt hatten: „Ganz Andamarca müßte verurteilt und bestraft werden“, wiederholte er einige Male. Die Patrouille blieb noch einen Tag im Dorf und die Gendarmen durchsuchten die Häuser und beschlagnahmten Schmucksachen, Wertgegenstände und Geld, was alles mit den Terroristen nichts zu tun hatte. Kein Bewohner zeigte die Diebstähle beim Leutnant an. Dann marschierte die Patrouille ab, die zusammengebundenen Gefangenen im Gänsemarsch mit sich führend. Als einige Zeit später die Verwandten der Gefangenen in Puquio nach deren Verbleib fragten, konnten ihnen die Behörden nicht helfen. Niemand wußte etwas von den Gefangenen und es gab keinen Leutnant mit dem Spitznamen Harke. Die neun Gefangenen blieben verschwunden und waren wohl ohne Prozeß erschossen und beseitigt worden. Der Roman ist in zwei „Teile“ und einen Epilog gegliedert. Während im ersten Teil der Korporal Lituma dem Fall seiner drei Verschwundenen völlig hilflos gegenübersteht und sein Amtsgehilfe ihm vor allem am Abend und nachts berichtet, wie er sich in die wunderschöne Mercedes unsterblich verliebt und sogar ihretwegen einen Drogenhändler erschossen hätte, der negativen Erfahrung des Korporals also die positive Erfahrung des jungen Tomás gegenübersteht, dreht sich im zweiten Teil das Ganze um: Lituma beginnt endlich die seltsamen Vorstellungen und Motivationen der Hochgebirgsindios zu verstehen, während der Bericht von Tomás den Punkt erreicht, an dem ihn die Geliebte endgültig verlassen hat und er mit gebrochenem Herzen und ohne jede Hoffnung zurückblieb. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 363 Korporal Lituma begannen die Augen aufzugehen, als er bei einem dienstlichen Aufenthalt in La Esperanza auf einen dänischen Ethnologen und Professor traf, der ihm einiges über die uralten Bräuche der peruanischen Urbevölkerung noch vor den Inkas erklärte. Etwa wie die alten Peruaner die alten Mexikaner bei der Behandlung von Menschenopfern weit übertroffen hätten, da sie ihnen nicht einfach das Herz aus dem Leib rissen, sondern durch Präzisionschirurgie Leber, Gehirn und Nieren ihrer Opfer entfernten und die Organe sodann zusammen mit Mais-Chicha verspeisten. La Esperanza war kurz zuvor von Terroristen überfallen worden und sowohl der Professor Paul Stirmsson, auch Paul, Pablo oder Scharlach gerufen, hatte sich mit den beiden Ingenieuren in einem leeren Wasserbehälter versteckt. Der Professor klärt Lituma auf, daß sie ihre Rettung tatsächlich den „apus“, den Schutzgeistern der Berge verdankten, die sie beschützt hätten. Er erzählt ihm auch, daß die „apus“ Totengötter und Schutzgeister der Berge waren und daß trotz der Christianisierung der Indios durch die Spanier der alte Götzenglaube vermischt mit christlichen Riten noch Gültigkeit besäße. Der Professor kannte sogar Señora Adriana, die Gattin des Säufers und Kantinenwirts Dionisio in Naccos, die Lituma ähnliches erzählt hatte, ohne daß er es hätte glauben können. Den Korporal überkommt ein heulendes Heimweh nach seinem geliebten Piura, dem heißen Klima des Küstenlandes und seinen offenen, fröhlichen Menschen, die keine Geheimnisse hüten konnten. Der Professor aus Odense aber faßt zusammen: Peru sei „ein Land, das niemand versteht … für Leute, die aus klaren, transparenten Ländern wie meinem kommen, ist nichts attraktiver als das Unentzifferbare.“ 7 Eine letzte Frage hat der Korporal noch an den Ethnologen: War es also so, daß die Chancas und Huancas Menschen opferten, wenn sie Wege anlegen wollten? Der Professor bejaht. In demselben Ausmaß aber, in dem das Verständnis des Korporals sich für jene irrationalen Zusammenhänge erweitert, wächst dem Roman eine neue, zusätzliche Dimension hinzu, ohne die er ein oberflächlicher Thriller geblieben wäre. Nicht so sehr durch das noch immer sehr rationale Verständnis des Korporals als durch die phantastischen Geschichten, die der Autor seinem Charakter der Señora Adriana im zweiten Teil des Romans in den Mund legt, in dem sie wesentliche Ausschnitte aus ihrem Leben berichtet. Obwohl der Korporal nun imstande ist, die eigenartigen Vorstellungen der Hochgebirgsindios einigermaßen nachzuvollziehen, ist er weit davon entfernt, sie zu akzeptieren. Das Ergebnis seines Aufenthaltes und seiner Erfahrungen auf dem einsamen Posten in Naccos faßt er zuletzt in die Sätze zusammen: „Haben denn nicht alle hier ihre fixe Idee? Sind die Terroristen nicht wahnsinnig? Dionisio und die Hexe, sind sie nicht rettungslos verrückt? War dieser Leutnant Pancorvo, der einen Stummen versengt hat, um ihn zum Reden zu 7 Tod in den Anden, op. cit., S. 217. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 364 bringen, nicht durchgeknallt? Gibt es größere Spinner als diese Indios, die sich vor mukis und „Schlächtern“ fürchten? Fehlen denen, die Leute verschwinden lassen, um die apus der Berge zu beschwichtigen, nicht ein paar Schrauben? Dein Liebeswahn schadet wenigstens keinem außer Dir selbst.“ 8 Der letzte Satz ist an seinen jungen Amtsgehilfen Tomás gerichtet, dessen Liebe zu Mercedes im zweiten Teil ebenfalls zu einem vorläufigen Ende gekommen war, da Mercedes ihren heißen Liebhaber, zusammen mit seinen gesamten Ersparnissen, die er ihr geschenkt hatte, für immer verlassen hatte. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß Vargas Llosa verschiedene Geschichten nebeneinander gestellt hat, weil er bei Faulkner gesehen hat, was der Perspektivwechsel für eine Totalitätsschau zu leisten imstande ist, was bei Broch noch eine zusätzliche Bestätigung gefunden hatte. Aber die verschiedenen Teile sind nicht nur vom Gesamtthema her, sondern auch von der Fabel eng zu einem Ganzen zusammengebunden. So ist etwa die Geschichte der Besetzung des Dorfes Andamarca und seine zweite Befreiung durch die Republikanische Garde durch die Person des Bürgermeisters, der fliehen hatte können, insofern mit den Ermittlungen Litumas verbunden, als der Bürgermeister unter einem falschen Namen Zuflucht bei den Bauarbeitern in Naccos gesucht hatte und der dritte der „Verschwundenen“ war, nach denen der Korporal fahndete. Wie es auch hervorragend ist, auf welch eindringliche Weise der Autor die verschiedenen Arten von Dummheit herausarbeitet, ohne welche eine Menge der unmenschlichen Grausamkeiten gar nicht stattfinden hätten können. So etwa versucht der Ehemann der Umweltschützerin Señora d’Harcourt sie schon vor der Abfahrt in die gefährliche Zone durch Bestechung mit einem hohen Geldbetrag davon abzuhalten, überhaupt zu fahren. Als sie trotzdem fährt und der militärische Kommandeur der Zone darauf besteht, ihr militärischen Schutz mitzugeben, lehnt sie dies mit solcher Entschiedenheit ab, daß sie ihm lieber eine schriftliche Erklärung dieser Ablehnung, unterschrieben von Zeugen gibt, um ja ohne Schutz fahren zu können. Sogar als sie bereits in den Händen der Terroristen ist, glaubt sie noch immer, sich durch liberale Erklärungen und Vorhaltungen retten zu können und ist fassungslos, daß sie zuletzt gesteinigt wird. Vargas Llosa, selbst ein konsequenter Liberaler, weiß eben, daß es gescheite und dumme Liberale gibt, von denen die ersteren nicht so naiv sind, die Dummheit und Grausamkeit der Fanatiker zu unterschätzen und ihre Toleranz nur den anderen Toleranten gegenüber an den Tag legen und nicht gegenüber den Intoleranten. Der „Epilog“, der den zusammenfassenden Abschluß sowohl von Litumas Ermittlungen als auch der Geschichte der Liebe Tomasitos zu Mercedes darstellt, zeigt, wie Lituma zuletzt zumindest für sich selbst die definitiv Wahrheit heraus findet, wonach die drei Verschwundenen nicht Opfer der Terroristen 8 Tod in den Anden, op. cit., S. 344 f. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 365 geworden waren, sondern Opfer des Aberglaubens, der durch Menschenopfer die Berggeister besänftigen wollte, um gefahrlos die Straße bauen zu können. Wobei die empirische Wirklichkeit zeigt, daß auch die Menschenopfer nichts geholfen hatten, denn zuletzt stürzt ein „huayco“, eine riesige Stein-Fels- und Erdlawine in das Tal herunter, welche die Weiterführung des Straßenbaus für immer unmöglich macht. Ist es schon positiv, daß Lituma zuletzt doch die Wahrheit herausfindet, so ist der Ausgang von Tomasitos Liebesgeschichte noch viel positiver. Denn plötzlich taucht die geliebte Mercedes in Naccos auf, weil sie ihn gesucht hat, denn ihr ist klar geworden, daß niemand anderer sie annähernd so lieben kann wie Tomás. Als sie ihn findet, weiß er bereits, daß der kleine Posten in Naccos geschlossen wird, daß Lituma zum Unteroffizier befördert wird, um als Kommandant einen größeren Posten in Santa María de Nueva zu übernehmen und daß er selbst nach Piura, die Heimatstadt von Mercedes, versetzt wird. Das letzte Abschlußbild des Romans ist der Ausblick Litumas auf die wunderbare und faszinierende Nachtlandschaft der gezackten Gipfel der Anden, beschienen von einem Halbmond und von Sternen, Schauplatz bösester Grausamkeit und höchster Seligkeit zugleich. Sieben Jahre nach dem Tod in den Anden erschien der dreizehnte Roman Vargas Llosas Das Fest des Ziegenbocks. Der Ziegenbock, der Hurenbock war der Beiname, den das Volk der Dominikanischen Republik seinem Diktator, seiner Exzellenz Dr. Rafael Leónidas Trujillo Molina gegeben hatte, der mit seiner korrupten und grausamen Herrschaft der Protagonist des Romans ist. Es entspricht der allgemeinen lateinamerikanischen Situation, daß Vargas Llosa gleichsam als Ergänzung dem Roman einer linksradikalen Terroristengruppe den Roman eines „rechten“ Diktators hinzufügte. Für den Roman hat der Autor trotz dichterischer Freiheit, die er sich nahm, ausführliche Archivstudien betrieben, Gespräche mit Zeitzeugen geführt und sich überhaupt mit der Geschichte der Dominikanischen Republik eingehend beschäftigt. Wie Tod in den Anden liest sich auch Das Fest des Ziegenbocks wie ein Thriller. Wenn aber ein etwas schwachsinniger Kritiker ihn mit den Romanen von Stephen King verglichen hat, dann ist ihm das Wesentlichste daran entgangen, nämlich die hohe dichterische Qualität. Nicht nur legt Vargas Llosa Tiefendimensionen von Existenzweisen unter einer diktatorischen Gewaltherrschaft frei, die von ihrer Differenziertheit im einzelnen bis zu der Analyse des Gesamtmechanismus eher an Koestlers Sonnenfinsternis als an Stephen King erinnern, sondern er hat sehr viel mehr noch als durch die Auseinandersetzung mit Faulkner und auch mit Flaubert gelernt, über dessen Technik und Stil des Romans er ein eigenes Buch verfaßt hat. 9 Zumal in einem Punkt hat er sehr wahrscheinlich Brochs Tod des Vergil vor Augen gehabt, da er versuchte, die Simultanität einer ganzheitlichen 9 Mario Vargas Llosa: La orgia perpetua: Flaubert y „Madame Bovary“. Madrid 1975. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 366 Totalität zu schaffen. Dies läßt den Roman noch über den Tod in den Anden hinauswachsen, so daß ein Kritiker das Buch seinen vollkommensten und anspruchsvollsten Roman seit dem Krieg am Ende der Welt nennen hat können. 