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Franz Kafkas Gesten

2011
978-3-7720-5392-4
A. Francke Verlag 
Isolde Schiffermüller

Die immer komplexer werdenden Methoden, die am Werk Franz Kafkas erprobt wurden, haben den Zugang zu seinen Schriften nicht leichter gemacht. Aktueller denn je erscheint heute der Ratschlag Walter Benjamins, Kafkas Schriften nicht zu deuten, sondern als einen Kodex von Gesten zu lesen, als eine befremdliche Gebärdensprache, die immer neue Fragen aufwerfen kann. Das Buch stellt den ersten umfassenden Versuch dar, das Erkenntnispotential von Kafkas Gesten zu erörtern und auf seine aktuelle Lesbarkeit hin zu befragen. Thematisiert werden Kafkas ausgeprägter Sinn für mimische und gestische Details, sein zeichnerisches Talent, seine Liebe zur kollektiven Melodie des jiddischen Theaters oder die Affinität seiner Texte zum Stummfilm, die Gesten als Indizien im Kräftespiel einer Macht, deren Effekte nur an den Deformationen der menschlichen Haltung erkennbar sind. Die Studie bietet neue Einsichten in ein Werk von weltliterarischem Rang, dem es noch nicht gelungen ist, sich von den Kafkaesken Mythen und Legenden zu befreien, die das 20. Jahrhundert geprägt hat. Im medial geschärften und technisch ernüchterten Blick der Gegenwart gewinnen Kafkas Gesten ihre volle Signifikanz: als Träger einer Form des kulturellen Gedächtnisses, in dem vielleicht mit den Spuren der Entfremdung auch die Momente einer profanen Erlösung entzifferbar sind.

Isolde Schiffermüller Franz Kafkas Gesten Studien zur Entstellung der menschlichen Sprache Franz Kafkas Gesten Isolde Schiffermüller Franz Kafkas Gesten Studien zur Entstellung der menschlichen Sprache Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Man with Walkig Stick. Umschlagabbildung und alle anderen Abbildungen im Band aus: A Great Artist One Day. Franz Kafka as a Pictorial Artist. Herausgegeben von Niels Bokhove and Marijke van Dorst, Prag 2007: Vitalis Verlag. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dipartimento di Lingue e Letterature straniere dell ’ Università degli Studi di Verona. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72 070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8392-1 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kapitel 1 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.1 „ Kodex von Gesten “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.2 Gestus und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.3 Sprachkrise und Stummfilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.4 Das Scheitern der Parabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.5 Kafkas Geste in der aktuellen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Kapitel 2 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher . . . . . . . . . . 41 2.1 Fremde Gesichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3 Die Physiognomie des Schriftstellers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.4 Jiddische Melodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.5 Mikrogramme sozialen Lebens: Kafkas Weltanschauung . . . . . . . . 86 Kapitel 3 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes . . . . . . . . . . . . . 93 3.1 Der „ schamhafte Lange “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.2 Sprachkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.3 Die gesticulatio des Beters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Kapitel 4 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens . . . . . . . 111 4.1 Bewegte Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.2 Bewegungsfreiheit: Der plötzliche Spaziergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3 Vitalität: Entschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.4 Der Gestus der Betroffenheit: Das Unglück des Junggesellen . . . . . 124 Kapitel 5 Gesten im Gericht: Der Proceß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.1 Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.2 Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.3 Haltungen im Proceß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.4 Farce und Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Kapitel 6 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt . . . . . . . 152 6.1 Zirkusszenen: Auf der Galerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.2 Die Pantomime alter Weisung: Eine Kaiserliche Botschaft . . . . . . . 160 6.3 Die stumme Frage: Ein Brudermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Bibliographien und Konkordanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Forschungsliteratur zu Franz Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4. Allgemeine Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6 Inhalt Einleitung In Wirklichkeit benutzen wir tatsächlich Gesten und Gesichtsausdrücke, wenn wir genau sein wollen. Ludwig Wittgenstein Menschen, denen jede Natürlichkeit abhanden gekommen ist, wird jede Geste zum Schicksal. Giorgio Agamben Die Schriften Franz Kafkas scheinen unversehrt den Deutungseifer ihrer Interpreten überdauert zu haben. Es gibt wohl kaum ein Werk des 20. Jahrhunderts, das gleichermaßen eine Herausforderung an das Verstehen darstellte. Kafka wurde zur Leitfigur der Hermeneutik wie der Dekonstruktion, seine Schriften zum Prüfstein einer methodisch fundierten Literaturwissenschaft, die - zum Teil auch gegen ihren Willen - immer wieder vor Augen führte, wie wenig diese Texte in kodifizierte Diskurse und Paradigmen kulturellen Wissens übersetzbar sind, wie sehr sie eigenwillige Fragen und unvorhergesehene Antworten formulieren und provozieren. Kafkas Werk scheint heute ein anfängliches Staunen zurückzufordern, das sich der Desillusion der Theorie und der reflektierten Scheu, ja dem bewussten Unbehagen an jeder Interpretation seiner Schriften verdankt. Aktuell wird damit auch wieder die Mahnung, die schon Walter Benjamin am Beginn der Kafka- Forschung an die Leser richtete, dass nämlich jede, sei es „ natürliche “ oder auch „ übernatürliche “ Deutung, den Kafkaschen Text immer nur verfehlen könne, aktuell erscheint der Ratschlag, statt dessen von der „ Mitte der Bildwelt “ auszugehen und Kafkas Schriften als einen „ Kodex von Gesten “ 1 zu lesen, als eine eigenartige und befremdliche Gebärdensprache, der sich keine eindeutige symbolische Bedeutung zuweisen lässt und die gerade deshalb zum Gegenstand eines unendlichen Studiums werden kann. Eine spezifische monographische Arbeit, die Benjamins Impuls aufgreift und sich ein vertieftes Studium der Kafkaschen Geste vornimmt, fehlt bisher. Dies mag erstaunen angesichts der kaum mehr überschaubaren Forschungsliteratur, die Kafka weit über die literaturwissenschaftliche Relevanz seines Werks hinaus in den „ Rang eines metaliterarischen und transfiktionalen Diskurs-Ereignisses erhoben “ hat, das in seiner Bedeutung für die Moderne - 1 Walter Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestags, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 409 - 438, im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Benjamin über Kafka, Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1990, S. 9 - 38, hier: S. 18. wie es in der Einführung in die neuen „ Wege der Forschung “ heißt - nur „ Darwin, Marx oder Freud “ 2 vergleichbar sei. Die kafkaesken Mythen und Legenden sowie die hochkomplexen Methoden und Theorien, die mit dem aktuellen Forschungsstand verbunden sind, haben den Zugang zur konkreten Form der Texte nicht leichter gemacht. Die Kritik der letzten Jahre hat allerdings auch vielfach auf die wuchernden Spekulationen reagiert, die Kafkas Schriften unter einem Berg von Kommentaren und Diskursen verschüttet haben. Ein neues Lob der Realienforschung - wie es beispielsweise W. G. Sebald vorbrachte 3 - verband sich mit einer gewissen hermeneutischen Abstinenz und einem Hunger nach konkreten Materialien und biographischen Fakten, nach Manuskripten, Zeichnungen und Fotografien, die dann die Kulturwissenschaften in intermedialen und interdisziplinären, in transkulturellen und plurilinguistischen Perspektiven erforschten, während die kritische Editionswissenschaft diese Konkretheit der Forschung energisch im Faksimile der Handschriften einforderte. 4 Anlässlich des 125. Jahrestages entstanden auch eine Reihe von biographischen Einführungen und Studien, in denen ein Trend beobachtet werden kann, der die hoch spezialisierten Forschungen hinter sich lässt und hin zu handbuchartigen Synthesen führt. 5 Die vorliegende Studie teilt - was ihre Verortung in der Kafka-Forschung der Gegenwart betrifft - die Vorsicht gegenüber hermeneutischen Spekulationen und theoretischen Vereinnahmungen des Werks sowie das Bedürfnis, einen neuen Zugang zu den Texten zu finden, sie sucht den Ort einer konkreten Wahrheit allerdings nicht im empirischen Faktum, sondern im Medium der Schrift. Das Thema der Schrift kann als zentrales Anliegen der zeitgenössischen Kritik gelten, die sich ausführlich mit der Buchstäblichkeit der Texte, mit der Logik der Signifikanten, mit dem Faksimile der Handschrift oder mit dem Akt des Schreibens befasst hat, in dem sich der Zusammenhang von Leben und Werk erhellt. 6 In den Lektüren dieses Bandes geht es trotz der Treue zum Buchstaben nicht primär um die genannten Aspekte, die Aufmerksamkeit gilt vielmehr den Gesten, die auf eigene Art etwas von der sinnlichen Gewissheit der Sprache und des Schreibens festhalten. Bezeichnenderweise sprechen auch die Herausgeber der Kritischen Ausgabe der Schriften und 2 Claudia Liebrand, Einleitung in: Franz Kafka. Neue Wege der Forschung, hrsg. v. Claudia Liebrand, Darmstadt 2006, S. 7. 3 W. G. Sebald, Kafka im Kino, in: ders., Campo santo, hsrg. v. Sven Meyer, München, Wien 2003, S. 193 - 209, hier: S. 195/ 196. 4 Dies gilt für die Facsimile-Edition: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Basel 1997ff 5 Beispielhaft sei hier nur zitiert: Kafka-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung, hrsg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus, Göttingen 2008. 6 Vgl. dazu zusammenfassend: Oliver Jahraus, Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, Stuttgart 2006, Kap. 1, S. 17 - 37. 8 Einleitung Tagebücher, die heute die Grundlage der Forschung darstellt, von ihrem Versuch, hinter „ dem, was Schrift bisher war, nämlich den schwarzen genormten Abdrücken auf weißem Papier, eine andere, neue Schrift der Gesten und Gebärden aufzuspüren [. . .]. “ 7 Was den Stand der Forschung zum spezifischen Thema dieser Arbeit betrifft, so wurden bisher, abgesehen von verstreuten Hinweisen bei verschiedenen Autoren, einzelne Aufsätze oder Kapitel veröffentlicht, die sich meist auf die Gestensprache im Proceß beziehen 8 oder die der Exegese von Benjamins Kafka-Essay gewidmet sind. 9 In neueren Forschungsbeiträgen und Sammelbänden 10 lässt sich zwar eine verstärkte Aufmerksamkeit für den gestischen Charakter der Kafkaschen Prosa feststellen, doch die entscheidenden Impulse konzentrieren sich auf den Beginn der Kafka-Forschung in den dreißiger Jahren, als die Diskussion der Geste im Mittelpunkt stand. Schon Max Brod hatte den antipsychologischen Aspekt von Kafkas „ minutiöse[r] Darstellung der Geste, des Äußeren seiner Figuren “ 11 hervorgehoben, ein Aspekt, der sich auch in den Zeichnungen Kafkas zeigt, die Brod aus dem Papierkorb holte, Strichmännchen, graphische Figuren und Silhouetten in 7 Wolf Kittler, Gerhard Neumann, Kafkas „ Drucke zu Lebzeiten “ . Editorische Technik und hermeneutische Entscheidung, in: Franz Kafka. Schriftverkehr, hrsg. v. Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Freiburg 1990, S. 30 - 74, hier: S. 73): „ Edition im modernen Sinn “ - so heißt es weiter - „ ist den unwägbaren und nicht in Drucktypen übertragbaren Gesten und Gebärden der Inspiration auf der Spur “ . 8 Zum Proceß: Karl J. Kuepper, Gesture and Posture als Elemental Symbolism in Kafka ’ s ‘ The Trial ’ , in: „ Mosaic “ 3, 4 (1970), S. 143 - 152; David E. Smith, Gesture as a stylistic device in Kleist ’ s Michael Kohlhaas and Kafka ’ s Der Prozess, Bern 1976; Philip Grundlehner, Manual Gesture in Kafka ’ s Proceß, in: „ The German Quaterly “ , LV, 1 (1982), S. 186 - 199. Klaus Mladek, Radical Play: Gesture, Performance, and the Teatrical Logic of the Law in Kafka, „ Germanic Review “ 78, 3 (2003), S. 223 - 249. 9 Bernd Müller, „ Denn es ist noch nichts geschehen “ : Walter Benjamins Kafka-Deutung, Köln, Weimar, Wien 1996; Lorenz Jäger, „ Primat des Gestus “ . Überlegungen zu Benjamins Kafka Essay, in: „ Was nie geschrieben wurde, lesen “ , Frankfurter Benjamin- Vorträge, hrsg. v. Lorenz Jäger und Thomas Regehly, Bielefeld 1992, S. 96 - 111; Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000, das Kapitel „ Eine Seekrankheit auf festem Lande “ . Kafka mit Brecht betrachtet, S. 277 - 413. Werner Hamacher, Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998, S. 280 - 323. Clemens-Carl Härle, Kafka, die Vorwelt und das Gesetz, in: Die Gesetze des Vaters. Problematische Identitätsansprüche, hrsg. v. Gerhard Dienes und Ralf Rother, Wien 2003, S. 222 - 237. Vgl. dazu den Abschnitt 1.5. in diesem Band. 10 Beispielhaft seien hier die folgenden Arbeiten zitiert: Kafkas Betrachtung, Lektüren, hrsg. v. Hans Jürgen Scheuer, Justus von Hartlieb, Christina Höfner, Frankfurt a. M. 2003; Robert Sell, Bewegung und Beugung des Sinns. Zur Poetologie des menschlichen Körpers in den Romanen Franz Kafkas, Stuttgart, Weimar 2002; Elisabeth Lack, Kafkas bewegte Körper: Die Tagebücher und Briefe als Laboratorien von Bewegung, München 2009. 11 Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a. M. 1974, S. 394. Einleitung 9 Bewegung, die Kafka selbst angeblich als „ Schmierereien “ , als seine „ ganz persönliche Bilderschrift “ 12 bezeichnet haben soll. Die ersten Kritiker haben sich besonders mit der Frage nach der Lesbarkeit und Deutbarkeit von Kafkas Gesten beschäftigt. Kafkas „ Kodex von Gesten “ entspricht - so betonte Walter Benjamin - kein konventioneller Code, seine Gebärdensprache durchbricht gewohnte Kontexte und passt sich immer weniger üblichen Situationen an. Die Gesten, die auf die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz einer präverbalen Sprache verweisen, irritieren in der Denk- und Schreibbewegung Kafkas die Sprache der Begriffe und verhindern, als „ wolkige Stelle der Parabel “ 13 , die Erfüllung der hermeneutischen Wahrheit. Benjamin vergleicht sie mit den Relikten einer nicht mehr oder noch nicht bekannten Lehre, die zum Objekt unendlichen Studiums werden kann. Auch Theodor W. Adorno weist nachdrücklich darauf hin, dass die Signifikanz von Kafkas Gesten weit über die eines bloßen Ausdrucks- und Kommunikationsmittels hinausgeht, das die Handlung und die Worte begleitet. Die Gebärdensprache stellt für ihn ein eigenes Medium der Bedeutung dar, das auch „ Kontrapunkte zu den Worten “ 14 setzen kann, das „ Wort einer gleichsam selbständigen Bewegungssprache “ 15 . Unentscheidbar bleibe an vielen Stellen nicht nur was, sondern grundsätzlicher auch, ob die Gesten etwas bedeuten; oft wirken sie als bloße Exposition dessen, was letztlich unverständlich bleibt. Wer nach Adorno diese „ Spuren der Erfahrungen, die vom Bedeuten zugedeckt werden “ , 16 aufzuschlüsseln verstünde, der wüsste mehr als eine nur begrifflich fassbare Wahrheit: „ Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesunden Menschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererkennen müssen “ . 17 Adornos Prognose bezieht sich auf den Appellcharakter der Gesten, die die Erfahrung des Lesers ansprechen und nach Exegese fordern, zugleich aber dessen Reflexion immer wieder an eine Grenze treiben, die sich der Bedeutung entzieht. In einer umfassenden Untersuchung zu „ Mimik, Gestik, Personengefüge “ 18 hat Hartmut Binder für die vorliegende Studie insofern wichtige Vorarbeit geleistet, als er anhand der Lebenszeugnisse und Werke das gestische Repertoire der Kafkaschen Texte zusammenstellte, typisch etwa die gebeugte oder 12 Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1951, S. 79. 13 Benjamin, Franz Kafka, cit., S. 27. 14 Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 302 - 352, hier: S. 308. 15 Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka, cit., S. 82. 16 Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, cit., S. 308. 17 Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, cit., S. 309. 18 Hartmut Binder, Kafka in neuer Sicht: Mimik, Gestik, Personengefüge als Darstellungsformen des Autobiographischen, Stuttgart 1976. 10 Einleitung aufrechte Haltung der Figuren, der gehobene oder auf die Brust gesenkte Kopf, das differenzierte Spiel der Hände und Finger oder das mimische Zusammenspiel von Mund und Augen. Oft sind es zerstreute oder befremdliche Gebärden wie das plötzliche In-die-Hände-Klatschen der Figuren oder das Reiben der Fingerspitzen, oder auch slapstickartige gags wie die Bewegungen und Haltungen der kichernden und kauernden Gehilfen im Schloß. Nur manchmal deutet der Erzähler rein hypothetisch eine kommunikative Intention seiner Figuren an, meist aber zeigt er die Gesten ohne Erzählerkommentar, womit auch deren Intentionalität im Dunkeln bleibt. 19 Wenn hier die Geste in Kafkas Schriften zum Gegenstand des Studiums wird, so ist allerdings nicht allein von diesem Repertoire an Gebärden die Rede, das der Darstellung der Figuren dient, gemeint ist umfassender der szenische Charakter von Kafkas Erzählen und dessen Tendenz, die Handlung auf den Gestus zu reduzieren. Die Gesten, die in Kafkas Prosa eine exponierte Stellung einnehmen, sind Elemente einer Dramaturgie des Erzählens, die ähnlich wie im Theater als Mittel der Verfremdung dienen können. Typisch für Kafka, so wird schon im Frühwerk deutlich, ist nicht allein der ausgeprägte Sinn für die Mimik und Expressivität des menschlichen Körpers, es ist vor allem auch der nüchterne und kalte Blick, der die menschliche Figur als Handlungsträger depotenziert und sie der Gewalt der nicht verbalen Zeichen unterwirft. Dieser Blick höhlt den anthropomorphen Charakter der Mimesis aus, er entstellt und verzerrt die Figuren und zerlegt die organische Gestalt in Details, in einem tragikomischen Spiel stellt er die Deformationen des Menschen zur Schau und unverschämt schreibt er ihm die Scham ins Gesicht. An diesem „ Ort der Gewalt “ 20 , die die Texte skandiert, werden Mimik und Gestik zu Indizien, zu Verdachtmomenten im Kräftespiel einer Macht, die sich nur noch an ihren Effekten erkennen lässt. Die Gebärden schreiben sich als ein mehrdeutiges und flexibles Sinnangebot in Kafkas Texte ein, das der Abstraktion der Worte wie auch der bildhaften Metaphorik Widerstand leistet. Sie bewirken eine ‚ Konversion ‘ des Bedeutens, die einen anderen, noch unerkannten Sinn einfordert, Fragen vergleichbar, die die Reflexion in Bewegung versetzen und den Schauplatz eines poetischen Denkens eröffnen, das von vorgegebenen Argumentationsstrukturen abweicht und ablenkt. 21 Wenn sich die Gesten einerseits der Sinngebung entziehen und auf ein bloßes „ So ist es “ zeigen, so bewahren sie gleichzeitig etwas von der sinnlichen Gewissheit der situationsgebundenen Sprache, von der konkreten 19 Binder (cit.) hat in diesem Zusammenhang auf die besondere Funktion der „ als ob “ - Sätze hingewiesen: Teil II, Kap. 5, S. 194 - 239. 20 Joseph Vogl. Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990. 21 Zur Umkehrung und Ablenkung schematischer Denkgesetze in der Denk- und Schreibbewegung Kafkas siehe den Aufsatz von: Gerhard Neumann, „ Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas ‚ Gleitendes Paradox ‘“ , Deutsche Vierteljahrsschrift 42 (1968), S. 702 - 744. Einleitung 11 Anschaulichkeit des physisch Einmaligen und Unwiederholbaren, das nur im Kontext einer bestimmten Situation erfasst werden kann. In diesem Kontext können sie „ indexikalische Bedeutung “ gewinnen und als „ Mittel der Hervorhebung, der Akzentuierung, der Kursivierung oder Unterstreichung “ 22 fungieren. Wie schwierig es ist, dieses kontextgebundene Sinnangebot ins Wort zu übertragen, zeigt sich klar in den vergleichenden Analysen der französischen und italienischen Übersetzungen von Kafkas Romanen Der Proceß oder Das Schloß, die die Mehrdeutigkeit der Gebärdensprache ins Auge fassen. 23 Das mimetische Potential der Gesten, das sich kaum auf den Begriff bringen lässt, schreibt sich als semantischer Überschuss in die Texte ein, der nicht nur negativ lesbar ist. Die Autoren der littérature mineure, die Kafkas Schriften nicht deuten, nur experimentell erproben wollen, verstehen diesen Exzess im positiven Sinn als „ Fluchtlinie quer durch die Sinnsprache, um eine lebendige Ausdrucksmaterie freizusetzen, die nur noch für sich selber spricht. “ 24 „ Ausdruckskomponenten “ wie der „ gesenkte Kopf “ oder der „ gehobene Kopf “ stellen daher in der Sicht einer „ kleinen Literatur “ den privilegierten Zugang und Einstieg in Kafkas Werk dar. Die kultur- und mediengeschichtlich orientierten Arbeiten der letzten Jahre haben Ansätze zu einer Semiotik und Theorie der Geste entwickelt und dabei Erkenntnispotential, Funktion und Lesbarkeit der Gestik in einer interdisziplinären Perspektive neu befragt. 25 Eine Kulturgeschichte der Geste, 22 Kai Luehrs-Kaiser, Exponiertheit als Kriterium von Gesten, in: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, Tübingen 2000, S. 43 - 52, hier: S. 44. Luehrs-Kaiser setzt sich auch kritisch mit der lexikalisch festgeschriebenen Bedeutung des Begriffs „ Geste “ auseinander, die die Intentionalität der Geste in den Vordergrund stellt, während die Geste in der Literatur gerade dort hermeneutisch interessant wird, wo ihre Bedeutung im Dunklen bleibt; vgl. Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch. Mit einem „ Lexikon der deutschen Sprachlehre “ . Völlig überarbeitete Neuausgabe, München 1988, S. 556. Vgl. auch: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Tübingen 1996, Gestik, Spalte 972 - 989. 23 Peter Utz, Übersetzte Gesten in Kafkas Proceß, in: Geste und Gebärde, cit., S. 262 - 290; Elmar Locher, Il processo e le sue traduzioni, in: I romanzi di Kafka, hrsg. v. Isolde Schiffermüller, „ Cultura tedesca “ 35 (2008), S. 149 - 170; Peter Kofler, La traduzione (dell ’ ) intraducibile. Versioni italiane del Castello, in: I romanzi Kafka, cit., S. 171 - 190. 24 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen v. Burkhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, S. 30. 25 Verwiesen sei auf die Sammelbände: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne, hrsg. v. Isolde Schiffermüller, Bozen, Innsbruck, Wien 2001; Gesture and Gag, The Body as Medium, hrsg. v. Bianca Theisen, Modern Language Notes (German Issue), Baltimore 2000; Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, hrsg. v. Margreth Egidi u. a., Tübingen 2000 (Akten der Tagung des Konstanzer Graduiertenkollegs „ Theorie der Literatur und Kommunikation, Oktober 1999), vgl. die Einleitung „ Riskante Gesten “ : Hervorgehoben wird, was die Bedeutung der Geste betrifft, die Bindung des Sinns an den Körper und an konkrete Kontexte, die dichotomische Ordnungsmuster außer Kraft setzt und sich jenseits und zwischen den Differenzen von Natur und Kultur, von innen und außen, von Signifikat und Signifikant ansiedelt. 12 Einleitung die das Schicksal des homo monstrans erkundet, könnte wohl zeigen, dass die Epoche um 1900 einen fundamentalen Einschnitt darstellt, eine Zäsur, die markiert wird durch die Erfindung fotographischer und filmischer Aufzeichnungssysteme. In seinen Noten zur Geste spricht der Philosoph Giorgio Agamben von einer Katastrophe der Gestik am Ende des 19. Jahrhunderts: „ der Kontrollverlust über die Gesten, die verrückte Gangart und Gestikulation sind von einem bestimmten Zeitpunkt an zu einem allgemeinen Symptom geworden “ ; und eben deshalb sei die „ Epoche, die ihre Gesten verloren hat “ nun „ von ihnen besessen “ gewesen: „ Menschen, denen jede Natürlichkeit abhanden gekommen ist, wird jede Geste zum Schicksal. Je mehr die Gesten ihre Unbefangenheit unter der Wirkung unsichtbarer Kräfte verloren, um so weniger ließ sich das Leben entziffern. “ 26 Angesichts dieser spezifisch modernen Verrätselung des Lebens gewann die Auseinandersetzung mit der Geste wohl deshalb ihre epochale Relevanz erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Magie der Gebärden den Stummfilm animierte und die Sprache des Leibes in Tanz und Pantomime die Künstler und Schriftsteller des fin de siècle wie Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke faszinierte. In der Kulturwissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre wird die Gebärde dann als Kristallisation und Relikt des kulturellen Gedächtnisses befragt, man denke an Aby Warburgs Projekt Mnemosyne, in dem die antiken Pathosformeln als „ Engramme leidenschaftlicher Erfahrung “ zu Elementen einer Darstellung werden, die das kollektive Gedächtnis des Abendlandes umfasst. Die Literaturwissenschaft der Epoche prägt das Konzept der „ Sprachgebärde “ , das bei André Jolles 27 auf eine Schicht der Sprache verweist, die sich nicht in der Mitteilung erschöpft, während es in der Kritik und Dichtungstheorie Max Kommerells als Figur der Betroffenheit verstanden wird: „ etwas, womit der Mensch antwortet auf das, was ihn trifft “ 28 . Im ästhetischen Ausdruckstraum der Jahrhundertwende wird die Gebärde oft als Erlösung von der Entstellung der Sprache imaginiert, als Rettung etwa vor einer radikalen Sprach- und Zeichenkrise, wie in Hofmannsthals berühmtem Brief des Lord Chandos, der in wortreicher Rhetorik sein Verstummen beklagt. Anders bei Kafka: für ihn ist die Geste alles andere als der Zufluchtsort einer vermeintlichen Authentizität in der allgemeinen Krise der Moderne, sie bezeugt vielmehr ihrerseits eine radikale Entfremdung, die auch den körper- Bezug genommen wird dabei auch auf die Phänomenologie von Merleau-Ponty, die das Verstehen an den leibhaften Sinn bindet (cit., S. 15). 26 Giorgio Agamben, Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, hrsg. v. Jutta Georg- Lauer, Tübingen 1992, S. 99. 27 André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (1928), 6. Aufl., Tübingen 1982, S. 265. 28 Max Kommerell, Vom Wesen des lyrischen Gedichts, in: ders., Gedanken über Gedichte, Frankfurt a. M. 1985, S. 36. Vgl. dazu den Sammelband: Max Kommerell, Leben - Werk - Aktualität, hrsg. v. Walter Busch und Gerhart Pickerodt, Göttingen 2003. Einleitung 13 lichen Menschen erfasst hat. Diese Entstellung kennt nur einen Maßstab, nämlich die Sprache des Menschen, die Kafka nicht bloß als Zeichensystem oder als Mittel der Kommunikation verstehen will, sondern als Medium der Mitteilung in einem umfassenden Sinn, der auch die Gebärden des Menschen, seine Physiognomie und Verhaltensweise einschließt. Keine Norm und kein Gesetz - mag dieses auch Kafkas Werk thematisch beherrschen - nur die Sprache als Gestus scheint für den Blick des Künstlers das Kriterium zu bilden, an dem wie in einem Zerrspiegel das Ausmaß der Deformationen abzulesen ist. Schon die frühen Texte Kafkas sind in diesem Sinn das Zeugnis einer Erfahrung, die, wie Benjamin erkannt hat, dem sozialen Gestus von Bert Brechts epischem Theater näher steht als der Imagination der Dekadenz. Die Diskussion der Geste, die sich vor allem auf den Beginn der Kafka- Forschung in den dreißiger Jahren konzentrierte, findet im Rahmen der gegenwärtigen Medien- und Kulturwissenschaft den Ort einer neuen und aktuellen Lesbarkeit. Die technischen Medien wie Fotographie und Film haben den Blick geschärft für die Manipulierbarkeit der Bewegungsbilder und für die Körperlosigkeit virtuellen Lebens im Cyberspace. Dieselben Medien haben indessen auch den Blick getrübt für die Deformationen der menschlichen Sprache und für die spezifischen Formen eines Gedächtnisses, das sich bei Kafka im Habitus kristallisiert und im Gestus bewahrt hat. Im Medium der Geste zeigt Kafka, so deutete schon Adorno an, die Entstellung der menschlichen Sprache und Kommunikation noch einmal in stummfilmartiger Verdichtung, bevor ihre Evidenz - so ließe sich hinzufügen - in der audiovisuellen Simulation der modernen Medienwelt verschwindet. Den technischen Medien, deren Wirkung Günther Anders treffend mit dem Wort von der „ Antiquiertheit des Menschen “ 29 bezeichnet hat, ist eine Vergessenheit eingepflanzt für die Sedimente der Erfahrung, die sich in den geschichtsbeladenen Echos des Kafkaschen Gestus mitteilen, in dem Haltung und Gesicht des Menschen auf dem Spiel stehen. Diese medienspezifische Blindheit betrifft im besonderen auch das Ethos der Geste, wie es Giorgio Agamben beschrieben hat 30 : in ihr stellt sich der Mensch nicht als Subjekt der Handlung dar, er wird vielmehr bewegt von „ Kräften “ (um ein Lieblingswort Kafkas zu gebrauchen), die ihn berühren und betreffen und die er an- und übernehmen muss. Kafkas Gesten - so kann thesenhaft formuliert werden - gewinnen im medial geschärften und technisch versierten Blick der Gegenwart eine spezifische Signifikanz: als Träger einer eigenen Form des kulturellen Gedächtnisses, in der mit den Spuren der Entfremdung vielleicht auch die Reste einer Semantik der Erlösung verzeichnet sind, mag diese im Vokabular der Gegenwart auch 29 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1 Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, Bd. 2 Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980. 30 Agamben, Noten zur Geste, cit., S. 102. 14 Einleitung prosaischer gemeint sein als damals bei Walter Benjamin, der die Lektüre der Kafkaschen Gesten noch ins Zeichen einer messianischen Hoffnung stellen wollte. Die vorgeschlagene Lesart, die dem Leitfaden der Geste folgt, kann auf keine vorgegebene Theorie oder Methode zurückgreifen, sie will sich vom Text bewegen lassen und ihre Begrifflichkeit vor allem aus der Praxis der Lektüre gewinnen. Die Geste, die für den Ansatz dieser Studie zentral ist, wird dabei nicht nur als Gegenstand des Studiums verstanden, sie dient vor allem auch als Kategorie der Kritik, die im 1. Kapitel dieser Arbeit (Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin) entwickelt werden soll. Als heuristisches Konzept der Lektürepraxis bedarf sie der Erläuterung und Diskussion, dies umso mehr, als sie sich entschieden allen theoretischen und methodischen Festschreibungen entzieht. Kafkas Schriften verlangen nach einer eigenen Poetik der Geste, deren Konzeptualisierung sich ausgehend von Benjamins Kafka-Essay und dem Dossier von Aufzeichnungen und Briefen entwickeln lässt, das Benjamins mehrjährige Arbeit an Kafka begleitet. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Brechts Theorie des sozialem Gestus im epischen Theater, die den „ durchschlagenden “ Charakter der Kafkaschen Geste deutlich macht, der Austausch mit Adorno über die Affinität der Kafkaschen Schriften zum Stummfilm und die Diskussion mit Brecht über das Scheitern der Parabel und den Gestus als „ wolkige Stelle der Parabel “ (Benjamin). Im Rahmen dieser Diskussion wird die Geste zum Austragungsort eines Denkens in Konfigurationen, in dem sich unterschiedliche ideologische Positionen und Denkformen verschränken und bewegen lassen. Wenn diese Diskussion der dreißiger Jahre in den letzten Jahren wieder aufgegriffen wurde, so verdankt sich das gegenwärtige Interesse an der Geste als kritische Kategorie nicht zuletzt einer Revision der Theorien und Diskurse, die die Methodendiskussion der letzten Jahrzehnte bestimmt haben. Das 2. Kapitel ( „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher) fragt nach der Aussagekraft der Gesten in Kafkas artistischer Selbst- und Weltanschauung. Gegenstand der Untersuchung sind die Aufzeichnungen fremder Gesichter, die ganze Seiten der Tagebücher füllen, aber auch die Selbstbilder, in denen sich die Physiognomie des Schriftstellers abzeichnet, weiters die Mikrogramme sozialen Lebens, die in wenigen Strichen einzelne Szenen aus Büro und Alltag festhalten. Evident wird in diesen Aufzeichnungen die zeichnerische Begabung Kafkas und dessen Affinität zur Kunst der Moderne. Ein zentraler Abschnitt befasst sich mit Kafkas Reflexionen über das eigene mimische Talent und über die Besonderheit des eigenen Nachahmungstriebs, der sich im Unterschied zu dem des Schauspielers auf einzelne Gesten, auf die „ Nachahmung von Details “ (Kafka) konzentriere. Eine wichtige Rolle spielen schließlich die zahlreichen Eintragungen zum jiddischen Theater, das für Kafka zur prägenden Erfahrung und zum Geburtshelfer schöpferischer Energie wird. Die Tagebuchnotizen erzählen von seiner begeisterten Partizi- Einleitung 15 pation an einer Bühne, der es noch gelang, die Überzeugungskraft kollektiver Gebärden und Melodien ins Gedächtnis zu rufen. Das Frühwerk Kafkas, das im 3. Kapitel besprochen wird (Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes), kann als Zeugnis für den Verlust jeder kollektiven Melodie gelesen werden. Eröffnet wird das gestische Repertoire von der „ vertrackten Geschichte vom schamhaften Langen “ , dem ersten erhaltenen Erzähltext Kafkas, der einem Brief des Jahres 1902 entstammt. Grundfigur dieser ersten Geschichte ist die Scham, die als feinste Waagschale gestischen Verhaltens gelten kann. Im Zeichen der Scham stehen viele der frühen Texte im Umkreis der Beschreibung eines Kampfes, die auf einer noch unsicheren Erzählbühne die Dramaturgie einer halt- und bodenlosen Existenz inszenieren. Vorgeführt wird die ungelenke Gestikulation schwankender Figuren, ihre Posen, Allüren und gags im Phantomtheater einer kulissenartigen Welt, die von den Projektionsfiguren des erzählenden Ich bevölkert wird. Die „ Entstellung des Daseins “ (Benjamin), die hier in Bewegung versetzt und mit nüchternem Blick studiert wird, liest sich nicht nur als soziale und gesellschaftliche Entfremdung, sie stellt sich darüber hinaus auch als Verlust jedes vertikalen Halts dar, als Profanierung, ja als Perversion des Gebets und des rituellen Gestus, die im Gespräch mit dem Beter demonstriert und reflektiert wird. Die kleinen Prosastücke der Betrachtung, die im 4. Kapitel analysiert werden (Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens) können exemplarisch veranschaulichen, wie sich Kafkas figuratives Denken entfaltet. Texte wie Entschlüsse, Der plötzliche Spaziergang oder Das Unglück des Junggesellen sind Beispiele einer intensiven Betrachtung und Selbstbetrachtung, die dem Kräftespiel eines überwachen Lebens nachgeht, wobei sich die Aufmerksamkeit konkreten Haltungen und Gesten zuwendet. Es sind Gedankenexperimente, in denen hypothetische Denkfiguren (etwa wie man „ sich zu seiner wahren Gestalt erhebt “ ) ein figuratives Eigenleben gewinnen und einen Denkprozess in Gang setzen, der den Flexionen und Konversionen der Aussagelogik folgt. Kafkas literarisches Genre der Betrachtung verlangt eine konzentrierte Aufmerksamkeit des Lesers, es fordert ihn auf, die Denkfiguren mimisch nachzuvollziehen und sich von den Gesten bewegen zu lassen. Die mimische Prägnanz der Kafkaschen Prosa erreicht einen ihrer Höhepunkte im Romanfragment Der Proceß, das im 5. Kapitel besprochen wird (Gesten im Gericht. Der Proceß). Ihre besondere Signifikanz gewinnen die Gesten in Kafkas Roman als Indizien eines Ausnahmezustands; sie erzählen von der Verhaftung in der Sphäre des Gerichts und vom Bann eines gespenstischen Gesetzes, das nichts mehr vorschreibt und nichts mehr bedeutet, das sich nur noch an den Wirkungen und Deformationen ablesen lässt, die es der menschlichen Haltung und Mimik auferlegt. Die Gesten im Proceß werden so zum Objekt einer minutiösen Investigation, die den Entstellungen der menschlichen Sprache nachgeht. An den Haltungen von Josef K., der die Aporien der 16 Einleitung Rechtfertigung am eigenen Leib erfährt, kann der Fortschritt eines Verfahrens abgelesen werden, das zunehmend pantomimische Evidenz gewinnt. Am Beispiel der Erzählungen aus dem Band Ein Landarzt werden schließlich im 6. Kapitel (Gestus und Parabel. Geschichten aus ‚ Ein Landarzt ‘ ) die hybriden Formen der Kafkaschen Prosa erörtert, die aus der Spannung zwischen Gestus und Parabel, zwischen lehrhafter Form und Gebärdensprache hervorgehen. In den so genannten Parabeln sind die Gesten oft Spuren eines Rückzugs der Bedeutung, der nicht ins hermetische Dunkel führt, sondern sich als sichtbare Ausdrucksfigur abzeichnet. Dies gilt etwa für das Prosastück Auf der Galerie, Kafkas Parabel über Wahrheit und Fiktion der Kunst, in der Elend und Glanz eines Zirkusspektakels vorgeführt werden, die scheinbar antithetisch aufeinander bezogen sind. Das „ Pathos der Wahrheit “ (Nietzsche) in der Kunst wird hier in einer Geste angezeigt, die auf das Spiel der Kräfte antwortet. Eine kaiserliche Botschaft kann dagegen als Paradebeispiel für die Negativität der Kafkaschen Parabel angesehen werden, denn die Botschaft des sterbenden Kaisers wird ihren Adressaten nie erreichen, sie reduziert sich auf den bloßen Gestus ihrer Vermittlung. Mit Blick auf die Gebärdensprache und auf die visuelle Evidenz der Erzählung liest sich diese Reduktion der Botschaft auf den Gestus auch anders: als Pantomime alter Weisung, die noch im Gedächtnis der Gesten aufbewahrt ist und vom Leser erträumt werden kann. Geht es in Texten wie Eine kaiserliche Botschaft um die Transformation der Parabel und das Problem der Tradierbarkeit, so spricht Ein Brudermord ganz bewusst die Sprache der expressionistischen Moderne und kann exemplarisch die Affinität von Kafkas Prosa zum Stummfilm beleuchten. Eine scharf gezeichnete gestische Sequenz führt dem Leser die schwarze Chronik einer Mordtat vor Augen, wobei die melodramatischen Gebärden die Anklänge an die Parabel der Bibel zugleich dissimulieren und verraten und auf die Berührung und Verletzung ältester Tabus verweisen, die die physische und geistige Integrität des Menschen bedrohen. Kafkas surrealistisches Szenario, das als medienkritischer Text verstanden werden kann, erfasst die Suggestionen der expressionistischen Bildwelt mit kaltem Blick, um deren latente Gewalt bloßzulegen. Klingt im Prosastück Ein Brudermord, das sich mit dem bösen Traum der Moderne auseinandersetzt, die biblische Parabel nur noch als Persiflage an, so geht es im Bericht an eine Akademie kaum mehr um die Tradierbarkeit antiker Weisheit, Parabel und Gleichnis haben dem wissenschaftlichen Diskurs Platz gemacht, der als Machtdispositiv das zeitgenössische Wissen über den Menschen repräsentiert. Protagonist dieses Wissens ist der Affe, der vor den Herren der Akademie über seine erfolgreiche Menschwerdung berichten soll: er bleibt dem Leser zwar die entscheidende Auskunft über die Anthropogenese schuldig, was er jedoch aufzeigen kann, ist die Richtlinie einer Menschwerdung, die sich dem Versprechen der Nachahmung verdankt. Kafkas Beitrag zur Kulturwissenschaft der Moderne, der auf Nietzsche und Darwin antwortet, erläutert nicht nur, dass der Ausweg aus dem Einleitung 17 Tierkäfig durch die Fluchtlinie der Mimikry des Menschen hindurch führt, er macht aus dieser Fluchtlinie auch die Richtlinie einer artistischen Vernunft, in der der Kampf um ein humanes Profil auf dem Spiel steht. Die vorliegende Studie konzentriert sich bewusst auf die Texte der früheren und mittleren Werkphase bis zum Landarzt (1919). Sicherlich gibt es auch im Spätwerk Szenen, Passagen und Details, an denen man noch einmal eindrucksvoll Kafkas Gesten inszenieren könnte. Angedeutet sei hier nur die wortlose Kommunikation im Schloß, der stumme Widerstand, den die Dorfbewohner K. entgegensetzen, ihre viel sagenden Blicke und ihr ironisches oder enigmatisches Lächeln, wenn sie die Augen senken und sich in die Lippen beißen. Studieren ließe sich K.s Berührung mit den Frauen, die in der wilden, ja wütenden „ Grimasse “ der Umarmung mit Frieda einen Höhepunkt findet, oder der Verkehr mit den Beamten, über den der Bote Barnabas keine Auskunft geben kann, da sich dieser, wie er erläutert, nur durch winzige Kleinigkeiten, etwa ein „ besonderes Nicken des Kopfes “ 31 auszeichne. Der Fokus scheint im Spätwerk allerdings nicht mehr auf der Entstellung der menschlichen Gestalt zu liegen. Am Beispiel von Kafkas spätem Romanfragment könnte man nachweisen, dass sich der Bann, der auf den Schlossbewohnern liegt, flüchtiger verkörpert als im Proceß, ja dass es im Kräftespiel der Macht des Schlosses zu einer tendenziellen Dissoziation der Gebärdensprache kommt, die exemplarisch veranschaulicht wird von der Doppelfigur der Gehilfen, die K. mit ihren kindischen und zerfahrenen Gestikulationen begleiten. In Kafkas späten Erzählungen richtet sich dann das Studium der Gebärde auf den Gestus der Tiere, der zum Medium einer radikalen Befragung der contitio humana wird. Dient dieser Gestus im Bericht an eine Akademie der sarkastischen Karikatur der aristotelischen Mimesis und ihres anthropomorphen Ideals, so handelt er in den letzten Erzählungen vom Verstummen der menschlichen Sprache, zugleich aber auch von der Pantomime eines mächtigen Gesangs, der sich von der Klage um die Entstellung des Menschen befreit hat. Das eindrucksvollste Beispiel stellt in den Forschungen eines Hundes der Tanz der jungen Künstlerhunde dar, deren betörende Musik noch einmal Kafkas Jugenderlebnis mit dem jiddischen Theater wachruft, die Faszination für die kollektive Melodie der Gebärden, die für den Forscherhund zum Schlüsselerlebnis aller weiteren Studien wird. Die vorgeschlagenen Lektüren dieses Bandes ergeben - so wird sich zeigen - ein Kafkabild, das zwar das sprichwörtlich Kafkaeske nicht ausschließt, das aber dennoch andere und zum Teil auch neue Akzente setzen kann. Ihre Intention ist es, die Fragen zu aktualisieren, die Kafkas Werk im Gestus stellt und der mimischen Präzision seiner Prosa gerecht zu werden, in der ein Erfahrungspotential verschlossen liegt, das es noch zu studieren gilt. Zur Debatte steht damit auch allgemeiner die Möglichkeit einer poetischen Form 31 Franz Kafka, Das Schloß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 280. 18 Einleitung der Erkenntnis, die den Rückzug des Sinns in den Gestus nicht ins Zeichen der Negativität stellt, sondern im positiven Sinn versteht als Appell an den Leser, den Erfahrungsgehalt dieser Prosa aufzugreifen und wieder lebendig zu machen. An dieser Stelle sei dem „ Dipartimento di Lingue e Letterature straniere “ der Universität Verona gedankt für die finanzielle Unterstützung der Publikation, ich bedanke mich bei meinen Veroneser Kollegen und Freunden für die Anregungen und Diskussionen; ganz besonders möchte ich Walter Busch danken für die vielen gemeinsamen Gespräche über Kafka. Verona, September 2010 Einleitung 19 Kapitel 1 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin 1.1 „ Kodex von Gesten “ Die Bedeutung der Geste bei Franz Kafka hat erstmals Walter Benjamin in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. In seinem Aufsatz Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages (1934) bezeichnete er Kafkas Werk als einen „ Kodex von Gesten “ , die „ keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden “ . 1 Der Kafka-Essay ist Teil einer umfassenden Standortbestimmung, die Benjamin in den dreißiger Jahren beschäftigt hat. Er steht im Kontext anderer Arbeiten dieser Jahre, in denen ein spezifisches Forschungsinteresse Benjamins deutlich wird, das divergierende Motive seines Denkens im „ Primat des Gestus “ 2 zusammenlaufen lässt. Auch in den Arbeiten zu Bert Brechts epischem Theater stellt Benjamin so etwa die Funktion des gestischen Elements in den Vordergrund, in der Sammelrezension Probleme der Sprachsoziologie entwickelt er Ansätze zu einer Theorie der Gebärdensprache und des „ mimetischen Vermögens “ der Sprache mit Bezug auf die ethnologischen Forschungen von Lévy-Bruhl und auf die Sprachtheorie von Karl Bühler. 3 Ihr ganzes kritisches Potential entfaltet die Kategorie der Geste dann aber im Kafka-Aufsatz, in dem es um eine „ geistigen Konstellation “ 4 geht, die Benja- 1 Walter Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band II, 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 676 - 683. Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe, in der das umfassende Dossier von Notizen und Briefen enthalten ist, das Benjamins Auseinandersetzung mit Kafka dokumentiert: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1981 (2. Aufl. 1982), hier: S. 18. 2 Vgl. Lorenz Jäger, „ Primat des Gestus “ . Überlegungen zu Benjamins „ Kafka “ -Essay, in: „ Was nie geschrieben wurde, lesen “ . Frankfurter Benjamin-Vorträge, hrsg. v. Lorenz Jäger und Thomas Regehly, Bielefeld 1992, S. 96 - 111. 3 Walter Benjamin, Probleme der Sprachsoziologie, In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, hrsg. von. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.1977, S. 452 - 481. 4 Hans Mayer, Walter Benjamin und Franz Kafka. Bericht über eine Konstellation, in: Literatur und Kritik 140 (1979), S. 579 - 597, hier: 579. min selbst am „ Kreuzweg “ 5 zwischen Marxismus und jüdischer Mystik ansetzt, zwei extreme Pole, deren Spannung er am Beispiel von Kafkas Werk erproben will. Dieses soll ihm dabei wie ein Kompass die Richtung „ auf weglosem Gelände “ 6 anzeigen. In der Diskussion des Essays mit Bert Brecht, mit Theodor W. Adorno, mit Gershom Scholem und Werner Kraft entsteht ein umfassendes Dossier von Notizen, das die erste kritische Debatte zu Kafkas Werk darstellt. Benjamins über ein Jahrzehnt sich erstreckende Befassung mit Kafka dokumentiert sich hier in einem offenen work in progress, aus dem sich entscheidende Fragestellungen für eine Poetik der Geste gewinnen lassen. Die Konfrontation unterschiedlicher und widerstreitender Denkformen findet - so bezeugt dieses Dossier - in der Exegese der Kafkaschen Schriften zwar keine dialektische Vermittlung, wohl aber den Ort ihrer Konfiguration und Austragung. 7 In dieser Konfiguration werden antithetische ideologische Positionen verschränkt und in Bewegung gebracht, als Aspekte eines Forschungsinteresses, das die spezifische Medialität der Geste erst sichtbar und kritisierbar macht. Der Ausdruck „ Kodex von Gesten “ meint mit Bezug auf Kafkas Werk zunächst ein Inventar von typischen Gebärden, denen in den Romanen und Erzählungen eine besondere Rolle zukommt. Kafkas „ Kodex “ umfasst ein breites gestisches Spektrum. Augenfällig auf den ersten Blick sind etwa die gebeugten Rücken der Figuren, ihre gesenkten oder gehobenen Köpfe, das seltsame Spiel ihrer Hände und Finger. Benjamin spricht nicht nur von den Figuren der Macht und Ohnmacht, von den fanatischen Gebärden der Studierenden oder von den Gestikulationen unreifer und „ unfertiger “ Geschöpfe wie den albern kichernden und kauernden Gehilfen im Schloß, er erwähnt auch rätselhafte kreatürliche Gebärden, die Kafka den Tieren abgeschaut hat, etwa die „ Flatterhaftigkeit der Verzweiflung “ 8 , die den Schmetterlingen ähnelt, oder das Wühlen und Grübeln des namenlosen Tieres im Bau. Die Scham ist für ihn die vornehmste und „ stärkste Gebärde Kafkas “ 9 , zugleich „ intime “ und „ gesellschaftlich anspruchsvolle Reaktion “ des Menschen, der sich nicht nur vor, sondern auch für die anderen schämt. Die Kategorie der Geste gewinnt in Benjamins Lesart jedoch auch eine umfassendere Bedeutung, die sich nicht allein auf das figurative Repertoire der 5 Benjamin an Scholem, 15. 9. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 80. In einem Brief an Werner Kraft (12. 11. 1934) spricht Benjamin auch von einem „ carrefour meiner Gedanken und Überlegungen “ (Benjamin über Kafka, S. 97), in einem späteren Brief an Scholem (12. 6. 1938) von zwei Brennpunkten einer Elipse (Benjamin über Kafka, S. 84), die Kafkas Werk zusammenspannt. 6 Benjamin an Kraft, 12. 11. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 97. 7 Vgl. Lorenz Jäger, „ Primat des Gestus “ , cit. und Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000, S. 283. 8 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 30. 9 Benamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 28. 22 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Kafkaschen Texte bezieht. Sie meint darüber hinaus auch allgemeiner die „ Rolle des Szenischen und Gestischen “ 10 im Werk und verweist im besonderen auf ein Erzählen, das zur „ Auflösung des Geschehens in das Gestische “ 11 tendiert, dessen Handlung sich also tendentiell in den Gestus zurückzieht, der eine ganze Erzählung bestimmen kann. Als Beispiel nennt Benjamin die Gebärde des Schreckens in Der Schlag ans Hoftor: „ Gebückt vor Schrecken gehen die Leute, die den Schlag ans Hoftor vernommen haben. So würde ein chinesischer Schauspieler den Schrecken darstellen, aber niemand zusammenfahren. “ 12 Der Gestus des Schreckens überdauert in Kafkas Erzählung seinen Anlass, den Schlag ans Hoftor, dessen Bedeutung im Dunklen bleibt, ja der Erzähler zieht die Realität des Anlasses selbst in Zweifel. Anstatt motiviert zu werden schreibt sich so der Schrecken in die Haltung und in den Habitus der Dorfleute ein und nimmt dadurch den Charakter einer eigentümlichen Zeugenschaft an. Unter den exponierten Gesten in Kafkas Werk kommt nach Benjamin einer Gebärde besondere Bedeutung zu, nämlich der „ des Mannes, der den Kopf tief auf die Brust herunterbeugt “ 13 . Diese Haltung erschließt in seiner Sicht eine ganze Reihe von typischen Figuren der Entstellung, die alle mit einem „ Urbilde der Entstellung, dem Bucklingen “ 14 verbunden sind. Die Last des gebeugten Rückens verweist in dieser Lesart auf die inhumane Gestalt der Machthaber und auf die unterdrückte Haltung der Ohnmächtigen, zugleich aber wird sie auf den Mythos der Atlanten bezogen, „ die die Weltkugel im Nacken tragen “ 15 oder auf das „ bucklicht Männlein “ , das in einfachen Formen wie dem deutschen Volkslied aus Des Knaben Wunderhorn wiederkehrt. Sie alle gehören nach Benjamin dem Urbild des Bucklingen an. Als physiognomische Zeichen, die sich der Deutung anbieten, bezeugen sie den Druck, der vom Gewicht des Alltäglichen ausgeht, die Deformation durch die moderne Lebenswelt ebenso wie die Last einer vergessenen Vergangenheit, die sich physisch eingeschrieben hat und den Körper entstellt, der dem modernen Menschen das Nächste und zugleich doch auch das Fernste ist. Benjamin beschreibt diese Entstellungen als Symptome einer unbekannten archaischen Schuld, die einer vergessenen „ Vorwelt “ angehört und in der Gegenwart weiterhin ihre Wirkungen zeigt, indem sie den Figuren die Köpfe senkt und ihre Rücken beugt. Kafkas Gesten schreiben sich in diesem Sinn in geschichtsbeladene Szenarien ein, sie verschließen in sich das Gedächtnis an ältere vergessene Schichten der Sprache, an mythische, religiöse und historische Echos, die sich nur noch im Verhalten überliefert haben. 10 Benjamin an Scholem, 20. 7. 1934, in: Benjamin über Kafka, S. 76. 11 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 18. 12 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, S. 19. 13 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 31. 14 ebenda 15 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 10. 1.1 „ Kodex von Gesten “ 23 Der Benjaminsche Essay gewinnt seine eigene Physiognomie und Dichte in der Entfaltung, Artikulation und Erörterung der Gesten in Kafkas Schriften. Benjamin verbindet sie mit mythischen Figuren, mit Märchen und talmudischen Legenden und befragt sie im besonderen hin auf ihre geschichtsphilosophische Bedeutung. Er entwirft dabei keine physiognomischen Standbilder, wie sie in der Essayistik des frühen 20. Jahrhunderts beliebt sind 16 , er folgt vielmehr den Bewegungsfiguren, den Verwandlungen und Übergängen, die in den Kafkaschen Gesten lesbar werden, um so auch deren ganze Tragweite zu veranschaulichen. Immer weniger passen sich diese aus seiner Sicht konventionellen Erzählsituationen an: „ Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto öfter verzichtete er darauf, diese Gebärden üblichen Situationen anzupassen, sie zu erklären. “ 17 Dies kann schon ein Vergleich zwischen der Erzählung Die Verwandlung und dem Roman Der Prozess zeigen, der sicherlich einen Höhepunkt gestischer Erzählkunst darstellt. Deutlich wird in diesem Vergleich die zunehmende Entkonventionalisierung der Gesten. Man denke beispielsweise an jene Szene im Roman, in der sich Josef. K. vorstellt, wie er endlich die „ große Eingabe “ einreichen wird. 18 Sie kulminiert in einem rätselhaften Gestus des Sich-Erhebens, in dem Josef K. den Herren, die ihn überragen, ein leeres Blatt hinaufreicht. Der Protagonist verbindet damit, wie es ausdrücklich heißt, keinen bestimmten Gedanken, seine Geste ist insofern unwillkürliches Verhalten, das auf die hintergründige Welt des Gerichts und auf den Fortgang des Prozesses anspielt, was der Erzähler jedoch nur gleichnishaft umschreiben kann: Josef K. erhebt sich so, als ob er seine „ große Eingabe “ einreichen würde, die ihn entlasten könnte von jeder Schuld, das Blatt aber, das er den Herren darbietet, ist leer. Gebärden wie diese nehmen im Medium der Schrift eine exponierte Stellung ein, an sie kann der Leser eine ganze Reihe von Überlegungen anknüpfen. Kafka nimmt - so Benjamin - „ der Gebärde des Menschen die überkommenen Stützen “ und findet an ihr „ einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen. “ 19 Die Benjaminsche Lektüre, die diesen Überlegungen folgt, kann primär als Antwort auf gängige Interpretationsschablonen verstanden werden, die der Komplexität des Kafkaschen Textes nicht gerecht werden und die Benjamin als spekulativ, ja als barbarisch bezeichnet: „ Zwei Wege gibt es, Kafkas Schriften grundsätzlich zu verfehlen. Die natürliche Auslegung ist der eine, die übernatürliche ist der andere; am Wesentlichen gehen beide - die psychoanalytische wie die theologische - in gleicher Weise vorbei. “ 20 Diese Mahnung hat 16 Lorenz Jäger (cit., S. 102) verweist in diesem Zusammenhang auf die physiognomische Essayistik Hofmannsthals über Goethe und Schiller. 17 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 18. 18 Vgl. das Kapitel 5.4. 19 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 20. 20 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 25. 24 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin das Wuchern der hermeneutischen Spekulationen nicht verhindern können, die Kafkas Text immer wieder provoziert und zugleich auch vanifiziert. Die Konzentration auf den Gestus als „ Mitte seiner Bildwelt “ 21 , die den Ausgangspunkt von Benjamins eigener Lesart bildet, lässt sich jedoch schon als Widerstand gegen jede Theorie verstehen, die den Kafkaschen Text diskursiv zu vereinnahmen sucht. Der Appell, beim Lesen auf den Gestus zu achten, auch auf die einfachsten und schlichtesten Details, ist Resistenz gegen die allegorische Exegese, zu der Kafka verführt, zugleich aber auch Suche nach einer Antwort, die sich in der gestischen Form verschließt. Diese gleichsam unbewusste Antwort gibt nach Benjamin keineswegs Auskunft, ihre Funktion besteht vielmehr darin, bestimmte Fragen nicht mehr möglich zu machen und „ wegzuheben “ . 22 Die Gesten stellen sich in diesem Kontext als sensibles Medium eines figurativen Denkens dar, das begrifflich und ideologisch festgeschriebene Standpunkte bewegen und problematisieren kann und gewaltige Spannungen wie die zwischen Politik und Religion bewältigen will. Bei Benjamin durchquert dieses Denken alle Sinnschichten, von der höchsten „ Theologie “ bis zum Traum als „ tiefste Erlebnisschicht “ 23 , es gilt den Kräften der Tradition ebenso wie der „ allerjüngsten Erfahrungswelt “ 24 , dem unbekannten Gesetz und der Möglichkeit der Erlösung, die der belasteten und entstellten Haltung der Machthaber und Unterdrückten eingeschrieben ist. Gegenüber Scholems messianischen Nihilismus stellt Benjamin seine Reflexion ins Zeichen einer „ kleinen widersinnigen Hoffnung “ , die wie ein Leitmotiv den Kafka-Essay durchzieht, sie gilt den Kreaturen einerseits, „ in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt. “ 25 1.2 Gestus und Theater Kafkas Werk stellt nach Benjamin die Gesten in immer neue Versuchsanordungen, in denen diese auf ihre symbolische Bedeutung hin befragt werden. Der Ausdruck „ Versuchsanordnungen “ , der ein experimentelles Arrangement und Studium impliziert, lässt nicht zufällig den Einfluss des epischen Theaters von Bertolt Brecht erkennen, das Benjamin erstmals den Blick für das Gestische eröffnet hatte. Gerade in der Konfiguration von Brecht und Kafka erhellt sich Benjamin die gestische Dimension der Literatur. Ein Vergleich mit dem 21 Benjamin, Franz Kafka. Beim Bau der chinesischen Mauer, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 40. 22 Benjamin an Scholem, 20. 7. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 76. 23 Benjamin, Notizen zu Kafka ‚ Der Prozeß ‘ , in: Benjamin über Kafka, S. 113. 24 Benjamin an Scholem, 12. 6. 1938, in: Benjamin über Kafka, S. 86. 25 Benjamin an Scholem, 11. 8. 1934, Benjamin über Kafka, cit., S. 78. 1.2 Gestus und Theater 25 sozialen Gestus des Brechtschen Theaters macht deshalb die Eigenart und Tragweite der Geste in den Schriften Kafkas erst evident. 26 In seiner Studie Was ist das epische Theater? schreibt Benjamin 1931 zur Funktion der Geste im dialektischen Theater Brechts: Das epische Theater ist gestisch. [. . .] Die Geste ist sein Material, und die zweckmäßige Verwertung dieses Materials seine Aufgabe. Gegenüber den durchaus trügerischen Äußerungen und Behauptungen der Leute auf der einen Seite, gegenüber der Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Aktionen auf der anderen Seite hat die Geste zwei Vorzüge. Erstens ist sie nur in gewissem Grade verfälschbar, und zwar je unauffälliger und gewohnheitsmäßiger sie ist, desto weniger. Zweitens hat sie im Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leute einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende. Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, die doch als ganze in lebendigem Fluß sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphänomene der Geste. Es ergibt sich daraus ein wichtiger Schluß: Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. 27 Die Hauptfunktion der Geste im epischen Theater liegt in der Unterbrechung der Handlung, die als Mittel der Verfremdung eingesetzt wird. Sie dient dem Versuch, „ die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln “ 28 , um den Zuschauer das Staunen zu lehren. Die wichtigste Leistung des Brechtschen Schauspielers sollte die Fähigkeit sein, „ die Gesten zitierbar zu machen “ , er sollte - so drückt es Benjamin auch anders in der Metaphorik der Schrift aus - seine Gebärden „ sperren können wie ein Setzer die Worte “ . 29 Was Brecht damit aufzeigen will, ist immer ein sozialer Gestus, eine gesellschaftliche Verhaltenslehre, die dem Zuschauer als Haltung angeboten wird, keine Doktrin, sondern eine gestische Wahrheit, die im Hinblick auf andere geschieht; sie ist nach Benjamin weniger verfälschbar als die trügerischen Meinungen der Leute und durchschaubarer als ihre Aktionen: „ Die Geste demonstriert die soziale Bedeutung und Anwendbarkeit der Dialektik “ 30 , in ihr 26 Zur Konstellation Brecht und Kafka vgl. Stéphane Moses, Brecht und Benjamin als Kafka- Interpreten, in: Juden in der Literatur. Ein deutsch-isrealitisches Symposion, hrsg. v. Stéphane Moses und Albrecht Schöne, Frankfurt a. M. 1986, S. 237 - 256 und Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin. Buchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000, das Kapitel „ Eine Seekrankheit auf festem Lande “ . Kafka mit Brecht betrachtet, S. 277 - 413. 27 Walter Benjamin, Was ist das epische Theater? , in: ders., Aufsätze, Essyas, Vorträge. Gesammelte Schriften II,2, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 519 - 531, hier: S. 521. 28 Benjamin, Was ist das epische Theater? , cit., S. 522. 29 Benjamin, Was ist das epische Theater? , cit., S. 529. 