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Komparatistische Perspektiven

2011
978-3-7720-5407-5
A. Francke Verlag 
Peter V. Zima

Das vorliegende Buch steckt die Möglichkeiten der Theoriebildung in der Vergleichenden Literaturwissenschaft ab. Während im Ersten Teil Vorschläge zu einer soziologischen und semiotischen Fundierung der literarischen Komparatistik gemacht werden, wird im Zweiten Teil versucht, die theoretischen und methodologischen Erkenntnisse auf die vergleichende literarische Periodisierung anzuwenden. Zugleich nimmt sich der Autor vor, den Dialog zwischen der literarischen Komparatistik und den anderen Komparatistiken zu intensivieren.

Peter V. Zima Komparatistische Perspektiven Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft Komparatistische Perspektiven Peter V. Zima Komparatistische Perspektiven Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien und des Forschungsrats der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8407-2 Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................................ vii Einleitung: Thesen zu einer soziologisch-semiotischen Komparatistik ......... 1 Erster Teil: Theoriebildung ................................................................................. 17 I. Die Funktion des Vergleichs in den Kultur- und Sozialwissenschaften 19 1.Funktion: Erkenntnisgewinn im induktiv-affirmativen Sinn ................... 20 2.Funktion: Erkenntnisgewinn im kontrastiven Sinn.................................. 22 3.Das nominalistisch-dekonstruktivistische Argument............................... 24 4.Beispiel I: Literarischer Existentialismus ................................................ 26 5.Beispiel II: Die europäischen Avantgarden ............................................. 28 6.Vom Vergleich zum Dialog: Theorievergleich interkulturell.................. 32 II. Vergleich als Konstruktion: Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie ............................... 35 1.Die methodologische Bedeutung des Vergleichs .................................... 36 2.Typologische und genetische Vergleiche als Konstruktionen ................. 40 3.Die kulturelle und ideologische Bedingtheit von Konstruktionen und Diskursen ................................................................................................. 45 III. Komparatistik und Sozialwissenschaften ............................................... 49 1.Der spezifische Charakter der literarischen Komparatistik: Interkulturalität und Sprachlichkeit ......................................................... 50 2.Vergleichstypen: Ähnlichkeiten und Unterschiede in Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft ........................................ 52 3.Die soziologischen Grundlagen der (literarischen) Komparatistik: Problematiken, sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse 58 IV. Die Stellung der Literaturwissenschaft zwischen den Kulturen. Eine textsoziologische Betrachtung ......................................................... 65 1.Textsoziologische Prolegomena: Sozio-linguistische Situation, Soziolekte und Diskurse .......................................................................... 66 2.Die sozio-linguistische Situation in den englischsprachigen und romanischen Ländern .............................................................................. 70 3.Der Objektverlust der Literaturwissenschaft im interkulturellen Kontext 73 V. Komparatistische Forschung: Kulturelle Bedingtheit und kulturelle Vielfalt ........................................................................................................ 77 1.Kultur als sozio-linguistische Situation: Soziolekte und Diskurse .......... 78 2.Die Komparatistik als interkulturelle und ihre eigene Kulturalität reflektierende Theorie: Zwischen Partikularismus und Universalismus 83 vi 3.Komparatistik als dialogische Theorie .................................................... 86 4.Zur Gegenstandsbestimmung und Didaktik der Komparatistik in arbeitsteiliger Zeit .................................................................................... 88 Zweiter Teil: Der Vergleich in der Literaturgeschichte ..................................... 91 VI. Historische Perioden als Problematiken: Sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse ...................................................... 93 1.Die Problematik als sozio-linguistische Situation ................................... 95 2.Sozio-linguistische Problematik, Episteme und Paradigma .................... 97 3.Der Übergang vom Modernismus zur Postmoderne................................ 98 4.Kulturelle Differenzen oder: Der spezifische Charakter nationaler Problematiken .......................................................................................... 102 VII. Einheit und Vielfalt: Von der Romantik zur Spätmoderne .................. 105 1.Innere und äußere Umkodierung ............................................................. 105 2.Das Eine, das Ursprüngliche und der Monolog: Fichte ........................... 107 3.Die romantische Christenheit als Einheit: Novalis .................................. 110 4.Die Aufwertung der Christenheit: Chateaubriand ................................... 112 5.Spätmoderne Vielfalt ............................................................................... 113 VIII. Die Revolte der Natur in der spätmodernen Prosa ................................ 119 1.Modernismus und Moderne: Von den Junghegelianern zu Nietzsche..... 119 2.Die Angst vor der Natur: Kafka, Krleža, Sartre ...................................... 123 3.Natur als Befreiung: Baroja, Camus, Aragon .......................................... 126 4.Die Ambivalenz der Natur: D. H. Lawrence ........................................... 130 5.Homogenität und Heterogenität der Problematik: Schlußbetrachtung .... 132 IX. Negativität zwischen Spätmoderne und Postmoderne .......................... 135 1.Mallarmé und Adorno in der spätmodernen Problematik........................ 137 2.Eine affirmative Postmoderne ................................................................. 141 3.Postmoderne als Negation ....................................................................... 143 4.Die Negativität postmoderner Literatur ................................................... 147 X. Dekonstruktion und Postmoderne als partikularisierende Herausforderungen der Komparatistik .................................................. 151 1.Die Dekonstruktion in der Postmoderne.................................................. 151 2.Einflüsse: Romantik, Nietzsche, Heidegger ............................................ 153 3.Aufwertung der Ausdrucksebene: signifiant, itérabilité, différance ........ 156 4.Kritik........................................................................................................ 159 5.Dekonstruktion und Vergleichende Literaturgeschichte ......................... 162 Auswahlbibliographie ........................................................................................ 167 Quellennachweise ............................................................................................... 169 vii Vorwort Eine Aufsatzsammlung mag einerseits den Nachteil haben, unsystematisch zu sein und zwischendurch Wiederholungen und Wildwuchs entstehen zu lassen; sie hat andererseits den Vorteil, durch ihre Redundanzen und Leerstellen das Nachdenken zu erleichtern, das so mancher systematische Traktat monologisch abblockt. Für sie als offene Struktur gilt, was Musils Erzähler über den Essay sagt: „Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, - denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein - glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.