10 Schon in seinem frühen Roman Das grüne Haus hatte Vargas Llosa mitunter zwei Gespräche, die zu verschiedener Zeit stattgefunden hatten so miteinander verwoben, daß der Eindruck einer Rückblende eintrat. Nunmehr ist in diesem ganzen modernen Roman die alte Guckkastenmanier des traditionellen Romans im 19. Jahrhundert so durchbrochen, daß der Eindruck einer Gesamtsimultanität entsteht. Der Roman ist fast einer Novelle gleich von einer Art Rahmen des ersten und letzten Kapitels umgeben, der darin besteht, daß Urania Capral, die Tochter des seinerzeitigen Senatspräsidenten und Ministers nach fünfunddreißigjähriger Abwesenheit aus New York nach Santo Domingo kommt, um ihren durch einen Schlaganfall gelähmten und sprachlosen Vater im Rollstuhl zu besuchen, der kurz vor dem Attentat auf den Diktator in Ungnade gefallen war. Urania war damals, vor fünfunddreißig Jahren vierzehn Jahre alt gewesen und war vom eigenen Vater dem „Ziegenbock“ ins Haus geschickt und preisgegeben worden, in der Hoffnung, er könnte auf diese Weise die Gunst des Machthabers zurückkaufen. Man hatte ihr erzählt, Trujillo, der Ziegenbock, wollte ein „Fest“ allein für sie veranstalten. Das halbe Kind wurde grausam aus ihren Erwartungen gerissen, als sie herausfand, daß der Diktator nichts anderes wollte, als Sex mit ihr zu haben. Dabei wird sie darüber hinaus Zeugin, wie Trujillos Körper versagte und er eine beschämende Niederlage erlitt. Während der Diktator bitter böse auf sie wurde, war sie so von Ekel ergriffen, daß sie ihren Vater nicht wiedersehen wollte und von den nordamerikanischen Nonnen ihrer Klosterschule in einer Blitzaktion zum Antritt eines Stipendiums nach Michigan geflogen wurde. Sie konnte ihr Leben lang keinen Mann mehr in ihrer körperlichen Nähe ertragen. All das wird erst im letzten Kapitel, im Abschluß des Rahmens enthüllt. Im ersten Kapitel heißt es nur, sie sei zu einem kurzen Besuch gekommen und beginnt nach einem ersten Kontakt mit dem Vater ihrer Tante, deren beiden Töchtern und deren Enkelin alles zu erzählen. Aus der Schilderung ihrer Erinnerung heraus entsteht wiederum die Zeit des Diktators. Wiederum wie in einer kunstvollen Novelle, tritt der Rahmen immer wieder in den Vordergrund und berührt sich mit der Binnengeschichte, so in den Kapiteln vier, sieben, zehn, dreizehn und sechzehn. Bereits nach dem ersten Kapitel beginnt das Ineinanderschieben von Aktionen, Gesprächen, Erlebnissen und Reflexionen der Jahre 1996 und 1961. Nachdem aus dem Rahmen, der Erzählung Uranias im ersten Kapitel 1996 auf die Zeit Trujillos rückgeblendet wird und sich im zweiten Kapitel 10 Raymond L. Williams: Vargas Llosa otra historia de un deicidio. Mexiko City 2001, S. 267. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 367 die Perspektive des Diktators selbst auftut, gefolgt im dritten Kapitel von der Perspektive von vier der Attentäter, die bereits im Hinterhalt liegen, wird im vierten Kapitel wieder auf die Zeit der Erzählung Uranias und des Rahmens zurückgegriffen. Von Kapitel vier an geht es ebenso weiter im Dreitakt der Perspektiven Urania - Trujillo - Attentäter bis zu Kapitel sechzehn, obwohl Trujillo bereits in Kapitel zwölf ermordet wird. Das sechzehnte Kapitel beginnt erneut mit Urania und ihrer Erzählung, doch wird von hier an der Dreitakt aufgegeben. Trujillo ist tot. Seine Nachfolge wurde militärisch von seinem ältesten Sohn, General Ramfis, im zivilen Sektor von Dr. Joaquin Belaguer angetreten, der sich im Handumdrehen aus einem Marionettenpräsidenten in einen wirklichen Präsidenten von staatspolitischem Weitblick entwickelt. Im Unterschied zu dem von der Propaganda als „Wohltäter der Nation“ gefeierten Diktator Trujillo, der in Wahrheit das Land an den Abgrund völligen Zusammenbuchs und der Besetzung durch ausländische Truppen gebracht hat, wird er zum wirklichen Retter des Landes. Von Kapitel siebzehn bis einundzwanzig wird die Verfolgung, Ergreifung, Folterung und Tötung vieler Verschwörer und aller Attentäter bis auf zwei durch General Ramfis und den militärischen Geheimdienstchef Oberst Johnny Abbes Garcia geschildert, bis im Kapitel zweiundzwanzig Belaguer das Ruder herumreißt, die Familienmitglieder Trujillos und den Geheimdienstchef ins Ausland schickt, die USA, die Vereinigung aller amerikanischen Staaten OAS und die UNO beruhigt und die Demokratie einzuführen beginnt. Dazu gehört auch, daß die zwei überlebenden Attentäter als Retter und Helden gefeiert und zu Drei-Stern-Generalen in der dominikanischen Armee befördert werden. Der Abschluß des letzten Kapitels, vierundzwanzig, bildet auch den Abschluß des Rahmens, in dem Urania im Rückblick ihre ekelhafte Geschichte jener Nacht im „Mahagonihaus“ Trujillos in San Cristobál erzählt. Als sie ihre kleine Nichte Marianita beim Abschied zitternd umarmt hatte, versprach ihr diese auch, ihr zu schreiben. Der Schlußsatz des Romans gibt die Entscheidung Uranias beim Kofferpacken bekannt: „Wenn Marianita mir schreibt, werde ich alle Briefe beantworten.“ 11 Der Romantitel bezieht sich in erster Linie auf den Rahmen, da Trujillo ein „Fest“ für Urania allein geben wollte. Seinen Beinamen hatte er erhalten, weil er als Willkürherrscher gerne mit den jungen hübschen unter den Frauen seiner Minister, Senatoren und Botschafter und auch mit deren Töchtern schlief. Er hatte jedoch noch viel entsetzlichere Untaten auf dem Kerbholz, von seinem ältesten Sohn Ramfis nicht erst zu reden. Der Rahmen ist aber nicht nur darum wichtig, weil er den Titel erklärt, sondern vor allem, weil von ihm die Perspektiven der Simultanität ausgehen und durch ihn ermöglicht werden. Wie der bittere Ernst der Gewaltherrschaft 11 Mario Vargas Llosa: Das Fest des Ziegenbocks. Frankfurt am Main 2002, S. 538. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 368 Trujillos wirklich aussah, der sich ein hitlerartiges Bärtchen wachsen ließ und nach Hitlers Vorbild auch Sippenhaftung einführte, zeigt eine kleine Geschichte im zweiten Kapitel, dem ersten, das dem Diktator selbst gewidmet ist. Im Kolonialviertel der Hauptstadt hausten unter den Bäumen des Kolumbusparks zwei harmlose Verrückte, die nicht imstande waren, einem geregelten Erwerb nachzugehen. Sie gaben lächerliche Vorführungen, um von den Passanten etwas Geld oder Essen zu erbetteln. Wenn einer der beiden, Valeriano, sich für Christus hielt, schleppte er ein Kreuz. Wenn er sich für Napoleon hielt, streckte er einen Besenstil in die Luft, schrie Kommandos und rückte gegen den Feind vor. Ein Spitzel des Geheimdienstchefs hatte berichtet, daß er sich zur Zeit über Trujillo selbst lustig machte und ihn „Gendarm“ nannte. Er stolzierte mit kleinen Spiegeln und Kronkorken auf der Brust und führte mit Clowngebaren seine „Auszeichnungen“ einer Gruppe erschrockener Zuschauer vor. Sein Gefährte aber rief: „Applaudiert dem Gendarm, ihr Idioten.“ Der Diktator beobachtete das Spiel durch die dunklen Scheiben seines Autos, wurde über die Tollkühnheit zur Weißglut eines plötzlichen Zornes getrieben und gab sofort Befehl zur Bestrafung der beiden. Am nächsten Morgen überlegte er, daß Verrückte eben nicht verstanden, was sie sprachen und taten und daß man eher die Witzbolde ausfindig machen sollte, die das Paar angestachelt hatten. Er ließ den Geheimdienstchef zu sich kommen und befahl ihm: „Laß sie laufen.“ Johnny Abbes verzog das Gesicht: „Zu spät Exzellenz. Wir haben sie noch gestern den Haien vorgeworfen. Lebendig, wie sie befohlen haben.“ 12 Im nächsten Kapitel zeigt eine der Geschichten, wie sich den Attentätern ein weiterer Verschwörer zugesellt. Der Leutnant Garcia Guerrero, genannt Amadito, gehörte dem kleinen, erlesenen „Adjutantenkorps“ des Diktators an. Eines Tages wird er zu Trujillo gerufen, den er bewunderte, und erfuhr, wie man unter dessen Blick Angst bekommen konnte. Der Diktator sagte zu ihm: „Sie können diese exzellente Personalakte nicht dadurch beflecken, daß Sie die Schwester eines Kommunisten heiraten.“ Er beschuldigte den Bruder von Amaditos Verlobter am Aufstandsversuch vom 14. Juni beteiligt gewesen zu sein und trug ihm auf, sich eine andere Frau zu suchen. Der Trujillo-Bewunderer schrieb seiner Verlobten einen Brief, daß er sie nicht mehr sehen könne. Bald darauf wird Amadito von einem Generalstabsmajor gefragt, ob er bereit sei, als Treuebeweis zum Diktator eine Probe zu bestehen. Als er ohne zu zögern bejaht, wird er in einem Jeep zum Gefängnis von Cuarenta gefahren, wo ihn der Geheimdienstchef Johnny Abbes erwartet. Er sagte ihm, er solle einen Verräter mit eigenen Händen umbringen, ohne daß sie ihm zittern. Wieder fährt er in einem Jeep, den dieses Mal Johnny Abbes lenkt, gefolgt von einem zweiten Jeep mit dem Major. Dieses Mal geht es an den Strand. Als die 12 Das Fest des Ziegenbocks, op. cit., S. 36. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 369 Wagen halten, stoßen zwei Wachsoldaten vom Rücksitz einen gefesselten und geknebelten Gefangenen ohne Schuhe vom Rücksitz. Amadito beobachtet die krampfhaften Bewegungen seines Kopfes, mit denen er versucht, den Mund frei zu bekommen, um etwas zu sagen. „Lassen Sie den armen Teufel nicht länger leiden“ sagte Oberst Johnny Abbes und Amadito erschießt ihn. Als der Oberst, der Major und Amadito nachher eine Menge Alkohol getrunken hatten, fragt Johnny Abbes: „Liegt Ihnen nicht daran, zu wissen, wer dieser Typ war? “ Obwohl Amadito es nicht wissen will, muß er es erfahren: „Es war einer vom 14. Juni, der kleine Bruder Ihrer Ex-Freundin, glaube ich, Luisa Gil, nicht? “ Als Amadito später einem Freund gegenübersitzt, zieht er seine Schlußfolgerung: „Wenn ich das nächste Mal schieße, dann um Trujillo umzubringen … Du und Tony Imbert, ihr könnt auf mich zählen, egal für was. Ihr braucht nicht mehr das Thema zu wechseln, wenn ich das Haus betrete.“ 13 Als nach Trujillos Tod sein ältester Sohn Ramfis die militärische Macht und mit ihr, die Funktion übernahm, gemeinsam mit dem militärischen Geheimdienstchef die Rache an den Attentätern, ihren Familien, Freunden und anderen Verschwörern, tausenden von Bürgern, durchzuführen, steigerten sich die Grausamkeiten noch mehr. Ramfis, der im Alter von sieben Jahren zum Oberst und im Alter von zehn Jahren zum General der Armee ernannt worden war, hätte schon sehr früh das Oberkommando der Streitkräfte übernehmen sollen, hatte sich jedoch so wahnwitzig aufgeführt, daß nicht einmal Trujillo es riskieren wollte, den Plan wirklich durchzuführen. Doch älter geworden, übernahm er nach dem Tod des Diktators wirklich das Oberkommando. Im 21. Kapitel wird das Los einiger gefangener Verschwörer geschildert, darunter Miguel Ángel Báez dem Johnny Abbes und Ramfis besonders zusetzen, weil er Trujillo so nahe gewesen war. Sie wohnten darum den Folterungen mit Strom, Ochsenziemer und Verbrennungen bei und befahlen den Ärzten, ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen, damit weitergemacht werden könnte. Nach zwei oder drei Wochen brachte man Miguel Ángel Báez und Modesto Diaz anstatt des üblichen, stinkenden Maismehls einen Topf mit Fleischstücken und die beiden aßen, bis sie nicht mehr konnten. Da pflanzte sich der Wärter vor Miguel Ángel Báez auf und erklärte, General Ramfis Trujillo wollte wissen, ob es ihm nicht ekle, seinen eigenen Sohn zu essen. Als dieser zu fluchen beginnt, verschwindet der Wärter und kehrt mit dem Kopf seines ältesten Sohnes zurück. „Miguel Ángel Báez starb Stunden später in Modestos Armen an einem Herzanfall.“ 14 Vargas Llosa spricht nicht die Frage aus, ob es für jene Generation überhaupt noch die Möglichkeit eines Genesens und eines unbeschwerten Lebens 13 Das Fest des Ziegenbocks, op. cit., S. 62. 14 Das Fest des Ziegenbocks, op. cit., S. 453. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 370 gab. Aber indirekt hält er im letzten Satz des Romans eine Antwort bereit. Hier verläßt Urania, die nach fünfunfdreißig Jahren ganz kurz gekommen war, das Land wieder, um nach New York zurückzukehren. Von ihren vier Zuhörerinnen war ihre Nichte, die junge Marianita von ihrer Erzählung am tiefsten ergriffen und hergenommen zugleich. Ihre Briefe wollte sie beantworten. Denn die Hoffnung lag bei einer neuen Generation, die das alles nicht mehr aus eigener Erfahrung kannte. Was im Roman von Vargas Llosa seinen dichterischen Ausdruck gefunden hat, das hat er in kaum weniger blendend formulierter Form, nur abstrakt sachlich-nüchtern in seinen politischen Essays niedergelegt und einer der aktuellsten Sammelbände, wie auch zugleich von zeitloser Gültigkeit trägt den Titel Nationalismus als neue Bedrohung. 15 Vargas Llosas Darstellungen des Abwurfs russischer Streubomben auf Grosny (Tschetschenien) oder des „Sterbens in Grbavica“ (in einem Stadtteil Sarajewos in Bosnien) sind Meisterwerke der Wahrheitsfindung, die jegliche Verschleierung durch ideologische „Nebelgranaten“ einfach wegblasen. Vargas Llosa kennt auch trotz seiner Abscheu vor dem Krieg die wenigen Ausnahmesituationen, in denen Pazifismus zur Heuchelei, zu größter Gefahr werden kann. Eine dieser Ausnahmesituationen, die er beschreibt, ist die Militärintervention im Kosovo gewesen, um die Bevölkerung vor reinem Völkermord zu bewahren. Er weist darauf hin, daß Umfragen gezeigt hätten, wonach die Gegner dieser Militärintervention zahlreicher waren als die Stammwählerschaft kommunistischer und neofaschistischer Parteien. Diese Parteien hätten sich damals im Kosovo-Konflikt, „wie schon zu Zeiten des Molotow-Ribbentrop-Paktes einmal mehr in der Geschichte zusammen gefunden“. Sie waren damals in ihrer pazifistischen Kampagne gegen die NATO vereint. 