30 Benjamin, Versuche über Brecht, cit., S. 28. Vgl. Bert Brecht, Über den Beruf des Schauspielers, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, Schriften zum Theater I, Frankfurt a. M. 1967, S. 390 - 436 (Über den Gestus, S. 409). 26 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin wird der widersprüchliche Verlauf der Handlung blitzartig stillgelegt und vergegenwärtigt. Die Affinität zwischen dem epischen Theater Brechts und Kafkas szenischer Narration kann in der Einübung eines verfremdeten Blicks gesehen werden, in dem das menschliche Verhalten exponiert und studiert wird in Gesten, die tendenziell die „ Situationsunabhängigkeit von Sprach- und Schriftzeichen “ 31 gewinnen. Gemeinsam ist beiden nach Benjamin auch der Einfluss des chinesischen Theaters, in dem sich das Geschehen ganz ins Gestische auflöst, in eine mimische Ausdruckskunst, die dort ebenso schlicht wie undurchschaubar bleibt, charakterlose Darstellung, die in der „ Reinheit des Gefühls eine ganz besonders feine Waagschale des gestischen Verhaltens “ 32 findet. Die Theatermetapher scheint sich zunächst für Kafkas szenisches Erzählen anzubieten, da sie den Bezugsrahmen bezeichnet, in dem das nicht verbale Verhalten mimisch demonstrierbar und entzifferbar wird. Deutlich wird im Vergleich zwischen den Kafkaschen Schriften und dem epischen Theater Brechts allerdings auch, wie verschieden die Bühne ist, auf der sich das gestische Geschehen abspielt und dies nicht allein aufgrund der offensichtlichen Gattungsdifferenz zwischen dramatischem und erzählerischem Werk. Kafkas narrative Inszenierung der Gesten überschreitet den Darstellungsraum des Theaters, da sie keinen Zuschauer kennt, der das Geschehen aus der Distanz betrachtet. In seinen Schriften gibt es keinen Raum außerhalb des Spiels, der Leser wird in die Tragikömödie des Erscheinens und in die Dialektik des Scheins mit einbezogen. 33 Kafkas Erzählen zeigt sich insofern auch weniger als theatralische Demonstration und experimentelle Versuchsanordnung, es definiert sich vielmehr als eine Form der Transkription von Gesten, die - wie Benjamin in den geplanten Einschüben zum Kafka-Essay schreibt - „ immer wieder neu vom Verfasser inszeniert und beschriftet werden, ohne ihren symbolischen Gehalt einer bestimmten Stelle auszuliefern. “ 34 31 Bernd Müller, „ Denn es ist noch nichts geschehen “ : Walter Benjamins Kafka-Deutung, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 100. 32 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 18. Vgl. dazu auch: Bernd Müller, Magie der Gebärden, cit., S. 98 - 104. 33 Gerade die neueren Lektüren, die die Theatralität von Kafkas szenischem Erzählen herausgearbeitet haben, konnten deutlich machen, dass sich die Bühnenhaftigkeit von Kafkas Erzählwelt nicht reduzieren lässt auf die bloße Theatermetapher und insbesondere auf das epische Theater: „ Kafkas Texte überbieten die Verfremdung des epischen Theaters, indem sie im stummen zweideutigen Gestus eine Dialektik des Scheins weitertreiben, die Spieler wie Zuschauer erfasst. “ (Joseph Vogl, Ort der Gewalt, Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 13). Zur Theatralität vgl. auch: Claudia Liebrand, Theater im Proceß. Dramaturgisches zu Kafkas Romanfragment, GRM 48 (1998), Heft 2, S. 201 - 217. 34 Benjamin, Geplante Einschübe, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 173. 1.2 Gestus und Theater 27 Dass Kafkas Werk den konkreten Bezugsrahmen des epischen Theaters durchbricht, macht Benjamins Essay schon insofern deutlich, als er die Theatermetapher zur Vorstellung eines Welt- und Naturtheaters ausweitet. Er spricht von Kafkas Welttheater, in dem sich das gestische Staunen, das erstmals Brecht als Mittel der Erkenntnis einsetzte, zum panischen Entsetzen gesteigert hat vor den „ fast unverständlichen Entstellungen des Daseins “ . 35 Im Unterschied zum sozialen Gestus bei Brecht wirken die Gesten dieses seltsamen Theatrum mundi zu „ durchschlagend für die gewohnte Umwelt und brechen in eine geräumigere ein “ 36 . Sie haben einerseits ihren festen sozialen Bezugsrahmen verloren und finden andererseits auch keinen transzendentalen Bezugspunkt mehr, der Himmel, den sie im Medium der Kunst aufreißen, ist bloße Kulisse, die in den Hintergrund treten muss: „ Die Bühne, auf der dieses Drama sich abspielt, ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem eigenen Gesetz ihn zu durchforschen, hieße den gemalten Hintergrund der Bühne gerahmt in eine Bildergalerie hängen. Kafka reißt hinter jeder Gebärde - wie Greco - den Himmel auf; aber wie bei Greco - der der Schutzpatron der Expressionisten war - bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde “ . 37 Viele Geschichten Kafkas treten nach Benjamin aber erst in ihr volles Licht, „ indem man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Oklahoma versetzt “ 38 . Im Epilog von Kafkas Romanfragment Der Verschollene heißt es von diesem Naturtheater in Oklahoma, dass es das größte der Welt, ja „ fast grenzenlos “ sei und jedem eine Gelegenheit biete, so dass hier alle willkommen sind und alle gebraucht werden. Sogar der unschuldige Karl Rossmann, der vergeblich seine Gelegenheit sucht in den „ Amerikanischen Verhältnissen “ , wird auserwählt und berufen und findet hier seine Rolle und seinen Ort. Dieses Theater, für das eine Werbetruppe Reklame macht mit verkleideten Engeln und Posaunen, stellt sich in den verschiedenen Lesarten von Kafkas Roman als eine Arena des Glaubens dar, die abwechselnd als Travestie der Erlösung oder gelobtes Land, als metaphysische Farce oder soziale Utopie, als musical vom Paradies auf Erden oder als Natursanatorium interpretiert wird. Entscheidend allerdings ist - so deutet schon Benjamin an - , dass hier alle möglichen sozialutopischen und messianisch-religiösen Bedeutungskomponenten sowie deren Travestie und Entstellung nur noch im Gestus fortleben, als Formen eines Spiels, das die Differenz zwischen Leben und Theater, zwischen Sein und Schein auflöst: 35 Benjamin, Beim Bau der chinesischen Mauer, Benjamin über Kafka, cit., S. 41. 36 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 18. 37 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 19. 38 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 18. 28 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Und die Probe auf das Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. Nach welchen Maßstäben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu enträtseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das aber auch so ausdrücken: den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich zu spielen. Daß sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Möglichkeit aus. Mit ihren Rollen suchen die Personen ein Unterkommen im Naturtheater wie die sechs Pirandelloschen einen Autor. Beiden ist dieser Ort die letzte Zuflucht; und das schließt nicht aus, daß er die Erlösung ist. Die Erlösung ist keine Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, wie Kafka sagt, ‚ sein eigener Stirnknochen . . . den Weg ‘ verlegt. Und das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz enthalten, den der ‚ Bericht an eine Akademie ‘ enthält: „ . . . ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund. 39 Kafkas Naturtheater stellt sich in diesen Worten auf eine neue und unerkannte Weise als ein Theater der Erlösung dar, als ein Spiel, in dem jeder als Figurant seiner selbst auftritt und seine Rolle der eigenen Natur nach spielen kann, befreit von der Repräsentation und von der Demonstration einer spezifischen Kompetenz, und sei es auch nur der eines Schauspielers. Das Naturtheater von Oklahoma führt so den Wahrheitsgehalt von Kafkas „ american dream “ 40 vor Augen, die Erlösung nämlich vom Bann einer Welt, in der alle Mittel ihren Zwecken dienen müssen, in einem Räderwerk der Produktion, in dem der unproduktive und überzählige Einzelne mühelos vom Handelsverkehr der Waren und Menschen ausgestoßen und liquidiert werden kann, „ der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen “ 41 - wie Kafka in sein Tagebuch schreibt. Von dem, was einmal Berufung oder gar Hoffnung auf Erlösung hieß, bewahrt dieses Theater nur noch den reinen Gestus, dem Benjamin eine quasi-messianische Rolle zuschreibt. Den Gegensatz zwischen „ Verdammnis und Seligkeit “ , der bei Kafka oft auf die Romane Der Proceß und Das Schloß projeziert wurde, sieht er im erörterten Sinn „ allein in dem Gegensatz zwischen Welt- und Naturtheater “ 42 begründet. 1.3 Sprachkrise und Stummfilm Gegen die Theatermetapher in Benjamins Kafka-Essay hat vor allem Theodor W. Adorno Einspruch erhoben. Im Briefwechsel mit Benjamin bescheinigt Adorno zunächst dessen Kafkastudien, die Funktion von Theater und Geste 39 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 22/ 23. 40 Milena Massalongo, Kafka ’ s American Dream, in: I romanzi di Kafka, hrsg. v. Isolde Schiffermüller, “ Cultura tedesca ” 35 (2008), S. 27 - 48. 41 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 757 (Notiz vom 10. 9. 1915). 42 Benjamin, Geplante Einschübe, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 171. 1.3 Sprachkrise und Stummfilm 29 „ erstmals so in die Mitte gestellt zu haben [. . .] wie es sich geziemt “ , er fährt dann allerdings fort: Wollte man nach dem Grund der Geste suchen, so wäre er vielleicht weniger im chinesischen Theater zu suchen, scheint mir, als in ‚ Moderne ‘ , nämlich dem Absterben der Sprache. In den Kafkaschen Gesten entbindet sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden sind. So erschließt sie sich gewiß, wie Sie es sagen, der tiefen Besinnung oder dem Studium als Gebet - als „ Versuchsanordnung “ [. . .] scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an der Arbeit materialfremd dünkt ist die Hereinnahme von Kategorien des epischen Theaters. Denn dies Welttheater, da es ja nur Gott vorgespielt wird, duldet keinen Standpunkt außerhalb, für den es als Bühne sich zusammenschließen würde. 43 Adorno weist hier nicht nur explizit Brechts Kategorien des epischen Theaters zurück, er schlägt für die Bedeutung der Geste in Kafkas Schriften einen anderen Begründungszusammenhang vor, nämlich das moderne „ Absterben der Sprache “ . In diesem Kontext wird allerdings auch die Differenz deutlich, die Kafkas Werk von den kanonischen Autoren der modernen Sprachkrise unterscheidet. In der Ästhetik des fin de siècle drückt die Zuflucht zur Gebärde die Sehnsucht nach einem leiblich erfüllten Sinn aus, der in der Konvention der Zeichen verloren wurde. Berühmtestes poetisches Dokument der Sprachkrise um 1900 ist bekanntlich Hugo von Hofmannthals Ein Brief, in dem ein gewisser Lord Chandos in wortreicher Rhetorik seine Klage äußert, ihm zerfielen die Worte im Munde „ wie modrige Pilze “ , um sich schließlich mit dem Crassus der Antike zu identifizieren, dem großen Redner, dessen Liebe der stummen Kreatur, im spezifischen Fall einer zahmen rotäugigen Muräne galt. Exemplarisch zeigt sich hier, wie in der Moderne die Krise der Zeichen mit heroischer Negativität affirmiert wird, um die stumme kreatürliche Gebärde als Vehikel ästhetischer Sehnsucht zu inszenieren. Deutlich wird in Benjamins Kafka-Kommentar die Differenz zur Sprachkonzeption der Moderne und allgemeiner die Distanzierung von Hugo von Hofmannsthal. 44 Kafkas Gesten sind kein Fluchtpunkt nostalgischer Sehnsucht nach authentischem Ausdruck, sie bedeuten in diesem Sinn auch keine Rettung von der modernen Sprachkrise, keine ästhetische Alternative zum konventionellen sinnentleerten Zeichen, viel eher demonstrieren sie das schlechte Gewissen einer Sprache, die nur mehr sich selbst sagen kann, da sie keine Erfahrung mehr transportiert. Kafkas Geste stellt sich selbst als signifikatives Moment im Absterben der menschlichen Kommunikation dar, als das sichtbare Indiz einer umfassenden Sprach- und Kulturkrise, die auch den körperlichen Menschen erfasst hat. Als Figur der Entstellung und 43 Adorno an Benjamin, 17. 12. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 105. 44 Vgl. Hans Mayer, Walter Benjamin und Franz Kafka, cit., der vom „ Abschied von Hofmannsthal “ (S. 582) spricht. 30 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Exposition der Sprachlosigkeit kann sie die Sprache wesentlich radikaler befragen als dies in der programmatischen Sprachreflexion der Moderne geschieht. Zugleich kann sie auch mehr und anderes zeigen als nur die Stummheit der Kreatur. Adorno weist in diesem Zusammenhang auf die spezifische Ambivalenz der Kafkaschen Geste hin, in der sich die wortlose Kreatur „ entbindet “ : „ die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen dem Versinken in Stummheit (mit der Destruktion der Sprache) und dem Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohl das wichtigste Stück zur Konstellation Geste-Tier-Musik die Darstellung der stumm musizierenden Hundegruppe aus den Aufzeichnungen eines Hundes. “ 45 In einem späteren Briefwechsel mit Adorno greift Benjamin die angesprochene Analogie und Differenz zwischen Hofmannsthal und Kafka nochmals auf, wenn er von Hofmannsthal schreibt: „ Seine ‚ Sprachlosigkeit ‘ war eine Art von Strafe. Die Sprache, die Hofmannsthal sich entzogen hat, dürfte eben die sein, die um die gleiche Zeit Kafka gegeben wurde. Denn Kafka hat sich der Aufgabe angenommen, an der Hofmannsthal moralisch versagte und darum auch dichterisch. “ 46 Kafkas Geste, die in einer umfassenden Sprachdestruktion der Moderne begründet liegt, hat nach Adorno also wenig zu tun mit dem modernen Theater; er verweist statt dessen auf deren Affinität zu einem anderen und neueren Medium, nämlich dem Stummfilm: „ Kafkas Romane sind nicht Regiebücher fürs Experimentiertheater, weil ihnen der Zuschauer prinzipiell abgeht, der ins Experiment eingreifen könnte. Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas Tod verschwand) “ 47 . Die stummfilmartige Verdichtung des Ausdrucks, die durch den Verzicht auf die Tonspur gleichsam erzwungen wird, erscheint im sprachphilosophischen Kontext als letzte Rettung jener menschlicher Erfahrung, die die sinnentleerte Zeichen- und Tonsprache nicht mehr sagen kann. Benjamin greift in seinen Aufzeichnungen Adornos Gedanken fast wörtlich auf und versetzt dabei die Gesten Kafkas wie auch die des Stummfilms ins historische Intervall einer einmaligen Gnadenfrist vor der Katastrophe moderner Sprachzerstörung: Der stumme Film war eine ganz kurze Atempause in diesem Prozeß. Indem er die menschliche Sprache auf ihre geläufige Dimension zu verzichten zwang, konnte er mit ihr in der des Ausdrucks eine ungeheure Verdichtung vornehmen. Von dieser Möglichkeit hat niemand mehr als Chaplin Gebrauch gemacht; auch konnte es ihm niemand nachtun, der nicht die Selbstentfremdung des Menschen in diesem Zeitalter so tief empfand, daß ihm der stumme Film, zu dem man sich den Verbindungstext noch selbser ausdenken darf, als eine Gnadenfrist erschienen 45 Adorno an Benjamin, 17. 12. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 106. 46 Benjamin an Adorno 7. 5. 1940, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 110. 47 Adorno an Benjamin, 17. 12. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 106. 1.3 Sprachkrise und Stummfilm 31 wäre. Diese Gnadenfrist hat auch Kafka benutzt, der zu gleicher Zeit wie der stumme Film von der Szene abtrat und dessen Prosa man in der Tat die letzten Verbindungstexte zum stummen Film nennen kann. 48 Der Tonfilm erscheint in dieser Perspektive als die Grenze der befristeten Welt, die Kafka mit Charlie Chaplin verbindet, eine Welt, die mit der audiovisuellen Simulation medial produzierter Wirklichkeit untergeht, in der auch die menschliche Sprache zum Verschwinden kommt. Adorno zeigt eine geschichtsphilosophische Verbindung zwischen Kafka und dem Stummfilm auf, er bezieht sich jedoch nicht auf die konkrete Beziehung des Autors zum Kino, auf dessen Faszination beispielsweise für den frühen Film, die für die Jahre 1910 bis 1913 dokumentierbar ist. 49 Kafkas Kinojahre gehen der Zeit Charlie Chaplins noch vorher, sein Kinoerlebnis gehört der zwielichtigen Atmosphäre der ersten Kinematographen an, die Schaubudenphänomene und Orte leichter Unterhaltung waren. Er sieht Filme, die zum Großteil verloren gegangen sind, sogenannte Schund- und Kitschfilme, wie etwa das melodramatische Sensationsdrama Die weiße Sklavin. 50 In kurzen Tagebuchnotizen und Briefen vermerkt Kafka die große affektive Wirkung, die dieses Kino auf ihn ausübt: „ Im Kino gewesen. Geweint “ 51 . Er macht sich Notizen zu einzelnen Figuren, zu Gebärden und Posen der Filmschauspieler. 52 Deutlich artikuliert sich in diesen Aufzeichnungen aber auch die Skepsis des Schriftstellers gegenüber den unruhigen Kinobildern, die das Bewusstsein zu überschwemmen drohen. Während einer Dienstreise nach Friedland besucht Kafka das Kaiserpanorama der Stadt und vergleicht dessen Bilder mit denen des Kinos: „ Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blickes scheint wichtiger. “ 53 Die notwendige Ruhe des Blicks, die nach Kafka das Leben in die Bilder bringt, ist im besonderen auch der Sicht des Schriftstellers eingeschrieben, der sich auf die Geste als Medium der Sprache konzentriert; sein Blick ist ein langsamer, gleichsam geologischer Blick, der in die Tiefe geht und die unteren 48 Benjamin, Entwürfe, Einschübe, Notizen zu einer Umarbeitung des Essays, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 166. 49 Vgl. Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1996. Vgl. auch Wolfgang Jahn, Kafka und die Anfänge des Kinos, Jahrbuch der Schillergesellschaft 6 (1962), S. 353 - 368. 50 Vgl. Zischler, Kafka geht ins Kino, cit., S. 47 - 60. 51 Franz Kafka, Tagebücher, cit., S. 595 (Aufzeichnung vom 20. 11. 1913). 52 Franz Kafka, Tagebücher, cit., S. 563/ 564 (Aufzeichnung vom 1. Juli 1913): „ Der Millionär auf dem Bild im Kino ‚ Sklaven des Goldes ‘ . Ihn festhalten! Die Ruhe, die langsame zielbewusste Bewegung, wenn notwendig rascher Schritt, Zucken des Arms. Reich, verwöhnt, eingelullt, aber wie er aufspringt wie ein Knecht, und das Zimmer in der Waldschenke untersucht in das er eingesperrt worden ist. “ 53 Franz Kafka, Tagebücher, cit., S. 937 (Aufzeichnung vom Januar, Februar 1911). 32 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Schichten verschütteter Erfahrung umwälzen und ans Licht bringen kann. Von einem Einfluss des Kinos auf Kafkas Schreiben kann also - so lässt sich zusammenfassend feststellen - kaum die Rede sein, die ‚ Beschriftung ‘ der Gesten stellt sich eher als ein Parallel- und Gegenprojekt zum Film dar. Deutlich wird dies jedoch im Rahmen einer sprach- und geschichtsphilosophischen Affinität, die Kafka mit den Höhepunkten des Stummfilms bei Charlie Chaplin verbindet, den der Autor vielleicht noch kurz vor seinem Tod in Berlin gesehen hat. 54 Auf diese Art der Verwandtschaft bezieht sich Benjamin wiederholt in seinen Notizen: „ Einen wirklichen Schlüssel zur Deutung Kafkas hält Chaplin in Händen. Wie Chaplin Situationen gibt, in denen sich auf einmalige Art das Ausgestoßen- und Enterbtsein, ewiges Menschenweh, mit den besondersten Umständen heutigen Daseins, dem Geldwesen, der Großstadt, der Polizei u. s. w. verbindet, ist auch bei Kafka jede Begebenheit janushaft, ganz unvordenklich, geschichtslos und dann auch wieder von letzter, journalistischer Aktualität. “ 55 1.4 Das Scheitern der Parabel In Benjamins Diskussion mit Adorno über die Geste bei Kafka werden Brechts Kategorien des epischen Theaters zum Gegenstand der Kritik. Was die Auseinandersetzung mit Brecht selbst betrifft, die während der Svenborger Gespräche im Sommer 1934 56 stattfand, so stehen andere Themen im Mittelpunkt der Diskussion. In erster Linie geht es Brecht um das Problem der Ernsthaftigkeit von Kafkas Dichtung in einem politisch-pragmatischen Sinn, um die „ prophetische Seite an seinem Werk “ 57 , das die rein ästhetische Dimension transzendiert. In diesem Problemzusammenhang kitisiert er die mangelnde Transparenz der Kafkaschen Parabel, deren Botschaft sich immer wieder auf einen unverständlichen Gestus zurückziehe. Zur Diskussion steht damit in besonderen jene „ wolkige Stelle “ der Parabel, von der in Benjamins Kafka-Essay mehrmals die Rede ist: „ Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor. “ 58 Der Gestus trübt die Moral, der die Parabel dient, trotz seiner Evidenz entzieht er sich immer wieder dem Verstehen. Kafka misslingt daher nach Brecht der Übergang vom Dichterischen ins Pädagogische, von der Kunst in die Lehre. In seiner 54 Vgl. dazu Hanns Zischler, cit., S. 155: Im Jahr 1923 wurde in Berlin der Film The Kid (USA 1919/ 1920) gespielt, den Kafka in einem Brief erwähnt. 55 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 123. 56 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., 149 - 154. (Gespräche mit Brecht, in: Versuche über Brecht, cit, S. 117 - 127) 57 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 150. 58 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, S. 27. 1.4 Das Scheitern der Parabel 33 nüchternden und pragmatischen Sicht ist der Prager Autor trotz aller Größe „ ein Gescheiterter “ , weder Dichter noch Prophet, oder genauer: Kafka scheitert nach Brecht als der Prophet einer Wahrheit, die nie zur Welt kommt, als Visionär der gesellschaftlichen Entfremdung, dem es nicht gelingt, aus seinem Angsttraum zu erwachen, ein Inkubo, in dem die Gebärden der Menschen ihren zwiespältigen Doppelcharakter nicht loswerden können und in dem keine Entscheidung fallen kann zwischen Unterwerfung oder Befreiung. Von dieser „ Zweideutigkeit vor der Entscheidung “ , die den Träumen entstammt, ist auch in Benjamins Sicht der Kafkasche Gestus betroffen, der für ihn „ etwa ungeheuer Dramatisches “ 59 gewinnt. Auch er sieht „ Kafkas gesamtes Werk im Zeichen des Gegensatzes zwischen dem Mystiker und dem Paraboliker, der Geberdensprache und der Sprache der Unterweisung, dem Visionär und dem Weisen. Eines Gegensatzes, der eine Verschränkung ist. “ 60 Kafkas Werk - weder Gleichnis noch ganz Roman, weder Lehre noch autonome Kunstform - kann und will nicht gänzlich in die Prosaformen des Abendlandes eingehen. Im Unterschied zu Brecht allerdings beurteilt Benjamin diese hybride Form von ganz anderen Voraussetzungen her und versteht damit auch die Weisheit von Kafkas Schriften in einem anderen Sinn. In einem ersten Schritt antwortet er auf Brechts These vom unentscheidbaren Doppelcharakter der Kafkaschen Schrift, wenn er notiert: „ Hier werfe ich nun die Frage nach Kafka auf. Welcher von beiden Gruppen gehört er an? Ich weiß: die Frage läßt sich nicht entscheiden. Und eben diese Unentscheidbarkeit ist für Brecht das Anzeichen, daß Kafka, den er für einen großen Schriftsteller hält, wie Kleist, wie Grabbe oder Büchner, ein Gescheiterter ist. “ 61 Wenn bei Kafka „ also das Parabolische mit dem Visionären im Streit “ liege, so sei auch seine Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen Typen unentscheidbar, zu dem „ des Visionärs, welchem es ernst ist, auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht ganz ernst ist, auf der andern Seite. “ 62 Benjamin bestreitet damit nicht, dass Kafkas „ großartiger Versuch “ gescheitert ist, „ die Dichtung in die Lehre zu überführen und als Parabel ihr die Haltbarkeit und die Unscheinbarkeit zurückzugeben, die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende erschienen ist “ 63 , wesentlich ist jedoch, dass er dieses Scheitern völlig verschieden sieht. Unter den „ Geplanten Einschüben “ zur Revision des Essays nimmt Benjamin nochmals Brechts Idee vom Scheitern der Kafkaschen Parabel auf, um diese unter umgekehrten, d. h. positiven Vorzeichen zu bewerten. Er betont nicht nur dessen geschichtsphilosophische Notwendigkeit in einer 59 Benjamin, Geplante Einschübe, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 172. 60 Benjamin, Geplante Einschübe, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 169. 61 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 150. 62 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 149. 63 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 27 - 28. 34 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Epoche, in der die „ Organisation des Lebens [. . .] undurchschaubar geworden ist “ 64 , er zeigt auch das kritische Erkenntnispotential auf, das Kafkas ‚ unentschiedene ‘ Form der Dichtung in sich birgt. Kafkas artistische Form verweist in seiner Sicht nicht allein auf die allgemeine Krise des modernen Erzählens und auf die Grenzen der modernen Kunst, in ihr liegt auch die besondere Schönheit einer Dichtung begründet, deren Gebärden die Zerfallsprodukte einer alten Weisheit festhalten können: „ Kafkas Dichtungen sind von Hause aus Gleichnisse. Aber das ist ihr Elend und ihre Schönheit, daß sie mehr als Gleichnisse werden mußten. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie “ . 65 Im zweideutigen Gestus von Kafkas Schriften, der sich nie ganz in den Dienst einer Lehre stellen kann und will, geht es letztlich - wie Benjamin erkannt hat - um den spezifischen Ernst der Kunst, um die Glaubwürdigkeit der Literatur und um die Genauigkeit der Träume. Brecht dagegen lehnt Kafkas „ Geheimniskrämerei “ 66 ganz einfach ab, was aus seiner Sicht notwendig ist angesichts der politischen Ernsthaftigkeit der Situation. Ende August 1934 findet schließlich eine „ lange und erregte Debatte “ zwischen beiden statt, in der es zum Vorwurf kommt, Benjamin leiste mit seinem Kafka-Aufsatz dem „ jüdischen Faszismus “ 67 Vorschub. Was die Kritik von Kafkas „ Parabeln ohne Lehre “ 68 betrifft, so stellt Benjamins konfiguratives Denken nicht nur eine Gegenposition zu Brecht dar, sondern zu allen aufklärerischen oder auch dialektischen Lesarten, wie etwa der von Theodor W. Adorno, der empfiehlt: „ die Wolkengestalt gewiß nicht ‚ aufzuklären ‘ aber durchzudialektisieren - gewissermaßen die Parabel regnen zu lassen - das bleibt das innerste Anliegen einer Kafkinterpretation “ 69 . Die Konzentration auf den Gestus definiert sich aber auch in der Differenz zu all den Exegesen, die Kafkas Werk ins Zeichen der Negativität stellen wollen, insbesondere zur Interpretation von Gershom Scholem, der erklärermaßen Benjamins Andeutungen über das Gestische für „ völlig unverständlich “ 70 hält. In der Perspektive von Scholems negativer Theologie kann es Kafka nur um die Existenz eines Gesetzes gehen, das weiterhin gilt, wenn es auch nichts mehr bedeutet; Kafkas Welt bleibt für ihn die „ Welt der Offenbarung, freilich in 64 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 20. 65 Benjamin an Scholem, 12. 6. 1938, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 87. 66 Gespräche mit Brecht, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 151 67 Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka,cit., S. 158. Vgl. Stephane Moses, Brecht und Benjamin als Kafka-Interpreten, in: Juden in der Literatur. Ein deutsch-isrealisches Symposion, hrsg. v. Stephan Moses und Albrecht Schöne, Frankfurt a. M. 1986, S. 237 - 256 68 Müller, cit., Kapitel II, 3 „ Parabeln ohne Lehre “ , S. 113 - 123, Vgl. auch: Sven Kramer, Rätselfiguren und wolkige Stellen. Zu Benjamins Kafka-Essay, Lüneburg 1991; Giulio Schiavoni, Benjamin interprete di Kafka, „ Humanitas “ LV, Heft 3,4 (2000), S. 426 - 441. 69 Adorno an Benjamin, 17. 12. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 104. 70 Scholem an Benjamin, 14. 8. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 79. 1.4 Das Scheitern der Parabel 35 jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird. “ 71 Anders bei Benjamin, für den der symbolische Gehalt von Kafkas Werk, der auf die Verdunkelung der menschlichen Beziehungen in der Moderne antwortet, zwar undurchschaubar, aber keineswegs bedeutungsleer ist: er hat sich ins Gestische zurückgezogen. 1.5 Kafkas Geste in der aktuellen Diskussion Die Diskussion über das Scheitern von Kafkas Parabel wurde in neueren Beiträgen wieder aufgenommen, die Benjamins Kafka-Kommentar auf seine Aktualität hin befragen. Unter dem Titel Die Geste im Namen 72 geht Werner Hamacher vom Scheitern als Grundfigur der Moderne aus, einem Axiom moderner Literatur- und Kunsttheorie, dem bei Kafka jene heroische Negativität genommen werde, die es im allgemeinen kennzeichnet. Kein erhabenes Scheitern also zeige Benjamin an Kafkas Werk auf, sondern eine „ Erkrankung der Tradition “ 73 , die auch auf den Bereich der literarischen Darstellung bezogen werden kann, eine „ Erkrankung der Genretradition der Parabel und der Überlieferung insgesamt, sofern deren Struktur an die Form der lehrhaften Erzählung und der Tradierung von Wahrheiten, Regeln, Gesetzen gebunden war: eine ‚ Erkrankung ‘ also der Darstellung in ihrer historischen wie in ihrer kognitiven Dimension. “ 74 Als „ Medium eines anderen Gelingens “ ist diesem Scheitern aber nach Hamacher „ die Transformation der Literatur in ihre bloße Geste “ eingeschrieben: „ in eine Gebärde, die nichts mehr austrägt, nichts mehr gebiert, gibt und bringt als dieses Tragen, dieses Bringen selbst. Wie von der ‚ kaiserlichen Botschaft ‘ nur der Bote bleibt, so bleibt vom Gesetz bloß die Geste, die es tragen soll “ 75 . Kafkas „ pure Geste “ 76 ist in dieser dekonstruktiven Perspektive kein „ Phänomen der Regression in die ästhetische Einheit von Bild und Leben “ 77 , vielmehr ein „ irreduzibles Restphänomen nicht nur der Lehre und des Gesetzes, sondern der Sprache überhaupt, das „ der Entscheidung zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, zwischen Unterdrückung und Erlösung “ vorausliegt und diese auch transzendiert: „ Die Entscheidung, die die Geste trifft, sagt nichts aus und zeigt nichts an, und wenn ihr noch ein mimetisches und damit ein semiotisches Moment anhaftet, 71 Scholem an Benjamin, 17. 7. 1934, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 74. 72 Werner Hamacher, Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998, S. 280 - 323. 73 Benjamin an Scholem, 12. 6. 1938, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 87. 74 Hamacher, cit., S. 289. 75 Hamacher, cit., S. 304. 76 Hamacher, cit., S. 319. 77 Hamacher, cit., S. 292. 36 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin dann nicht, weil sie etwas anderes nachahmt oder zeigt, sondern weil sie sich - das Zeigen selbst - zeigt, sich - die Entscheidung selbst - entscheidet “ 78 . Wird das magisch-mimetische Moment der Geste auf diese Weise dekonstruiert, so liest sich auch der Benjaminsche Begriff der Entstellung anders, keine Entstellung der Körper, sondern eine der Namen. Die physische Entstellung, die Benjamin in Kafkas Verwandlungs- und Zwittergeschichten feststellt, beurteilt Hamacher als „ eigentümlich normativen Realismus “ 79 , in dem die Deformation der Körper an einem natürlichen Vorbild gemessen werde. In der dekonstruktiven Lesart von Kafkas Geschichten wie etwa der von Odradek, der Sorge des Hausvaters, gibt es nur eine Entstellung der Namen, die Freuds Mechanismen der Traumarbeit vergleichbar ist, in denen die Eigennamen semantisiert werden, um ganze Monster- und Tiergeschichten aus ihnen zu spinnen. Gegen diese Dekonstruktion der Geste, die so im Namen verschwindet, ließe sich allerdings einwenden, dass die Deformation der Körper wie auch die der Namen bei Kafka nur zwei Pole derselben Entstellung der menschlichen Sprache markieren; diese wird - ähnlich wie in der Sprachkonzeption Walter Benjamins - nicht als bloßes Zeichensystem oder Kommunikationsmittel verstanden, sondern als Medium der Mitteilung in jenem umfassenden Sinn, der auch die Physiognomie und Haltung der Menschen mit einschließt. In Abwesenheit jeder natürlichen Norm und jedes erkennbaren Gesetzes kann bei Kafka nur die Sprache als Gestus den Maßstab bilden, auf den sich der Blick des Künstlers richtet, um das Ausmaß der Entstellung abzulesen. Ansätze zu einer Philosophie der Geste, die sich als Ergänzung der Benjaminschen Reflexion und zugleich als Einspruch gegen die dekonstruktive Lesart von Kafkas Geste verstehen, hat in neuerer Zeit Giorgio Agamben in seinen Noten zur Geste 80 entwickelt. Agamben charakterisiert die Geste als „ reines Mittel “ , das sich der utilitaristischen Gewalt entzieht, der Logik der Mittel, die ihren Zwecken dienen müssen; befreit vom zweckgerichteten Handeln diene die Geste nichts anderem als der Ausstellung der reinen Medialität, die immer auch Exposition einer Sprachlosigkeit sei, die jedem Sprechen innewohnt. Interessanter vielleicht als diese Vorstellung eines zwecklosen Spiels der reinen Mittel, das jede Geste tendenziell zum gag macht, 81 ist die Begründung der Geste im „ Umstand, daß man in ihr weder 78 Hamacher, cit., S. 317. 79 Hamacher, cit., S. 295. 80 Giorgio Agamben, Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, hrsg. von Jutta Georg- Lauer, Tübingen 1998, S. 97 - 107. 81 Vgl. Agamben, Noten zur Geste, cit., S. 103/ 104: „ In diesem Sinn ist die Geste Mitteilung einer Mittelbarkeit. Sie sagt nicht eigentlich etwas, sondern zeigt das In-der-Sprache-Sein des Menschen als reine Mittelbarkeit. Aber weil das In-der-Sprache-Sein nicht propositional gesagt werden kann, ist die Geste in ihrem Wesen stets die Geste des Sich-inder-Sprache-nicht-Zurechtfindens - sie ist stets gag im eigentlichen Sinne des Wortes, ein 1.5 Kafkas Geste in der aktuellen Diskussion 37 etwas herstellt noch ausführt, sondern an- und übernimmt. Die Geste eröffnet daher den für die Menschen eigensten Bereich des Ethos “ . 82 Abgleitet wird daraus an anderer Stelle nicht so sehr eine Hermeneutik als eine Ethik der Geste: „ Ethisch ist nicht das Leben, das sich einfach dem moralischen Gesetz unterwirft, sondern das, das bereit ist, sich in seinen Gesten unwiderruflich und rückhaltlos aufs Spiel zu setzen. “ 83 Entscheidend kann ein so verstandenes Ethos der Geste in einer Gesellschaft werden, die - so Agambens Diagnose der Gegenwart - in einem permanenten virtuellen Ausnahmezustand lebt, in einer Realität nämlich, in der kein legitimes Gesetz mehr die Handlungen der Menschen bestimmt und in der deshalb auch die kleinste Gebärde unabsehbare Konsequenzen haben kann. 84 Wenn sich nach Agamben solch eine Welt im Werk von Kafka ankündigt, so wird der Gestus von Kafkas Parabel zum privilegierten Medium einer Kritik der ‚ Jetztzeit ‘ . Ausdrücklich versteht sich diese Kritik auch als Einspruch gegen das Denken der Dekonstruktion, das an der leeren Macht eines spektral gewordenen Gesetzes festhält, dessen Bedeutung sich entzieht, sie versteht sich als Appell zur „ Umkehr “ im Sinn von Benjamin, der sich abwendet vom Bann des Gesetzes und dieses als „ toten Punkt “ von Kafkas Werk identifiziert, um die Aufmerksamkeit auf dessen Versuch „ der Verwandlung des Lebens in Schrift “ 85 zu lenken. In neueren Lesarten wurden Kafkas Gesten im Sinn dieser „ Umkehr “ befragt, um das mimetische Moment der Schrift herauszuarbeiten. Clemens Carl Härle beispielsweise spricht von den Spuren einer Schrift, die mit dem Körper geschrieben wird, „ ein Zeichnen, Ziehen oder Aufreißen von Linien [. . .], die wir uns nicht denken können, ohne sie mit dem Körper zu ziehen und sie als Gebärde an uns selbst zu beschreiben und auszutragen. “ 86 Knebel im Mund, der am Sprechen hindert und der die Improvisation des Schauspielers erfordert, um die Leere des Gedächtnisses oder die Unmöglichkeit des Sprechens zu überbrücken. “ Vgl. den Sammelband: Bianca Theisen (Hrsg.), Gesture and Gag. The Body als Medium, Modern Language Notes 115, 3 (German Issue), Baltimore 2000. Zur Kritik an Agambens Konzept der reinen Geste vgl.: Milena Massalongo, Kafka, „ Ein Brudermord “ . Oder zur Geste, in: Franz Kafka. Ein Landarzt. Interpretationen, hrsg. v. Elmar Locher und Isolde Schiffermüller, Bozen, Innsbruck, Wien 2004, S. 217 - 240. 82 Agamben, Noten zur Geste, cit, S. 102. 83 Giorgio Agamben, Der Autor als Geste, in: ders., Profanierungen. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider, Frankfurt a. M. 2005, S. 57 - 69, hier: S. 65. 84 Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo sacer II.1). Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt a. M. 2004. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Samuel Weber, Going along for a Ride: Violence and Gesture: Agamben Reding Benjamin Reading Kafka Reading Cervantes, in: The Germanic Review 81,1 (2006), S. 65 - 83. 85 Benjamin über Kafka, cit., S. 78 - 79. Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 65 (orig.: Homosacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1995). 86 Clemens-Carl Härle, Kafka, die Vorwelt und das Gesetz, in: Die Gesetze des Vaters. Problematische Identitätsansprüche, hrsg. v. Gerhard Dienes und Ralf Rother, Wien 2003, S. 222 - 237, hier: S. 234. 38 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Die umfassende und intensive Diskussion von Benjamins Kafka-Essay, die in den letzten Jahren stattgefunden hat 87 , situiert sich im Kontext einer kritischen Revision der Theorien und Diskurse, die die Methodendiskussion der letzten Jahrzehnte bestimmt haben. Das erneute Interesse einer post-theoretischen Literaturkritik für den Beginn der Kafka-Exegese und für die Keimzellen einer Reflexion, die die spätere Forschung bisher kaum weiter entwickelt hat, gilt im besonderen der Geste als kritische Kategorie. Diese gewinnt ihre Konturen erst im historischen Abstand zu jener „ geistigen Konstellation “ , die Benjamins Auseinandersetzung mit Kafka zugrunde lag und die Hans Mayer als „ Teil einer umfassenden Standortbestimmung der damals gegenwärtigen deutschen Zivilisation “ 88 verstanden hat. Das erste „ Kafka-Symposition mit den Teilnehmern Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Werner Kraft und Gershom Scholem “ 89 konnte die gegensätzlichen Positionen der dreißiger Jahre, „ die theologisch-mystische und die historisch-materialistische “ 90 , nicht dialektisch vermitteln, in der Konzentration auf den Gestus fand Benjamin aber den Anstoß und das Medium eines Denkens in Konfigurationen, das divergierende Motive einer ganz „ neuen Steigerung, einer neuen Intensität “ 91 zuführte. Im „ Primat des Gestus “ als Kreuzungspunkt gegensätzlicher Diskurse und Denkformen gelang es - wie Lorenz Jäger ausführt - ideologische Positionen zu bewegen und sich von Alternativen zu lösen, die die spätere „ Forschung lange genug blockiert haben “ 92 . Abgesehen von den historischen und kulturpolitischen Affinitäten, die das gegenwärtige Forschungsinteresse an der damaligen geistigen Konstellation mit bedingen, kann die literaturkritische Bedeutung von Benjamins Kafka-Kommentar auch allgemeiner formuliert werden: „ in der Deutung einer Dichtung das Bedeutungspotential eines Gestus maximal ausschöpfen; hierin liegt die Leistung des ‚ Kafka ‘ -Essays. “ 93 In seiner umfassenden Arbeit hat Bernd Müller die spezifische Leistung des Kafka-Essays im Detail erörtert und dabei die „ Magie der Gebärden “ 94 in den Vordergrund gestellt, in der sich die mimetische Evidenz einer Erfahrung überliefert hat. Im Hinblick auf Kafkas Geste geht es Müller vor allem auch um den Versuch, mit Benjamins Hilfe einen „ Begriff des Symbolischen “ 95 zu 87 Zitiert wurden die Beiträge von Hans Mayer (1979), Stéphane Moses (1986), Sven Kramer (1991), Lorenz Jäger (1992), Bernd Müller (1996), Werner Hamacher (1998), Alexander Honold (2000), Giulio Schiavoni (2000), Milena Massalongo (2004), Sam Weber (2006), vgl. Bibliografie. 88 Mayer, Walter Benjamin und Franz Kafka, cit., S. 579. 89 ebenda 90 Mayer, Walter Benjamin und Franz Kafka, cit., S. 593. 91 Jäger, „ Primat des Gestus “ , cit., S. 96. 92 Jäger, „ Primat des Gestus “ , S. 97. 93 Jäger, „ Primat des Gestus “ , S. 99. 94 Müller, „ Denn es ist noch nichts geschehen “ , cit., S. 98. 95 Müller, „ Denn es ist noch nichts geschehen “ , cit., S. 111. 1.5 Kafkas Geste in der aktuellen Diskussion 39 gewinnen, der „ magisch-mimetische Gehalte “ nicht preisgeben will und der sich dennoch vor der Vernunft verantworten kann. Sein Benjamin-Kommentar macht deutlich, dass sich der symbolische Gehalt von Kafkas Werk streng an die Geste hält und sich in dieser nur antinomisch mitteilen kann. Weder gleichnishafte Lehre, die begrifflich fassbar ist, noch geheimnisvolles Symbol, das sich auflädt mit mythischen und religiösen Bedeutungen, reflektiert die Form dieses Werks das Ungenügen der Dichtung an sich selbst, um so die „ Problematik alles Symbolischen “ 96 erst erkennbar zu machen. Kafkas Schriften, die Scholem als einen „ Grenzfall von Weisheit “ 97 bezeichnet hat, repräsentieren sich in diesem Sinn als ein „ Versuch sui generis zur Erhellung der in der Gestik seiner Figuren zugleich angezeigten wie verdunkelten Seiten menschlichen Daseins “ 98 , ein Versuch, der sich am Anspruch misst, ein praktisches Substrat der Wahrheit zu retten. Die Entdeckung der mimischen Prägnanz von Kafkas Schriften, die am Beginn der Forschung steht, antwortet auf einen Erfahrungsschwund, den Benjamin bekanntlich für die Epoche des industriellen Spätkapitalismus diagnostiziert und als Ende der epischen Wahrheit beschrieben hat. 99 Der Ausfall mitteilbarer Erfahrung hat im Lauf der Geschichte Dimensionen angenommen, die damals wohl niemand ahnen konnte, womit auch die Ratlosigkeit des Erzählers dem heutigen Leser mehr noch als damals einsichtig wurde. Was die postmoderne Kritik in dieser Hinsicht bewusst machen und nachvollziehen konnte, ist die Warnung vor jeder hermeneutischen Spekulation und diskursiven Übersetzung, die Kafka seinem Werk eingeschrieben hat. Den Appell aber, auf die Gesten zu achten, hat die Forschung bisher nur teilweise und sporadisch - am Beispiel einzelner Beobachtungen und Texte - aufgegriffen. Wenn in den folgenden Lektüren die Geste als kritische Kategorie fruchtbar gemacht werden soll, so geht es dabei nicht allein um die Aktualisierung der Fragen, die Kafkas Werk im Gestus stellt; zur Debatte steht auch allgemeiner die Möglichkeit einer literarischen Form der Erkenntnis und Erfahrung, die Einspruch erhebt gegen die Autoreferentialität und die Negativität der Moderne, die die Kafka-Exegese des 20. Jahrhunderts dominiert haben. 96 Müller, „ Denn es ist noch nichts geschehen “ , cit., S. 121. 97 Scholem an Benjamin, 6/ 8. 11. 1938, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 90. 98 Müller, „ Denn es ist noch nichts geschehen, cit., S. 123. 99 Walter Benjamin, Der Erzähler, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften II,2, cit., S. 438 - 465. 40 Die Geste als Kategorie der Kritik. Franz Kafka und Walter Benjamin Kapitel 2 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher 2.1 Fremde Gesichter Safranski, Schüler Bernhards, macht während des Zeichnens und Beobachtens Grimassen, die mit dem Gezeichneten in Verbindung stehn. Erinnert mich daran, daß ich für meinen Teil eine starke Verwandlungsfähigkeit habe, die niemand bemerkt. Wie oft mußte ich Max nachahmen. Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholski verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte daß es drin steckt. Bei diesen Verwandlungen möchte ich besonders gern an ein Sichtrüben der eigenen Augen glauben. 1 Der grimassenschneidende Zeichner Safranski steht in dieser Aufzeichnung des Jahres 1911 Modell für Kafkas eigene „ starke Verwandlungsfähigkeit “ , für die Metamorphose des Künstlers in der Mimesis ans Gezeichnete. In den Verwandlungen, die aus der Nachahmung hervorgehen, wird die Identität des Ich durch das Grimassieren des anderen aufgebrochen. Ein „ fremdes Wesen “ geht in die eigenen Gesichtszüge ein und hinterlässt dort „ deutlich und unsichtbar “ seine Spuren, wie in einem Vexierbild 2 , in dem sich das Subjekt selbst undurchsichtig wird. Der Sehnsucht des Künstlers, sich schöpferisch das Leben der anderen anzueignen, entspricht dabei eine Erfahrung des eigenen Lebens, die sich von Beginn an unter fremde Vorzeichen stellt. Das eigenartige Verhältnis von Eigenem und Fremdem, das in den Grimassen des Zeichners augenfällig wird, ist konstitutiv für die Art der Selbsterfahrung, die sich in den Tagebüchern Kafkas artikuliert. Wenig haben diese Tagebücher daher mit dem Genre der Epoche gemeinsam, mit der Identitätskrise der Moderne 3 und mit der melancholischen Selbstbespiegelung und narzißtischen Nabelschau eines einsamen Ich, das in den Spiegelbildern der eigenen Innerlichkeit gefangen bleibt. Zwar erlebt Kafka nach eigenen 1 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 46/ 47. Vgl. Zum folgenden auch die vor kurzem erschienene Studie: Elisabeth Lack, Kafkas bewegte Körper: Die Tagebücher und Briefe als Laboratorien von Bewegung, München 2009. 2 Vgl. Rainer Nägele, Literarische Vexierbilder. Drei Versuche zu einer Figur, Essays, Eggingen 2001, S. 26, das Kapitel 1: Vexierbilder des Anderen: Kafkas Identitäten, S. 9 - 29. 3 Vgl. Jacques Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne, Wien 2002. Worten die „ unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung “ 4 wie ein unvermeidliches Schicksal, er misstraut dabei allerdings allen Spiegelbildern des Selbst ebenso wie der Psychologie, die er als „ Spiegelschrift “ bezeichnet. In den Oktavheften des Jahres 1918 findet sich ohne weiteren Kontext die Notiz: „ Zum letztenmal Psychologie! “ 5 , ein Ausrufesatz und zugleich auch ein Vorsatz, der durch einen Aphorismus kommentiert wird, den Kafka wenige Wochen später aufzeichnet: „ Psychologie ist Lesen einer Spiegelschrift, also mühevoll und was das immer stimmende Resultat betrifft ergebnisreich, aber wirklich geschehn ist nichts “ . 6 Kafkas antipsychologische Haltung verleiht den sogenannten Tagebüchern ihr einmaliges Gepräge. Schon die Gattungsbezeichnung selbst mag im übrigen bei einem Autor wie Kafka problematisch erscheinen 7 , der uns seine gesamten Texte in Heften überliefert hat, in einem einzigen „ Schreibstrom “ , aus dem erst nachträglich die „ Drucke zu Lebzeiten “ gleichsam herausgeschnitten wurden 8 . Bei der Lektüre der 12 Quarthefte, die mit den Reisetagebüchern und anderen Konvoluten den Band der Tagebücher der Kritischen Ausgabe konstituieren und einen Zeitraum zwischen 1910 und 1923 umfassen, fällt es schwer, eine Grenze zu ziehen zwischen autobiographischer Notiz und literarischem Text; das lange Verzeichnis der in den Tagebüchern enthaltenen fiktionalen Texte und Textansätze Kafkas 9 im Kommentarband der Kritischen Ausgabe spricht in diesem Sinn für sich. Kafkas Tagebücher wurden als Ort der Verwandlung des Lebens in Literatur beschrieben, als Schauplatz für den Kampf ums Schreiben und als Zeugnis für die Genese einer Schrift, in der das Ich zur literarischen Figur wird und sich parallell dazu die Literatur als spezifische Lebensform artikuliert. 10 Dies bedeutet keineswegs, dass Kafka den eigenen Träumen, seinen Phantasmen und Erfahrungen eine fiktive Form verleiht und damit die intime Schrift des Tagebuchs zur Kunstform macht, um eine individuelle Geschichte zu erzählen, in der sich das Spiegelbild des Autors abzeichnet. Nicht nur in den literarischen Texten Kafkas, auch im 4 Kafka, Tagebücher, cit., S. 874. 5 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 2002, S. 81. 6 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, cit., S. 100. 7 Kritik an der Gattungsbezeichnung „ Tagebücher “ wurde vor allem vom Herausgeber der Faksimile-Ausgabe Roland Reuß formuliert: Roland Reuß, Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Ausgabe, in: Franz Kafka. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle. Einleitungsband, Basel, Frankfurt a. M. 1995, S. 19/ 20. 8 Vgl. Wolf Kittler/ Gerhard Neumann, „ Drucke zu Lebzeiten “ , in: Franz Kafka, Schriftverkehr, hrsg. v. Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Freiburg 1990, S. 34. 9 Franz Kafka, Tagebücher. Kommentarband, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley, Frankfurt a. M., S. 271 - 288. 10 Georg Guntermann, Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors, Tübingen 1991. 42 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Tagebuch artikuliert sich dagegen ein Verhältnis von Leben und Schreiben, das ohne die Maske eines Personalen auskommt und statt dessen - wie Gilles Deleuze in La littérature e la vie schreibt - dem „ umgekehrten Weg “ der Literatur folgt, der „ unter den scheinbaren Personen die Macht eines Unpersönlichen entdeckt “ und nur dann beginnt, „ wenn in uns eine dritte Person entsteht, die uns der Fähigkeit ‚ ich ‘ zu sagen beraubt (das ‚ Neutrale ‘ Blanchots). “ 11 Zur Frage, „ wer Kafka war “ , bemerkte Walter Benjamin, man könne von Kafka die Legende bilden, „ er sei ein Mensch gewesen, der ununterbrochen mit seiner Selbsterforschung beschäftigt gewesen sei aber nicht einmal in einen Spiegel geblickt habe “ . 12 Wenn Kafka aber doch einmal sein Gesicht im Spiegel betrachtet, studiert er es gelassen, so in einer Notiz vom Dezember 1913, in der er die Lichtverhältnisse, die Umrisslinien und die morphologische Bildung von Teilen und Ganzem wie die offene Fläche einer Landschaft nachzeichnet: Im Spiegel sah ich mich vorhin genau an und kam mir im Gesicht - allerdings nur bei der Abendbeleuchtung und der Lichtquelle hinter mir, sodaß eigentlich nur der Flaum an den Rändern der Ohren beleuchtet war - auch bei genauerer Untersuchung besser vor, als ich nach eigener Kenntnis bin. Ein klares übersichtlich gebildetes, fast schön begrenztes Gesicht. Das Schwarz der Haare, der Brauen und der Augenhöhlen dringt wie Leben aus der übrigen abwartenden Masse. Der Blick ist gar nicht verwüstet, davon ist gar keine Spur, er ist aber auch nicht kindlich, eher unglaublicherweise energisch, aber vielleicht war er nur beobachtend, da ich mich eben beobachtete und mir Angst machen wollte. 13 Besser als erwartet erscheint dem Betrachter dieses übersichtlich begrenzte und geformte Gesicht im Spiegel, denn aus ihm spricht die Energie von einem, der sich - seiner negativen Selbsterkenntnis zum Trotz - mutig der Selbstbeobachtung stellt. Der Wunsch allerdings, sich im Spiegel wiederzuerkennen, der energisch den Blick auf den eigenen Blick lenkt, bringt bei Kafka letztlich nur die Aporien jeder Selbstbeobachtung zu Bewusstsein, er bleibt ohne imaginäre Identifikation des Selbst im Zirkelschluss der Selbstbetrachtung gefangen, den diese kleine Skizze in ihrer geschlossenen Form abbildet. Gelassen, wach und gegenwärtig wirkt diese Selbstbetrachtung im Spiegel wohl auch deshalb, weil hier die Interferenz der fremden Blicke ausgeschlossen bleibt; diese verweisen bei Kafka meist mit Gewalt das Selbst auf die Alterität des anderen und auf den Kampf um intersubjektive Anerkennung. Kafkas Selbstbespiegelung bleibt eine Ausnahme, denn sie dient keiner 11 Gilles Deleuze, Kritik und Klinik. Aus dem Französischen von Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 2000, S. 13. 12 Walter Benjamin über Franz Kafka, Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg.v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M., 2. Aufl., 1992, S. 121. 13 Kafka, Tagebücher, cit., S. 612. 2.1 Fremde Gesichter 43 imaginären Konstruktion des Bildes von sich selbst, sie bringt vielmehr deren Problematik zum Vorschein. Was dem Leser von Kafkas Tagebüchern dagegen schon auf den ersten Seiten ins Auge fällt, sind die zahlreichen Zeichnungen fremder Gesichter, eine geradezu serielle Produktion, die aus alltäglichen Schreibübungen hervorgeht. Es sind vor allem Frauenporträts, die Kafka aufzeichnet; sein Schreibstift zieht immer wieder die Linien und Umrisse der Frauengesichter nach, er folgt der Silhouette der weiblichen Figur, den Umrissen von Haar und Frisur, den flächigen Schemata und essentiellen Linien von Nase und Wangen. So zeichnet sich etwa das Gesicht eines gewissen „ Frl. Haas “ ab, das Kafka an Frau Blei erinnert: „ ihre Nase sieht in ihrer Länge, leichten Doppelbiegung und verhältnismäßigen Schmalheit wie die verdorbene Nase der Frau Blei aus. “ 14 In den frühen Aufzeichnungen werden die Züge der Frau des Malers Pollak-Karlin festgehalten, „ zwei breite große Vorderzähne oben, die das große eher flache Gesicht zuspitzen “ 15 , in den späteren taucht beispielsweise die physiognomische Zeichnung einer „ Contoristin “ auf: „ Ein bis zum Mund breites, dann aber schnell sich verschmälerndes Gesicht. In einer glatten Frisur vernachlässigte natürliche Locken “ 16 . Meist sind es Gesichter von unbekannten Frauen, Schreibfräuleins, Tänzerinnen oder Schauspielerinnen. Als Beispiel sei die Beschreibung der Frauen im Etablissement B. Suha zitiert: „ Die eine Jüdin mit schmalem Gesicht, besser das in ein schmales Kinn verläuft, aber von einer ausgedehnt welligen Frisur ins Breite geschüttelt wird [. . .] Die Flachgesichtige im eckigen Kleid [. . .] Die Wirtin mit dem mattblonden über zweifellos ekelhaften Unterlagen straff gezogenem Haar, mit der scharf niedergehenden Nase, deren Richtung in irgendeiner geometrischen Beziehung zu den hängenden Brüsten und dem steif gehaltenen Bauch steht “ [. . .]. 17 Es sind Gesichter ohne Eigenschaften, deren geometrische Konturen nichts über diese oder jene Person, über diesen oder jenen Charakter aussagen. Dies gilt nicht nur für die Frauengesichter, sondern kennzeichnet beispielsweise auch die Zeichnung des Schriftstellers Bernhard Kellermann: „ Scheinbar ein lieber Mensch, fast graues stehendes Haar, mit Mühe glatt rasiert, spitze Nase, über die Backenknochen geht das Wangenfleisch oft wie eine Welle auf und ab. “ 18 In wenigen unpersönlichen Strichen kann sich so auch der mörderische Ernst eines Namenlosen abzeichnen, wie in einer der frühesten Notizen: „ Sein Ernst bringt mich um. Den Kopf im Kragen, die Haare unbeweglich um den Schädel geordnet, die Muskeln unten an den Wangen an ihrem Platz gespannt “ 19 . 14 Kafka, Tagebücher, cit., S. 283. 15 Kafka, Tagebücher, cit., S. 30. 16 Kafka, Tagebücher, cit., S. 236. 17 Kafka, Tagebücher, cit., S. 48. 18 Kafka, Tagebücher, cit., S. 127. 19 Kafka, Tagebücher, cit., S. 9. 44 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Kafkas mikroskopischer Blick gilt nie der Charakterisierung oder Typisierung einer Gestalt, er saugt sich vielmehr fest an isolierten und scheinbar unsignifikanten Details. „ Zwei Finger am rechten Mundwinkel “ 20 können sich zum Schauplatz eines ganzen Geschehens ausdehnen oder eine überscharfe Beleuchtung lässt „ den starken blonden Flaum “ 21 eines Frauengesichts in den Vordergrund treten. Der Verzicht auf physiognomische Prägnanz und Individualisierung erzeugt dabei eine ganz eigene Intimität und Berührung mit dem Fremden. Je intensiver sich die Aufzeichnung in die Züge und in die Proportionen der fremden Gesichter vertieft, desto ferner rückt dem Leser die betrachtete Person. Kafka reflektiert in seinen Notizen diesen Prozess der Entfremdung, der durch das Zerlegen der Züge erzeugt wird, so etwa beim Betrachten der Physiognomie eines Schreibfräuleins: „ wie schwer ihr Gesicht selbst während des Anblicks festzustellen sei. Besonders die Beziehung zwischen einer auseinandergezogenen ringsherum fast in gleicher Breite über den Kopf vorragenden Frisur zu der meist zu lang erscheinenden geraden Nase verwirrte. Bei einer auffallenderen Wendung des gerade ein Aktenstück lesenden Mädchens wurde ich durch die Beobachtung fast betroffen, daß ich durch mein Nachdenken dem Mädchen fremder geblieben war, als wenn ich mit dem kleinen Finger ihren Rock gestreift hätte. “ 22 Beim Anblick mancher Gesichter kann diese Fremdheit in ein verständnisloses, gleichsam animalisches Staunen übergehen, das die menschliche Physiognomie in einen stummen plastischen Gegenstand verwandelt; dies zeigt sich etwa bei der Begegnung mit einer schmierigen und schielenden Heiratsvermittlerin, vor der der Betrachter eine die „ Augen niederdrückende Verlegenheit “ empfindet: „ Im Gesicht hatte sie, wie ich zuerst nur partienweise sah so tiefe Falten, daß ich an das verständnislose Staunen dachte, mit welchem Tiere solche Menschengesichter anschauen müßten. Auffallend körperlich war die kleine besonders im etwas gehobenen Abschluß kantige Nase aus dem Gesicht gesteckt “ . 23 Kafka macht, so kann festgehalten werden, das Gesicht zum Schauplatz eines Geschehens, das in qualvoller Überbelichtung die Fremdheit der menschlichen Natur zur Darstellung bringt. Oft sind es nur isolierte Züge oder einzelne auffällige Bewegungen, in denen das fremde Leben optisch ertappt und festgehalten wird, oft aber kann sich auch im Anonymen und Offensichtlichen das ganze Drama eines unscheinbaren Lebens verbergen, wie die Betrachtung einer beliebigen Frau an einem Kaffeehaustisch zeigt: 24 August 1911. Mit Bekannten an einem Kaffehaustisch im Freien sitzen und eine Frau am Nebentisch ansehn, die gerade gekommen ist, schwer unter großen Brüsten 20 Kafka, Tagebücher, cit., S. 235. 21 Kafka, Tagebucher, cit., S. 75. 22 Kafka, Tagebücher, cit., S. 236. 23 Kafka, Tagebucher, cit., S. 213. 2.1 Fremde Gesichter 45 atmet und mit erhitztem, bräunlich glänzendem Gesicht sich setzt. Sie neigt den Kopf zurück, ein starker Bartanflug wird sichtbar, die dreht die Augen nach oben, fast so, wie sie vielleicht manchmal ihren Mann ansieht, der jetzt neben ihr eine illustrierte Zeitung liest. Wenn man ihr doch die Überzeugung beibringen könnte, daß man neben seiner Frau im Kaffeehaus höchstens eine Zeitung aber niemals eine Zeitschrift lesen darf. Ein Augenblick bringt ihr ihre Körperfülle zum Bewußtsein und sie rückt ein wenig vom Tisch weg. 24 Kafkas intensive Beobachtung und Übung im schriftlichen Nachzeichnen der Frauengesichter und -figuren wurde als ein „ Ritual der Verteidigung “ 25 beschrieben, ein befremdlich unerotisches Registrieren, das seinen Gegenstand einfriert und zersetzt. Die Ambivalenz der Triebregungen, die in psychoanalytischer Sicht Kafkas heißem und zugleich kaltem, zugleich gierigem und unerbittlichem Blick zugrunde liegt, ließe sich beispielsweise aus der schriftlichen Betrachtung eines gewissen „ Frl. Kanitz “ ablesen, deren puppenhaftes Mienen- und Gestenspiel das intime Drama von Verlockung und Selbstkontrolle allerdings ganz mechanisch nach außen kehrt: 30. (Juli 1917) Frl. Kanitz. Verlockungen mit denen das Wesen nicht mitgeht. Das Auf und Zu, das Dehnen, Spitzen, Aufblühn der Lippen, als modellierten dort unsichtbar die Finger. Die plötzlich, wohl nervöse, aber discipliniert angewandte, immer überraschende Bewegung z. B. Ordnen des Rockes auf den Knien, Änderung des Sitzes. Die Konversation mit wenig Worten, wenig Gedanken, ohne jede Unterstützung durch die andern, in der Hauptsache durch Kopfwendungen, Händespiel, verschiedenartige Pausen, Lebendigkeit des Blicks, im Notfall durch Ballen der kleinen Fäuste erzeugt. 26 Anlass zu psychoanalytischer Spekulation gaben vor allem auch die abstoßenden, ja ekelhaften Details von Kafkas Frauengesichtern, das reizlose Haar, die unreine Haut, der Bartansatz oder die Faltenbildung, die meist in scharfer und gnadenloser Überbelichtung hervortreten und manchen Interpreten zu Ausschweifungen verführten über „ häßliche Dienstmädchen, dicke alte Huren, Sexualekel und ‚ schwefelige ‘ Obsessionen “ 27 . Es sind Details, die auch in der Beschreibung eines gewissen „ Frl. Felice Bauer “ nicht fehlen, und doch zeigt gerade die Zeichnung ihres Gesichts, dass es hier um mehr und anderes geht als nur die Ambivalenz und Perversion der Triebe: Frl. Felice Bauer. Als ich am 13.VIII zu Brod kam, saß sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem 24 Kafka, Tagebücher, cit., S. 39. 25 Peter von Matt, . . .fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, München, Wien 1983, S. 37. 26 Kafka, Tagebücher, cit., S. 812/ 813. 27 Winfried Menningshaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 335 - 372. 46 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. [Ich entfremde ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr so nahe an den Leib gehe. Allerdings in was für einem Zustand bin ich jetzt, allem Guten in der Gesamtheit entfremdet und glaube es überdies noch nicht. Wenn mich heute bei Max die litterarischen Nachrichten nicht zu sehr zerstreuen, werde ich noch die Geschichte von dem Blenkelt zu schreiben versuchen. Sie muß nicht lang sein, aber treffen muß sie mich] Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. Wie sich - . 