“ 1 Da es im vorliegenden Fall um „Perspektiven“ und Vorschläge geht, bietet sich eine Vorgehensweise an, die zumindest in einigen Punkten an Musils Essayismus anknüpft: Der literarische Vergleich soll nicht auf den Begriff gebracht, sondern „von vielen Seiten“ beleuchtet werden, um dem Leser die Möglichkeit zu bieten, eigene Erfahrungen, Gedanken und Vorstellungen einzubringen. Diese Art von Offenheit erscheint gerade in einem Fach wie der Vergleichenden Literaturwissenschaft wünschenswert, das auf so viele verschiedene Arten definiert und mit so vielen Erweiterungsmöglichkeiten konfrontiert wurde, daß es sich im „Möglichkeitssinn“ (Musil) seiner Vertreter aufzulösen droht. Diesem „Möglichkeitssinn“ tragen die hier veröffentlichten Aufsätze zwar Rechnung, enthalten zugleich aber auch konkrete Vorschläge für eine theoretische Fundierung der literarischen Komparatistik. Insofern ergänzen sie das Buch Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, das der Autor für die zweite Auflage überarbeitet und erweitert hat. 2 Vor allem im Ersten Teil, der die komparatistische Theoriebildung zum Gegenstand hat, wird versucht, einen Dialog zwischen der Vergleichenden Literaturwissenschaft und den anderen Komparatistiken (Vergleichende Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft) in die Wege zu leiten. Ein solcher Dialog hat bisher kaum stattgefunden. 3 Er soll dazu führen, daß die literarische Komparatistik ihren theoretischen und methodologischen Horizont interdisziplinär erweitert und sich zugleich ihrer eigenen Beson- 1 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. I (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 250. 2 Vgl. Vf., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.). 3 Vgl. P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000. viii derheit als Literaturwissenschaft bewußt wird. Denn nur eine Wissenschaft, die ein klar definiertes und seit langem erforschtes Objekt ihr eigen nennt, kommt als ernstzunehmende Partnerin für die anderen Komparatistiken in Frage. Der Zweite Teil des Bandes befaßt sich vorwiegend mit Problemen der Literaturgeschichte und der Periodisierung. Es soll u.a. gezeigt werden, daß literarische Epochen oder Perioden, die als Problematiken neu definiert werden, in ihrer Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Mannigfaltigkeit nur komparatistisch erfaßt werden können. Versuche, Perioden wie „Romantik“, „Spätmoderne“ oder „Postmoderne“ ausschließlich im Rahmen von Einzelphilologien zu definieren, scheitern an der Einengung des Textkorpus auf anglo-amerikanische, deutsche oder französische Literatur. Eine solche Einengung kann nur eine reduktionistische Betrachtungsweise zur Folge haben, die Verzerrungen der Periodenbegriffe zeitigt. In dieser Hinsicht erscheint die literarische Komparatistik als ein unentbehrliches theoretisches Korrektiv, das nicht nur die interkulturellen Aspekte der literarischen Epochen hervortreten läßt, sondern auch die kulturelle und ideologische Bedingtheit der Periodisierungssysteme und ihrer Theorien. Denn es ist eine der Hauptaufgaben der literarischen Komparatistik, über ihre eigene kulturelle Bedingtheit - und über die anderer Theorien - nachzudenken. Die Periode als Problematik, als Ensemble von Problemen, auf die literarische, philosophische, politische und wissenschaftliche Diskurse sehr unterschiedlich reagieren, erscheint hier als zugleich homogene und heterogene Einheit. Ihre Homogenität besteht in der Verwandtschaft der Probleme einer bestimmten Zeit und Gesellschaft, ihre Heterogenität in den divergierenden, einander widersprechenden Lösungsvorschlägen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von Schriftstellern, literarischen Bewegungen, Philosophen, Wissenschaftlern und Politikern gemacht werden. Ein Problem, das nahezu allen europäischen Avantgardebewegungen gemeinsam ist, ist die Frage nach der Überwindung der bürgerlichen Verhältnisse und die mit ihr zusammenhängende Frage nach dem authentischen Leben, der neuen Gesellschaft. Doch die Lösungsvorschläge, die von italienischen Futuristen, russischen Futuristen, französischen Surrealisten und den anglo-amerikanischen Vorticists gemacht wurden, sind kaum auf einen Nenner zu bringen. Zu heterogen ist die modernistisch-avantgardistische Problematik: sowohl auf politischer als auch auf ästhetischer Ebene. Ihre Heterogenität ist kein Anlaß zur Dekonstruktion. Eine Struktur kann durchaus widersprüchlich sein, ohne als Struktur zu zerfallen. Das Problem der Dekonstruktivisten - von Derrida bis Paul de Man und J. Hillis Miller - besteht in ihrem stets impliziten Postulat, daß sich Übereinstimmung und Widerspruch, Homogenität und Heterogenität grundsätzlich aus- ix schließen. Im Gegensatz dazu haben Strukturalisten wie Jan Muka ovský schon immer Einheit und Vielfalt, Übereinstimmung und Widerspruch als dialektische Einheiten aufgefaßt. Muka ovský ging sogar von der These aus, daß moderne (avantgardistische) Kunst Widersprüche bewußt in Kauf nimmt: „Das Kunstwerk erscheint somit als ein Ensemble von Widersprüchen.“ 4 Dies gilt auch für die literarische Periode als Problematik. Sie ist ein Ensemble von Widersprüchen, die dadurch zustande kommen, daß Schriftsteller, Schriftstellergruppen und Bewegungen unterschiedlich auf gemeinsame Probleme reagieren: auf Probleme die spätere Generationen nicht mehr als solche wahrnehmen, weil sie sie durch neue Probleme ersetzen. Diese Umschichtungen innerhalb der Problematik, aus denen eine neue Problematik hervorgeht, sind im Übergang vom existentialistischen Roman zum Nouveau Roman zu beobachten: Die Frage nach dem Einzelsubjekt steht nicht länger im Mittelpunkt der Romanhandlung, sondern die Frage nach dem Ereignis und den Modalitäten des Erzählens. Die Entwicklung der Periode als Problematik und die Entstehung neuer Problematiken sind nur im Zusammenhang mit strukturierenden bzw. destrukturierenden Widersprüchen oder Antinomien denkbar. Zur Strukturierung der Aufsatzsammlung sollen die acht Thesen der Einleitung beitragen: Sie legen die theoretische Perspektive fest, in der die einzelnen Kapitel oder Aufsätze gelesen werden sollten. Weit davon entfernt, die eingangs befürwortete Offenheit des Ganzen monologisch aufzuheben, bestätigen sie die dialogische Öffnung durch Reflexion. Die theoretische Reflexion als Nachdenken über die eigene kulturelle, ideologische und sprachliche Partikularität steht in der Einleitung an erster Stelle. Sie soll den Dialog über die theoretischen und methodologischen Grundlagen einer Disziplin ermöglichen, die ihre theoretische Identität noch sucht. Frau Susanne Fischer und Herrn Jürgen Freudl, Lektorin und Lektor des Francke Verlags, danke ich für die sorgfältige Korrektur und die freundliche Unterstützung. 4 J. Muka ovský, „Dialektické rozpory v moderním um ní“ („Die dialektischen Widersprüche in der modernen Kunst“), in: ders, Kapitoly z eské poetiky, Bd. II. K vývoji eské poesie a prózy, Prag, Melantrich, 1941, S. 391. Einleitung: Thesen zu einer soziologisch-semiotischen Komparatistik Die Geschichte der Vergleichenden Literaturwissenschaft wird von der Frage nach ihrem Objektbereich geprägt. Davon zeugen nicht nur die Arbeiten eines Paul Van Tieghem, der zwischen einer littérature comparée, die den Vergleich von Werken zum Gegenstand hat, und einer littérature générale, die es mit Gattungen und Epochen zu tun hat, unterscheidet, sondern auch die Auseinandersetzungen der 1960er und 70er Jahre zwischen französischen und nordamerikanischen Komparatisten. Es ging damals nicht nur um den Positivismus der französischen Literaturwissenschaftler, sondern auch um ihre Weigerung, auf die Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, Literatur und anderen Kunstformen einzugehen. Im Gegensatz zu ihnen plädierten ihre nordamerikanischen Kontrahenten für eine Erweiterung des Objektbereichs, die der wechselseitigen Abhängigkeit von Literatur und Philosophie sowie der „wechselseitigen Erhellung der Künste“ im Sinne von Oskar Walzel Rechnung tragen sollte. Der Gegensatz zwischen der französischen und der amerikanischen Schule gehört inzwischen der Vergangenheit an, aber die Frage nach dem Objektbereich der literarischen Komparatistik scheint nach wie vor aktuell zu sein. Diskutiert wird gegenwärtig weniger über die „wechselseitige Erhellung der Künste“, obwohl die semiotische Frage nach dem Verhältnis von verbalen und nichtverbalen Zeichensystemen kaum beantwortet wurde 1 ; aktueller scheint die Frage nach dem Verhältnis der Vergleichenden Literaturwissenschaft zu einigen Nachbardisziplinen wie Übersetzungswissenschaft, Medienwissenschaft und Kulturwissenschaft zu sein. Während Susan Bassnetts Vorschlag aus dem Jahr 1993, die literarische Komparatistik in den translation studies aufgehen zu lassen 2 , kaum auf fruchtbaren Boden fällt, werden Vorschläge, die Literaturwissenschaft in ihrer Gesamtheit als Medienwissenschaft oder „Kulturwissenschaft“ zu konzipieren, in letzter Zeit durchaus ernst genommen. Davon zeugen Titel wie: „Komparatistik als Kulturwissenschaft? “ (P. Nicklas) oder „Von der Literaturwissenschaft zur Medienwissenschaft - und kein Weg zurück“ (R. Viehoff). 