16 Von besonderer Wichtigkeit ist der abschließende Essay des Bandes „Der Liberalismus am Übergang vom zweiten in das dritte Jahrtausend“. Hier stehen Sätze, wie sie für das Verständnis der menschlichen Existenz als Voraussetzung entsprechenden Handelns von großer Bedeutung sind, wie etwa jene: „Und da nichts in der Geschichte der Menschen ein für allemal vom Schicksal vorherbestimmt ist, müssen wir uns auch bewußt sein, daß die während der letzten Jahrzehnte von den Liberalen erreichten Fortschritte nicht unumkehrbar sind. Sie können ins Stocken geraten, wenn wir sie nicht zu verteidigen wissen, und die freie Welt könnte unter dem Druck des autoritären Kollektivismus und des Stammesdenkens an Boden verlieren, die den Kommunismus als gefähr- 15 Mario Vargas Llosa: Nationalismus als neue Bedrohung. Hg. von Ulrich Beck. Frankfurt am Main 2000. Dieser deutschsprachige Auswahlband ist aus Beiträgen verschiedener Herkunft zusammen gestellt. 16 Nationalismus als neue Bedrohung, op. cit., S. 124. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 371 lichsten Gegner der Demokratie abgelöst haben: Nationalismus und religiöser Fundamentalismus.“ 17 Er zeigt unter anderem am Beispiel des großserbischen Wahns von Milošević, wie der neue Nationalismus zu Krieg und Völkermord führt. Er weist darauf hin, daß Überreste des Faschismus in der „Gestalt ultranationalistischer Parteien wie der Front National Jean-Marie Le Pens in Frankreich oder der FPÖ Jörg Haiders“ manchmal eine gefährliche Anzahl von Wählerstimmen mobilisieren. Aber weder diese Sprösslinge des Faschismus, noch die hinfälligen Gespenster Kubas und Nordkoreas, jene „anachronistischen Überreste des riesigen, marxistischen Archipels“ scheinen ihm eine wirkliche Gefährdung für die Demokratie zu sein, im Unterschied zu anderen Gefahrenherden. 18 Über den lateinamerikanischen Subkontinent, seine Herkunftskultur, schrieb er: „Obwohl man einige Intellektuelle, die der Zusammenbruch der kollektiven Ideologie arbeitslos gemacht hat, immer noch regelmäßig gegen den ‚Neoliberalismus‹ aufheulen hört (wie die Wölfe im Mondschein), gibt es in Lateinamerika wenigstens zur Zeit einen grenzüberschreitenden, stabilen Konsens gegen diktatorische Regime und kollektivistische Utopien und für das demokratische System.“ 19 Oder aber er legt über sein Hauptanliegen, die Freiheit dar, daß diese Freiheit „obwohl sie immer wieder Unordnung gestiftet hat, … der Grund für die außerordentlichen Fortschritte in den Bereichen der Wissenschaft, der Menschenrechte, der technischen Entwicklung und des Kampfes gegen Despotismus und Ausbeutung“ gewesen ist. 20 Die in Wien gehaltene „Jan-Potoćka-Gedächtnisvorlesung“ von 1993 „Demokratie heute“ aber verbindet eine unübliche Bildung mit lebenswichtigen Einsichten und sollte zur Welt-Schul-Lektüre gemacht werden. Sie schließt mit dem Absatz: „Die Schwächung, ja das Aufgehen der Nationen in übergreifende ökonomische wie politische Gemeinschaften unter dem Banner der Freiheit wird zur Entwicklung und zum Wohlergehen des Planeten beitragen, da sie das Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen vermindert und ungeahnte Möglichkeiten für Handel und Industrie eröffnet. Sie wird darüber hinaus den Pluralismus fördern und das Aufkommen authentischer Kulturen, die aus dem Ausdrucksbedürfnis einer homogenen Gruppe von Menschen erwachsen, ohne einem politischen Machtwillen zu dienen. Paradoxerweise kann nur die Internationalisierung diesen kleinen Kulturen ihr Existenzrecht garantieren, das jede Nation traditionellerweise geleugnet hat, um den Mythos ihrer Unantastbarkeit zu befestigen.“ 21 17 Nationalismus als neue Bedrohung, op. cit., S. 135. 18 Nationalismus als neue Bedrohung, op. cit., S. 135. 19 Nationalismus als neue Bedrohung, op. cit., S. 137. 20 Nationalismus als neue Bedrohung, op. cit., S. 143. 21 Nationalismus als neue Bedrohung, op. cit., S. 60. Mario Vargas Llosa und der Wille zur Freiheit 372 Wenige Romanciers haben so deutlich aus weltpolitischer Sicht die Scheinordnung und das Chaos der Totalitären und der Fundamentalisten entlarvt und gezeigt, wie die Wege der Freiheit trotz Widersprüchen und einer weiten Offenheit zu einer wirklich harmonischen Ordnung zu führen vermögen. Patrick White und der australische Roman Obwohl Patrick White auch Erzählungen, Dramen und Lyrik geschrieben hat, beruht sein Ruhm vor allem auf mehr als einem Dutzend Romanen, von denen vor allem die späteren weltliterarische Qualität besitzen. Er war am 28. Mai 1912 in London zur Welt gekommen, als Sohn australischer Eltern, die nach der Hochzeit eine zweijährige Reise durch Europa und den Nahen Osten angetreten hatten. Um 11 Uhr vormittags war er in einer Wohnung in Knightbridge geboren worden, von der aus man den Hyde Park überschauen konnte, dessen weltberühmte Hyde Park Corner ein Sinnbild für Geistesfreiheit darstellt. Die Eltern waren Neureiche mit großem Grundbesitz und Schafzucht und der Vater, Victor („Dick“) White, züchtete auch Pferde. Man teilte das Leben zwischen einer großen Villa in Sidney und dem riesigen Fürstentum im Busch. Niemand weiß, weshalb die Mutter als Vornamen Patrick wählte, denn im Australien jener Zeit war dies der Name von irischen Dienstboten, Sozialistenführern und katholischen Priestern. „Paddy“, wie er in Australien gerufen wurde, kam im zarten Alter von vier Monaten in Sidney in die Obhut eines englischen Dienstmädchens, das vorher bei aristokratischen Fürsten in Deutschland gearbeitet hatte. Das Kind hatte bereits früh eine Neigung zu Asthma und war leicht erregbar. Zutiefst beunruhigt wurde der Dreijährige durch die Ankunft einer kleinen Schwester, was noch dadurch verschärft wurde, daß das alte Kindermädchen durch ein neues mit hartem, schottischem Akzent ersetzt wurde. Aber dann begann Patrick Lizzie, das neue Kindermädchen, sehr zu lieben, mehr als seine Mutter, die eine gewisse Distanz zu ihm hielt. Schon als Kind war er eher ein Einzelgänger, der zwar mit anderen Kindern spielte, aber keine Freundschaften schloß. Gertrude Morrice, Trauzeugin seiner Mutter und Patricks Taufpatin und ihre Mutter führten den Achtjährigen zum ersten Mal in Shakespeare ein. Er verstand nicht alles, wohl aber den Rahmen der Geschichten und seine Phantasie wurde tief erregt. Später setzte Gertrude Morrice diese Erziehungsarbeit ihrer Mutter fort, indem sie ihm zu Geburtstagen und zu Weihnachten Bücher von Aldous Huxley und D. H. Lawrence schenkte. Sodann begann er Sidney zu erkunden und entdeckte durch die Lektüre von Ellmanns Joyce-Biographie, daß viele Teile der Stadt irisch waren: die Menschen in den Straßen sahen aus und sprachen wie Dubliner. Noch nicht zehn Jahre alt publizierte er drei kleine Prosastücke in der von Kindern bestrittenen „Comic and Childrens Section“ der Sunday Times von Sidney. Die Eltern nahmen den Dreizehnjährigen mit nach England und ließen ihn allein im Cheltenham College, wo er eine Zeit voll Abscheu und Angst vor dem Haus-Aufseher verbrachte. Vierzehnjährig schrieb er das erste Fragment eines Patrick White und der australische Roman 374 Romans über eine gefährliche Frau und entdeckte, daß er homosexuell war. Dies verstärkte seine Neigung, sich abzukapseln. Er schickte Gedichte nach Hause und verließ das College frühzeitig, um nach Australien heimzukehren. Er wollte Schauspieler werden, doch überredeten ihn die Eltern zuerst ein Leben im Busch zu versuchen. Er leistete Gratisarbeit auf einer Schaffarm und begann im Lauf der Zeit, die Wildnis des Hochlands zu lieben. Hier las er die große australische Trilogie Fortunes of Richard Mahoney von Henry Handel Richardson. Später las er auch Kangaroo von D. H. Lawrence. Seine Mutter regte ihn an, die Geschichten von Katherine Mansfield zu lesen sowie den australischen Roman A House is built von zwei Frauen, die unter dem Namen M. Barnard Eldershaw schrieben. Als er die Schaffarm verließ, trug er in seinem Gepäck das Manuskript seines ersten Romans The Immigrants mit sich und den Beginn eines zweiten Romans Sullen Moon. Der Achtzehnjährige war pessimistisch, scheu und in sich selbst zurückgezogen. Der menschliche Charakter schien ihm aus Berechnung, Fehlern und Falschheit zu bestehen. Man schickte ihn noch ein zweites Mal zur Schafzucht in die Wildnis nach Barwon Vale bei Walgett. Sowohl seine Langeweile als auch seine Frustriertheit fanden ihren Ausdruck im Manuskript von Sullen Moon. Nun hatte sich seine Mutter entschlossen, Patricks Karriere in die Hand zu nehmen und ihr Plan war es, ihn zu einem Diplomaten zu machen, der auch Schriftsteller ist. Um ihn für die diplomatische Laufbahn vorzubereiten, schickte sie ihn in das englische Cambridge, und um seine schriftstellerische Laufbahn einzuleiten, ließ sie seine frühen Gedichte unter dem Titel Thirteen Poems als Privatdruck erscheinen. Er selbst hatte inzwischen neue Gedichte geschrieben und zwei der in Cambridge entstandenen wurden im London Mercury sowie in einer anspruchsvollen Anthologie abgedruckt. Einen neuen Band seiner Gedichte hatte seine Mutter unter dem Titel The Ploughman in der Beacon Press drucken lassen. Wie sie auch durchsetzte, daß sein frühes Drama, Bread and Butter Women, vom Bryant’s Playhouse in Sidney zur Aufführung angenommen wurde. Die Saison von 1935 wurde damit eröffnet und es wurde ein Erfolg. Nunmehr wurde es White selber klar, daß er eigentlich immer ein Schriftsteller hatte werden wollen und es war sein Wunsch, in London als Autor zu leben. Trotz aller Widerstände hatten ihm sowohl die praktische Unterstützung seiner Mutter als auch ein hohes monatliches Taschengeld, das ihm sein Vater aussetzte, sehr geholfen, diesen Plan auch in die Wirklichkeit umzusetzen. Die dritte und größte Hilfe aber war es, daß die Autorin und Broch-Übersetzerin Jean Starr Untermeyer 1939 das Manuskript seines Romans Happy Valley in New York Ben Huebsch von der Viking Press übergab und daß dieser es nicht nur zur Veröffentlichung annahm, sondern überhaupt zu dem „Felsen“ wurde, auf dem White seine schriftstellerische Laufbahn aufbauen konnte. Dazwischen Patrick White und der australische Roman 375 lagen allerdings Reisen und Aufenthalte in mehrere europäische Staaten, wobei neben England vor allem Deutschland und Frankreich eine Hauptrolle spielten sowie seine Reise nach New York 1939, und dazwischen lag auch eine Reihe von Bildungserlebnissen. Das erste der drei wichtigsten dieser Bildungserlebnisse war die Lektüre des religiösen Doppelromans des irischen Autors George Moore Evelyn Innes und Sister Terese, der von der Mitte der dreißiger Jahre bis in die fünfziger Jahre einen tiefen Einfluß ausübte. Ein noch wichtigerer Einfluß war jener des Ulysses von James Joyce, den White 1936 gelesen hatte. Die Sprachmusikalität sowie die verblüffende Technik des inneren Monologs faszinierten ihn und obwohl er den Roman an manchen Stellen langweilig fand, so war er doch von anderen Stellen so überwältigt, daß Joyce für ihn fast ein literarischer Gott war. White war ein moderner Autor. Sein erster gedruckter Roman, die Schreckensgeschichte Happy Valley, verwendet bereits die Technik des inneren Monologs. Allerdings hat dieser erste Roman noch eine klar entwickelte, wichtige und durchgehende Fabel. Die folgenden Romane sind mehr verinnerlicht und werden von den Charakteren dominiert. Dies hängt eng mit dem dritten besonders wichtigen Bildungserlebnis zusammen, dem Einfluß von Roy de Maistre. Dieser war für White damals der „am meisten gebrauchte“, „intellektuelle und ästhetische Mentor.“ 1 De Maistre hatte erklärt, daß ernsthafte Künstler immer modern waren. Wie er White auch aufgefordert hatte, sich immer an die Größten zu halten. White hat aber nicht weniger bezeugt, als daß es auch de Maistre gewesen sei, der ihn gelehrt hatte, zu schreiben, obwohl er ein Maler war. Was er damit gemeint hat, war, daß ihm die abstrakten Bilder die Einsicht beschert hatten, er müßte von innen heraus schreiben. Zuvor wäre sein Schreiben nicht mehr als eine Übung in Naturalismus gewesen. Jetzt aber war es so, als springe er einfach in den Raum und wenn er zuvor dort nichts gefunden hatte, dann war es jetzt so, als tauche man zum ersten Mal in ZEN hinein. Was aber die Stellung von Whites Romanen zum Chaos unserer Zeit betrifft, so hat der Autor der ausführlichsten und von ihm autorisierten Biographie dazu erklärt: „Die bekannte Situation in den meisten seiner Romane ist die einsame Gestalt“ des Helden, „die Erfüllung in einer Welt sucht, die zu Gemeinheit, Gewalt, Einsamkeit und Armut hin treibt.