28 Kafka beraubt in seiner Aufzeichnung die Gestalt jedes erotischen Reizes und jeder lebendigen Aura, er skelettiert das betrachtete Gesicht bis auf die Knochen, um seine spontane, ja familiäre Vertrautheit mit der Frau in ein fremdes und kaltes Licht zu rücken. Und doch weiß der Schreibende, dass diese Begegnung mit einem fremden Gesicht ein unausweichliches Schicksal bedeutet. Symptomatisch zeigt sich die Erschütterung im zweimaligen Abbrechen der Beschreibung. Nach der Klammer, in der das schreibende Ich seinen Zustand registriert und sich nur die Literatur als Alternative und Rettung vorstellen kann, setzt der Text wieder unvermittelt ein, unerbittlich und aggressiv, um schließlich abzubrechen mit der Festellung eines „ unerschütterlichen “ Urteils, das nicht ausgesprochen wird. Das Urteil, das Kafka hier nur anspricht, bezieht sich wohl kaum auf die unattraktiven, reizlosen oder ekelhaften Details, auch nicht auf den Charakter oder die besondere Ausdruckskraft dieser Züge, im Gegenteil, es ist gerade das Gesicht, das „ seine Leere offen trägt “ , das Kafka wie ein Schicksal erscheint. Dieses Gesicht wird an der Schwelle der Enteignung festgehalten, ein nacktes Gesicht, das vor jeder physiognomischen Individualisierung und kommunikativen Beziehung die Alterität des anderen exponiert, bloße „ Offenbarung des Angesichts “ 29 , in der sich die Möglichkeit einer Begegnung eröffnet. Kafkas Tagebuchaufzeichnungen erzählen vom Appell, der von fremden Gesichtern ausgeht und vom Versuch, sich im Medium der Schrift die fremden Züge anzueignen. Die spezifisch künstlerische Sensibilität und das mimische Talent des Schriftstellers werden in den Tagebüchern zum Gegenstand der Übung und der Selbstreflexion. 30 Oft versucht der Schreibende, das Gesicht des 28 Kafka, Tagebücher, cit., S. 431/ 432. 29 Giorgio Agamben, Das Angesicht, in: ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Aus dem Italienischen von Sabine Schulz, Freiburg, Berlin 2001, S. 89 - 102, hier: S. 89. 30 Explizit beispielsweise in folgender Aufzeichnung: „ Die Beschreibung der Rehberger hielt ich nicht für gelungen, sie muß aber doch besser gewesen sein als ich glaubte oder mein vorgestriger Eindruck von der Rehberger muß so vollständig gewesen sein, daß ihm die Beschreibung entsprach oder ihn gar überholte. Denn als ich gestern abend nachhause gieng, fiel mir augenblicklichsweise die Beschreibung ein, ersetzte unbemerkt den ursprünglichen Eindruck und ich glaubte die Rehberger erst gestern gesehn zu haben undzwar ohne Max, so daß ich mich vorbereitete, ihm von ihr zu erzählen, gerade so wie ich sie mir hier beschrieben habe. “ (Kafka, Tagebücher, cit., S. 75/ 76) 2.1 Fremde Gesichter 47 anderen hart und pointiert an der Nase fassen, ein Gestus der Machtergreifung, der zuweilen komisch-groteske Effekte erzeugen kann, der bei Kafka jedoch nie zur gewaltsamen Karikatur gerät. Die Pointe von Kafkas gestischer Zeichnung dient nie der polemischen Entstellung, der satirischen Verzerrung eines Charakters oder Typus, sie weist dagegen weit ins Unpersönliche und kann so den Schauplatz einer kleinen philosophischen Betrachtung eröffnen. Exemplarisch zeigt dies etwa die Betrachtung des Gesichts einer alten Frau: „ Im Waggon: Nasenspitze der alten Frau mit fast noch jugendlich gespannter Haut. Endet also die Jugend auf der Nasenspitze und fängt dort der Tod an? “ 31 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung Peter von Matt räumt in seiner „ Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts “ 32 Kafkas Porträtschilderung eine paradigmatische Stellung ein. Er spricht von einem „ sensationellen Durchbruch in die literarische Moderne “ 33 , der singulär geblieben sei und stellt Kafkas Gesichter neben die „ Porträts der ersten kubistischen Phase von Braque und Picasso “ 34 ; sie alle können als Beispiele gelten für eine Wandlung der Wahrnehmung in der Moderne, in der das menschliche Gesicht nicht mehr den Schlüssel zur Person, zur charakteristischen Erscheinungsform eines Menschentypus liefert, sondern als eigenwertiges Phänomen analysiert und in seine Bestandteile zerlegt wird. Ähnlich wie die Kubisten dissoziiert Kafkas Porträtzeichnung nach Peter von Matt das Ganze in Teile, sie entstellt die Ausdrucksgestalt und dekomponiert die sprechende Physiognomie, um ihre Züge zu einer neuen konstruktiven Anordnung zusammenzustellen. Modell von Kafkas Nachahmung ist also das Zeichnen und nicht das Theater. Nach Paul Valéry gibt es „ keine inständigere Versuchung des Geistes als das Zeichnen “ 35 , das dem Trieb entspringt, sich die Gestalt anzueignen, die der Blick entwirft. Wenn Kafka diesen Trieb ins Schreiben überträgt, so hat dies wenig zu tun mit der gefrorenen „ Halbdistanz “ 36 eines theatralischen Zuschauers, der das Leben nur beobachtet. Kafka selbst weist in einer längeren Aufzeichnung auf die Eigenart des eigenen Nachahmungstriebs hin, der sich signifikativ von dem des Schauspielers unterscheide: „ 30 XII 11 Mein Nachahmungstrieb hat nichts Schauspielerisches, es fehlt ihm vor Allem die Einheitlichkeit. Das Grobe, auffallend Charakterstische in seinem ganzen 31 Kafka, Tagebücher, cit., S. 85. 32 Peter von Matt, . . .fertig ist das Angesicht, cit. 33 Von Matt, . . .fertig ist das Angesicht, cit., S. 9. 34 Von Matt, . . .fertig ist das Angesicht, cit., S. 47. 35 Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas. Aus dem Französischen von Werner Zemp, Frankfurt a. M.1996, S. 57. 36 Guntermann, Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben, cit., S. 40. 48 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Umfange kann ich gar nicht nachahmen, ähnliche Versuche sind mir immer mißlungen sie sind gegen meine Natur. Zur Nachahmung von Details des Groben habe ich dagegen einen entschiedenen Trieb, die Manipulation gewisser Menschen mit Spazierstöcken, ihre Haltung der Hände, ihre Bewegung der Finger nachzuahmen drängt es mich und ich kann es ohne Mühe. “ 37 Bezeichnend ist, dass Kafka sein mimetisches Talent in der Differenz zur theatralischen Mimesis beschreibt: nicht um die Charakterisierung von Figuren geht es ihm, sondern um die „ Nachahmung von Details “ , von einzelnen Bewegungen, Haltungen und Gesten. Kafka spricht im folgenden auch von einer „ innerliche[n] “ Mimesis, die weit über die „ äußerliche Nachahmung “ hinausgehe und die „ oft so schlagend und stark ist, daß in meinem Innern gar kein Platz bleibt diese Nachahmung zu beobachten und zu konstatieren, sondern daß ich sie erst in der Erinnerung vorfinde. “ 38 Kafkas ‚ verinnerlichte ‘ Nachahmung durchschlägt den Raum des Theaters und zieht die beobachtende Distanz des Zuschauers ein, um so die Differenz von Spiel und Ernst, von Wirklichkeit und Fiktion zum Verschwinden zu bringen. Wie Kafka ausdrücklich bemerkt, kann diese Realisierung und buchstäbliche Verwirklichung des Spiels vom Standpunkt der Bühne aus nur schlechtes Theater sein, das die „ die Grenze des Spiels nicht wahrt und zu stark nachahmt. “ 39 Nicht auf der Bühne, nur im Medium der Schrift gelingt es nachträglich - so wird dem Leser dieser Aufzeichnungen bewusst - die zu starke, gleichsam verinnerlichte Nachahmung zu erinnern und aufzuzeichnen. Beim Studium von Kafkas Tagebüchern lässt sich die Genese eines Schreibens verfolgen, das aus der zeichnerischen Mimesis von Gesichtern und Gesten hervorgeht und manchmal wieder buchstäblich ins Zeichnen übergeht. Auf einigen Seiten werden die Schriftzeichen wieder von graphischen Figuren abgelöst: Strichmännchen und Kritzeleien bevölkern die Zeilen und machen augenfällig, wie sich die Buchstaben in Figuren verwandeln, wie sie in graphische Linien übergehen, um Schriftzug und Figurenzeichnung zu verschränken in einer „ nicht mehr entzifferbaren, ganz persönlichen Bilderschrift “ 40 , die von derselben Hand stammt. Max Brod, der Kafkas frühe „ Schmierereien “ aus dem Papierkorb holte und von den Rändern der juristischen Kollegienbücher abschnitt, spricht in seiner Biographie von der Doppelbegabung des Freundes und kommentiert die abgebildeten Reproduktionen von Kafkas Zeichnungen, etwa „ den über sein Glas gebeugten grimmig-irrsinnigen ‚ Trinker ‘ oder den mit wenigen kühnen Strichen in schärfester Bewegung geradezu hingeheulten Jockey und den verkehrt einge- 37 Kafka, Tagebücher, cit., S. 329. 38 Kafka, Tagebücher, cit., S. 329. 39 Kafka, Tagebücher, cit., S. 330. 40 Gustav Janouch, Gespräche mit Franz Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt a. M. (1951) 1968, S. 79. 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 49 setzten Kopf des über die Hürde emporgerissenen Pferdes “ , indem er auf die „ Parallelen zwischen zeichnerischer und erzählerischer Vision “ verweist (s. Abbildungen): Wo die Linie völlig entstofflicht, gelöst, nur ihrem eigenen Gesetz zu folgen scheint und nur gleichsam zufälligerweise, von ferne, auf einen Vorgang der empirischen Welt Bezug nimmt (wie in der hier reproduzierten Federzeichnung, die einen Laufenden darstellt), wird die Urspünglichkeit des in Kafka wirkenden Bildnertriebs am deutlichsten. Hier spürt man auch am stärksten die Nähe der in seinen Dichtungen zum Ausdruck drängenden Welt. Der Zusammenhang liegt in Folgendem: Auch in den Dichtungen charakterisiert Kafka seine Gestalten meist von außen, er läßt uns nicht mit Sicherheit in ihr Inneres blicken, es bleibt dunkel, obwohl und gerade weil es überaus ausführlich dargestellt wird. Es bleibt widerspruchsvoll. ‚ Psychologie ‘ wird (in einem der Aphorismen) als Erkenntnismittel ausdrücklich abgelehnt, weil sie ‚ immer stimmt ‘ , d. h. weil man sie immer so drehen und wenden kann, dass Notwendigkeiten aufscheinen. 41 Der gestische Zug der Bewegungsfiguren, die Kafka in die Schrift überträgt, steht - wie schon Walter Benjamin bemerkt hat - in einer heimlichen Kommunikation mit den Zeichnungen von Paul Klee, der die menschliche Figur auf eine neue Fläche projeziert, auf der sich Malerei, Graphik und Schriftzeichen treffen. Ähnlich wie der Strich von Paul Klee erfasst Kafkas Gestenschrift die optischen Konturen von Gesichtern und Figuren, um sie in schwere- und substanzlose Schriftspuren zu verwandeln. Als Beispiel sei eine Tagebuchaufzeichnung vom Dezember 1913 zitiert: „ Die Silhoutte eines Mannes, der mit halb und verschiedenartig in die Höhe gehobenen Armen sich gegen vollständigen Nebel wendet, um hineinzugehn. “ 42 Figuren wie diese sind graphischen Schöpfungen vergleichbar, die auf singuläre Weise den klassischen Raum der Mimesis durchbrechen und die traditionelle Opposition durchkreuzen, die die alphabetische Zivilisation errichtet hat zwischen Zeigen und Nennen, zwischen Darstellen und Sagen, Schauen und Lesen, kurz zwischen sprachlichen Zeichen und bildlicher Darstellung. 43 Kafka und Klee leben nicht nur beide - wie Benjamin am 12. Juni 1938 an Scholem schrieb - vereinzelt in einer zur Wirklichkeit der Epoche „ komplementären Welt “ 44 , sie stehen in gewissem Sinn auch zueinander komplementär: während Klee den lesenden Blick in die Malerei einzeichnet, führt Kafka umgekehrt die gezeichnete Figur in den Raum der Schrift ein. 41 Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a. M. 1974, S. 393/ 394. 42 Kafka, Tagebücher, cit., S. 617. 43 Vgl. Michel Foucault, Ceci n ’ est pas une pipe, Montpellier 1973, S. 44. Foucault spricht von den Oppositionen der alphabetischen Zivilisation und von der Kunst Paul Klees, die diese durchkreuzt und einen neuen Raum schafft, in dem sich die Syntax der Zeichen mit dem Neben- und Übereinander graphischer Figuren verbindet. 44 Benjamin über Franz Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1992, S. 86. 50 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Kafkas Schreiben stellt sich in dieser Perspektive auch als der Versuch dar, das Wunder des Zeigens neu in die Zeichen einzutragen; es ruft die ersten Umrisse der Höhlenmalerei ins Gedächtnis, wie sie Jean-Luc Nancy beschrieben hat, substanzlose Spuren eines homo monstrans, der sich selbst staunend gegenübertritt. Nicht das Wort, sondern das Schweigen der Darbietungsgeste stellt Nancy in diesem Sinn an den Anfang des Menschen: „ Dieses Schweigen ist nicht vor dem Wort, noch folgt es auf jenes: Es ist die innere Spannung der Rede, ein Vibrieren, das verhindert, dass sich irgendeine bestimmte Bedeutung niederschlägt und einnistet “ . 45 Auf jenen Seiten des Kafkaschen Tagebuchs, auf denen die Buchstaben in gezeichnete Figuren übergehen, wird diese innere Spannung sichtbar und manifest, die konstitutiv ist für sein gesamtes Schreiben: die Spannung von Zeichnen und Bezeichnen, das Unterbrechen des Bezeichnens durch das Zeigen der gestischen Figur. Kafkas Texte verzeichnen damit auch einen Rückzug der Bedeutung, deren Sinn sich nie ins Zeichen des Nihilismus stellt oder in hermetischer Dunkelheit verliert, es geht vielmehr um eine Irritation des Bedeutens, die sich ganz im Sichtbaren abzeichnet, nämlich als Geste im Medium der Schrift. 45 Jean-Luc Nancy, Die Musen. Aus dem Fanzösischen von Gisela Febel und Jutta Legueil, Stuttgart 1999, S. 114. 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 51 Abbildung 1 52 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 2 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 53 Abbildung 3 54 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 4 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 55 Abbildung 5 56 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 6 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 57 Abbildung 7 58 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 8 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 59 Abbildung 9 60 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 10 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 61 Abbildung 11 62 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 12 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 63 Abbildung 13 64 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 14 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 65 Abbildung 15 66 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 16 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 67 Abbildung 17 68 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 18 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 69 Abbildung 19 70 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Abbildung 20 2.2 Zeichnen und Schreiben: Kafkas Nachahmung 71 Abbildung 21 72 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher 2.3 Die Physiognomie des Schriftstellers „ Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein “ 46 , so schreibt Kafka in einem bekannten Brief an Felice Bauer und bezeichnet damit die alles umfassende Bedeutung, die für ihn die Literatur gewinnt. Die Tagebücher erzählen von der Genese dieser Verwandlung des Lebens in Literatur. Sie unterscheiden sich damit auch signifikativ von den typischen Formen autobiographischen Schreibens, in denen es um die Konstruktion eines imaginären Selbstbildes oder einer narrativen Identität des Subjekts geht. Das autobiographische Ich nimmt in Kafkas Tagebüchern keine individuelle Gestalt an, an deren Stelle tritt die unpersönliche Physiognomie des Schriftstellers, die sich nach anderen Regeln herausbildet. Diese alternative Geschichte der Selbstwerdung, in der die Figur des Schreibenden ein physiognomisches Profil gewinnt, zeichnet sich schon in den ersten Skizzen ab, in denen Kafka sein „ Verlangen eine Selbstbiographie zu schreiben “ 47 ausdrückt. Erste Ansätze dazu stellen die sechs frühen Fragmente des Jahres 1910 dar, denen Max Brod, einer Notiz Kafkas folgend, den Titel Der kleine Ruinenbewohner gab. Diese fragmentarischen Aufzeichnungen gehen alle von demselben Gedanken aus, der fast obsessiv in immer neuen Variationen wiederholt wird: „ Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat “ . 48 In immer neuen Fassungen wird das Gruppenbild von Eltern und Gefolge versammelt, um gegen sie den immer gleichen Vorwurf zu richten, zunehmend allerdings weitet sich die Liste der Schuldigen aus, das freie Spiel der Assoziation, das der falschen Erziehung auf der Spur ist, sprengt den Rahmen des Familienfotos. Eine heterogene Reihe von Figuren tritt auf, „ eine ganz bestimmte Köchin, die Lehrer, einige Schriftsteller, befreundete Familien, ein Schwimmeister, Eingeborene der Sommerfrischen, einige Damen im Stadtpark denen man es gar nicht ansehn würde, ein Friseur, eine Bettlerin, ein Steuermann der Hausarzt und noch viele andere “ 49 ; sie alle verbinden sich zu einer bizarren Serie, die kein Ende hat und die in keinem Familienroman mehr Platz finden kann. Kafkas Schreiben - so machen diese Skizzen deutlich - unterminiert die Voraussetzungen jeder Erziehungskritik, die Vorwürfe stehen schließlich da „ wie müde Hunde “ 50 und verwandeln sich, ihrer Bedeutung entleert, in bloße „ Seufzer “ , um dann auch mühelos beiseite geschoben zu werden: 46 Franz Kafka, An Felice Bauer, 14. August 1913, in: ders., Briefe 1913 - März 1914, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 2001, S. 261. 47 Kafka, Tagebücher, cit., S. 298. 48 Kafka, Tagebücher, cit., S. 17. 49 Kafka, Tagebücher, cit., S. 20. 50 Kafka, Tagebücher, cit., S. 21. 2.3 Die Physiognomie des Schriftstellers 73 Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau; nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen. 51 Die Geste der Selbstbesinnung, die Hände an der eigenen Stirn, bringt den Schleier der Vorwürfe zum Verschwinden und lässt ein Wunschbild hervortreten, das unkontaminiert blieb vom Diskurs der Sozialisation und von der Abrechnung mit der eigenen Familie. Dieses Bild, das in visuellen und akustischen Zeichen freigesetzt wird, entspringt keiner autobiographischen Erinnerung und keiner Anamnesis des individuellen Selbst, es geht vielmehr aus einem intensiven Wunsch hervor, der gleichsam anachronisch auf die Trümmer der Vergangenheit projeziert wird, um aus den Ruinen des Gewesenen die Möglichkeit einer Zukunft zu ziehen. Es ist ein klares Bild in chiaroscuro, in dem Kafka nicht so sehr die Natur, als vielmehr seine Natur zeichnet: fremd, licht, kühl und intensiv ist diese singuläre Natur, die auf den Namen hört, der im Tschechischen Dohle bedeutet. Der kleine Ruinenbewohner stellt das Kontrastbild dar zu einem berühmten Kinderfoto Kafkas, von dem Walter Benjamin bemerkte, selten sei die „‚ arme kurze Kindheit ‘ ergreifender Bild geworden: „ Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigendem, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen übermäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines großen Ohrs hineinhorcht. “ 52 Das traurige Kinderfoto gehört ins Album der Familie. Kafkas Schreiben dagegen geht von einem Selbst- und Wunschbild aus, das sich von den falschen Attributen und Kulissen einer bürgerlichen Biographie befreit hat und unberührt die Kritik an der Erziehung durch Familie und Gesellschaft überlebt. Völlig abgespalten vom Selbstbild des Schreibenden erscheint in den Tagebuchaufzeichnungen aber das soziale Rollenspiel des Ich, das immer der Tragikomödie des Erscheinens ausgesetzt bleibt. Gewaltsam fühlt sich dieses Ich einem fremden Blick unterworfen, der Mienenspiel und Gestik verzerrt und entstellt. In einer längeren autobiographischen Skizze, die in der 51 Kafka, Tagebücher, cit., S. 19/ 20. 52 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit, S. 16. 74 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Silvesternacht zwischen 1911 und 1912 geschrieben wurde, blickt Kafka erstmals in dieser Perspektive auf seine Lebenshaltung zurück: „ nur brachte es mein Denken durch Jahre hin nicht fertig die Ursache meines jämmerlichen Aussehns in meinen Kleidern zu finden. Da ich schon damals mehr in Ahnungen als in Wirklichkeit auf dem Wege war, mich geringzuschätzen, war ich überzeugt, daß die Kleider nur an mir dieses zuerst brettartig steife dann faltighängende Aussehn annahmen “ ; und weiter in der folgenden Aufzeichnung: „ Infolgedessen gab ich den schlechten Kleidern auch in meiner Haltung nach, gieng mit gebeugtem Rücken, schiefen Schultern, verlegenen Armen und Händen herum; fürchtete mich vor Spiegeln, [. . .]. “ 53 Der Schriftsteller bemüht sich - wie diese Skizze zeigt - das Krumme, Schiefe und Verlegene der eigenen Lebenshaltung ganz äußerlich zu motivieren; er führt es auf die Bedeutung der „ schlechten Kleider “ zurück, die der Jugendliche trug. Dieses autobiographische Erzählfragment, in dem auch von Trauer, Zukunftsangst und Träumerei die Rede ist, liest sich wie eine schwierige Denkübung im Auslöschen jeder inneren psychologischen Motivation. Festhalten will diese Übung nur das Fremdwerden des Selbst in den Haltungen und Gesten, die die eigene Äußerlichkeit erfassen und damit die Problematik jeder Selbstbespiegelung zu Bewusstsein bringen. Rund zehn Jahre später, in einer Notiz des Jahres 1922, nimmt Kafka diesen Erzählfaden nochmals auf, um sein Unglück nun explizit in der gestikulatorischen Willkür eines kindischen Rollenspiels zu begründen: „ Merkwürdig, daß aus Komödie bei genügender Systematik Wirklichkeit werden kann. Mein Niedergang begann mit kindischem allerdings kindisch-bewußtem Spiel. Ich ließ z. B. Gesichtsmuskeln künstlich zusammenzucken, ich ging mit hinter dem Kopf gekreuzten Armen über den Graben. Kindlich-widerliches aber erfolgreiches Spiel. “ 54 Keine innere Notwendigkeit, allein die komödiantisch vezerrte Mimik und Gestik begründen in dieser Sicht den Ernst des Lebens und das Unglück dieses autobiographischen Ich. Ich kann - so beschließt Kafka seine Aufzeichnung - „ auf keine Weise zugeben, daß die ersten Anfänge meines Unglücks innerlich notwendig waren, sie mögen Notwendigkeit gehabt haben, aber nicht innerliche, sie kamen angeflogen wie Fliegen und wären so leicht wie sie zu vertreiben gewesen. “ 55 Die Selbstbetrachtung des autobiographischen Ich bleibt in Kafkas Tagebuch gespalten, das unberührte Bild der eigenen Natur einerseits und die entstellte Gestikulation eines falschen Rollenspiels andererseits individuieren sich zu keiner einheitlichen und prägnanten Gestalt des Selbst. Kafka zitiert in einer Notiz vom Dezember 1911 zwar Schillers Schema der psychophysischen Gestaltwerdung und Selbstbildung: „ ich glaube, daß sich an mir etwas 53 Kafka, Tagebücher, cit., S. 334/ 335. 54 Kafka, Tagebücher, cit., S. 889. 55 Kafka, Tagebücher, cit., S. 890. 2.3 Die Physiognomie des Schriftstellers 75 vollzieht, daß [! ] jener Schillerschen Umbildung des Affekts in Charakter sehr nahesteht. Über alles Wehren meines Innern muß ich das Aufschreiben “ 56 . Bezeichnend ist hier der innere Widerwille des Schreibenden, der als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass sich die Physiognomie des Schriftstellers nach anderen Regeln profiliert und sich auf einem anderen Schauplatz herausbildet. Dieser andere Schauplatz wird in den zahlreichen Notizen des Tagebuchs eröffnet, die den Zusammenhang von Körper und Schreiben thematisieren. In den frühen Aufzeichnungen spricht Kafka oft noch allgemein von der Verzweiflung über seinen Körper, die sein Schreiben motiviere, gleichzeitig aber stellt er schon mit Staunen das merkwürdige Leben fest, das aus den geschriebenen Worten spricht, eine konästhetische Präsenz, die sich in den Buchstaben mitteilt: „ Ich kann es nicht verstehn und nicht einmal glauben. Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Umlaut [. . .] ich z. B. auf einen Augenblick meinen unnützen Kopf verliere. Erster und letzter Buchstabe sind Anfang und Ende meines fischartigen Gefühls. “ 57 Das Staunen über das kühle und gleichsam unmenschliche Leben im Wort überträgt sich bei der Lektüre dieser Aufzeichnungen auf den Leser. Die physische Präsenz des Schreibenden in den Buchstaben, die dem Kafkaschen Tagebuch eine eigene Intimität, ja einen eigenen Geschmack verleiht, gewinnt in den späteren Aufzeichnungen immer deutlichere Konturen. Evident wird sie in einem Körperbild, dessen primäre Eigenschaften die Länge und die Magerkeit sind: „ Mein Körper ist zu lang für seine Schwäche, er hat nicht das geringste Fett zur Erzeugung einer segensreichen Wärme, zur Bewahrung inneren Feuers, kein Fett von dem sich einmal der Geist über seine Tagesnotdurft hinaus ohne Schädigung des Ganzen nähren könnte. “ 58 Kafka bricht die imaginäre Gestalt des Selbst auf und exponiert den Körper als Schauplatz eines inneren Dramas. Die Magerkeit, aus der Sicht des Lebens die Evidenz einer unterkühlten und geschwächten Vitalität, erscheint aus der Sicht des Schriftstellers als notwendige Entscheidung eines Organismus, der sich ganz auf die Aufgabe des Schreibens konzentrieren muss: „ In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab. “ 59 In der Semiotik des Abmagerns gewinnt die Physiognomie des Schriftstellers Franz Kafka ihr singuläres Profil, eine essentielle trockene Figur, die 56 Kafka, Tagebucher, cit., S. 281. 57 Kafka, Tagebücher, cit., S. 38. 58 Kafka, Tagebücher, cit., S. 263. 59 Kafka, Tagebücher, cit., S. 341. 76 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher sich als Gegenbild zur schönen Gestalt Goethes entwirft, Modell einer unnachahmlich gesunden Produktivität, vor dessen vollkommener Silhoutte der moderne Schriftsteller jedoch auch einen leichten dégoût empfindet: „ Goethes schöne Silhouette in ganzer Gestalt. Nebeneindruck des Widerlichen beim Anblick dieses vollkommenen menschlichen Körpers, da ein Übersteigen dieser Stufe außerhalb der Vorstellbarkeit ist und diese Stufe doch nur zusammengesetzt und zufällig aussieht. Die aufrechte Haltung, die hängenden Arme, der schmale Hals, die Kniebeugung. “ 60 Aus Kafkas Zeichnung der Goetheschen Gestalt spricht deutlich die ödipale Zermürbung durch die eifrigen Goethe-Lektüren der Jahre 1911/ 12, die Auseinandersetzung mit einem reifen und übermächtigen Vorbild an Produktivkraft, wie sie etwa in einer Notiz vom 8. Februar 1912 festgehalten wird, die Goethe zitiert: „ Goethe: Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos “ . 61 Im Gegensatz zum Klassiker der deutschen Literatur hat sich Kafka, wie die Fotographien zeigen, sein Leben lang die jugendlichen Züge des Sohnes bewahrt; den Prozess des Alterns vertraut er bewußt seinem Werk an, das er als sein „ wirkliches Leben “ bezeichnet, ein Leben, „ in welchem mein Gesicht endlich mit dem Fortschreiten meiner Arbeiten in natürlicher Weise wird altern können. “ 62 Während sich Kafkas Physiognomie immer klarer in seinem Werk abzeichnet, bemerkt der Leser, der das chronologische Verzeichnis der gesetzten Daten im Kommentarband der Tagebücher durchgeht, dass sich die Eintragungen im Laufe der Jahre zunehmend reduzieren. Die Notizen der ersten Jahre von 1910 bis 1912 füllen noch hunderte von Seiten, dann kommt es im September 1912, nach der Fertigstellung des Urteils, zu einer ersten Unterbrechung. Im Mai 1913 setzt das Tagebuch wieder ein, die Frequenz der Aufzeichnungen geht allerdings mit den Jahren immer mehr zurück. Im Oktober 1921 schließlich realisiert Kafka mit einer exemplarischen Geste seinen Abschied von den Tagebüchern: „ Alle Tagebücher, vor einer Woche etwa, M. gegeben. Ein wenig freier? Nein. Ob ich noch fähig bin eine Art Tagebuch zu führen? Es wird jedenfalls anders sein, vielmehr es wird sich verkriechen, es wird gar nicht sein “ 63 . Kafka übergibt seine Tagebücher als eine wertvolle und intrigante Gabe an Milena Jesenká und definiert sich nun selbst als „ ein lebendig gewordenes Gedächtnis “ 64 , in dem das autobiographische Schreiben keine Funktion mehr hat, da es nichts anderem als der Vergessenheit des Ich entspringt. Die Tagebuchaufzeichnungen brechen damit nicht ab, die Geste ist jedoch signifikativ, da sie ein Licht wirft auf die tendentielle und progressive Reduktion der autobiographischen Aufzeichnungen, der eine Verwandlung 60 Kafka, Tagebücher, cit., S. 372/ 373. 61 Kafka, Tagebücher, cit., S. 374. 62 Kafka, Tagebucher, cit., S. 341/ 342. 63 Kafka, Tagebücher, cit., S. 863. 64 ebenda 2.3 Die Physiognomie des Schriftstellers 77 des Schreibenden entspricht: das Ich übergibt inmer öfter einer dritten Person das Wort, wobei die subjektiven Reflexionen abgelöst werden von unpersönlichen Figuren und Gesten. In den sogenannten ER-Aphorismen des Jahres 1920 hat sich die dritte Person durchgesetzt, die sich in kurzen Reflexionen und Sentenzen äußert, wie: „ Er beweist nur sich selbst “ , oder: „ Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens “ . 65 Auffällig ist der Wechsel der Personalpronomina jedoch schon früher; direkt ablesbar ist er beispielsweise in einer Aufzeichnung des Jahres 1914, in der Kafka nach dem Scheitern der Verlobung mit Felice die Bilder seiner „ vollendeten Einsamkeit “ entwirft: „ In einem Monat hätte ich heiraten sollen. Ein furchtbares Wort: Wie Du es wolltest, so hast Du es. Man steht an der Wand schmerzhaft festgedrückt, senkt furchtsam den Blick, um die Hand zu sehn, die drückt und erkennt mit einem neuen Schmerz der den alten vergessen macht, die eigene verkrümmte Hand, die mit einer Kraft, die sie für gute Arbeit niemals hätte, dich hält. Man hebt den Kopf, fühlt wieder den ersten Schmerz, senkt wieder den Blick und hört mit diesem Auf und Ab nicht auf. “ 66 Die Szene verwandelt das imaginäre Selbstgespräch des einsamen Ich mit dem Du in die unpersönlichen Gebärden eines insistierenden Schmerzes, in eine Haltung, die keinen Ausweg zulässt: die eine Hand hält die andere gefangen, ziellos ist das Auf und Ab des Blicks, das keinen Halt an einem anderen findet. Die Gesten kehren den inneren Kampf, das Gefühl der Ausweglosigkeit und den Schmerz der Einsamkeit ganz nach außen, bis das grammatikalische Subjekt von einem namenlosen „ man “ vertreten wird. In einer späteren Aufzeichnung vom Mai 1922 hat sich dann die dritte Person etabliert, um die unaufhebbare Verlassenheit in elementaren Gebärden zu bestätigen: „ Zuzweit fühlt er sich verlassener, als allein. Ist er mit jemandem zuzweit, greift dieser zweite nach ihm und er ist ihm hilflos ausgeliefert. Ist er allein greift zwar die ganze Menschheit nach ihm, aber die unzähligen ausgestreckten Arme verfangen sich ineinander und niemand erreicht ihn. “ 67 Viele Tagebuchaufzeichnungen führen vor, wie schwierig, ja gewalttätig sich der Prozess der Verwandlung in eine unpersönliche Kunstfigur vollzieht, wenn das schreibende Ich beispielsweise seine Kunststücke aufzeichnet und dabei wie ein Zirkusakrobat an die Grenze der körperlichen Möglichkeiten stößt: „ ich fühle die Grenze menschlicher Bemühungen und mache auf meiner Höhe aus eigenem Antrieb und plötzlich mich überkommendem Geschick das Kunststück eines vor vielen Jahren von mir bewunderten Schlangenmenschen, indem ich mich langsam zurückbeuge - eben versucht der Himmel auf- 65 Kafka, Tagebücher, cit., S. 856/ 857. 66 Kafka, Tagebücher, cit., S. 544. 67 Kafka, Tagebücher, cit., S. 921. Vgl. zum folgenden: Elisabeth Lack, Kafkas bewegte Körper: Die Tagebücher und Briefe als Laboratorien von Bewegung, München 2009. 78 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher zubrechen, um einer mir geltenden Erscheinung Raum zu geben, aber er stockt - den Kopf und Oberkörper zwischen meinen Beinen durchziehe und allmählich wieder als gerader Mensch auferstehe. “ 68 Der Schmerz und die erlittene Gewalt, die solche Kunstübungen begleiten, nehmen in späteren Tagebuchskizzen pantomimische Gestalt an, wenn das Ich etwa von einer anonymen Gewalt gefoltert und zum Schweigen gebracht wird: „ Noch einmal schrie ich aus voller Brust in die Welt hinaus. Dann stieß man mir den Knebel ein fesselte Hände und Füße und band mir ein Tuch vor die Augen. Ich wurde mehrmals hin und her gewälzt, ich wurde aufrecht gesetzt und wieder hingelegt auch dies mehrmals, man zog ruckweise an meinen Beinen daß ich mich vor Schmerz bäumte, man ließ mich ein Weilchen ruhig liegen, dann aber stach man mich tief mit irgendetwas Spitzem, überraschend hier und dort, wo es die Laune eingab. “ 69 In den letzten Aufzeichnungen meldet sich das autobiographische Ich nur noch selten zu Wort, wenn es um die „ unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung “ 70 geht, die Reflexion des Schreibenden reduziert sich dagegen immer mehr auf namenlose Gesten: Das „ Auf und Ab “ des Lebens, die Schwere und die Leichtigkeit des Daseins zeichnen sich ab in elementaren Haltungen und Gebärden, die die Prägnanz philosophischer Aphorismen gewinnen können: „ Am Sicherheben hindert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefühl des Gesichtertseins für jeden Fall, die Ahnung eines Lagers, das ihm bereitet ist und nur ihm gehört, am Stilliegen aber hindert ihn eine Unruhe die ihn vom Lager jagt, es hindert ihn das Gewissen, das endlos schlagende Herz, die Angst vor dem Tod und das Verlangen ihn zu widerlegen, alles das läßt ihn nicht liegen und er erhebt sich wieder. Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufällige, flüchtige, abseitige Beobachtungen sind sein Leben “ . 71 Die Singularität dieses Lebens, das ganz Literatur geworden ist, lässt schließlich das Profil eines Schriftstellers hervortreten, der sich selbst überlebt hat und im Schreiben davon Zeugnis ablegt: „ Derjenige der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren - es geschieht sehr unvollkommen - mit der andern Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht, denn er sieht anderes und mehr als die andern, es ist doch tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende. Wobei vorausgesetzt ist, daß er nicht beide Hände und mehr als er hat, zum Kampf mit der Verzweiflung braucht “ 72 . Die Lesbarkeit dieser Figur des Schreibenden ist eng an die Gestik der Hände gebunden, an die Freiheit der schreibenden Hand vom Kampf mit der 68 Kafka, Tagebücher, cit., S. 527/ 528. 69 Kafka, Tagebücher, cit., S. 816/ 817. 70 Kafka, Tagebücher, cit., S. 874. 71 Kafka, Tagebücher, cit., S. 861. 72 Kafka, Tagebucher, cit., S. 867. 2.3 Die Physiognomie des Schriftstellers 79 Verzweiflung. Wenn die Paläontologie die Entwicklung der Menschheit durch den „ aufrechten Gang “ und „ die freie Hand “ 73 gekennzeichnet hat, so erscheint der Schriftsteller in Kafkas Tagebuch wie eine posthistorische Mutation in der Evolution der Gattung, wie einer, der vom Überleben Zeugnis ablegt. Die letzte Aufzeichnung vom Juni 1923 fixiert den charakteristischen Schwung der freien schreibenden Hand in einer Bewegung, in der sich der Schreibende ohne Reserve aufs Spiel setzt: „ Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister - dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung - wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen “ . 74 Die Szene hält das hic et nunc des Schreibens fest: diese Hand auf diesem Papier; sie erzählt von der phantasmatischen Übertragung der Handbewegung in die Wendung der Worte. Kafka spricht keiner Eigendynamik des Schreibens das Wort, der sich das Ich zum Opfer bringen soll, seine Haltung wird vielmehr von der Gewißheit bestimmt, die unheimliche Bewegung der schreibenden Hand mit eigenen Waffen be- und verantworten zu können. Mit dieser Geste, die dem Schreibenden „ mehr als Trost “ vermittelt, firmiert Kafka sein Tagebuch. 2.4 Jiddische Melodie Über hundert Seiten des Kafkaschen Tagebuchs sind dem jiddischen Theater gewidmet, das im Zeitraum zwischen Oktober 1911 und Februar 1912 in Prag gastierte. 75 Die Begeisterung, die aus Kafkas Aufzeichnungen spricht, lässt ganz die kühle Distanz vermissen, die die Beobachtungen des Tagebuchs im allgemeinen kennzeichnet. Kafka, der zu den Stammgästen der Aufführungen der Lemberger Schauspieltruppe im Café Savoy zählt, erwähnt zwar die erbärmliche Ausstattung der Bühne, die dillettantischen Fehltritte der Schauspieler, die kleinen Unfälle und Raufereien auf offener Bühne sowie die lautstarken Beschimpfungen des Publikums, er vermerkt das eklektische Repertoire, das nicht nur die Stücke von Klassikern wie Gordin oder Goldfaden enthielt, sondern auch viel des sogenannten shund 76 , er registriert 73 André Leroi-Gourhan, Le geste et la parole, Paris, 1964. 74 Kafka, Tagebücher, cit., S. 926. 75 Vgl. Rainer Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a. M. 2002, das Kapitel „ Schauspieler, Zionisten, wilde Menschen, S. 46 - 65. Guido Massino, Kafka, Löwy und das Jiddische Theater. „ Dieses nicht niederzudrückende Feuer des Löwy “ . Aus dem Italienischen von Norbert Bickert, Frankfurt a. M. 2007. 76 Zum Repertoire vgl.: Evelyn Torton Beck, Kafka and the Yiddish Theater. Its impact on his work, Madison, Milwaukee, London 1971, S. 22 ff. 80 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher schließlich die Verachtung, die auch die Stammgäste und Angestellten des Kaffeehauses den fahrenden Schauspielern entgegenbringen: „ Hungerleider, Herumfahrende, Mitjuden ganz wie in historischen Zeiten “ . 77 Und dennoch, in den Aufzeichnungen ist immer wieder von seiner Erregung und Begeisterung die Rede, ja von der Ehrfurcht und Bewunderung für die ganz besondere Wahrheit, die dieses „ Schmierentheater “ 78 zu vermitteln vermag. Staunend vermerkt Kafka die Authentizität eines Schauspiels, das ganz auf der Überzeugungskraft der Gesten beruht, auf den Gebärden eines kollektiven Körpers, die ihre Wurzeln im rituellen Gesang haben. Von dieser kollektiven Melodie kann auch der ungläubige Einzelne, wie Kafkas Tagebuch bezeugt, gleichsam physisch erfasst und mitgetragen werden: „ Die Melodien sind lang, der Körper vertraut sich ihnen gerne an. Infolge ihrer gerade verlaufenden Länge wird ihnen am besten durch das Wiegen der Hüften, durch ausgebreitete in ruhigem Atem gehobene und gesenkte Arme, durch Annäherung der Handflächen an die Schläfen und sorgfältige Vermeidung der Berührung entsprochen [. . .] Bei manchen Liedern, der Aussprache ‚ jüdische Kinderloch ‘ , manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Christen, gieng mir ein Zittern über die Wangen. “ 79 Wie Kafka am eigenen Leib erfährt, wird die Skepsis des westjüdischen Individuums dementiert von der Melodie eines kollektiven Körpers, dessen Erregung und Begeisterung sich unmittelbar auf den Zuschauer überträgt: „ Die Melodien sind dazu geeignet, jeden aufspringenden Menschen aufzufangen und ohne zu zerreißen seine ganze Begeisterung zu umfassen, wenn man schon einmal nicht glauben will, dass sie sie ihm geben. Denn besonders die 2 im Kaftan eilen zum Singen hin, als strecke es ihnen den Leib nach seinem eigentlichsten Bedürfnis und das Händezusammenschlagen während des Gesanges zeigt offenbar das beste Wohlsein des Menschen im Schauspieler an “ . 80 Ohne jede Idealisierung oder Ursprungsmythologie beschreibt Kafka in den Aufzeichnungen zum jiddischen Theater die Authentizität der Gebärdensprache, die evidente Übertragungsleistung des mimischgestischen Schauspiels, das die Partizipation an den Energien eines „ heißen “ Judentums möglich macht und ein bisher unbekanntes „ Wohlseins des Menschen “ zur Erfahrung bringt. Kafkas Tagebuchaufzeichnungen verzeichnen einerseits immer neu die einheitsstiftende Kraft und Wahrheit, die in den rituellen Melodien der jiddischen Gebärdensprache liegt, andererseits analysieren sie im Detail das spezifische Ausdruckspotential der Schauspieler, die klamaukartigen 77 Franz Kafka, Tagebücher, cit., S. 207/ 208. 78 Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, cit., S. 49. 79 Kafka, Tagebücher, cit., S. 59. 80 Kafka, Tasgebücher, cit., S. 61. 2.4 Jiddische Melodie 81 Effekte, die närrische Komik oder den jiddischen Witz: „ Sie scheinen sich aus jedem einen Narren zu machen, lachen gleich nach der Ermordung eines edlen Juden, verkaufen sich einem Abtrünnigen, tanzen die Hände vor Entzücken am Wangenhaar, als der entlarvte Mörder sich vergiftet und Gott anruft, und doch alles nur weil sie so federleicht sind, unter jedem Druck auf dem Boden liegen empfindlich sind, gleich mit trockenem Gesicht weinen (sie weinen sich in Grimassen aus), sobald der Druck aber vorüber ist, nicht das geringste Eigengewicht aufbringen sondern gleich in die Höhe springen müssen. “ 81 Die Energien der Jiddishkeit finden, so teilt sich in dieser Aufzeichnung mit, ihr expressives Potential in einer schwerelosen Rezitation, in der die Figuren ganz ohne Substanz und Eigengewicht sind, befreit von der Mühsal des Lebens und vom Gewicht jeder Innerlichkeit. Ihre Empfindlichkeit bleibt „ trocken “ , sie simuliert keine individuelle seelische Bewegung, die die Zuschauer zum Mitleid einlädt, sie zeigt sich allein als mimische Reaktion, ein kollektives sich Auslachen und Ausweinen in Grimassen, in Mienenspiel und Tanz. Aus dem Kollektiv der Schauspieler - „ Leute, die in einer besonders reinen Form Juden sind, weil sie nur in der Religion aber ohne Mühe, Verständnis und Jammer in ihr leben “ 82 - treten in den Aufzeichnungen Kafkas die besonderen Gesten einzelner Figuren hervor, vor allem die Vitalität und das „ nicht niederzudrückende Feuer “ 83 des bewunderten Isaak Löwy oder die Wärme der schwärmerisch verehrten Mania Tschissik, die als „ Hausmutter “ 84 die jiddischen Vorstellungen leitete. Kafkas Tagebuchnotizen suchen die „ Wahrheit “ dieser Schauspieler zu ergründen, indem sie deren Spiel in all seinen gestischen und mimischen Details studieren, so etwa die Rezitation des Schaupielers Löwy während einer Lesung, die Kafka besucht und nach der er „ alle Fähigkeiten gesammelt “ 85 fühlt: Ein dem Schauspieler natürliches, wiederkehrendes Aufreißen der Augen, die nun ein Weilchen so stehen gelassen werden von den hochgezogenen Augenbrauen umrahmt. Vollständige Wahrheit der ganzen Vorlesung; die schwache von der Schulter aus veranlaßte Hebung des rechten Armes; das Rücken am Zwicker, der ausgeborgt scheint so schlecht paßt er auf die Nase; die Haltung des Beines unter dem Tisch, das ausgestreckt ist, daß besonders die schwachen Verbindungsknochen zwischen Ober- und Unterschenkel in Tätigkeit sind; die Krümmung des Rückens, die schwach und elend aussieht, da sich der Beobachter einem einheitlichen einförmigen Rücken gegenüber im Urteil nicht betrügen läßt, wie dies beim Anschauen des Gesichtes durch die Augen, die Höhlungen und Vorsprünge der Wangen aber auch durch jede Kleinigkeit und sei es eine Bartstoppel geschehen kann. 86 81 Kafka, Tagebücher, cit., S. 58. 82 ebenda 83 Franz Kafka, An Felice Bauer, 1. Juni 1913, in: ders., Briefe. 1913-März 1914, cit., S. 199/ 200. 84 Kafka, Tagebücher, cit., S. 231. 85 Kafka, Tagebücher, cit., S. 89. 86 ebenda 82 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Das Gesicht der Mania Tschissik studiert Kafka dagegen wie ein Buch, das die Geschichte eines armen fahrenden Schauspielerlebens erzählt: „ Frau Tschissik hat Vorsprünge auf den Wangen in der Nähe des Mundes. Entstanden teils durch eingefallene Wangen infolge der Leiden des Hungers, des Kindbetts, der Fahrten und des Schauspielens teils durch ruhende ungewöhnliche Muskeln die sich für die Schauspielbewegungen ihres großen ursprünglich sicher schwerfälligen Mundes entwickeln mußten. “ 87 Immer wieder macht der Schreibende den Versuch, die unmittelbare Wirkung dieser Schauspielerin aufzuzeichnen, den „ Anflug von Schauern oben auf den Wangenknochen “ beim „ Hören ihrer Stimme “ 88 , in einem zweiten Schritt wird dann aber immer wieder fast zwanghaft die Wahrheit des Gesamteindrucks zerlegt in einzelne Bewegungen, Haltungen und Gesten, um diesen gleichsam auf den Grund zu kommen: „ Aber nur bei ihrem Antrittslied war ich ganz unter ihrem Eindruck, dann bin ich zu jedem Teilchen ihres Anblicks in der stärksten Beziehung, zu den beim Gesang ausgestreckten Armen und den schnippenden Fingern, zu den festgedrehten Schläfenlocken, zu dem flach und unschuldig unter die Weste gehenden dünnen Hemd, zu der Unterlippe die sich einmal beim Genießen der Wirkung eines Witzes aufstülpt [. . .], zu den fetten Füßchen, die in den dicken weißen Strümpfen bis hinter die Zehen durch die Schuhe sich niederhalten lassen. “ 89 Kafkas analytischer Blick konzentriert sich auf mimische Details und hält einzelne Gesten fest: „ Ihr Spiel ist nicht mannigfaltig: das erschreckte Blicken auf ihren Gegenspieler, das Suchen eines Auswegs auf der kleinen Bühne “ oder die „ Freude, die durch ihr sich öffnendes, über die hohe Stirn bis zu den Haaren sich ausbreitendes Gesicht in sie dringt “ 90 ; er registriert auch die gags, die „ Lücken des Eindrucks “ , wenn die Schauspielerin „ auf den Saum des Kleides “ tritt oder sich verspricht, um schließlich, nach präziser Analyse, doch wieder „ die Wahrheit des Ganzen “ zu bestätigen, der „ nicht die geringste ihrer Wirkungen genommen werden kann “ . 91 Aus Kafkas Tagebuchnotizen spricht deutlich das Bewusstsein und auch die Angst, die - wie er schreibt - unmittelbare „ Wahrheit meines Eindrucks “ nachträglich durch falsche Worte zu zerstören: „ Wie wund mir die Schauspieler nach der Vorstellung vorkamen, wie ich mich fürchtete, sie mit einem Wort zu betupfen. Wie ich lieber nach einem flüchtigen Händedruck rasch weggieng, als wäre ich böse und unzufrieden weil die Wahrheit meines Eindrucks auszusprechen so unmöglich war “ . 92 Kafka fürchtet das gesprochene Wort, das den verletzlichen Eindruck des jiddischen Theaters zerstören 87 Kafka, Tagebücher, cit., S. 95. 88 Kafka, Tagebücher, cit., S. 203. 89 Kafka, Tagebücher, cit., S. 349/ 350. 90 Kafka, Tagebücher., cit., S. 97. 91 ebenda 92 Kafka, Tagebücher, cit, S. 202. 2.4 Jiddische Melodie 83 kann, im Medium der Schrift aber versucht er unerbittlich, dem Geheimnis dieser Wirkung nachzugehen. Seine Aufzeichnungen im Tagebuch liest er selbst als Schreibübungen, die sich an der Wahrheit des jiddischen Schauspiels orientieren: „ Die Schauspieler überzeugen mich durch ihre Gegenwart immer wieder zu meinem Schrecken, daß das meiste was ich bisher über sie aufgeschrieben habe, falsch ist. Es ist falsch, weil ich mit gleichbleibender Liebe (erst jetzt da ich es aufschreibe, wird auch dieses falsch) aber wechselnder Kraft über sie schreibe und diese wechselnde Kraft nicht laut und richtig an die wirklichen Schauspieler schlägt sondern dumpf sich an dieser Liebe verliert, die mit der Kraft niemals zufrieden sein wird und deshalb dadurch, daß sie sie aufhält, die Schauspieler zu schützen meint. “ 93 Die Liebe und die Kraft, das sind die Stichworte, die die Auseinandersetzung des Schriftstellers mit der kollektiven Melodie des jiddischen Schauspiels prägen; diese wird für Kafka zur Provokation eines Schreibens, das seine Wahrheit an der unmittelbaren Überzeugungskraft der ostjüdischen Gebärdensprache misst, um deren Energie und Intensität ins Medium der Literatur zu übertragen. Dass die Wirkung dieser „ Kräfte “ für den assimilierten Westjuden nicht die Wiederentdeckung der eigenen ostjüdischer Wurzeln bedeuten kann, weiß Kafka sehr genau, er selbst dementiert im Tagebuch jede Illusion einer neuen jüdischen Identitätsstiftung, so etwa in einer Notiz vom 6. Januar 1912: „ Bei den ersten Stücken konnte ich denken, an ein Judentum geraten zu sein, in dem die Anfänge des meinigen ruhen und die sich zu mir hin entwickeln und dadurch in meinem schwerfälligen Judentum mich aufklären und weiterbringen werden, statt dessen entfernen sie sich, je mehr ich höre, von mir weg. Die Menschen bleiben natürlich und an die halte ich mich. “ 94 In Kafkas späterem Werk ist es wohl auch deshalb nicht mehr die menschliche, vielmehr die animalische Familie, die zum Protagonisten einer merkwürdigen Tanz- und Gebärdensprache wird. Sie ruft die vergessenen Energien jiddischer Melodien wach und damit auch das Versprechen einer Befreiung im „ Vergessen jenes mit Rationalität und Nihilismus beladenen Ichs, das das Leben erstarren lässt und den Flug des Schreibens lähmt. “ 95 In den Forschungen eines Hundes erinnert der Forscherhund das überwältigende Ereignis seiner Jugendzeit, das seinen weiteren Forschungen entscheidende Impulse geben sollte: eine Gruppe musizierender Hunde, die aus der Finsternis hervortritt und in den geistigen Horizont des Protagonisten einbricht, um ihn mit lärmendem Klang in ihren Bann zu ziehen. Sicherlich kann dieser Ausschnitt der Erzählung autobiographisch gelesen werden, als Verweis auf die überwältigende 93 Kafka, Tagebücher, cit., S. 98/ 99. 94 Kafka, Tagebücher, cit., S. 349. 95 Guido Massino, Kafka, Löwy, cit., S. 11. 84 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Wirkung des jiddischen Theaters, 96 die Frage allerdings, ob und wie Kafkas Literatur diese intensive Erfahrung ins Schreiben überträgt, lässt sich schwer beantworten. Evelyn Torton Beck spricht von einer nachhaltigen Wirkung des jiddischen Theaters auf Kafkas Werk und dokumentiert ihre These an der Zäsur, die durch die Erzählung Das Urteil markiert wird, wo die fragmentarische und lockere Struktur des Frühwerks von der dramatischen Stringenz der späteren Texte abgelöst werde. 97 Wieweit sich dies wirklich dem direkten Einfluss des Jargontheaters verdankt, muss letztlich offen bleiben. Was feststeht ist, dass die Begegnung mit den Juden im schäbigen Cafè Savoy zeitlich zusammenfällt mit dem Abschied von den schwankenden und gestikulierenden Figuren des Frühwerks; Kafka selbst stellt im Tagebuch „ eine neue festigende Kraft “ 98 fest, die sich vielleicht der kollektiven Melodie der jiddischen Gebärdensprache verdankt, auch wenn sich die Überlieferung des Judentums in den Raum einer Wanderbühne zurückgezogen hat. Das armselige Lemberger „ Jargontheater “ wird auch insofern zum Geburtshelfer neuer schöpferischer Energie, als es in Kafka ein mächtiges Verlangen wachruft, den „ Wunsch ein großes jiddisches Theater zu sehn, da die Aufführung doch vielleicht an dem kleinen Personal und ungenauer Einstudierung leidet. Auch der Wunsch, die jiddische Literatur zu kennen, der offenbar eine ununterbrochene nationale Kampfstellung zugewiesen ist, die jedes Werk bestimmt. “ 99 Unter dem Einfluß dieses Verlangens entstehen die Notizen zur Charakteristik kleiner Literaturen, die ihre große und streitbare Lebendigkeit gerade infolge des „ Mangels bedeutender Talente “ 100 entwickeln, „ littérature mineure “ 101 , die sich nicht dem Genie großer Individuen verdankt, sondern zum kollektiven Ereignis wird, in dem die Sprache ihr repräsentatives Dasein aufgibt und eine ganz neue nüchterne Intensität gewinnen kann. In einem späten Brief an Max Brod vom Juni 1921 spricht Kafka dann von den Unmöglichkeiten einer neuen deutsch-jüdischen Literatur, die sich vom Vaterkomplex befreit hätte und zitiert Karl Kraus, der wie der „ Großvater in der Operette “ die kleine Welt der deutsch-jüdischen Literatur beherrsche; Kafka sieht in ihm vor allem den Meister des Mauschelns, „ das Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem es allein genommen werden muß, nämlich 96 Vgl. Guido Massino, Kafka, Löwy, cit., S. 8: „ In den angeführten Auszug aus den Forschungen eines Hundes schwingen aber auch Jugendhoffnungen angesichts unerforschter Möglichkeiten der Welt mit, das Warten auf ein Ereignis, das dem eigenen Leben eine entscheidende Wendung zu geben vermag. “ 97 Beck, Kafka and the Yiddish Theater, cit., S. 70 ff. 98 Kafka, Tagebücher, cit., S. 379. 99 Kafka, Tagebücher, cit., S. 68. 100 Kafka, Tagebücher, cit., S. 314. 101 Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, Kap. III „ Was ist eine kleine Literatur? “ , S. 24 - 39. 2.4 Jiddische Melodie 85 als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes “ , ein Diebstahl der Sprache, dem Kafka auch eine eigene Schönheit zugesteht: das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache (wie plastisch ist dieses: Worauf herauf hat er Talent? oder dieses den Oberarm ausrenkende und das Kinn hinaufreißende: Glauben Sie! oder dieses die Knie aneinander zerreibende: ‚ er schreibt. Über wem? ‘ ) und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, daß im Deutschen nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt, während das übrige, der sprachliche Mittelstand, nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann, daß überlebendige Judenhände sie durchwühlen. 102 Das Papierdeutsch und die Gebärdensprache können als entscheidende Komponenten gelten, die in Kafkas Schriftsprache eingehen. Diese verhilft allerdings nicht der sprachlichen Asche zu scheinhaftem Leben und sie täuscht auch keineswegs über den Betrug des Mauschelns hinweg, vielmehr nimmt sie ganz nüchtern und bewusst den Witz des Mauschelns auf, um auf neue und singuläre Weise Gesten- und Schriftsprache zu verbinden. Die Innervation und die Energie dieser Sprache verdankt sich wohl nicht zuletzt auch der Provokation, die für Kafka von der kollektiven Melodie des jiddischen Schauspiels ausging. 2.5 Mikrogramme sozialen Lebens: Kafkas Weltanschauung In Kafkas Tagebüchern ist kaum von der gesellschaftlichen und politischen Realität der Zeit die Rede und doch entsteht in diesen Notizen eine soziale Lebenswelt, deren Konturen sich in kleinen Skizzen abzeichnet, die die Begegnung mit fremden Gesichtern festhalten. Meist sind es Szenen aus Alltag und Büro, die von einem befremdeten, gleichsam ethnologischen Blick erfasst werden, um die Gesten und Haltungen der Menschen aufzuzeichnen und die Kommunikation ihrer Blicke und Hände zu studieren. Kein sozialer Blick kennzeichnet Kafkas Wahrnehmung, sondern einer, der aus der sozialen Abweichung kommt. Diese Sichtweise entfaltet ein ganz eigenes kritisches Potential, das sich - fern von jeder Ideologie - weder moralisch noch politisch übersetzen lässt, es zeigt sich allein im mimischen Scharfsinn, in der Sensibilität für das Spiel von Macht und Ohnmacht, für die Entstellung der gesellschaftlichen Stellung, für die melancholische Komik unangepasster Haltungen und Gebärden. Jenseits jeder Form von Ideologie oder auch nur 102 Franz Kafka, An Max Brod, Juni 1921, in: ders.,Briefe 1902 - 1924, Frankfurt a. M. 1975, S. 336/ 337. 86 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Kritik zeichnet sich so in diesen Mikrogrammen sozialen Lebens eine eigene Weltanschauung im Medium der Geste ab. Als Beispiel für die zahlreichen Skizzen aus dem Büroalltag kann eine Aufzeichnung zitiert werden, in der Kafka den Blickwechsel mit seinem Chef beschreibt; der Austausch der Blicke wird in der Notiz zum Gegenstand einer miutiösen Analyse, in der es um das Problem der Anerkennung und der Autorität geht: Meinem Chef kann ich, wenn er mit mir Bureauangelegenheiten beräth (heute die Karthotek) nicht lange in die Augen schauen, ohne daß in meinen Blick gegen allen meinen Willen eine leichte Bitterkeit kommt, die entweder meinen oder seinen Blick abdrängt. Seinen Blick flüchtiger aber öfter, da er sich des Grundes nicht bewußt ist, jedem Anreiz wegzuschauen nachgibt, gleich aber den Blick zurückkehren läßt, da er das Ganze nur für eine augenblickliche Ermattung seiner Augen hält. Ich wehre mich dagegen stärker, beschleunige daher das zickzackartige meines Blickes, schaue noch am liebsten seine Nase entlang und in die Schatten zu den Wangen hin, halte das Gesicht in seiner Richtung oft nur mit Hilfe der Zähne und der Zunge im geschlossenen Mund, wenn es sein muß, senke ich zwar die Augen aber niemals tiefer als bis zu seiner Kravatte, bekomme aber gleich den vollsten Blick, wenn er die Augen wegwendet und ich ihm genau und ohne Rücksicht folge. 103 Verfremdet wie in einer Zeitlupe erscheint in diesem detaillierten Studium der Blicke das Spiel der intersubjektiven Anerkennung, das der Hierarchie der Büroanstalt nicht entgehen kann; auch gegen den Willen der Beteiligten erzeugt die hierarchische Stellung jene leichte Bitterkeit, die die Machtverhältnisse mit sich bringen. Konstitutiv für das Ich, das hier spricht, ist die Abweichung und Distanznahme vom sozial determinierten Spiel der Macht, der starke innere Widerstand des Beobachters, der seinen Blick dem Chef gegenüber „ niemals tiefer als bis zu seiner Kravatte “ senkt und der durch raffinierte Strategien der Blickführung wie das zickzackartige Beschleunigen und Festhalten des Blicks seine Stellung wahrt. In Kafkas Aufzeichnungen zum „ Bureau “ fällt nicht nur die mikroskopische Genauigkeit auf, mit der er die Zwiespältigkeit hierarchisch verzerrter Kommunikation registriert, bestechend ist vor allem auch die Sensibilität für die Epiphanie menschlicher Gesichter, die unvermutet aufscheinen können. Einem zufälligen Augenblick verdankt sich so etwa das Gesicht eines Oberinspektors, das aus dem Büroalltag auftaucht: „ Das lachende, jungenhafte, aufgelöste, Gesicht des Oberinspektors, das ich noch nie an ihm gesehen hatte und nur heute in einem Augenblick bemerkte, als ich eine Arbeit des Direktors ihm vorlas und zufällig von ihr aufsah. Er streckte dabei auch mit einem Ruck der Schultern die rechte Hand in die Hosentasche, als wäre er ein anderer Mensch. “ 104 Charakteristisch bei Kafka ist die Haltung der Hände in den 103 Kafka, Tagebücher, cit., S. 94/ 95. 104 Kafka, Tagebücher, cit., S. 608/ 609. 2.5 Mikrogramme sozialen Lebens: Kafkas Weltanschauung 87 Hosentaschen, die in der schriftlichen Verhaltensforschung des Autors oft für die abweichende oder alternative Stellung dessen steht, der sich der sozialen Rolle oder Situation verweigert. Wie vieldeutig diese Haltung ist, in der sich Selbstbezogenheit, Selbstbehauptung aber auch Haltlosigkeit äußern können, zeigt beispielsweise eine kleine Skizze, die eine alltägliche Begegnung festhält: „ Ein Bekannter kommt und spricht mit mir. Ich lege mich förmlich auf ihn, so schwer bin ich. Er stellt folgende Behauptung auf: Manche sagen das, ich aber sage gerade das Entgegengesetzte. Er führt die Gründe seiner Meinung an. Ich schwanke. Die Hände liegen in meinen Hosentaschen als wären sie hineingefallen und doch wieder so locker, als müßte ich die Taschen nur leicht umklappen und sie fielen wieder schnell heraus. “ 105 Die Position des Ich, das sich dem üblichen Austausch von Behauptungen und Meinungen zu entziehen sucht, ist in dieser Szene alltäglicher Kommunikation schwankend und schwer, da sie keinen Halt findet an den Worten des anderen. Die Haltung der Hände in den Hosentaschen kann aber auch eine ganz andere Bedeutung gewinnen, wenn Kafka beispielsweise seine Stellung im Geschäft beschreibt: „ Die Stellung im Geschäft am Abend kurz vor Geschäftsschluß: Die Hände in den Hosentaschen, ein wenig gebückt, aus der Tiefe des Gewölbes durch das weit offene Tor auf den Platz hinausschauen. Matte Bewegungen der Angestellten ringsherum hinter den Pulten. Ein schwaches Zusammenschnüren eines Packets, ein bewußtloses Abstauben einiger Schachteln, ein Aufeinanderschichten gebrauchten Packpapiers. “ 106 In der wartenden und untätigen Haltung, die diese Szene aufzeichnet, haben die Interpreten den Ausdruck von Rat- und Entschlusslosigkeit gelesen 107 ; die selbstvergessene Aufmerksamkeit des Betrachters allerdings scheint hier kaum negativ konnotiert zu sein und drückt sicher mehr als nur müde Passivität aus. Der Leser, der die Gesten studiert, die von der Neige des Arbeitstages und vom Ermatten der Arbeitskraft erzählen, muss die lockere Haltung erkennen, die der Suspension jeder zweckgerichteten Handlung und geschäftlichen Produktion entspricht. Alles Mögliche mag der Interpret in dieser Szene lesen, nur eines nicht, nämlich den Blick eines Geschäftsmannes auf sein Geschäft. Die Liquidierung des Possessivpronomens, die in den Tagebuchaufzeichnungen den bürgerlichen Besitzanspruch auslöscht und dessen Subjekt enteignet, kennzeichnet auch die Betrachtung der „ Mädchen in der Fabrik “ 108 , in der die unmenschliche Wirkung der technischen Apparaturen auf die Gesichter und Bewegungen augenfällig wird. Diese Mädchen in ihren „ schmutzigen und gelösten Kleidern, mit den wie beim Erwachen zerworfenen Frisuren, mit dem vom unaufhörlichen Lärm der Transmissionen und von der einzelnen 105 Kafka, Tagebücher, cit., S. 530. 