3 Während Nicklas ganz zu Recht vor einer Selbstaufgabe der Lite- 1 Dieses Verhältnis wird ansatzweise dargestellt in: P. V. Zima, „Ästhetik, Wissenschaft und ‚wechselseitige Erhellung der Künste‘. Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Literatur intermedial. Musik - Malerei - Photographie - Film (1995), London, Turnshare, 2009, S. 1-28. 2 Vgl. S. Bassnett, Comparative Litrerature. A Critical Introduction, Oxford, Blackwell, 1993, Kap. VII: „From Comparative Literature to Translation Studies“. 3 Vgl. P. Nicklas, „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? “ in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL, 2004/ 2005, S. 43 sowie R. Viehoff, „Von der Literaturwissenschaft zur 2 raturwissenschaft warnt, ist es dem Medienwissenschaftler Viehoff durchaus Ernst: Die (Vergleichende) Literaturwissenschaft soll in der Medienwissenschaft aufgehen. Abgesehen von der Fragwürdigkeit solcher Entwürfe, die bei Bassnett und Viehoff auf Plädoyers für partikulare Interessen hinauslaufen, klingt in beiden Fällen die Frage nach dem Objektbereich an: Das Literarische der (Vergleichenden) Literaturwissenschaft wird angezweifelt. In einer Gesellschaft, in der Literatur in zunehmendem Maße marginalisiert wird 4 , halten Kultur- und Medienwissenschaftler ihre Zeit für gekommen: „Kultur“ und (literarische) „Medien“ sollen die neuen Gegenstände der - stets neuen - Wissenschaft heißen. Die Literatur gibt es aber weiterhin (wenn auch marginal) - ebenso wie die ebenfalls marginalisierte Religion, das subventionierte Theater, die Architektur und den Film. Es besteht kein Grund, auf einen dieser Objektbereiche zu verzichten und Religionswissenschaft oder Theaterwissenschaft in der Kultur- oder Medienwissenschaft aufgehen zu lassen. Eher sollte man sich für eine engere Zusammenarbeit zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft einsetzen, da ja das Drama eine literarische Gattung ist. Die Diskussionen, die um den Objektbereich der literarischen Komparatistik kreisen, zeugen nicht nur von imperialen Ansprüchen einiger Wissenschaftler, die meinen, das Neue zu vertreten, sondern auch und vielleicht vor allem von der Verunsicherung der vergleichenden Literaturwissenschaftler, die die Expansionsgelüste der Nachbarn immer wieder anfacht. Sie hängt mit der Tatsache zusammen, daß die Komparatisten es bisher versäumt haben, ihr Fach theoretisch zu fundieren und das theoretische Potential des Vergleichs und der Vergleichenden Literaturwissenschaft auf interdisziplinärer und interkultureller Ebene auszuschöpfen. In den folgenden Thesen geht es primär darum, dieses Defizit auszugleichen und zu erläutern, welche theoretische Bedeutung die Vergleichende Literaturwissenschaft für die Theoriebildung aller Kultur- und Sozialwissenschaften hat - nicht nur der vergleichenden. Es gilt - vor allem in der 7. These - zu zeigen, welche methodologische, strukturierende Funktion der Vergleich in allen Komparatistiken erfüllt und wie er als Strukturierungsprinzip aufgefaßt werden kann. Comparaison n’est pas raison, lautet ein französisches Sprichwort. Die Replik darauf lautet: Il s’agit de comparer avec raison, nämlich so, daß eine Medienwissenschaft - und kein Weg zurück“, in: H. Foltinek, Ch. Leitgeb (Hrsg.), Literaturwissenschaft: intermedial - interdisziplinär, Wien, Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften, 2002, S. 89. 4 Vgl. H. Gamper, „,Keiner wagt mehr seine Person daran‘. Zur Situation der Literaturwissenschaft nach vollendeter Marginalisierung der Literatur“, in: F. Griesheimer, A. Prinz (Hrsg.), Wozu Literaturwissenschaft? Kritik und Perspektiven, Tübingen, Francke, 1991. 3 Struktur sichtbar wird. Diese Struktur (etwa die literarische Periode als Problematik) ist offen und kann nicht mit dem Hinweis auf ihre Widersprüche dekonstruiert werden, weil diese Widersprüche Bestandteile der offenen und sich wandelnden Struktur sind. Dies soll in den Thesen und in den einzelnen Kapiteln des vorliegenden Bandes dargetan werden. Insgesamt geht es darum, die Vergleichende Literaturwissenschaft - wie schon in der einführenden Komparatistik (1992, 2011) 5 - soziologisch und semiotisch zu fundieren, um ihre theoretische Bedeutung für die anderen vergleichenden Wissenschaften (Sprachwissenschaft, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft usw.) und für den gesamten interdisziplinären Dialog plausibel zu machen. Nur eine theoretisch fundierte literarische Komparatistik kann hoffen, ihre Identität zu finden und im Dialog mit anderen Disziplinen ernst genommen zu werden. 1. Theoretische Reflexion der kulturellen Bedingtheit. Zum theoretischen Potential der Vergleichenden Literaturwissenschaft gehört in erster Linie die theoretische Reflexion, die von Schleiermacher bis Habermas hermeneutisch nuanciert, von Komparatisten bisher aber kaum beachtet wurde. 6 Daß sie mit dem Vergleich zusammenhängt, kann man sogar in philosophischen Lexika nachlesen: Sie ist „das prüfende und vergleichende Nachdenken über etwas“. 7 Sie geht aus dem Vergleich hervor: Wer Sprachen und Literaturen vergleicht und ihre historischen und sozialen Kontexte mitberücksichtigt, der lernt alsbald, über die eigene Sprache und Literatur nachzudenken. Dies meinte wohl Goethe, als er feststellte: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ 8 Auf die Sprach- und Literaturwissenschaft angewandt bedeutet das: Die Auseinandersetzung mit dem fremden Wort regt dazu an, über die eigene Sprache nachzudenken, auch über die Sprache der eigenen Theorie, über den eigenen theoretischen Diskurs und seine kulturelle Bedingtheit. Warum wird in Großbritannien und Italien, wo die Romantik-Kritiker Hegel und Goethe mitunter zur Romantik gerechnet werden, anders periodisiert als in Deutschland oder Frankreich? 5 Vgl., Vf., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.). 6 Vgl. U. Nassen, „Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas: Hermeneutik, Ideologiekritik und Diskurs“, in: ders. (Hrsg.), Klassiker der Hermeneutik, Paderborn, Schöningh, 1982, S. 303. 7 Philosophisches Wörterbuch (Hrsg. G. Schischkoff), Stuttgart, Kröner, 1978: „Reflexion“. 8 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, Gesamtausgabe, Bd. XXI, München, DTV, 1968 (2. Aufl.), S. 13. 4 Diese Frage führt zu der Erkenntnis, daß Selektionen, Klassifikationen und Definitionen kulturell bedingt sind, und daß auch die Taxonomien und Terminologien, auf denen die eigene Theorie gründet, nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen können, weil sie aus einer bestimmten Gesellschaft und Kultur hervorgegangen sind. Diese Erkenntnis ist eine der Grundvoraussetzungen für erfolgreiche wissenschaftliche Kommunikation und für den Dialog zwischen Theorien, die aus verschiedenen Kulturen stammen (etwa zwischen deutscher und französischer Hermeneutik, zwischen deutscher und britischer Soziologie). Der vergleichende Literatur- oder Sprachwissenschaftler, der mit verschiedenen Sprachen und Kulturen vertraut ist, ist in der Lage, die Selbstreflexion der Theoretiker und der Theorien in die Wege zu leiten und dadurch zu einer reflexiven Theoriebildung und zum Dialog zwischen Theorien aus verschiedenen Sprach- und Kulturbereichen beizutragen. Es geht hier jedoch nicht nur um eine besondere Kompetenz, sondern um das theoretische Potential, das in der literarischen (und linguistischen) Komparatistik angelegt ist: Ihre vergleichende Vorgehensweise führt auf struktureller Ebene zu Reflexion und Selbstreflexion. Der Vergleich erzwingt geradezu eine solche (Selbst-)Reflexion. In einsprachigen Wissenschaften fehlt ein struktureller Impuls dieser Art. Dies ist der Hauptgrund, weshalb ihre Vertreter scheinbar allgemeingültige Argumente vorbringen, die sich bei näherer (reflexiver) Betrachtung als kulturell partikular erweisen. Im interdisziplinären Dialog kann die literarische Komparatistik, die sich auch mit Übersetzungsproblemen befaßt, zu einem wichtigen Korrektiv werden, wenn es gilt, pseudouniversalistische Ansprüche zu relativieren. 