“ 2 Whites Gegenmittel sind die Bloßstellung der falschen Verächter, die Entlarvung von Illusionen, das kompromißlose Eintreten nicht nur für die Wahrheit, sondern auch für die Freiheit, sie schreiben zu dürfen, sowie die Neigung nicht zu dogmatisch-bürokratischer „Religiosität“, sondern zu mystisch-persönlichen Haltungen einer echten 1 David Marr: Patrick White. A Life. London 1991, S. 145. 2 David Marr, op. cit., S. 151. Patrick White und der australische Roman 376 Religiosität. Dazu gehört nicht zuletzt das Eintreten für eine neue Demut, die an Broch erinnert. Es ist nicht jene Demut, mit der einfache Seelen manches Mal geboren werden, sondern eine größere Demut, die dann entsteht, wenn Intellektuelle voll erfolgreich mit ihren Leidenschaften, ihrem Selbsthaß und ihrer Verzweiflung auf der Suche nach der Wahrheit gerungen haben. 3 Was die Freiheit der Meinungsäußerung betrifft, so war Australien eines der rückständigsten Länder im pazifischen Raum. Als der junge White zum ersten Mal aus England nach Australien zurückkehrte, hatte die Polizei in Sidney gerade nicht nur den Roman Im Westen nichts Neues, sondern auch das Decameron und die Gesammelten Werke von Aristoteles konfisziert. In späteren Jahren, 1970, trat White selbst als Zeuge in einem Prozeß auf, der gegen Philip Roths Roman Portnoys Complaint angestrengt worden war. Nach diesem Prozeß war es schließlich damals zumindest mit der Buchzensur in Australien vorbei. Mit der Demut machte aber White selbst zumindest insofern ernst, als er nicht nur eine Einladung als Ehrengast zu einem Weltkongreß des PEN in Deutschland ablehnte, sondern auch alle angebotenen Ehrendoktorate und die Mitgliedschaft als Fellow der britischen Royal Society of Literature. Einzig den Nobelpreis wünschte er und nahm ihn auch an, obwohl er einige Male behauptet hatte, auch diesen Preis nicht zu wollen. Was aber die Geistesfreiheit betrifft, so war er sein ganzes Leben kompromißlos dafür eingetreten, obwohl er im politischen Bereich einige Male eher naiv reagiert hatte. So hatte er die Gefahr des Faschismus nicht früh genug erkannt und hatte auf die Friedenspolitik von Chamberlain gesetzt. Für den Autor Patrick White war es viel wichtiger, andere Prioritäten zu setzen als jene der Tages- oder gar der Parteipolitik. Er war sich seiner oftmals grundsätzlich unpolitischen Haltung bewußt und hat ihren positiven Aspekt unterstrichen. So hat er seinen zweiten Roman The Living and the Dead betitelt, denn diese Unterscheidung im rein Menschlichen lag ihm vor allem anderen am Herzen. Es war die Unterscheidung zwischen jenen innerlich lebendigen Menschen, die sich ihrer persönlichen Verantwortung bewußt waren und fähig, sich mit anderen zu identifizieren und jenen innerlich „toten“ Menschen, die biologisch zwar am Leben waren, aber die den Mitmenschen gegenüber teilnahmslos und stumpf waren. Nachdem White sich in New York umgetan hatte und sodann auf den Spuren von D. H. Lawrence in den Sangre de Cristo-Bergen New Mexikos, in Kalifornien und auf Cape Code verweilt hatte, wurde er nach dem Fall Frankreichs 1940 von Schuldgefühlen befallen, daß er schließlich wieder im sicheren Manhattan saß. Er ging nach England und meldete sich zum Militär. Als Bürger Australiens, das ein Teil des britischen Commonwealth war und als Absolvent 3 Unveröffentlichter Brief an Ronald Reagan, zitiert bei David Marr, op. cit., S. 313. Patrick White und der australische Roman 377 einer englischen Eliteuniversität hoffte er, in England angenommen zu werden. Infolge seines schweren Asthmas wurde er zunächst jedoch abgelehnt. Er gab jedoch nicht auf, sondern begann für das Rote Kreuz zu arbeiten und setzte seine persönlichen Beziehungen ein, eine Position bei der englischen Luftwaffen- Abwehr als Intelligence Officer zu erhalten. Während der Wartezeit geriet er am 7.-September gleich beim ersten Luftangriff auf London in einen Bombenregen. Im November wurde er für die Special Duties Branch der Royal Airforce angenommen und arbeitete zunächst im unterirdischen Kommandozentrum Londons an Berichten über die deutschen Bombardierungen. Im März 1941 aber wurde er als Squadron Intelligence Officer der Ersten Südafrikanischen Air Squadron in Kassala (Sudan) nahe der Grenze von Eritrea zugeteilt. In Gesellschaft der südafrikanischen „Billy-Boys“ entwickelt sich der mißtrauisch Zurückgezogene zu einem Mann voll Vertrauen, der nicht nur aus sich herausging, sondern zu einer Art Psychoanalytiker vom Dienst für die ganze Squadron wurde. Nachdem die Italiener in Eritrea besiegt waren, wurde White mit seiner Squadron nach Amiriya bei Alexandrien versetzt. Als er eine Woche Urlaub erhielt, benützte er einen Empfehlungsbrief, um diesen in der herrschaftlichen Wohnung des Baron Charles de Menasce in Alexandrien zu verbringen, wo er in drei Sprachen mit Griechen, Franzosen, Ägyptern, Armeniern und Syrern konversierte. Hier traf er auf einer Party auch Manoly Lascaris. Der kleine, ungewöhnlich moralische Grieche hatte sich zur Königlich Griechischen Armee gemeldet und wartete auf die Einberufung. Er sollte zu Whites Lebensgefährten bis zum Ende seiner Tage werden. White wurde zum Hauptquartier der Dreizehnten Armee versetzt. Er machte den Krieg in Nordafrika mit und wann immer in der westlichen Wüste auf ihn geschossen wurde oder Bomben besonders gefährlich nahe fielen, sagte er sich: Es ist immer noch besser als Cheltenham College, denn hier will der Feind nur den Körper zerstören, aber nicht den Teil, der wichtig ist. Als er einmal den australischen Roman Eve Langleys The Pea Picker las, empfand er eine Sehnsucht nach Australien. Damals begann er den Entdecker-Roman Voss zu planen. Vom Spätsommer 1943 an war White in Palästina, um neue jüdische Flüchtlinge aus Deutschland nach Bombenzielen in ihren Heimatstädten zu befragen. Hier wurde White zu einem Anhänger des Staates Israel, obwohl er während der Terroranschläge der Irgun auf die Briten Palästina als ein schreckliches Land fand. Sodann ging es zurück nach Alexandrien. Im Januar 1946 rüstete er in einem Vorort von London ab und kehrte mit einer Handvoll von Medaillen ins Zivilleben zurück. Aber das Nachkriegs- London wurde zu einem Schock für ihn. Er fand die Ruinen einer verlorenen Welt und die Apathie der Menschen unerträglich. Er konnte sich vorstellen, in Griechenland zu leben. Aber sein griechischer Freund Lascaris war strikt dagegen. Der Australier wollte in Griechenland leben, der Grieche in Australien. Patrick White und der australische Roman 378 Whites schließlicher Entschluß in Sidney zu leben, ist als das größte Hasardspiel seines Lebens bezeichnet worden. 4 Sein erster Roman war von der australischen Kritik unisono als un-australisch abgelehnt worden. In einem Essay über den verlorenen Sohn bezog er sich vor allem auf einen Sohn, der dem Vaterland verloren ist. Sentimental war er in ein Land zurückgekehrt, das er in seiner Jugend verlassen hatte. Was habe ich gefunden? , fragte er sich. In alle Richtungen dehnte sich die berühmte australische Leere, in welcher der Geist das letzte aller Achtung ist, in welcher der reiche Mann der wichtige Mann ist, in welcher der Schulmeister und der Journalist bestimmen, welche intellektuelle Unterkunft es da gibt, in welcher wunderschöne junge Männer und Mädchen mit blinden blauen Augen in das Leben starren, in welcher menschliche Zähne fallen wie Herbstblätter, die Hinterteile der Autos stündlich großartiger werden, Essen Steak und Kuchen bedeutet, Muskeln vorherrschen und der Vormarsch der materiellen Schändlichkeit nicht das leiseste Erzittern der Nerven auslöst. Was er aber als Australier besonders scharf gesehen hat, das australische Chaos, war im Grunde identisch mit dem Chaos seiner, unserer Zeit schlechthin, nur daß die Augenfarbe manches Mal wechselte. Als er nach dem Krieg zum ersten Mal in Freemantle an Land ging, da bekannte er nicht nur ein: „Ich bin ein Fremdling aller Zeiten“, was David Marr seiner White-Biographie als Motto voranstellte, sondern er entsetzte sich auch über seine ersten Eindrücke. Da waren diese leeren, talgigen Gesichter und er mußte noch zugeben: „O Gott, ich fühle mit ihnen, denn ich weiß genau - sie sind, was ich bin und ich und sie sind auswechselbar.“ 5 Aber an die heimatliche, australische Buschlandschaft hatte ihn im Krieg in der nordafrikanischen Wüste plötzlich eine positive Erinnerung voll von Sehnsucht gepackt. Jedenfalls fand er mit Manoly Lascaris außerhalb von Sidney, in einer Senke hinter Castle Hill eine Mini-Farm von sechs Morgen mit einem voll möblierten akzeptablen Haus und einem Schweinestall. Die Liegenschaft gefiel ihnen, sie kauften sie und blieben hier viele Jahre bis zur Übersiedlung in das Zentrum Sidneys, Whites letzte Bleibe seines Lebens. Sie pflanzten vier Dogwoods und tauften den kleinen Besitz „Dogwood“. Von sechs Uhr früh bis elf Uhr abends arbeiteten die beiden wie die Bauern. Bilder der Zeit zeigen White beim Melken einer Kuh und Lascaris mit einem Wurf von jungen Hunden in seinen Armen. Die besorgte Anfrage des Verlegers Ben Huebsch, ob die kleine Farm nicht Whites Schreiben beeinträchtigen könnte, war nur allzu berechtigt. Es dauerte auch zweieinhalb Jahre, ehe White das Manuskript seines nächsten Romans, The Tree of Life, fertigstellen konnte. Er spielte in Castle Hill. 4 David Marr, op. cit., S. 244. 5 David Marr, op. cit., S. 243. Patrick White und der australische Roman 379 In diesem Roman hatte White versucht, einfache Menschen mit und in ihrer eigenen Sprache zu beschreiben und er hatte die Umgangssprache seiner Nachbarschaft studiert. Nach dem Erscheinen des Buches überfiel ihn aber die Angst, daß die Sprache nicht genau genug wäre. Er hat dies im nächsten Roman über den australischen Entdecker Voss zu verbessern versucht. Sein Stil wurde in den späteren Büchern zunehmend tatsächlich noch präziser. Nach siebzehn Jahren beschlossen die beiden Freunde White und Lascaris in das Zentrum von Sidney zu ziehen. Sie kauften ein Haus in der Martin Road, in dem White bis zu seinem Tod leben sollte. Kurze Zeit hatte White mit dem Gedanken gespielt, nach Adelaide zu ziehen. Lascaris aber warnte ihn, daß er dort nicht genug Leute finden würde, mit denen er streiten könnte. Vorfahren von Lascaris waren byzantinische Kaiser gewesen, von deren Klugheit und Scharfsichtigkeit er einiges geerbt hatte. In jener Zeit war White ein Gläubiger ohne eine bestimmte Konfession, wenn er auch in Christus einen der Wege sah, in denen Gott selbst sich enthüllte. Er begann esoterische Traditionen zu entdecken und war schon ein Jahr vor der Übersiedlung nach Australien in London durch den Maler Lawrence Daws in den esoterischen Tarot eingeführt worden. Auch C. G. Jung begann tiefer in sein Bewußtsein zu treten und die Idee, eine Mandala seines Lebens zu kreieren, um eine Ganzheit zu schaffen, wurde ihm so wichtig, daß er seinen nächsten Roman Die ungleichen Brüder schrieb, der im englischen Original The solid Mandala hieß. Auch das I-Ging und C. G. Jungs Buch über Alchemie begannen ihn zu beschäftigen. Angekündigt hatte sich diese Entwicklung bereits fünf Jahre vor dem Erscheinen der Ungleichen Brüder in seinem Roman Die im feurigen Wagen. 6 Hier werden in einer Art höher entwickelter, gedanklicher Fortsetzung des Romans The Living and the Dead vier „lebendige“ Personen, jene im feurigen Wagen der großen, tauben, „toten“ Menge der australischen Spießer gegenübergestellt in all ihrer bösartigen Heuchelei, boshaften Gemeinheit und grenzenlosen Dummheit. Diese sind aber keineswegs eine australische Besonderheit, sondern gleichen den europäischen, nord- und südamerikanischen Spießern wie jenen der großen Städte Asiens und Afrikas wie ein Ei dem anderen. Es ist jener Menschentyp, der bei gradueller Radikalisierung und Fanatisierung schließlich zum Träger totalitärer Vollversklavung führt. Wenn mitunter von der Kritik White vorgeworfen wurde, er biete keine Lösungen an, dann wird dabei übersehen, daß die Darstellung, Analyse und Enthüllung der Wahrheit über diesen Menschentyp mit seinen Gefahren bereits den ersten wichtigen Schritt aus dem Chaos heraus bedeuten. In der Entlarvung der Gefährlichkeit des Spießers zeigt sich auch eine echte Parallele zu Broch. 