106 Kafka, Tagebücher., cit., S. 529. 107 Vgl. Guntermann, Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben, cit., S. 62. 108 Kafka, Tagebücher, cit., S. 373. 88 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher zwar automatischen aber unberechenbar stockenden Maschine festgehaltenen Gesichtsausdruck sind nicht Menschen “ 109 , so urteilt Kafka zunächst lapidar. Der unmenschliche Rhythmus der Maschinen, dem die Mädchen unterworfen sind, reduziert ihre Haltungen und Mienen auf das bloße Funktionieren als Arbeitskräfte, jede Intimität, jede Höflichkeit, jeder erotische Blick wird damit überflüssig, ja unmöglich. Geradezu zauberhaft erscheint dann allerdings die Verwandlung der Arbeiterinnen im Blick des Betrachters, wenn sich ihre erstarrten Mienen und mechanischen Gesten am Ende der Arbeitsschicht vom Bann der Maschine befreien: wenn sie „ die Tücher vom Hals und von den Haaren “ losbinden und ihre schmutzigen Kleider abstauben, „ sind sie schließlich doch Frauen, können trotz Blässe und schlechten Zahnen lächeln, schütteln den erstarrten Körper, man kann sie nicht mehr stoßen, anschauen oder übersehn, man drückt sich an die schmierigen Kisten um ihnen den Weg freizumachen, behält den Hut in der Hand, wenn sie guten Abend sagen und weiß nicht, wie man es hinnehmen soll, wenn eine unseren Winterrock bereithält, daß wir ihn anziehn. “ 110 Auch in dieser Szene, die von den Gesten einer Befreiung erzählt, deutet gar nichts darauf hin, dass Kafka hier seine Fabrik beschreibt, dass hier der Fabrikant spricht, dem diese Arbeitskräfte dienen sollen. 111 Kafkas Notizen zeichnen die Berührung mit menschlichen Gesichtern und Gebärden auf und halten die affektiven Spuren einer Weltsicht fest, die sich nie zu einer Weltanschauung im üblichen Wortsinn objektiviert. Was bei der Durchsicht der Tagebücher auffällt, die im Zeitraum zwischen 1909 und 1923 entstanden sind, ist das Fehlen jeder Meinungsäußerung zum Krieg. Kafka - so bemerkt der Biograph Rainer Stach dazu lapidar - spürt „ kein Bedürfnis, sich zum Chronisten der Ereignisse zu machen “ 112 . Legendär wurde in dieser Hinsicht die Eintragung vom 2. August 1914, die Stach dem Leser mit der Lizenz des Biographen sehr malerisch und rhetorisch vergegenwärtigt: Am 2. August 1914, nur wenige Stunden nachdem die Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Anfang nahm, verabschiedete sich Kafka von all dem Jubel, den Extrablättern, den Gesängen, den Verlautbarungen, Ansprachen, Gerüchten, Hamsterkäufen, Marschschritten, hastenden Gepäckträgern, von Pferdegetrappel, rollenden Lafetten, sonnenbeglänzten Uniformen, frisch gebügelten Fahnen und weinenden Mädchen. Der Eintrag ins Tagebuch, mit dem er der Welt den Rücken zuwandte, ist berüchtigt: ‚ Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule. ‘ Das war kalt und komisch, doch es war alles, was es zu sagen gab. 113 109 Kafka, Tagebücher, cit., S. 373. 110 Kafka, Tagebücher, cit., S. 374. 111 Vgl. Reiner Stach, Kafka, cit., S. 27. 112 Stach, Kafka, cit., S. 533. 113 Stach, Kafka, cit., S. 535. 2.5 Mikrogramme sozialen Lebens: Kafkas Weltanschauung 89 Ob Kafkas Absistenz vom Kommentar der Zeitereignisse tatsächlich - wie so oft behauptet - eine Abwendung von der Welt oder gar einen Rückzug ins Private und Unpolitische bedeutet, ist äußerst fraglich. Lesbar wird vielmehr in den Skizzen aus der Kriegszeit, die die Mienen und Gesten der Menschen studieren, eine Haltung, der durchaus politische Bedeutung zukommen kann, wenn sich der Autor auch jeder Meinung enthält. Im Kriegsjahr 1915 macht sich Kafka beispielsweise Aufzeichungen während einer Kriegsreise; es sind Eindrücke von einer Bahnfahrt mit der Schwester Elli nach Nagy Mihàly, wo der Schwager als Reserveleutnant in der Etappe dient. „ Ich meist stumm “ , so vermerkt Kafka, „ weiß nichts zu sagen, der Krieg löst in diesem Kreise nicht die geringste mitteilenswerte Meinung bei mir aus. “ 114 Auch nachträglich wird im Tagebuch keine Meinung geäußert, doch während der Autor so verstummt, entsteht in wenigen Strichen die Zeichnung einer Reise im Krieg. Die Gesichtszüge der Menschen im Abteil des Zuges werden festgehalten, so etwa der „ im Reisen erfahrene Wiener, lang, blondbärtig, Beine übereinander geschlagen “ , das blutarme „ Mädchen aus Žїž kow “ oder die „ alte Frau aus Dresden mit dem Bismarkgesicht “ , „ die zwei Polen, der Lieutnant und die Dame “ , „ die zwei ungarischen Juden “ oder ein „ ungarischer Leutenant, der im Schlaf ein „ leeres, häßliches Gesicht “ zeigt, „ offener Mund, komische Nase “ , der „ Husare auf dem Bahnhof in der verschnürten Pelzjacke “ und sein „ förmlich unbewußtes sinnloses Lächeln “ oder „ der riesige deutsche Officier “ , der vor „ Strammheit und Größe “ ganz steif ist. 115 Eindringlich wirken diese Porträts auf den Leser, in denen Momente der Vergangenheit festgehalten werden, wie in fotographischen Momentaufnahmen, die die Mienen und Haltungen von Menschen fixieren, um das, was gewesen ist, zu bezeugen und zu beglaubigen. 116 In die Züge dieser schriftlich fixierten Gesichter hat sich das optisch aufgespürte Leben der Kriegszeit eingeprägt; sie erzählen - jenseits jeder weltanschaulichen oder politischen Meinung des Schreibenden - ihre eigene Geschichte. Wie Kafkas Kriegszeichnung zeigt, ist diese Geschichte nicht so sehr an die wechselnden und vorübergehenden Personen gebunden, sie teilt sich vielmehr unpersönlich mit in jenen einfachen Gesten, die die Kraft haben, erinnert zu werden. Exemplarisch sei eine Szene zitiert, in der ein unscheinbares altes Ehepaar voneinander Abschied nehmen muss: Ihre Gesichtszüge können überhaupt nicht gemerkt werden, eine alte unscheinbare Frau, sieht man ihr Gesicht genauer an, versucht man es genauer anzusehn, löst es sich förmlich auf und nur eine schwache Erinnerung an irgendeine kleine gleichfalls 114 Kafka, Tagebücher, cit., S. 735. 115 Kafka, Tagebücher, cit., S. 734 - 738. 116 Roland Barthes spricht in diesem Sinn von einer neuen Zeiterfahrung, die sich mit dem Auftreten der Fotographie realisiert: „ von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart “ (Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989, S. 97). 90 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher unscheinbare Häßlichkeit etwa die rote Nase oder einige Pockennarben bleibt zurück. Er hat einen grauen Schnauzbart, große Nase und wirklich Pockennarben. Radmantel und Stock. Beherrscht sich gut, trotzdem er sehr ergriffen ist. Greift in wehmütigem Scherz der alten Frau ans Kinn. Was für eine Zauberei darin liegt, wenn einer alten Fau unter das Kinn gegriffen wird. 117 Aus Kafkas unpersönlichen Gesten lässt sich keine Weltanschauung und keine Stellungnahme zum Krieg entnehmen, aus ihnen spricht eine andere „ Ansicht des Lebens “ , über die der Autor in einer späteren autobiographischen Aufzeichnung nachdenkt. In dieser Notiz vom 15. Februar 1920 blickt der Schreibende auf die Wünsche zurück, die er für sein Leben gehabt hätte, Wünsche, von denen er Abschied nehmen mußte: Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen [. . .] in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun undzwar nicht so daß man sagen könnte: ‚ ihm ist das Hämmern ein Nichts ‘ sondern ‚ ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts ‘ , wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und wenn Du willst noch irrsinniger geworden wäre. 118 Was in diesem Lebensrückblick als schöner Wunsch erscheint, ist eine „ Ansicht des Lebens “ , in der sich das menschliche Handeln befreit hätte vom Zwang der Zwecke, dem es als Mittel dienen soll, um ganz zur traumhaft kühnen und entschlossenen Gebärde zu werden, nach Walter Benjamin dem Tao vergleichbar, „ jenem Nichts sehr nahe, das das Etwas erst brauchbar macht “ . 119 Die Tragweite dieses Wunsches wird wohl unterschätzt, wenn man ihn als ästhetische Ansicht des Lebens interpretiert und die „ Nähe dieser Lebensansicht zu Nietzsches Gleichsetzung von Welt und Nichts “ 120 hervorhebt. Die traumhafte Suspension der zielgerichteten Handlung, die in Kafkas Schriften Wirklichkeit und Irrsinn der menschlichen Geste zum Ausdruck bringt, ist mehr und anderes als bloß ästhetisches Mittel, das seinen Zweck in sich trägt. 121 117 Kafka, Tagebücher, cit., S. 737. 118 Kafka, Tagebücher, cit., S. 855. 119 Walter Benjamin, Franz Kafka, cit, S. 35. 120 Gerhard Kurz, Der junge Kafka im Kontext. Einleitung in: Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt a. M. 1984, S. 7 - 39, hier: S. 17. Kurz hebt zu Recht diese Affinität hervor, auf die Kafka aber auch auf singuläre Weise antwortet. 121 Vgl. Giorgio Agamben, der in seinen Noten zur Geste in diesem Sinn die Geste wie auch die Handlung des Gauklers und Mimen von der ästhetischen Autoreferenz abgrenzt und vom ethos der Geste spricht, d. h. vom Sichtbar-Werden einer Mittelbarkeit, das sich der falschen und gewaltsamen Alternative von Mitteln und Zwecken entzieht: Giorgio Agamben, Noten zur Geste, in: Postmoderne und Politik, hrsg. v. Jutta Georg-Lauer, Tübingen 1992, S. 97 - 107. 2.5 Mikrogramme sozialen Lebens: Kafkas Weltanschauung 91 In den entschlossenen Gebärden eines peinlich genauen Handwerks, das sich selbst nicht vergisst und sich nicht in den Dienst der Produktion stellt, kann nach Kafka das Leben in seiner natürlichen Bewegung und Gangart bewahrt und zugleich wie im Traum erkannt werden. Die träumerische Leichtigkeit, ja die gelöste Heiterkeit, die manchmal trotz aller Negativität aus Kafkas Schriften spricht, verdankt sich solcher Ansicht des Lebens, die wenig gemeinsam hat mit dem ästhetischen Nihilismus der Moderne. 92 „ Das fremde Wesen in mir “ . Kafkas Tagebücher Kapitel 3 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes 3.1 Der „ schamhafte Lange “ Kafkas Schreiben hat eine seiner Wurzeln in der Selbstinszenierung der frühen Briefe, in der Korrespondenz etwa mit dem Jugendfreund Oskar Pollak, in der Kafka mit grotesker Ironie und „ Galgenlustigkeit “ 1 die Erfahrung einer Krise und einer Entfremdung ins Spiel bringt, die sich auch im Gespräch der Freunde zu Wort meldet. Sie äußert sich in einer verklemmten und „ eckigen “ Kommunikation, die Kafka in einem Brief vom 4. Februar 1902 wie folgt beschreibt: „ Wenn wir miteinander reden: die Worte sind hart, man geht über sie wie über schlechtes Pflaster. Die feinsten Dinge bekommen plumpe Füße und wir können nicht dafür “ . 2 Solch plumpes Reden und Gehen, das den Charakter eines mühseligen Kampfes annehmen kann, verbindet sich in den Briefen mit der plötzlichen Erkenntnis, „ dass wir Maskenkleider mit Gesichtslarven haben, mit eckigen Gesten agieren “ 3 . Den krampfhaften Worten und dem müden Schweigen und Gähnen entspricht ein peinlicher Blick auf die soziale Gestalt der anderen wie auch auf die des eigenen Ich: „ ich mit meinen unbehauenen Worten und viereckigen Mienen “ . 4 Viele dieser Themen und Motive, die schon in der frühen Korrespondenz angesprochen werden, gehen nachher in die Beschreibung eines Kampfes ein, die als poetisches Laboratorium des jungen Kafka betrachtet werden kann. 5 Der älteste abgeschlossene Erzähltext Kafkas jedoch, der in diesem Kontext entsteht und der nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, ist die „ vertrackte Geschichte vom schamhaften Langen “ . Sie ist im Brief an den Jugendfreund Oskar Pollak enthalten, der im Poststempel das Datum des 20. Dezember 1902 trägt, und kann als ‚ Ur- 1 Franz Kafka, An Oskar Pollak, Am oder vor dem 24. August 1902, in: ders., Briefe 1900 - 1912, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 1999, S. 14. 2 Kafka, An Oskar Pollak, 4. Februar 1902, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 10. 3 ebenda 4 Kafka, Briefe 1900 - 1912, cit., S. 11. 5 Zu den Fassungen und zum komplexen Aufbau vgl.: Jost Schillemeit, Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Ein Beitrag zum Textverständnis und zur Geschichte von Kafkas Schreiben, in: Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt a. M. 1984, S. 102 - 132. Zur Genese des Werks aus den Briefen: Wolf Kittler, „ Brief oder Blick. Die Schreibsituation der frühen Texte von Franz Kafka “ , in: Der junge Kafka, cit, S. 40 - 66 und Gerhard Kurz, „ Schnörkel und Schleier und Warzen. Die Briefe Kafkas an Oskar Pollak und seine literarischen Anfänge “ , in: Der junge Kafka, cit., S. 68 - 101. Werk ‘ Kafkas bezeichnet werden, in dem bereits Strukturen und Motive der späteren Dichtung angelegt sind. 6 Der Brief, der den Rahmen der Geschichte bildet, setzt unvermittelt ein mit den berühmt gewordenen Worten: „ Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. “ 7 . Es folgen einige Überlegungen, wie man es anstellen könnte, von diesem „ Mütterchen “ loszukommen, auf die schließlich die Geschichte „ vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen “ antwortet. Sie liest sich wie ein böses Märchen, in dem sich die Unstimmigkeiten und Probleme des Schreibenden in fremder Gestalt personifizieren. Zu Beginn wird die Figur des schamhaften Langen vorgestellt. Dieser lebt - so heißt es - „ in einem alten Dorf verkrochen zwischen niedrigen Häuschen und engen Gäßchen “ , in einer kleinen Welt also, in der man sich „ freundnachbarlich aneinander reiben “ muss. Was die Lebensform der seltsamen Figur im besonderen charakterisiert, ist die groteske und bizarre Haltung, die sie in ihrem Lebensraum einnehmen muss, der viel zu eng und zu niedrig für ihren langen Körper ist: „ so niedrig waren die Stuben, daß, wenn der schamhafte Lange von seinem Hockstuhl sich aufreckte, er mit seinem großen eckigen Schädel geradewegs durch die Decke fuhr und ohne sonderliche Absicht auf die Strohdächer niederschauen mußte. “ 8 Der Lange, ganz offensichtlich eine Karikatur menschlicher Größe, passt buchstäblich nicht mehr in die enge und niedrige Welt des alten Dorfes, in komischgroteskem Missverhältnis steht seine Gestalt zur naiven und fast spielzeugartigen Welt, die sich in den Diminuitiva vermittelt. Das verkrochen Weltfremde, das Spitzige, Eckige und Ungelenke kennzeichnen die Haltung der Figur, die „ geduckt beim Fenster “ sitzt und mit „ ungeschickten magern Spinnenfingern “ wollene Strümpfe strickt. Die peinliche Unbeholfenheit ihrer Tätigkeit und Bewegung steht in eklatantem Widerspruch zum rhetorischen Ideal der flüssigen, angenehmen und angemessenen menschlichen Geste 9 . Nichts mehr stimmt im Habitus dieser merkwürdigen Gestalt, nichts mehr gelingt in dieser Urszene der Kafkaschen Geste, die die Selbsterfahrung ins Zeichen der Scham stellt. In ihrem letzten gemeinsamen Buch Was ist Philosophie? kommen Deleuze und Guattari, die Autoren der Littérature mineure, noch einmal auf Kafka zurück, um dem schamhaften Langen unter den Kunstfiguren Kafkas eine 6 Zu Fremdeinflüssen und Erzählhaltung der Geschichte: Peter Cersowsky, „ Die Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen “ , Sprachkunst 7 (1976), 17 - 35. Vgl. dazu auch: Isolde Schiffermüller, Gebärden der Scham. Zur Geste bei Franz Kafka, in: Geste und Gebärde, hrsg. v. Isolde Schiffermüller, Innsbruck, Wien, München 2001, S. 232 - 261. 7 Kafka, Briefe 1900 - 1912, cit., S. 17. 8 Kafka, An Oskar Pollak, 20. Dezember 1902, in: ders., Briefe, 1900 - 1912, cit., S. 18. 9 Vgl. Gestik, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Tübingen 1996, Spalte 972 - 989, hier: 977 - 79. 94 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes besondere Stellung einzuräumen: „ Kafkas Kunst wird die tiefgründigste Meditation über Territorium und Haus sein, über den unterirdischen Bau, die Porträtstellungen (der gesenkte Kopf des Bewohners, das Kinn in die Brust gebohrt, oder aber der ‚ schamhafte Lange ‘ , der die Decke mit seinem kantigen Schädel durchstößt) “ 10 . Exemplarisch eröffnet der „ schamhafte Lange “ das gestische Register von Kafkas Werk, er steht am Beginn einer Reihe von zahlreichen Figuren, die unter zu niedrigen Decken den Kopf einziehen und sich in der stickigen Luft von Dachkammern ducken und beugen müssen. Wenn allerdings der weltfremde Lange keinen Platz mehr in seiner Stube findet und so die Beine „ vergnüglich “ aus dem Fenster baumeln, so wirkt diese Haltung anfangs nur wie ein harmloses und komisches Malheur, auch das Spießige und Ungelenke ist zunächst noch kein Grund zur Scham. In Kafkas Geschichte ist es erst der Besuch des „ Unredlichen in seinem Herzen “ , der in einer großen Stadt wohnt und von „ der Städte Glück “ weiß, der zum Verlust der Naivität führt und das Peinliche der Gebärden zu Bewusstsein bringt: „ Jemand klopfte fein an die Plankentür. Das war der Unredliche in seinem Herzen. Der Lange riß das Maul auf. Der Gast lächelte. Und schon begann sich der Lange zu schämen. Seiner Länge schämte er sich und seiner wollenen Strümpfe und seiner Stube. - Aber bei alledem wurde er nicht rot, sondern blieb zitronengelb wie zuvor. “ 11 Zitronengelb ist die Scham des Kafkaschen Langen; wie die auffällige Färbung signalisiert, wird sie nicht mehr psychologisch motiviert, sie misst sich auch nicht mehr am Ideal einer natürlichen Anmut, wie etwa das Erröten der Figuren bei Kleist. Als frühexpressionistisch abstrakte Figur kennt der „ schamhafte Lange “ keine romantische Seele mehr, er eröffnet hingegen ein neues gestisches Repertoire, eine Serie körperloser gelber Figuren, die sich in der Beschreibung eines Kampfes fortsetzen wird. Strukturprinzip und narratives Grundmuster der kleinen Geschichte wie auch anderer früher Texte Kafkas ist die Technik der Figurenspaltung, die Abspaltung eines anderen im Herzen des Selbst, der sich in fremder Gestalt verkörpert, um so den Schauplatz der Literatur zu eröffnen. Ein innerer Zwiespalt konfiguriert sich als dramatische Szene, in der der andere nicht nur als feindlicher Gegenspieler, sondern zugleich als auch Komplize auftritt. Im vis à vis zwischen dem „ schamhaften Langen “ und dem „ Unredlichen in seinem Herzen “ spielt das anzügliche Lächeln des Gastes auf dieses geheime und intime Einverständnis mit dem Gegenspieler an. Ausdruck der „ vertrackten “ inneren Gespaltenheit, in der eine intime Nähe zu sich selbst bestehen bleibt, ist die Scham, die in der stilisierten Figurensprache des frühen Textes keinen Mangel und kein moralisches Vergehen bezeichnet, beschämend ist nur das bloße Faktum der körperlichen Länge, die physische Kontingenz 10 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie? Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1996, S. 219. 11 Kafka, An Oskar Pollak, 20. Dezember 1902, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 18. 3.1 Der „ schamhafte Lange “ 95 der Gestalt, ihre Bekleidung und Behausung, die vor den Augen des Gastes in ihrer buchstäblichen Niedrigkeit und Dürftigkeit exponiert wird. Die Scham in der Stube des Langen weiß nichts von einer Schuld, sie zeigt sich ganz im Gegenteil als die einzig mögliche Form von Unschuld: eine naive und weltfremde Redlichkeit, die im Blick des Städters lächerliche und peinliche Züge annimmt. Treffend ist in diesem Zusammenhang die Analyse der Scham, die Emmanuel Lévinas in einem frühen Text unter dem Titel De l ’ évasion vorgenommen hat. Lévinas beschreibt die Scham als brutale Exposition der Intimität, beklemmende und unentrinnbare Selbstpräsenz, Unmöglichkeit einer Flucht vor sich selbst: „ l ‘ impossibilité radicale de se fuir pour se cacher à soi-même, la présence irrémissible du moi à soi-même “ . 12 Als Beispiel zitiert er eine Szene aus dem Film Lichter der Großstadt, in der Charlie Chaplin ein Pfeifchen verschluckt, dessen schriller Ton dann den Skandal seiner unhintergehbaren physischen Präsenz signalisiert. Wie im Stummfilm verrät Kafkas „ vertrackte Geschichte vom schamhaften Langen “ den inneren Zwiespalt nur in komischen Gebärden und gags. Der naive und komische Lange, der in Kafkas Jugendbriefen auftaucht, kennt noch nichts von der Schamlosigkeit und Obszönität der Machthaber, die sich in Kafkas späteren Texten immun gemacht haben gegen den Blick der anderen. Passiv ist er der beklemmenden Nähe des „ Unredlichen in seinem Herzen “ ausgeliefert; die aktive Rolle spielen dessen anzügliche Worte, die den Körper des Langen verletzen und sich ihm „ zwickend und beißend “ in die Ohren stopfen: „ Gott, was war die Luft so stickig, muffig, ungelüftet! “ 13 Die bizarre Schlüsselszene vom Verlust der Naivität und Unschuld weist nicht nur voraus auf die stickigen und muffigen Zimmer in Kafkas Romanen, die den Protagonisten den Atem rauben, sie führt auch vor Augen, welchen Stellenwert die Selbstreflexion für Kafkas gestische Figuren hat: sie bedeutet keine Selbsterfahrung und Erkenntnis, nur eine schmerzhafte und quälerische Selbstbefragung, denn es sind sinnlose und „ kranke Fragen “ nach einem „ warum “ , die dem Langen von nun an „ von den Beinen zur Seele hinauf “ kriechen: „ So drosselten den schamhaften Langen die Fragezeichen “ . 14 In Kafkas erster Geschichte hat sich die Erzählhaltung des späteren Werks noch nicht etabliert, Erzählperspektive und Figurenperspektive bleiben getrennt. Die Figur des „ schamhaften Langen “ spielt zwar ihre Rolle in einer maskierten Selbstinszenierung des Autors, der Erzähler versteckt sich jedoch ganz hinter seiner Figur, für die er sich selbst zu schämen scheint. Die Briefgeschichte, die Kafka an Oskar Pollak schickt, verrät das, was sich nicht aussprechen lässt, sie spielt auf die Hemmungen und Kommunikations- 12 Emmanuel Lévinas, De l ’ évasion, Montpellier 1982 (zuerst in: Recherches philosophiques, 1935/ 36), S. 87. 13 Kafka, An Oskar Pollak, 20. Dezember 1902, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 19. 14 ebenda 96 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes schwierigkeiten der Freunde an, auf „ krampfhafte, läppische Worte “ 15 , die das Gespräch nur blockieren können. In diesem Brief macht Kafka schließlich auch den Vorschlag, gar nicht mehr miteinander zu reden, sondern nur noch zu schreiben, um im Schutz der Schrift „ leichter sein “ und endlich „ ganz ohne Scham sprechen “ zu können, „ denn das Bessere wäre in Sicherheit. “ 16 3.2 Sprachkrise In der frühen Korrespondenz sind Motive und Themen vorweggenommen, die später zum poetischen Material der Erzählungen werden und vor allem in die Beschreibung eines Kampfes 17 eingehen sollten. Diese nimmt im Frühwerk eine zentrale Stellung ein, denn wie kein anderer Text kann sie zeigen, dass sich Kafkas Werk als ein poetisches Laboratorium entwickelt, in dem es um das Studium und die Demonstration einer epochalen Entfremdung und Entstellung im Medium der Geste geht, um die Arbeit an der Gestalt des Menschen. Zu Recht hat Jost Schillemeit die Beschreibung eines Kampfes als „ Crux der Kafka-Forschung “ bezeichnet 18 , aufgrund ihrer heterogenen Textgestalt und der verschiedenen Fassungen, in denen sich ein komplizierter und langwieriger Entstehungsprozess dokumentiert, wobei die erste Fassung A sicherlich als eine „ poetische Summe des ganz frühen Kafka “ 19 betrachtet werden kann. Frühestes Dokument zur Entstehungsgeschichte ist ein Brief vom August 1904 an Max Brod, in dem Kafka eine Episode erwähnt, die später fast wörtlich in die verschiedenen Fassungen der Beschreibung eines Kampfes aufgenommen wird. 20 Die Textstelle lautet im Brief: „ Als ich an einem andern Tage nach einem kurzen Nachmittagsschlaf die Augen öffnete, meines Lebens noch nicht ganz sicher, hörte ich meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: ‚ Was machen Sie? ‘ . Eine Frau antwortete aus dem Garten: ‚ Ich jause im Grünen ‘ . Da staunte ich über die Festigkeit mit der die Menschen das Leben zu 15 Kafka, An Oskar Pollak, 4. Februar 1902, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 10. 16 Kafka, An Oskar Pollak, 4. Februar 1902, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 11. 17 Zitiert nach der Ausgabe: Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, in der Fassung der Handschriften, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993: „ Beschreibung eines Kampfes “ . Schwarzes Schulheft „ Fassung A “ (1907/ 08), S. 54 - 120; Konvolut „ Fassung B “ (1909/ 10), S. 121 - 169 (im folgenden BA =Fassung A oder BB =Fassung B). 18 Jost Schillemeit, Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Ein Beitrag zum Textverständnis und zur Geschichte von Kafkas Schreiben, in: Der junge Kafka, cit., S. 102. 19 Schillemeit, Kafkas Beschreibung eines Kampfes., cit., S. 103. 20 Zusammenfassend zu Entstehungsgeschichte und Vergleich der Manuskripte: Roland Reuß, Zur kritischen Edition von „ Beschreibung eines Kampfes “ und „ Gegen zwölf Uhr (. . .) “ , Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes. Gegen zwölf Uhr. . .(Faksimile Edition), hrsg. v. Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle und Joachim Unseld, Frankfurt a. M. 1999, S. 3 - 12. 3.2 Sprachkrise 97 tragen wissen. “ 21 Die Episode deutet den „ motivischen Kern “ 22 an, aus dem der spätere poetische Text hervorgeht, nämlich das Staunen über die einfachsten Gesten, im besonderen das Staunen dessen, der den „ natürlichen Ton “ der Mutter merkwürdig findet und deshalb auch keine „ Festigkeit “ im Leben kennt. In der Beschreibung eines Kampfes wird dann der Zweifel an der eigenen Wirklichkeit zum Ausgangspunkt und zum Hauptargument für einen umfassenden „ Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben “ . 23 Die frühe Fassung A enthält im Mittelteil eine Reihe von Reflexionen und Meditationen über die erwähnte Unmöglichkeit, beispielsweise die bizarren „ Belustigungen “ des Erzähler-Ich, das sich ganz aus der Außenwelt zurückzieht und nur noch seinen Phantasiegebilden nachgeht. Einige der Textstücke, die die seltsamen Kontemplationen und Meditationen des Ich erzählen, werden später in die Sammlung der Betrachtung eingehen, während diejenigen Teile des Textes, die in die Fassung B aufgenommen werden, zum Großteil szenisch-dialogisch konzipiert sind. Sie demonstrieren vor allem, wie sich der Kampf um eine Lebensmöglichkeit in der sozialen Kommunikation abspielt, wie er von den verschiedenen Rollenträgern eines Ichs ausgetragen wird, das sich von den eigenen Masken, Projektionen und Doppelgängern nicht befreien kann. Es geht um Strategien der Selbstbehauptung, die jedes Ich immer wieder auf einen anderen verweisen, in dessen Augen es Konsistenz und Existenzbeweise zu gewinnen sucht. In diesem verzweifelt komischen Kampf um Anerkennung kommt es immer aufs Neue zu einer Dissoziation von Körper und Ausdruck, von Gestus und Intention. Die Referenz der Worte tritt in der Beschreibung eines Kampfes ganz in den Hintergrund; im Vordergrund steht ein bizarres und exzessives Gebärdenspiel, das ein ganzes Feld von metaphorischen Bedeutungen aufruft. Sie alle kreisen um die Haltlosigkeit der Figuren, die sich in seltsamen Posen, Allüren und gags verrät. Zur Existenz kommen hieße in diesem Kontext ganz wörtlich Haltung und Festigkeit gewinnen, Boden unter den Füßen. Die Spiegelgefechte der verschiedenen Rollen-Ichs mit ihren alter egos bilden ein experimentelles Feld, in dem die Welt wie auf einer Bühne für das gestische Spiel eingerichtet wird, ein Spiel, das die Figuren ausschließlich in ihrem äußeren Habitus, ohne jede psychologische insight erfasst. Kafkas frühe Erzählbühne macht den Leser - wie schon bemerkt wurde - ostentativ aufmerksam auf die „ Art und Weise, in der die beiläufigen Handlungen und Gesten sich selbst meinen und inszeniert, gespielt erscheinen “ 24 , sie stellt 21 Kafka, An Max Brod, 28. August 1904, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 40. 22 Schillemeit, Kafkas Beschreibung eines Kampfes, cit., S. 117. 23 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 72. 24 Joseph Vogl, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 13. Vogl beschreibt die Nicht-Identität, die auch das Ich erfasst, die Spaltung von innen und außen, von Intention und Gestus; sie provozieren im Leser einen permanenten Übersetzungsprozess, der sich manchmal explizit in den Vermutungen des Erzählers äußert, in 98 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes die Gebärden plakativ und ausdrücklich in den Vordergrund wie Szenenanweisungen; ihr verfremdender Gestus erinnert „ an pantomimische Elemente moderner Dramatik, an Einflüsse chinesischen Schauspiels oder an die Spieltechnik des Stummfilms und lässt noch an die Programmatik des epischen Theaters denken “ 25 . Im Unterschied zum Theater gibt es hier allerdings keinen Standpunkt außerhalb des Spiels, in dem die Krise und die Spaltungen des Ich vorgeführt werden. In narratologischer Hinsicht gibt es auch keinen Erzähler, der die Gesten dieses Kampfes explizit kommentiert, der Erzähler ist vielmehr Zeuge einer Erfahrung, an der er selbst partizipiert und zu der er keine Distanz gewinnen kann. 26 In Kafkas früher Dramaturgie einer halt- und bodenlosen Existenz werden die maßlosen, die zappelnden und verrenkten Gebärden der Figuren zum Indiz einer Menschheit, die nur mehr eine schlechte und lächerlich peinliche Vorstellung von sich gibt. Kafkas „ Kleines Welttheater “ 27 , das mit dem von Hugo von Hofmannsthal verglichen wurde, zeigt dem Leser im Unterschied zum Puppenspiel des österreichischen Klassikers ein exzentrisches und unglückliches Bild des Menschen, demonstrativ macht es dessen Gesicht zur Maske und dessen Körper zur Silhouette. Darauf verweist auch das Motto, das Kafka der Beschreibung eines Kampfes voranstellt, die zweite Strophe eines frühen Gedichts, das ebenfalls in einem Brief vom 29. August 1907 antizipiert wird. Es spricht von einer nicht befestigten Welt, in der sich die Menschen als inkonsistente und schwankende Gestalten bewegen, in der sie ihre Kleider wie Kostüme und Rollen tragen und sich in einer leeren, frühexpressionistisch anmutenden Landschaft unter einem großen Himmel verlieren: Und die Menschen gehn in Kleidern schwankend auf dem Kies spazieren unter diesem großen Himmel, der von Hügeln in der Ferne sich zu fernen Hügeln breitet 28 . den als ob - Sätzen, deren Funktion schon Hartmut Binder hervorgehoben hat. Vgl. Hartmut Binder, Kafka in neuer Sicht: Mimik, Gestik, Personengefüge als Darstellungsformen des Autobiographischen, Stuttgart 1976, Teil II, Kap. 5, S. 194 - 239. 25 Vogl. Ort der Gewalt, cit., S. 13. 26 Vgl. Vogl, Ort der Gewalt, cit., S. 77: Vogl spricht, was die Erzählinstanz betrifft, von gebrochener Teilnahme und „ Passibilität “ , die er im Unterschied zur Flaubertschen impassibilité als eine Sprechweise des Erleidens versteht. 27 Kafkas Frühwerk wurde mehrmals per Analogie und Kontrast bezogen auf das Werk von Hugo von Hofmannsthal, im besonderen auf „ Das kleine Welttheater “ (1903), ein Puppenspiel, das an einem allegorischen Ort, am „ Fluss (des Lebens) “ spielt und von der Erfahrung des Glücks handelt und das Kafka geschätzt hat (Vgl. Schillemeit, Kafkas Beschreibung eines Kampfes, cit., S. 120). 28 Kafka, An Hedwig Weiler, 29. August 1907, in: ders., Briefe 1900 - 1912, cit., S. 57. 3.2 Sprachkrise 99 Der erste Teil der Beschreibung eines Kampfes, der in überarbeiteter Form auch in die Fassung B übernommen wird 29 , erzählt von einem nächtlichen Spaziergang durch Prag, der entlang der Moldau über die Karlsbrücke bis zum Laurenziberg führt. Trotz der realen Topografie und der konkreten Ortsnamen wirkt die Kulisse der Prager Mondnacht wie ein surrealer Bühnenraum, in dem sich die Figuren unsicher bewegen, wie irreale und gespenstische Doppelgänger des Ich-Erzählers, der an der Konsistenz des Realen ebenso zweifelt wie an der Realität der eigenen Existenz. Die nächtliche Szene wird wie folgt beschrieben: „ Über der leeren, gleichmäßig erhellten Straße stand ein großer Mond in einem leicht bewölkten und dadurch weiter ausgebreiteten Himmel. Auf dem Boden lag zarter Schnee. Die Füße glitten aus beim Gehn, daher mußte man kleine Schritte thun. “ 30 Auf unsicherem Boden also findet der Spaziergang des Ich-Erzählers mit seinem Bekannten statt, den er soeben auf einer Abendgesellschaft kennengelernt hatte. Dieser „ neue Bekannte “ , der das einsame und verschlossene Ich in der Gesellschaft anspricht, erzählt ihm „ mit zitternder Stimme “ von einem Mädchen, wobei sein „ hübsch geröthetes Gesicht “ und sein Mund mit den „ breiten und rothen nassen Lippen “ dem Erzähler ganz deutlich das „ Glück der Liebe “ 31 verraten. Das stumme Gebärdenspiel zwischen dem Ich und seinem Gegenspieler, das sich im folgenden abspielt, beschreibt die vergeblichen Versuche des Ich, am erotischen Glück des anderen teilzunehmen oder diesem gegenüber zumindest eine Haltung zu gewinnen. Das Pendeln zwischen Nähe und Distanz misst dabei den Spielraum des Möglichen aus, ein pantomimisches Spiel von Annäherung, Werbung, Abweisung, Rückzug und erneuter Annäherung, das sich zwischen dem Ich und dem anderen wiederholt. Gleich zu Beginn führt der Spaziergang auf rutschigem schneebedecktem Boden den beiden Figuren die Unmöglichkeit vor Augen, mit dem anderen im Gleichschritt zu gehen, schon der Klang der Schritte irritiert deshalb das Ich: Ich „ konnte nicht begreifen, daß es mir unmöglich war in gleichem Schritt mit meinem Bekannten zu bleiben “ . 32 Wenn dann der Zustand des Erzählers während des Spaziergangs zwischen Erregung, Angst und „ glücklicher Unruhe “ wechselt, so verraten dies allein seine Bewegungen und Gesten. Während er anfangs „ die Beine übermüthig “ hochhebt und dabei „ die Gelenke lustig knacken “ lässt, hält der Bekannte „ den Kopf geneigt “ 33 . Als aber der Bekannte belustigt „ in fröhlichem Schritt “ geht, augenzwinkernd „ die Arme wagrecht in die Luft “ streckt und „ heftig seinen Kopf “ reckt, gibt der Ich- Erzähler nur „ hilflos “ ein „ mißlungenes Lachen “ 34 von sich. Und während sich 29 Kommentiert und zitiert wird im folgenden Abschnitt die Fassung A. 30 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 57. 31 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 55/ 56. 32 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 58. 33 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 57. 34 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 60. 100 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes schließlich der Bekannte besinnlich auf das Geländer des Quais stützt und „ die Stirne in seine Hände “ legt, findet das Ich diese Geste äußerst „ thöricht “ und stülpt frierend seinen „ Rockkragen in die Höhe “ 35 . Was nicht gesagt werden kann, zeigt sich in den Gesten, die den anderen nur immer wieder verfehlen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Gestik der Hände 36 zu, dem Zurückziehen der kalten Hand beim Handschlag, dem Verbergen der Hände in den Hosentaschen oder dem Stemmen der Hände in die Hüften, um Festigkeit und Selbständigkeit zu gewinnen. Wenn der Bekannte dann scheinbar ganz „ beiläufig “ erzählt, wie auf dem Weg zur Abendgesellschaft seine „ röthlichen Hände in den weißen Manschetten hin und herschlenkerten und wie sie es mit ungeahnter Munterkeit taten “ 37 , so kommt dies in Wahrheit einem intimen Geständnis gleich. Die entsprechende Empathie und Rührung bekundet das Ich wiederum als gestische Mimikry an den anderen. Im schmerzlichen Bewusstsein „ daß ihm vielleicht meine lange Gestalt unangenehm sein könnte, neben der er vielleicht zu klein erschien “ , bückt es seinen Rücken, so dass die Hände im Gehen die „ Knie berührten “ 38 , eine Haltung, die das Ich aus Zartgefühl einnehmen will, die den anderen jedoch nur misstrauisch macht. Hier wie an anderen Stellen bezeugt das Gebärdenspiel die Unmöglichkeit, eine natürliche Haltung einzunehmen, es zeigt einen fremd gewordenen Körper, der nicht mehr als Medium der Kommunikation funktioniert und der ständig Anlass zum Missverständnis gibt. Peinlich unpassend oder lächerlich banal und komisch wirkt das menschliche Glück und Unglück in den verklemmten Gesten, in denen die Arme und Beine den Dialog blockieren und in dem sich die Glieder des Körpers verselbständigen, so dass jede Ausdruckbewegung misslungen, verzerrt und entstellt erscheint. Die einfache Bewegung des Gehens kann so in der Beschreibung eines Kampfes zum Gleichnis einer Mitteilung werden, in der sich die Sprache ganz in den sprachlosen gag zurücknimmt: „ Wir gingen also schweigend. “ 39 Das Schweigen - so wird besonders im Frühwerk deutlich - wird in Kafkas Texten als dynamisches Geschehen inszeniert und nicht festgeschrieben als semiotische Negativität. Dramatisch führen die Gesten die Sprachlosigkeit der Figuren vor Augen, sie reißen Löcher in der Kommunikation auf, die die Worte zustopfen sollen. Die stummen Gebärden und die Überbrückung des Schweigens durch das verkrampfte oder beschämte Reden der Figuren führen dem Leser konkret vor Augen, dass sich die Figuren in der Sprache nicht mehr zurechtfinden; ihre Gesten sind gags, die für das Fehlen der Worte einsprin- 35 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 63. 36 Vgl. Binder, Kafka in neuer Sicht, cit., das Kapitel 6 „ Hände “ , S. 240 - 264. 37 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente, cit., S. 64. 38 ebenda 39 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 58. 3.2 Sprachkrise 101 gen. 40 Das im spezifischen Sinn „ verklemmte “ Verhältnis von Geste und Wort, das Kafkas Frühwerk charakterisiert, wird beispielsweise im folgenden Dialogausschnitt deutlich: „ Ich war hilflos und sagte leise: ‚ Heute ist ein lustiger Abend. ‘ Dabei gab ich ein mißlungenes Lachen von mir. Er antwortete: ‚ Ja, und haben Sie gesehn, wie auch das Stubenmädchen mich küßte ‘ . Ich konnte nicht reden, denn mein Hals war voll Thränen, daher versuchte ich, wie ein Posthorn zu blasen, um nicht stumm zu bleiben. Er hielt sich zuerst die Ohren zu, dann schüttelte er freundlich dankend meine rechte Hand. Die muß sich kalt angefühlt haben, denn er ließ sie gleich los “ 41 . Wie die zitierte Passage zeigen kann, hat das Verstummen der Figuren Teil an der Dynamik des Gesprächs, es skandiert die Kommunikation und verzerrt die Intention der Gesprächspartner, als Nicken und Kopfschütteln, Lachen, Seufzen, Weinen oder Summen. Die Worte dienen in diesem Gespräch nicht primär der Mitteilung, ihre Funktion ist vielmehr, die Hilflosigkeit zu verbergen und die Tränen zu unterdrücken oder an anderen Stellen „ damit man das Gähnen nicht sieht “ . 42 Das krampfhafte Sprechen, das auf diese Weise vorgeführt wird, kann allerdings auch mehr sein als bloßer Ausdruck der Verklemmung und Entfremdung, in ihm zeichnen sich auch die ersten kreativen Versuche des Ich ab, Geschichten zu erfinden. Als der Bekannte beispielsweise seinen Oberkörper über das Geländer des Flusses lehnt und in „ verrenkter Haltung “ in sich selbst versinkt, versucht das peinlich berührte Ich, die stumme und „ thörichte “ Gebärde des anderen durch Worte zu überbrücken: „ Beschämt beeilte ich mich zu reden, um mein Gähnen zu unterdrücken “ 43 , und weiter: „ So redete ich und suchte krampfhaft hinter den Worten Liebesgeschichten mit merkwürdigen Lagen zu erfinden; auch ein wenig Roheit und feste Nothzucht brauchte nicht zu fehlen. “ 44 Der Text beschreibt das Scheitern dieser übersensiblen Einfühlungs- und Annäherungsversuche des Ich und die fatale Rückkehr zu sich selbst. Doch in der zitierten Szene deutet sich momentan auch etwas anderes an, nämlich die Geburt eines Erzählens, das aus dem beschämten Reden hervorgeht und das in der Mimikry an den anderen dessen stumme Gebärde zum Sprechen bringen will. 40 Vgl. Giorgio Agamben, Noten zur Geste. Aus dem Italienischen von Elisabetta Fontana- Hentschel. Beabeitung: Alexander Garcìa Düttmann, in: Postmoderne und Politik, hrsg. v. Jutta Georg-Lauer, Tübingen 1992, S. 97 - 107. Agamben bestimmt hier die Geste im wesentlichen als gag: „ sie ist stes gag im eigentlichen Sinne des Wortes, ein Knebel im Mund, der am Sprechen hindert und der die Improvisation des Schauspielers erfordert, um die Leere des Gedächtnisses oder die Unmöglichkeit des Sprechens zu überbrücken “ (S. 103/ 104). Vgl. Kap. 1. 5. in diesem Band. 41 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 60. 42 So Franz Kafka im Brief an Oskar Pollak vom 4. 2. 1902: „ Wir müssen dann Worte vorhalten, damit man das Gähnen nicht sieht “ (Kafka, Briefe 1900 - 1912, cit., S. 10). 43 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 63. 44 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 64. 102 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes Mit Bezug auf Kafkas Beschreibung eines Kampfes wurde von einer „ Poetik des Verrats “ 45 gesprochen, da sich die Figuren verraten in dem, was sie sprechen und wie sie sprechen und agieren, vor allem die Gesten ‚ verraten ‘ die Worte. Die Frage liegt nahe, ob und wie diese Poetik des Verrats mit der Sprachkrise der Jahrhundertwende kommuniziert, die sicherlich das Milieu des jungen Kafka geprägt hat. Hugo von Hofmannsthals wortgewaltige Klage über die Dekadenz der Worte im berühmten Brief des Lord Chandos spricht bekanntlich von der malaise eines aristokratischen Schriftstellers, dem die Worte „ wie modrige Pilze “ auf der Zunge zerfallen. Sein tiefer Ekel vor den Worten ist Symptom einer Bildungs- und Kulturkrise, die die rhetorischen Gattungen der Dichtung erfasst hat und die im poetischen Traum einer Epiphanie der stummen Dinge ihren Ausweg sucht. Gebärde, Tanz und Pantomime sind in Hofmannsthals „ verzweifelter Liebe “ zu den stummen Künsten ästhetische Alternative und Rettungsversuche aus der modernen Krise der Zeichen und ihrer semiotischen Reflexion. Ganz anders Kafka, der in der Dekadenz der Worte und in der Arbitrarität der Zeichen selbst kein Problem sehen kann und der in der Gebärde keineswegs eine ästhetische Alternative zur Krise der Zeichen und der Repräsentation sucht. Die Krise der Sprache schließt bei Kafka - wie schon angesprochen wurde 46 - die Gestik und Physiognomie des Menschen mit ein, da er die Sprache als Medium der Mitteilung in einem umfassenden Sinn versteht. Die Beschreibung eines Kampfes zeugt damit von einer epochalen Sprachkrise, die mehr als das bloße Versagen der Ausdrucks- und Kommunikationsmittel meint, mehr auch als die Skepsis gegenüber der Konventionalität der Zeichen. Die Sprache als Gestus und Medium der Mitteilung wird hier zum Maßstab, an dem sich wie in einem Zerrspiegel die Entstellung und Entfremdung der Epoche ablesen lässt. Allein in einem solchen Zerrspiegel erschließt sich dem Erzähler auch die Gestalt seiner selbst, wie am Beispiel von Kafkas Frühwerk demonstriert werden kann. Als Beispiel soll eine Passage aus der Beschreibung eines Kampfes angeführt werden, in der sich der Erzähler vorstellt, wie der neue Bekannte in einem Gespräch mit seiner Geliebten das Aussehen des Ich-Erzählers beschreiben würde: „ Er sieht aus, - wie soll ich es beschreiben - wie eine Stange in baumelnder Bewegung auf die ein gelbhäutiger und schwarzbehaarter Schädel ein wenig ungeschickt aufgespießt ist. Sein Körper ist mit vielen, ziemlich kleinen, grellen, gelblichen Stoffstücken behängt, die ihn gestern vollständig bedeckten, denn in der Windstille dieser Nacht lagen sie glatt an. “ 47 Wie eine fremde Kunstfigur geht hier das Selbstbild aus der imaginären Rede des anderen hervor: eine lange, ungeschickt baumelnde Gestalt im gelblichen Harlekinkostüm, offensichtlich der Gegenspieler zum erotischen Glück des 45 Gerhard Kurz, „ Schnörkel und Schleier und Warzen “ , cit., S. 75 - 82. 46 Vgl. Kap. 1. 3. 47 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 62. 3.2 Sprachkrise 103 Bekannten. Auch in diesem Fall ist das schüchterne und stille Unglück der bizarren Figur keineswegs nur negativ konnotiert. Im Unterschied zum vitalen Weltbezug des Bekannten kann ihre Gegenwart nämlich ein besonderes Glücksgefühl eröffnen, das den engen Horizont dieser Welt zum Himmel hin aufbricht. Auch die Erfahrung des Bekannten scheint dies zu bestätigen, wenn er in der Beschreibung des Ich-Erzählers fortfährt und seiner Geliebten sagt: „ Er ist vielleicht unglücklich und darum schweigt er still und doch ist man neben ihm in einer glücklichen Unruhe, die nicht aufhört. Ich war ja gestern gebeugt von eigenem Glück, aber fast vergaß ich an Dich. Es war mir als höbe sich mit den Athemzügen seiner platten Brust die harte Wölbung des gestirnten Himmels. Der Horizont brach auf und unter entzündeten Wolken wurden Landschaften sichtbar endlos, so wie sie uns glücklich machen. “ 48 In der flachbrüstigen und ungelenken Gestalt des Selbst, die die Beschreibung eines Kampfes im fremden Blick des anderen entwirft, beginnt - so geht aus den zitierten Worten hervor - der Geist der Literatur zu atmen. Dieser Atem, der den engen Horizont der sozialen Kommunikation aufbricht, kann das Glück einer anderen „ endlosen “ Dimension sichtbar machen. 3.3 Die gesticulatio des Beters Die bereits zitierte Episode aus dem Brief des Jahres 1904, in der vom Staunen über die Festigkeit im Leben die Rede ist, wird im späteren poetischen Text in eine der Binnengeschichten aufgenommen, nämlich in die relativ geschlossene und selbständige Geschichte vom „ Gespräch mit dem Beter “ , die in der Fassung B noch deutlicher akzentuiert wird. 49 Die Geschichte erzählt von einem jungen Mann, dem Beter, der dem Ich-Erzähler in einer Kirche aufgrund seines unmäßigen und affektierten Gebärdenspiels auffällt: ein junger Mensch, „ der sich mit seiner ganzen magern Gestalt auf den Boden geworfen hatte. Von Zeit zu Zeit packte er mit der ganzen Kraft seines Körpers seinen Schädel und schmetterte ihn seufzend in seine Handflächen, die auf den Steinen auflagen. “ 50 Das Verhalten der mageren Gestalt mag die liturgischen Gesten der prostratio und supplicatio ins Gedächtnis rufen, das ausgestreckte sich Niederwerfen im Altarraum und die öffentliche Demütigung vor Gott, die bis heute 48 ebenda 49 Vgl: Judith Ryan, „ Die zwei Fassungen der ‚ Beschreibung eines Kampfes ‘“ , Jahrbuch der Schillergesellschaft 14 (1970), S. 546 - 572, hier: S. 566. Vgl. auch Schillemeit, Kafkas Beschreibung eines Kampfes, cit., S. 117: Das in sich geschlossene Stück „ Gespräch mit dem Beter “ , das Kafka auch unter diesem Titel publizierte, wird nach Schillemeit in der Gesamtkonzeption der Fassung A erst nachträglich mit einer anderen Episode, der Episode vom „ Dicken “ verbunden, eine Figur, die an fernöstliche Gestalten erinnert; beide Episoden werden Beweisstücke für die Unmöglichkeit zu leben, die durch die Erzählerfigur des Dicken verklammert werden, die dann in der zweiten Fassung entfällt. 50 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 85. 104 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes in unterschiedlichen Religionen praktiziert werden. Und dennoch ist dieses merkwürdige Gebet hier ungebärdig, da es den einzelnen von der Glaubensgemeinschaft isoliert. Wie der Erzähler beobachtet, gibt es in der Kirche nur „ einige alte Weiber, die oft ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung drehten, um nach dem Beter hinzusehn. “ 51 Was die besondere Neugier des Erzählers erregt, ist die Beobachtung, dass die Aufmerksamkeit der Leute den Beter „ glücklich zu machen “ schien, „ denn vor jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen umgehn, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären. “ 52 Den Zweck seines ebenso ungebührlichen wie „ unsinnigen Gebärdenspiels “ gesteht der Beter später selbst, als er vom Ich-Erzähler zur Rede gestellt wird: „ Also ärgert Euch nicht, wenn ich sage, dass es der Zweck meines Betens ist von den Leuten angeschaut zu werden. “ 53 Die Variante der zweiten Handschrift akzentuiert diesen Aspekt noch, dort spricht der Beter von seinem „ Bedürfnis, von diesen Blicken mich für eine kleine Stunde festhämmern zu lassen. “ 54 Nicht um das intime Gespräch mit Gott also geht es in der Geschichte vom Beter, sondern um den Verfall der rituellen Praxis, um die blasphemische Perversion des rituellen Gestus. Das Gespräch mit dem Beter handelt von der Entstellung der Geste in die gesticulatio 55 und damit auch vom Verlust einer Sprache, die die Menschen im Schweigen vereinigen kann. Im Stern der Erlösung spricht Franz Rosenzweig in diesem Sinn vom Verfall der gemeinsamen Sprache, von der Sprachverwirrung und Vielzahl der Sprachen als Zeichen einer unerlösten Welt, in der die Geste nicht mehr unmittelbare Verständigung sein kann; in diesem Zusammenhang kommt er auf den Verlust der liturgischen Gebärde zu sprechen: „ Daher kommt es, daß das Höchste der Liturgie nicht das gemeinsame Wort ist, sondern die gemeinsame Gebärde. Die Liturgie erlöst die Gebärde von der Fessel, unbeholfne Dienerin der Sprache zu sein, und macht sie zu einem Mehr als Sprache. In der liturgischen Gebärde allein ist die ‚ geläuterte Lippe ‘ vorweggenommen, die den allzeit sprachgeschiedenen Völkern für ‚ jenen Tag ‘ verheißen ist. “ 56 Die gesticulatio des Kafkaschen Beters liest sich wie eine verzweifelt groteske Invokation 51 ebenda 52 ebenda 53 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I., cit., S. 89. 54 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 157. Vgl. zur Akzentuierung der Gebärdensprache im Manuskript B: Ludwig Dietz, „ Kafkas Randstriche im Manuskript B der ‚ Beschreibung eines Kampfes ‘ und ihre Deutung “ , Jahrbuch der Schillergesellschaft 16 (1972), 648 - 658. 55 Zur Opposition von Gestus und gesticulatio im Mittelalter: Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter. Aus dem Französischen von Rolf Schubert und Bodo Schulze, Stuttgart 1992. 56 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M., 1988, S. 328/ 29. Zum Bezug auf Rosenzweig in Benjamins Kafka-Essay und seinen Reflexionen über die Gebärde vgl.: Werner Hamacher, Die Geste im Namen, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu 3.3 Die gesticulatio des Beters 105 dieser vergessenen Verheißung. Der Beter findet keinen Halt mehr im Namen Gottes, er kennt vor allem keine Kirche mehr, die mit ihm den liturgischen Ritus feiert; daher muss er sich allein vor den Augen der Menschen produzieren. Sein Gebet wird zur ungebärdigen Gestikulation, zur ausschweifenden, regellosen und lasterhaften Gebärde. Es verstößt nicht nur gegen die Gebote der Demut und Scham, der humilitas und verecundia, in denen sich der Betende dem Auge Gottes unterwirft und seinen Körper zum bloßen Instrument der Andacht macht, es findet auch keine Verankerung mehr in einer kollektiven Melodie, wie sie Kafka noch auf der kleinen und armseligen Wanderbühne des jiddischen Theater erfahren konnte. 57 Bezeichnend ist, dass Kafkas Erzähler die Entfremdung des rituellen Gestus nicht als religiöse oder spirituelle Krise motiviert, er richtet den Blick allein auf das Verhalten des Beters und versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. In diesem Gespräch, das einem Bekenntnis gleichkommt, gesteht der Beter die Angst vor der Körper- und Substanzlosigkeit der eigenen Existenz, die seinem Verhalten zugrunde liegt; er spricht von der Sehnsucht, einen Körper zu gewinnen im Blick der anderen, die so das eigene Dasein bestätigen sollen: „ Man fürchtet manches. Daß vielleicht die Körperlichkeit entschwindet, daß die Menschen wirklich so sind wie sie in der Dämmerung scheinen, daß man ohne Stock nicht gehen dürfe, daß es vielleicht gut wäre in die Kirche zu gehn und schreiend zu beten um angeschaut zu werden und Körper zu bekommen. “ 58 Wie in der Geschichte vom „ schamhaften Langen “ steht auch hier für die Angst eine gelbe Figur, die dem Beter zur allgemein menschlichen Zukunftsvision wird: „ daß einmal alle Menschen, die leben wollen, so aussehn werden, wie ich; aus gelbem Seidenpapier, so silhuettenartig, herausgeschnitten, - wie Sie bemerkten - und wenn sie gehn, so wird man sie knittern hören. “ 59 Die Angst vor dem Verschwinden der Körperlichkeit wird im Gespräch mit dem Beter nicht nur thematisiert und reflektiert, sie wird vor allem auch durch ‚ Regieanweisungen ‘ in Szene gesetzt; Gestik und Mimik werden zu Argumenten im Dialog der Figuren. Der Erzähler beginnt das Gespräch beispielsweise in einer „ fast unangreifbaren Haltung, welche die letzte Rettung der Ringkämpfer ist. “ Der Beter legt daraufhin „ die Hände in einander, um seinem Körper eine Einheit zu geben “ 60 und erzählt „ mit schläfriger Grimasse “ , es habe „ niemals eine Zeit gegeben, in der ich durch mich selbst von meinem Leben überzeugt war. “ 61 Seine Anteilnahme an den Worten des Beters verrät Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998, S. 280 - 323, hier: S. 320. 57 Vgl. Kap. 2.4. 58 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 109. 59 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 98. 60 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 90. 61 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 91. 106 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes der Erzähler durch „ unwillkürliche Zuckungen “ 62 im Gesicht oder durch die Veränderung seiner Körperhaltung, am Ende hört er dann „ schüchtern “ und „ mit seitwärts geneigtem Kopf “ 63 der Geschichte des Beters zu. Das intensive Gespräch mit dem Beter, das durch neurotische tics skandiert und gleichsam kommentiert wird, ermöglicht es dem Erzähler schließlich, eine Interpretation des seltsam ungebärdigen Gebets anzudeuten. Er spricht vom „ schwankenden Unglück “ des Beters und motiviert dessen Krankheit durch sprachtheologische Anspielungen, in Worten allerdings, die ihrerseits von einem eigentümlichen ‚ Schwindel ‘ erfasst werden, wie die folgende Textstelle zeigt: „ Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. Deren Wesen ist so, daß Ihr den wahrhaftigen Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufällige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid Ihr von ihnen weggelaufen, habt Ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die Ihr den ‚ Thurm von Babel ‘ genannt habt, denn Ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und Ihr müßt sie nennen ‚ Noah, wie er betrunken war ‘ . “ 64 Offensichtlich ist der Bezug auf die Bibelstellen der Genesis vom Turmbau zu Babel, von der Trunkenheit Noahs und von der großen Sintflut, die die schwankende Arche des Stammesvaters trägt und vieldeutig sind die Anspielungen, die sich damit verbinden. Die Textstelle verweist mit der Figur vom betrunkenen Noah auf die archetypische Vaterfigur und ihre obszöne Entblößung 65 (Genesis 9, 18-29), sie erzählt vom Turmbau zu Babel, das heißt vom Vergessen und vom Verrat der wahrhaftigen Namen, in denen die Menschheit noch mit „ einerlei Zunge und Sprache “ (Genesis 11, 1-9) sprach; vor allem aber haben ihre haltlosen und unklaren Worte selbst Teil am namen- und referenzlosen Zustand, den sie beschreiben, wenn sie etwa die babylonische Sprachverwirrung in der phonetischen Ähnlichkeit zwischen „ Pappel “ und „ Babel “ verraten oder das Schwanken der Pappel in Analogie setzen zur Betrunkenheit Noahs, dem Vater der heutigen Menschheit. 66 Die Motivation der gesticulatio durch den Verlust der göttlichen Namen und der adamitischen Sprache lässt an die Sprachtheorie von Walter Benjamin 62 ebenda 63 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 95. 64 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 89/ 90. 65 Vgl. Honold, Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000, S. 385. 66 Vgl. Kittler, Brief oder Blick, cit., S. 49: Kittler spricht von der Anspielung „ auf den väterlichen Fluch, der eine Gemeinschaft von Brüdern sprengt. Dieser Fluch zerstört in der Geschichte vom Turmbau zu Babel das gemeinsame Werk, das den einen Namen aller garantieren sollte, und es verbietet in der Geschichte von Noahs Trunkenheit den Blick auf den gemeinsamen Ursprung, die Blöße des Vaters, indem er den einen Sohn, der sich dieses Verbot nicht selber auferlegt, von seinem Angesicht verbannt. “ 3.3 Die gesticulatio des Beters 107 denken, der den Sündenfall als Abfall von einer reinen Namenssprache interpretiert 67 , ein Abfall des Namens ins signifikante Wort, das so vom reinen Medium zum arbiträren, bloß zufälligen Instrument der Mitteilung wird. Denkbar bleibt für Benjamin dabei die Idee einer „ reinen Sprache “ , die er nicht nur als Ursprungsidee versteht, sondern auch in messianischer Perspektive auffasst. Dieses Medium, „ in dem sich das geistige Wesen der Dinge mitteilt “ , ist nach Benjamin eine Sprache, die „ nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt. “ 68 Wie Giorgio Agamben in seinen Noten zur Geste schreibt, ist die Benjaminsche Vorstellung eines „ reinen Mittels “ oder einer „ Mittelbarkeit schlechthin “ nicht mehr als Instrument der Mitteilung fassbar, sondern letztlich nur noch als Geste: „ Die reine Mitteilbarkeit wird also in einer Geste mitgeteilt. “ 69 Die Entfremdung der rituellen Geste, die der Beter vor Augen führt, mag in diesem Zusammenhang als Trauer und Verzweiflung über den Verlust der „ reinen Sprache “ lesbar sein, die Benjaminsche Idee und Intention der Sprache zeigt sich in den Kafkaschen Gesten allerdings nur als schattenhaft entstellte und komisch verzerrte. Entsprechend motiviert der Beter in der Fassung B den ganz eigenen Spaß, den ihm das ungebührliche Gebärdenspiel in der Kirche vermittelt: „ sozusagen von Zeit zu Zeit einen Schatten auf den Altar zu werfen. “ 70 Dass sich mit diesem Spaß auch eine gewisse Hoffnung verbindet, deutet sich stellenweise im Gespräch mit dem Beter an, am deutlichsten wird dies im Schlussteil der Fassung B angesprochen. Nachdem der Beter dem Erzähler verraten hat, er hoffe „ zu erfahren, wie es sich mit den Dingen eigentlich verhält “ 71 , erzählt er ihm als erstes Hoffnungszeichen ein Kindheitserlebnis, nämlich die bereits zitierte Geschichte vom Gartengespräch der Mutter, die den motivischen Kern der Beschreibung eines Kampfes bildet und die in der Fassung B wie folgt lautet: „ Als ich, ein kleines Kind, nach einem kurzen Mittagsschlaf die Augen öffnete, hörte ich, meines Lebens noch nicht ganz sicher, meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: ‚ Was machen Sie meine Liebe? Ist das aber eine Hitze! ‘ Eine Frau antwortete aus dem Garten: ‚ Ich jause so im Grünen ‘ . “ 72 Der Erzähler scheint zunächst diese einfache Geschichte nicht zu verstehen und im besonderen den natürlichen Tonfall der Mutter „ überaus merkwürdig “ 73 zu finden, worauf der Beter in eine 67 Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), Aufsätze, Essays, Vorträge, Gesammelte Schriften II, 1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.1991, S. 140 - 157. 68 Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1921), Gesammelte Schriften IV,1, hrsg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1991, S. 9 - 21, hier: S. 19. 69 Agamben, Noten zur Geste, cit., S. 105. 70 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 157. 71 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 159. 72 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 159/ 160. 73 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 160. 