2. Soziologische Fundierung. Aus der Reflexion und Selbstreflexion im kulturellen Kontext ist die soziologische Fundierung der literarischen Komparatistik ableitbar. Denn eine Kultur ist nie eine homogene Einheit, sondern - wie Pierre Bourdieu wußte - stets ein dynamisches Miteinander und Gegeneinander von Gruppen, Subkulturen, Ideologien, Sprachen und Diskursen. Es gilt daher, nicht nur nach der kulturellen Bedingtheit allgemein, sondern nach der konkreten gesellschaftlichen Verankerung der eigenen und der fremden Theorie in einer Subkultur, einer Gruppensprache oder einer Ideologie zu fragen. Der Komparatist, der nicht davor zurückschreckt, nach den gruppenspezifischen und ideologischen Komponenten des russischen und des italienischen Futurismus, des französischen Surrealismus und des angloamerikanischen Vorticism zu fragen, sollte auch den Mut haben, den gesell- 5 schaftlichen, sprachlichen und ideologischen Ursprung der eigenen Theorie und der mit ihr interagierenden und konkurrierenden Theorien zu erforschen. Diese (Selbst-)Reflexion zweiten Grades wird dem theoretischen und interdisziplinären Dialog zugute kommen. 3. Ideologiekritik. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die ideologiekritische Fundierung der literarischen Komparatistik, die sich als Literaturwissenschaft immer wieder mit Ideologien auseinandersetzt. Um den italienischen Futurismus im Kontext verstehen zu können, wird es immer notwendig sein, seine vielfältigen Beziehungen zur faschistischen Bewegung und ihrer Ideologie zu berücksichtigen. Adorno hat gezeigt, wie Ideologie und Ideologiekritik bei Stefan George und im George-Kreis zusammenhängen. Es geht hier aber nicht nur um den Nexus von Ideologie und literarischer Produktion; auch Theorien sind ohne den ideologischen Kitt, der sie zusammenhält, kaum zu verstehen. Davon zeugt die Wissenschaftsgeschichte der literarischen Komparatistik, in der von Anfang an Sozialdarwinismus und Nationalismus die treibenden Kräfte der Theoriebildung waren. Während bei Ferdinand Brunetière der Sozialdarwinismus in den Vordergrund tritt, beherrschen nationalistische Diskurse die komparatistischen Arbeiten (sowohl die deutschen als auch die französischen) des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht in Europa eine neue gesellschaftlich-politische und sprachliche Konstellation, in der ein ungarischer Marxist wie Tibor Klaniczay nachzuweisen versucht, daß die „osteuropäischen“ Völker nicht nur im Hinblick auf ihre realsozialistische Zukunft, sondern auch aufgrund bestimmter historischer Gemeinsamkeiten eine Einheit bilden (sollten). 9 Seine Art zu klassifizieren und zu definieren ist ebenso ideologisch wie die der Sozialdarwinisten und Nationalisten. Dies läßt ein neuerer Aufsatz von István Fried erkennen, dessen Autor eher einen mitteleuropäischen Standpunkt einnimmt. 10 Der theoriebewußte Komparatist wird die Symbiosen zwischen Ideologien und Theorien nicht aus den Augen verlieren, sondern wird versuchen, sie auch in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussionen zu beobachten. Wenn Niklas Luhmann beispielsweise behauptet, daß „Namen wie 9 T. Klaniczay, „Die Möglichkeiten einer vergleichenden Literaturgeschichte Osteuropas“, in: G. R. Kaiser (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern 1963-1979, Stuttgart, Metzler, 1980, S. 48. 10 Vgl. I. Fried, Gibt es ein literarisches (Ost-) Mitteleuropa? . Oskar-Halecki-Vorlesung 2007, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 2010, S. 33: „Glauben wir also daran, dass Ost-Mitteleuropa ein Lebendiges ist.“ 6 Italien oder Spanien in einer Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten“ 11 (vgl. Kap. I und III), dann stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieser Behauptung, die alle komparatistischen Theorien - von den rechtswissenschaftlichen bis zu den literaturwissenschaftlichen - als irrelevant oder untheoretisch verabschiedet. Sie geht aus einer Ideologie hervor, die stillschweigend annimmt, daß es nur ein Gesellschaftssystem (als „Weltgesellschaft“ und als „System von Systemen“) geben kann, das bestimmte Charakteristika aufweist - und nicht andere. Der Gedanke, daß es viele verschiedene Gesellschaftssysteme gibt (etwa das amerikanische, das chinesische, das europäische [deutsche, französische, schwedische]), und daß es folglich Alternativen zu allen bestehenden Systemen geben müßte, darf nicht aufkommen. Der Universalanspruch von Luhmanns abstrahierender Systemtheorie, der zugleich ein Herrschaftsanspruch ist, verdeckt nicht nur die kulturellen und politischen Unterschiede, auf die es allen Komparatisten ankommt, sondern schließt vorab alle gesellschaftskritischen Fragen nach Alternativen (Alternativsystemen) aus. Er ist kein Novum, denn er wurde schon von Talcott Parsons’ amerikanischem Funktionalismus erhoben, zu dem Luhmann selbst bemerkt: „Parsons hat sehr überlegt die Formulierung The System of Modern Societies als Buchtitel gewählt.“ 12 Dem Ausdruck „sehr überlegt“ haftet eine unbeabsichtigte Zweideutigkeit an: Auf theoretischer Ebene deutet er „Verallgemeinerungsfähigkeit“ an, auf ideologischer Ebene könnte er als ein Versuch gedeutet werden, das Gesellschaftssystem der USA als einzig mögliches Modell zu perpetuieren. In diesem Sinne hat schon Alwyn Gouldner Parsons’ funktionalistische Ideologie kritisiert. 13 Luhmann hat diese Ideologie in dem von den USA dominierten Nachkriegsdeutschland theoretisch-konstruktivistisch aktualisiert und nuanciert. Daß es eine Alternative zu ihr gibt, zeigt - in einem anderen gesellschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Kontext - Pierre Bourdieus gesellschaftskritische Theorie der „Felder“. Fast überflüssig erscheint nun die Frage, was dies mit Vergleichender Literaturwissenschaft zu tun hat: In letzter Zeit wird immer wieder versucht, die (Vergleichende) Literaturwissenschaft systemtheoretisch im Sinne von Luhmann zu begründen. 14 Bevor sie die Systemtheorie als neue oder gar 11 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 158. 12 Ibid. 13 Vgl. A. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise. Zweiter Teil: Die Welt Talcott Parsons’, Reinbek, Rowohlt, 1974. 14 Vgl. z. B. S. Tötösy de Zepetnek, Comparative Literature. Theory, Method, Application, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1998, S. 25 und S. 254 sowie Th. Wägenbaur, „Komparatistik und Systemtheorie“, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL, 2004/ 2005. 7 natürliche soziologische Grundlage ihrer Wissenschaft begrüßen, sollten Komparatisten über die hier angeschnittenen Probleme und über die ideologischen Aspekte dieser Theorie nachdenken: vor allem über ihre diskursiven Mechanismen, d.h. über ihre Art zu klassifizieren, zu definieren und die Entwicklung der Gesellschaft als Differenzierungsprozeß zu erzählen. 4. Semiotik. Diese Überlegungen zu den auch ideologisch motivierten diskursiven Verfahren von Theorien führen gleichsam von selbst zur semiotischen Fundierung der literarischen Kompratistik. An der Bedeutung der Semiotik - in ihrer theoretischen Vielfalt - für die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ist kaum zu zweifeln. Immer wieder wurde versucht, semiotische Theorien und Begriffe für literaturwissenschaftliche Analysen fruchtbar zu machen: etwa Algirdas J. Greimas’ Isotopiebegriff für die Analyse von Gedichten und Prosatexten. 