6 Patrick White: Die im feurigen Wagen. Köln 1969. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe Reinbek bei Hamburg 1974. Patrick White und der australische Roman 380 Der breiten Skala der Spießermöglichkeiten werden vier Vollmenschen gegenübergestellt: die eigenartige, angeblich schwachsinnige Miss Mary Hare, Erbin eines langsam verfallenden, palastähnlichen Herrenhauses des riesigen Gutes Xanadu, das im Tal nächst einem australischen Dorf liegt, die arme Wäscherin Mrs. Ruth Godbold, eine Methodistin, die in einer armseligen Bretterbude am Rande des Dorfes auf dem Weg nach Xanadu lebt, Alf Dubbo, der wie ein Schwarzer aussieht, aber der ein Halbblut ist, halb Weißer, halb Aborigines, von den Freunden kurz „Abo“ genannt, ursprünglich von einem weißen anglikanischen Pastor und dessen Schwester aufgezogen, und schließlich Mordechai Himmelfarb, ein deutscher Jude und Universitätsprofessor, der nach dem Krieg in Australien als Flüchtling, als Refugee eingewandert ist und oft einfach „Refo“ genannt wurde. Das gemeinsame Motiv, das die vier zusammenhält, ist der feurige Wagen. Daß jeder der vier Charaktere diesen Wagen aus einer anderen Perspektive sieht, vertieft und verdeutlicht zugleich dessen Funktion und Sinn. Miss Hare hat den Wagen oder eine Vision von ihm gesehen und erwähnt ihn gegenüber Mrs. Godbold und Mr. Himmelfarb, die sie ebenso wie den Schwarzen „zufällig“ in der verwilderten Landschaft ihres verfallenden Gutes trifft. Mrs. Godbold, eingewandert wie Mr. Himmelfarb, singt über den Wagen sogar ein Kirchenlied: ER, der Herr im Feuerwagen Fährt empor in seiner Macht. Am meisten versteht noch Himmelfarb davon, obgleich er, wann immer er glaubt, dieses Sinnbild begriffen zu haben, eine neue Form davon entdeckt. Einmal ist er an den Thron Gottes erinnert, der in der ältesten Phase jüdischer Mystik, der Merkaba-Mystik in Form eines blendend leuchtenden Thronwagens erscheint. Das Erblicken des Wagens allein bedeutete innere Erleuchtung. Auf dem Pfad seines Nach-innen-gerichtet-Seins versteinert er einmal angesichts des Wagens vor seinem eigenen Bild. Als er aber im Bombenregen eines alliierten Luftangriffs auf seine deutsche Heimatstadt Holunderthal (Hannover) dahinwandelt, hat er das Gefühl, gedeckt vor der Gefahr unter den Rädern des feurigen Wagens zu gehen. Und obwohl er weiß, daß das Erretten der Menschen aus dem Geröll ihrer eigenen Ideen niemals eine Ende finden wird, ist ihm klar, daß nur der feurige Wagen selbst aufrecht und schweigend, durch nichts abzulenken, dahinrollt. Als ihm aber Miss Hare sagt, daß er, ein gelehrter Mann, mehr von diesem Wagen gefunden hat und weiß, als er sagen will, da antwortet er: „Aber nicht von den vieren im feurigen Wagen! Ich kann sie mir nicht vorstellen, ich kann sie nicht begreifen! “ Der schwarze „Abo“ Alf Dubbo aber kann das: nicht durch das Medium begrifflicher Sprache, sondern als Maler durch eine von ihm gemalte Vision, vielleicht weil er durch das Erbe urtümlicher Abkunft die Gabe einer zusätzlichen, Patrick White und der australische Roman 381 instinktiven Perspektive besitzt, wie ja bei White Intuition und Gefühl immer wichtiger sind als der Intellekt. Natürlich hat das Bild des feurigen Wagens auch in der Vorstellungskraft und Phantasie Alfs eine längere Entwicklung durchgemacht und erst ziemlich am Schluß des Romans gelingt ihm in seinem letzten Bild eine Vision der vier im Wagen. Ganz wie er aber bei seinem vorletzten Bild der Kreuzabnahme des Märtyrers Himmelfarb den Körper des Gekreuzigten nicht lebensecht, naturalistisch darzustellen wagte, so konnte man auch den feurigen Wagen nur ahnen und nicht genau sehen. „Aber gerade diese Andeutung wurde um so mehr zur Gloriole und ließ ihn durch den Himmel flammen und in die Seele des Beschauers.“ 7 Die vier Gestalten, „wie Tiere“ im Wagen, konnte Alf Dubbo in seinem Bild nicht umgehen: „Die erste Figur war wie aus Marmor, massig, weiß, unantastbar. Eine zweite war in Draht gefaßt, mit einem Stern innerhalb des Käfigs und einer Krone aus Stacheldraht. Wind kräuselte das harsche, fuchsfarbene Fell der dritten und verflachte die Schweinsschnauze, während das menschliche Auge alles, was je im Bereich möglichen Geschehens lag, widerspiegelte. Die vierte war aus blühenden Zweigen und verstreuten Blättern konstruiert, aber der Kopf war wie ein wirbelndes Spektrum. Wie sie einander auf der Längsseite des Wagens gegenübersaßen, erleuchteten die Seelen seiner vier Lebewesen ihre Körper in verschiedenen Farben. Es waren Mrs. Godbold, Mordechai Himmelfarb, Miss Hare und Alf Dubbo selbst. „Ihre Hände, die er offen malte, hatten bereits ihre Leiden überwunden, aber noch nicht ihre Seligkeit empfangen.“ 8 Es ist aber offenkundig, daß der feurige Wagen sie zu diesem Ziel bringen wird. Himmelfarb, bevor er noch Ordinarius für englische Sprache und Literatur in Holunderthal wurde, fand beim jüdischen Antiquar Rutkowitz ein paar kabbalistische und chassidische Werke aus einer Sammlung in Prag. Er war fasziniert von ihnen und kaufte sie. White läßt ihn allerdings einmal auch die „Meister“ und Rabbis des Chassidismus, die „Zaddiks“ mit den sechsunddreißig geheimen „Lamedwowniks“ oder Gerechten verwechseln, welche die Erde im Gleichgewicht halten. Der sterbende Himmelfarb aber fühlt sich einmal als der Mann Kadmon, der vom Baum des Lichts herabkam, um die Braut zu holen. Der schwarze „Abo“ jedoch, aufgezogen von einem anglikanischen Pastor, der aber das Christliche aufgegeben hatte, malt auf seine eigene Weise ein Bild von Schadrach, Meschach und Abednego, die drei hebräischen Kinder in der babylonischen Gefangenschaft, die sinnbildlich für Todesmut und Standhaftigkeit stehen und die aus dem apogryphen Buch Daniel stammen. Zusammen mit ihnen aber malt er den Engel des Herrn, der ganz aus dem Chaos des Geistes emporgetaucht war, um sie zu beschützen. 7 Die im feurigen Wagen, op. cit., S. 509. 8 Die im feurigen Wagen, op. cit., S. 509. Patrick White und der australische Roman 382 Das vorletzte Bild, das Abo malte, ist eine freilich eigenartige Kreuzabnahme. Es ist Mordechai Himmelfarb, äußerlich herabgekommen vom Universitätsprofessor zum Fließbandarbeiter, der den ganzen Tag Löcher in runde Blechplatten stanzt, der die entsetzlichen Judenverfolgungen in Deutschland und die Verschickung in ein Vernichtungslager in Polen überstanden hat, der aus der relativen Sicherheit des Staates Israel freiwillig weg als Diaspora-Jude nach Australien ging und hier von seinen Arbeitskollegen „aus Spaß“ an einen Baum gebunden wurde, in einer Weise, die einer Kreuzigung glich, was den auktorialen Erzähler der Episode dazu brachte, ihn einen Christ-Juden zu nennen. Mrs. Godbold stellte dazu am Karfreitag fest: „Auch Himmelfarb ist am Freitag gestorben.“ Es ist, wie in Kazantzakis Griechischer Passion eine Wiederkreuzigung, nur daß sie bei White subtiler und radikaler zugleich durchgeführt ist. Der schwarze „Abo“ hatte es in seinem Bild völlig klargemacht: Da ist Himmelfarb als Christus, Mrs. Godbold als „erste Maria“ und Miss Hare als „zweite Maria (Magdalena). Dem Abo selbst fiel die Rolle des Petrus zu, der Christus drei Mal verraten hat. Der Fabrikbesitzer aber, bei dem Himmelfarb gearbeitet hatte, ein konvertierter Jude, der zum Katholizismus übergetreten war, ist der Judas, der, an ihm schuldig geworden, sich nach der Kreuzigung Himmelfarbs erhängt. Aber nicht nur durch die Kreuzigung Himmelfarbs sind die vier im „feurigen Wagen“ im Roman vereinigt, sondern ihre Einheit geht noch weiter: Patrick White hatte an seinen Verleger Ben Huebsch, dem der Roman auch gewidmet ist, geschrieben, daß er folgendes Faktum unterstreichen und besonders betonen wollte: alle seine vier im feurigen Wagen, „ein intellektueller jüdischer Flüchtling“, einmal auch als versteckter Zaddik apostrophiert, ein „verrückter ‚Erdgeist‹ einer australischen alten Jungfer, eine evangelische Wäscherin und ein Halbblut von weißen und Aborigines sind bei aller äußerlichen Verschiedenheit ihres Glauben, ob nun religiös, humanistisch, instinktiv oder als künstlerischer Akt des Lobpreisens im Grunde eins.“ 9 Wie aber das Chaos im Gehirn der Spießer in die Wirklichkeit umschlagend durch die Kreuzigung eines jüdischen Flüchtlings diesen zu einem wieder gekreuzigten Christus macht, so stehen die vier in ihrem feurigen Wagen trotz all ihrer Verschiedenheit diesem Chaos als Vertreter der positiven Kräfte von Anständigkeit, Hilfeleistung und Liebe entgegen. Da der Roman schließt, sind zwar drei von ihnen tot, aber Mrs. Godbold lebt nicht nur, sondern hat durch ihre Nachkommen die Vertreter des Positiven vervielfältigt. Das Schlußbild des Romans zeigt sie, wie sie von hinten in ihrer massigen Erscheinung unter der ausgeweiteten Strickjacke beinahe komisch wirkte. „Nur wenige gab es“, heißt es, „die zufällig auch bemerkten, daß sie auch die Krone trug.“ 9 Die im feurigen Wagen, op. cit., S. 544. Patrick White und der australische Roman 383 In einer Welt des Zerfalls und Chaos, der Beschränktheit und des Bösen bildet zuletzt die arme dicke Wäscherin den einzigen Trost, nicht nur durch ihr Überleben, sondern auch durch ihre Kinder. Jedoch es gibt außer diesem „praktischen“ Trost auch noch einen geistigen, den Patrick White bestimmt nicht unterschätzt wissen wollte. Es sind die beiden späten Meisterwerke der Malerei des Abo. Sie werden nach dessen Tod an Unbekannte versteigert und sie enthalten seine Botschaft an die Nachwelt über die eigenartige Kreuzabnahme und über den feurigen Wagen. Gewiß ist die Chance, daß sie in die Hände von stumpfen und dümmlichen Menschen gelangen, sehr groß. Aber Patrick White hatte sich in seinen späteren Jahren ein eigenes Verzeichnis angelegt von seltsamen „Zufällen“, die einen tieferen Sinn haben und er hat bestimmt auch in diesem Fall ein gutes Stück echter Hoffnung gesehen, daß die Flaschenpost dieser Bilder in die richtigen Hände gerät. White schritt als Autor weiter. Es folgte das Mandala-Buch Die ungleichen Brüder, und einer seiner australischsten Romane Der Maler. Sein englischer Originaltitel erinnert an die schriftstellerischen Anfänge Robert Musils. Während der deutsche Titel aber den Beruf des Helden unterstreicht, fördert er doch auch die Möglichkeit des Mißverständnisses. Viele Kritiker hielten als Modell der Wirklichkeit für diesen Hauptcharakter Sidney Nolan, einen der berühmtesten Maler Australiens jener Zeit und engen Freund von White, den er sogar nach Stockholm schickte, um den Nobelpreis für ihn entgegenzunehmen. Tatsächlich ist der Held aber eine der zahlreichen Selbstdarstellungen Whites, der nicht zufällig durch einen Maler - de Maistre - wirklich zu schreiben lernte und der die parallele Kunst benützte, um allgemeine Wahrheiten über den schöpferischen Prozeß niederzulegen. Im Grunde war White im weitesten Sinn ein Traditionalist. Das zeigt sich nicht nur auf der geistigen Ebene in seinem zunehmenden Bemühen, zumindest für ihn verschüttete esoterische Traditionen wieder freizulegen und dichterisch zu verlebendigen, sondern es zeigt sich auch auf der vordergründig praktischen Ebene des Alltagslebens. Er liebte es, gemeinsam mit Manoly einen Ausflug zum Mount Wilson zu machen, zurück zur Landschaft seiner Kindheit, um das alte Ehepaar Sid und Lizzie Kirk zu besuchen. Später, bei seinen Attacken gegen Atomwaffen, nannte er als menschliche Leitbilder, die sich aus ethischen Gründen nicht an materielle Güter binden wollten, Gandhi, Aldous Huxley, Spinoza, die Evangelien und den amerikanischen Dichter- Mönch Thomas Merton. Die ganzen letzten Jahre hatte er in seinem Bewußtsein den Roman Im Auge des Sturms mit sich herumgetragen. Der Roman Die im feurigen Wagen behandelt als Thema gesellschaftliche, politische und religiöse Probleme, dargestellt, am