108 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes trotzige und verzweifelte Klage verfällt: „ Nicht wahr, warum sollte ich mich schämen, daß ich nicht aufrecht und in Schritten gehe, nicht mit dem Stock auf das Pflaster schlage und nicht die Kleider der Leute streife, welche laut vorübergehn. Sollte ich nicht vielmehr mit Recht trotzig klagen dürfen, daß ich als Schatten ohne rechte Grenzen die Häuser entlang hüpfe, manchmal in den Scheiben der Auslagsfenster verschwindend. “ 74 Erst als der Beter seine trotzige Haltung aufgibt und eingesteht, dass er sich fürchtet, kann der Erzähler seinerseits zugeben: „‚ Die Geschichte, die Sie früher erzählt haben von Ihrer Frau Mutter und der Frau im Garten finde ich eigentlich gar nicht merkwürdig. Nicht nur, daß ich viele derartige Geschichten gehört und erlebt habe, ich habe sogar bei manchen mitgewirkt. Diese Sache ist doch ganz natürlich. Meinen Sie denn wirklich, ich hätte, wenn ich im Sommer auf jenem Balkon gewesen wäre, nicht dasselbe fragen und aus dem Garten dasselbe antworten können? Ein so gewöhnlicher Vorfall! “ 75 Das fast erzwungene Eingeständnis, das der Erzähler am Ende doch noch ausspricht - dass eben nicht alles im Leben merkwürdig und sonderlich ist - scheint den Beter zu beruhigen. Immer näher fühlt nun der Erzähler dessen Gesicht bei seinem, bis er sich bei solch ungewohnter Berührung und Wärme „ mit der bloßen Hand den Schweiß von Stirn und Wangen “ 76 wischen muss. Schließlich setzen beide in der freien Luft ihren Spaziergang fort, wobei der Erzähler den anderen umfängt und anfängt „ auf seiner Brust zu weinen. “ 77 Im Weinen, bei Kafka ein trockener, rein mimisch vermittelter Affekt, berühren sich die gespaltenen Figuren, um sich einer sprachlosen Erkenntnis anzunähern, in der sich das Vergessene zu Wort meldet; sie vereinen sich tendenziell zu einer verlorenen Wahrheit, die in der gesticulatio des Beters verborgen blieb. Jetzt kann der Erzähler sogar vom Beter getröstet werden, da er - und mit ihm auch der Leser - dessen entstellte Sprache zu verstehen beginnt: „ Denn schau - Dir sag ich ’ s - wir bauen eigentlich unbrauchbare Kriegsmaschinen, Türme, Mauern, Vorhänge aus Seide und wir könnten uns viel darüber wundern, wenn wir Zeit dazu hätten. Und wir erhalten uns in Schwebe, wir fallen nicht, wir flattern, wenn wir auch schon fast häßlicher sind als Fledermäuse. Dafür kann uns aber kaum jemand hindern, an einem schönen Tage zu sagen: ‚ Nein, dieser schöne Tag! ‘ Denn schon sind wir auf unserer Erde eingerichtet und leben auf Grund unseres Einverständnisses “ . 78 „ Geständnisse würden am klarsten, wenn man sie widerriefe “ 79 , so meinte der Beter schon in der ersten Fassung der Beschreibung eines Kampfes. Nach solch einem Geständnis, das sich im Widerruf verrät, finden der Erzähler und 74 ebenda 75 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 162. 76 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 163. 77 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 165. 78 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 166. 79 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 95. 3.3 Die gesticulatio des Beters 109 der Beter schließlich ein mögliches Einverständnis. Die letzte Fassung der Beschreibung bricht ab mit einem Bild, das diese Gemeinschaft und Nähe in der Figur des neuen Freundespaars darstellt, das den Spaziergang nun zusammen unter freiem Himmel fortsetzen kann: „ So traten wir aus dem Gang unter den Himmel. Einige zerstoßene Wölkchen blies mein Freund weg, so daß sich jetzt die ununterbrochene Fläche der Sterne uns darbot. Er gieng doch ziemlich mühsam, machte aber keinen feinen Eindruck, sah eher wie ein kranker Bauer aus. Er legte seine Hand auf meine Schulter, wie um mir ganz nahe zu sein, aber eigentlich wollte er sich stützen; ich duldete es und zog sogar seine Hand an den Fingerspitzen weiter die Achsel hinauf. “ 80 80 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 168. 110 Kafkas gags. Zur Beschreibung eines Kampfes Kapitel 4 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens 4.1 Bewegte Gedanken Der Titel von Kafkas erstem Buch Betrachtung (1912), das zum Teil auch sehr frühe Prosastücke enthält 1 , bezieht sich auf einen bestimmten Wahrnehmungsmodus, eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit. Folgt man dem Grimmschen Wörterbuch, so meint Betrachtung die Wahrnehmung, Beschauung und Erwägung vor einem geistigen Auge, zugleich contemplatio und consideratio 2 , nach Adelung eine Wahrnehmung, die „ mit den Kräften des Verstandes “ 3 geschieht. Kafka legt den Akzent bewusst auf den Singular des Titels: nicht Betrachtungen 4 also, Exempel etwa eines moralisch-anschaulichen Denkens oder impressionistische Genreskizzen, wie wir sie beispielsweise von Peter Altenberg kennen, auch keine kontemplativen „ Seifenblasen “ , wie sie Robert Musil in seiner Besprechung sehen wollte 5 oder flüchtige Skizzen im Stil von Robert Walser, dessen lesenden Spaziergängen Kafka ebenso nah wie fern steht. 6 Im Unterschied zur Verspieltheit von Walsers Stücken wirkt Kafkas Prosa radikal und unerbittlich im Durchdenken fiktiver Situationen und Entscheidungsmomente. „ Nicht der Eindruck der Leichtigkeit entsteht, sondern der der Unbedingtheit “ 7 , so stellt schon Max Brod in einer frühen Besprechung fest. 1 Vgl. zur Datierung: Hartmut Binder, Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, (2. Aufl.), München 1982, S. 74 und 116 f; Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, Frankfurt a. M. 2002, S. 33 - 82. 2 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Nachdruck, München 1984, Bd. 1, Spalte 1707. 3 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2. verbess. Aufl., Hildesheim, Zürich, New York 1990, Bd. 1, Spalte 941. 4 Brod vermerkt die Unzufriedenheit Kafkas anlässlich der Veröffentlichung einiger Stücke im März 1910 unter dem Titel „ Betrachtungen “ , vgl. Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, cit., S. 45. 5 Robert Musil, Literarische Chronik, Neue Rundschau, August 1914, in: Gesammelte Werke II. Essays und Reden. Kritik, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1468. 6 Berhard Böschenstein, Nah und fern zugleich. Franz Kafkas Betrachtung und Robert Walsers Berliner Skizzen, in: Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt a. M. 1984, S. 200 - 212. 7 Max Brod, Kleine Prosa, in: Die Neue Rundschau 7 (1913), S. 1044/ 45. Zu den ersten Rezensionen und Kritiken vgl.: Franz Kafka, Kritik und Rezeption zu Lebzeiten 1912 - 24, hrsg. v. Jürgen Born, Frankfurt a. M. 1979. Die Kafkasche Form der Betrachtung, die bei den frühen Rezensenten einige Ratlosigkeit hervorrief, zeichnet sich durch eine überscharfe Konzentration und Intensivierung der Aufmerksamkeit aus, durch einen ganz nahen und wachen Blick, der sich - wie in einem Gedankenexperiment - auf einzelne hypothetische Szenarien richtet. Oft sind es alltägliche Situationen, Momente und Haltungen, die auf diese Weise konsequent und exemplarisch durchgespielt und dem kontemplativen Denken unterzogen werden, meist solche, denen keine besondere Bedeutung zuzukommen scheint und die daher der bewussten Wahrnehmung und der willentlichen Entscheidung entgehen. Beispiele sind der zertreute Blick aus einem Fenster, der unvermittelte und unwillkürliche Entschluss zu einem Spaziergang, die Unmöglichkeit, sich aus einem elenden Zustand zu erheben, die Teilnahme am Rausch des Kinderspiels oder die flüchtigen Eindrücke während einer Straßenbahnfahrt. Hervorgehoben wurde, was die taktile Qualität, die zeitlupenartige Ausdehung und Feineinstellung der Aufmerksamkeit betrifft, der kinematographische Zug dieses Schreibens sowie die technisch-medialen Filter der Betrachtung: Bewegungsapparaturen und Geräte wie Lift oder Straßenbahn werden in diesen Texten zu Medien einer intensivierten und verfremdeten Wahrnehmung, einer ganz neuartigen Apperzeption, die die spezifisch moderne Signatur dieser Prosa prägt. 8 Befragt und gedanklich erprobt werden auf diese Weise in den Prosastücken der Betrachtung die Lebensmöglichkeiten oder besser auch die Unmöglichkeiten und Aporien einzelner Lebensmomente. Oft geht es um potentielle Befreiungsversuche aus einem gespenstisch gewordenen Leben, das sich unentwegt selbst beobachten muss. James Rolleston spricht von einer sprachlich inszenierten „ gestische[n] Welt “ 9 , in der sich lauter Doppelgänger des Ich begegnen, eine „ beherrschte Version “ jener Welt, wie sie in anderen frühen Texten aus der Beschreibung eines Kampfes erscheint: „ Dort springt man in die Luft oder versinkt unter die Wellen, aber weder das Ich noch der Leser weiß darum “ , in der Betrachtung dagegen „ setzt das Ich seine eigene Welt in Bewegung, “ 10 seine Kräfte ebenso wie seine Hemmungen und Lähmungen. In der Entlarvung eines Bauernfängers etwa tritt dem Ich auf der Gasse solch ein Doppelgänger entgegen, der ihm den Weg zur besseren Gesellschaft versperren will und den das Ich entlarven muss, um der lähmenden Situation zu entgehen. In anderen Stücken kann es beispielsweise auch darum gehen, wie man sich aus einem unglücklichen Zustand herausreißen könnte (Entschlüsse), 8 Vgl. dazu den Band: Kafkas Betrachtung. Lektüren, hrsg. v. Hans Jürgen Scheuer u. a., Frankfurt a. M. 2003, Vorwort, S VII-XIII. 9 James Rolleston, Betrachtung: Landschaften mit Doppelgängern, in: Der junge Kafka, cit., S. 184 - 199. Rolleston sieht die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einzelner Lebensmomente, die hier erprobt werden, durch eine Reihe von motivischen Polaritäten ausgedrückt: Innen und Außen, Isolation und Menge, Handlung und Lähmung. 10 ebenda 112 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens wie man sich zu seiner wahren Gestalt erhebt (Der plötzliche Spaziergang) oder wie man Anschluss finden könnte an das Leben auf der Gasse (Das Gassenfenster). All diese situationsgebundenen Fragen finden in den kleinen Prosastücken eine gleichsam mimische Artikulation. Die Gebärden werden dabei zum privilegierten Medium einer Betrachtung, die die Aussagelogik der Sprache in Bewegung versetzt und das Denken an die sinnliche Wahrnehmung und den Körper bindet. Hypothetisch gesetzte Reflexionsfiguren, die sich auf syntaktischer Ebene oft in irrealen Konditionalgefügen artikulieren, gewinnen so ein Eigenleben, sie werden dramatisch inszeniert und kristallisieren sich zu körperlich umrissenen Gestalten. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann auf Haltung und Tempo dieser Figuren, auf die besondere Gangart und den Einsatz der Gliedmaßen, wie etwa im Nachhausweg, wo sich das Ich im Marschieren durch die Gasse Haltung und Tonus gibt. Kafkas frühe Prosa aus dem Band Betrachtung ist in unserem Kontext insofern von besonderem Interesse, als sie modellhaft einen ganz eigenen literarischen Reflexionssraum eröffnet, in dem sich die Aufmerksamkeit vom begrifflich abstrakten Denken abwendet und auf bewegte Figuren, auf konkrete Gesten und Haltungen verlegt. In dieser Topik von Bewegungsformen, die in den Texten inszeniert wird, werden Lebensformen und Lebensmöglichkeiten in einer völlig neuen, künstlerisch-literarischen Form betrachtet. Die kleinen Prosastücke stellen sich als Miniaturmodelle von Kafkas Poetik dar, an deren Beispiel sich die spezifische Reflexionsform seiner Prosa im Keim studieren lässt; sie führen ein figuratives Denken vor Augen, das sich nicht in Bildern, sondern in Gesten artikuliert und entwickelt. Kafkas frühe Texte und insbesondere die Prosastücke der Betrachtung zeichnen sich durch einen Zug ins A-thematische aus, ihr Gegenstand ist ein Leben in potentia, das sich kaum semantisch bestimmen und auf den Begriff bringen lässt. Diese Prosa gehorcht keiner Darstellungslogik, sie stellt sich auch nicht als Repräsentation oder Mimesis einer außersprachlichen Realität dar. Der tendenzielle Entzug der Referenz wurde vor allem in den neueren Lektüren der Betrachtung immer wieder festgestellt. Bei einigen Kritkern legte dieser Befund die Schlussfolgerung nahe, es handle sich in diesen Texten nur um „ buchstäbliche Körper “ , die da bewegt werden, also um eine reine „ Selbstinszenierung der Literatur “ . 11 Dass die Selbstthematisierung der Literatur und der Kunst in Kafkas Texten eine große Rolle spielt, kann nicht geleugnet werden und wurde auch mehrfach überzeugend nachgewiesen 12 , die autoreferentielle Lesart greift hier allerdings insofern zu kurz, als die 11 Hans Thies Lehmann, Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka, in: Der junge Kafka, cit., S. 213 - 241. 12 Grundlegend dazu Malcolm Pasley, Der Schreibakt und das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von Kafkas Texten, in: Franz Kafka. Themen und Probleme, hrsg. v. Claude David, Göttingen 1978, S. 9 - 25. 4.1 Bewegte Gedanken 113 Prosastücke der Betrachtung nicht auf Allegorien der Schrift reduzierbar sind. Die Dynamik des Schreibprozesses kann zwar ein Teil der Betrachtung sein und im Akt des Schreibens können auch die Buchstaben ein eigenes Leben gewinnen, die Referenz dieser Texte aber kann nicht darauf festgelegt werden. Auch die „ Allegorie des Lesens “ im Sinn von Paul De Man 13 , die die Unlesbarkeit sprachlicher Figuren in den Vordergrund stellt, wird der Eigenart dieser kleinen Texte kaum gerecht. Was in der Betrachtung zum Thema wird, ist umfassender und zugleich auch unbestimmter als die autoreferentielle Thematik moderner Literatur und Kritik: es geht um ein lebendiges Kräftespiel von Bewegung und Ruhe, von Passivität und Aktivität, in dem das Schreiben nur eine, wenn auch eine privilegierte Lebensäußerung ist; es geht um unterschiedliche Spannungszustände zwischen Schwäche und Stärke, Anspannung und Entspannung oder auch um das labile Gleichgewicht von Gefühlen der Ohnmacht und Allmacht, von Isolation und Partizipation, um Gebärden der Introversion und der Extroversion, scheinbar unvermittelte Übergänge von der Ruhe in die Aktivität, um plötzliche Aufbrüche oder unvermeidliche Rückzüge von der Außenwelt, kurz: es geht um die Bewegung des Lebens in der Literatur. Die Rollenträger dieser Prosa sind keine individuierten Personen, es sind flüchtige Figuren wie etwa Die Vorüberlaufenden, anonyme Spaziergänger in einer nächtlichen Gasse, die der Erzähler vorbeigehen und wörtlich „ weiterlaufen “ lässt, da sie ihm nur in ihrer Bewegung bedeutungsvoll erscheinen. In einem anderen Text treten „ lauter niemand “ auf, Mitglieder einer rein hypothetischen gespenstischen Gesellschaft, die sich zu einem bizarren Ausflug ins Gebirge aufmacht. Unpersönlich sind die Figuren und unpersönlich sind auch die Fragen, die im Medium der Gebärden artikuliert werden ebenso wie die Lösungen, die das man findet: das Schlagen etwa mit der Hand an die eigene Stirn (Unglück des Junggesellen) oder der erlösende Aufstieg zum Saal einer Abendgesellschaft, den der Ich-Erzähler „ aufatmend und langgestreckt “ betritt (Entlarvung eines Bauernfängers). Eine minimale Geste wie das „ Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen “ (Entschlüsse) kann sich als Fazit eines komplexen Reflexionsprozesses darstellen, in dem ein anonymes ich abwechselnd die aktiven und die passiven Möglichkeiten betrachtet, wie man sich „ aus einem elenden Zustand erheben “ könnte. Immer bleibt auch das Subjekt solcher Betrachtung unpersönlich und unbestimmt, ein ich oder man, das sich selbst einbezogen weiß in das dargestellte Feld von Energien und Kräften und das keinen Standpunkt kennt, der nicht bewegt wäre von den beschriebenen Spannungen und Gegensätzen, keinen Ort, an dem es nicht selbst - ähnlich wie in Traumvorgängen - partizipierte. In Das Gassenfenster etwa wird schließlich auch derjenige, der „ verlassen lebt “ und als „ müder 13 Paul De Man, Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988. 114 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens Mann “ an seine Fensterbrüstung tritt, fast gewaltsam ins Leben der Gasse hinuntergerissen und wieder „ der menschlichen Eintracht “ zugekehrt. In diesem wie in anderen Stücken wird auch deutlich, dass sich im Kräftespiel eines so betrachteten Lebens der isolierte Standort einer reinen vita contemplativa als unhaltbar erweist. Die gestischen Figuren von Kafkas Betrachtung stellen eine Herausforderung für den Leser dar, sie verlangen nach einer konzentrierten Lektürehaltung, die sich von den Figuren des Textes bewegen lässt. Das Bewegende solcher Lesart versteht sich weniger im emotionalen oder affektiven Sinn, es liegt vielmehr in der Ablenkung und Verwandlung gewohnter Denk- und Wahrnehmungsmuster 14 , im Verzicht auf semantische Fixierung und referentielle Objektivierung der Reflexionsfiguren, auch in der Bereitschaft, die Aufmerksamkeit der Lektüre einzustellen auf den „ kinematographischen Zug “ bewegter Bilder. 15 Die Denkfiguren, die schon in Kafkas frühen Texten literarische Vermittlungsverfahren und figurative und poetische Darstellungsweisen dekonstruieren, können ihre Aussagekraft nur im zeitlichen Verlauf der Lektüre entfalten. Ein Beispiel dafür, wie die Aussagelogik der Sprache hinterfragt und das hermeneutisch befestigte Wissen aufgebrochen werden kann, sind die „ bewegten Gedanken “ 16 im Prosastück Zum Nachdenken für Herrenreiter. In diesem Text wird der Siegeswille im Wettrennen einer intensiven Reflexion unterzogen, die wie folgt beginnt: „ Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen. “ 17 Die Verlockung, immer „ der erste sein zu wollen “ , bringt einen subversiven Gedankenfluss in Gang, der gängige Denkmuster der Alltagslogik ins Wanken bringt und unerwartete Rück- und Hinteransichten des Betrachteten zur Schau stellt. Der Text erläutert nicht nur, wie der Neid der Gegner oder die Abwendung der besten Freunde die Gewinne zu Verlusten machen kann, er inszeniert schließlich auch die Gestalt des Siegers als lächerliche Figur: „ Vielen Damen scheint der Sieger lächerlich, weil er sich aufbläht und doch nicht weiß, was anfangen mit dem ewigen Händeschütteln, Salutieren, Sich-Niederbeugen und In-die-Ferne-Grüßen, während die Besiegten den Mund geschlossen haben und die Hälse ihrer meist wiehernden Pferde leichthin klopfen “ . 18 Das figurative Denken, in dem die Gesten eine besondere 14 Die Abweichungen und Gewichtsverlagerungen des Denkprozesses zeigte bereits Gerhard Neumann, Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas ‚ Gleitendes Paradox ‘ , in: DVjS 42 (1968), S. 702 - 744. 15 Vgl. dazu im besonderen: Hans Jürgen Scheuer, Die Dekonstruktion der Mauerschau: Kafkas ‚ Der Fahrgast ‘ , in: Kafkas Betrachtung. Lektüren, cit, S. 124 - 136, hier: S. 129/ 130. 16 Frauke Annegret Kurbacher, Bewegte Gedanken. Zum revolutionären Moment der Reflexion in Franz Kafkas ‚ Zum Nachdenken für Herrenreiter ‘ , in: Kafkas Betrachtung. Lektüren, cit., S. 158 - 176. 17 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 30. 18 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 31. 4.1 Bewegte Gedanken 115 Rolle spielen, gewinnt seinen besonderen Sinn nur dann, wenn es im Prozess des Lesens in Rhythmus, Gangart und Tempo mimisch und körperlich nachvollzogen wird. Im folgenden soll anhand von drei Beispielen dargestellt werden, wie der Leser die Figuren der Kafkaschen Betrachtung im Medium der Geste verstehen und sich von ihnen bewegen lassen kann. 4.2 Bewegungsfreiheit: Der plötzliche Spaziergang Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tisch sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsmäßig schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, - dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht. 19 Das Prosastück beschreibt den scheinbar unmotivierten Aufbruch zu einem plötzlichen Abendspaziergang. Eine überlange Folge von Konditionalsätzen reiht die Motivationen und Bedingungen aneinander, warum man sich entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben: die Macht der Gewohnheit, ein unfreundliches Wetter, die Erwartung der anderen, das dunkle Treppenhaus und das versperrte Haustor. Das Selbstverständliche und Alltägliche der genannten Umstände gilt hier von Beginn an nur scheinbar, es wird widerlegt oder zumindest konterkariert durch die Reihe der Bedingungssätze, die das Gewohnte nicht zur Ruhe kommen lassen und eine Dynamik in Gang setzen, die hinausdrängt aus dem häuslichen Innenraum. In der zeitlichen Folge dieser konditionalen Syntax gleitet so die Gewohnheit 19 Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 17/ 18. Zu Entstehung und Varianten vgl. Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, cit., S. 54 - 56. 116 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens zunehmend ins Scheinhafte ab, die abendliche Gemütlichkeit weicht langsam einem wachsenden Unbehagen und einer klaustrophobischen Unruhe, die sich dann ganz plötzlich in Aktion umsetzt. Es ist der Gestus der Ungeduld, der diesen ersten Teil des Textes bestimmt, die Häufung zeitlicher Partikel wie „ jetzt schon “ oder „ nun auch schon “ lässt die verborgene Unruhe anwachsen, die dann manifest wird, wenn dieses man „ nun trotz alledem “ aufsteht und mit der größten Schnelligkeit sein Erscheinungsbild ändert, „ straßenmäßig angezogen “ den häuslichen Ärger hinter sich lässt und sich „ auf der Gasse wiederfindet “ . Auch dieser unvermittelte Aufbruch dessen, der allen Umständen nach zu Hause bleiben sollte, wird noch als hypothetische Handlung wiedergegeben ( „ wenn man sich auf der Gasse wieder findet “ ), als Teil eines Konditionalgefüges, in dem das erlösende „ dann “ immer weiter aufgeschoben wird. Trotz der konditionalen Syntax aber wird die Entschlossenheit dieses hypothetisch gedachten unpersönlichen Subjekts evident und offensichtlich, eine Entschlossenheit, die umso deutlicher hervortritt, als sie sich keinerlei bewusster Entscheidung verdankt und keiner psychologischen Erklärung unterliegt, es sei denn einem unmotivierten Unbehagen, das einem wortwörtlich in die Gieder fahren kann. Der plötzliche Spaziergang führt so dem Leser buchstäblich vor Augen, was Entschlussfähigkeit im Medium einer gestischen Betrachtung bedeuten kann: keine willentliche Entscheidung nämlich und keine psychologisch motivierte Handlung, vielmehr die offensichtliche und ausagierte Antwort auf ein Spiel von Kräften, denen das unpersönliche Subjekt gehorcht. Es sind Kräfte, die das man der Betrachtung teils erleidet und teils auch selbst bewirkt. Kaum explizit motivierbar, jedoch keineswegs sinnentzogen wirkt die mimische Entschlossenheit dieses Subjekts, das zuletzt alle „ Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt “ und nun „ mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung “ auch die eigene Kraft erkennt, „ die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen “ . Kein Defizit, vielmehr ein Überschuss an Bedeutung definiert diesen Modus der Selbstaffirmation, der im Medium der Geste hervortritt und Profil gewinnt. Unangemessen wäre es, den Exzess an Bedeutung in einer hermeneutischen Lesart auf den Begriff bringen zu wollen, wie dies in verschiedenen Interpretationen des Textes versucht wurde. Die Interpreten bedienten sich so beispielsweise einer Semantik der Freiheit und der Selbstfindung, die dem Austritt des abendlichen Spaziergängers aus seiner Familie existentielle Bedeutung 20 , ja sogar religiöse Konnotationen 21 verleihen wollte. In Kafkas Betrachtung jedoch ist die Freiheit kein abstraktes Konzept, kein Dogma oder Credo, viel eher schon kann sie, etwas salopp ausgedrückt, als ein 20 Vgl. Helmut Richter, Franz Kafka. Werk und Entwurf, Berlin 1962, S. 58. 21 Vgl. Kurt Weinberg, Kafkas Dichtungen. Die Travestien des Mythos, Berlin, München 1963, S. 397; Weinberg spricht vom Austritt aus der Familie des Judentums und einem plötzlichen „ Bekehrungsgang “ , der die Auferstehung in Christus zum Inhalt hat. 4.2 Bewegungsfreiheit: Der plötzliche Spaziergang 117 „ gymnastischer Begriff “ 22 verstanden werden, als Bewegungsfreiheit im wörtlichen Sinn, die man seinen Gliedern verschafft, um so auch den Geist und die Gedanken zu erweitern. Die gestische Umschrift von Abstrakta wie ‚ Entschlussfähigkeit ‘ oder ‚ Freiheit ‘ dementiert in Kafkas früher Prosa jede gewohnte subjektlogische Lesart, das Subjekt der Betrachtung bleibt ein virtuelles und unpersönliches. Und dennoch lässt sich der Status dieses hypothetischen Abendspaziergängers kaum reduzieren auf die grammatikalische Funktion des bloßen Indefinitpronomens man, das als buchstäblich bewegter Körper durch die Zeilen geistert. Die rhetorisch-gedankliche Figürlichkeit des unpersönlichen Subjekts kann zwar semantisch nicht bestimmt werden, trotzdem nimmt das gestische „ man selbst “ hier eine sehr scharf gezeichnete Gestalt an, es gewinnt im Medium der Gebärden ein ebenso singuläres wie unpersönliches Eigenleben. Im Lauf durch „ die langen Gassen “ führt der virtuelle Spaziergänger auf überzeugende Weise eine körperlich bewegte Selbstfindung vor Augen, die sich jenseits oder auch diesseits jeder Selbsterkenntnis ansiedelt. Subjekt dieses Prozesses werden die Glieder, „ die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten. “ Erst die unerwartete Beweglichkeit des Körpers und ein entsprechendes Gefühl gesammelter Entschlussfähigkeit geben dem scheinbar unmotivierten Spaziergang eine klare und eindeutige Richtung. Das Geschehen läuft so auf die syntaktische Kehre in den Hauptsatz zu, in der endlich das „ dann “ erfolgt, das sich als erlösende Antwort auf die offene Frage nach dem Sinn des Geschehens liest: „ dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. “ Die Struktur des Konditionalgefüges befördert im allgemeinen ein teleologisches Denken und richtet die Handlung auf ein Ziel hin aus. Hier ist es die Evidenz der „ wahren Gestalt “ des Selbst, die sich - seltsam unpersönlich und unbestimmt - im Medium der Geste zeigt. Was Kafkas Text betrifft, so kann allenfalls von einer mimischen Teleologie die Rede sein, die jedoch dem Geschehen jede zweckhafte Ausrichtung und Finalität im üblichen Sinn entzieht. Diese Suspension des Selbst von jeder psychologischen Motivation und jeder Intention bestätigt und verstärkt der Text auch auf thematischer Ebene: nur wenn die Identität des Subjekts als Mitglied einer Familie „ ins Wesenlose abschwenkt “ - wie immer sich diese Familie definieren mag, 22 Stefan Willer, Der Lauf der Schrift und das Gefälle des Satzes, in: Kafkas Betrachtung. Lektüren, cit., S. 38. Vgl. auch zum folgenden die genaue Lektüre von Willer, der Kafkas Bewegungsfiguren nachgeht und sie als buchstäblich und syntaktisch bewegte Körper liest. 118 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens biographisch, sozial oder religiös - nur dann kristallisiert sich die gestische Figur eines unpersönlichen Selbst, nur dann exponiert sie sich gleichsam graphisch in der Schrift, inhaltlich nicht bestimmbar und dennoch evident und klar umrissen. Fern jeder Hermeneutik der Individuation steht damit die eindeutige Evidenz von Kafkas Figuren, wie gezeichnet wirken sie in ihrer rein äußerlichen Wahrheit, wie eine ausgeschnittene Silhouette, die ‚ schwarz vor Umrissenheit ‘“ hervortritt. Dass es Kafka hier um die Zeichnung einer Bewegungsfigur geht, der jede psychologische Komponente entzogen wird, machen auch die Korrekturen an der früheren Tagebuchfassung deutlich, die an dieser Stelle entscheidend sind. In der Tagebuchfassung heißt es an der entsprechenden Textstelle, die den Austritt aus der Familie betrifft, man sei „ so gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, wie man es durchdringender durch die entferntesten Reisen nicht erreichen könnte und man hat ein Erlebnis gehabt, das man wegen seiner für Europa äußersten Einsamkeit nur russisch nennen kann. “ 23 Für den Text der Buchfassung streicht Kafka diese Zeilen über die innere russische Einsamkeit, eine „ Stelle, die mich anwidert “ , wie er in einem Brief vom 25. September 1912 an den Ernst Rowohlt Verlag schreibt. 24 Ersetzt wird die erlebnishafte Formulierung und die Metaphorik der Fremde durch eine graphisch umrissene, klar konturierte Figur, die die Beweglichkeit und Festigkeit des Selbst ganz nach außen verrät, ähnlich wie die schwarz linierten dynamischen Figuren von Kafkas Zeichnungen. Das unpersönliche Selbst, das bei Kafka im Medium der Geste seine wahre Gestalt findet, ist weder mimetisch noch hermeneutisch lesbar, und dennoch führt es sinnfällig die „ Reste einer Semantik der Erlösung “ 25 vor Augen, die ganz immanent gedacht wird, nämlich als Lösung und Befreiung der Glieder. Die Evidenz der Gebärde verrät die Einseitigkeit psychologischer Vorstellungen von Selbstfindung, in denen sich ein verinnerlichtes und selbstgenügsames Subjekt einrichten und spiegeln möchte. Im Unterschied zur imaginären Selbstkonstitution profiliert sich das gestische man als eine Figur, die immer auf den anderen verwiesen bleibt. Dieser notwendige Bezug auf den Blick des anderen wird im letzten Abschnitt von Kafkas Text noch einmal zusätzlich betont: suspendiert vom Alltag der Familie, ohne bestimmte Motivation und ohne Ziel, verlangt man nach der Zeugenschaft eines Freundes, der die singuläre Wahrheit der eigenen Gestalt verstärken und bestätigen kann. 23 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 348 (Aufzeichnung vom 5. 1. 1912) 24 Franz Kafka, An den Ernst Rowohlt Verlag, 25. September 1912, in: ders., Briefe 1900 - 1912, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 1999, S. 172. 25 Stefan Willer, Der Lauf der Schrift, cit., S. 41. 4.2 Bewegungsfreiheit: Der plötzliche Spaziergang 119 4.3 Vitalität: Entschlüsse Aus einem elenden Zustand sich zu erheben, muß selbst mit gewollter Energie leicht sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch, mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße A. stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde B. freundlich in meinem Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz Schmerz und Mühe in langen Zügen in mich heinein. Aber selbst wenn es so geht, wird mit jedem Fehler, der nicht ausbleiben kann, das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken, und ich werde mich im Kreise zurückdrehen müssen. Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere Masse sich verhalten und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen Schritt sich ablocken lassen, den anderen mit Tierblick anschaun, keine Reue fühlen, kurz, das, was vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit eigener Hand niederdrücken, d. h., die letzte grabmäßige Ruhe noch vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen lassen. Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen. 26 In Kafkas Prosastück Entschlüsse werden zwei unterschiedliche Verhaltensmöglichkeiten betrachtet, die antithetisch aufeinander bezogen sind: „ Aus einem elenden Zustand sich zu erheben “ oder einfach „ alles hinnehmen “ . Zwischen diesen Alternativen von gewollter Energie oder bewusster Passivität, willentlicher Aktion oder minimaler Reaktion entfaltet sich die gesamte Argumentationsstruktur des Textes. Der Ausgangspunkt der Reflexion ist ein elender Zustand, der nicht weiter hinterfragt und motiviert wird. Die Erstfassung des Textes, die Kafka zwischen dem 5. und 7. Februar 1912 ins Tagebuch notierte, wird von Aufzeichnungen begleitet, in denen immer wieder von der Müdigkeit und Mattigkeit der schreibenden Ich die Rede ist. Auch die Personennamen werden im Tagebuch noch genannt, was den autobiographischen Charakter der Erstfassung unterstreicht: Aus einem solchen Zustand sich zu erheben, sollte eigentlich selbst mit gewollter Energie leicht sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch mit großen Schritten, mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße Löwy stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde freundlich meine Schwester im Zimmer, während ich schreibe, ziehe bei Max alles, was gesagt wird, trotz Schmerz und Mühe in langen Zügen in mich hinein. Nun ist es zwar möglich, daß mir einzelnes davon ziemlich vollständig gelingen würde, aber mit jedem deutlichen Fehler - und die können nicht ausbleiben - wird das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken und ich werde mich im Kreise zurückdrehn müssen [. . .]. 27 26 Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 19. Zu Entstehung und Varianten vgl. Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, cit., S. 56 - 58. 27 Kafka, Tagebücher, cit., S. 371/ 372. 120 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens Schon die Tagebuchfassung macht deutlich, dass es hier nicht um innere Begründung und psychologische Motivation des Handelns geht, im Gegenteil, das Ich, das hier spricht, behauptet von sich, es arbeite in seinem Verhalten und Gebaren ganz bewusst „ jedem Gefühl entgegen “ . Willentlich soll hier also das psychophysische Band, das Innen und Außen, Affekt und Ausdruck verbindet, durchschnitten werden, denn „ trotz Schmerz und Mühe “ will sich dieses Ich erheben und sich, jeder inneren Verfassung zum Trotz, Tonus und Haltung geben. Die gedankliche Betrachtung der Entschlüsse entwickelt sich nach einem klaren rhetorischen Schema, das Hypothese, Einwand, Antithese und Schlussfolgerung umfasst. Auf die Hypothese, sich mit gewollter Energie zu erheben, folgt der Einwand, dass Fehler unvermeidbar sind, und endlich die antithetische Schlussfolgerung, es sei besser, alles passiv hinzunehmen. So logisch und folgerichtig die Struktur dieser Entschlussfassung auch scheint, sie wird in Kafkas Text nicht begrifflich-abstrakt entwickelt, sondern dramatisch inszeniert. Dadurch wird sie aber nicht nur veranschaulicht, sondern zugleich auch verfremdet und irritiert. Der reflexive Spielraum entfaltet sich im Medium von Bewegungsfiguren, die eine sinnlich plastische Gestalt annehmen und so zunehmend ihr Eigenleben im Text behaupten, ein Leben, das über die logische Reflexion hinausschießt. Während nämlich die Argumentation des betrachtenden Ich im Entschluss kulminiert, „ alles hinzunehmen “ und sich als „ schwere Masse “ zu verhalten, überschreitet die gestische Dynamik die lebensfeindliche Logik dieser Schlussfolgerung. Was Kafkas Betrachtung dem Leser mitteilen will, ist also nicht der Rat, auch die letzte gespenstische Lebensregung in sich niederzudrücken. Dieser Rat scheint sich zwar als logisches Fazit der Argumentation anzubieten, doch Kafkas Text gibt sich mit diesem Gedanken nicht zufrieden. Den Abschluss des Prosastücks bildet vielmehr eine charakteristische Geste: sie ist Ausdrucksfigur jenes Zustandes, von dem die Reflexion ausgegangen war: ein elender Zustand, der anfangs nur als unhinterfragte Voraussetzung der Betrachtung genannt wird, der dann aber als ein reflektiertes Kräftespiel durchdacht wird und zuletzt in einer filigranen Geste zum Ausgleich und zur Ruhe kommt. „ Aus einem elenden Zustand sich zu erheben “ : diese metaphorische Wendung wird in Kafkas Betrachtung zunächst wörtlich genommen und dramatisch in Szene gesetzt, um dann zeitlich und argumentativ entfaltet zu werden. Das Ich, das sich vom Sessel losreißt, macht sich zum Schausteller eines theatralischen Spiels, in dem es keinen natürlichen Ausdruck und keinen unbewussten Affekt gibt, nur gewollte Energie, bewusste Haltung und willentliche Inszenierung. Mechanisch soll der eigene Körper in den Dienst genommen werden, mit programmatischer Absicht werden die Glieder gespannt und die Muskeln von Kopf und Hals in Bewegung versetzt, gewaltsam soll der vitale Funken im Körper entzündet werden und in Aktion 4.3 Vitalität: Entschlüsse 121 übergehen. Justus von Hartlieb spricht von „ gymnastischen Invokationen “ 28 , einem Appell an die Glieder, deren Bewegungskraft auf Schmerz und Mühe reagieren und so auch dorthin wirken soll, wo ein elender Zustand herrscht. Ostentativ wird die Vitalität des Körpers auch in der Kommunikation mit den anderen ausgestellt, als stürmische Aktivität oder exaltierte Hingabe und Rezeptivität, die aus dem „ Kampf mit der Welt “ ein „ Fest des Anderen “ 29 machen will. Unentscheidbar schwankt diese Veranstaltung der enérgeia zwischen Darstellung und Verstellung, zwischen Selbstinszenierung und künstlich ausgestellter Ziererei. Die experimentelle theatralische Versuchsanordung und die Kürzel der Personennamen in Kafkas Text rufen Heinrich von Kleists Marionettentheater ins Gedächtnis, die mechanische Grazie der Gliederpuppe, die vom Maschinisten bewegt und vom menschlichen Bewusstsein gestört und entstellt wird. Kafkas Betrachtung allerdings kennt kein unbewusstes Gleichgewicht, keinen Schwerpunkt der Marionette in der vis motrix der Seele, nur die gezierte und exaltierte Bewegung der menschlichen Gliederpuppe, die das Ich als Regisseur in Szene setzt und die es als persona zugleich verkörpert. Auch im perfektesten Spiel, das dem menschlichen Willen und Bewusstsein gehorcht, kann daher ein Fehler nicht ausbleiben, ja es ließe sich sagen, dass dieses Spiel ohne Schwerpunkt von Beginn an nur verfehlt und unwahr sein kann. Im zweiten Abschnitt des Textes kommt deshalb die vorgestellte Maschinerie zum Stocken, die für Kafka charakteristische konzessive und hypothetische Syntax der selbst wenn - Konstruktion stellt die Evidenz der Inszenierung in den Schatten des Zweifels und dementiert die Hypothese der Leichtigkeit solcher Entschlüsse. Als rein imaginär erweist sich diese Leichtigkeit, mit der die Vorstellung ihre Figuren in Szene setzte und bewegte. Die Reflexion, die nun in einer Reihe von Dementis fortschreitet, entwirft ein „ Miniaturmodell der Vergeblichkeit “ 30 , das wiederum figurativ vor Augen geführt wird: die imaginär aufgeblasene Gliederpuppe des Ich dreht sich im Kreis zurück und fällt in sich zusammen. Als Schlussfolgerung bietet sich zunächst der Rat an, „ alles hinzunehmen “ , eine conclusio, die spiegelbildlich auf den ersten Abschnitt bezogen ist. Der ostentativen Vitalität wird nun die bewusste Verweigerung jeder unnötigen Bewegung und Empfindung entgegengehalten, eine forcierte Passivität, die in den Vorsatz mündet, freiwillig und „ mit eigener Hand “ jeden vitalen Impuls auszulöschen. Nicht nur im Wechsel des Personalpronomens vom ich zum 28 Justus von Hartlieb, Vom Affekt zum Charakter. Franz Kafkas Entschlüsse als Umbildungsgeschichte, in: Kafkas Betrachtung. Lektüren, cit., S. 51. Justus v. Hartlieb legt in seiner präzisen und detaillierten Lektüre den Akzent auf eine Umbildungsgeschichte, die er in Differenz zum Schillerschen Schema psychophysischer Gestaltwerdung als Schreibprozess interpretiert, in dem sich der Autor auslöscht. 29 Hartlieb, Vom Affekt zum Charakter, cit., S. 52. 30 ebenda 122 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens unpersönlichen man, besonders auch in der Reihung der infintiven Verben bildet sich syntaktisch die Verzichtserklärung auf jede Aktion und Aktivität ab, ein gewollter Stupor, der den eigenen Körper zur „ schweren Masse “ machen soll, während sich die Mimik im Tierblick erschöpft, um den Anspruch des anderen ins Leere gehen zu lassen. Die logische Argumentation läuft so auf die „ letzte grabmäßige Ruhe “ zu, die es zu vermehren gilt. Kafkas Text jedoch führt dem Leser vor Augen, dass sich die Bewegung des Lebens nicht so leicht stillstellen und argumentativ zur Ruhe bringen lässt. So logisch der Entschluss zur völligen Passivität auch sein mag, er stellt sich letztlich als ein Kampf dar, ein Kampf mit dem Leben, das als Gespenst überlebt und mit der eigenen Hand niedergedrückt werden muss. Die allegorische Dichte, die die Gesten an dieser Stelle der Kafkaschen Betrachtung gewinnen, beleuchtet die Aporien eines überwachen Lebens, das die Vitalität nur als entstellte und entfremdete kennt, entweder als mechanische Energie der Gliederpuppe, die exaltiert in Szene gesetzt wird, oder als gespenstischen Rest, der immer wieder aufersteht und „ mit eigener Hand “ nicht ins Grab gedrückt werden kann. Der Folgerichtigkeit der Argumentation zum Trotz behält der Entschluss zu einer Grabesruhe zu Lebzeiten damit nicht das letzte Wort. Fazit der Betrachtung ist vielmehr, wie der letzte Abschnitt deutlich macht, eine „ charakteristische Bewegung “ , in der sich das Drama der Entschlüsse aufzulösen scheint: „ das Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen “ . Die filigrane Geste zeichnet sich in Kafkas Text als eine charakteristische Ausdrucksfigur ab, die zwar semantisch unlesbar bleibt, die sich jedoch in signifikative Differenz setzt zur argumentativen Logik der Betrachtung. Erst in dieser minimalen Gebärde, an der sich exemplarisch die Spannweite und Dramatik auch der kleinsten Kafkaschen Gesten abzeichnet, kommt der Text zur Ruhe. Seine Aporien sind stillgelegt in einer Geste, die sich als Resultat gegensätzlicher Kräfte und Handlungsmöglichkeiten darstellt, Ergebnis eines Dramas, das sich im Spannnungsfeld von exaltierter Energie und gewolltem Stupor abspielte. Das Drama der Entschlüsse in Kafkas Betrachtung lässt sich auch als solches des Schreibenden lesen, der sich im Text ins Spiel bringt und aufs Spiel setzt. Die leichte und kaum angedeutete Geste, die das Prosastück der Entschlüsse abschließt, wirkt in diesem Kontext wie ein Epigramm des Schriftstellers, ein irreduzibles Lebenszeichen des Schreibenden, das im Medium der Schrift eine eigene Aussagekraft behauptet. Wenn dem Autor im Spiel der Schrift - wie Michel Foucault ausführte 31 - die Rolle des Toten zukommt und das schreibende Subjekt im Text verschwinden muss, so kann die Geste die singuläre und charakteristische Spur seiner Absenz anzeigen: „ Subjektivität wird erzeugt, wo das Lebende, wenn es der Sprache begegnet und sich in ihr 31 Michel Foucault, Was ist ein Autor? (1969), in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, S. 7 - 31. 4.3 Vitalität: Entschlüsse 123 rückhaltlos aufs Spiel setzt, in einer Geste zur Schau stellt, daß es nicht auf die Sprache reduziert werden kann. “ 32 4.4 Der Gestus der Betroffenheit: Das Unglück des Junggesellen Es scheint so arg, Junggeselle zu bleiben, als alter Mann unter schwerer Wahrung der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend mit Menschen verbringen will, krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehn, immer vor dem Haustor Abschied zu nehmen, niemals neben seiner Frau sich die Treppe hinaufzudrängen, in seinem Zimmer nur Seitentüren zu haben, die in fremde Wohnungen führen, sein Nachtmahl in einer Hand nach Hause zu tragen, fremde Kinder anstaunen zu müssen und nicht immerfort wiederholen zu dürfen: ‚ Ich habe keine ‘ , sich im Aussehn und Benehmen nach ein oder zwei Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden. So wird es sein, nur daß man auch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also auch einer Stirn, um mit der Hand an sie zu schlagen. 33 Kafkas Prosastück unterzieht die typische Existenzform des Junggesellen einer sehr genauen gedanklichen Betrachtung: „ Junggeselle zu bleiben “ , das bedeutet - wie schon das Verb bleiben suggeriert - ungewollte Isolation, den Ausschluss aus der Familie und aus der kreatürlichen Gemeinschaft der Ehe, eine bloß geduldete, bettlerhafte Existenz, die der permanenten sozialen Rechtfertigung bedarf, dazu kommt die Einsamkeit im Alter und die Krankheit, die Fremdheit unter den Menschen und das Außenseitertum. Auch die Identitäts- und Verhaltensmodelle, die dem Junggesellen zur Verfügung stehen, bleiben auf vereinzelte Existenzen fixiert, die die Bildung der Persönlichkeit einschränken und verarmen lassen. In einer Reihe von Vorstellungsbildern und Situationsaufnahmen wird so das „ Unglück des Junggesellen “ imaginär erprobt und gewinnt, über die Klischeevorstellung hinaus, eine konkrete und differenzierte anschauliche Gestalt. Dass diese Bilder, die Existenz und Habitus des Junggesellen sehr treffend erfassen, auch der Wirklichkeit und den Tatsachen entsprechen und sich so auch in der Zukunft bestätigen werden, wird am Beginn des zweiten Absatzes noch einmal ausdrücklich betont: „ So wird es sein “ . Und dennoch beginnt der folgende Satz, der die Betrachtung abschließt, mit einer modalen Einschränkung: „ nur daß man auch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also auch einer Stirn, um mit der Hand an sie zu schlagen “ . Der Vorbehalt, der mit diesem modalen Nebensatz zum Ausdruck gebracht wird 32 Vgl. dazu: Giorgio Agamben, Der Autor als Geste, in: ders., Profanierungen, Aus dem Italienischen von Marianne Schneider, Frankfurt a. M. 2005, S. 57 - 69, hier: S. 69. 33 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 20/ 21. Zu Entstehung und Varianten vgl.: Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, cit., S. 59 - 62. 124 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens und der die Geltung des Hauptsatzes ( „ So wird es sein “ ) einschränkt, betrifft keineswegs die inhaltliche Gültigkeit der Vorstellungen, die hier im Gegenteil verstärkt und erweitert wird. Den Realitätsbezug und die Anschaulichkeit des eigenen Gedankenexperiments stellt Kafkas Text nicht in Frage. Die Zukunft wird also das Unglück des Junggesellen nur bestätigen können. Der Einspruch aber, den Kafkas Text dennoch zum Ausdruck bringt, bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form und auf den Modus der Aussage. Was hier in seiner Gültigkeit grundsätzlich eingeschränkt wird, ist nicht nur die Wahrheit jeder allgemein gültigen existentiellen Aussage, es ist im besonderen auch die rein imaginäre Vorstellung des Junggesellentums, dessen typisches Erscheinungsbild in einer Reihe von Infinitivkonstruktionen festgeschrieben wurde. Was so nicht ausgesagt werden kann und nicht berührt wird, ist die Betroffenheit des Selbst durch das imaginierte Zukunftsbild. In der ersten Fassung des Textes, die Kafka um den 14. November 1911 ins Tagebuch notiert, wird diese Einschränkung der imaginären Betrachtungsform noch explizit formuliert: „ Das alles ist wahr, nur begeht man leicht dabei den Fehler die künftigen Leiden so sehr vor sich auszubreiten, daß der Blick weit über sie hinweggehn muß und nicht mehr zurückkommt, während man doch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen wird, mit einem wirklichen Körper und einem wirklichen Kopf also auch einer Stirn um mit der Hand an sie zu schlagen. “ 34 Die Geste der Betroffenheit, die das Grimmsche Wörterbuch zu den „ typischen Gesten mit Stirn “ 35 zählt, macht unmittelbar einen anderen Realitätsbezug des Gedankenexperiments deutlich. Schlagartig verifiziert sie ein unlösbares Existenzproblem und führt den dramatischen Vollzug einer Erkenntnis vor Augen, die zwar semantisch unartikuliert und unzugänglich bleibt, die aber dennoch vom Leser nachvollzogen werden kann. Gebärdenhaft wird hier klar gemacht, dass es nicht um ein unverbindliches Gedankenspiel geht, um eine Reihe abstrakter existentieller Aussagen oder imaginärer Vorstellungen, in denen ein Bild des Unglücks entworfen wird, sondern um die konkrete Betroffenheit des „ man selbst “ , um den Rückbezug der Imagination auf das eigene Dasein und auf den eigenen Körper. Nicht nur das Dasein im allgemeinen ist gemeint, sondern konkreter ist das „ Dastehen “ betroffen, und dies nicht allein im metaphorisch übertragenen Sinn der Redewendung vom „ dumm dastehen “ ; „ mit einem Körper und einem wirklichen Kopf “ dazustehen ist hier Voraussetzung für einen leibhaften Selbstbezug, der sich in Differenz setzt zur Selbstreflexion im Medium des Denkens und der Vorstellung. Dramatisch führt dann die Geste vor Augen, dass Kopf und Stirn nicht nur Organe des Denkens sind, sondern auch Körperteile, die von der eigenen Hand berührt werden können. Die Gebärde bringt eine sinnliche und physische Betroffenheit zum Ausdruck, die den Blick von den 34 Kafka, Tagebücher, cit., S. 249/ 250. 35 Grimm, Deutsches Wörterbuch, cit., Bd. 18, Spalte 3186. 4.4 Der Gestus der Betroffenheit: Das Unglück des Junggesellen 125 typischen Vorstellungsbildern des Unglücks auf das Selbst der Betrachtung zurücklenkt. Ein Schlag mit der Hand an die eigene Stirn kann dabei vieles bedeuten, dramatische Selbstanklage und Selbstbestrafung, plötzliche Erleuchtung, Zorn auf die eigene Beschränktheit oder Fluch auf die Blindheit jeder Selbstbetrachtung. Doch abgesehen von dieser konstitutiven Vieldeutigkeit kann die Funktion der Geste hier zumindest doppelt bestimmt werden: einerseits ist sie Einspruch und Einschränkung der rein imaginären Betrachtung, andererseits zeigt sie mit der Betroffenheit des unpersönlichen Subjekts der Rede auf ein mehr an Realitätsbezug und Selbstbezug, das die Sprache weder begrifflich noch bildhaft sagen kann. Das Unglück des Junggesellen, das sich bei Kafka ganz in Haltung, Mimik und Gebärde verrät, birgt kein Geheimnis mehr in sich. Diesen Verrat an einer verinnerlichten und verborgenen Wahrheit des Selbst, an der sich das Subjekt imaginär aufbauen könnte, betont Kafka in einer Tagebuchstelle, die wenige Wochen später die Reflexion über das Unglück des Junggesellen wieder aufnimmt; in dieser Aufzeichnung wird das existentielle Geheimnis des Junggesellen ganz in eine gestisch gezeichnete Figur übertragen: „ Das Unglück des Junggesellen ist für die Umwelt, ob scheinbar oder wirklich, so leicht zu erraten, daß er, jedenfalls, wenn er aus Freude am Geheimnis Junggeselle geworden ist, seinen Entschluß verfluchen wird. Er geht zwar umher mit zugeknöpftem Rock die Hände in den hohen Rocktaschen, die Ellbogen spitz, den Hut tief im Gesicht, ein falsches schon eingeborenes Lächeln soll den Mund schützen, wie der Zwicker die Augen, die Hosen sind schmäler, als es an magern Beinen schön ist. Aber jeder weiß wie es um ihn steht, kann ihm aufzählen was er leidet “ . 36 Der Schlag an die Stirn angesichts solch unglücklicher Figuren ist im Rahmen von Kafkas Betrachtung keine spontane und unwillkürliche Ausdrucksbewegung, ausführlich und umständlich werden vielmehr die Bedingungen aufgezählt, die die Geste der Betroffenheit ermöglichen, nämlich das wirkliche Dastehen mit einem Körper, einem Kopf und einer Stirn, „ um mit der Hand an sie zu schlagen “ . Die Geste wird damit bewusst als ein eigenes Medium der Selbsterkenntnis dargestellt, eine eigene Form der Selbsterfahrung, die „ heute und später “ möglich ist. Ihre spezifische Temporalität unterscheidet sich von der zeitlosen Gültigkeit allegorisch-abstrakter Begriffe ebenso wie von der Mimesis einer einmaligen Handlung. Die schriftlich fixierte Gebärde bezieht sich auf ein hier und jetzt, das immer wieder möglich ist, rein potentielle Erkenntnis, die immer neu realisiert werden muss. Die finale Infinitivkonstruktion, die Kafkas Text abschließt, macht auch syntaktisch deutlich, dass die Geste ihren Zweck in sich selbst trägt, ihre Bewegung dient keiner kommunikativen Intention, sie unterbricht nur die Reihe imagi- 36 Kafka, Tagebücher, cit., S. 279/ 280. 126 Betrachtung. Miniaturmodelle gestischen Denkens närer Vorstellungsbilder, die den Blick des Betrachters vom wirklichen „ Dastehen “ abschweifen lassen. Im Medium der Geste - so können beispielhaft die Lektüren dieses Kapitels zeigen - erfährt das literarische Genre der Betrachtung bei Kafka eine Umschrift, die den Leser auf eigene Weise bewegen kann und auch betroffen macht. Der Gestus der Betroffenheit, der Kafkas „ Junggesellenkunst “ 37 explizit eingeschrieben ist, will die Grenzen jeder imaginären und kontemplativen Selbstbetrachtung demonstrieren. Weit entfernt vom bloßen Gedankenexperiment fordert diese Prosa einen konkreten Selbstbezug ein und damit auch ein ethos, das sich in den Vorstellungsbildern moderner literarischer Imagination zu verlieren droht. Kafkas Betrachtung nähert sich damit wieder dem traditionellen Genre religiös-moralischer Herkunft an, in dem die existentielle Selbsterforschung beispielhaft konkretisiert und auf die Praxis des Lebens bezogen werden sollte. 38 Im Unterschied zur traditionellen Gattung eröffnet Kafkas Betrachtung allerdings keinerlei praktische Handlungsperspektive, sie weist mit anderen Worten dem Leser keinen Weg, der aus der Ausweglosigkeit existentiellen Unglücks hinausführen könnte. Kafkas Literatur verweigert sich der Transformation in die Lehre und Parabel, in ihrem Gestus jedoch erhält sie den Appell, der dem Genre früher eingeschrieben war, nämlich die anschaulich gewonnene Erkenntnis auch praktisch umzusetzen, um auf diese Weise die Literatur wieder aufs Leben zu beziehen. 37 In einer der frühen Besprechungen der Betrachtung wurde Kafkas Literatur als „ Junggesellenkunst “ bezeichnet, ein Ausdruck, von dem sich Kafka selbst besonders betroffen zeigte. Vgl. Kafkas Brief an Felice Bauer, 14. August 1913, in: Franz Kafka, Briefe 1913 - März 1914, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 2001, S. 262: „ Im ‚ Literarischen Echo ‘ erschien letzthin eine Besprechung der ‚ Betrachtung ‘ . Sie ist sehr liebenswürdig, aber an sich nicht bemerkenswert. Nur eine Stelle ist auffallend, es heißt dort im Verlauf der Besprechung ‚ Kafkas Junggesellenkunst ‘ . “ 38 Vgl.zum Bezug des Textes auf das Genre der Betrachtung: Jörg Gallus, Franz Kafka. Das Unglück des Junggesellen. Die Ausweglosigkeit des Unglücks überdenken. Zum literarischen Erkenntnismodell in Franz Kafkas Das Unglück des Junggesellen, in: Kafkas Betrachtung. Lektüren, cit., S. 68 - 82. Gallus liest den Text als Überprüfung einer opinio comunis in einem Gedankenexperiment, das existentielle Bedeutung beanspruchen will. 4.4 Der Gestus der Betroffenheit: Das Unglück des Junggesellen 127 Kapitel 5 Gesten im Gericht: Der Proceß 5.1 Ausnahmezustand In den Tagen der ersten kollektiven Aufbruchsstimmung, die die Mobilisierung zum Ersten Weltkrieg begleitet, beginnt Franz Kafka die Arbeit am Romanfragment Der Proceß. Er will sich auf seinen „ Kampf um Selbsterhaltung “ 1 konzentrieren und macht sich auf die Suche nach einer Rechtfertigung im Schreiben, die auf singuläre Weise den kollektiven Ausnahmezustand beantworten und verantworten soll. 2 Fraglich ist, ob Kafka damit ganz einfach „ der Welt den Rücken zuwandte “ 3 , um sich in die Literatur zu retten, eher schon signalisiert das Kürzel Josef K., das erstmals am 29. Juli 1914 im Tagebuch auftaucht, die Perspektive einer wahren Zeitgenossenschaft: diese setzt eine notwendige Distanznahme voraus, die es ermöglicht, den Notzustand der Epoche zu fokalisieren, um sich nicht von den Lichtern der kollektiven Begeisterung blenden zu lassen, um vielmehr das historisch Latente und die noch gesichtslose Gewalt der Epoche wahrzunehmen. 4 Wenige Jahre nach dem Tod des Autors haben dann die ersten Kritiker wie Bert Brecht oder Theodor W. Adorno den prophetischen Charakter des Romans hervorgehoben, Brecht spricht von der visionären Voraussicht des totalitären Staates, der faschistischen Diktatur und ihres bürokratischen Machtapparats, Theodor W. Adorno von „ Kafkas Prophezeihung von Terror und Folter “ , die sich im NS-Regime erfüllt habe. 5 Der Proceß gilt zu Recht als kanonisches Werk des 20. Jahrhunderts, nicht nur was die Präfiguration der historischen Realität der Totalitarismen betrifft, auch als Parabel von der leeren Autorität und von der mythischen Gewalt eines unpraktikablen Gesetzes. Wie immer man diese Parabel interpretieren will, Kafkas Romanfragment, das exemplarisch auf eine epochale Fragestellung antwortet, liest sich als Protokoll einer radikalen Krise der Legitimität. Was diese Krise im besonderen offenbart, ist ein latenter Ausnahmezustand, 1 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 543 (Aufzeichnung vom 2. August 1914). 2 Vgl. Kafka, Tagebücher, cit., S. 549: „ mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechtfertigung “ (Aufzeichnung vom 15. August.1914). 3 Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a. M. 2002, S. 535 und S. 546. 4 Vgl. Giorgio Agamben, Che cos ’ è contemporaneo? , Roma 2008, S. 15: “ contemporaneo è colui che riceve in pieno viso il fascio di tenebra che proviene dal suo tempo “ . 5 Walter Benjamin, Gespräche mit Brecht, in: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1992, S. 153 und: Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 324. der sich im Rechtsstaat verbirgt und der am Beginn des Romans auch ausdrücklich genannt wird, wenn Josef K. eines Morgens ganz plötzlich aus ihm erwacht: „ K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen? “ 6 Kafkas Roman, der diesen Ausnahmezustand in der Perspektive von K. wahrnimmt, gab nicht nur Anlass zu unzähligen Interpretationen und literaturwissenschaftlichen Analysen, er wirkte auch auf die außer- und meta-literarische Diskussion und begründete einen eigenen philosophischen Diskurs über Recht und Literatur, über Autorität und Leben, über eine „ reine Form des Gesetzes “ , die schließlich auf die bündige Formel einer „ Geltung ohne Bedeutung “ 7 gebracht wurde. Nach Giorgio Agamben entspricht dieser Gesetzesform eine bestimmte Verfassung: [. . .] die vom Ersten Weltkrieg an in der Massengesellschaft und in den großen totalitären Staaten vertraut sein wird. Denn das Leben unter einem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, gleicht dem Leben im Ausnahmezustand, in dem die unschuldigste Geste und die kleinste Vergeßlichkeit die extremsten Konsequenzen haben können. Und es ist genau ein Leben dieser Art, wie es Kafka beschreibt, in dem das Gesetz um so durchdringender ist, je mehr es ihm an jeglichem Gehalt mangelt und ein zerstreutes Klopfen an ein Tor unkontrollierbare Prozesse in Gang setzen kann. So wie für Kant der rein formale Charakter des moralischen Gesetzes den allgemeinen Anspruch begründet, so gilt im Kafkaschen Dorf die leere Potenz des Gesetzes dermaßen, daß sie vom Leben ununterscheidbar wird. Die Existenz und selbst der Körper von Josef K. fallen am Ende mit dem Prozeß zusammen, sie sind der Prozeß. 8 Die hermeneutische Spekulation über Kafkas Gesetz scheint mit dieser Einsicht allerdings auch jenen „ toten Punkt “ erreicht zu haben, den schon Walter Benjamin ins Auge gefasst hatte, wenn er meinte, dass sich ausgehend vom Gesetz bei Kafka interpretativ nichts mehr bewegen lässt. 9 Was den Leser heute noch faszinieren und erstaunen kann bei einer erneuten Lektüre der einzelnen Kapitel und Fragmente des Romans, ist nicht so sehr die große allegorische Konstruktion und die Parabel Vor dem Gesetz, in die sich unzählige Kommentare eingeschrieben haben. Die neueren Lesarten konzentrieren sich vor allem auf den eminent theatralischen Charakter des 6 Franz Kafka, Der Proceß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1992, S. 11. 7 Susanne Lüdemann, „ Geltung ohne Bedeutung “ . Zur Architektur des Gesetzes bei Franz Kafka und Giorgio Agamben, in: „ Zeitschrift für Deutsche Philologie “ 124/ 4 (2005), S. 499 - 519. Zusammenfassend zur Türhüterlegende: Friedrich Schmidt, Text und Interpretation. Zur Deutungsproblematik bei Franz Kafka. Dargestellt in einer kritischen Analyse der Türhüterlegende, Würzburg 2007. 8 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002, S. 63. 9 Benjamin an Scholem, 11. August 1934, in: Benjamin über Kafka., cit., S. 79. 5.1 Ausnahmezustand 129 Romans, der seine Situationen mit bestechender dramaturgischer Evidenz inszeniert. 10 Auffällig ist in diesem Kontext auch die Prägnanz der kleinen und scheinbar unbedeutenden Gesten, die Kafka seinem Text eingezeichnet hat als Indizien einer alltäglich vertrauten Befremdung. Schon Walter Benjamin, der erstmals Kafkas Werk als „ Kodex von Gesten “ las, bezog sich im besonderen auf den Proceß als Höhepunkt dieser literarischen Kunst der Geste. Nach der Dekonstruktion 11 und nach der Suspension 12 der Gesetzesparabel verschiebt sich heute wieder die Aufmerksamkeit auf die merkwürdigen Haltungen und Gesten, die in Kafkas Proceß ein Leben im Ausnahmezustand vor Augen führen. Auf den ersten Blick zeigt der Roman in dieser Perspektive die Konfusion von Recht und Macht, die sich nicht mehr unterscheiden lassen, ein desolates und obszönes Spektakel, das von keiner Instanz mehr legitimiert wird. Seine Aktualität scheint Kafka damit vor allem als der Experte der Macht zu behaupten, den schon Elias Canetti in ihm sah, wenn auch die machttheoretische Raffinesse seines Romans erst im biopolitischen Horizont der Gegenwart klar ans Licht tritt. Denn was im Proceß exemplarisch gestaltet wird, ist nicht allein die anonyme und abstrakte Maschinerie des bürokratischen Verwaltungsapparats, die große Architektur des Gerichts, für die die Verfilmung von Orson Welles so eindrucksvolle Bilder fand, auch nicht bloß die subversive Demontage der Gesetzesmaschine durch eine Littérature mineure, die das Räderwerk der kollektiven „ bösen Mächte “ offen legt, „ einen bürokratischen Eros, der ein Segment der Macht, eine Position des Verlangens ist. Und einen kapitalistischen Eros. Und auch einen faschistischen Eros. “ 13 Kafka zeichnet in die Architektur des Gesetzesapparats ein differenzierteres und zugleich anschaulicheres Gesicht der Macht und Ohnmacht ein, nämlich 10 Vgl. Claudia Liebrand, „ Theater im Proceß. Dramaturgisches zu Kafkas Romanfragment “ , GRM 48 (1998), H.2, 201 - 217. Zum theatralischen Charakter und zu den Dramatisierungen des Romans vgl. auch: Giulio Schiavoni, „ In che teatro “ ci siamo smarriti? Considerazioni su teatralità e recitabilità nella trilogia romancesca kafkiana, in: I romanzi di Kafka, hrsg. v. Isolde Schiffermüller, „ Cultura tedesca “ 35 (2008), S. 13 - 24. 