15 Dieser Begriff wäre auch geeignet, den schillernden Signifikanten „Thema“ der Thematologen, die ihn immer wieder als Synonym für „Stoff“ oder „Mythos“ 16 verwenden, zu präzisieren. In der Strukturalen Semiotik ist von thematischen Isotopien (isotopies thématiques) die Rede. 17 Wird das Thema als semantisch-thematische Isotopie, d.h. als „wiederholtes Auftreten auf syntagmatischer Ebene von Klassemen, die die Homogenität des Diskurses als Aussage garantieren“ 18 , definiert, kann es nicht länger mit „Mythos“ verwechselt werden, der als Begriff etwas ganz anderes bezeichnet, oder gar mit dem Wort „Stoff“, das so gut wie nichts bezeichnet. Die Unterscheidung von „Thema“ und „Mythos“ läuft darauf hinaus, daß das „Thema“ eine einfache semantische Struktur ist (eine semantische Isotopie), während der „Mythos“ nur als komplexe semantisch-narrative Struktur zu verstehen ist, in deren Rahmen menschliche und mythische, individuelle und kollektive Aktanten auf bestimmten Isotopien interagieren. In Ovids mythischer Erzählung von „Narziss und Echo“ ist das Wasser ein wesentliches Thema, weil es die visuelle Isotopie begründet, auf der Narziß agiert. Es wird von der akustischen Isotopie ergänzt, die Echos Welt ist und metaphorisch als Spiegelung im akustischen Sinne aufgefaßt werden könnte. Das Aktantenmodell, in dem Narziß sowohl Subjekt als auch Objekt (Objekt- 15 Vgl. J.-Cl. Coquet, Sémiotique littéraire. Contribution à l’analyse sémantique du discours, Tours, Mâme, 1973. 16 Vgl. E. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart, Kröner, 1992 (8. Aufl.), S. 566-567, wo der antike Narziß-Mythos bald als „Mythos“, bald als „Stoff“, dann aber auch als „Thema“ (S. 571) bezeichnet wird. 17 Vgl. A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979: „Isotopie“. 18 Ibid., S. 197. 8 Aktant) der Handlung ist, ist für den Ablauf der Erzählung als Mythos verantwortlich. Sowohl der Isotopieals auch der Aktantenbegriff 19 ist auf Theorien anwendbar, in denen durchaus auch individuelle, kollektive, abstrakte und mythische Aktanten vorkommen. Die Frage nach der Verwendbarkeit von Luhmanns Systemtheorie im literaturwissenschaftlichen Bereich sollte sich auch auf die Aktantenebene beziehen. Auf dieser Ebene entstehen insofern Probleme, als Luhmann nicht nur Bezeichnungen wie „Italien“ oder „Spanien“, sondern auch den Subjektbegriff ausschließt: „Wir können damit auch den Subjektbegriff aufgeben.“ 20 Sind aber literarische Bewegungen, etwa die europäischen Avantgarden, nicht kollektive Subjekte im Sinne von Greimas’ Subjekt-Aktanten (actants-sujets)? Wie soll man ihr Selbstverständnis und ihr kollektives Handeln rekonstruieren, wenn man auf den Subjektbegriff verzichtet? Eine semiotische Analyse von Luhmanns Systemtheorie 21 zeigt, daß sie zwar keine individuellen oder kollektiven Subjekte oder Subjekt-Aktanten kennt, dafür aber durch eine theoretische Hintertür zahlreiche abstrakte und mythische Subjekt-Aktanten einführt: Systeme, die etwas „tun“, „ausschließen“, „entscheiden“ usw. 22 Abermals zeigt sich hier, wie wichtig theoretische Reflexion ist: das Nachdenken über den sozio-kulturellen Ursprung einer Theorie und über ihre semantische und narrative Struktur. Denn nur solches Nachdenken kann eine voreilige Theoriebildung vermeiden, die in lauter Sackgassen führt. 5. Periode und Problematik als komparatistische Konstruktionen. Das Nachdenken über die Theorie als narrative Struktur ist wesentlich für eine zeitgemäße vergleichende Literaturgeschichte, die sich nicht nur mit der Semiotik als Erzähltheorie, sondern auch mit geschichtswissenschaftlichen Theorien auseinandersetzt. Diese gehen seit geraumer Zeit von der Annahme aus, „die Form der Erzählung sei bereits als solche eine Form der Erklärung“. 23 Das ist zweifellos richtig; es käme jedoch darauf an, weiter auszuholen und zu zeigen, daß die Form der Erzählung aufgrund bestimmter Relevanzkriterien, Selektionen 19 Vgl. ibid.: „Actant“. 20 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 111. 21 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2010 (3. Aufl.), Kap. IV. 3: „Die Liquidierung des Subjekts durch seine Allgegenwart: Niklas Luhmann“. 22 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 104-105. 23 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. 9 und Klassifikationen zustande kommt. Dieser Gedanke kann anhand von relativ einfachen Beispielen plausibel gemacht werden: Gehe ich von Habermas’ Gegensatz Systeme / Lebenswelt aus, erzähle ich die Entwicklung der Gesellschaft anders (und erkläre sie anders), als wenn ich Luhmanns Gegensatz System / Umwelt zugrunde lege. Im ersten Fall wird die Intensivierung der Herrschaftsmechanismen (der „instrumentellen Vernunft“, Horkheimer) zur Triebfeder der sozialen Entwicklung, im zweiten Fall die seit Durkheim und Simmel erforschte Differenzierung. 24 Dies gilt auch für die Literaturgeschichte, die in Großbritannien oder Italien, wo Hegel, Schiller und Goethe oft zur Romantik gerechnet werden 25 , andere Formen und Erklärungen annimmt als in Deutschland, wo bereits Goethe mit seinem bekannten Ausspruch über das „gesunde Klassische“ und das „kranke Romantische“ 26 Relevanzkriterien vorgegeben hat, an denen selten gerüttelt wird. Es fragt sich allerdings, ob hier nicht zu pauschal und zu „klassisch“ klassifiziert wird: Können Shelleys und Byrons Gesellschaftskritik und der sich in ihren Gedichten (z.B. Shelleys „The Mask of Anarchy“) manifestierende Freiheitsdrang als „krank“ bezeichnet werden? Zeugt Lamartines Gedicht „L’Hymne au soleil“ in den Méditations poétiques (1820) von krankhafter Veranlagung? Wird das romantische Textkorpus komparatistisch anhand von neuen Relevanzkriterien und Selektionen rekonstruiert, wird die Literaturgeschichte anders erzählt als bei Goethe, und es stellt sich heraus, daß die europäische Romantik eine widersprüchliche Problematik ist, in der revolutionäre, anarchistische Gesinnung (Shelley) mit liberalen (Lamartine) und konservativen, aber zugleich gesellschaftskritischen Tendenzen (Novalis, Eichendorff) koexistiert und konkurriert. Dies gilt mutatis mutandis auch für den vielkommentierten Gegensatz von Moderne (Modernismus) und Postmoderne. Es kommt im englischsprachigen Bereich immer wieder vor, daß der Übergang von der spätmodernen oder modernistischen zur postmodernen Literatur anhand der semantischen Gegensätze elitär / populär oder konservativ / fortschrittlich erzählt wird. Diese Form der Erzählung hängt mit stark eingeschränkten Relevanzkriterien und Selektionen zusammen, die fast ausschließlich aus dem angloamerikanischen Bereich stammen. So charakterisiert beispielsweise Leon Surette in einem Buch über Ezra Pound, T. S. Eliot und W. B. Yeats den 24 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (Mit einer Einleitung von Niklas Luhmann), Frankfurt, Suhrkamp, 1992 (4. Aufl.) sowie G. Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig, Duncker und Humblot, 1890. 25 Vgl. „Romanticismo“, in: Enciclopedia italiana, Rom, 1906-1914, S. 64. 26 Vgl. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, op. cit. , S. 117. 10 Modernismus als „classically severe“ 27 und verknüpft ihn mit der Aufklärung: „Modernism did - as postmodernism alleges - adhere to Enlightenment universalism.“ 28 Es ist fast so, als hätte es Arthur Rimbaud, Jean-Paul Sartre, Louis-Ferdinand Céline, Italo Svevo und Robert Musil (vor allem dessen Kritik an der Aufklärung) nie gegeben. Ähnlich verfährt Linda Hutcheon, die den Modernismus (die spätmoderne Literatur) weitgehend mit T. S. Eliot und dem anglo-amerikanischen New Criticism identifiziert und den Übergang vom Modernismus zur Postmoderne als eine zugleich formale und politische Befreiung im „Populären“ erzählt: „(...) What I want to call postmodernism is fundamentally contradictory, resolutely historical, and inescapably political.