Beispiel ganz kleiner Leute. Obwohl er in Australien spielt, ist seine vielleicht wichtigste Figur ein deutscher Jude, Flüchtling und Einwanderer. Auch Mrs. Godbold ist eine Einwanderin. Der Roman war in dem Augenblick ge- Patrick White und der australische Roman 384 boren worden, als ein stupider australischer Taxifahrer seinen Fahrgast Patrick White für einen Ausländer hielt und ihn aufforderte: „Go back to Berlin! “ Der neue Roman hat eher als Thema die Privatsphäre der Familie und nur die Haushälterin, im Grunde eine wenngleich eindrucksvolle Nebenfigur ist keine Australierin. Im Auge des Sturms 10 ist die sechshundert Seiten lange Darstellung des Sterbens und Todes einer reichen Australierin, in kaum einer Weise politisch, sondern doppelt privat, da das Modell der Sterbenden - zumindest auf der vordergründigen Ebene - Patrick Whites Mutter darstellt, die im Roman den Namen Elizabeth Hunter trägt. Eingeblendet in die Darstellung dieses Sterbens selbst ist das größere Umfeld dieses Sterbens, sind die Charaktere von Sohn und Tochter, der drei Krankenschwestern, des Rechtsanwalts, der Haushälterin und der Bedienerin. Die genaue Darstellung dieses Umfeldes setzt über den Akt des Sterbens selbst hinaus die übliche, unerbittliche Wahrheitserforschung fort, die mitunter von der Perspektive eines auktorialen Autors her dargestellt wird, weitaus öfter jedoch durch erlebte Rede und inneren Monolog der verschiedenen Charaktere und besonders durch Rückblenden, die für den Gesamtzusammenhang von Belang sind. White selbst hat mit angelsächsischer Untertreibung darüber erklärt: „Der Roman zielt darauf ab, die dunkleren Absichten im Leben der Hauptcharaktere zu betonen, von denen einer ein Schauspieler ist, der als Lear versagt hat, wie die meisten Schauspieler und der mit seiner Schwester nach Australien zurückkehrt, um ihre alte Mutter zu überreden, daß sie stirbt.“ 11 Obwohl dies durchaus richtig ist, sagt es sehr wenig über das Wesen dieses Romans aus. Wichtig ist der Begriff der „dunkleren Absichten“, der den Anfangsversen des King Lear entnommen ist. Die Figur dieses Dramas ist eines der Motive, die sich durch das ganze Buch ziehen. Fast erhellender als die Erklärung des Autors zu dem Roman ist die Äußerung einer der Charaktere, einer Krankenschwester. Nach dem Tod der Sterbenden beantwortet sie die Frage, was denn so besonderes an dieser Mrs. Hunter gewesen sei mit dem Hinweis: „Man hatte das Gefühl, wenn man nur lange genug herumhängt, dann kann man vielleicht herausfinden, was man selber zu erwarten hat.“ 12 Es ist Patrick Whites Roman der Todeserkenntnis. Von der Todeserkenntnis her aber erhellen sich Charakter und Schicksal nicht nur der Sterbenden selbst, sondern auch der sie umgebenden Personen in besonders weitgehender Weise. Daraus entsteht ein bewegendes Bild der Conditio Humana nicht nur allgemein, sondern auch besonders in Hinblick 10 Patrick White: Im Auge des Sturms. (= Nobelpreis für Literatur, Bd. 68), Zürich 1973. 11 David Marr, op. cit., S. 494. 12 Im Auge des Sturms, op. cit., S. 619. Patrick White und der australische Roman 385 auf unsere Zeit und das diese überschattende Chaos. Wie sehr es White um die ganze Wahrheit geht und weshalb der Roman ungewöhnliche Realitätspartikel erschließt, zeigt bereits ein Satz der zusammenfassenden Darstellung von Mrs. Hunter, nach welcher sie einerseits böse, brutal und zerstörerisch ist, andererseits aber mehr von der Wahrheit weiß als die meisten anderen Menschen. 13 Es gibt jedoch noch weitere Implikationen, die über den eigentlichen Gehalt wesentlich hinausgehen. White war so sehr Musikliebhaber und Musikkenner, daß er während der Arbeit an seinen Romanen Musik spielte und bestimmte Arten von Musik den einzelnen Romanen zuordnete. Der Komponist für Die im feurigen Wagen war Bach, der Komponist für Im Auge des Sturms war Mahler. Was den Gehalt des Romans betrifft, so war Mrs. Hunter als Kind in geflickten Kleidern in einem heruntergekommenen Farmhaus aufgewachsen, ein „tölpelhaftes, ungemein eitles kleines Mädchen“, das sich danach sehnte, kostbare Juwelen zu besitzen, dann aber auch, andere Menschen zu besitzen, die ihr gehorchen und die sie lieben würden. Der Besitz der Juwelen und der Besitz von Menschen gelingt ihr voll, doch geliebt wird sie zuletzt nur von einer ihrer drei Krankenschwestern und von ihrer Haushälterin. Die zwei großen Mysterien von Whites Welt, Gott und die Liebe, werden in dieser grandiosen Darstellung eines Sterbens von vielen Perspektiven her beleuchtet und geklärt. Um dies zu vollbringen, setzt Patrick White nicht nur die Darstellung eines auktorialen Autors, sondern eben auch in hohem Maß erlebte Rede und inneren Monolog ein, indem er von innen her erzählt. In der Lebenswirklichkeit hatte White bereits in den Sechzigerjahren in London den Plan gefaßt, sich nicht nur um die Finanzen seiner Mutter zu kümmern, sondern auch, sie der Pflege der blauen Nonnen anzuvertrauen. Beides war von der Mutter zurückgewiesen worden. Schon damals hatte er geplant, einen Roman aus diesen Vorfällen zu machen, der freilich nicht in London, sondern in Sidney spielen mußte, denn es war Sidney „das er in seinem Blut hatte.“ Der Charakter der Mutter in seinem Roman ist so reich und herrschsüchtig, wie sie auch im Leben gewesen war, doch trägt sie den Namen Hunter. Obwohl er aber seine Schwester Suzanne (im Roman Dorothy) zu einer Prinzessin durch Heirat macht und ihr auch wesentlich besseren literarischen Geschmack zuschreibt, als sie in Wirklichkeit besessen hatte, und obwohl der Romancharakter des Sohnes (also sein eigener) im Roman Basil, ein weltberühmter gefeierter Schauspieler ist, der von der englischen Königin geadelt wurde, ist die Darstellung der wahren Charaktere im Roman alles andere als Schönfärberei und ist sie von einer Schonungslosigkeit geprägt, die an den berühmten Ausspruch von Ibsen gemahnt, wonach Dichten nichts anderes sei, als des Autors Gerichtstag halten über sich selbst. 13 Im Auge des Sturms, op. cit., S. 189. Patrick White und der australische Roman 386 Verschieden von der Lebenswirklichkeit sind im Roman die Äußerlichkeiten der Personen, während das Wesentliche ihres Charakters von geradezu erschrekkender Wahrheitsoffenlegung gezeichnet erscheint. David Marr, der ausführlichste Biograph Whites, hat den Beruf des Schauspielers des Romancharakters Basil Hunter zum Anlaß genommen, darauf hinzuweisen, wie Whites fiktionale Charaktere nicht nur erstaunliche Erfindungen, sondern zugleich auch große schauspielerische Leistungen sind, die ihn in seiner Phantasie beherrschen und ihm ihre Dialoge diktieren, so daß er Schauspieler, Regisseur und Publikum in seinem „Theater des Geistes“ in einer Person ist. 14 Aber die Gesamtgestaltung des Romans ist wesentlich komplexer als gewisse Parallelen in den Zügen der wirklichen Ruth White, der wirklichen Suzanne White und des wirklichen Patrick White in den ihnen entsprechenden Romancharakteren. Denn obwohl der Kern der alles dominierenden Hauptfigur Elizabeth Hunter Whites Mutter Ruth entspricht, ist ihr Gesamtcharakter doch viel theatralischer, eindrucksvoller und noch großartiger als das lebenswirkliche Modell im Guten wie im Bösen. Der Grund dafür ist jedoch kein anderer, als daß diese Mrs. Elisabeth Hunter im Grunde eine Maske von Patrick White selbst ist, eine seiner zahlreichen Selbstdarstellungen, wiederum jedoch weit entfernt von Schönfärberei. 15 Der Roman setzt ein mit einem Dialog zwischen der sechsundachtzigjährigen Mrs. Hunter und der besten ihrer drei Krankenschwestern, Mary de Santis, die sie in Acht-Stunden-Schichten gemeinsam mit zwei anderen Krankenschwestern und der Haushälterin seit fünfzehn Jahren pflegt. Etwas später, in einem Dialog zwischen Mrs. Hunters Sohn Sir Basil Hunter und ihrer Haushälterin, der deutschen Jüdin Lotte Lippmann, der es gelang, der Verfolgung in Deutschland zu entfliehen, während ihre Eltern in einem Vernichtungslager ermordet und verbrannt worden waren, fragt sie der Sohn: „Wie kann man etwas lieben, das böse, brutal und zerstörerisch ist? “ Die Haushälterin stimmt zu, das alles sei Mrs. Hunter, „aber sie weiß auch mehr von der Wahrheit als die meisten anderen Menschen“. 16 Das Motiv des Titels taucht an mehreren Stellen auf, von denen die weitaus ausführlichste und wichtigste jene gegen Schluß des achten Kapitels ist. Hier erlebt und durchlebt Mrs. Hunter auf ihrem Sterbebett in einer Art Rückblende in einem großen inneren Monolog zum zweiten Mal einen Zyklon, der sie einsam in einem Farmhaus auf einer kleinen Insel überrascht hatte. Der Zyklon war über die Insel hinweggefegt, zuerst mit seiner zerstörerischen Gewalt, die 14 David Marr, op. cit., S. 495. 15 Diese Tatsache hat David Marr enthüllt. Patrick White, der das Manuskript seiner Biographie sehr genau gelesen hat, ehe er sie autorisierte, hat keinen Anstoß an dieser Enthüllung genommen, wenn sie nicht sogar von ihm selber stammt. Vgl. David Marr, op. cit., S. 496. 16 Im Auge des Sturms, op. cit., S. 189. Patrick White und der australische Roman 387 das ganze Haus vernichtet hatte, sodann mit der geradezu atemlosen Stille des „Auges“ seiner Mitte und schließlich mit bereits abnehmender Gewalt mit seiner zweiten Hälfte. Im Rest des Kapitels sowie in den elf anderen Kapiteln wird gezeigt, wie im praktischen Leben auf einer metaphorischen Ebene die zerstörerischen Mächte und die zerstörerischen Kräfte des Wertzerfalls und Chaos durch fast alle sie umgebenden Menschen rasen, in deren Mitte sich gleichsam das ruhende Auge des Sturms bildet. Die Metapher des Titels reicht aber noch viel weiter, denn sie umfaßt den Großteil der Menschen von Patrick Whites Zeit. Natürlich gibt es Ausnahmen und in der Umgebung von Mrs. Hunter sind die zwei großen Ausnahmen und menschlichen Leitbilder die selbstlos idealistische Schwester De Santis, die hinter ihrem Rücken „St. Mary“ genannt wird und die jüdische Haushälterin, die nach dem Tod Mrs. Hunters erklärt „Unser Alles ist uns genommen worden! “ Und sich selbst das Leben nimmt. Der Roman beginnt mit Schwester De Santis und endet mit Schwester De Santis, wie der Roman Die im feurigen Wagen mit Mrs. Godbold endet als einem kleinen, aber doch vorhandenen Hoffnungsschimmer und Trost. Er endet aber, nachdem die Asche von Mrs. Hunter über den See ausgestreut worden war, der in dem Park ihrem Haus gegenüber lag, genau so, wie Patrick White in seinem Testament festgelegt hatte, daß es mit seiner Asche geschehen sollte. Eine der Krankenschwestern vernachlässigt die Sterbende durch Schlamperei, die zweite macht sie zum Opfer ihrer Launen. Der elegante und vornehme Anwalt und Freund der Familie stiehlt der Sterbenden ein wertvolles Schmuckstück. Der Sohn und die Tochter verbünden sich und wollen sie in ein Pflegeheim geben, um ihren Tod zu beschleunigen, damit sie früher erben können. Es gibt Augenblicke, in denen sie selbst aufgeben möchte und einmal bittet sie eine Krankenschwester, die Schlaftabletten, die der Arzt ihr verschrieben hat, in ihre Reichweite zu rücken, damit sie sich selbst bedienen kann. Die Schwester jedoch, aus berechtigter Angst sodann dafür verantwortlich gemacht zu werden, lehnt das Ansuchen ab. Bis der Tag herankommt, auf den sie sich vorbereitet hat. Sie läßt sich schminken, verlangt nach einer ihrer Perücken, nimmt so viel ihres kostbaren Schmucks als möglich an sich. Und läßt sich aufrecht auf ihren Leibstuhl setzen, der entfernt an einen viktorianischen Thron erinnert. Sodann nimmt sie alle Kraft zusammen, um ihr Herz zu zwingen, aufzuhören zu schlagen. Während die Schwester in einem Nebenraum ist, gelingt es ihr und sie geht völlig ein in die endgültige atemlose Stille des Auges inmitten des Sturms der zerstörerischen Kräfte um sie. Die hier ausgesparten Details machen alles noch erbärmlicher und grausamer. „Ich frage mich“, bekannte Patrick White ein, „ob jedermann herausfinden wird, daß es höllisch zu lesen ist“. 