11 Vgl. Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1992. Exemplarisch kreist Derridas dekonstruktive Lektüre in Prejuges die leere Autorität des Gesetzes ein und vollzieht noch einmal den Entzug des Gesetzes nach, um zu zeigen wie es sich vorenthält und um die penetrante Interrogation Vor dem Gesetz mit einer Dissemination ante portas abzubrechen. 12 Vgl. Agamben, Homo sacer, cit., S. 119. Wenn sich Kafkas Gesetz, nach Gershom Scholems bekannter Formel ein „ Nichts der Offenbarung “ , nicht in Bezug auf eine Norm definiert, ist es weder Vorschrift noch Verbot, ein aufgehobenes und unpraktikables Gesetz, eine Ausnahme, die hier als „ reiner Bann “ interpretiert wird. Agamben hat in einer späteren Lesart des Romans eine andere Form der Suspension bzw. der Strategie der Desaktivierung der Anklage in den Vordergrund gestellt: K. als „ Kalumniator “ , als Protagonist der Selbstverleumdung (Giorgio Agamben, K., in: ders., Nudità, Rom 2009, S. 33 - 58. 13 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, S. 82 und 79. 130 Gesten im Gericht: Der Proceß deren menschliche und zugleich unmenschliche Physiognomie, die Macht, die sich einprägt in die Körper, in die Gesichter, in die alltäglichen Gesten und Bewegungen; er stellt die obszöne Fratze der Macht in ein blendendes Licht und verfolgt das Mienenspiel eines korrumpierten Verlangens bis in die kleinsten libidinösen Verästelungen hinein. Kafkas minutiöses Studium der gestischen Deformationen zeigt heute auch mehr als früher seine groteske Kehrseite, die grausame Komik, die dem Scheitern jede Größe nimmt, den absurden schwarzen Humor, der die Negativität auf den Kopf stellt, den jüdischen Witz, der als Ausdruck geistiger Rebellion verstanden werden kann. Die grellen physiognomischen Details im Roman können - wie neuere Studien zeigen - auch als ironische Antwort gelesen werden auf die kriminalistische Anthropologie der Epoche, insbesondere auf das Kafka bekannte Werk des Juristen Hans Groß, der die Physiognomie in den Dienst der kriminalistischen Diagnostik stellen wollte. 14 Die Dramaturgie der Geste, die Kafka im Proceß entwickelt, erschöpft sich allerdings weder in der kriminalistischen Physiognomik noch im grotesken Mienenspiel der Macht. Die Gestensprache im Proceß ist mehr als bloßes Spektakel von Macht und Ohnmacht, mehr auch als die Gestikulation einer nicht kodifizierbaren Schuld. Das physiognomische Studium, das sich auf präzise Details richtet, zeigt seine Relevanz und Reichweite im Roman erst im Rahmen einer Poetik der „ Blendung “ 15 , die Kafka auch in seinen Aphorismen angedeutet hat: „ Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts. “ 16 Das fratzenhaft Groteske ist in dieser Sicht nur der Reflex einer Wahrheit, die nicht angeschaut werden kann. Sensibel und leicht zu blenden sind die Figuren im Proceß, denn in ihren Mienen reflektiert sich eine intensive Lichtquelle, deren Stärke nur mehr ablesbar ist an der mimischen Verzerrung. Kafka lenkt den Blick des Lesers auf den grimassenhaften Reflex einer möglichen Wahrheit, die sich in die Latenz zurückgezogen hat und die nicht mehr symbolisch repräsentierbar ist; sie kann sich allein im entstellten Mienenspiel - im Modus der Blendung - offenbaren oder besser verraten. Radikaler als jeder andere Text der Weltliteratur schreibt Kafkas Proceß das Protokoll einer Legitimationskrise, das auch die eigentümliche Form und die 14 Vgl. Franziska Schössler, Kafkas Roman ‚ Der Proceß ‘ und die Erfindungen des Juristen Hans Groß, in: Textverkehr. Kafka und die Tradition, hrsg. von Claudia Liebrand und Franziska Schössler, Würzburg 2004, S. 335 - 360. 15 Milan Kundera, Die Kunst des Romans, Essay. Aus dem Französischen von Uli Aumüller, München 2007, S. 150. 16 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a. M. 2002, S. 127. Vgl. auch ebenda, S. 125: „ Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt. “ 5.1 Ausnahmezustand 131 zeitliche Struktur des Romanfragments bestimmt: Das Schlusskapitel und die spiegelbildliche Szene der Verhaftung, die bekanntlich gleichzeitig entstanden sind 17 , bilden die Pole einer Parabel, die von einem ebenso notwendigen wie unpraktikablen Gesetz erzählt. Dazwischen spannt sich die Handlung, die ein unabschließbares Verfahren beschreibt, das unwiderruflich fortschreitet und „ allmählich ins Urteil “ 18 übergeht. Die immanente Logik dieses Verfahrens mag also in der unendlichen Verschleppung, im endlosen Aufschub des Prozesses liegen, in dem sich nie eine letzte Instanz einstellt, und doch schreibt der Autor schon zu Beginn das Kapitel Ende und setzt so der schlechten Unendlichkeit einen Schlusspunkt. Er schafft sich damit einen Rahmen, den er auch im Lauf seiner Schreibarbeit nicht mehr aufgibt, eine Tatsache, die umso bedeutender ist, als der Schreibprozess des Romans damit abweicht von Kafkas gewohnter streng linearer Schreibweise. 19 Die Handlung des Romans, die bekanntlich mit Josef K.s 30. Geburtstag einsetzt, umfasst genau ein Lebensjahr, also einen begrenzten Zeitraum, dem von Anfang an sein Ende eingeschrieben und wörtlich vorgeschrieben ist. Was der Roman somit in Szene setzt, ist die Zeit, die Josef K. bleibt, um die Aporien seiner Rechtfertigung durchzuspielen und die Krise der Legitimation am eigenen Leib zu erfahren. Kafkas Proceß setzt eine endliche und „ operative Zeit “ ins Werk, die mit Giorgio Agamben als „ tempo che resta “ 20 bezeichnet werden kann, eine Art Gnadenfrist vor dem Urteil, in der die Effekte des Ausnahmezustands greifbar und erfahrbar werden. Die Forschung hat sich vor allem auf die unendlichen Diskurse über das Gesetz konzentriert, sie hat deren logische Widersprüche und gleitende Paradoxe entfaltet und dabei die Reden des Advokaten, des Malers oder des Kaplans kommentiert. Die Lektüre der Gesten beginnt dort, wo die Spekulation über die Gesetzesparabel endet. Sie will die Interpretation und die Dekonstruktion des Gerichts gleichsam in Klammern setzen und richtet ihre Aufmerksamkeit darauf, wie die Zeit, die K. bleibt, durchgespielt wird, wie die Aporien der Rechtfertigung mimisch und gestisch zur Exekution gebracht werden. Sie illustriert die Haltungen der Figuren in den Räumen des Gerichts, in die sich die horizontalen und vertikalen Spannungen der Gerichtswelt physisch sichtbar einschreiben, und folgt der Perspektive von K. bis zur 17 Franz Kafka, Der Proceß. Apparatband, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt a. M., S. 111. 18 Kafka, Der Proceß, cit., S. 289. 19 Zur eigentümlichen zeitlichen Struktur des Romans vgl.: Isolde Schiffermüller, La fine prescritta. Procedere nel Processo di Franz Kafka, in: I romanzi di Kafka, “ Cultura tedesca ” 35 (2008), S. 49 - 69. 20 Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Aus dem Italienischen von Davide Giurato, Frankfurt a. M. 2006, S. 78 - 82 (Paragraph „ Operative Zeit “ ): Deutlich wird hier die Differenz zwischen der operativen Zeit, die jemandem bleibt, um etwas erfahrbar zu machen und in diesem Sinn zu ‚ realisieren ‘ , und der supplementären Zeit, die das Ende immer nur neu aufschiebt. 132 Gesten im Gericht: Der Proceß Exekution im Kapitel Ende, die wie ein schlechtes Spektakel aufgeführt wird. Die Farce der Exekution, die alle Züge einer grotesken Theaterszene trägt, besiegelt - so wird sich zeigen - die hybride Form von Kafkas Romanfragment und stellt diese ins Zeichen einer umfassenden Entstellung der menschlichen Sprache, die Der Proceß als kanonisches Werk der Moderne mit mimischer Evidenz vor Augen führt. 5.2 Indizien Wenn Kafkas Werk nach Walter Benjamin im „ Zeichen des Gegensatzes zwischen [. . .] der Gebärdensprache und der Sprache der Unterweisung “ steht, „ eines Gegensatzes, der eine Verschränkung ist “ 21 , so lässt sich diese eigentümliche Verschränkung besonders deutlich am Proceß nachweisen. Die Gesten im Proceß sind Indizien einer „ Verhaftung “ , sie stehen im Bann eines unbekannten Gerichts, wo jede kleinste Gebärde Bedeutung haben und unabsehbare Wirkungen zeigen kann, so wie im Ausnahmezustand jeder Dialog tendenziell zum Verhör wird. Theodor W. Adorno hat in diesem Sinn von Kafkas Solidarität mit dem Kriminalroman gesprochen: „ Den Zug des universal Verdächtigen, tief eingegraben der Physiognomie des gegenwärtigen Zeitalters, hat er dem Kriminalroman abgelernt [. . .] Die großen Werke sind gleichsam Detektivromane, in denen die Entlarvung des Verbrechens mißlingt “ . 22 Die gestischen Indizien bilden eine eigene Ebene der Darstellung, die den gesamten Roman durchzieht. Oft verweisen sie auf die Diskrepanz zwischen bewusstem und unbewusstem Verhalten, wenn Josef K. handelt, „ ohne es zu wissen “ , wie der Erzähler mehrmals anmerkt, ein Erzähler, der im übrigen selbst nur Vermutungen anstellen kann über die mögliche Bedeutung der Gesten 23 . Als Index für die Dislokation des Bewussteins ist Kafkas gestisches Erzählen im Proceß mit der Gebärdensprache von Heinrich von Kleist verglichen worden 24 , ein Vergleich, der im besonderen die Differenzen deutlich macht. Im Unterschied zu Kleists Gebärden des Errötens und Erbleichens geht es bei Kafka nicht um momentane Enthüllungen einer tiefen und unbewussten seelischen Wahrheit. Die Gesten im Proceß treiben vielmehr die Handlung voran, indem sie auf die Diskrepanz von Sprechen und Handeln verweisen. 21 Walter Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 169. 22 Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, cit., S. 30. 23 Vgl. Hartmut Binder, Kafka in neuer Sicht. Mimik, Gestik und Personengefüge als Darstellungsformen des Autobiographischen, Stuttgart 1976, das Kapitel 5: Die Als-ob- Sätze, S. 194 - 239. 24 David E. Smith, Gesture as a stylistic device in Kleist ’ s ‚ Michael Kohlhaas ‘ ans Kafka ’ s ‚ Der Proceß ‘ , Bern 1976. K. J. Kuepper, Gesture and Posture as Elemental Symbolism in Kafka ’ s The Trial, Mosaic III, 4 (1970), S. 144 - 152. 5.2 Indizien 133 Wenn sie mehr zeigen als gesagt werden kann, so deuten sie eine Latenz an, die nur in der Entstellung ans Licht kommen kann. Kafkas „ hypothetischer Erzählstil “ 25 tendiert bekanntlich dazu, die eigenen Voraussetzungen im Laufe des Erzählens abzubauen; was den Proceß betrifft, so dementiert er mit fortschreitendem Verfahren alle möglichen Hypothesen über das Gericht. Zugleich aber antwortet Kafkas Erzählen auf den Verlust der kognitiven Distanz mit einem präzisen Protokoll der Entstellung, das sich festmacht an isolierten Beobachtungen und scheinbar nebensächlichen, aber scharf pointierten Merkwürdigkeiten. Der unerbittlichen logischen Konsequenz dieses Erzählens, das jeder vertrauten Referenz den Boden entzieht, entspricht somit eine merkwürdig genaue und ausführliche Wahrnehmung szenischer Details und Situationen. Beda Allemann spricht in diesem Zusammenhang von Kafkas spezifischen Realismus, dessen Eindringlichkeit und Faszination in der „ Kraßheit des präzis gezeigten Details, der einzelnen Gestikulation, der punktuell fixierten Situation “ 26 liegt und der das scheinbar Unmögliche zustande bringt, nämlich das Unsichtbare dichterisch zu vergegenwärtigen. Die eigenartige Welthaltigkeit des Kafkaschen Romans ist von präzisen Beobachtungen geprägt, die aus der permanenten Abweichung und Differenz zum Erwarteten hervorgehen und nur reflexartig auf die Andersartigkeit einer Wirklichkeit verweisen, die sich permanent der Darstellung entzieht. Kafkas „ mikroskopische “ Wahrnehmungsweise wurde nicht zu Unrecht - in Analogie zum ethnologischen Blick auf fremde Kulturen - mit der „ dichten Beschreibung “ bei Clifford Geertz verglichen: „ Je fremder der Sachverhalt ist, desto genauer und damit dichter muß die Beschreibung sein und desto mehr verbietet sich die Zuordnung zu schon Bekanntem und (vermeintlich) Verstandenem. “ 27 - „ Alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selbst “ 28 - so drückte es Benjamin aus, der Kafkas stilistisches Ideal der Lückenlosigkeit auf die Angst als affektiven Spiegel des Realen bezog. Wie immer man die Tonalität dieses affektiven Spiegels bestimmen mag, der Proceß antwortet auf eine Erfahrung der Dislokation, deren Agent nicht mehr auszumachen ist. Er registriert in diesem Sinn nur die sekundären Wirkungen einer hypothetischen Gerichtswelt, am Beispiel von Indizien, die auf die unfassbare Alterität und „ Omnilatenz “ 29 des Gerichts verweisen, das immer zugleich fort und da ist. Parallel zur argumentativen 25 Beda Allemann, Zeit und Geschichte im Werk Kafkas, Göttingen 1998, S. 40 ff. 26 Allemann, Zeit und Geschichte, cit., S. 44. 27 Klaus Detlev Müller, Franz Kafka. Romane, Berlin 2007, S. 21; vgl. auch Waldemar Fromm, Artistisches Schreiben. Franz Kafkas Poetik zwischen ‚ Proceß ‘ und ‚ Schloß ‘ , München 1998, S. 201 - 210. 28 Benjamin, Beim Bau der chinesischen Mauer, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 41. 29 Der Begriff stammt hier von: Anselm Haverkamp, Kafkas Pannen: Poetik des Landstreichens im dichtgemachten Text, in: Ludo Verbeeck u. a., Schloß-Geschichten. Zu Kafkas drittem Romanplan - eine Diskussion, Eggingen 2007, S. 110 - 118, hier: S. 114. 134 Gesten im Gericht: Der Proceß Logik der Verfehlung aller Hypothesen über das Gericht läuft somit die „ lückenlose “ Mimikry an jene ‚ falsche ‘ und verfehlte Realität, die Benjamin mit dem Stigma der „ Entstellung “ gekennzeichnet hat. Kafkas Proceß setzt ein mit der Niederschrift des Namens „ Josef K. “ in einer Tagebuchnotiz vom 29. Juli 1914; erstaunlich ist die zeitliche Koinzidenz mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Vor dem historischen und biografischen Hintergrund einer kollektiven Aufbruchsstimmung hebt sich K., das Kürzel eines Einzelnen ab, der nun „ gefangen “ ist, wie man in der ersten Version des Romans lesen kann, ein Incipit, das später vom Autor modifiziert wird in ein „ verhaftet “ . 30 Der berühmte Anfang des Romans bindet die unvermittelte und unmotivierte Gegenwart der Gerichtsbeamten in der Wohnung Josef K.s ganz an das Moment des Erwachens, „ der riskanteste Augenblick im Tag “ , wie es in den Varianten des Proceß-Manuskripts heißt, an dem es sonderbar erscheinen mag, alles „ unverrückt an der gleichen Stelle “ wieder zu finden, „ ohne dass man irgendwohin von seinem Platze fortgezogen wurde. “ 31 Eine „ unendliche Geistesgegenwart oder besser Schlagfertigkeit “ sei nötig, um die eingespielte Normalität alltäglichen Lebens am Morgen des Erwachens ebenso fortzusetzen wie man sie am Abend des Einschlafens verlassen hat. An der Schwelle des Bewusstseins wird so ein Verfahren eingeleitet, das der Alltagswelt ihre vertraute Referenz entzieht und diese disloziert, um die Latenz einer anderen Wirklichkeit anzudeuten. Kafkas Gericht tritt bekanntlich nur in Bezug auf den Angeklagten in Erscheinung. Deshalb bleibt der Leser eng gebunden an die Perspektive von Josef K., in der er - gleichsam in statu nascendi - den Weg der Verhaftung mit vollzieht; er wird ins Verfahren hinein gezogen, in die Aporien der Rechtfertigung und in die Suche nach den unerschließbaren, bloß hypothetischen Instanzen des Gerichts, er erfährt die merkwürdig konkrete Präsenz eines unsichtbaren Gerichts, deren Vertreter nur „ von der Schuld angezogen “ 32 aus ihrer Indifferenz hervorkommen, um dann aber überall in Erscheinung zu treten und besonders in den „ physischen Niederungen des Lebens “ 33 ihre Effekte zu zeigen, die heute nur allzu bekannt sind: Wirkungen des Gerichts sind die Verletzung der Intimität, die Aufhebung der Schwelle zwischen öffentlichem und privatem Leben, die Technik der Schulderzeugung und die Tortur der Selbstbeschuldigung oder die Perversion des Denkens, das sich in unendlichen Spekulationen und in der Dekonstruktion des Gedachten verliert und verzettelt. Gefangen in der Perspektive K.s muss der Leser den Prozess seiner Projektionen und Argumentationen nachvollziehen, nur um die ver- 30 Kafka, Der Proceß, Apparatband, cit., S. 161. 31 Kafka, Der Proceß, Apparatband, cit., S. 168. 32 Kafka, Der Proceß, cit., S. 55. 33 Stach, Kafka, cit., S. 549. 5.2 Indizien 135 schiedenen Hypothesen über das Gericht immer neu und immer anders zu verfehlen. Nicht nur das „ erste Verhör “ , alles spielt sich von Beginn an gleichsam „ im Nebenzimmer “ 34 ab, versetzt an einen anderen Ort und exponiert an eine unbegriffene Alterität, mit der die Entstellung der Darstellung Raum greift: ein Schrei nebenan, Fragen, die unbeantwortet bleiben, offene und verschlossene Türen, Übergänge ins leere Nebenzimmer - dies alles erzeugt ein Kräftefeld, das den alltäglichen Raum mit unsichtbaren Schwellen markiert, in deren Bann die Bewegungen K.s, das einfache Gehen wie auch das Sitzen und das Stehen ihre eigentümliche Signifikanz gewinnen. Die vertraute Konvention wird brüchig und fremd, die Wohnung verwandelt sich in den Ort einer „ Verhandlung “ , die Dinge auf dem Nachttisch dienen als Requisiten eines befremdlichen Zeremoniells, über das es keine normale Verständigung mehr gibt: im Herzen der alltäglichen Kommunikation und der einfachsten Gewohnheiten macht sich ein Ritual Platz, das unbekannte Vorschriften diktiert, das vorschreibt, welche Kleidung man zu tragen hat, welche Haltungen man einzunehmen hat, wer beispielsweise vor dem anderem stehen muss und wer sich setzen darf. Das „ Zwiegespräch der Blicke “ 35 mit dem Wächter oder die zudringlichen Blicke der Zuschauer am Fenster des Hauses gegenüber erzeugen eine Dynamik der Beobachtung und Selbstbeobachtung, die zunehmend paranoide Züge trägt. Auch das Verhör „ scheint sich auf Blicke zu beschränken “ 36 , wie es in den Varianten heißt, eine der Stellen, die gestrichen wurden wie vieles, das dem Autor zu explizit erschien. Die fortschreitende Dissoziation der Kommunikation versetzt die Bewegungen und Gesten von Josef K. in eine unbekannte Unruhe: „ Er geriet in eine gewisse Aufregung, gieng auf und ab, woran ihn niemand hinderte, schob die Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht [. . .]. “ 37 Vergeblich und wiederholt versucht er schließlich, „ der Sache durch einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnlichen Abschluß zu geben “ : „ er trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm die Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s ausgestreckte Hand, noch immer glaubte K. der Aufseher werde einschlagen. “ 38 Der Handschlag, den K. den Vertretern des Gerichts anbietet und der schon im ersten Kapitel mehrfach verweigert wird, zeigt dem Leser an, dass die gewohnte Kommunikation in den Räumen des Gerichts fehl schlagen muss. Die „ Welt der Konventionen, wo man sich ohne weiteres die Hände reicht “ 39 , scheint ihre Gültigkeit verloren zu 34 Kafka, Der Proceß, cit., S. 8. 35 Kafka, Der Proceß, cit., S. 14. 36 Franz Kafka, Der Proceß. Apparatband, S. 167. 37 Kafka, Der Proceß, cit., S. 23. 38 Kafka, Der Proceß, cit., S. 25. 39 Allemann, Zeit und Geschichte, cit., S. 47. Zur Bedeutung des Handschlags und allgemeiner der Gestik der Hände im Roman vgl. Binder, Kafka in neuer Sicht., cit., das 136 Gesten im Gericht: Der Proceß haben. Die Auseinandersetzung zwischen Josef. K. und dem Gericht beginnt mit diesem verweigerten Handschlag, der noch als deutliches Zeichen für einen unmöglichen Konsens interpretiert werden kann. Im darauf folgenden „ Gespräch mit Frau Grubach “ wird dann dem Leser die Signalwirkung des Handschlags überdeutlich gemacht, wenn K. im „ Urteil einer vernünftigen Frau “ Hilfe sucht und dabei erfahren muss, wie im Umgang mit ihr die alltägliche Sicherheit einer merkwürdigen Befangenheit weicht, die ihm schließlich auch „ das Wertlose aller Zustimmungen “ zu Bewusstsein bringt: „ Nun müssen Sie mir aber die Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt werden. “ Ob sie mit die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht, dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie stand auf weil auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles was K. gesagt hatte verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war: „ Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K. “ , sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch an den Handschlag. 40 Mit fortschreitendem Verfahren wächst im Proceß die Bedeutung scheinbar sinnloser und marginaler Gesten, an denen die zunehmende Involvierung in die Sphäre des Gerichts ablesbar ist. Glaubt K. anfangs noch, seine „ Legitimationspapiere “ 41 könnten ihn rechtfertigen, so muss er mit fortschreitendem Prozess erfahren, dass jede kleinste Lebensäußerung einem Legitimationszwang untersteht, der umso radikaler wirkt, je weniger er sich bewahrheiten lässt durch eine legitimierende Instanz, durch ein Gesetz, das zum Gegenstand der Erkenntnis werden könnte. 42 Der verweigerte Handschlag im Kapitel „ Verhaftung “ zeigt wie ein Signal das Aufbrechen der konventionellen Kommunikation an; bei K. bewirkt er einen Exzess an Erregung, der auch die seltsame Umtriebigkeit des Trieblebens in Gang setzt, die das Leben in den labyrinthischen Gängen des Gerichts Kapitel 6: Hände, S. 240 - 264 und den Aufsatz von Philip Grundlehner, “ Manual Gesture in Kafka ‘ s Proceß “ , The German Quaterly LV, 1 (1982), S. 186 - 199. 40 Kafka, Der Proceß, cit., S. 34/ 35. 41 Kafka, Der Proceß, cit., S. 12. 42 Die Aporie der Rechtfertigung hat Kafka auch in seinen Aphorismen beschrieben: „ Wir sehen jeden Menschen sein Leben leben (oder seinen Tod sterben). Ohne innere Rechtfertigung wäre diese Leistung nicht möglich, kein Mensch kann ein ungerechtfertigtes Leben führen. Das verführt zu der Meinung, daß der Mensch sein Leben mit Rechtfertigungen unterbaut. “ (Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, cit., S. 99); oder: „ Worauf nimmt Du Bezug? Was rechtfertigt Dich? [. . .] A Worin besteht Deine Rechtfertigung? / B Ich habe keine./ A Und kannst leben./ B Eben deshalb, denn mit Rechtfertigungen könnte ich nicht leben. Wie könnte ich die Vielheit meiner Taten und Lebensumstände rechtfertigen “ (Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, cit., S. 82). 5.2 Indizien 137 antreibt: Josef K. beginnt die „ eigentümliche Anziehungskraft des Gerichts “ 43 mit den Frauen zu erfahren. Von Beginn an vermittelt sich diese Erfahrung in einer theatralischen performance, wenn K. seine Verhaftung noch einmal dramatisch in Szene setzt und Fräulein Bürstner vorspielt. Im Theaterspiel verrät sich der Witz und die Komik des Geschehens, erstaunlicher Weise aber auch die handfeste Wirkung der Verhaftung, wenn K. das Fräulein am Handgelenk ergreift und sie küsst „ über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagd. “ 44 Verlangen, Ungeduld und Neugierde treiben ihn dann weiter in die Gänge des Gerichts, bis ins Gedränge der Gerichtsversammlung, wo er isoliert den verschiedenen „ Parteien “ gegenüber steht, die aufgeregt miteinander gestikulieren: zwei Männer etwa, von denen einer „ mit beiden weit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldaufzählens “ macht, während der andere „ ihm scharf in die Augen “ 45 sieht. Es gibt in dieser Versammlung kein Gesicht, das sich K. zuwendet, dieser blickt „ nur auf die „ Rücken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur an die Leute ihrer Partei richteten “ 46 , oder er sieht befremdet auf Figuren, die sich in unverständlichem Gelächter krümmen: „ Die Leute stützten sich mit den Händen auf ihre Knie und schüttelten sich wie unter schweren Hustenanfällen. “ 47 Im zunehmend paranoid geschärften Blick, den der Erzähler mit Josef K. teilt, zeigt sich, wie in einem Film ohne Tonspur, eine stumme Szene von Gebärden und Gestikulationen, die auch für den Leser die Befremdung und die Isolation des Beobachters spürbar macht. Als K. dann seine Verteidigungsrede vor der Versammlung hält, beobachtet er die Wirkung seiner Worte im Publikum: Gelächter, heimliches Gemurmel und „ geheime Zeichen “ , die ihm nun erst physisch und konkret den Eindruck vermitteln, „ als werde seine Freiheit eingeschränkt, als mache man mit der Verhaftung ernst “ 48 . K. beginnt, die bärtigen Gesichter nach Indizien abzusuchen, er blickt auf zeigende Finger und vermutet leise Antworten „ im Schutz der vorgehaltenen Hände “ , er sucht nach den geheimen Zeichen einer „ großen Organisation “ 49 und tastet mit seinen Blicken die Physiognomie der Versammelten ab, die ihm das Schreckbild einer degenerierten Versammlung vor Augen führt: „ Was für Gesichter rings um ihn! Kleine schwarze Äuglein huschten hin und her, die Wangen hiengen herab, wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und schütter und griff man in sie, so war es als bilde man bloß Krallen, nicht als griffe man in Bärte. Unter den Bärten aber - und das war die eigentliche Entdeckung, die K. machte - 43 Kafka, Der Proceß, cit., S. 42. 44 Kafka, Der Proceß, cit., S. 48. 45 Kafka, Der Proceß, cit., S. 58. 46 ebenda 47 Kafka, Der Proceß, cit., S. 61. 48 Kafka, Der Proceß, cit., S. 70/ 71. 49 Kafka, Der Proceß, cit., S. 69. 138 Gesten im Gericht: Der Proceß schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen soweit man sehen konnte. “ 50 Nicht nur die Abzeichen der geheimen Organisation, auch die mimischen Besonderheiten werden nun zu Indizien der Verhaftung im Bann eines unbekannten Gerichts und damit zum Objekt einer minuziösen Investigation, die der Entstellung der menschlichen Sprache nachgeht. Das Alfabeth dieser Sprache ist im Proceß jener „ Kodex von Gesten “ 51 , den Walter Benjamin erstmals ins rechte Licht gerückt hat, kein konventioneller Zeichencode, der den Gesten eine „ sichere symbolische Bedeutung “ zuwiese, vielmehr eine eigenartige und befremdliche Gebärdensprache, die gewohnte Kontexte durchbricht und sich immer weniger üblichen Situationen anpasst. Dieses besondere Alfabeth des Romans kann durchbuchstabiert werden wie ein Register, das Auskunft gibt über Rang und Stellung der Figuren im Verfahren, man denke etwa an die gebeugten Rücken und gesenkten Köpfe der Angeklagten oder an ihre demütige Haltung, mit der sie sich für die eigene Anwesenheit zu entschuldigen scheinen: „ Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt, die Knie geknickt, sie standen wie Straßenbettler “ . 52 Gebückt und gebeugt unterstehen die Leute der Sphäre des Gerichts, was sich auch als böse Karikatur äußern kann, wenn die Figuren auf der Galerie der Gerichtsversammlung „ mit Kopf und Rücken an die Decke stießen. “ 53 Gestische Familien und Gruppen bilden auch die zwielichtigen Buckligen, die durch die Korridore des Gerichts hinken, die requisitenartigen Begleiter- und Helferfiguren oder die bärtigen Gerichtsvertreter, auch die Frauen in ihrer spielzeugartigen Körperlichkeit. In der Architektur des Gerichts, in den labyrinthischen Korridoren, unter den niedrigen Decken und dumpfen Dachböden, in den stickigen Schlafzimmern sowie in den Rumpel- und Folterkammern findet die Entstellung ihren Maßstab allein in den Haltungen und Bewegungen der Figuren, die diese Räume bewohnen: zu nieder, um zu stehen, zu dunkel, um zu sehen, zu stickig, um zu atmen. Die Entstellung der menschlichen Sprache im Proceß betrifft jedoch nicht allein die soziale Praxis und das Mienenspiel der Macht und Ohnmacht. Die Figuren in der Sphäre des Gerichts gewinnen eine eigene Aura, sie vermitteln dem Leser den Eindruck, als wären sie fremden Mächten ausgesetzt, als würden sie berührt von unerklärlichen Kräften. Extrem empfindlich sind beispielsweise die höheren Herrn wie der Herr Kanzleidirektor, der sich versteckt hält in einer dunklen Ecke im Schlafzimmer des Advokaten Huld; er möchte „ mit den Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren “ , so „ als bitte er dringend wieder um die 50 Kafka, Der Proceß, cit., S. 71. 51 Benjamin, Franz Kafka, cit., S. 18. 52 Kafka, Der Proceß, cit., S. 93. 53 Kafka, Der Proceß, cit., S. 57. 5.2 Indizien 139 Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. “ 54 Mit überempfindlichen und exzentrischen Gebärden reagieren auch die Angeklagten, wenn sie auf die leichteste Berührung mit „ lächerlichem Schreien “ 55 antworten. In die kodifizierten Gesten von Demut, von Eitelkeit, Angst oder Würde trägt Kafka immer eine befremdende Differenz ein, um so die Exposition an ein unbekanntes Gericht vor Augen zu führen. Ablesbar ist diese Exposition nur an der Physiognomie der Gesichter und an der Feinheit ihres Mienenspiels, an der enigmatischen Schönheit der Angeklagten etwa, die dem Verfahren ausgesetzt sind. Auf die Berührung mit fremden Mächten verweist auch symptomatisch der Aberglaube, der das Denken in der Sphäre des Gerichts trübt und der sich ebenfalls mit Vorliebe an die Mienen der Angeklagten heftet: „ Ein solcher Aberglaube ist es z. B. daß viele aus dem Gesicht des Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung der Lippen den Ausgang des Processes erkennen wollen. “ 56 Im dumpfen stickigen Gedränge der Gerichtsverhandlung bricht im Proceß auch erstmals eine Erkenntnis auf, die sich nur in der vertikalen Dimension Raum verschaffen kann „‚ So! ‘ rief K. und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte Raum ‘ - ‚ Ihr seid ja alle Beamte, wie ich sehe, Ihr seid ja alle die korrupte Bande, gegen die ich sprach. “ 57 Die intensive vertikale Spannung, die den Gesten von Josef K. eingeschrieben wird, öffnet den stickigen Gerichtsraum auf eine andere Dimension hin, die die horizontale Immanenzebene des Verfahrens durchbricht. Die eigenartige ‚ Transzendenz ‘ , die sich damit den Koordinaten von Kafkas Text einschreibt, wird ganz in den Gestus der Figuren zurückgenommen, sie ist allein figurativ und gestisch fassbar. Dies zeigt sich auch am Höhepunkt der Parabel im Domkapitel, wenn es vor und jenseits jeder erhofften Botschaft der „ scharf gesenkte Zeigefinger “ des Geistlichen ist, der Josef. K. seinen Ort und seine Haltung anweist, „ eine Stelle knapp vor der Kanzel [. . .] er mußte auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen. “ 58 Im Kapitel Ende schließlich bricht die vertikale Spannung der Figur kurz vor der Exekution noch ein letztes Mal auf, in einer Gebärde von Josef K., die sich wie ein Appell an den Leser richtet: „ Er hob die Hände und spreizte alle Finger. “ 59 54 Kafka, Der Proceß, cit., S. 137. 55 Kafka, Der Proceß, cit., S. 95. 56 Kafka, Der Proceß, cit., S. 236/ 237. 57 Kafka, Der Proceß, cit., S. 71. 58 Kafka, Der Proceß, cit., S. 288. 59 Kafka, Der Proceß, cit., S. 312. 140 Gesten im Gericht: Der Proceß 5.3 Haltungen im Proceß Die fortschreitende Involvierung Josef K.s ins Verfahren liest sich zunächst allerdings als Geschichte vom Verlust des aufrechten Gangs. Schon beim Eintritt in die Kanzleien erfassen ihn Müdigkeit und Schwindel, so dass er von zwei Begleitern gestützt werden muss. Die Scham, die Josef K. dabei erstmals empfindet, manifestiert sich im Zusammenhang mit der Ohnmacht seines Körpers, mit einer plötzlichen Übelkeit, die ihn in den stickigen Dachböden des Gerichts befällt: „ es war ihm zu peinlich, durch diese plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu sein. “ 60 Für K., der „ sich nicht aufrecht halten “ kann, wird nun selbst die Begegnung mit der gebeugten Gestalt eines Angeklagten zum peinlichen Moment: „ K. schämte sich fast vor ihm, früher war er so aufrecht vor ihm gestanden, jetzt mußten ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte der Auskunftgeber auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, die Haare hiengen ihm in die schweißbedeckte Stirn [. . .] er war wie seekrank. “ 61 In der gesticulatio des Beters knüpfte sich die „ Seekrankheit auf festem Land “ an den Verfall der liturgischen Gebärde, die die Menschen noch vereinen konnte; der Erzähler verband damit eine verwirrende Spekulation über den Verlust der wahren Namen 62 . Im Proceß führt sie dazu, dass Josef. K., der den aufrechten Gang verloren hat, nun auch der menschlichen Sprache nicht mehr mächtig scheint: „ Endlich merkte er, daß sie zu ihm sprachen, aber er verstand sie nicht, er hörte nur den Lärm der alles erfüllte und durch den hindurch ein unveränderlich hoher Ton, wie von einer Sirene zu klingen schien. ‚ Lauter ‘ , flüsterte er mit gesenktem Kopf und schämte sich, denn er wußte, daß sie laut genug, wenn auch für ihn unverständlich gesprochen hatten. “ 63 Auf die enge Verwandtschaft zwischen Übelkeit und Scham hat Emmanuel Lévinas in De l ’ évasion hingewiesen, beides Phänomene einer peinlichen Selbstpräsenz, in der die Ohnmacht und Passivität der körperlichen Existenz exponiert wird, Momente einer erstickenden Selbstgegenwart, die auf Evasion drängt. 64 Josef. K. verbindet damit die Frage nach einem anderen Prozeß als den, den er zu kennen meint: „ Wollte etwa sein Körper revolutionieren und ihm einen neuen Prozeß bereiten, da er den alten so mühelos ertrug? “ 65 60 Kafka, Der Proceß, cit., S. 100. 61 Kafka, Der Proceß, cit., S. 104/ 105. 62 Vgl. Kap. 3.3. in diesem Band. 63 Kafka, Der Proceß, cit., S. 106. 64 Emmanuel Lévinas, De l ’ évasion, Montpellier 1982 (zuerst in: Recherches philosophiques, 1935/ 36), S. 87. Die Scham, die sich auf den Zustand der Übelkeit bezieht, ist für Lévinas besonders signifikativ, weil sie quasi aus der Tatsache selbst hervorgeht, einen Körper zu haben: „ le fait même d ‘ avoir un corps, d ‘ être là. Dans la nausée la honte apparaìt épuree de tout mélange de répresentation collective “ . 65 Kafka, Der Proceß, cit., S. 107. 5.3 Haltungen im Proceß 141 Auch die Müdigkeit, die leitmotivisch wiederkehrt, ist Teil dieses neuen Prozesses. Sie erreicht einen Höhepunkt am Beginn des Kapitels Advokat. Fabrikant. Maler, als K. schon frühmorgens „ äußerst müde “ am Büroschreibtisch sitzt: „ Aber statt zu arbeiten drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen. “ 66 Wahrend die Gedanken von Josef. K. von den endlosen Reden und Diskursen des Advokaten oder des Malers Tirorelli über die geheime Natur des Gerichts in Anspruch genommen werden, beginnt er immer auffälliger seinen Prozess körperlich zu praktizieren, dieser „ rückte immer näher an den Leib “ 67 - so heißt es explizit im Roman. Der Text kehrt damit auch immer deutlicher sein pantomimisches Element nach außen, er führt dem Leser im mimischen Verhalten der Figuren vor Augen, wie die Praxis der Anomie zunehmende Evidenz gewinnt. An den Haltungen von Josef. K. die Kafka auch in seinen Zeichnungen dargestellt hat (siehe Abbildungen S. 55), lässt sich klar das Stadium des Prozesses ablesen. Sie skandieren den Fortgang der Handlung und zeigen die Figur von Josef K. immer stärker verwickelt in die Sphäre der Gerichtswelt. Nicht zufällig konnte Walter Benjamin gerade am Beispiel des Romans Der Proceß die Tendenz belegen, die Handlung einem semantischen Nullpunkt zuzuführen, in dem sie nur noch als Gestus fassbar ist, als irreduzibles Restphänomen einer unbekannten Lehre. Benjamin spricht von Kafkas Neigung, „ den Vorfällen gewissermaßen den Sinn abzuzapfen. Siehe den Gerichtsbeamten, der eine Stunde lang die Advokaten die Treppe hinunterwirft. Es bleibt hier nichts weiter als der Gestus übrig, der aus allen affektiven Zusammenhängen herausgelöst ist. “ 68 Diese tendenzielle Reduktion der Handlung auf den bloßen Gestus wird auch in einer anderen Anekdote evident, die vom Gericht erzählt wird: in der Geschichte von der schwierigen und verachteten Arbeit der Advokaten bei Gericht wird deren prekäre Stellung ganz buchstäblich durch die niedrige und fensterlose Advokatenkammer veranschaulicht, in deren Fußboden sich ein großes Loch auftut: Licht bekommt die Kammer nur durch eine kleine Luke, die so hoch gelegen ist, daß, wenn jemand hinausschauen will, wo ihm übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase fährt und das Gesicht schwärzt, er erst einen Kollegen suchen muß der ihn auf den Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer - um nur noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen - ist nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß daß ein Mensch durchfallen könnte, aber groß genug, daß man mit einem Bein ganz einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt auf dem 66 Kafka, Der Proceß, cit., S. 149. 67 Kafka, Der Proceß, cit., S. 254. 68 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 127. 142 Gesten im Gericht: Der Proceß zweiten Dachboden, sinkt also einer ein, so hängt sein Bein in den ersten Dachboden hinunter undzwar gerade in den Gang, wo die Parteien warten. 69 Die grausame Komik, die Passagen wie diese kennzeichnet, erzeugt ein Lachen, das die Sinnlosigkeit des Geschehens nach außen kehrt. Kafka liebt den slapstick und den buchstäblichen Wortwitz, dem in der gestischen Sprache die schwarze Komik entspricht, die die menschliche Figur in ihre Arme und Beine zergliedert. Chaplinesk wirken die menschlichen Gliedmaßen, die die räumliche Ordnung durchstoßen und die Hierarchie von oben und unten umdrehen. Das vom Rauch geschwärzte Gesicht, das aus der Luke der Dachkammer schaut oder das Bein des Advokaten, das in den unteren Stock hinunterhängt, sind komische Gegenbilder zum Urbild des „ schamhaften Langen “ , der mit seinem Kopf die Decke des Zimmers durchbricht und verdutzt auf die Dächer nieder blickt. In absurden Details macht diese Komik den Bedeutungsverlust des menschlichen Gesichts augenscheinlich, wobei die groteske Verzerrung dem Scheitern der Figuren jede Größe und jede tragische Fallhöhe nimmt; man denke auch an die Karikatur der Atlanten, die sich auf den Galerien des Gerichts zusammendrängen: „ Manche hatten Pölster mitgebracht, die sie zwischen Kopf und Zimmerdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken. “ 70 So wie sich die Geschichten, die über das Gericht im Umlauf sind, im Gestischen verlieren, so kann der gesamte Proceß als ein Verfahren gelesen werden, in dem jeder Ansatz zur allegorischen Zeichendeutung immer wieder auf ein bedeutungsirreduzibles gestisches Geschehen zurückgenommen wird. Die mimische Rezitation des Verfahrens, die den Proceß in seinem Verlauf skandiert, erreicht ihren Höhepunkt in jener Szene, in der sich Josef K. so verhält, als ob er die „ große Eingabe “ einreichen würde, die endlich und endgültig „ jeden Gedanken an eine mögliche Schuld “ 71 beseitigen könnte. Die Handlung spielt sich in der Bank ab, während eines geschäftlichen Gesprächs mit dem Direktor-Stellvertreter und dem Industriellen. Als diese sich an den Schreibtisch von Josef K. lehnen, stellt sich eine neue und einzigartige Figurenkonstellation her, die Kafkas Text dem Leser wie folgt vor Augen stellt: Als dann die zwei sich an den Schreibtisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nun den Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern, war es K. als werde über seinem Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben vorstellte, über ihn selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen zu erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand zu den Herren hinauf. Er dachte hiebei an nichts bestimmtes, sondern 69 Kafka, Der Proceß, cit., S. 153. 70 Kafka, Der Proceß, cit., S. 59/ 60. 71 Kafka, Der Proceß, cit., S. 168. 5.3 Haltungen im Proceß 143 handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten mußte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte. 72 Rein pantomimisch führt diese Szene die Notwendigkeit vor Augen, dass K. seine Verteidigung selbst in die Hand nehmen sollte: ein Höhepunkt des Romans, dem zugleich ein Nullpunkt an referentieller Bedeutung entspricht. Der undenkbare Gedanke an die „ große Eingabe “ ist nur als Gestus fassbar, er konfiguriert sich in einer ebenso singulären wie enigmatischen Bittstellerhaltung, semantisch entleert und unbestimmt: ein beliebiges Blatt Papier auf der flachen Hand gewinnt bei Kafka die Struktur einer Frage, die offen bleibt. Die Szene exponiert das pantomimische Element der Sprache und bringt die Koordinaten des gestischen Geschehens ins Spiel, das Verhältnis von oben und unten, von Macht und Ohnmacht, von Lebendigem und Leblosem. Nichts erklärt sich in dieser Szene, in der sich die Parabel ganz im Gestus entfaltet. Dementsprechend reagiert auch der Direktor-Stellvertreter, wenn er die Bedeutungslosigkeit des Dargebotenen unterstreicht: völlig „ unwichtig “ ist für ihn das Papier, das er auf den Schreibtisch zurücklegt und mit einem zerstreuten „ Danke, ich weiß schon alles “ 73 liquidiert. K. kann „ gerade noch genügend Fassung “ bewahren, wenn er sein „ freundliches aber starres Lächeln “ dem Fabrikaten zuwendet und sich „ ein wenig vorgebeugt mit beiden Händen auf den Schreibtisch “ stützt „ wie ein Kommis hinter dem Pult. “ 74 Im Unterschied zu K. allerdings weiß der Leser, dass ihm der Gestus K.s die Pantomime einer unmöglichen Aufgabe vorspielt: die Notwendigkeit nämlich, mit Hilfe der großen Eingabe nichts weniger als das ganze Leben zu rekapitulieren: „ weil in Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar ihren möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft werden mußte. “ 75 Doch im Gestus der großen Eingabe nimmt K. einmal probeweise - „ mitten drin “ im Verfahren - seine Rechtfertigung ganz auf sich und handelt so, als ob es für diesen einen Moment um alles ginge: „ Jetzt hingegen wenn er seine Verteidigung selbst führen würde, mußte er sich wenigstens für einen Augenblick ganz und gar dem Gericht aussetzen [. . .]. “ 76 In dieser totalen Exposition ans Gericht, die nur mimisch vorgeführt werden kann, kulminiert der erste Teil des Romansfragments. 72 Kadka, Der Proceß, cit., S. 174. 73 ebenda 74 Kafka, Der Proceß, cit., S. 175. 75 Kafka, Der Proceß, cit., S. 170. 76 Kafka, Der Proceß, cit., S. 176. 144 Gesten im Gericht: Der Proceß 5.4 Farce und Ende Kafka scheint die erste Phase des Schreibprozesses in diesem entscheidenden Moment abzubrechen, in dem die innere Logik des Verfahrens ihre volle pantomimische Evidenz gewinnt, so wie K. nimmt auch er selbst sich Urlaub vom Büro, um seine große Eingabe fertig zu stellen. Nach diesem ‚ Kurzschluss ‘ und Durchbruch ins Reale, der die Differenz zwischen dem Schreiben und der beschriebenen Handlung momentan zum Einsturz bringt 77 , arbeitet Kafka in der zweiten Arbeitsphase, nach dem Urlaub im Oktober 1914, gleichzeitig an mehreren Kapiteln, um seinen Proceß auf verschiedenen Ebenen dem vorgeschriebenen Ende anzunähern und dann spätestens im Januar 1915 die Arbeit abzubrechen. Im Kapitel Advokat. Industrieller. Maler, das in mehreren Arbeitsphasen entsteht 78 , bewegt sich Josef K. weiter im Helferkreis des Gerichts, er besucht den Advokaten und den Maler Titorelli, der als Spezialist im Kommerz mit Bildern gelten kann; mehrmals verkauft ihm dieser die „ völlig gleiche alte Heidelandschaft “ 79 , ein Zeichen für den Preis, den diejenigen bezahlen, die sich im Bann des Imaginären bewegen und so in der Falle des Gerichts bleiben, wo die kreisende Handlung in den Wiederholungszwang übergeht. K. Reaktion auf die stickige Luft im Zimmer des Malers ist ein Fluchtreflex, der ihn zurücktreibt in die Kanzleien des Gerichts. Im Fragment Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter, das gestrichen wurde, kehrt K. wieder in die Bank zurück, um seinen Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter mit neuer Widerstandskraft aufzunehmen. Er bringt nun ganz innovative Projekte vor im „ immer seltener werdenden Bewußtsein, daß er hier in der Bank noch etwas zu bedeuten habe und daß seine Gedanken die Kraft hatten, ihn zu rechtfertigen “ 80 , doch der Direktor scheint zunächst kaum zuzuhören: er macht sich an der geschnitzten Balustrade von K. Schreibtisch zu schaffen, die immer mehr seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, eine „ handwerksmäßige Arbeit “ , die bekanntlich besonders „ die geistig tätigen Menschen “ 81 in fanatischen Eifer bringen kann. Wiederum gewinnt die Handlung des Romans slapstickartige Elemente, wenn der Direktor ganz beflissen versucht, ein hochgezogenes Holzstück wieder in die Platte hinein zu drücken und sich schließlich resolut „ mit seinem ganzen Gewicht auf die Balustrade “ setzt, so dass eine Leiste bricht. „ Schlechtes Holz “ 82 dekretiert er zuletzt, kurz bevor das fragmentarische Kapitel abbricht, wahrscheinlich einer der letzten Sätze, die Kafka im Januar 1915 niederschreibt, ein Satz, der nichts zu bedeuten scheint 77 Kafka, Der Proceß. Apparatband, cit., S. 76. 78 Kafka, Der Proceß, Apparatband, cit., S. 75. 79 Kafka, Der Proceß, cit., S. 221. 80 Kafka, Der Proceß, cit., S. 343. 81 Kafka, Der Proceß, cit., S. 344. 82 Kafka, Der Proceß, cit., S. 345. 5.4 Farce und Ende 145 und der doch dem Leser eines klar macht, dass nämlich dem Leerlauf der verschleppten Handlung nur die völlige physische Erschöpfung ein Ende bereiten könnte. Die Forschung hat sich zum Großteil auf das vorletzte Kapitel Im Dom konzentriert, in dem es um die Interpretation, die Dekonstruktion und die Suspension der berühmten Parabel Vor dem Gesetz geht. In vielen Interpretationen fungiert die Legende als Schlüssel des Romans, auch insofern, als sie das Verfahren gleichsam allegorisch abdichtet; sie schließt die unendliche Spekulation über das Gesetz ab, indem sie gleichnishaft dessen reine Form vor Augen führt. Über diese Form von Kafkas Gesetz gab es - wie anfangs erwähnt - eine intensive Diskussion, die sowohl Literaturwie Kulturwissenschaftler als auch Juristen und Philosophen beschäftigte und die sich zum Teil auch auf die Exegese der Parabel im Romankapitel berufen konnte, in der von der notwendigen Täuschung über das Gesetz die Rede ist. Im Unterschied zu all den endlosen Diskussionen, in denen sich der Widerstand des Bewusstseins langsam erschöpft, kann die Weisheit der Gleichnisse vor allem eines klar machen, dass nämlich „ das Unfaßbare unfaßbar ist “ 83 , wie es in Kafkas Text Von den Gleichnissen heißt. Dem Gleichnis kann es mit anderen Worten gelingen, den Gegenstand der Spekulation zu verabschieden, wenn der Leser seinen Sinn ernst nimmt und ihn praktiziert: „ man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten “ 84 - so lauten dazu die viel zitierten Worte des Geistlichen. Eine strategische Funktion für das Ende des Romans kommt allerdings nicht nur der Parabel im Domkapitel zu, sondern auch dem Kapitel Kaufmann Block/ Kündigung des Advokaten, in dem auf der Ebene der gestischen Evidenz die Notwendigkeit eines Urteils herausgefordert wird. In diesem Kapitel, in dem sich die „ Korrekturhäufungen “ 85 verdichten, geht es um die demonstrative Vorführung des „ alten Klienten “ Block, der unermüdlich die Strategie des Aufschubs und der Verzögerung praktiziert und so „ zum Ende des Processes sich fortschleppen “ 86 will. Das Verhalten des Kaufmanns Block vor dem Advokaten wird für Joseph K. zum abstoßenden Spiegel, in dem er vor allem eines ablesen kann: den Skandal der unendlichen Entwürdigung des Angeklagten. Kafka inszeniert mit böser Detailgenauigkeit und schwarzem Humor die große Pantomime der Erniedrigung: groteske Kniefälle, kriecherische Bewegungen und peinliche Handküsse. Schrittweise führt diese Szene dem Leser auch vor Augen, wie in Kafkas Erzählen die ersehnte Auskunft über den Proceß ganz in den Gestus des Horchens und Lauschens zurückgenom- 83 Franz Kafka, Von den Gleichnissen, in: Kafka, Schriften und Fragmente II, cit., S. 532. 84 Kafka, Der Proceß, cit., S. 303. 85 Bei der Kündigung des Advokaten stockt das Schreibprojekt: vgl. zur Genese: Kafka, Der Proceß. Apparatband, cit., S. 115 und 123. 86 Kafka, Der Proceß, cit., S. 265. 146 Gesten im Gericht: Der Proceß men wird: Block „ zog die Augenbrauen hoch und neigte den Kopf, als horche er ob sich der Befehl zum Advokaten zu kommen, wiederholen würde “ , er „ trat auf den Fußspitzen ein, das Gesicht gespannt, die Hände auf dem Rücken verkrampft “ , „ er taumelte, blieb tief gebückt stehn “ , er „ hielt die Hände zum Schutze vor und war bereit wegzulaufen “ und „ lauschte nur, als sei der Anblick des Sprechers zu blendend, als daß er ihn ertragen könnte “ 87 . Die Blendung durch die Macht sowie die Phänomenologie der Ohnmacht, die dieser entspricht, artikuliert der Text bis in die feinsten Nuancen der Gebärdensprache durch. Doch Kafkas Klient scheint sich auch vor fremden und unbekannten Mächten zu beugen, denn die mimische Vorführung endet in der Dramaturgie eines pervertierten Gebets, in dem der Himmel längst mit den stickigen Dachböden des Gerichts eingetauscht wurde: Block horcht „ mit gesenktem Kopf “ ins Leere, „ als übertrete er durch dieses Horchen ein Gebot “ 88 , und wartet schließlich in dieser Stellung, als ob jetzt sein „ Endurteil käme. “ 89 Die vehemente moralische Entrüstung und die geistige Rebellion von K. angesichts dieser abstoßenden Pantomime der Unterwerfung sind entscheidend für die Kündigung des Advokaten: „ Das war kein Klient mehr, das war der Hund des Advokaten “ 90 . Dieser Ausruf des Protagonisten, der seiner Auflehnung gegen die Entmenschlichung Ausdruck verschafft, antizipiert direkt das Ende des Romans, das einer Sentenz gleichkommt: „‚ Wie ein Hund! ‘ sagte er, es war als sollte die Scham ihn überleben. “ 91 Die immanente Logik des Proceß-Romans fordert - so scheint es - erst in ihrer gestischen Evidenz das Urteil heraus. Die Scham, die im berühmten Schlusssatz des Romans überleben sollte, wird angesichts dieser Evidenz bei Kafka zur starken Gebärde, „ gesellschaftlich anspruchsvolle “ und zugleich „ intime Reaktion des Menschen “ . 92 Sie steht keineswegs im Zeichen der Schuld, wie oft behauptet wurde 93 , sie bezeugt vielmehr, jenseits von gut und böse, ein „ letztes Lebens- 87 Kafka, Der Proceß, cit., S. 259/ 260. 88 Kafka, der Proceß, cit., S. 264. 89 Kafka, Der Proceß, cit., S. 268. 90 Kafka, Der Proceß, cit., S. 265. 91 Kafka, Der Proceß, cit.,S. 312. 92 Benjamin, Franz Kafka, cit., S. 28. 93 Der Großteil der früheren Interpreten begründete die Scham, die Josef K. überleben sollte, als ein Zeichen der Schuld, auch wenn diese Schuld unbestimmt bleibt. Nach Martin Buber leugnet Josef. K. den „ ontischen Charakter der Schuld “ , der im „ stummen Schauder des Selbstseins “ den „ Abgrund der Sterblichkeit enthüllt “ (Martin Buber, Schuld und Schuldgefühle, Merkur XI, Heft 8 (1957), S. 705 - 729, hier: 720 und 724), banaler war meist von mangelnder Selbstbewährung die Rede, von der Unfähigkeit zum Selbstgericht, was letztlich auch meinen würde, sein Todesurteil nicht selbst vollziehen zu können (vgl. die zusammenfassende Diskussion der Interpretationen des Kapitels Ende bei Hans Helmut Hiebel, Die Zeichen des Gesetzes. Recht und Macht bei Franz Kafka, München 1983, S. 213) 5.4 Farce und Ende 147 gefühl “ 94 - wie es im Wortlaut der ersten Variante heißt. Ähnlich wie die „ große Scham “ des Zarathustra vor dem „ häßlichsten Menschen “ 95 , die im Unterschied zu Kafka noch das antike eidos des Menschen hochhalten wollte, behauptet sie ein letztes ethos, das die Diskurse der Schuld und der Rechtfertigung überlebt und Zeugnis ablegt für die Entstellung der menschlichen Gestalt. Benannt ist damit auch die Hoffnung, die sich nach Benjamin in Kafkas Gesten ausspricht, nämlich „ nicht von der Scham sich, sondern die Scham zu befreien “ 96 . Kafkas Werk wird in dieser Perspektive zum privilegierten Bezugspunkt der aktuellen Diskussion um die Scham, die als zentrale Denkfigur, als anthropologischer Indikator und kulturelles Dispositiv die Krisenprozesse der Moderne beleuchtet. 97 Das Kapitel Ende im Proceß gilt als einer der Höhepunkte von „ Kafkas Kunst der stummen Szene “ 98 , befreiend und beklemmend zugleich wirkt es auf den Leser als das Dokument einer extremen Form des Schreibens; diese will das, was sich den Worten entzieht, gewaltsam ergreifen. Mit Bezug auf eine Tagebuchnotiz Kafkas könnte man dieses Schreiben, das im Exzess der Gebärdensprache seine größte Intensität gewinnt, als ein „ Fuchteln mit den Armen “ 99 bezeichnen. Theodor W. Adorno spricht mit Bezug auf das Kapitel Ende im Proceß von einem stummen Schlachtgeschrei, das wirkt, als sei es „ expressionistischen Gemälden nachbuchstabiert “ . 100 Im „ Schlussakt “ 101 des Verfahrens ist K. bereit für die Exekution des Urteils und diese beginnt wie eine miserable Vorstellung: „ alte untergeordnete Schauspieler “ holen ihn zur Hinrichtung ab, wobei explizit der Verdacht ausgesprochen wird, es könne sich nur um ein schlechtes Theater handeln: 94 Kafka, Der Proceß. Apparatband, cit., S. 324. „‚ Wie ein Hund! ‘ sagte er, sein letztes Lebensgefühl war Scham “ . 95 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. IV, München 1980, das Kap. „ Der häßlichste Mensch “ , S. 327 - 332. 96 Giorgio Agamben, Idee der Prosa. Aus dem Italienischen von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle, München, Wien 1987, den Abschnitt. „ Idee der Scham “ , 63: „ Um dieser Aufgabe willen, um der Menschheit wenigstens die Scham zu erhalten, fand Kafka mitunter zu einer gleichsam antiken Freude zurück “ . 97 Vgl. die neueren Beiträge zu Kafka von Achim Geisenhanslüke, Der beschämte Held, und Lutz Ellrich, Diesseits der Scham, in: Textverkehr, cit., S. 223 - 242 und S. 243 - 272. Vgl. auch: Isolde Schiffermüller, Gebärden der Scham, in: Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne, hrsg. von Isolde Schiffermüller, Bozen, Innsbruck, Wien 2001, S. 232 - 261. 98 Allemann., Zeit und Geschichte, cit., S. 57. 99 Kafka, Tagebücher, cit., S. 180, 279. 100 Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, cit., S. 331. 101 Vgl. Claudia Liebrand, „ Theater im Proceß. Dramaturgisches zu Kafkas Romanfragment “ , GRM 48 (1998), H.2, S. 201 - 217. Liebrand liest den „ Schlußakt “ als eine „ das genre Trauerspiel persiflierende und travestierende Tragödienszene [. . .] die auch - nicht selten chaplineske - Anleihen bei Stummfilm und Pantomime nimmt “ (S. 217). 148 Gesten im Gericht: Der Proceß „‚ An welchem Teater spielen Sie ‘ . ‚ Teater? ‘ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere geberdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigen Organismus kämpft. “ 102 Gerade der Verdacht der Theatralität bewirkt paradoxerweise den tödlichen Ernst der Szene, indem er dieser die theatralische Wirkung versagt. K.s forcierte Einwilligung ins Zeremoniell seiner Hinrichtung stellt sich so keineswegs als fiction dar, sondern spielt sich ganz in der handfesten Sprache der „ halbstummen, verständnislosen Herren “ ab: Gleich aber vor dem Tor hängten sie sich in ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen, knickten die Arme nicht ein, sondern benützten sie, um K. ’ s Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen, unten erfaßten sie K. ’ s Hände mit einem schulmäßigen, eingeübten, unwiderstehlichen Griff. K. gieng straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, daß wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann. 103 Der unwiderstehliche Griff der Wächter und der erzwungene Synchronismus der Schritte scheint der „ straff gestreckten “ Figur von K. nun jede Bewegungsfreiheit zu nehmen; und doch kann es das indifferente Einvernehmen, das die starre Einheit der Figuren suggeriert, nicht geben, solange der Angeklagte noch am Leben ist: auch in „ vollem Einverständnis “ mit seinen Wächtern, die ihrerseits jeder „ kleinen Bewegung, die K. machte “ folgen, fühlt sich K. nur „ beschämt durch ihre Bereitwilligkeit. “ 104 Diesen inneren Widerstand in der Logik des Proceß-Romans, den die Scham als „ letztes Lebenszeichen “ bezeugt, hat Kafka in einer Tagebuchstelle auch anders bezeichnet: „ Arme Dialektik. (Bin ich verurteilt, so bin ich nicht nur verurteilt zum Ende, sondern auch verurteilt, mich bis ins Ende hinein zu wehren) “ . 105 Das abstoßende Spektakel im Kapitel Ende führt schließlich auf grelle Weise vor Augen, dass die Exekution nur ein falsches Ende sein kann, nichts als die Groteske eines Urteils. Während sich die Herren mit „ widerlichen Höflichkeiten “ über K. hinweg das Messer reichen, kann sich dieser auch in der extremen Geste des Selbstmords nicht bewähren: „ er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. “ 106 Das mondhelle Bewusstsein, das die Hinrichtung im Steinbruch beleuchtet, gibt der Szene ihre überscharfe Evidenz. Die Reflexe eines Lichts, die nun die Nachtseite des Verfahrens in klaren Konturen hervortreten lassen, gehen aus der Überblendung unterschiedlicher Szenarien hervor: der Tötung eines Tiers, der Szene eines Selbst- 102 Kafka, Der Proceß, cit., S. 306. 103 Kafka, Der Proceß, cit., S. 306. 104 Kafka, Der Proceß, cit., S. 308/ 309. 105 Kafka, Tagebücher, cit., S. 798 (Aufzeichnung vom Juli 1916). 106 Kafka, Der Proceß, cit., S. 311. 5.4 Farce und Ende 149 mords und der rituellen Opferhandlung. Das ekelhafte Zeremoniell der Hinrichtung, in der die fetten Herren als verdeckte Helferfiguren auftreten, mag als ein Glanzstück von Kafkas „ Messerpoetik “ 107 gelten, die die Literatur als „ Öffnung des Leibes “ 108 zelebriert und die kalte und blutlose Aufnahme des Schwerts in die Seele imaginiert, um das erlösende Wort hervorzubringen. Wenn allerdings bis zuletzt, „ trotz alles Entgegenkommens “ , die Haltung von Josef K. nur eine „ sehr gezwungene und unglaubwürdige “ bleiben kann, so wird in diesen Gebärden auch die tödliche Logik der evozierten Szenarien dementiert. Der Akzent liegt am Ende keineswegs auf der Opferhandlung, vielmehr auf der eigenartigen Drehung und Wendung, die die Haltung von K. kennzeichnet: eine unnatürliche, erzwungene und forcierte Haltung, die dem Romanfragment das Siegel der Entstellung aufdrückt. 109 Was K.s merkwürdig verdrehte Haltung dem Leser jedoch am Ende des Romans noch eröffnen kann, ist ein letzter Blick, der aus der Perspektive des Protagonisten auf eine ferne und unbekannte menschliche Figur fällt: „ Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch schwach und dünn in der Ferne und Höhe beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer der teilnahm? Einer der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? “ 110 Nur die Silhouette eines Menschen, die unmotiviert wie ein Lichtstrahl aufzuckt, scheint Einspruch einzulegen ins Verfahren und kann im Proceß die so genannten letzten Fragen auslösen. Sie alle kreisen um einen Satz, der ihren Kern bündig zusammenfasst: „ Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen der leben will, widersteht sie nicht. “ 111 Dieser Mensch, der leben will, zeigt sich nur noch im Gestischen, wie ein letzter Appell, auf den K. die entsprechende Antwort gibt: „ Wo war der Richter den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger “ . 112 Es ist dies der Moment der maximalen Identifikation des Erzählers mit seiner Figur, in dem - wie sich an den Varianten ablesen lässt - die dritte Person in die Ich-Form übergehen kann: 107 Winfried Menningshaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.1999, Kap. VII, S. 442 - 450. 108 Kafka, Tagebücher, cit., S. 461 (Aufzeichnung vom 23. September 1912). 109 In diesem Sinn wurde sie auch als eigentlicher Schlusspunkt des Romans gelesen bei: Roberto Calasso, K., Mailand 2003, S. 255. Oft wurde die Differenz zwischen dem Ende von Joseph K. und dem ekstatischem Opfertod nur negativ gedeutet, etwa bei Sokel, der K. schamvolles Ende vergleicht mit dem schönen ekstatischen Opfertod im Prosastück Ein Traum: Walter H. Sokel, Franz Kafka. Tragik und Ironie, Frankfurt a. M. 1976; das Kap. „ Traum und Scham “ , S. 315 - 332. 110 Kafka, Der Proceß, cit., S. 312. 