“ 29 Alle diese Epitheta sind ohne Änderungen auf die spätmodern-modernistische Problematik anwendbar: Sie bildet als Ensemble von verwandten Problemen und Fragestellungen 30 zwar eine Einheit, ist zugleich aber widersprüchlich, weil sie auf keine Stilistik, Ästhetik oder Politik festzulegen ist. Ihr gehören sowohl die Werke Paul Valérys als auch die Sartres, Célines, Brechts, Thomas und Heinrich Manns an. Sie ist „resolutely historical“, wie nicht nur das Werk Heinrich Manns zeigt, sondern auch das Miroslav Krležas oder das Bertolt Brechts (das Hutcheon absurderweise zur Postmoderne rechnet). Auden, Sartre, Heinrich Mann und Krleža, die auch Hutcheon nicht für die Postmoderne reklamieren könnte, wenn sie sie zur Kenntnis nähme, sind eminent politische Autoren (im Gegensatz zu einigen Postmodernen wie Jürgen Becker oder Umberto Eco). Nur ungläubiges Kopfschütteln kann Hutcheons These über „modernism’s dogmatic reductionism, its inability to deal with ambiguity and irony“ 31 hervorrufen. Wenn sie schon nicht modernistische Meister der Ambivalenz und der Ironie wie Marcel Proust, Robert Musil und Italo Sveo 32 berücksichtigen will oder kann, so sollte sie - als Feministin - doch Virginia Woolfs Roman Orlando, in dem Ambivalenz, Androgynie und Ironie ineinandergreifen, in ihre Konstruktion des Modernismus aufnehmen. Die reduktionistische Fragwürdigkeit dieser Konstruktion hängt u.a. damit zusammen, daß sie nahezu ausschließlich auf einem angloamerikanischen Textkorpus gründet, dem alle ihre Relevanzkriterien und Klassifikationen entnommen sind. 27 L. Surette, The Birth of Modernism. Ezra Pound, T. S. Eliot, W. B. Yeats, and the Occult, Montreal-Kingston-London, MacGill-Queen’s Univ. Press, 1993, S. 286. 28 Ibid., S. 290. 29 L. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, London-New York, Routledge, 1988, S. 4. 30 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2001 (2. Aufl.), S. 266-268. 31 L. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, op. cit., S. 30. 32 Vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil (1980), Paris, L’Harmattan, 2002, Kap. IV. 11 Hier bietet sich eine komparatistische Korrektur an, die das Textkorpus interkulturell erweitert und die Konstruktion des Modernismus auf eine breitere Basis stellt. Das Ergebnis könnte eine modernistische oder spätmoderne Problematik als sozio-linguistische Situation sein, in der heterogene politische, wissenschaftliche und ästhetische Soziolekte und Diskurse aufeinanderstoßen, die trotz ihrer Heterogenität auf gemeinsame Probleme und Fragestellungen reagieren: etwa auf die Frage nach der Stellung des Subjekts zwischen Natur und Kultur - oder auf die Frage nach der neuen, besseren Gesellschaft. Diese Fragen verstummen in der postmodernen Problematik, die sich u.a. dadurch von der Spätmoderne unterscheidet - nicht jedoch durch ihre Widersprüchlichkeit, die in der Spätmoderne möglicherweise noch stärker ausgeprägt ist. Die komparatistische Korrektur hätte auch eine andere Erzählung des Übergangs „vom Modernismus zur Postmoderne“ zur Folge, die der Komplexität beider Problematiken Rechnung trägt. Diese Komplexität ist kein Anlaß zur Dekonstruktion: denn ihre Widersprüche und Antagonismen sind Bestandteile einer offenen, dynamischen Struktur, deren Dynamik ein Aspekt ihres historischen Charakters ist. Die Dekonstruktion im Sinne von Derrida, de Man oder Hillis Miller ist insofern undialektisch, als sie von der Annahme ausgeht (die sie mit der Metaphysik und der analytischen Philosophie teilt), daß sich Gegensätze grundsätzlich ausschließen und daß eine widersprüchliche Einheit dazu verurteilt ist zu zerfallen. Indessen tragen die Widersprüche und Gegensätze innerhalb der Romantik, des Realismus oder des Modernismus wesentlich zur Entwicklung dieser Problematiken und der Literatur als historischer Erscheinung bei. 33 6. Konstruktivismus. Thesen haben immer den Nachteil, daß sie aufgrund der ihnen innewohnenden diskursiven Zwänge zum Monolog tendieren und dem Leser suggerieren, „daß es nicht anders geht“. Er ist - zu Recht - irritiert und hält zwischen den Zeilen Ausschau nach Alternativen. Solche Alternativen gibt es immer, und wo von Konstruktion oder Konstruktionen die Rede ist, werden sie implizit angesprochen. Soziologie und Semiotik sind theoretisch und ideologisch heterogene Wissenschaften, und die hier vorgeschlagene semiotische Theorie, die hauptsächlich von Saussure, Hjelmslev und Greimas entwickelt wurde, ist nicht das einzige Modell, das für die Vergleichende Literaturwissenschaft in Frage kommt. Für eine Komparatistik, die sich von der „wechselseitigen Erhellung der Künste“ im Sinne von Walzel entscheidende Impulse verspricht, käme auch die von 33 Vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke, 1994, S. 220-221. 12 Charles Sanders Peirce und Charles Morris entwickelte Semiotik (u.a. als Theorie ikonischer Zeichen) in Frage. Ungewiß ist, ob sich auf ihrer Grundlage eine Diskurs- und Erzähltheorie entwickeln ließe, die für die vergleichende Literaturgeschichte fruchtbar gemacht werden könnte. Aber wer nach Alternativen späht, muß gelegentlich auch bereit sein, Ungewißheiten in Kauf zu nehmen, den vom Autor vorgezeichneten Weg zu verlassen und einen eigenen Weg zu finden. Ein solcher Weg findet sich möglicherweise - obwohl auf einer anderen Ebene - wenn ein Exkurs auf das Gebiet der anderen Komparatistiken gewagt wird. 7. Vergleichende Wissenschaften. Da die vielfältigen Beziehungen zwischen der Vergleichenden Literaturwissenschaft und den anderen Komparatistiken noch kaum erforscht wurden, sollten zunächst nur zwei komplementäre Fragen aufgeworfen werden: Was kann die literarische Komparatistik von den anderen Komparatistiken lernen, und welchen Beitrag kann sie selbst zur Bereicherung und Nuancierung der vergleichenden Forschung leisten? Beide Fragen setzen bestimmte Überschneidungen und gemeinsame Erkenntnisinteressen voraus: etwa den allen Komparatistiken gemeinsamen Grundsatz, daß „ein Ding (...) nur dann eine individuelle Identität [bekommt], wenn man es mit anderen vergleicht“. 34 Es gibt jedoch Gemeinsamkeiten, die weit über diesen schlichten Grundsatz hinausgehen. Denn es stellt sich immer wieder heraus, daß nicht nur die literarische Komparatistik, sondern auch die Vergleichende Politikwissenschaft zwischen genetisch (durch Kontakte, Einflüsse) und typologisch (durch soziohistorische Parallelentwicklungen) bedingten Ähnlichkeiten unterscheidet. Während zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen dem britischen politischen System und den politischen Systemen verschiedener Staaten des Commonwealth auf den unmittelbaren Einfluß des ehemaligen Mutterlandes zurückzuführen sind, können andere Übereinstimmungen „mit ähnlichen historischen Abläufen“ 35 zusammenhängen: etwa mit der Einführung der Marktwirtschaft in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. 36 Von der Notwendigkeit, die kulturelle Bedingtheit der eigenen Theorie zu reflektieren, ist nicht 34 F. H. Aarebrot, P. H. Bakka, „Die Vergleichende Methode in der Politikwissenschaft“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Studienhandbuch, Opladen, Leske und Budrich, 1997 (3. Aufl.), S. 49. 35 Ibid., S. 53. 36 J. Bodenhöfer, „Vergleich von Wirtschaftssystemen. Von der Ordnungstheorie zur evolutionären Theorie institutioneller Strukturen“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000, S. 65. 13 nur hier, sondern auch bei einem vergleichenden Wirtschaftswissenschaftler wie Gerald Schöpfer die Rede. Zu seinen Programmpunkten gehört: „die kulturelle Bedingtheit ökonomischer Systeme und ökonomischer Theorien“. 37 Angesichts solcher Gemeinsamkeiten, die systematisch erforscht werden sollten, nehmen die eingangs aufgeworfenen Fragen eine konkretere Form an: Welche Theoreme der anderen Komparatistiken können für die Vergleichende Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden? Es seien hier nur drei genannt, die das Repertoire keineswegs erschöpfen: die Unterscheidung von Differenz und Konkordanz; die zugleich positive und negative Auffassung der Rezeption als kollektiver Annahme oder Ablehnung, die empirisch-quantitativ untersucht wird; der kontrastive Vergleich von europäischen mit außereuropäischen (wirtschaftlichen, politischen, literarischen) Systemen. Zur Unterscheidung zwischen Differenz- und Konkordanzmethoden bemerken die Politikwissenschaftler Berg-Schlosser und Müller-Rommel: „Das erste Vorgehen besteht darin, durch den paarweisen systematischen Vergleich möglichst ähnlicher Fälle die jeweils entscheidende Differenzvariable herauszuarbeiten. (...) Das zweite Vorgehen versucht dagegen, beim Vergleich verschiedener Fälle jeweils spezifische Faktoren auszusondern und einen Kernbereich von Gemeinsamkeiten zu ermitteln.