17 Das Höllische daran legt sich im ein- 17 David Marr, op. cit., S. 513. Patrick White und der australische Roman 388 fühlsamen Leser zu einem unendlichen Mitleid mit der einst so imperialen und machtgewohnten, nun aber wehr- und hilflos einsam sterbenden Mrs. Hunter um, die sich nicht nur des zunehmenden körperlichen, sondern auch geistigen Verfalls in schmerzlichster Weise bewußt ist. Sie versteht zunehmend, daß ihr einziger und letzter Ausweg aus dem sie umbrandenden Sturm der Stumpfheit und Feindseligkeit ihrer Umgebung in der Erlösung durch das Überschreiten der Todesschwelle liegt. Mit Ausnahme der Haushälterin und der Schwester De Santis sind sie alle blind für ihr Martyrium und das Höllische wird nicht durch den Autor geschaffen, sondern nur freigelegt und dargestellt, und es besteht in der Blindheit der sie umgebenden Menschen. Der Redner der Verleihungsrede des Nobelpreises hat allerdings geschlossen, daß Whites Bücher dadurch „jenen Trost spenden, der immer präsent ist in aller Düsternis“ durch die „Überzeugung, daß es etwas Höheres gibt, für das es sich zu leben lohnt, als das, was unsere ständig vorwärts eilende Welt zu bieten scheint“. 18 Zweifellos steckt aber auch im scheinbar Negativen, im Verachten der Verächter, im Demaskieren menschlicher Illusionen, im Demaskieren menschlicher Erbärmlichkeit eine zutiefst positive Kraft. Die Analyse und genaue Präsentation des Chaos ist im Grunde eine Voraussetzung seiner Überwindung. Für die unheilbar Kranke, die Sterbende, die auf ihre eigene Art weiß, daß der völlige geistige Verfall, daß „das Chaos drohte …“, war es der Ausweg, alle Kraft zusammenzunehmen, um zu sterben und in einem inneren Monolog verrät White ihren letzten Gedanken: „Alfred mein Liebster, Liebster“, (ihr toter Gatte), „du bist es, an den ich mich um Hilfe wende, so sehr ich auch versagt habe“. 19 Es ist ein letzter, stummer Aufschrei um Liebe. Es wurde gesagt, daß sich die Literaturkritik nur schwerlich mit der Schärfe des Urteils abfand, das White über die vielen Menschen, die er innerlich als „tot“ empfand, gefällt hat und daß seine Ausnahme nur solche Menschen waren, „die es zu irgendeiner Art von Mystik drängt“. 20 Man ist an die positive Radikalität eines Meister Eckhart oder Origines gemahnt, der gelehrt hat, daß sich der Logos (Christus) nur mit der eines Abfalls schuldigen Seele vereinige, die sich von allem Weltlichen abgeschieden hat, nur für Gott lebt und eins mit ihm wird. Das Göttliche und die Liebe sind Whites zentrale Belange. Den Krieg, den er in Nordafrika mit all seinen Abscheulichkeiten kennengelernt hat, verabscheute er. Er hat versucht, gegen Atomwaffen aufzutreten. Und er ist stets ein Mann verantwortungsbewußter Freiheit gewesen. 18 Artur Lindqvist: Verleihungsrede. In: Im Auge des Sturms, op. cit., S. 17. 19 Im Auge des Sturms, op. cit., S. 596. 20 Helmut M. Braem: Leben und Werk von Patrick White. In: Im Auge des Sturms, op. cit., S. 35. Patrick White und der australische Roman 389 Was seine Haltung im Praktischen betrifft, so gibt eine gute Zusammenfassung die späte Rede, die er im Juli 1988 an der La Trobe University gehalten hat. Der Zuhörerraum war nicht gefüllt, sondern überfüllt. Sein Thema war ein Hauptthema seiner Romane, die Wahrheit. Er sprach von der Notwendigkeit, Lügen entgegenzutreten: Lügen der Eltern für ihre Kinder, Lügen der Politiker, Lügen der unwahren Anpreisung von Waren und er endete mit einem Gebet für die Alten, Kranken, Armen und Aborigines. Außerdem betonte er seine Überzeugung, wonach die meisten Menschen sich nach einer Spiritualität sehnen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewußt sind. Wenn die Machthaber diese Sehnsucht der Psyche ignorieren sollten, gingen sie eine große Gefahr ein. Der Sinn des wahren Daseins - die Lebensenergie - (man erinnert sich an den élan vital von Kazantzakis) könnte völlig ausgetrieben werden aus einer Gesellschaft, deren Führer besessen sind von Geld, Muskeln und Maschinen. Eine solche Gesellschaft könnte einfach sterben. Als besonderen Paukenschlag seiner Rede hatte er die Eröffnung bereitgehalten, wonach die Telecom Gesellschaft Australiens in wichtigen Städten Stationen baute, die der elektronischen Überwachung der Bürger dienen sollten, wodurch die Privatsphäre der Menschen in einem geradezu ungeheuerlichen Ausmaß zerstört werde. Nach seiner Rede überzeugte ihn der australische Wissenschaftsminister Barry Jones, daß diese Anschuldigung nicht stimmte, weshalb er sie aus dem Text der später gedruckten Rede herausstrich. In der Zwischenzeit freilich, sind solche Überwachungen in zahlreichen, auch angeblich demokratischen Staaten gang und gäbe geworden. Wir wissen jedenfalls, wie Patrick White darüber gedacht hat. Personenregister Aadie, Ann J. 98 Aain, Emile 210 Abacha, Sami 29 Abakumow, Wiktor 343 Abbes, Johnny Garcia 367, 368, 369 Abd ar-Rahman, Umar 269 Achebe, Chinua 17-30, 301 Adam 272 Adán, Martin 356 Adler, Alfred 8 Agnon, S. J. 32-48 Aiken, Conrad 251 Akutagawa, Riunosuke 206 Alanus ab Insulis 67 al-Aqqad, Abbas Mahmud 266, 267 Albertus Magnus 174 Aleichem, Schalom 35, 43 al-Ghitani, Gamal 279 al-Hakim, Tawfiq 266 Alkibiades 195 Allen, Sture 210, 214, 244, 285 Allende, Salvador 359 Allesch, Ea von 53 al-Malufati, Mustafa Lutfi 266 al-Naqqash, Raja’ 279 Alvi, Nadira Khannum 300 Ananda 22 Andersen, Hans Christian 136 Andrejewski, Jerzy 295 Andropow, Jurij 350 Apollonio, Mario 324, 325 Aristoteles 376 Arnold, Paul 251 Arpaly, Boaz 42 Arreola, Juan Josć 357 Artaud, Antonin 127 Auden, Wystan Hugh 26 Augustinus 75 Augustus, Kaiser 56, 57, 112, 276 Aurelius, Marcus 230 Baal Schem Tow 38 Babangida, Ibrahim 29 Bach, David 50, 51 Bach, Johann Sebastian 385 Báez, Miguel Angel 369 Barnacle, Nora 186, 187 Barnard, Marjorie 374 Barne, Germie 125 Barnstone, Willis 97 Barr, Caroline 85 Barrenechea, Porras 357 Barrionuevo, Carlos Ney 356 Bashô, Matsuo 212 Basilides 114 Baudelaire, Charles 295 Bayley, Peter 299 Beard, Michael 270 Beckett, Samuel 127, 201 Ben Gurion, David 34 Benichon, André 79 Ben-Tsion, Simha 33 Bergson, Henri 221, 223, 233, 267, 321 Beck, Ulrich 370 Bialik Chajim Nachman 43 Bien, Peter 221, 230 Bierce, Ambrose 122, 124 Bing, Murti 293 Birney, Earle 253 Blake, William 185, 251, 255, 287, 288, 289, 290, 291 Blei, Franz 53 Blöcker, Günter 92 Blotner, Joseph L. 86, 88, 90, 91, 95, 97, 98, 99 Böcklin, Arnold 166 Bodmer, Hans C. 169 Boehme, Jakob 255 Boldrini, Lucia 200, 201 Bolle, Willi 160 Boltzmann, Ludwig 51 Bondy, François 154 Bonner, Margerie 252, 255, 259 Borges, Jorge Luis 103, 104, 113 Bosch, Hieronymus 118, 119, 120, 121, 122 Bradbury, Ray 9 Braem, Helmut M. 388 Brathwaite, Edward 302 Brecht, Bert 127 Brée, Germaine 77 Brenner, Josef Chajm 33, 34, 43 Personenregister 392 Breschnew, Leonid 350 Broch de Rothermann, Hermann 50 Broch, Hermann 7, 12, 14, 15, 30, 49- 66, 98, 107, 112, 128, 133, 137, 147, 149, 197, 203, 209, 251, 259, 271, 275, 276, 292, 294, 324, 348, 349, 359, 364, 365, 374, 376, 379 Broch, Josef 49 Brodsky, Joseph 296, 351 Brody, Daniel 54, 59, 199 Bruno, Giordano 201 Buber, Martin 33, 38 Buddha 132, 165, 198, 223, 225, 229, 343, 344 Buhaniputsowe, Muhammedu 28 Burckhardt, Jakob 166, 175, 176, 181 Bustamante y Rivera, Josć 253, 254, 356, 357 Bustamante y Rivera, Lola 354 Byron, George Gordon Lord 336 Campbell, Joseph 200, 203 Campos, Humberto de 145 Camus, Albert 65, 67-84, 278, 292, 357, 358 Camus, Cartherine 84 Camus, Francine 73 Candido, Antonio 157, 159 Cárdenas, Lázaro 104, 254 Cardinal, Pierre 73 Caroll, Lewis 154 Carvalho, Aracy Moebius 145 Castro, Americo 112, 113 Castro, Fidel 107, 358 Cerinthus 114 Cervantes, Miguel de 33, 104, 111, 113, 118, 119, 121, 122, 254, 326 Cézanne, Paul 82 Chagall, Marc 14, 32 Chamfort 73 Chamisso, Adalbert von 319 Chang, Jung 125 Chiappini, Ligia 145, 157, 159, 160 Christus 8, 75, 76, 95, 96, 198, 121, 122, 224, 227, 229, 231, 233, 234, 271, 272, 289, 368, 379, 383, 388 Coelho, Paulo 9 Comte, Auguste 282 Conmee, John 185 Conrad, Joseph 308 Cortéz, Hernando 113 Cortezar, Julio 107, 108 Costa, Horacio 143 Coutinho, Afr-nio 143 Croce, Benedetto 320 Crommelynick, Fernand 103 Cromwell 199 Cuevas, Jeronima 225 Cuevas, José Louis 113 Cunha, Euclides de 145 Cusack, Michael 193 Czaczkas, Schmul Yosef: siehe Agnon Czechowicz, Jósef 292 Daedalus, Stephen: siehe James Joyce Daniel, Mary L. 147 Dante, Alighieri 11, 76, 77, 88, 111, 158, 185, 187, 200, 201, 221, 224, 225, 243, 251, 253, 254, 266, 275, 276, 289, 346 Dario, Rubén 353 De Gaulle, Charles 69, 78, 81 De Maistre, Roy 375, 383 Demeter 114 Derwent, Lord 197 Dickens, Charles 302 Diop, David 28 Dizengoff, Meir 34 Döblin, Alfred 106 Dolbin, Ninon 169 Donoso, José 108 Dos Passos, John 106, 107, 112 Dostojewski, Fjodor 33, 67, 68, 88, 96, 103, 134, 336 Dowrie, John Alexander 195 Dreyfus, Alfred 190 Dschuang Dsi 127, 128 Dschugashwili, Joseph: siehe Stalin Dumas, Alexander 355 Duran, Gloria B. 109 Durzak, Manfred 49, 50 Eastman, Max 200 Echnaton 274, 275 Eckhart, Meister 388 Einstein, Albert 55 El Greco 225, 234 El-Enany, Rasheed 265, 267, 275 Elias, Prophet 193 Eliot, T. S. 25, 26, 105, 191, 295 Elisabeth II., Königin von England 299 Elizondo, Salvador 105 Personenregister 393 Ellmann, Richard 185, 188, 189, 190, 191, 192, 196, 197, 200, 201, 203, 373 Eldershaw, Flora M. 374 Eldershaw, M. Barnard: siehe Barnard Marjorie und Eldershaw, Flora Epiktet 297 Erasmus von Rotterdam 111, 113 Escherets, Lidia 336, 339 Eva 120 Failot, Roger 125 Falkner, John Wesley Thompson 85 Falkner, Sallie Murray 85 Faulkner, Jill 86 Faulkner, William 10, 85-101, 107, 112, 357, 364, 365 Ficinus, Marsilius 111 Ficker, Ludwig von 52 Fitzgerald, Francis Scott 208 Flaubert, Gustave 33, 267, 365 Flüsser, Vilém 158 Foch, Ferdinand 97 France, Anatol 190 Franz von Assisi 234 Franzos, Karl Emil 63 Fraser, Antonia 309 Fraser, Hugh 309 Frazer, James 357 French, Patrick 297, 301, 302, 317 Freud, Sigmund 8, 52, 64, 188, 223 Fromm, Erich 293 Fuentes, Carlos 103-124 Fujimori, Alberto 358 Gadourek, Carina 77 Gallegos, Rómulo 354 Gallimard, Anouchka 84 Gallimard, Janine 84 Gallimard, Michel 84 Gandhi, Mahatma 253, 383 Gao, Xingjiang 65, 125-141 Genet, Jean 127 Gerigk, Horst-Jürgen 16 Germain, Louis 79 Gide, André 54, 105 Gobineau, Eugen Graf 294 Goethe, Johann Wolfgang 15, 25, 133, 166, 170, 174, 190, 224, 227, 259, 287, 319, 342 Gogol, Nikolai 88 Goldzahn, Nanee 298 Goll, Iwan 199 Gombrowicz, Witold 288 Gooding, Margaret 300, 309 Goyert, Georg 199 Greene, Graham 26 Grenier, L. 76 Grieg, Nordahl 251 Grotowski, Jerzy 127 Grünau, Anastasia 336 Guerrero, Garcia 368, 369 Guimar-es Rosa, Jo-o 10, 11, 143-164, 260, 281 Gundert, Hermann 165 Gustav VI. Adolf 78 Guzman, Nuño Beltrán 113 Gwynn, Frederick L. 88, 90, 91, 97, 99 Gyllenstein, Lars 286 Haggard, Henry Rider 266 Haider, Jörg 371 Hale, Pat 299 Hallström, Per 324, 327, 331 Harmann, Leo 33 Harrington, Evans 98 Hartog, Jan de 299 Harshev, Benjamin 48 Hart, Bret 251 Haußmann, Conrad 166 Haydar, Adnan 270 Healy, Tim 185 Hearst, William Randolph 122, 123 Heine, Heinrich 319 Hekate 114 Heller, Erich 287, 288 Hemingway, Ernest 208 Herzog, Anja 53, 54 Hesse, Hermann 25, 52, 53, 105, 161, 165-184, 228, 259, 265, 269, 273 Hilarion, Heiliger 181 Hindermann, Frederico 320 Hitler, Adolf 10, 68, 69, 72, 117, 133, 139, 145, 160, 173, 197, 285, 316, 368 Hoffman, Frederick 97 Hofmannsthal, Hugo von 127 Hölz, Karl 322 Homer 33, 146, 191 Horus 275 Huebsch, Ben 55, 382, 387 Hugo, Victor 355 Husayn, Taha 66, 266, 268 Personenregister 394 Husserl, Edmund 67 Huxley, Aldous 9, 105, 267, 373, 383 Ibbersen, Doris 306 Ibsen, Henrik 74, 185, 186, 385 Imber, Naftali Herz 195 Ionesco, Eugène 127 Isenberg, Carlo 175 Isis 121, 275, 276, 277, 278 Istrati, Panait 224 Jacobsen, Jens Peter 33 Jaivin, Linda 125 James, William 222 Jefferson, Thomas 85 Jesaja, Prophet 41 Jesepow, I. I. 338, 339 Jessenin, Sergej 340, 342 Johannes der Täufer 75 Johannes XXIII. 