111 ebenda 112 ebenda 150 Gesten im Gericht: Der Proceß „ Wo ist der Richter [. . .] Ich habe zu reden! Ich hebe die Hand. “ 113 In K.s extremer Geste, die die letzten Fragen fortsetzt und gleichzeitig auf sie zu antworten scheint, verdichten sich - wie in einer figurativen Chiffre - die Aporien der Rechtfertigung, die K. durchexerziert hat bis zur Exekution. Wenn K. die Hände zum Himmel hebt, so sind alle Finger gespreizt wie in uralten Gebärden des Gebets, kein Zeigefinger richtet sich auf eine transzendente Instanz. Noch einmal bricht hier die vertikale Spannung der Figur auf, über der schon das Messer der Exekution schwebt, eine Spannung, die Kafka ganz ins Gestische zurücknimmt. Auch die letzte „ Entscheidung “ , die dann „ nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt “ 114 beobachten, hat nichts von einem Urteil, sie ist nichts als bedeutungsleere Exposition des Sterbens an einen kalten und zu nahen Blick, Verletzung einer Intimität, der ihr Existenzrecht entzogen wurde. Wie die „ großartige Gebärdensprache “ 115 des Schlusskapitels vor Augen führt, kann K. nur mehr grell und pathetisch seinen Anspruch auf ein gerechtfertigtes Leben gestikulieren und seinen Einspruch äußern gegen die Normalisierung des Ausnahmezustands, in dem die Gesetzesmaschine leer läuft und den Angeklagten exekutiert. K.s Geste liest sich wie ein verzweifeltes Fuchteln in einer Sprache, der ihr Sinn entzogen wurde, die aber noch einmal wie im Stummfilm ihr ganzes mimisches Potential mobilisiert. Das Schlusskapitel im Proceß legt damit auch ein Restphänomen der Sprache frei, das aus dem Diskurs über Recht, Gesetz und Urteil herausgefiltert wurde, eine ‚ befreite ‘ Gebärde, die sich als ein letzter Appell und als stumme Apostrophe an den Leser richtet. Nur mehr im mimischen Fundus der Sprache scheint sich im Proceß das Gedächtnis eines Gerichts zu überliefern, wie ein Sediment aus alten Zeiten, das sich in der Legitimationskrise der Moderne in eine enorme semantische Latenz zurückgezogen hat, mit unabsehbaren religiösen, juridischen, moralischen und biopolitischen Konnotationen, die in der gestischen Entstellung nichts anderes als ihr Verstummen und ihre groteske Verzerrung bloßlegen. 113 Kafka, Der Proceß. Apparatband, cit., S. 324. 114 Kafka, Der Proceß, cit., S. 312. 115 Allemann, Zeit und Geschichte, cit., S. 55. 5.4 Farce und Ende 151 Kapitel 6 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt 6.1 Zirkusszenen: Auf der Galerie Schon Theodor W. Adorno hat darauf hingewiesen, dass viele Szenen in Kafkas Werk der Zirkussphäre entstammen, „ zu der Kafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte. “ 1 Die Artisten aus Zirkus und Variété figurieren bei Kafka als Vertreter einer Kunst, in der der Künstler Körper und Leben aufs Spiel setzt. Abhängig sind sie alle vom Beifall des Publikums: der Hungerkünstler, der seine Erfüllung in der Selbstaufzehrung findet und dabei doch immer dem Verdacht der Scharlatanerie ausgesetzt bleibt, der Trapezkünstler in Ein erstes Leid, der zwischen Leben und Tod schwebt und sich hoch oben in den Kuppeln der Varietébühnen auf einer einzigen Stange in der Schwebe und am Leben hält, oder der Affe Rotpeter im Bericht an eine Akademie, der im Variété einen Ausweg findet aus dem Tierkäfig. Sie alle teilen mit den Tieren den Akt der Dressur, der ihren Körper zum artistischen Instrument macht, sie alle experimentieren mit der Grenze ihrer physischen Möglichkeiten die Größe und Fragwürdigkeit einer Kunst, für die das ganze Leben als Einsatz dient. 2 Kafkas Körperkunst, die Peter Sloterdijk zynisch als „ Schwäche- und Mangelakrobatik “ 3 bezeichnet hat, beerbt und verinnerlicht Nietzsches asketische und anthropotechnische Kunststücke, ohne deren heroisches Pathos zu übernehmen. Welche Rolle in diesem Kontext den Gebärden zukommt, kann beispielhaft das Prosastück Auf der Galerie zeigen. Das vielfach gedeutete und sprachlich analysierte Prosastück 4 , das in der Forschung meist als Parabel definiert wird, entfaltet die Kafkasche Zirkus- 1 Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1955, S. 302 - 342, hier: S. 314: „ Vorgestrig grelle Tableaux, der Zirkussphäre entstammend, zu der Kafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte, sind vielfach in sein Werk eingelassen “ . 2 Vgl. Walter Bauer, Wabnegg, Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk. Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik, Erlangen 1986 und Gerhard Neumann, Hungerkünstler und Menschenfresser. Zum Verhältnis von Kunst und kulturellem Ritual im Werk Franz Kafkas, in: Franz Kafka. Schriftverkehr, hrsg. v. Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Freiburg 1990, S. 399 - 432. 3 Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, S. 106. 4 Vgl. Peter W. Beicken, Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung, Frankfurt a. M. 1974, S. 302 - 306 und die neuere Bibliografie bei: Roger Hermes, Auf der Galerie, in: Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Interpretationen, hrsg. v. Michael Müller, Stuttgart, 2. Aufl., 2003, S. 232. szene in zwei komplexen Satzgefügen, die scheinbar antithetisch aufeinander bezogen sind: zweimal wird dieselbe Zirkusnummer inszeniert, nämlich das Glanzstück einer Kunstreiterin, doch völlig verschieden stellt sich dessen Wirkung dar. Das erste Mal wird der Kunstritt als grausamer und qualvoller Dressurakt unter der Peitsche eines unerbittlichen Zirkusdirektors vorgestellt, das zweite Mal erscheint er dagegen als ein Triumph der Kunstreiterin, die sich im begeisterten Beifall des Publikums glücklich über den Staub der Zirkusarena erhebt. In Kafkas Prosa, die die Architektur der Zirkuskuppel und das Schauspiel der Gaukler und Akrobaten studiert 5 , kann der Kunstritt als ein wiederkehrendes Gleichnis für den Schreibprozess gelten, für die Macht und Ohnmacht der schöpferischen Kräfte, die dabei am Werk sind, für den Balanceakt von Selbstzügelung und Freilassung der Kreativität. In einer produktionsästhetischen Perspektive wurde das Prosastück Auf der Galerie deshalb auch als autoreflexive Parabel auf „ Kafkas literarisches Schaffen und seine Existenz als Schriftsteller “ 6 gelesen, eine Parabel, in der Qual und Erlösung der Kunstproduktion inszeniert werden und in der der Zirkusdirektor, als Herr über die brillante Inszenierung, den Schriftsteller vertritt. Im Zirkusdirektor - so geht auch aus einer Tagebuchaufzeichnung hervor - sieht Kafka die Rolle des erzählenden Künstlers verkörpert, der seine Geschichten wie Zirkuspferde vor sich aufstellt: „ Nun stehen vor mir 4 oder 5 Geschichten aufgerichtet wie die Pferde vor dem Cirkusdirektor Schumann bei Beginn der Produktion. “ 7 Peter Utz hat Kafkas Prosastück Auf der Galerie 8 mit den literarischen Zirkusbildern der Epoche konfrontiert. Er konnte die vielfältigen Anklänge an den rhetorischen Gestus der Prosastücke von Robert Walser nachweisen, in denen es um die Zwänge und um das Glück des Schreibens und des Medienzirkus geht, auffällig sind auch die inhaltlichen wie formalen Affinitäten zu einem Text wie Frank Wedekinds Zirkusgedanken (1878), der der Zirkusbegeisterung der Epoche Ausdruck verleiht, wie sie auch in der Malerei jener Zeit bezeugt wird, in Seurats Bild Der Zirkus (1891) etwa oder in den Gauklerbildern von Pablo Picasso. Wedekinds Prosastück beginnt mit der Eröffnung einer spektakulären Zirkusnummer: „ Wenn der volle Glanz von tausend flimmernden Lichtern in die Arena fällt [. . .] “ 9 ; der Leser wird in den dynamischen Wirbel der Aufführung hineingezogen, in den unbändigen 5 Vgl. Galili Shahar, Der Erzähler auf der Galerie. Franz Kafka und die dramatische Figur, in: „ Weimarer Beiträge “ 49, Heft 4 (2003), S. 517 - 533. 6 Hermes, Auf der Galerie, cit., S. 227. 7 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 718 (Aufzeichnung vom Januar 1915). 8 Peter Utz, In der Arena der Anklänge. Kafkas „ Auf der Galerie “ , in: Franz Kafka. Ein Landarzt. Interpretationen, hrsg. v. Elmar Locher und Isolde Schiffermüller, Innsbruck, München, Wien, Bozen 2004, S. 43 - 57. 9 Frank Wedekind, Werke, hrsg. v. Erhard Weidl, München 1990, Bd. 1, S. 355. 6.1 Zirkusszenen: Auf der Galerie 153 Galopp eleganter Zirkuspferde, die vor einem buntfarbigen Publikum reiten. Nach einem Gedankenstrich wird schließlich auch die gedankliche Konsequenz aus der glanzvollen Vorführung gezogen: „- wer wäre da Philosoph, Schulmeister oder Teesieder, kurz, wer wäre Bärenhäuter genug, daß nicht auch ihm ein solcher Anblick die Pulse beschleunigte, das Blut in die Wangen jagte und Gefühle und Gedanken im allgemeinen Wirbel mitrisse. “ 10 Euphorisch bestätigt Wedekinds Zirkusgedanken das Pathos des Zirkusspektakels, das die Sprache in einer atemberaubenden konditionalen Satzkurve wiedergibt. Kafkas Text dagegen, der ganz ähnlich konstruiert ist wie der von Wedekind, stellt dem Leser in der hypothetischer Form des ersten Teils zunächst einmal das Negativbild solch mitreißender Inszenierung vor Augen: Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankenden Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind - vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters. 11 Der Wirbel des Zirkusspektakels, den der beschleunigte und atemlose Rhythmus des Konditionalsatzes abbildet, zeigt sich bei Kafka als Theater der Grausamkeit, ein endloses qualvolles Spiel, das sich immerfort im Kreis dreht und einem tödlichen Wiederholungszwang unterliegt, in dem sich das Leben aufzehrt und verausgabt für das Spektakel der Kunst. Der unerbittliche Dressurakt des Peitsche schwingenden Direktors unterwirft die Figur der Artistin erbarmungslos der mechanischen Dynamik des Spiels, entmenschlicht und ohne individuelles Gesicht wird sie zum lungensüchtigen Körper, zum getriebenen und gehetzten Opfer eines Zwangsmechanismus, dessen Motor der Beifall des Publikums ist. Der Aussagemodus des Konditionalsatzes macht dieses Spektakel allerdings zu einer irrealen gedanklichen Hypothese, die ihren Fluchtpunkt in einer äußerst unwahrscheinlichen Reaktion des Zuschauers findet. Ein junger Galeriebesucher würde sich von hoch oben in die Arena hinunterstürzen, um dem grausamen Spektakel Einhalt zu gebieten, er würde so die ästhetische Distanz des Zuschauers durchbrechen und die Hierarchie des Theaterraums 10 Ebenda. 11 Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 262. 154 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt zum Einsturz bringen, in der sich das Oben und Unten der gesellschaftlichen Ordnung spiegelverkehrt abbildet. Denn unerträglich wird das Spiel, so schreibt Kafka in sein Tagebuch, wenn „ ein Schauspieler, der nach Vorschrift einen andern zu prügeln hat, in der Erregung, im übergroßen Anlauf der Sinne, wirklich prügelt und der andere vor Schmerzen schreit “ , und weiter: „ dann muß der Zuschauer Mensch werden und sich ins Mittel legen. “ 12 Der starke innere Nachahmungstrieb, über den Kafka in dieser Tagebuchaufzeichnung reflektiert, wird zu mächtig, wenn das Spiel in Wirklichkeit übergeht und das Leid über das ästhetische Mitleid siegt. Solch einen hypothetischen Sieg des Leidens hatte ganz ähnlich schon Friedrich Schiller im Rahmen seiner Reflexionen Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie in Erwägung gezogen: „ Wenn die Schläge, womit die Tragödie unser Herz trifft, ohne Unterbrechung aufeinander folgten, so würde das Leiden über die Tätigkeit siegen. Wir würden uns mit dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben. “ 13 Was Schiller hier als ungehörige Vermengung mit dem Stofflichen beschreibt, formuliert Kafka als Imperativ der Menschwerdung angesichts eines unmenschlichen Spiels. Von jugendlicher Kraft ist bei Kafka dann auch die Geste der Empörung, mit der der Galeriebesucher die ästhetische Distanz durchbricht und sein Halt! ausruft, um so eine Zäsur zu setzen im grausamen Wiederholungsspiel. Das „ vielleicht “ allerdings, das der Reaktion des Galeriebesuchers voran steht, betont den rein hypothetischen Charakter dieser Geste, Konsequenz eines bloßen Gedankenspiels des Erzählers, in dem die Kunst als quälerische Szenerie entfaltet wurde. Der zweite Teil des Prosastücks setzt ein mit einem expliziten „ Da es aber nicht so ist “ , eine ausdrückliche Verneinung der rein spekulativen Hypothese des ersten Teils, die nun das grausame Spiel zum irrealen Negativbild macht, zum grauen und spektralen Hintergrund, von dem sich die wahre Aktualität der glanzvollen Inszenierung abhebt: Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Saltomortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es 12 Kafka, Tagebücher, cit., S. 330. 13 Friedrich Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, in: ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke und Handschriften. Textredaktion Jost Perfahl, Bd. II Dramen II, Dramenfragmente, München 1968, S. 245 - 253, hier: S. 252. 6.1 Zirkusszenen: Auf der Galerie 155 möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelegtem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will - [. . .]. 14 Affirmativ ist der Indikativ Präsens dieses zweiten Abschnitts, der die mächtige Gegenwart des Schauspiels wiedergibt, die zeitlich skandierte empirische Evidenz der Inszenierung, die die schönen Farben und sinnlichen Eigenschaften der Figuren ins Blickfeld bringt. Wahr, evident und einzigartig an der Kunst ist nicht das Leben, das sich aufzehrt und verausgabt, sondern der Triumph und das Glück, das die Artistin nach ihrem Saltomortale mit dem ganzen Zirkus teilen will, ein Pathos der Kunst, das sich in Kafkas Text in den Haltungen und Gesten der Huldigung, der Selbstüberwindung und der Erlösung mitteilt. Die kritische Diskussion von Kafkas Prosastück Auf der Galerie hat sich vor allem auf das Verhältnis zwischen den beiden Hälften der Parabel konzentriert, in denen zuerst das Elend und dann der Triumph der Kunstübung inszeniert wird. Der Bezug zwischen den beiden Teilen lässt sich nicht auf semantische Oppositionen fixieren, wie sie in den Interpretationen immer wieder genannt werden: Wirklichkeit und Illusion, Elend und Glück, Qual und Triumph. 15 Kafkas Text, der die Mortifizierung wie auch die Glorifizierung der Kunstreiterin vorführt, bringt die antithetische Struktur der beiden Teile in Bewegung; er weist damit auch hinaus über die Diskrepanz von Sein und Schein, von eitler Illusion und grausamer Wirklichkeit, die vielen Lektüren zugrunde liegt, in denen die Fragwürdigkeit der glanzvollen Scheinwelt der Kunst in den Vordergrund gestellt wird. 16 Macht und Ohnmacht der Kunst stehen sich nicht starr gegenüber, sie verschränken sich vielmehr ineinander und sind dynamisch aufeinander bezogen. Der zweite Teil von Kafkas Text stellt daher nicht allein die Negation, sondern auch eine Variation und Steigerung des ersten dar, die irreale Hypothese dient als Negativbild und zugleich auch als Vorgabe und Folie für die potenzierte Wirklichkeit der künstlerischen Inszenierung, auf die der Text hindrängt. Nachdem Kafka die Realität des grausamen Spiels ins Irreale versetzt und negiert hat, zeigt sich die Scheinwelt der Kunst als gegenwärtige, evidente und gesteigerte Wirklichkeit. Diese potenzierte Wirklichkeit der Kunst, die Kafkas Text im zweiten Abschnitt in Szene setzt, wird explizit durch einen demonstrativen Gestus eingerahmt: Auf das einleitende „ Da es aber nicht so ist “ , das aus der Negation des ersten Abschnitts hervorgeht, folgt am Schluss des zweiten Teils nach 14 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 262/ 263. 15 Vgl. Beicken, Franz Kafka, cit, S. 302 - 306. 16 So etwa Edgar Neis, Die Parabel, Hollfeld/ Ofr. 1981, S. 59 - 65, hier: S. 61. 156 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt einem Gedankenstrich das „- da dies so ist “ 17 , die explizite Bestätigung der sinnlichen Evidenz, die für den Erzähler jetzt zur Gewissheit wird. Theodor W. Adorno hat auf die Potenz dieses zeigenden Gestus bei Kafka hingewiesen, der die semiotische und ästhetische Distanz einzieht und nichts anderes aussagt als ein „ so ist es! “ , das nicht mehr be- und gedeutet, sondern vorgeführt wird. 18 Der demonstrative Gestus von Kafkas Prosa versetzt aber die mimetische Gewalt des Schauspiels in eine epische Distanz, in der sie zum Gegenstand der Betrachtung wird. Qual und Triumph des artistischen Spiels teilen sich so im Medium einer unpersönlichen und nüchternen Erzählerstimme mit. Der Erzähler überblickt dabei zwar den gesamten Raum der Zirkuskuppel, das Spektakel und das Publikum, die innere Fokalisierung des Textes bleibt jedoch klar auf die Perspektive des Galeriebesuchers und auf seine Reaktion bezogen. Diese perspektivische Ausrichtung des Spiels 19 unterstreicht auch der Titel Auf der Galerie, den Kafka, im Unterschied zu dem vieler anderer Prosastücke, selbst gesetzt hat. Kafkas Erzähler identifiziert sich allerdings nicht mit der Perspektive der Figur, er betrachtet sie vielmehr - zusammen mit dem gesamten Theaterraum - von außen. Diese eigenartig gebrochene Erzählhaltung, zugleich teilnahmslos und partizipativ 20 , zugleich kühl und leidenschaftlich, logisch klar und suggestibel, zugleich reflexiv und von sinnlicher Evidenz, findet ihr spezifisches Ausdrucksmedium in den Gesten. Bezeichnend ist, dass sowohl der erste wie auch der zweite Teil des Prosastücks mit einer Reaktion des Galeriebesuchers enden, die sich gestisch äußert: das erste Mal ist es eine Gebärde der Empörung, die dem grausamen Spiel Einhalt gebieten soll, das zweite Mal ist es eine Geste, die der Erzähler mit logischer Konsequenz aus der Evidenz des Schauspiels ableitet: „- da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen “ . 21 Die Gebärde des Galeriebesuchers, die das Prosastück Auf der Galerie gleich dem Fazit einer Reflexion abschließt, wird zum Medium einer prosaisch gebrochenen Partizipation am Pathos des Schauspiels: einerseits stellt sie sich als das Ergebnis der Betrachtung eines unpersönlichen Erzählers dar, andererseits ist sie Pathosfigur, die der distanzierte Erzähler von außen darstellt. Er zeigt damit auf eine Wirkung des Schauspiels, die nicht ausgesagt, nur gestisch bedeutet werden kann. Dieses Mal bleibt der junge Galeriebesucher oben auf der Galerie an seinem Ort als Zuschauer und respektiert damit den Raum des Theaters und des artistischen Spiels. Wenn er aber „ das Gesicht auf die 17 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 263. 18 Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, cit., S. 255. 19 Beicken, Franz Kafka, cit., S. 303. 20 Vgl. Joseph Vogl, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 77 f. 21 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 263. 6.1 Zirkusszenen: Auf der Galerie 157 Brüstung “ legt, so verdunkelt er die visuelle Distanz zum Schauspiel, dem er als Zuschauer beiwohnt. Die Musik, der er sich hingibt, wirkt bei Kafka nicht als dionysischer Rausch, sie wird nur gestisch angedeutet in einer traumhaften Gebärde: als Abwendung vom glanzvollen Schein des Schauspiels und als Wendung des Blicks ins Dunkel. Mit einer ähnlichen Gebärde beschließt Kafka übrigens auch eine Tagebuchnotiz, in der er einen langen Traum vom Theater aufzeichnet. Diese Notiz beginnt ebenfalls mit einem eigentümlichen Demonstrativpronomen: „ 19 XI II So. Traum: Im Theater. “ 22 Der Traum handelt von einer verwirrenden Vorstellung, in der die Bühne und der Zuschauerraum in Bewegung und in Unordnung geraten. Verschiedene Zuschauer, die auf den tieferen Bühnenraum hinabschauen, „ das Kinn auf der Rückenlehne “ , steigen dann auf die Bühne hinunter, wo sie als Schauspieler erwartet werden, während ein Sänger noch „ die Gallerie oben entlang läuft (zur Bühne) “ . 23 Das Traum-Ich, das sich mitten im Gedränge des Theaters befindet, identifiziert sich schließlich mit einem Herrn in der dunklen Masse der Zuschauer: „ Ich verwechsle mich mit ihm und neige das Gesicht ins Schwarze. “ 24 Wenn Kafkas Galeriebesucher auf ähnliche Weise das Gesicht auf die Brüstung legt, so verschließt und verinnerlicht diese Geste das Pathos des Schauspiels: sie stellt sich in diesem Sinn weniger als Ausdrucksform innerer Ergriffenheit und Rührung dar, vielmehr als Figur einer Intensivierung, die auf jede Rhetorik der Affekte verzichtet, sei es die dionysische Begeisterung, die tragische Katharsis oder das Pathos der Distanz und der heroischen Selbstbehauptung. Wie im Traum berührt und wie im Schlaf bewegt weint der Zuschauer in Kafkas Zirkus-Arena „ ohne es zu wissen “ . Dieses rein gestische unbewusste Weinen, das für Kafkas Figuren typisch ist, wirkt wie ein Appell an die Sensibilität des Lesers, wie eine offene Frage, die auf ein verschlossenes Pathos zeigt, das in prosaische Distanz gerückt und so zum Gegenstand des Studiums wird. Wie hat die Forschung auf den Appell dieser Gebärde geantwortet? An den Interpretationen von Kafkas Prosastück zeigt sich vor allem die Verstörung der Leser angesichts einer Geste, die als „ völlig unerwartet “ 25 und „ irritierend “ 26 bezeichnet wurde. Erstaunlicherweise sind sich die Interpreten beinahe einig in der negativen Bewertung der Reaktion des Galeriebesuchers. Sie sehen darin ein Moment der Desillusion, der Trauer und der Melancholie oder der blinden Mimikry ans grausame Spiel, meist wird ein „ resignierender Gestus “ 27 festgestellt, in dem sich die Unfähigkeit zu „ sinnvollem Handeln “ 28 , ja die 22 Kafka, Tagebücher, cit., S. 253. 23 Kafka, Tagebücher, cit., S. 255/ 256. 24 Kafka, Tagebücher, cit., S. 258. 25 Neis, Die Parabel, cit., S. 63. 26 Hermes, Auf der Galerie, cit., S. 224. 27 Beicken, Franz Kafka, cit., S. 304. 28 Helmut Richter, Franz Kafka. Werk und Entwurf, Berlin 1962, S. 137. 158 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt „ Verzweiflung am Menschen “ 29 ausdrücke, die ihre Erklärung nur im ersten Teil des Textes finden könne. In differenzierterer Sicht erscheint die Gebärde des jungen Galieriebesuchers dann ambivalenter, sie wird beispielsweise als „ emotionaler Reflex auf die dumpfe Ahnung “ verstanden, „ dass beide geschilderten Szenarien gleichberechtigt nebeneinander stehen “ 30 und dass am Höhepunkt des Glücks der Schmerz wieder aufbricht in den unbewussten Tränen. Zwiespältig bleibt der Glanz des Schauspiels sicherlich insofern, als sich Qual und Triumph, Glück und Leiden der Kunstübung in keinem tertium comparationis 31 vermitteln; im Medium eines komplexen und mehrschichtigen Sehens und eines figurativen artistischen Denkens verschränken sie sich und halten sich in der Schwebe. Die unauflösbar ambivalente Erfahrung des Schauspiels hat Kafka auch im zitierten Traum vom Theater thematisiert. In diesem Traum tritt unter vielen anderen Figuren der mit Kafka befreundete Schauspieler Isaak Löwy auf, der „ aufgeregte Reden “ hält, in denen „ das Wort ‚ principium ‘ sich wiederholt, „ ich erwarte “ - so schreibt Kafka - „ immerfort das Wort ‚ tertium comparationis ‘ , es kommt aber nicht. “ 32 Kafkas Traum demonstriert ebenso wie das Prosastück Auf der Galerie, dass es im Raum des Theaters nicht um die dialektische Vermittlung gedanklicher Hypothesen geht; an deren Stelle tritt das Pathos einer Geste, die das Spiel der Kräfte in sich aufnimmt und wie ein Geheimnis in sich verschließt. Die Pathosfigur, die Kafkas Prosa kennzeichnet, weiß von der Grausamkeit der Körperkunst, sie stellt dieses Wissen jedoch in den Schutz eines schweren Traums, um so die Macht des Schauspiels zu bezeichnen. Dass dessen Wirkung keiner melancholischem Depotenzierung, sondern einer Steigerung der Kräfte gleichkommt, bestätigt Kafka in einem Brief an Grete Bloch, in dem er vom Weinen in der Oper spricht: „ Sie spüren kein Nachlassen der Kräfte, so dürfen Sie das nicht ausdrücken, es gibt eben eine Müdigkeit der Jugend, die das Alter zum Ersatz alles sonstigen nicht mehr kennt. Es ist kein Nachlassen der Kräfte, wenn man oben in der Gallerie der Oper weint, glauben Sie das nicht “ . 33 Die Kunst, die zu Tränen rührt, ist für Kafka zweifellos Steigerung der Erkenntnis und Potenzierung der Kräfte, ganz im Sinn von Nietzsches fiktiver Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch Über das Pathos der Wahrheit, auf die der Text Auf der Galerie zu antworten scheint. 34 Bei Nietzsche erzählt ein 29 Vgl. Die Diskussion bei Roger Hermes, Auf der Galerie, cit., S. 225 f. 30 Roger Hermes, Auf der Galerie, cit., S. 230. 31 Joseph Vogl (Ort der Gewalt, cit., S. 108 f) spricht von einem negativen terium comparationis, das die beiden Texthälften verbindet. 32 Kafka, Tagebücher, cit., S. 254. 33 Franz Kafka, Brief vom 14. 11. 1914 an Grete Bloch, in: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hrsg. v. Erich Heller und Jürgen Born. Mit einer Einleitung von Erich Heller, Franfurt a. M. 1967, S. 502. 34 Zu Kafka und Nietzsche vgl.: Gerhard Kurz, Traumschrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 35 f. 6.1 Zirkusszenen: Auf der Galerie 159 „ gefühlloser Dämon “ die Geschichte vom verzweifelten Los der „ klugen Tiere “ , die das „ Erkennen erfanden “ , die die Wahrheit aber in die Vernichtung treibt und denen deshalb nur der Glaube an die Illusion bleibt. Auch vom Allernächsten, nämlich dem eigenen Leib, besitze der Mensch nur ein „ glauklerisches “ Bewusstsein, das dem „ Erbarmungslosen und Mörderischen “ aufruht, „ gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend “ . Der Philosoph, der den Träumenden zu wecken sucht, versinkt nach Nietzsche nur in einen noch tieferen magischen Schlummer, allein „ die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur - die Vernichtung. “ 35 Wie bei Nietzsche bekennt sich auch bei Kafka die Kunst zu ihrem Schein. Kafkas Prosastück Auf der Galerie zeigt demgemäß, wie sich das Pathos der Wahrheit in der Kunst darstellt, wie sich die gesteigerte Wirklichkeit des Kunstritts von der grauen und irrealen Erkenntnis abhebt und wie der Körper vom Triumph des Schauspiels berührt wird. Ein Stück blindes Leben, das sich im Spektakel der Zirkusarena körperlich ausstellt und aufs Spiel setzt, wird so den Fesseln der Getriebenheit wie auch dem ästhetischen Schein und der Repräsentation entrissen. Im Unterschied zu Frank Wedekinds Zirkusgedanken, wo die Begeisterung für den Zirkus ungebrochen zum Ausdruck kommt und die enthusiastische Rhetorik dem schulmeisterlichen Philosophieren gegenüber gestellt wird, wird das Pathos des Schauspiels in Kafkas Prosa zum Moment eines nüchternen Studiums. Die Gesten und Pathosfiguren der Zirkusszene, die aus der Desillusion des schönen Scheins hervorgehen, eröffnen im Medium dieser Prosa nicht so sehr den Blick in den tragischen Abgrund der Kunst, sie stehen vielmehr für die Versenkung in die Tiefe eines schweren Traums, in dem die Schwelle von Kunst und Leben berührt werden kann. 6.2 Die Pantomime alter Weisung: Eine Kaiserliche Botschaft Kafkas Parabel Eine Kaiserliche Botschaft erzählt bekanntlich die Geschichte einer Botschaft, die unzugänglich und verschwiegen bleibt. Sie verliert sich in der räumlichen und zeitlichen Entfernung, die den Kaiser vom Untertanen, den Sender vom Empfänger der Botschaft trennt. Der Schauplatz eines imaginären China verleiht dieser unendlichen Ausdehnung ihre Anschaulichkeit, er repräsentiert den Raum einer Jahrtausende alten Schriftkultur, den keine lebendige Stimme mehr durchdringt. Eingebettet in die Fragment gebliebene Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer, präsentiert sich die 35 Friedrich Nietzsche, (Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern). Über das Pathos der Wahrheit, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1980, S. 759/ 760. 160 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Kaiserliche Botschaft als eine Sage über das unendlich ferne Verhältnis von chinesischem Volk und Kaisertum: „ So groß ist unser Land, kein Märchen reicht an seine Größe, kaum der Himmel umspannt es. Und Peking ist nur ein Punkt, und das kaiserliche Schloß nur ein Pünktchen. Der Kaiser als solcher allerdings, wiederum groß durch alle Stockwerke der Welt. “ 36 Kafkas Parabel stellt sich wie ein fotografischer Zoom auf den Mittelpunkt dieser chinesischen Topographie dar. Mit bestechender visueller Prägnanz führt sie die Architektur einer kaiserlichen Residenzstadt vor Augen, deren Fluchtlinien auf ein Zentrum zulaufen, in dem sich eine längst versunkene Szene abspielt, die Sterbeszene des Kaisers und die Verkündigung einer Botschaft, von der das Volk nie etwas erfahren wird. Wie immer man deren verschwiegenen Inhalt interpretieren mag, Kafkas Parabel erzählt die Geschichte einer mündlichen Botschaft, die im Medium der Schrift nicht mehr zur Sprache kommen kann, die nicht mehr kommuniziert, sondern nur mehr gezeigt wird. Das Verstummen der Kaiserlichen Botschaft bestimmt Thema und Gestus der Erzählung, die deshalb vor allem als Exempel einer „ negativen Parabel “ gelesen wurde, als Beispiel einer „ Hohl- und Leerform “ 37 , die nur noch eine negative Erkenntnis vermittelt. Diese kann beispielsweise die Botschaft vom Traditionsverlust des Judentums betreffen 38 , sie kann von der historischen Distanz der Gegenwart zur göttlichen Offenbarung und zum Erbe der Überlieferung erzählen, oder sie meint ganz einfach die Nachricht vom Sterben des Kaisers, die entweder auf einen historischen Resonanzraum bezogen werden kann, nämlich den Tod von Kaiser Franz Joseph im Spätherbst 1916, oder auch autoreferentiell gelesen wird: „ Vor seinem Hinscheiden sendet der Kaiser dem Untertanen eine Mitteilung, deren alleiniges Thema eben dieses Sterben des Kaisers ist. “ 39 Wird in den theologischen oder psychologischen Interpretationen der verschwiegenen Botschaft letztlich doch ein - wenn auch negativer - Inhalt suggeriert und damit auch die Negativität des Mitgeteilten festgeschrieben, so geht es in neueren Lesarten vor allem darum, die Strategien aufzuweisen, mit denen Kafka seine Texte der Botschaft entzieht. Das Lesen der Kaiserlichen Botschaft bedeutet in diesem Sinn dann vor allem den „ Nach- 36 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 350. 37 Die Parabel. Parabel-Formen in der deutschen Dichtung des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Theo Elm und Hans H. Hiebel, Frankfurt a. M. 1986, S. 219 - 54, hier: 224 f. 38 Hartmut Binder, Kafka Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München, 3. Aufl., 1982, S. 15. 39 Heinz Politzer, Zwei kaiserliche Botschaften. Zu den Texten von Hofmannsthal und Kafka, „ Modern Austrian Literature “ 11 (1978), S. 105 - 22, hier: S. 111. Hingewiesen wurde auch angesichts der Entstehungszeit des Textes im Jahr 1916 auf den historischen Resonanzraum: vgl. Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000, S. 287. 6.2 Die Pantomime alter Weisung: Eine Kaiserliche Botschaft 161 vollzug der inhaltlichen Selbstentleerung des Textes “ 40 . Verstärkt rückt damit auch die gestische Dimension der Erzählung ins Blickfeld: die Aufmerksamkeit richtet sich nicht so sehr auf die Hermeneutik des Schweigens, dessen Geheimnis immer der Fehldeutung ausgesetzt bleibt 41 , als vielmehr auf die spezifische Gebärdensprache des Verstummens, die pantomimisch auf das verweist, was sich nicht im Wortlaut der Rede mitteilt. Das Opake der Kaiserlichen Botschaft resultiert in dieser Perspektive dann „ aus der Gebärde des Ungesagten, auf welches das Gesagte unablässig verweist, aus der Deixis des Schweigens, dessen Konturen auf dem Kehrbild eines Textes sichtbar werden, der die Löschung von Rede als Reduktion, als progressiven Abbau der Konstitutionsbedingungen kommunikativer Handlungen inszeniert, nicht (nur) als stumme Geste, sondern (vor allem) als Geste des Verstummens selbst. “ 42 Die Spannung zwischen Gestus und Parabel, auf die Walter Benjamin in seiner Kafka-Lektüre erstmals aufmerksam machte, zeigt sich exemplarisch gerade an dieser Erzählung. Benjamin stellte sie deshalb an den Beginn seines Rundfunkvortrags Beim Bau der chinesischen Mauer 43 , um an ihrem Beispiel die Notwendigkeit hermeneutischer Enthaltsamkeit zu demonstrieren, den notwendigen Verzicht auf jede Deutung, die Kafkas Gestensprache vorschnell abfertigen würde und die damit verbundene Forderung, von der „ Mitte seiner Bildwelt “ 44 auszugehen. „ Etwas war immer nur im Gestus für Kafka faßbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabeln “ 45 - so heißt es dann im Kafka-Essay. Solch eine wolkige Stelle nennt übrigens auch Kafkas Erzähler im Bau der chinesischen Mauer, wenn er beteuert, den Leuten sei die Residenz des Kaisers „ fremder als das jenseitige Leben “ ; leichter als jede Vorstellung davon sei deshalb für sie der Glaube, „ Peking und sein Kaiser wären eines, etwa eine Wolke, ruhig unter der Sonne 40 Christiaan Haart-Nibbrig, Die verschwiegene Botschaft oder: Bestimmte Interpretierbarkeit als Wirkungsbedingung von Kafkas Rätseltexten, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 51 (1977), S. 459 - 475, hier: S. 461. 41 Peter Sprenger, „ Sie mißdeuten alles, auch das Schweigen “ . Zur Hermeneutik des Schweigens bei Kafka, in: „ . . .wortlos der Sprache mächtig “ . Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlichen Kommunikation, Stuttgart, Weimar 1999, S. 59 - 82. 42 Peter Kofler, Im Lautschatten der Sprache das Schweigen der Schrift. Rhetorisch-kommunikationstheoretische Überlegungen zu „ Eine kaiserliche Botschaft “ , in: Franz Kafka. Ein Landarzt, Interpretationen, hrsg. v. Elmar Locher und Isolde Schiffermüller, Bozen, Innsbruck, Wien 2004, S. 153 - 166, hier: 154. 43 Walter Benjamin, Beim Bau der chinesischen Mauer (1931), in: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1981, S. 39 - 46. 44 Benjamin, Beim Bau der chinesischen Mauer, cit., S. 40. 45 Walter Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 9 - 38. 162 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt wandelnd im Laufe der Zeit “ . 46 Im Anschluss an Benjamins Kafka-Aufsatz kommentiert Werner Hamacher das Verhältnis von Geste und Parabel bei Kafka und bestimmt es mit Blick auf Eine Kaiserliche Botschaft als „ Transformation der Literatur in ihre bloße Geste “ , „ in eine Gebärde, die nichts mehr austrägt, nichts mehr gebiert, gibt und bringt als dieses Tragen, dieses Bringen selbst. Wie von der ‚ kaiserlichen Botschaft ‘ nur der Bote bleibt, so bleibt vom Gesetz bloß die Geste, die es tragen sollte “ . 47 An der Kaiserlichen Botschaft kann sicherlich exemplarisch die Dekonstruktion der Parabel abgelesen werden, wie aus der Diskussion in der Forschungsliteratur hervorgeht, nicht nur die Entleerung und Selbstaufhebung der Lehre, vor allem auch ihre Reduktion auf den bloßen Gestus der Übertragung. Kafkas Erzählung, die von der „ Botschaft eines Toten an einen Nichtigen “ 48 handelt, verschiebt die Aufmerksamkeit vom Inhalt der Botschaft auf die räumlichen, zeitlichen und medialen Umstände ihrer Überlieferung. Sie zeigt dem Leser im Gestus des Schweigens, wie der Lehre buchstäblich der Boden und damit auch die Möglichkeit ihrer Artikulation entzogen wird. Damit wird sie einerseits zum Modellfall einer misslingenden Kommunikation, „ zugleich unverständlich und selbstexplikativ “ . 49 In Frage steht allerdings, ob die Transformation der Literatur in ihre bloße Geste nur negativ lesbar ist, ob die Gebärden des Verstummens nicht mehr und anderes zeigen als nur die Löschung einer Botschaft. Sie scheinen - so kann zunächst thesenhaft formuliert werden - eine „ Weisung und Warnung “ 50 aus alten Zeiten vor Augen zu führen, die zwar hermeneutisch nicht mehr verifizierbar ist, die jedoch im Gestus weiterlebt und an den Leser appelliert. In keinem anderen Text ist der widersinnige Anspruch dieser Weisung so evident und mit ihm auch das Gedächtnis einer starken und verbindlichen Tradition so präsent, nirgendwo tritt so deutlich die Spannung hervor, die sich bei Kafka zwischen Sagen und Zeigen, zwischen Parabel und Gestus auftut. Diese Spannung bestimmt schon den Beginn der Erzählung: „ Der Kaiser - so heißt es - hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. “ 51 Die direkte Anrede ruft mit nachdrücklichem Pathos den Adressaten der Botschaft auf, emphatisch zeigt der Text auf das mehrmals genannte Du als den Empfänger einer sagenhaft fernen Überlieferung. Trotz seiner Nichtigkeit kommt diesem Einzelnen, an den sich die Botschaft richtet, eine ausgezeich- 46 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, cit., S. 354. 47 Werner Hamacher, Die Geste im Namen, in: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1978, S. 304. 48 Franz Kafka, Baum Bau der chinesischen Mauer, cit., S. 352. 49 Honold, Der Leser Walter Benjamin, cit., S. 287. 50 Honold, Der Leser Walter Benjamin, cit., S. 352. 51 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 280/ 281. 6.2 Die Pantomime alter Weisung: Eine Kaiserliche Botschaft 163 nete Rolle zu, seine Winzigkeit ist nur das Maß für die Machtpyramide der kaiserlichen Herrschaft, die dem Leser in der Metapher des Sonnensystems vor Augen geführt wird. Master-trope der abendländischen Metaphysik, blendende Quelle des Lichts und der Sichtbarkeit, ist die Sonne der natürliche Referent, um den sich alles dreht. 52 Kafkas Parabel orientiert sich am Heliotropus als Grundfigur figurativen Sprechens, im Zeichen der Sonne bahnt sich der Bote den Weg durch die Menge und durch den Bodensatz der Welt. Kein dekadenter Dämmer des Lichts bestimmt also den Gestus von Kafkas Erzählung, vielmehr die mächtige Vision einer starken sonnenhaften Botschaft, die allerdings von Beginn an in eine Sprache der äußersten Distanz gerückt wird. Die Umlaufbahn der Sonne, die im Orient aufgeht und am Ende im Traum des abendländischen Menschen verinnerlicht wird, misst in Kafkas Parabel die unendliche Entfernung aus, die den Einzelnen, den an die Peripherie verschlagenen Schatten, von der blendenden Quelle des Lichts trennt. Im Raum der Schrift, die diese unendliche Entfernung ausfüllt, ist die Stimme des versunkenen Kaisers längst verstummt, nirgends aber wird die verschwiegene Potenz des Versprochenen und Erträumten so machtvoll inszeniert wie in den Gesten dieses Verstummens. Die Macht der Botschaft, die sich nur im Gestus der Parabel mitteilt, kommt übrigens auch in der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer zur Sprache, wenn der Erzähler die besondere Treue des chinesischen Volkes zu seinem Kaiser betont, von dem es keinerlei Vorstellung hätte. „ Hoffnungslos und hoffnungsvoll “ zugleich würden diese Leute den entfernten Kaiser sehen, auf jeden Fall aber herrsche „ größte „ Sittenreinheit “ im Leben dieses Volkes, obwohl es „ keinem gegenwärtigen Gesetze “ unterstehe und „ nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht. “ 53 Nicht das Gesetz, nur die Gesten dieses Volkes sind die Waagschale solch chinesischer Sittenreinheit. Eine Kaiserliche Botschaft beginnt mit dem Verweis auf die Ursprungslegende einer Botschaft, die nicht mehr vernommen werden kann. Die Sterbeszene des Kaisers, die am Ursprung der längst verschollenen Überlieferung steht, wird dem Leser in einer Pantomime vor Augen geführt: „ Den Boten hat er beim Bett niederknieen lassen und ihm die Botschaft ins Ohr geflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes - alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs - vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. “ 54 Visuell setzt Kafkas Text die verschwiegene Botschaft in Szene 52 Jacques Derrida, Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in: ders., Randgänge der Philosophie, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 205 - 258. 53 Kafka, Schriften und Fragmente I, cit., S. 352. 54 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 281. 164 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt und entfaltet sie als ein spektakuläres Schauspiel vor der versammelten Zuschauerschaft des kaiserlichen Todes. Die hochoffizielle Inszenierung ruft das öffentliche Ritual einer vergessenen oralen Kultur ins Gedächtnis, die das ganze Kollektiv zum Zeugen hat. Im Medium der Schrift, in dem die orale Tradition zum Verstummen kommt, rückt diese Szene in eine sagenhafte Entfernung. Kein Nachklang der mündlichen Überlieferung ist bei Kafka vernehmbar, kein Echo einer fingierten Oralität, kein Raunen eines vergessenen Ursprungs. Und dennoch überlebt der kollektive Mythos bei Kafka, nämlich als Flüsterbotschaft eines gestischen Theaters, stumme Vision einer Sendung, die ihren symbolischen Gehalt nicht verraten kann. Was Alexander Honold in diesem Zusammenhang zu Kafkas „ Schweigen der Sirenen “ schreibt, lässt sich auch auf die Ursprungsszene der Kaiserlichen Botschaft beziehen: „ Wie die Botschaft dieser Szene ‚ lauten ‘ mag, ist nicht zu sagen, da sie [. . .] ohne Tonspur auf uns gekommen ist “ , überliefert sind vom Mythos nur die gestischen Signale, Zeichen für eine „ Art von Gehörlosen-Hermeutik “ 55 . Demonstrativ zeigen die Gebärden auf diese versunkene Sprache, die in der Schrift verloren ging, genauer, auf die kollektive Verbindlichkeit ritualisierter Sprechakte: auf den Akt der Sendung, auf das Hören der Botschaft, auf die Rezitation und Übertragung ihres Gehalts. Ihre stumme Gewähr findet die imperiale Botschaft so jenseits jeder kommunikativen Bedeutung in der Gebärde des Kaisers und in der Entschiedenheit, mit der sich der Bote im Auftrag des Kaisers auf den Weg macht. Diese Pantomime einer letztwilligen Verfügung verzichtet auf jeden semantischen Gehalt und doch gelingt es ihr, keinerlei Zweifel offen zu lassen, wie auch der Gestus des aufbrechenden Boten deutlich macht: „ Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. “ 56 Ostentativ führt der Text den Zeigegestus vor, von dem er selbst bestimmt wird, indem er der scharf umrissenen Figur des Boten Profil verleiht: „ Gleichsam filmisch vergrößert und sistiert wirkt die Bewegung des eilenden Boten [. . .] Gestisch ist sein Vorwärtskommen gleichsam im Stillstand vergegenwärtigt. “ 57 Die unermüdliche Kraft und der unbeirrbare Wille, von denen der Gestus dieses Boten bestimmt wird, bilden hier allerdings nur den Maßstab seines Scheiterns. Der aufgezeigte Weg ist mit anderen Worten zwar denkbar aber nicht mehr begehbar. Die meisten Interpreten der kaiserlichen Botschaft haben sich auf die klare Zäsur in der Mitte des Textes konzentriert, auf das Aber, nach 55 Honold, Der Leser Walter Benjamin, cit., S. 338/ 339. 56 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 281. 57 Haart-Nibbrig, Die verschwiegene Botschaft, cit., S. 463. 6.2 Die Pantomime alter Weisung: Eine Kaiserliche Botschaft 165 dem die Reihe der Negationen beginnt, die den Weg des Boten ins Zeichen der Vergeblichkeit stellt: Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor - aber niemals, niemals kann es geschehen - liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. 58 Mit artistischem Kalkül wird in Kafkas Parabel „ die aporetische Konstellation bis zum Äußersten radikalisiert “ 59 . Vorstellbar bleibt so zwar immer noch die baldige Ankunft des Boten, „ das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür “ , doch die mächtige Dynamik, die diesen Gestus prägt, tritt auf der Stelle, der konjunktivische Modus setzt die Utopie der Ankunft ins Irreale, das Mögliche bleibt unerreichbar. Die topographische Vision der Parabel, in der sich der unendliche Weg „ durch Jahrtausende “ , räumlich abbildet, verweist auf eine Zeitstruktur, die Beda Allemann ins dialektische Bild des „ stehenden Sturmlaufs “ 60 gefasst hat, eine Metapher, die Kafka selbst in einer relativ frühen Tagebuchaufzeichnung prägt, um seinem „ Widerwillen gegen Antithesen “ 61 Ausdruck zu verleihen. Dass die statischen Antithesen in Kafkas gestischem Denken eine dynamische Wendung und Konversion des Sinns erfahren, kann auch Eine Kaiserliche Botschaft zeigen. Wird hier einerseits deutlich, dass die jahrtausende alte Überlieferung die mächtige Ursprungsszene, die sie an ihren Anfang setzt, zum Verstummen bringt, so gehorcht der Gestus des Boten andererseits weiter seiner Sendung, wie dem Licht einer längst verloschenen Sonne. Das aporetische Verhältnis von Mandat und Meldung, von Aufgabe und Sinngebung, führt Kafkas Parabel in der Figur eines stürmischen Leerlaufs vor Augen, der trotz aller mächtigen Bewegung nicht von der Stelle kommen kann. Auf ähnliche Weise bleiben in einem anderen Text Kafkas die Kuriere der Könige dem Diensteid verpflichtet, obwohl ihre Jagd durch die Welt nur noch die 58 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 281/ 282. 59 Barbara Neymeyr, Eine kaiserliche Botschaft, in: Franz Kafka. Interpretationen der Romane und Erzählungen, hrsg. v. Michael Müller, 2. Aufl., Stuttgart 2003, S. 346 - 352, hier: S. 348. 60 Beda Allemann, Stehender Sturmlauf. Zeit und Geschichte im Werk Kafkas, Göttingen 1998, S. 15 - 37. 61 Kafka, Tagebücher, cit., S. 259 f (Aufzeichnung vom 20. 2. 1911). 166 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Verdoppelung sinnloser Meldungen hervorbringt: „ Es wurde ihnen die Wahl gestellt Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides. “ 62 Eine Kaiserliche Botschaft endet jedoch nicht mit der Figur eines „ stehenden Sturmlaufs “ . Der Schluss der Erzählung fügt dem Geschehen eine weitere Wendung hinzu, die die verschwiegene Botschaft abschließend in einem neuen und anderen Licht erscheinen lässt: „ Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. - Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. “ 63 Der beinahe lyrisch zu nennende Abschluss von Kafkas Parabel steht in einer signifikanten Differenz zur Erzählung vom Bau der chinesischen Mauer. Während dort der Erzähler feststellt, es gäbe keinen im Volk, der „ das Kaisertum aus der Pekinger Versunkenheit in aller Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit an seine Untertanenbrust zu ziehn “ 64 wüsste, wendet sich der Schlusssatz der Kaiserlichen Botschaft wiederum direkt an das Du. Auch dieser letzte Appell an den Leser kann das längst Versunkene nicht mehr lebendig und gegenwärtig machen, doch mit der Deklination des Lichts tut sich im Text ein Traumfenster auf. Mit dem Versinken der kaiserlichen Sonne, die den Untertanen als winzigen Schatten in die Ferne verschlug, wird der Traum von der Botschaft möglich. Gerade die Erfahrung der Isolation und der Absenz eröffnet den Innenraum einer abendländischen Sehnsucht, die die verschwiegene Botschaft - aller semantischen Leere zum Trotz - aus der Ferne holt. Gelesen wurde der träumerische Ausblick von Kafkas Erzählung wohl zu Recht auch als Ausdruck der Situation des Schreibenden, als Eröffnung der „ fiktiven Möglichkeit des poetischen Traumes von der Botschaft, den der Text darstellt und der er selber ist. Deshalb muß er das Nicht-Ankommen der Botschaft als seine Voraussetzung erst herstellen “ . 65 Charakteristisch jedenfalls ist für die Bildsprache von Kafkas Prosa, dass sie den Innenraum des Träumenden verdunkelt und verschließt. Sie zeigt dem Leser nur die äußere Haltung dessen, der an der Fensterschwelle auf die Ankunft des Boten lauscht. Das Erträumen ist in Kafkas Text zudem ein transitives Verb, es meint keine irreale Träumerei und kein imaginäres Phantasieren, sondern bezeichnet den intensiven Wunsch, die Botschaft zu empfangen, als eine aktive Kraft, der es 62 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a. M., S. 123. 63 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 282. 64 Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, cit., S. 355. 65 Haart-Nibbrig, Die verschwiegene Botschaft, cit., S. 465. 6.2 Die Pantomime alter Weisung: Eine Kaiserliche Botschaft 167 zuletzt noch einmal gelingt, den gesamten Text umzukodieren. Der Leser kann nun am Ende der Lektüre die Parabel von der kaiserlichen Sonne noch einmal anders verstehen: als eine Erzählung, die das Futter der Traumbilder nach außen kehrt und so eine blendende Quelle des Lichts aus der Vergessenheit ruft. Die visuelle Evidenz dieser Erzählung hat nichts zu tun mit visionärer Sehergabe, Kafka lauscht auf die Tradition - wie schon Walter Benjamin betonte - und gibt dabei die Wahrheit preis, nur „ um an der Tradierbarkeit “ 66 festzuhalten. Was die Parabel Eine kaiserliche Botschaft, die diese Tradierbarkeit zum Thema hat, aufzeigen kann, ist die reversible Lesbarkeit von Kafkas starken Gebärden, die sich ins Zeichen der Sonne stellen. Man kann sie als bloße Relikte einer kollektiv verbindlichen Überlieferung verstehen, deren Wahrheit längst vergessen wurde und uns nicht mehr zugänglich ist, man kann sie aber auch anschauen als Pantomime alter Weisungen, die der Einzelne aus der Latenz seiner Träume holt. 6.3 Die stumme Frage: Ein Brudermord Ein Brudermord kann als die Geschichte gelten, in der die szenische Qualität von Kafkas Erzählweise und deren Affinität zum expressionistischen Stummfilm am deutlichsten in Erscheinung treten. Nirgendwo zeigt sich klarer, dass Kafkas Erzählungen als „ die letzten verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film “ 67 betrachtet werden können, nirgendwo tritt so deutlich jene mediale Verdichtung des Ausdrucks hervor, die sich nach Theodor W. Adorno dem Verstummen der Sprache verdankt. In seinem Dossier zur Revision des Kafka-Essays greift Walter Benjamin Adornos Anregung auf, wenn er den Stummfilm als „ kurze Atempause “ , ja „ Gnadenfrist “ im Prozess einer fortschreitenden Destruktion der Sprache und der Selbstentfremdung bezeichnet, da dieser die menschliche Sprache zwang, „ auf ihre geläufige Dimension zu verzichten “ und so „ in der des Ausdrucks eine ungeheure Verdichtung vornehmen “ 68 konnte. Benjamin verweist auf die Affinität von Charlie Chaplin und Kafka, „ der zu gleicher Zeit wie der stumme Film von der Szene abtrat und dessen Prosa man in der Tat die letzten Verbindungstexte zum stummen Film nennen kann. “ 69 In den Gebärden des stummen Films wollten frühe Theoretiker auch mehr und anderes sehen als eine „ Gnadenfrist “ , nämlich das utopische Potential einer universalen Sprache, die den Ausweg aus der 66 Benjamin an Scholem, 12. 6. 1938, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 87. 67 Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, Brief vom 17. 12. 1934, in: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1981 (2. Aufl. 1992); S. 106. 68 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 166. 69 Ebenda, vgl. Kapitel 1.3. in diesem Band. 168 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt babylonischen Sprachverwirrung der Moderne verspricht 70 , eine Auffassung, die Kafka wohl kaum geteilt hat. Die komplexe Beziehung seiner Prosa zum Stummfilm, von der hier die Rede ist, beruht viel eher auf einer besonderen Sensibilität für die entfremdete Mimik und Gestik des modernen Menschen, die sich im Brudermord in der Form einer schwarzen Chronik darstellt: als Pantomime einer Mordlust in einer sinnverlassenen städtischen Nacht. Die Affinität Kafkas zum Stummfilm lässt sich damit auch nicht reduzieren auf einen direkten Einfluss des frühen Kinos, das Kafka allerdings gerne besucht hat. Hanns Zischler ist dem Interesse des Prager Autors für die frühe Kinomatographie in einer fast detektivischen Forschungsarbeit nachgegangen. 71 Bekannt wurden durch diese Forschungen nicht nur Kafkas Kinobesuche und die emotionale Wirkung, die die frühen Filme auf ihn ausübten, sondern vor allem auch die Irritation, die für den Schriftsteller von den flimmernden Bildern der Leinwand ausging, die nach Kafka den Zuschauer passiv machen und gewaltsam den Blick an sich reißen; bekannt wurde Kafkas unmöglicher Wunsch, die Faszination des Kinos mit einer ruhigen Betrachtung der Bilder zu verbinden, wie sie das alte Stereoskop ermöglichte, das er anlässlich eines Besuchs des Kaiserpanoramas von Friedland in seinem Reisetagebuch beschreibt und mit dem Kinematographen vergleicht: „ Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blickes scheint wichtiger [. . .] Warum gibt es keine Vereinigung von Kinema und Stereoskop in dieser Weise “ . 72 Ein Brudermord kann exemplarisch zeigen, wie Kafka Elemente der expressionistischen Filmkunst im Medium der Prosa realisiert. Vergleichbar einer melodramatischen Filmgroteske wird hier die Sprachlosigkeit und surreale Sinnferne der Moderne quasi ein letztes Mal ausgestellt und demonstriert, bevor sie dem Vergessen verfällt. Der Sprachverlust entstammt in dieser Sicht einer realen Selbstentfremdung und hat wenig zu tun mit der modernen Sprachkrise, wie sie in der skeptischen Sprachkritik eines Fritz Mauthner oder Hugo von Hofmannsthal formuliert wird. Dass Kafka diese Sicht für verfehlt hält, drückt er sehr deutlich in einem Brief an Felice Bauer aus: „ Das was im Innern klar ist, wird es auch unweigerlich in Worten. Deshalb muß man niemals um die Sprache Sorge haben, aber im Anblick der Worte oft Sorge um sich selbst. Wer weiß denn aus sich selbst heraus, wie es um einen steht. Dieses stürmische oder sich wälzende oder sumpfige Innere sind ja wir selbst, aber auf dem im geheimen sich vollziehenden Weg, auf dem die Worte aus uns hervorgetrieben werden, wird die Selbsterkenntnis an den Tag gebracht und 70 Vgl. Miriam Hansen, Babel und Babylon. Specatorship in American Silent Film, Cambridge 1991, S. 173 - 198. 71 Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1999. 72 Kafka, Tagebücher, cit., S. 937.(Aufzeichnung vom Januar/ Februar 1911) 6.3 Die stumme Frage: Ein Brudermord 169 wenn sie auch noch immer verhüllt ist, so ist sie doch vor uns und ein herrlicher oder schrecklicher Anblick. “ 73 Die Erzählung Ein Brudermord liest sich wie das nüchterne Protokoll eines Erzählers, der in scharf gezeichneten Momentaufnahmen die Abfolge einer Mordtat vorführt. Ein mörderischer Rausch wird wie eine Moritat vorgeführt, in einer Montage von Gebärden, in denen der Traum von der totalen Vernichtung des anderen um seine Realisierung kämpft. Die scharf getrennten Absätze des Textes, die in der ersten Fassung der Geschichte noch nicht gesetzt sind 74 , sind filmischen Cuts vergleichbar: sie unterbrechen den Ablauf des Geschehens und lassen die Handlungsmomente in einzelnen prägnanten Haltungen und Konstellationen hervortreten, ähnlich der ruckartigen Folge von Bewegungsmomenten im Stummfilm. Der Erzähler kommentiert die Szenen lapidar, er trägt in die filmischen Schatten aber auch einzelne Farbwerte ein, die wie Zitate wirken, das „ blaue Röckchen “ beispielsweise des malerischen und literarischen Expressionismus, das der Mörder trägt und das an die Bilder eines Franz Marc oder an den „ Blauen Reiter “ denken lässt, oder den nachtblauen und goldenen Sternenhimmel, der zur Bühne des Geschehens wird und die Dichtung von Georg Trakl ins Gedächtnis ruft. Dazu kommen die Regieanweisungen und sprechenden Namen des Figuren, in denen der Gestus des expressionistischen Dramas anklingt. Der Titel der ersten Fassung Der Mord legt den Akzent noch auf die reine Gewalttat ohne biblische Anklänge. Wie ein Polizeibericht beginnt die Geschichte, das Protokoll einer schwarzen Chronik, in der Mörder und Opfer, Zeit und Ort des Geschehens aufgezeichnet sind: Es ist erwiesen, daß der Mord auf folgende Weise erfolgte: Schmar, der Mörder, stellte sich gegen neun Uhr abends in der mondklaren Nacht an jener Straßecke auf, wo Wese, das Opfer, aus der Gasse, in welcher sein Bureau lag, in jene Gasse einbiegen mußte, in der er wohnte. 75 Unmittelbar auf die Aufnahme des Tatbestands erfolgt dann im nächsten Absatz der Übergang ins dramatische Präsens: eine expressionistische Filmszene tut sich auf, die eingeleitet wird durch eine kurze Regieanweisung: „ Kalte, jeden durchschauernde Nachtluft “ 76 . Die Figur von Schmar tritt auf, ganz eins mit ihrer Rolle als Mörder und mit dem Requisit der funkelnden Waffe, die sie fest im Griff hält: 73 Franz Kafka, An Felice Bauer, 18./ 19. Februar 1913, in: Franz Kafka, Briefe 1913-März 1914, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 2001, S. 99. 74 Die erste Fassung erscheint 1918 im Almanach „ Die neue Dichtung “ ; vgl. dazu: Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, cit., S. 310. Zum Fassungsvergleich vgl. Hartmut Binder, Kafka Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1975, S. 214 - 216 und 354 - 356. 75 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 292. 76 ebenda 170 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Seine Mordwaffe, halb Bajonett, halb Küchenmesser, hielt er ganz bloßgelegt immer fest im Griff. Betrachtete das Messer gegen das Mondlicht; die Schneide blitzte auf; nicht genug für Schmar; er hieb mit ihr gegen die Backsteine des Pflasters, daß es Funken gab; bereute es vielleicht; und um den Schaden gut zu machen, strich er mit ihr violinbogenartig über seine Stiefelsohle, während er, auf einem Bein stehend, vorgebeugt, gleichzeitig dem Klang des Messers an seinem Stiefel, gleichzeitig in die schicksalsvolle Seitengasse lauschte. 77 Scharf wie einen Scherenschnitt arbeitet Kafka die Szene heraus, den Messertanz des Mörders in einer mondbeschienen städtischen Nacht. Der Klang dieses Messers wirkt sinnfern, blank und zynisch, wobei die Zelebration der Mordwaffe ohne jede psychologische Motivation, ohne Absicht und Zweck auskommt, reine Pantomime einer grotesken Mordlust, die sich als surrealistischer acte gratuit ausstellt. Die Gesten dieses Mörders bringen ihre Sinnvergessenheit ganz an die Oberfläche, getrennt von jedem Anlass und von jeder Intention sind sie ein souveränes Spiel des Bösen, das melodramatisch inszeniert und dissimuliert wird. Bewusst wird dabei der gestische Charakter des Geschehens, das mimische als ob exponiert, ähnlich wie in den gags eines Charlie Chaplin, dessen abgehackte Bewegungen die ruckartige Bilderfolge des Stummfilms aufnehmen und allegorisch den Riss ausstellen, der den Körper von der Seele und das Äußere vom Innen trennt. 78 Dass hier Dunkles vor sich geht, ist jedem mehr als klar, es soll dem Leser aber auch demonstriert werden in einer medialen Verfremdung und camouflage, von der Werner Kraft bemerkte, dass sie „ mehr verrät als sie ausdrückt, indem sie mehr ausdrückt als sie verrät “ 79 . Wenn Kafka Undurchschaubares darstellt, so kommt er ohne tiefsinnigen Mystizismus aus und ohne jene „ Geheimniskrämerei “ , die Brecht ihm vorwirft 80 , gerade wie jener von Brecht bewunderte chinesische Artist, der das Dunkle vorführt in Gestenspiel und Schattentanz und der „ wenn er den Eindruck des Geheimnisvollen erzeugt, kein Interesse zu haben scheint, uns ein Geheimnis zu entschleiern. Aus den Geheimnissen der Natur (besonders der menschlichen) macht er sein Geheimnis [. . .]. “ 81 Schon die Namen der vier am Spiel beteiligten Figuren sprechen das Geheimnis offen aus: Schmar, der Mörder, der seinen Namen nach Max Brod dem Flaubert-Zitat „ Smarh, vieux mystère “ verdankt, 82 das Opfer Wese, Verweis auf das abgründige Wesen der Menschennatur, das der Zeuge des 77 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 292/ 293. 78 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I, 3, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 626. 79 Werner Kraft, Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis, Frankfurt a. M. 1968, S. 22. 80 Vgl. Gespräche mit Brecht, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 151. 81 Bertold Brecht, Schriften zum Theater II, Gesammelte Werke in 20 Bänden, hrsg. v. Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1967, S. 626. 82 Vgl. Binder, Kafka Kommentar, cit., S. 216. 6.3 Die stumme Frage: Ein Brudermord 171 Mordgeschehens, der „ Private Pallas “ floskelhaft zitiert: „ Ergründe die Menschennatur! “ 83 . Das geflügelte Wort dieses Zeugen deckt oberflächlich jede mögliche Sinnfrage zu, als ein Pallas im Schlafrock, der alles kopfschüttelnd „ aus seinem Fenster im zweiten Stockwerk “ beobachtet, vertritt er nichts als die pure Neugier des privaten Durchschnittsbürgers. Nicht nur passiv, sondern auch lustvoll duldet er die Vorbereitungen der Mordtat. Lachhaft und böse ist der Anklang an den griechischen Namen der Pallas Athene, der Göttin mit dem Schwert und den klaren blaugrünen Augen, die den antiken Gewalttaten, den Schlachten und Mordtaten der Heroen ihre Hilfe leistete. Dazu kommt als vierte Figur noch Frau Wese, die „ fünf Häuser weiter “ nach ihrem verspäteten Mann ausschaut, „ den Fuchspelz über ihrem Nachthemd “ 84 , ganz erotische Erwartung in der „ vergifteten Märchenluft “ 85 einer grotesken nächtlichen Kleinstadtidylle. Ein Glockenzeichen signalisiert den Beginn der Aktion: „ Endlich ertönt die Türglocke von Weses Bureau, zu laut für eine Türglocke, über die Stadt hin, zum Himmel auf [. . .]