“ 38 So versucht beispielsweise Jürgen Hartmann zu zeigen, daß „westliche Demokratien, kommunistische Parteiherrschaften oder Armutsgesellschaften in der Dritten Welt“ 39 vergleichbare Grundstrukturen voraussetzen, die gleiche Funktionen wie „politische Sozialisation“, „Interessenartikulation“, „Regelsetzung“, „Regelauslegung“, „Regelanwendung“ usw. erfüllen müssen. Analog dazu könnte in der Literaturwissenschaft anhand eines typologischen Vergleichs der europäischen Avantgarden gezeigt werden, daß es trotz aller politischen Unterscheide zwischen italienischem Futurismus, russischem Futurismus, französischem Surrealismus, deutschem Expressionismus und anglo-amerikanischem Vorticism einen ästhetisch-stilistischen Kernbereich gibt, in dem negative Grundsätze wie „Antiklassizismus“, „Kritik am Werkbegriff“, „Kritik am Kunstbegriff und an der institutionalisierten Kunst“ sowie „Auflösung der Syntax“ gelten. Komplementär dazu könnte gezeigt werden, daß ähnliche Texte, die der Romantik, dem Realis- 37 G. Schöpfer, „Vergleich und Interdisziplinarität in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften, op. cit., S. 47. 38 D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel, „I. Einführung. Entwicklung und Stellenwert der Vergleichenden Politikwissenschaft“, in: dies. (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 14. 39 J. Hartmann, „Vergleichende Regierungslehre und Systemvergleich“, in: D. Berg- Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 35. 14 mus oder dem Modernismus zugerechnet werden, in wesentlichen Punkten voneinander abweichen, so daß Romantik oder Modernismus schließlich als heterogene, von gegensätzlichen Interessen geprägte Problematiken (im Sinne von These 5) erscheinen und nicht als homogene Ästhetiken oder Poetiken, für die sie bisweilen gehalten werden. Eine Auseinandersetzung mit den anderen Komparatistiken könnte dazu beitragen, daß in der Vergleichenden Literaturwissenschaft „Einfluß“ und „Rezeption“ nicht mehr als Synonyme behandelt werden 40 , daß Rezeption zugleich als kulturell bedingte Rezeptionsverweigerung aufgefaßt und empirisch-quantitativ untersucht wird. Zur kulturell bedingten Rezeptionsverweigerung bemerkt der vergleichende Rechtswissenschaftler Peter Häberle: „Auch das Gegenteil, das Verweigern von Rezeptionen, die Differenz läßt sich kulturell erklären, weil die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen und ihrer kulturellen Ambiance zu verschieden sind und ‚Importe‘ nur bedingt empfohlen werden können.“ 41 Im literaturwissenschaftlichen Bereich bietet sich ein empirisch-quantitativer Vergleich von Rezeptionen avantgardistischer Texte (Sprachexperimente) in einem Land mit stark ausgeprägter avantgardistischer Tradition wie Frankreich, einem Land mit schwacher avantgardistischer Tradition wie den Niederlanden und einem Land mit unterbrochener avantgardistischer Tradition wie Rußland an: Werden avantgardistische Sprachexperimente in Frankreich von verschiedenen Lesergruppen eher akzeptiert als in den Niederlanden oder in Rußland, wo es in den 1920er Jahren eine international wirkende futuristische Bewegung gab (Chlebnikov, Malevi ), die jedoch im Stalinismus mundtot gemacht wurde? An einem solchen Projekt könnten Soziologen und Politikwissenschaftler mitwirken. Schließlich kommt ein wesentlicher Impuls aus dem politologischen Bereich, wo Jürgen Hartmann feststellt, „daß die vergleichende Politikwissenschaft nach wie vor maßgebliche Impulse aus dem Studium der Dritten Welt erhält“. Er fügt hinzu: „Die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Gesellschaften veranlaßten vor bereits fünf Jahrzehnten die Klassiker des Systemvergleichs, erste analytische Landkarten zu zeichnen (...).“ 42 Für die literarische Komparatistik bedeutet dies, daß sie stärker als bisher europäische mit außereuropäischen Literaturbegriffen und Literatursystemen vergleichen sollte. Kontrastive Vergleiche dieser Art könnten zu einer kon- 40 Vgl. M. Moog-Grünewald, „Einfluß- und Rezeptionsforschung“, in: M. Schmeling (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden, Athenaion, 1981, S. 54-55. 41 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin, Duncker und Humblot, 1982, S. 34. 42 J. Hartmann, „Vergleichende Regierungslehre und Systemvergleich“, in: D. Berg- Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 47. 15 kreteren Bestimmung des eigenen Literaturbegriffs und zu einem besseren (reflexiven) Selbstverständnis beitragen. Auch hier gilt Goethes eingangs zitierter Satz: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Der Beitrag der literarischen Komparatistik zum interdisziplinär angelegten Vergleichen liegt im interkulturellen und sprachlichen Bereich. Indirekt sprechen die Politologen Aarebrot und Bakka eine Einladung an die Vergleichenden Literaturwissenschaftler aus, wenn sie bemerken: „Eine vage Idee wird noch um ein Vielfaches ungenauer, wenn man sie durch den Filter einer fremden Kultur und Sprache wahrnimmt.“ 43 Vergleichende Literaturwissenschaftler, die es gewohnt sind, sich zwischen den Sprachen und Kulturen zu bewegen, könnten - zusammen mit den vergleichenden Linguisten - wesentlich dazu beitragen, daß der interdisziplinäre und stets interkulturelle Dialog zwischen vergleichenden Wissenschaftlern nicht an kulturell und sprachlich bedingten Mißverständnissen scheitert. Sie könnten dafür sorgen, daß in entscheidenden Augenblicken über die kulturelle und sprachliche Bedingtheit der eigenen und der fremden Theorie reflektiert wird. 8. Selbstverständnis. Vergleichende Literaturwissenschaftler können nicht hoffen, von anderen Komparatisten im interdisziplinären Dialog ernst genommen zu werden, solange sie ihre eigene Disziplin nicht theoretisch und methodologisch fundieren. Soziologie und Semiotik bieten sich als theoretische (soziosemiotische) Grundlagen an; möglicherweise können aber andere Fundierungsmöglichkeiten im Bereich der Anthropologie und der Mythenforschung gefunden werden. Eine literarische Komparatistik, die es weiterhin ablehnt, über ihre theoretischen Grundlagen und Möglichkeiten nachzudenken und Innovationen vornehmlich in der Ausdehnung des Objektbereichs (auf „Kultur“ oder „Medien“) sucht, läuft Gefahr, zusammen mit ihrem Gegenstand - der Literatur - auch sich selbst zu verlieren und im institutionellen Bereich einigen aufstrebenden Nachbardisziplinen zum Opfer zu fallen, die aufgrund ihrer theoretischen Defizite jedoch kaum in der Lage sein werden, ihre gegenwärtige Vormachtstellung zu behaupten. Als verunsicherte Disziplin, deren Vertreter ihre Zeit mit der Suche nach neuen Objekten verbringen, wird die Vergleichende Literaturwissenschaft von den anderen Komparatisten, die ihre Gegenstände - Sprachen, politische Systeme, Rechtssysteme - seit langem kennen, bestenfalls mit ungläubigen Kopfschütteln verabschiedet. 43 F. H. Aarebrot, P. H. Bakka, „Die Vergleichende Methode in der Politikwissenschaft“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 66. 16 Die vorliegende Aufsatzsammlung ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil geht es um Probleme der Theoriebildung, die in geraffter Form auch in den acht Thesen kommentiert werden; im zweiten Teil werden einige dieser Probleme im Zusammenhang mit der vergleichenden Literaturgeschichte (der Periodisierung) anhand von konkreten Beispielen dargestellt. Es gilt, u.a. zu zeigen, daß literarische Perioden (Romantik, Spätmoderne, Postmoderne) keine homogenen Weltanschauungen, Ideologien, Ästhetiken oder Poetiken sind, sondern relativ heterogene Problematiken, die ihre Einheit den allen Schriftstellern, Schriftstellergruppen und Bewegungen gemeinsamen Problemen oder Fragestellungen verdanken. Heterogenität und Homogenität greifen dialektisch ineinander, bedingen sich wechselseitig, und diese Dialektik trägt der Komplexität der historischen Erscheinung Rechnung. Im letzten Kapitel wird hier deutlich, daß die Dekonstruktion im Sinne von Derrida oder de Man diese Einheit von Homogenität und Heterogenität, Widerspruch und Übereinstimmung aus den Augen verloren hat. Ergänzend soll gezeigt werden, daß diese Problematiken in ihrer Vielfalt und Komplexität am ehesten komparatistisch zu bestimmen sind. Versuche, sie ausschließlich