17 Jolas, Maria 197 Jones, Barry 389 Jones, Rosemarie 78 Joyce, Giorgio 188 Joyce, James 8, 9, 54, 55, 56, 92, 105, 107, 112, 113, 128, 144, 154, 185-203, 208, 251, 253, 254, 267, 271, 324, 356, 359, 373, 375 Jung, Carl Gustav 8, 54, 55, 167, 171, 172, 188, 202, 321, 323, 379 Jünger, Friedrich Georg 9 Jupiter 260 Kabir 297 Kadmon, Adam 78, 191, 289, 381 Kafka, Franz 67, 105, 109, 139, 278, 324, 325 Kafur al-Ikshidi 276 Kali 297, 307 Kann, Kikuchi 205 Kant, Immanuel 52, 282 Katznelson, Berl 34 Kauffer, Remi 125 Kaus, Gina 53 Kaus, Otto 53 Kawabata, Yasunari 205-219 Kazantzakis, Niko 221-234 Keats, John 91 Keene, Donald 209, 213, 217 Kennedy, John 88 Kett, Francis 251 Khalikhalli, Ayatollah 315 Khomeini, Ajatollah 270, 314, 315 Kid, Thomas 235 Kierkegaard, Søren 67 Kilias, Doris 269, 270 King, Stephen 365 Klee, Paul 14 Koestler, Arthur 7, 52, 68, 125, 213, 221, 241, 292, 357, 365 Kokoschka, Oskar 52 Kolumbus, Christoph 113 Kook, Avraham Jitzhak 34 Kopelew, Lew 340, 341 Kraus, Karl 52 Krebs, Richard 356 Kubitschek, Juscelino 144 Kunat, Zygmunt 282 Kutzenberger, Stefan 143 Lagerlöf, Selma 11, 235-250, 310 Lamb, Charles 306 Lang, Josef Bernhard 167 Langley, Eve 376, 378 Lao Tse 165, 341 Lascaris, Manoly 376, 383 Lawrence, David Herbert 105, 208, 251, 267, 373, 374, 376 Layton, Bentley 97 Le Pen, Jean-Marie 371 Leclerc, Yves 299 Lecoin, Louis 81 Lem, Stanislaw 11 Lemus, Sylvia 108 Lenin 223, 339 Leopold II., König von Belgien 309 Lessing, Theodor 67 Lienhard, Friedrich 10 Lindfors, Bernth 27 Lindqvist, Artur 388 Llosa Laguno, Dorita 353 Llosa Laguno, Don Juan de la 353 Llosa, Patricia 358 Loayza, Luis 357 London, Jack 355 Lorenz, Günter W. 162 Lowry, Malcolm 251-264 Lubécz-Miłosz, Oscar Venceslas de 287, 288 Luczak-Wild, Jeannine 287 Luddendorf, Erich 98 Luria, Isaak 78 Personenregister 395 Lützeler, Paul Michael 49, 50, 51, 53, 62, 63 MacGowan, Gault 305 Mach, Ernst 50, 105 Machfus, Nagib 265-280 Magus, Simon 121 Mahakashapa 132 Mahler, Gustav 385 Makarios 224 Mallarmé Stéphane 191 Malipiero, Gian Francesco 328 Malraux, André 88, 356 Manannán 198 Mandelstam, Osip 289 Mann, Thomas 52, 55, 64, 105, 175, 178, 267 Mansfield, Katherine 374 Manzoni, Allessandro 326, 327 Mao Zedong 134, 136, 137, 139, 214 Maria Magdalena 224 Marlowe, Christopher 251, 255, 259 Márquez, Garcia 108, 354 Marr, David 375, 378, 384, 386 Martins, Nilce Sant’ Anna 147 Marx, Esther 34 Marx, Karl 107 Matos, Olgaria 157 Matthaei, Renate 321, 323, 328, 331 Maugham, Somerset 301 May, Karl 50, 354 McCarthy, Joseph 107 Medwedew, Dmitri 352 Mehrez, Samia 270 Menasce, Charles de 376 Menes 275, 276 Merimée, Prosper 90, 91 Merton, Thomas 383 Meursault: siehe Camus Meyer, Conrad Ferdinand 161 Meyer-Clason, Curt 143, 155, 158 Michaux, Henri 15 Michel, Wilhelm 168 Mickiewicz Adam 288 Mill, John Stewart 282 Miller, Avigdor 38 Mills, Charles Wright 107 Miłosz, Czesław 12, 243, 244, 263, 281- 296, 310 Milson, Menahem 268 Mirandola, Pico della 16, 191, 294 Mishima, Yokio 214, 218, 219 Mobutu, Sese Seko 309 Mohammed 271, 272, 273 Molina, Tirso de 113 Möller van den Bruck 117 Monnerot, Guy 79 Moore, George 190, 375 Moro, César 355 Morrice, Gertrud 323 Mosche, David 32, 37, 40 Moses 39, 271, 272, 274 Mozart, Wolfgang Amadeus 82, 171, 191, 243 Mubarak, Muhammad Husni 269, 279 Muir, Edwin 55 Muir, Willa 55 Musa, Salama 266, 267 Musil, Robert 8, 11, 28, 53, 54, 78, 117, 161, 253, 383 Mussolini, Benito 328 Nahhas, Mustafa 277 Nahman, Rabbi 224 Naipaul, Seepersad 297 Naipaul, Vidyadhar Surajprasad 10, 133, 297-317 Napoleon 368 Nasser, Gamal Abdel 268, 276, 278 Nekrassow, Nikolaij 340 Nietzsche, Friedrich 73, 166, 175, 222, 223 Nikolaus von Kues 174 Nolan, Sidney 382 Novalis 166, 174 O’Brien, Justin 77 O’Donell, Geoge Maria 88 Odria, Manuel A. 357 Oe, Kezanburo 24, 245 Okamoto, Kanoko 219 Olea, Victor Flores 105 Oliveiro, Franklin de 143 Onkel Lucho: siehe Bustamante, José Onkel Ned 86 Origines 388 Ortega y Gasset, José 112 Orwell, George 9, 16, 125 Osiris 198, 274, 275, 276, 277 Ovid 111 Padilla, Heberto 108, 358 Personenregister 396 Pagels, Elaine 97 Panin, Dimitri 340, 342, 347 Parnell, Charles Stewart 185 Pascal, Blaise 75, 289, 320 Paul, Jean 319 Paz, Octavio 105, 113, 357 Pedroso, Manuel 112 Penn, Sheldon 121 Penna, Lygia Cabral 144 Perrot, Heinrich 166, 173 Pessoa, Fernando 139 Phaeton 260 Pick, Robert 14 Picon, Gaëton 77 Pilatus, Pontius 231 Pirandello, Antonietta 319 Pirandello, Luigi 319-331 Pirandello, Stefano 330 Piwowar, Lech 285 Plocher, Hanspeter 320 Plotin 68, 77, 297 Polak, Ernst 53 Portulano, Antoinette 319 Potoćka, Jan 371 Pound, Ezra 112, 189, 192 Prado, Leonico 355 Pritchett, V. S. 309 Prometheus 198 Proust, Marcel 92, 107, 112, 208, 213, 267, 302 Puccini, Giacomo 103 Puschkin, Alexander 336 Putin, Wladimir 351, 352 Putrament, Jerzy 295 Pythagoras 174 Quetzalcoatl 116 Quevedo, Francisco 113 Rabelais, François 228 Raleigh, Sir Walter 251 Ramos, Samuel 105 Reagan, Ronald 376 Reed, Marc 86 Reichert, Klaus 200 Renan, Ernest 263 Reschetowskja, Natalia 336, 337 Reyes, Alfonso 103, 104, 112 Richardson, Henry Handel 374 Richter, Lieselotte 67 Riichi, Jokomitsu 205 Rilke, Rainer Maria 122, 251 Rittenberg Sidney 125 Robinson, Henry Morton 200, 203 Roditi, Edouard 122 Rojas, Fernando 111, 113 Roosevelt, Eleanor 343, 344 Rössner, Michael 327, 328, 330 Rostand, Edmond 336 Roth, Philip 376 Rothermann, Franziska von 51 Rouault, Georges 14 Rousseau, Jean-Jacques 107 Ruiz, Juan 111, 113 Ruppin, Arthur 34 Rushdie, Salman 270, 301, 314 Russell, George 203 Sadat, Anwar 268, 274, 275, 276, 278 Salgari, Emilio 354 Samiou, Eleni 122 Sartre, Jean Paul 68, 69, 73, 84 Saturnius, Lucius Appuleius 114 Scammel, Michael 335, 336, 337, 347, 351 Schestow, Leo 67 Schocken, Salman 33, 34 Scholem, Gershom 36, 42, 62, 253 Schönberg, Arnold 50 Schönwiese, Ernst 54, 62, 243 Schrecker, Paul 53 Schtscherbak Sachar 334 Schtscherbak, Irina 334, 335 Schtscherbak, Jewdokija 334 Schtscherbak, Maria 334 Scott, Walter 266, 355 Sebyla, Wladyslaw 285 Senn, Fritz 200 Sergejewna, Anastasia 336 Shaked, Gershon 33, 35, 36 Shakespeare, William 87, 185, 190, 191, 227, 239, 251, 255, 267, 283, 288, 295, 299, 336, 306, 373 Sheldon, Margaret 297 Shiva 255 Silone, Ignazio 125 Simonjan, Kirill 336, 339 Simpson, Lewis W. 98 Sinclair, Emil, siehe: Hesse, Hermann Smiles, Samuel 306 Smoilsky, Carl 244 Sokrates 234 Personenregister 397 Solschenizyn, Alexander 12, 13, 14, 125, 224, 333-351 Solschenizyn, Isaaki 333 Solschenizyn, Taissija 333 Sophokles 88 Soustelle, Jacques 112 Sperber, Manès 125 Spinoza 383 St. Patrick 199, 201, 202 Stalin 68, 133, 160, 254, 285, 307, 339, 345, 348 Stanford, Leland 123 Starkie, Walter 326 Starrs, Roy 207, 211, 213 Stekel, Wilhelm 223 Stendhal 267 Stone, Phil 87 Stössinger, Felix 59, 62 Straumann, Heinrich 97 Strauss, Max 33 Strelka, Joseph 62, 63, 241, 271 Sturzenegger, Hans 166 Suazo Siles, Hernán 359 Svevo, Italo 187 Swedenborg, Emanuel 263, 287, 288, 289 Swetlowa, Natalia 336, 349 Tagore, Rabindranat 297 Tanizaki, Junichiro 214 Thatcher, Margaret 314 Thieß, Frank 53 Thody, Philip 75 Thomas, Johannes 324, 328 Thor 198 Thorez, Maurice 307 Thurnston, Anne F. 125 Tieck, Ludwig 319 Timofejew-Ressowski, Nikolai 340 Todd, Oliver 73, 74, 75, 77, 82 Tolstoi, Leo 88, 240, 254, 256, 267, 302 Torriti, Roberto 104 Traherne, Thomas 196 Trakl, Georg 52 Trujillo, Molina, Rafael Leonidas 365, 367 Trujillo, Ramfis 366, 367 Tschechow, Anton 88, 336 Tulsi, Owald 307 Tulsi, Savi 301 Twardowski, Alexander 340, 348 Twardowski, Wladimir 335 Tzermias, Pavlos 234 Untermeyer, Jean Starr 374 Urquidi, Julia 357, 358 Valéry, Paul 210 Valtin, Jan: siehe Krebs, Richard Van Eyck, Jan 76 Van Gogh, Vincent 52 Vargas Llosa, Mario 107, 108, 353-372 Vargas Maldonado, Ernesto 353 Vejmelka, Marcel 145, 157, 159, 160 Venizélos, Eleftherios 224, 230 Vergil 299 Verne, Jules 354 Vickery, Olga W. 97 Vico, Giambattista 198, 199, 201 Vidor, Karl 103 Villa, Pancho 122, 123 Villiers de L’Isle-Adam 191 Vincent, Jon S. 143, 145, 146, 147, 156, 158, 161 Vonnegut, Kurt 103 Weaver, Harriet Shaw 197 Weidlé, Wladimir 14, 15, 323, 325 Weininger, Otto 52, 195 Weiss, Edoardo 188 Weiss, Ottocaro 188 White, Ruth 374, 384, 385, 386 White, Patrick 373-389 Whitman, Walt 295 Wilkinson, Jane 27 Williams, Raymond Leslie 111, 112, 366 Witkewitsch, Nikolai 336, 338, 339 Witkiewicz, Ignatius 293 Witsch, Joseph Caspar 143 Woltereck, Hans 168 Wong, Jan 125 Woolf, Virginia 112, 208 Wotan 198 Wright, Richard 125 Wu, Hongda Harry 125 Yang, Céline 126 Yeats, William Butler 25, 86, 185, 186, 191, 192, 196, 197, 200, 201, 203, 251 Zeller, Bernhard 167, 172, 183, 184 Zola, Emile 190 Zorbas, Georgios 225 Zweig, Paul 211 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Der Band versammelt kritische Beiträge zu Leben und Werk Arthur Koestlers. Durch Ausleuchtung mannigfacher Aspekte seines umfangreichen literarischen und politisch motivierten essayistischen Werkes sowie der wissenschaftstheoretischen Schriften und Rezeptionsgeschichte ergibt sich eine überblicksartige Zusammenschau des Koestlerschen Œuvres. Untersucht werden dabei Facetten seiner von der Erfahrung des Totalitarismus und des Exils geprägten, turbulenten Lebensgeschichte; die literarische Verarbeitung der Rußlandreise bzw. der kommunistischen Jahre in der Trilogie Die Gladiatoren, Sonnenfinsternis, Ein Mann springt in die Tiefe; die Autobiografie sowie jene theoretischen Schriften, die nicht nur Koestlers Interesse an Psychologie sondern auch seine Kritik am Reduktionismus der modernen Wissenschaft widerspiegeln; und nicht zuletzt die Arbeiten zur Parapsychologie, mit der er jenen reduzierenden Verabsolutierungstendenzen entgegen zu wirken versuchte und deren Förderung er sich am Ende und gleichsam als letztes Ziel seines Schaffens widmete. Der Band wird abgerundet durch komparatistisch angelegte Studien, die u.a. Koestlers Beziehung zu Manès Sperber, aber auch seine Nähe zu dem Werk Hermann Brochs hervorheben. Robert G. Weigel (Hg.) Arthur Koestler: Ein heller Geist in dunkler Zeit Vorträge des Internationalen Arthur Koestler-Symposiums der Universität Auburn 2007 Edition Patmos, Band 13 2009, 223 Seiten, €[D] 39,00/ SFr 66,00 ISBN 978-3-7720-8312-9 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Eine Fundgrube für alle, die sich für die jüngere Literaturgeschichte Österreichs interessieren. Dieses Buch provoziert wesentliche neue Gedanken und Überlegungen zu vergessenen und verkannten Autoren Österreichs: vergessen wie etwa die Erzähler Erich Pogats, Reinhard Federmann und Heinrich Wilhelm Katz, die Lyriker Kurt Klinger und Karl Lubomirski oder der große Humorist Otto Stoessl; verkannt wie z.B. Hermann Broch, der bis heute nicht als Autor wesentlicher gnostischer Ideen erkannt ist, oder Ar thur Koestler, of tmals missverstanden durch seine Hinwendung zur Parapsychologie. Diese und andere Autoren präsentiert Joseph P. Strelka hier in neuem Licht und fügt damit - um eine Metapher Arthur Koestlers zu gebrauchen - viele einzelne Ziegel zum literarhistorischen Turmbau von Babel hinzu. Joseph P. Strelka Vergessene und verkannte österreichische Autoren Edition Patmos, Band 12 2008, XII, 218 Seiten, €[D] 42,00/ SFr 71,00 ISBN 978-3-7720-8287-0 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Edition Patmos Karl S. Guthke Die Erfindung der Welt Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur Band 11, 2005, VI, 589 Seiten, € 78,- ISBN: 978-3-7720-8142-2 Joseph P. Strelka Arthur Koestler Autor - Kämpfer - Visionär Band 10, 2006, 179 Seiten, € 39,- ISBN: 978-3-7720-8144-6 Joseph P. Strelka (Hrsg.) Lyrik - Kunstprosa - Exil Festschrift für Klaus Weissenberger zum 65. Geburtstag Band 9, 2004, 288 Seiten, € 68,- ISBN: 978-3-7720-8067-8 Joseph P. Strelka, Exil, Gegenexil und Pseudoexil in der Literatur Band 8, 2003, X, 172 Seiten, € 38,- ISBN: 978-3-7720-2887-8 Hartmut Steinecke Von Lenau bis Broch Studien zur österreichischen Literatur von außen Band 7, 2002, 215 Seiten, € 34,- ISBN: 978-3-7720-2886-1 Joseph P. Strelka Poeta Doctus Hermann Broch Band 6, 2001, VI, 157 Seiten, € 24,- ISBN: 978-3-7720-2885-4 Joseph P. Strelka Der Paraboliker Franz Kafka Band 5, 2001, VIII, 111 Seiten, € 19,- ISBN: 978-3-7720-2884-7 Robert G. Weigel Zerfall und Aufbruch Profile der österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert Band 4, 2000, XII, 213 Seiten, € 29,- ISBN: 978-3-7720-2883-0 Karl S. Guthke Der Blick in die Fremde Das Ich und das andere in der Literatur Band 3, 2000, VI, 451 Seiten, € 74,- ISBN: 978-3-7720-2882-3 Stefan H. Kaszynski Kleine Geschichte des österreichischen Aphorismus Band 2, 1999, X, 163 Seiten, € 29,- ISBN: 978-3-7720-2881-6 Joseph P. Strelka Des Odysseus Nachfahren Österreichische Exilliteratur seit 1938 Band 1, 1999, X, 276 Seiten, € 29,- ISBN: 978-3-7720-2880-9