. “ 86 Wie den Ton dieser Glocke so beurteilt Walter Benjamin auch die Gesten der Kafkascher Figuren, sie seien viel „ zu durchschlagend für die gewohnte Umgebung und brechen in eine geräumigere ein “ . 87 Angesichts der enormen Durchschlagskraft von Kafkas Gebärden spricht Benjamin vom Welttheater, „ dessen Prospekt der Himmel darstellt “ : „ Kafka reißt hinter jeder Gebärde - wie Greco - den Himmel auf; aber wie bei Greco - der der Schutzpatron der Expressionisten war - bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde. “ 88 Wie bei Greco ist auch im Brudermord der Himmel nur ein gemalter, „ das Dunkelblaue und das Goldene “ einer Sternennacht, das über der Mordszene steht, unzugänglich jeder theologischen Spekulation und Sinnfrage. Der symbolische Gehalt des Geschehens hat sich ganz in die profanen Gesten zurückgezogen. Sie wirken geheimnisvoll aufgeladen, wie Abzüge oder Spuren einer verlorenen Urschrift, in der von Mord und Gewalt, von Tod und Gerechtigkeit die Rede war. Eindrucksstark und entschieden sind auch die Gebärden, die im folgenden Absatz die Figuren in Bewegung setzen: der Zeuge, die Frau und der Mörder schließen sich zu einer Szene voller suspence zusammen: „ Pallas beugt sich weit hervor; er darf nichts versäumen. Frau Wese schließt, beruhigt durch die Glocke, klirrend ihr Fenster. Schmar aber kniet nieder; da er augenblicklich keine anderen Blößen hat, drückt er nur Gesicht und Hände gegen die Steine; 83 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 293. 84 ebenda 85 Werner Kraft, Franz Kafka, cit., S. 23. 86 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 293. 87 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 18. 88 Benjamin, Franz Kafka, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 19. 172 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt wo alles friert, glüht Schmar “ . 89 Die Tat wird vorbereitet in der Pantomime einer brennenden Mordlust, die die Figuren marionettenhaft wie eine unpersönliche fremde Macht bewegt; sie zwingt Schmar in die Knie, auf den Boden einer kalten und sinnfernen Stadt, die nur den Mörder erglühen lässt. 90 Die Haltung des Gebets wirkt hier so zynisch wie die sorglose und harmlose Schönheit des künstlichen Sternenhimmels über der Mordszene, in dem keinerlei Vorzeichen auf das Schicksal des Opfers verweisen. Nichts als ein Spott ist dieser Himmel auf die bare Unwissenheit des Wese, den nicht das Schicksal, nur eine sinnverlassene Vernunft ins Messer treibt: „ An und für sich sehr vernünftig, daß Wese weitergeht, aber er geht ins Messer des Schmar “ . 91 Sarkastisch wirkt hier auch der spruchbandartige Erzählerkommentar, der die Gesten begleitet und auf Glut und Kälte, auf Laune und Vernunft sowie auf die Blößen der menschlichen Figur verweist, während doch alles „ an seinem unsinnigen, unerforschlichen Platz “ 92 bleibt; allein die suspence wächst, die darauf drängt, sich in der Mordtat zu entladen, die dann auch wirklich geschieht: „‚ Wese! ‘ schreit Schmar, auf den Fußspitzen stehend, den Arm ausgereckt, das Messer scharf gesenkt, ‚ Wese! Vergebens wartet Julia! ‘ Und rechts in den Hals und links in den Hals und drittens tief in den Bauch sticht Schmar. Wasserratten, aufgeschlitzt, geben einen ähnlichen Laut von sich wie Wese “ . 93 Die zitierte Passage der Erzählung, in der sich die Figur des schreienden Mörders hoch aufrichtet wie im Tanz, stellt sicher einen Höhepunkt von Kafkas „ Messerpoetik “ 94 dar, ähnlich wie das Kapitel Ende im Proceß, das komplementär zum Brudermord gelesen werden kann: einmal liegt der Akzent auf dem Mörder, das anderer Mal auf dem Opfer, doch die Überblendung beider Szenen zeigt deren Koinzidenzen: das blanke, im Mondschein funkelnde Fleischermesser, das wie in einem Ritual geschwungen wird, der Zuschauer und Zeuge am Fenster des Nachbarhauses, der dem Geschehen beiwohnt und die groteske Theatralität, die die gesamte Szene suspekt macht. 95 Die Haltung gespannter Mordbereitschaft, die den dramatischen Höhepunkt im Brudermord signalisiert, geht unvermittelt in Aktion über und entlädt sich in der reinen Lust am Stechen. Die Messerstiche skandieren in Kafkas Text den leidenschaftlichen Rausch einer Mordlust, sie zeigen, wie im brutalen Akt des Zustechens und Abschlachtens die Ekelschwelle berührt wird. Kafka führt 89 Kafka, Drucke zu Lebzzeiten, cit., S. 293. 90 Zu den Figuren der Kälte vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. 91 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 294. 92 ebenda 93 ebenda 94 vgl. Menninghaus, Ekel, cit., S. 427ff 95 Vgl. Milena Massalongo, Kafka „ Ein Brudermord “ . Oder zur Geste, in: Franz Kafka. Ein Landarzt. Interpretationen, cit., S. 230 f 6.3 Die stumme Frage: Ein Brudermord 173 dem Leser eine surreale mimische performance vor Augen, in der der Körper des anderen keine menschliche Gestalt mehr hat, er soll nichts anderes sein als organisch-animalische Materie, aus der das Blut fließen kann. Im Unterschied zu den rituellen Morden und Schlachtungen 96 bringt Kafkas grotesk entstellte Wiederkehr des archaischen Traums von der blutigen Opfergabe keine Erlösung und Befreiung. Dass die brennende Hoffnung, die der Mörder ins Blutvergießen setzt, frustriert wird, spricht sein bizarrer Monolog aus, der - wie in jedem guten Theaterstück - auf die getane Tat folgen muss: „ Seligkeit des Mordes! Erleichterung, Beflügelung durch das Fließen des fremden Blutes! Wese, alter Nachtschatten, Freund, Bierbankgenosse, versickerst im dunklen Straßengrund. Warum bist du nicht einfach eine mit Blut gefüllte Blase, daß ich mich auf dich setzte und du verschwändest ganz und gar. Nicht alles wird erfüllt, nicht alle Blütenträume reiften, dein schwerer Rest liegt hier, schon unzugänglich jedem Tritt. Was soll die stumme Frage, die du damit stellst? “ 97 In die Klage, die der Kafkasche Mörder vor dem „ schweren Rest “ seiner Tat erhebt, sind floskelhaft Zitate der Weltliteratur eingegangen, die ungereiften Blütenträume von Goethes Prometheus, Emblemfigur der Moderne, die die Glut eines stolzen Ich gegen die Götter behauptete und die Menschen nach eigenem Bilde formte, wie auch die stumme Frage, die in Shakespeares Drama der Leichnam des Polonius an Hamlet stellte, nachdem dieser ihn „ wie eine Ratte “ erstochen hatte. Was in den impliziten Zitaten in Frage steht, ist die unabweisliche physische Last des anderen, die den Mörder beschwert: frustriert ist die versprochene Erlösung durch die Blutttat, berührt wird ein Tabu, das den Mörder auch diesseits oder jenseits jeder gesetzlichen Instanz oder Schuld nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. Werner Kraft übersetzt in seiner Interpretation der Erzählung die „ stumme Frage “ , die der Leichnam stellt, wie folgt: „ Die Frage, die der Mord stellt, läßt sich so ausdrücken: Ist die Existenz des Mörders jenseits seiner geschehenen Tat möglich? Ist die Schuld [. . .] etwas von den Menschen zu ihrem Schutz Erfundenes, dem der starke Einzelne sich entzöge, oder ist sie ursprünglich da und wirksam, auch ohne jede rächende und strafende Instanz? “ 98 Wie immer man diese Frage beantworten mag, in Kafkas Brudermord gibt es kein Auge des Gesetzes, das den Mörder stellt, nur der private Zeuge Pallas ist da, dem nichts entgangen ist: „‚ Schmar! Schmar! Alles bemerkt, nichts übersehen ‘ . Pallas und Schmar prüfen einander. Pallas befriedigt ’ s, Schmar kommt zu keinem Ende “ . 99 Befriedigt ist allein die Neugier des Kleinbürgers, während der Mörder selbst zu keinem Ende kommt, denn seine Erfahrung reicht tiefer hinein in die Vorwelt der vergessenen Physis, in eine unvordenkliche archai- 96 Vgl. Sander L. Gilman, Franz Kafka. The Jewish patient, New York 1995, S. 112 - 156. 97 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 294. 98 Werner Kraft, Franz Kafka, cit., S. 28. 99 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 295. 174 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt sche Körperwelt, die durch die Mordtat aufgewühlt wurde. Diese Prüfung ist für ihn endlos, denn sie findet keinen Halt in einem Gebot oder Gesetz, in dem sich das Gewissen beruhigen könnte. Frau Wese muss schließlich auftreten, um melodramatisch das intime Geheimnis des stummen Rests unter ihrem Pelz zu begraben: „ sie stürzt über Wese, der nachthemdbekleidete Körper gehört ihm, der über dem Ehepaar sich wie der Rasen eines Grabes schließende Pelz gehört der Menge. “ 100 In Kafkas Brudermord wird dem Leser die Chronik einer Tat vorgeführt, die nach allen Regeln der Stummfilmkunst abläuft. Die Prosa spricht hier die Sprache des technischen Mediums, sie zeigt den Traum von einer Mordlust ohne Leiche und von der Liquidierung des stofflichen Körpers, der auch von den Simulakren der Leinwand ausgeht, eine Prophetie jenes „ perfekten Verbrechens “ , das nach Jean Baudrillard die virtuellen Bilder vollziehen, die das Reale zum Verschwinden bringen. 101 Kafkas Geschichte partizipiert keineswegs an diesem technisch-medialen Traum, den sie in ihren grotesken und zynischen Gesten meisterhaft inszeniert, sie erfasst vielmehr die latente Gewalt, die der Macht und Suggestion jener Bilder innewohnt, die in der Epoche des Expressionismus ins Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit eintreten. Explizit verweist sie schließlich den Leser auf jenen „ schweren Rest “ , der sich dem Mörder als „ stumme Frage “ stellt. Zweifellos ruft der Titel der Erzählung die biblische Geschichte vom ersten Mörder Kain ins Gedächtnis, dessen Name auf das Schwert deutet und dessen Nachkommenschaft bis hin zu Lamech und seinem Schwertgesang reicht, der in Kafkas bizarrem Messertanz nachklingt. Aber verrät Kafkas kleines zynisches Melodrama nicht schon im Tonfall die alte Geschichte von der Gottesferne des ersten Mörders, der seinen Bruder Abel tötet, weil Gott auf dessen Opfer schaut und nicht auf seines? Der biblische Brudermord geschah im Angesicht des Herrn, der Kain ins Land Nod verbannte und zu einem unsteten und flüchtigen Dasein verurteilte: „ Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen “ (Genesis 4, 10 - 11). 102 Jahrtausende entfernt davon ist Kafkas moderne schwarze Chronik eines Brudermordes, in der es keinen göttlichen Zeugen mehr gibt, nur den Kleinbürger Pallas, der nichts als seine private Neugier und seine voyeuristische Lust befriedigt. Dieser Zeuge weiß kein Urteil mehr zu sprechen und kennt kein Gesetz mehr, er bewacht nur die eigene Haustür „ alles Gift durcheinander würgend in seinem Leib “ . 103 Die 100 ebenda 101 Jean Beaudrillard, Das perfekte Verbrechen. Aus dem Französischen von Walther Riek, München 1996. 102 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980, S. 8. 103 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 295. 6.3 Die stumme Frage: Ein Brudermord 175 Anklänge an die biblische Parabel wirken in Kafkas Text wie Zitate aus einer theologischen Flüsterzeitung, die in die aktuelle Sprache der schwarzen Chronik und der expressionistischen Filmgroteske eingehen: „ janushaft “ wie bei Charlie Chaplin ist nach Walter Benjamin diese Prosa, „ ganz unvordenklich, geschichtslos und dann auch wieder von letzter, journalistischer Aktualität. “ 104 Die giftige Komik und die verdächtige Melodramatik, die hier wie in der Stummfilmgroteske die Darstellung charakterisieren, scheinen vergeblich um ihren Ernst zu ringen und um eine Beglaubigung des Bösen zu kämpfen. Es gibt kein Erwachen aus dem bösen Traum der Bilder, doch im nüchternen Blick auf die surrreale Szene gelingt es, Tabuschwellen zu berühren und aufzuzeigen. Kafkas Mörder findet auf die stumme Frage, die der Rest des anderen an ihn stellt, keine Antwort, dem Leser aber wird zuletzt - anstelle einer Antwort - die Haltung Schmars vor Augen geführt: „ Schmar, mit Mühe die letzte Übelkeit verbeißend, den Mund an die Schulter des Schutzmannes gedrückt, der leichtfüßig ihn davonführt. “ 105 Es ist die Stellung des Mörders, die in Kafkas Geschichte den Charakter einer eigenartigen Zeugenschaft gewinnt. Nicht das Plädoyer für das Opfer und für die Opfermoral, sondern das Studium des Täters steht im Brudermord im Mittelpunkt, wobei sich rein gestisch eine sprachlose Erfahrung verrät, die anders nicht mehr sagbar und mitteilbar ist. Werner Kraft spricht in diesem Zusammenhang von einer statuarischen Verewigung der Schuld, in der nicht das moralische, sondern das geistige Scheitern gebeichtet werde 106 . Mehr als die Schuld ist es jedoch der pure Ekel, der hier die körperliche und geistige Integrität des Mörders bedroht, ein physiologischer Aufruhr, der ausgelöst wird durch den toten Rest des anderen, der ohne Gesicht bleibt. Wie ein Blick auf die Kulturgeschichte des Ekels zeigen kann 107 , stellt Kafkas Werk einen Höhepunkt in der Poetik des Ekels dar, nicht nur was die thematische und figurative Vielfalt des Ekelhaften betrifft, sondern auch dessen Verwandlung und unschuldige Dissimulation. Jean Paul Sartre wird wenig später im Wort La Nausée, c ’ est moi den Kern des modernen Seins entdecken und Georges Bataille wird der menschlichen violence bizarre archaische Opferfeste feiern, um im „ heiligen Ekel “ Erlösung zu suchen aus der Epoche des ökonomischen Utilitarismus. Bei Kafka dagegen ist der Ekel eine intensive moralische Erfahrung, die sich weder zur existenzphilosophischen Kategorie eines überdrüssigen ennui verflüchtigt hat noch sakralisiert wird im Namen einer Tabu brechenden erotischen Lust. 108 Verwandt ist dieser würgende Ekel, der sich nicht im Erbrechen befreien kann, der 104 Benjamin, Aufzeichnungen, in: Benjamin über Kafka, cit., S. 123. 105 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 295. 106 Werner Kraft, Franz Kafka, cit., S. 29. 107 Menningshaus, Ekel, cit. 108 Menninghaus, Ekel, cit., S. 506 ff. 176 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Übelkeit, von der Emmanuel Lévinas spricht: intime Gefangenschaft in einer physischen Existenz, die ohnmächtig auf Evasion drängt. 109 Der Ekel im Brudermord hat nichts zu tun mit Georges Batailles Feier des blutigen Opferrituals, in dem das befreiende Zerbrechen der Person einem physischen Erbrechen gleichkommt: „ Der Opfernde ist frei - frei, sich selbst in einem solchen Ausströmen hinzugeben, frei, in ständiger Identifikation mit dem Opfer sein eigenes Wesen zu erbrechen [. . .]. “ 110 Kafkas groteskes Melodrama verrät die falsche Sakralisierung der Opfermythologie und der Tabu brechenden Gewalt. Schmar ist ein Mörder, er „ übergibt sich “ in einem ganz anderen Sinn als der Opfernde, wenn er sich an den Schutzmann ausliefert und an dessen Schulter Halt sucht. Wie ein Helfer oder gar Schutzengel tritt dieser Polizist auf, um den Mörder nachträglich in den Schutz des Gesetzes aufzunehmen, „ leichtfüßig “ kommt bei Kafka der Prozess des Gesetzes in Gang und wie selbstverständlich nimmt die Gerechtigkeit ihren Lauf, um endlich die unerträgliche „ stumme Frage “ , die die physische und geistige Integrität des Brudermörders bedroht, unter dem Urteilsspruch zu begraben. Das expressionistisch geprägte Gebärdenspiel der Gewalt scheint in Kafkas Melodrama der Mordlust vergeblich um seine Beglaubigung zu kämpfen, im Medium der Geste gelingt es jedoch, den Aufriss solch stummer Fragen vor Augen zu führen, kurz bevor diese dem Urteil übergeben werden. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie Im Essay über Franz Kafka spricht Walter Benjamin vom Gestus der Tiergeschichten Kafkas, in dem sich „ die größte Rätselhaftigkeit mit größter Schlichtheit “ verbinde, um die Gebärde des Menschen zu verfremden: „ Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann auf den Namen des Geschöpfs - der Affen, des Hundes oder des Maulwurfs - so blickt man erschrocken auf und sieht, daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen. “ 111 Stellt sich das Tierwerden in der Verwandlung noch als Fluchtweg aus der menschlichen Lebens- und Sprachordnung dar 112 , der mit der Selbstauslöschung des Fami- 109 Levinas, De l ’ évasion, cit. 110 Georges Bataille, Oeuvres complètes, 12 Bände, Bd. 1, Paris 1971, S. 269/ 270. 111 Benjamin, Franz Kafka, cit., S. 19/ 20. 112 Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burckhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, S. 49. Deleuze und Guattari sprechen von schöpferischen Fluchtlinien, die der Mensch durchläuft, wenn er einen Ausweg sucht. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie 177 liensohnes Gregor Samsa endet, so findet die Sprache der Tiere, die aus solchen Verwandlungen hervorgeht, in den späteren Erzählungen ihre eigenen Artikulationsformen, die den Organen und Reaktionen des Körpers abgelauscht sind. Es kann ein unterirdisches Grübeln sein wie im Erzählfragment Der Bau, ein gemeinsames Beißen am Knochen wie in den Forschungen eines Hundes, oder ein „ Denken mit dem Bauch “ , von dem der Affe Rotpeter der Akademie berichtet. Kafkas Rotpeter setzt im Zeitalter, das im Zeichen von Darwin und Nietzsche steht, die Ahnenreihe der gelehrten Affen fort 113 , als teuflische Karikaturen oder naturgeschichtliche Doubletten des Humanen sind diese seit jeher privilegierte Geschöpfe, um den Identitätsschock des europäischen Menschen zu verkörpern. Während sich der Mensch immer unähnlicher wird, tritt der dressierte Affe auf die Bühne, der den „ hohen Herren der Akademie “ über sein äffisches Vorleben berichten soll. Rotpeter stellt auf singuläre Weise Kafkas Antwort auf den Darwinismus und insbesondere auch auf Nietzsches Genealogie der Moral dar, in der vom Willen zur Selbstzucht des „ in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen “ die Rede ist, dem der „ natürliche Ausweg “ der Instinkte „ verstopft war “ 114 . - „ Man beaufsichtigt sich selbst mit der Peitsche “ 115 , so berichtet er den Herren der Akademie über seinen Akt einer gelungenen Selbstdressur, der allerdings ganz ohne jenes „ schlechte Gewissen “ und ohne jene „ Bestialität der Idee “ auskommt, die nach Nietzsche den zivilisierten Christenmenschen kennzeichnen, „ diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch! “ 116 . Die Epoche Kafkas kann als Blütezeit der Dressurleistungen und insbesondere als Glanzzeit der Affendressur gelten, wie sie etwa Carl Hagenbecks großes Zoo- und Zirkusunternehmen vertritt, das im Bericht an eine Akademie auch namentlich erwähnt wird 117 . Rotpeter allerdings betont von Beginn an, dass er nur in „ eingeschränktestem Sinn “ 118 als Kronzeuge für den darwinistischen Diskurs der Anthropogenese auftreten kann, in dessen Licht die Zivilisation als „ Folge gelungener Dressurakte “ und als „ Sündenfall des Affen “ 119 erscheint. Obwohl er selbst die Evolution gleichsam im Zeitraffer 113 Zur literarischen Tradition vgl.: Patrick Bridgewater, Rotpeters Ahnherrn, oder: Der gelehrte Affe in der deutschen Dichtung, In: DVjS 56 (1982), S. 447 - 462. 114 Friedrich Nietzsche, Die Genealogie der Moral" in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München 1980, S. 245 - 412, hier: S. 332. 115 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 311. 116 Nietzsche, Die Genealogie der Moral, cit., S. 332. 117 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 301. Die zeitgenössischen Quellen wurden vor allem in neueren Untersuchungen aufgearbeitet, vgl. Walter Bauer-Wabnegg, Monster und Maschinen, Artisten und Technik in Franz Kafkas Werk, in: Wolf Kittler, Gerhard Neumann (hrsg.), Schriftverkehr, Freiburg i.Br. 1990, S. 316 - 382. 118 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 300. 119 Gustav Janouch, Gespräche mit Franz Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt a. M. (1951) 1968, S. 87. 178 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt „ durchgalloppiert “ hat, kann er der Aufforderung der Akademie, einen Bericht über sein „ äffisches Vorleben “ einzureichen, nicht eigentlich nachkommen, denn als „ gewesenem Affen “ bleibt ihm die animalische Vergangenheit ebenso verschlossen wie allen anderen Menschen, eine stürmische nach „ vorwärts gepeitsche Entwicklung “ treibt ihn unwiderruflich von seinem Ursprung fort. Am Höhepunkt seiner Karriere als Variétékünstler kann Kafkas Menschenaffe nur vom unüberwindlichen Bruch in der evolutionären Kette berichten, der den Menschen vom Affentum trennt. Sein Bericht aber kreist um jene Zäsur, an der sich die animalische Stimme und die menschliche Sprache scheiden und an der sich Tiermensch und Menschentier differenzieren als zwei Gesichter derselben Bruchstelle; er artikuliert sich um jenes missing link in der Kette der Evolution herum, in das sich immer neue Unterscheidungen zwischen Humanität und Animalität einschreiben, um so etwas wie die Konzeption einer unsicheren „ menschlichen Natur “ auszuhandeln. 120 Schon Rotpeters Name charakterisiert ihn im übrigen als hybrides Geschöpf, ein äffischer Name, wie er klagt, ein Namensmal, das eine rote Narbe im Tierkörper bezeichnet. Der Bericht an eine Akademie bleibt so zwar eine ausreichende Antwort auf das Problem der Anthropogenese schuldig, er kann allerdings in einer archäologischen Perspektive, wie Rotpeter ausführt, die „ Richtlinie zeigen, auf welcher ein gewesener Affe in die Menschenwelt eingedrungen ist “ . 121 Was diese Richtlinie der Menschwerdung betrifft, so folgt Kafkas Erzählung - eine Parodie der großen Nietzscheanischen Geste des Ecce homo. Wie man wird, was man ist - einem Stichwort, das der gewesene Affe nicht müde wird zu wiederholen: die Suche nach einem Ausweg. Das Wort Ausweg versteht Rotpeter „ in seinem gewöhnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage absichtlich nicht Freiheit “ . 122 Im Gegensatz zur Freiheit, dieser allzumenschlichen Illusion, die das Gelächter des gesamten Affentums hervorruft, meint der Begriff hier ganz konkret den Ausweg aus dem Käfig, in dem das Tier gefangen ist. Kafkas Erzählung führt dann auch schrittweise dem Leser vor Augen, wie sich der animalischen physis im Kampf gegen die festgerannte Affennatur die Gitterstäbe des Käfigs öffnen. Rotpeters Akt der Selbstdressur, der ihm den menschlichen Lebensraum eröffnet, wird im Nachäffen der Menschen ausgefochten und schließlich auch gewonnen. Zuallererst sieht diese Dressur also das Erlernen der so genannten menschlichen Gesten vor, das für den Kafkaschen Affen jeder sprachlichen Kommunikation vorhergeht: „ Das erste, was ich lernte, war: den Handschlag 120 Vgl. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. 2003, S. 46: „ Der Tiermensch und das Menschentier sind die beiden Gesichter derselben Bruchstelle, die weder von der einen noch von der anderen Seite her geschlossen werden kann. “ 121 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 300. 122 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 304. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie 179 geben “ , so bemerkt er schon zu Beginn seines Berichts nicht ohne Ironie, „ Handschlag bezeugt Offenheit; mag nun heute, wo ich auf dem Höhepunkte meiner Laufbahn stehe, zu jenem ersten Handschlag auch das offene Wort hinzukommen. “ 123 Kafkas „ Ursprungstheater des kulturellen Prozesses “ 124 stellt damit weniger die Sprachwerdung selbst, als vielmehr die Rolle der Nachahmung und der gestischen Selbstdarstellung und Kommunikation ins Zentrum des Berichts. Wieweit sich dabei das „ hohe “ Versprechen der menschlichen Mimesis seiner oft verspotteten Karikatur, dem „ AffenTalent gemeiner Nachahmung “ 125 verdankt, lässt sich an den Schlüsselszenen der Erzählung ablesen. Der Weg des gewesenen Affen in die Menschenwelt stellt sich narrativ als Überfahrt auf dem Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers dar. Die erste Erinnerung, mit der der Affe in der menschlichen Zivilisation aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, setzt im Tierkäfig ein: „ Es war kein vierwandiger Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei Wände an einer Kiste festgemacht; die Kiste also bildete die vierte Wand. Das Ganze war zu niedrig zum Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit eingebogenen, ewig zitternden Knien, und zwar, da ich zunächst wahrscheinlich niemanden sehen und immer nur im Dunkel sein wollte, zur Kiste gewendet, während sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten. “ 126 - „ Kein Ausweg “ , so zeichnet der Bericht „ mit Menschenworten “ das „ damals affenmäßig Gefühlte “ 127 nach, die Ausweglosigkeit des gefangenen Tierkörpers an einer Kistenwand. Sarkastisch räumt Kafkas Menschenaffe dabei schon im Ansatz jedes kausale Denken aus, das den Grund solcher Dinge befragen will: „ Warum das? Kratz dir das Fleisch zwischen den Fußzehen aus, du wirst den Grund nicht finden. Drück dich hinten gegen die Gitterstange, bis sie dich fast zweiteilt, du wirst den Grund nicht finden. “ 128 In den Varianten dieser Passage der Erzählung, die Kafka mehrmals umgeschrieben hat, wird die spezifische 123 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, S. 300. 124 Gerhard Neumann, „ Ein Bericht für eine Akademie “ . Kafkas Theorie vom Ursprung der Kultur, in: Franz Kafka. Ein Landarzt. Interpretationen, hrsg. v. Elmar Locher und Isolde Schiffermüller, Innsbruck, Wien, München, Bozen 2004, S. 275 - 293, hier: S. 275. Vgl. auch: Gerhard Neumann, „ Ein Bericht für eine Akademie “ . Erwägungen zum Mimesis- Charakter der Kafkaschen Texte, DVjS 49 (1975), S. 166 - 183. 125 Andreas Disselnkötter, Claudia Albert, „ Grotesk und erhaben in einem Atemzug “ - Kafkas Affe, „ Euphorion “ 96 (2002), S. 127 - 144, hier: S. 133. Disselnkötter und Albert zitieren hier Friedrich Schiller und lesen den Text mit Bezug auf Schillers Ästhetik des Erhabenen, sie setzen sich zu Beginn kritisch mit der „ neuen Faktengläubigkeit “ (cit., S. 128) der jüngeren Forschung auseinander, die sich primär mit dem Quellenmaterial beschäftigt und diskutieren die Forschungsbeiträge, in denen Rotpeter als Modellfigur der sozialen Mimikry der Juden interpretiert wird (cit., S. 131 - 133). 126 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 302. 127 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 303. 128 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 304. 180 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Bedeutung herausgearbeitet, die die Suche nach dem Ausweg für das äffische Wesen hat: „ Wird ein Mensch eingesperrt [. . .] hat er die Auswege des Geistes, er schleicht sich auf dem geistigen Weg aus seiner Zelle “ , der Affe dagegen muss physisch „ mit dem blutenden Kopf voran “ ausbrechen, sein Ausweg, der nur die Gittertür des Käfigs kennt, ist daher „ (bedeutungsvoller) als der [bloß] körperliche Ausweg des Menschen, der Affe ist viel mehr auf Ja und Nein gestellt als der Mensch, gelingt es ihm auszubrechen, so ist er gerettet “ . 129 Die rettende Wendung des eingesperrten Tierkörpers zur Menschenwelt - so führt Kafkas Bericht dann vor Augen - kann nur buchstäblich und konkret geschehen, als wortwörtliche Umwendung des Körpers, mit der der frustrierte Affe seine natürliche Abneigung gegen die Menschen überwindet und sich ihrer Welt zuwendet. Nicht dass das Affentier besondere Zuneigung zu den Menschen empfände, nur die Blickrichtung ändert sich nun: während der Körper im Käfig gefangen bleibt, richtet sich der Blick des Affen durch die Gitterstäbe des Käfigs hindurch auf das Verhalten der Menschen. Kafkas Bericht zeigt dem Leser das äußere Panoptikum, das so im Tierblick erscheint: es ist der Kreis der Matrosen auf dem Schiff, „ gute Menschen “ , wie Rotpeter versichert, deren Ruhe sich dem Gedächtnis des Affen einprägt und ihn von jedem Fluchtversuch abhält: Sie hatten die Gewohnheit, alles äußerst langsam in Angriff zu nehmen. Wollte sich einer die Augen reiben, so hob er die Hand wie ein Hängegewicht. Ihre Scherze waren grob, aber herzlich. Ihr Lachen war immer mit einem gefährlich klingenden aber nichts bedeutenden Husten gemischt. Immer hatten sie im Mund etwas zum Ausspeien und wohin sie ausspieen war ihnen gleichgültig. Immer klagten sie, daß meine Flöhe auf sie überspringen; aber doch waren sie mir deshalb niemals ernstlich böse; sie wußten eben, daß in meinem Fell Flöhe gedeihen und daß Flöhe Springer sind; damit fanden sie sich ab. Wenn sie dienstfrei waren, setzten sich manchmal einige im Halbkreis um mich nieder; sprachen kaum, sondern gurrten einander nur zu; rauchten, auf Kisten ausgestreckt, die Pfeife; schlugen sich aufs Knie, sobald ich die geringste Bewegung machte; und hie und da nahm einer einen Stecken und kitzelte mich dort, wo es mir angenehm war. 130 Langsam und bedächtig erscheinen die Bewegungen der Matrosen auf dem Schiffsdeck, schwerfällig und gutmütig sind ihre Glieder und Gebärden. Kafkas Erzählung zeigt dem Leser das Bild eines Alltagsrituals, in dem die Handlungen der Menschen wie verzögert und zeitlupenartig verfremdet wirken. Im Blick des Affen werden die menschlichen Gesten zum Gegenstand eines Studiums, das den Gewohnheiten und Gesetzen einer „ zweiten Natur “ nachgeht, wobei jede Gebärde einzeln beobachtet und eingeübt wird. Langsam und schwer erscheint diese zweite menschliche Natur, die sich dem ruhigen Beobachter erschließt, und doch nicht unähnlich der animalischen 129 Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, cit., S. 375. 130 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 305/ 306. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie 181 Gemeinschaft, was scheinbar auch die Flöhe wissen, die vom Tier zum Menschen überspringen: ein Gurren verbindet beide, das ohne distinktive Sprachlaute auskommt, ein Husten, der nichts bedeutet, ein Speien oder Kitzeln, das dem Affen wie auch dem Menschen wohl tut. Relativ einfach erscheint dann auch der Schritt von der bloßen Beobachtung zur eigentlichen Verhaltensforschung, die in den Haltungen und Bewegungsabläufen der eigentümlichen Species ‚ Mensch ‘ nach wiederkehrenden, behaviouristisch zu nennenden Schemata sucht: „ Ich sah diese Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer. Dieser Mensch oder diese Menschen gingen also unbehelligt. Ein hohes Ziel dämmerte mir auf. Niemand versprach mir, daß, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die Versprechungen genau dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat. “ 131 Das „ hohe Ziel “ , das dem Kafkaschen Affen aufdämmert, betrifft die Aussicht, dass auch er „ so wie sie werden “ kann, ein Mensch, der sich scheinbar ohne Käfig bewegt. Im animalischen Bewusstseinsdämmer solch mimetischen Verhaltens, in dem die Ähnlichkeit mit dem Menschen ausagiert wird, gibt es keine Antizipation des Ziels, kein sinn- und bedeutungsvolles Versprechen, das die Zukunft einlösen soll, das Versprechen erschließt sich erst nachträglich als retroaktiver Mechanismus, als unverhoffter Lohn einer gelungenen Konditionierung. Erst nach erfolgter Einübung in die zweite Natur können schließlich die konkreten Gitterstäbe des Tierkäfigs aufgezogen werden. Wie die Varianten dieser Passage der Erzählung bezeugen, geht es Kafka um die Inversion zwischen Versprechen und Erfüllung, um die Umkehr finalen und kausalen Denkens im mimetischen Verhalten, das immer erst nachträglich die Erfüllung eben dort erscheinen lässt, „ wo man sie früher gesucht hat. “ 132 Kafkas Erzählung stellt das Versprechen der Nachahmung an den Ursprung der Menschwerdung und des sozialen Lernprozesses, der sich dem Nachäffen des Gruppenverhaltens verdankt. Sie spricht damit aber auch einer äffischen Karikatur der aristotelischen Mimesis das Wort und parodiert die aristotelische Lehre vom natürlichen Ursprung der Kunst. 133 Nach Aristoteles ist es nur der Mensch, der im eigentlichen Sinne nachahmt, denn nur er lernt durch Ähnlichkeit und nur ihm macht das Nachahmen Freude: „ darin unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen, daß er am meisten zur Nachahmung befähigt ist und das Lernen sich bei ihm am Anfang durch Nachahmung vollzieht; und außerdem freuen sich alle Men- 131 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 307. 132 Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparat, cit., S. 381. 133 Vgl. Joseph Vogl, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1980, S. 30 f. 182 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt schen an den Nachahmungen. “ 134 Die so verstandene klassische Mimesis ist alles andere als tierische Grimasse, sie gehört dem logos der menschlichen Sprache an und ist an die Möglichkeit von Erkenntnis und Wahrheit gebunden. Ist die Nachahmung Rotpeters, die den anthropomorphen Charakter der Mimesis angreift, dagegen nichts als seelenlose Mimikry? Ausdrücklich weist Kafkas Menschenaffe zunächst darauf hin, wie fern ihm jedes humane Vergnügen steht: „ Nun war an diesen Menschen an sich nichts, was mich sehr verlockte. Wäre ich ein Anhänger jener erwähnten Freiheit, ich hätte gewiß das Weltmeer dem Ausweg vorgezogen, der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte. “ 135 Trüb ist in dieser animalischen Sicht der Spiegel, in dem so etwas wie eine menschliche Seele aufscheinen soll, opak und undurchsichtig ist die humane psyche, in der sich kein Affe wieder erkennen will. Das Seelenlose der äffischen Mimikry stellt Kafkas Erzählung also in ein positives Licht. Nichts verlockt Rotpeter zur Mimesis der Menschen. Fern steht dem Affen Kafkas damit wohl auch die imaginäre Identifikation und die jubilatorische Geste des Spiegelstadiums, die nach Jacques Lacan so ergreifend die Eigenart des Menschenjungen in seiner Distinktion vom Affenkind vor Augen führt und die humane Entwicklung ausrichtet auf die ideale Ganzheit der menschlichen Gestalt, die „ bildnerische Wirkungen auf den Organismus auszuüben vermag. “ 136 Gegenüber den psychoanalytischen Spekulationen zur Mimesis und Mimikry, die die menschliche Psyche ausleuchten und auf ein Idealbild des Ich ausrichten, ist der Bericht an eine Akademie von einer behaviouristischen, ja spiegelneuronalen Aktualität, die den heutigen Leser erstaunen mag. Auf jeden Fall will es Kafkas Menschenaffe auch gegen Ende der Erzählung noch einmal ausdrücklich betonen: „ Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund. “ 137 Im Bericht an eine Akademie folgt Kafkas Protagonist also der Richtlinie der äffischen Nachahmung, um deren Versprechen nachträglich im Ausweg der Menschwerdung einzulösen. Er führt dabei die Urszenen einer Nachahmung vor Augen, deren mimetisches Prinzip das anthropomorphe Ideal der Mimesis aushöhlt und sarkastisch ins Lächerliche zieht. Allen voran sind es in diesem Zusammenhang die Ausdrucksgebärden einer natürlichen Abscheu, die auf die Einübung spezifisch menschlicher Genüsse vorbereiten: „ Es war so leicht, die Leute nachzuahmen. Spucken konnte ich schon in den ersten Tagen. Wir 134 Aristoteles, Poetik, Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Olof Gigon, Stuttgart 1911, Kap. 4, S. 26/ 27. 135 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 307/ 308. 136 Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: ders., Schriften I. Ausgewählt und hrsg. v. Norbert Haas, 3. korr. Aufl., Weinheim, Berlin 1991, S. 61 - 70, hier: S. 65. Vgl. Andreas Disselnkötter, Claudia Albert, „ Grotesk und erhaben in einem Atemzug “ , cit., S. 141, wo von einer Satire auf Lacan die Rede ist. 137 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 311. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie 183 spuckten einander dann gegenseitig ins Gesicht; der Unterschied war nur, daß ich mein Gesicht nachher reinleckte, sie ihres nicht. Die Pfeife rauchte ich bald wie ein Alter; drückte ich dann auch noch den Daumen in den Pfeifenkopf, jauchzte das ganze Zwischendeck; nur den Unterschied zwischen der leeren und der gestopften Pfeife verstand ich lange nicht. “ 138 Voraussetzung für das Erlernen solch distinktiver kognitiver Merkmale ist ein eigenes pädagogisches Szenario, in dem der Affe in „ inneren Kämpfen “ seine Abscheu vor den menschlichen Genussmitteln überwinden muss. Beispielhaft steht dafür der Alkoholtest, Spiritus im wörtlichen Sinn, der zum Prüfstein der Zivilisationsfähigkeit des Affen wird. Wenn Rotpeter mit Mühe den Ekel vor der Schnapsflasche überwindet, deren Geruch ihn peinigt, so gelingt ihm dies durch einen Anschauungsunterrricht im menschlichen Verhalten, der sich ganz nach den Prinzipien des Behaviourismus ausrichtet. Ausführlich und anschaulich führt Kafka die groteske Szene dieses mimetischen Lernprozesses vor Augen, der keine kognitive Intention kennt, weder unbewusste Instinkte noch imaginäre Ideale, nur den Käfig der Konditionierung und die Mechanismen von Demonstration, Imitation, Assoziation und Verstärkung. Direkt stößt in dieser Szene das wilde Verlangen nach äffischer Nachahmung auf den Willen eines menschlichen Lehrers, der das Rätsel der Tiernatur lösen will: Er begriff mich nicht, er wollte das Rätsel meines Seins lösen. Er entkorkte langsam die Flasche und blickte mich dann an, um zu prüfen, ob ich verstanden habe; ich gestehe, ich sah ihm immer mit wilder, mit überstürzter Aufmerksamkeit zu; einen solchen Menschenschüler findet kein Menschenlehrer auf dem ganzen Erdenrund; nachdem die Flasche entkorkt war, hob er sie zum Mund; ich mit meinen Blicken ihm nach bis in die Gurgel; er nickt, zufrieden mit mir, und setzt die Flasche an die Lippen; ich, entzückt von allmählicher Erkenntnis, kratze mich quietschend der Länge und Breite nach, wo es sich trifft; er freut sich, setzt die Flasche an und macht einen Schluck; ich, ungeduldig und verzweifelt, ihm nachzueifern, verunreinige mich in meinem Käfig, was wieder ihm große Genugtuung macht; und nun weit die Flasche von sich streckend und im Schwung sie wieder hinaufführend, trinkt er sie, übertrieben lehrhaft zurückgebeugt, mit einem Zuge leer. Ich, ermattet von allzugroßem Verlangen, kann nicht mehr folgen und hänge schwach am Gitter, während er den theoretischen Unterricht damit beendet, daß er sich den Bauch streicht und grinst. 139 Affe und Mensch kämpfen hier, wie es weiter heißt, „ auf der gleichen Seite gegen die Affennatur “ 140 , der Affe ganz unkontrollierbares Verlangen, mimische Ungeduld des Körpers, wort- und atemlose Reaktion, der Mensch ganz demonstrativer Gestus, Skandierung des Handlungsablaufs in Lernsegmente, Blickkontrolle und gestische Verstärkung. Lebhaft wird dem Leser dieser gemeinsame Kampf von Affe und Mensch vergegenwärtigt, wobei der Über- 138 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 308. 139 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 308/ 309. 140 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 310. 184 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt gang vom Präteritum des Berichts ins szenische Präsens ein glückliches Gelingen des Zusammenspiels der mimetischen Kräfte in Aussicht stellt. Doch die Theorie des mimisch-gestischen Verhaltens ist - so weiß der Affenmensch - untrennbar mit ihrer Einübung in die Praxis verbunden. Immer wieder muss Rotpeter deshalb die praktische Übung wiederholen, um das verheißene Ziel näher zu bringen, immer wieder beginnt er zitternd, die Flasche zu entkorken und anzusetzen, „ vom Original schon kaum zu unterscheiden “ 141 , wiederholt jedoch scheitert seine Übung an einer Schwelle, die ihm den Zugang zur menschlichen Praxis versperrt, nämlich dem Ekel: „ und werfe sie mit Abscheu, mit Abscheu, trotzdem sie leer ist und nur noch der Geruch sie füllt, werfe sie mit Abscheu auf den Boden. “ 142 Dreimal wird im Text das Wort „ Abscheu “ wiederholt zur Markierung jenes Bruchs, der das Tier vom Menschen, den Instinkt vom Begehren, die Natur von der Kultur trennt. Wie Winfried Menninghaus in seiner Kulturgeschichte des Ekels ausführt, ist der Ekel nicht nur eine „ starke Vitalempfindung “ , er wirkt auch als „ affektiver Operator elementarer zivilisatorischer Tabus “ , der die „ akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit “ signalisiert, „ ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein und Nicht-Sein geht. “ 143 Im Denken von Nietzsche und Freud ist der Ekel daher ein distinktives Merkmal, das auf die abgewehrte Wahrheit der Tiernatur ebenso verweist wie auf die Trieb sublimierenden Effekte der gelungenen Zivilisation, bei Kafka fungiert er als vitales Signal, das über Ja oder Nein der menschlichen Natur entscheidet. Den Höhepunkt von Kafkas Erzählung stellt deshalb zweifellos die Feuerprobe mit der Schnapsflasche dar, in der Rotpeter seine Abscheu überwindet und einen erhabenen Sieg über die animalischen Sinne feiert, der aus der Disziplinierung der mimetischen Kräfte hervorgeht, ein Sieg, an dem Mensch und Affe gleichermaßen beteiligt sind: Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich eines Abends vor großem Zuschauerkreis - vielleicht war ein Fest, ein Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwischen den Leuten - als ich an diesem Abend, gerade unbeachtet, eine vor meinem Käfig versehentlich stehen gelassene Schnapsflasche ergriff, unter steigender Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte, an den Mund setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker von Fach, mit rund gewälzten Augen, schwappender Kehle, wirklich und wahrhaftig leer trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche hinwarf; zwar vergaß den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz und gut „ Hallo! “ ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in die Menschengemeinschaft sprang und 141 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 309 142 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 310. 143 Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 7/ 8. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie 185 ihr Echo: „ Hört nur, er spricht! “ wie einen Kuß auf meinen ganzen schweißtriefenden Körper fühlte. 144 Die Szene, in der Rotpeter nun nicht mehr „ als Verzweifelter, sondern als Künstler “ agiert, beschreibt die Geburt des Menschen in der artistischen Geste, Schlüsselszene einer Kafkaschen Geneologie der Kunst, in deren Zentrum die mimisch-gestische performance steht. Der dressierte Affe deklariert sich selbst zum Virtuosen, indem der die besoffene Grimasse der Menschen als seine erste Varieténummer inszeniert. In Kafkas Erzählung ist die Sprachwerdung nur ein sekundärer Effekt der artistischen Vorführung, mit der der Affe den Sprung in die Menschenwelt schafft, die menschliche Stimme stellt sich als bloßes Epiphänomen einer mimisch-gestischen Nachahmung dar, die die höchste Errungenschaft des zoon logon echon in ein bitter satirisches Licht stellt. Im menschlichen Echo mag also der Ausruf Hallo den Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache bedeuten, ein Wort menschlicher Kontaktaufnahme, das - wie in kulturwissenschaftlicher Perspektive ausgeführt wurde - auch am Anfang des Fernsprechens und der modernen Mediengeschichte steht. 145 Kafka allerdings geht es kaum um intermediale Entdeckungen, seine Erzählung will vor allem die Affenwahrheit des Menschenlauts demonstrieren, den Ausbruch ins „ Hallo “ als Reflex auf den Ausnahmezustand der überwältigten und berauschten Sinne. Auch die Antwort auf diesen Ruf, der nichts weniger als den Sprung in die Menschengemeinschaft signalisiert, kann für den Affen nichts anders bedeuten als einen „ Kuss “ , das heißt die Aufnahme des gepeinigten animalischen Körpers in die Affektgemeinschaft menschlicher naturentfremdeter Libido. Wie diese Schlüsselszene von Kafkas Poetik zeigen kann, kommt Rotpeter als mimischer Virtuose im Medium der Geste zur Welt, noch bevor er sich in der Allgemeinheit der menschlichen Sprache wieder erkennen kann. Kafkas Bericht an eine Akademie entwirft die Genealogie einer artistischen Vernunft, die das Überleben des Tierkörpers in der menschlichen Mimikry zum Ziel hat. Wenn dem dressierten Affen nur zwei Alternativen offen stehen: „ Zoologischer Garten oder Varieté “ , so entscheidet er sich ohne Zögern und setzt alle Kraft daran, „ um ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du verloren. “ 146 Rotpeter „ schlägt sich in die Büsche “ : als virtuoser Künstler, der die Gesten der Menschen inszeniert, entgeht er der Gefangenschaft im Menschenzoo. Seiner hybriden Natur gemäß entscheidet er sich für die permanente Selbstkonstitution und Selbstinszenierung im als ob des Menschen, er macht mit anderen Worten die Fluchtlinie aus dem Käfig zur 144 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 310/ 311. 145 Vgl. Walter Bauer-Wabnegg, Monster und Maschinen, cit., das Kapitel III: Der Affe und das Grammophon: „ Ein Bericht an eine Akademie “ , S. 350 - 368. 146 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 311. 186 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Richtlinie seiner Menschwerdung, um sich selbst in seiner Kunstübung immer wieder neu zu übertreffen. Kafkas Menschenaffe findet so seinen Ausweg in eine Zivilisation, in der die humanistische Utopie an ihr Ende gelangt ist und die implizite Gewalt offenbar wird, die sich mit dem humanistischen Diskurs der Menschenformung verbunden hatte. Rotpeter schlägt sich dabei nicht auf die Seite der Machthaber, die der Zooleiter und Züchter, die sich im anthropotechnischen Zeitalter unserer Gegenwart wieder zu Wort melden. Man denke etwa an die Regeln für den Menschenpark, wo Peter Sloterdijk mit und nach Heideggers Humanismusbrief der Frage nachgeht: „ Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? “ 147 Sloterdijks Erzählung von der Zähmung des Menschen als gescheitertem Tier greift auf Darwin und Nietzsche zurück und entwirft mit der These vom „ Menschen als Züchter des Menschen “ 148 den Horizont eines posthumanistischen und anthropotechnischen Zeitalters, in dem sich die gattungspolitische Entscheidung über genetische Selektion und Manipulation als dringlichstes Problem der Zukunft stellt. Kafkas Erzählung antwortet auch heute noch auf solche Provokationen, die von der zynischen Vernunft biotechnologischer Zukunftsvisionen ausgehen. Der Bericht des gewesenen Affen invertiert und subvertiert nicht nur die alte metaphysische Vorstellung des Menschen als animal rationale, er wendet sich auch entschieden gegen die Domestikation der Körper im postmodernen Menschenzoo. Kafka schreibt seine Erzählung von der Menschwerdung mit und gegen den Darwinismus, der die zivilisierte Welt als „ Folge gelungener Dressurakte “ 149 darstellt. Sein Protagonist ist kein assimilierter Menschenaffe, der die animalische Natur bezwungen hat, denn es geht nicht mehr darum, wie der Mensch den Affen überwindet, sondern wie der Affe „ im ganzen Menschengeschlecht “ 150 weiterlebt. Rotpeter überlebt in der menschlichen Zivilisation als Künstler und folgt den Richtlinien einer artistischen Vernunft, die auch Nietzsches Artistenmetaphysik übertrifft. Als Anpassungskünstler kann er sich in den Dispositiven der Macht bewegen, als Zirkusartist hat er die Bretter des Tierkäfigs zur Bühne gemacht, als Impresario weiß er sein Geschäft auf den „ großen Bühnen der Zivilisation “ zu betreiben und die Schatten- und Nachtseite artistischen Virtuosentums im Verborgenen zu halten: die „ kleine halbdressierte Schimpansin “ , die ihn zu Hause erwartet mit ihrem irrsinnig 147 Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 31/ 32. 148 Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, cit., S. 39. 149 Janouch, Gespräche mit Kafka, cit., S. 87. Janouch zufolge formuliert Kafka seinen Einspruch vor allem gegen die menschliche „ Sehnsucht nach einer scharfen Abgrenzung “ , die „ ständig zu Begriffsüberspitzungen und damit immer wieder zu neuen Täuschungen “ führt. 150 Ebenda. 6.4 Das Versprechen der Nachahmung: Ein Bericht für eine Akademie 187 verwirrten Blick, den Rotpeter bei Tag nicht ertragen kann. Nach außen hin stellt der Menschenaffe die lässig versierte Haltung des Kolonisators im Schaukelstuhl zur Schau, die nichts als den Triumph seiner erfolgreichen Selbstdressur zum Ausdruck bringt: „ Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster. “ 151 Die Gelassenheit dieser Haltung entspricht der nüchternen Distanziertheit von Rotpeters Bericht, der auch dem pathetischen Gestus der „ Dialektik der Aufklärung “ fern steht - „ Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen [. . .]. “ 152 In Kafkas Bericht verbindet sich die Karikatur der anthropomorphen Mimesis mit einer Umkehr der Perspektive: der Blick wendet sich ab von der menschlichen Gestalt und von der Entstellung ihrer Gebärden, er richtet sich auf die Kunst der äffischen Nachahmung, in der sich eine radikale Befragung der conditio humana artikuliert, die die Denkformen des Humanismus verabschiedet hat. Während sich der Mensch immer unähnlicher wird, tritt der selbstdressierte Affe als Virtuose der Nachahmung auf die Bühne, um die einstudierten Gesten und Haltungen der Menschen vorzuführen. Der Bericht an eine Akademie, der als Kafkas Beitrag zur aktuellen Kulturwissenschaft gelesen werden kann, erzählt nicht nur vom Ausweg der artistischen Vernunft und von den Überlebensstrategien des Künstlers in der Zivilisation der Postmoderne, er legt damit auch den poetologischen Kern einer Kunst einer Mimesis frei, die sich in ihren Gesten immer wieder ganz aufs Spiel setzen muss, um die Richtlinie der Menschwerdung nicht aus den Augen zu verlieren. 151 Kafka, Drucke zu Lebzeiten, cit., S. 313. 152 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt a. M. 1988, S. 40; cit. bei Disselnkötter, Albert, „ Grotesk und erhaben in einem Atemzug “ , cit., S. 138. 188 Gestus und Parabel. Geschichten aus Ein Landarzt Bibliographie 1. Ausgaben Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hrsg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley e Jost Schillemeit, mit der Mitarbeit von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe e Marthe Robert, New York, Frankfurt a. M. 1982 ff. - Das Schloss. Roman, hrsg.. v. Malcolm Pasley, Text- und App.-Band, 1982. - Der Verschollene. Roman, hrsg. v. Jost Schillemeit. Text- und App.-Band 1983. - Der Prozess. Roman, hrsg. v. Malcolm Pasley. Text- und App.-Band 1990. - Tagebücher, hrsg. v. Hans Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Text- und App.-Band 1990. - Nachgelassene Schriften und Fragmente I., hrsg. v. Malcolm Pasley. Text- und App.-Band 1993. - Nachgelassene Schriften und Fragmente II., hrsg. v. Jost Schillemeit. Text- und App.-Band 1992. - Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. Wolf Kittler, Hans Gerard-Koch und Gerhard Neumann. Text- und App.-Band 1994. - Briefe 1900 - 1912, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, 1999 [Texte, Kommentar und Apparat in einem Band]. - Briefe 1913- März 1914, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, 2001 [Texte, Kommentar und Apparat in einem Band]. - Briefe April 1914 - 1917, hrsg. v. Hans-Gerd Koch, 2005 [Texte, Kommentar und Apparat in einem Band]. Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, mit der Mitarbeit von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe e Marthe Robert, Frankfurt a. M. 2002 (Fischer Taschenbuch Verlag). Franz Kafka, Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoscripte, hrsg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Basel u. a. 1997 ff. [Facsimile Edition. Bisher erschienen: Der Prozess (1997); Beschreibung eines Kampfes (1999); Oxford Quartheft 1&2 (2001); Die Verwandlung (2003); Oxforder Oktavhefte 5&6 (2009), Oxforder Oktavhefte 7&8 (2010)]. Franz Kafka, Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt a. M. 1950 - 1974 [in Einzelbänden]. Franz Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hrsg. v. Erich Heller und Jürgen Born, mit einer Einleitung von Erich Heller, Frankfurt a. M. 1967. Franz Kafka, Briefe 1902 - 1924, ungekürzte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1975. 2. Bibliographien und Konkordanzen Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912 - 1924, hrsg. v. Jürgen Born, unter der Mitarbeit von Herbert Mühlfeit e Friedemann Spicker, Frankfurt a. M. 1979. Caputo-Mayr, Maria Luise, Herz M. Julius, Franz Kafka. Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, München 2000. - Band I: Eine Bibliographie der Primärliteratur 1908 - 1997. - Band II: Eine kommentierte Bibliographie der Sekundärliteratur 1955 - 1997. Synoptische Konkordanz zu Franz Kafkas Nachgelassenen Schriften und Fragmenten, bearbeitet von Ralf Becker u. a., 3 Bände, Tübingen 2003. 3. Forschungsliteratur zu Franz Kafka Adamzik, Sylvelie, Kafka. Topographie der Macht, Basel 1992. 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27, 28, 30, 33, 34, 35, 39, 128, 171 Bridgewater Patrick 178 Brod Max 9, 49, 73, 85, 86, 97, 111, 171 Buber Martin 147 Bühler Karl 21 Busch Walter 13, 19 Calasso Roberto 150 Canetti Elias 130 Cersowsky Peter 94 Chaplin Charlie 32, 33, 96, 168, 171 Colli Giorgio 148 Darwin Charles 17, 178, 187 David Claude 113 Deleuze Gilles 12, 43, 85, 94, 95, 130, 177 De Man Paul 114 Derrida Jacques 130, 164 Dienes Gerhard 38 Diez Ludwig 105 Disselnkötter Andreas 180, 183, 188 Egidi Margreth 12 El Greco 28,172 Ellrich Lutz 148 Elm Theo 161 Engelmann Peter 130, 164 Febel Gisela 51 Fontana-Hentschel Elisabetta 102 Foucault Michel 50, 123 Freud Sigmund 185 Frisé Adolf 111 Fromm Waldemar 134 Gallus Jörg 127 Garcia Düttmann Alexander 102 Geertz Clifford 134 Geisenhanslüke Achim 148 Georg-Lauer Jutta 13, 37, 91, 102 Gigon Olof 183 Gilman Sander L. 174 Giurato Davide 132 von Goethe Wolfgang 24, 77, 174 Gordin Jacob Mikhailovich 80 Goldfaden Abraham 80 Grimm Jacob und Wilhelm 111, 125 Groß Hans 131 Grundlehner Philip 9, 137 Guattari Félix 12, 85, 94, 95, 130, 177 Guntermann Georg 42, 48, 88 Haart-Nibbrig Christiaan 162, 165, 167 Haas Norbert 183 Hagenbeck Carl 178 Hamacher Werner 9, 36, 37, 39, 105, 114, 163 Hansen Miriam 169 Härle Clemens Carl 9, 38, 148 von Hartlieb Justus 9, 122 Hauptmann Elisabeth 171 Haverkamp Anselm 134 Heidegger Martin 187 Heller Erich 159 Hermes Roger 152, 158, 159 von Hofmannsthal Hugo 13, 24, 30, 31, 99, 103, 169 Hiebel Hans Helmut 147, 161 Höffner Christina 9 Honold Alexander 22, 26, 39, 107, 161, 163, 165 Horkheimer Max 188 Jagow Bettina von 8 Jahraus Oliver 8 Jäger Lorenz 9, 21, 22, 24, 39 Jahn Wolfgang 32 Janouch Gustav 10, 49, 178, 187 Jesenkà Milena 77 Jolles André 13 Kellermann Bernhard 44 Kittler Wolf 9, 42, 93, 107, 152, 154, 178 Klee Paul 50 von Kleist Heinrich 95, 122, 133 Koch Hans-Gerd 29, 41, 42, 73, 93, 119, 127, 128, 153, 154, 170 Kraft Werner 171, 172, 174, 176 Kraus Karl 85 Kroeber Burckhart 12, 130, 177 Kramer Sven 35, 39 Kofler Peter 12, 162 Kommerell Max 13 Kraft Werner 22, 39 Krumme Peter 114 Kuepper Karl J. 9, 133 Kundera Milan 131 Kurbacher Frauke Annegret 115 Kurz Gerhard 91, 93, 103, 111, 159 Lacan Jacques 183 Lack Elisabeth 9, 41, 78 Ledueil Jutta 51 Leroi-Gourhan André 80 Lethen Helmut 173 Liebrand Claudia 8, 27, 130, 131, 148 Lévy-Bruhl Lucien 21 Le Rider Jacques 41 Leupold Dagmar 148 Lévinas Emmanuel 96, 141, 177 Locher Elmar 12, 38, 153, 162, 180 Löwy Isaak 82, 159 Lüdemann Susanne 129 Luehrs-Kaiser Kai 12 Marc Franz 170 Massalongo Milena 29, 38, 39, 173 Massino Guido 80, 84, 85 von Matt Peter 46, 48 Mauthner Fritz 169 Mayer Hans 21, 30, 39 Meyer Sven 8 Menninghaus Winfried 46, 150, 173, 176, 185 Mladek Klaus 9 Montinari Mazzino 148 Moses Stéphane 26, 35, 39 Müller Bernd 9, 27, 35, 39, 40 Müller Michael 29, 41, 42, 119, 128, 152, 153, 166 Müller Klaus-Detlev 134 Müller-Schöll Ulrich 38 Musil Robert 111 Nägele Rainer 41 Nancy Jean-Luc 51 Neis Edgar 156, 158 Neumann Gerhard 9, 11, 42, 115, 152, 154, 178, 180 Neymeyr Barabara 166 Nietzsche Friedrich 17, 91, 148, 152, 159, 160, 178, 179, 185, 187 Pasley Malcolm 18, 29, 41, 42, 97, 113, 119, 128, 129, 132, 153, 161 Perfahl Jost 155 Picasso Pablo 48, 153 Pickerodt Gerhart 13 Politzer Heinz 161 Pollak Oskar 93, 94, 95, 96, 97, 102 Pollak-Karlin Richard 44 204 Personenverzeichnis Regehly Thomas 9, 21 Reuß Roland 8, 42, 97 Rexroth Tilman 108 Richter Helmut 117, 158 Riek Walter 175 Rilke Rainer Maria 13 Rolleston James 112 Rosenzweig Franz 105 Rother Ralf 38 Ryan Judith 104 Sartre Jean Paul 176 Scheuer Hans Jürgen 9, 112, 115 Schiavoni Giulio 35, 39, 130 Schiffermüller Isolde 12, 29, 38, 94, 130, 132, 148, 153, 162, 180 Schiller Friedrich 24, 75, 76, 122, 155, 180 Schillemeit Jost 42, 93, 97, 98, 99, 104, 131, 167 Schmidt Friedrich 129 Schmitt Jean-Claude 105 Scholem Gershom 22, 25, 35, 36, 39, 40, 50, 129, 130, 168 Schöne Albrecht 26, 35 Schössler Franziska 131 Schneider Marianne 38, 124 Schubert Rolf 105 Schulz Sabine 47 Schulze Bodo 105 Schweppenhäuser Hermann 7, 21, 26, 50, 108, 128, 168, 171 Schibs Bernd 95 Shakespeare William 174 Sebald W. G. 8 Sell Robert 9 Seurat Georges 153 Shahar Galili 153 Sloterdijk Peter 152, 187 Smith David E. 9, 133 Sokel Walter H. 150 Sprenger Peter 162 Stach Reiner 80, 81, 89, 128, 135 Staengle Peter 8, 42, 97 Theissen Bianca 12, 38 Thüring Hubert 129 Tiedemann Rolf 7, 21, 26, 108, 171 Thies Lehmann Hans 113 Torton Beck Evelyn 80, 85 Trakl Georg 170 Tschissik Mania 82, 83 Ueding Gert 12, 94 Unseld Joachim 97 Utz Peter 12, 153 Vogl Joseph 11, 27, 43, 95, 98, 99, 157, 159, 182 Valéry Paul 48 Veerbeeck Ludo 134 Wahrig Gerhard 12 Walser Robert 111, 153 Warburg Aby 13 Weber Samuel 38, 39 Wedekind Frank 153, 154, 160 Welles Orson 130 Weidl Erhard 153 Weiler Hedwig 99 Weinberg Kurt 117 Willer Stefan 118, 119 Wittgenstein Ludwig 7 Zemp Werner 48 Zischler Hanns 32, 33, 169 Personenverzeichnis 205 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die erste und einzige umfassende Darstellung von Ecos Leben und seinem Gesamtwerk - hintergründig, spannend, mit neuen Erkenntnissen. Für Eco-Leser ein Muss! Der international hoch angesehene Romanist und profunde Eco- Kenner Michael Nerlich legt mit dieser Biographie die erste und bislang einzige Darstellung von Ecos Leben und Werk vor. Er macht uns vertraut mit den geschichtlichen, philosophischen und kulturellen Entwicklungen der jüngeren italienischen Vergangenheit und zeigt, wie diese im Leben des 1932 geborenen und vom Faschismus traumatisierten Eco, in seinen politischen, philosophischen und künstlerischen Überzeugungen ihren Widerhall finden. Herzstück der Biographie aber ist die so spannende wie kenntnisreiche Interpretation der fünf großen Romane Der Name der Rose, Das Foucaultsche Pendel, Die Insel des vorigen Tages, Baudolino und Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, die alle - und das ist eine neue Erkenntnis - auch als politische, philosophische und kulturelle Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gelesen werden können und müssen. Michael Nerlich UMBERTO ECO Die Biographie 2010, XVIII, 350 Seiten, 28 Abb., davon 19 farbig gebunden mit Schutzumschlag Format 13,5 x 21,5 cm €[D] 29,90/ SFr 49,90 ISBN 978-3-7720-8353-2 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Der vorliegende Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen sind und in bislang bereits zehn Bänden publiziert wurden. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, spanischen, englischen, dänischen, italienischen und amerikanischen Literatur und umspannt einen Zeitraum von der Renaissance bis zur Gegenwart. Die Interpretation der Texte verbindet sich dabei mit der Frage ihres Status im literarischen Kanon, die immer wieder neu zu verhandeln und zu begründen ist. Gerade in einer Zeit verschärfter Kanondebatten und des Aufstiegs neuer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Gunter Butzer Hubert Zapf (Hrsg.) Grosse Werke der Literatur Band XI Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2010, 277 Seiten €[D] 39,90/ SFr 67,00 ISBN 978-3-7720-8329-7