mit Hilfe nationalkultureller Textkorpora zu definieren, können nur reduktionistisch sein. Die tendenzielle Ausdehnung der Forschung auf den Gesamtbereich der Problematik, die stets als offene, zu ergänzende Struktur, niemals als Totalität im empirischen Sinne aufzufassen ist, ist wohl der entscheidende Beitrag der Komparatistik zur Literaturgeschichte. Erster Teil: Theoriebildung I. Die Funktion des Vergleichs in den Kultur- und Sozialwissenschaften Vergleiche haben häufig eine Orientierungsfunktion: Wir stellen als Sozialwissenschaftler, Religionswissenschaftler oder Literaturwissenschaftler einen Vergleich an, weil wir uns vergewissern wollen, daß etwas der Fall ist, daß eine Aussage zutrifft, daß wir uns nicht auf Abwegen befinden. Im Hintergrund steht immer wieder die Frage nach dem gemeinsamen Nenner von Erscheinungen und nach Verallgemeinerungsmöglichkeiten. „Vergleiche bilden die wichtigste Grundlage für Generalisierungen“ 1 , heißt es in einem Aufsatz der Politikwissenschaftlerin Hiltrud Naßmacher. Dazu bemerkt der Religionswissenschaftler Carsten Koch: „Philosophische und theologische Konzepte von Religion stehen hinter diesen Forschungen. Mittels Vergleichung wird versucht, diese ideologische Größe deduktiv zu bestätigen.“ 2 Auch Literaturwissenschaftler suchen in erster Linie nach Bestätigung, wenn sie erfreut feststellen, daß ein Aspekt des Realismus - etwa die Beschreibung des Alltags durchschnittlicher, gewöhnlicher Menschen - nicht nur bei Gottfried Keller, sondern auch bei George Eliot (Mary Ann Evans) und Benito Pérez Galdós anzutreffen ist. Wissenschaftliches (und sogar alltägliches) Vergleichen erfüllt nicht nur eine bestätigende, affirmative, sondern auch eine kontrastive Funktion: Denn jeder Vergleich bewegt sich zwischen zwei Extremen: zwischen dem Pol der Identität und dem der Inkommensurabilität. Beide Pole sind steril, weil es sich nicht lohnt, Identisches zu vergleichen, und weil der Vergleich inkommensurabler Größen keinen Erkenntniswert hat. Eine Diskussion über monotheistische Religionen mag sich eine Zeitlang mit den Gemeinsamkeiten befassen, wird jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt die Unterschiede und Gegensätze zur Sprache bringen. Es kann sogar sein, daß sie sich an den Gegensätzen entzündet und erst in einem späteren Stadium die Gemeinsamkeiten hervorhebt, die schon in der Bezeichnung „Monotheismus“ angelegt sind. Ähnlich mag eine literaturwissenschaftliche Diskussion über den Realismus verlaufen. In den Naturwissenschaften scheint es nicht anders zuzugehen: Geographen und Klimaforscher, die die Gletscherschmelze in den Alpen (z.B. in Morteratsch/ Schweiz) beobachten, stellen fest, daß sich einige Gletscher in Alaska nicht zurückgezogen haben, sondern sogar gewachsen sind. In diesem Falle 1 H. Naßmacher, „Probleme und Möglichkeiten des Vergleichs in der Politikwissenschaft“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000, S. 77. 2 K. Koch, „Möglichkeiten und Grenzen der vergleichenden Religionswissenschaft“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften, op. cit., S. 133. 20 besteht die kontrastive Funktion des Vergleichs darin, daß vorschnelle Verallgemeinerungen vermieden und gegenläufige Tendenzen berücksichtigt werden. Auf diese Art kann die Beschreibung des Verhaltens von Gletschern im Klimawandel nuanciert werden. Zusammenfassend ließe sich sagen, daß Vergleiche in allen Wissenschaften eine zugleich affirmative (bestätigende) und kontrastive, negative Funktion erfüllen. Während die affirmative Funktion einer Konsolidierung der Objektkonstruktion „Monotheismus“, „Realismus“ oder „Föderalismus“ zur Folge hat, kann die kontrastive Funktion sie ganz oder teilweise in Frage stellen. In den meisten Fällen wirkt sie sich jedoch nuancierend und konsolidierend aus: Sie zwingt die Wissenschaftler, Widersprüche zur Sprache zu bringen und ihre Objektkonstruktion so zu modifizieren und anzureichern, daß sie auch Unterschieden, Widersprüchen und gegenläufigen Tendenzen gerecht wird. Die nominalistisch-dekonstruktivistische Frage, die hier noch zur Sprache kommen wird, lautet: Wie viele Widersprüche und Ungereimtheiten hält eine Objektkonstruktion aus, bevor sie zerfällt? Im folgenden sollen diese beiden - einander ergänzenden - Funktionen näher betrachtet werden. 1. Funktion: Erkenntnisgewinn im induktiv-affirmativen Sinn Allen vergleichenden Wissenschaften ist zunächst gemeinsam, daß sie Merkmalanalysen durchführen, die es ihnen gestatten, anhand rekurrierender Merkmale Objekte wie Föderalismus, Monotheismus, Realismus, Romantik oder Kubismus zu definieren. Zum Föderalismus gehört beispielsweise der in allen Bundesverfassungen rekurrierende Grundsatz, daß die Gesetzgebung einzelner Bundesstaaten, Kantone oder Provinzen der föderalen Gesetzgebung nicht widersprechen darf. Der Umstand, daß dieser Grundsatz auch in der Europäischen Union gilt, in der nationales Recht dem Unionsrecht untergeordnet ist, wäre Anlaß genug, von einem föderalistischen Element zu sprechen. 3 Ein charakteristisches Merkmal des literarischen Realismus ist die Gegenwart eines gut informierten oder gar allwissenden Erzählers, der in Modernismus und Postmoderne von einem agnostischen Erzähler abgelöst wird. Die Gegenwart des ersten Erzählertypus in zahlreichen Romanen des europäischen Realismus - etwa bei Balzac, George Eliot oder Theodor Fontane - bürgt für die relative Homogenität der Objektkonstruktion „literari- 3 Vgl. J. Weindl, Europäische Gemeinschaft (EU). Institutionelles System, Binnenmarkt sowie Wirtschafts- und Währungsunion auf der Grundlage des Maastrichter Vertrages, München-Wien, Oldenbourg, 1994 (2. Aufl.), S. 15-19. 21 scher Realismus“. Ähnliches ließe sich von der Aufhebung der Perspektive in der kubistischen Malerei sagen: Auch sie ist ein rekurrierendes Merkmal, das die für die Objektkonstruktion notwendigen Verallgemeinerungen ermöglicht. Diese gehören zu den Grundlagen der Objektkonstruktion. In der Literaturwissenschaft hat der Versuch, rekurrierende Merkmale in Texten aus verschiedenen Kultur- und Sprachbereichen zu finden, um die Postmoderne zu definieren, zu merkwürdigen Ergebnissen geführt. So hat beispielsweise Ihab Hassan für die Unterscheidung der literarischen Moderne von der literarischen Postmoderne u.a. die folgenden Merkmale vorgeschlagen: form / antiform, purpose / play, design / chance, hierarchy / anarchy, root-depth / rhizome-surface, signified / signifier, metaphysics / irony usw. Nun hat aber schon die Romantik mit diversen Textexperimenten gegen die klassische Form revoltiert; gegen die Hierarchie begehrte der Modernist Robert Musil in seinem essayistischen Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf, und bekanntlich waren schon die Romantiker Meister der Ironie. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, bei der Konstruktion von Objekten auf die Rekurrenz spezifischer Merkmale zu achten. Es genügt folglich nicht, der Frage nachzugehen, welche semantischen, syntaktischen oder narrativen Merkmale in literarischen, philosophischen oder religiösen Texten rekurrieren; die komplementäre Frage muß lauten: Wie spezifisch sind diese Merkmale für eine bestimmte Erscheinung? Die Frage nach dem Spezifischen beinhaltet aber den Kontrast- Gedanken. Sie begleitet jeden Vergleich, weil nur verglichen wird, was letztlich trotz aller Ähnlichkeiten doch verschieden ist. Die kontrastiven Komponenten eines Vergleichs lassen den spezifischen Charakter der verglichenen Gegenstände zutage treten. Möglicherweise ist dies das Hauptanliegen des Vergleichs und der vergleichenden Wissenschaften: kontrastiv das Spezifische der verglichenen Erscheinungen sichtbar zu machen, um sie besser definieren und verstehen zu können. Vergleicht man Spätmoderne (Modernismus) und Postmoderne unter diesem Gesichtspunkt, so stellt man fest, daß sich die Postmoderne von der ihr vorausgehenden Problematik vor allem durch einen konsequenten Verzicht auf Utopie unterscheidet. Zugleich verzichtet sie auf die moderne Suche nach dem obersten gesellschaftlichen Wert: nach der Erlösung, der Kunst, der neuen Gesellschaft. Ihre Ironie, ihre Parodien und Textexperimente sind in diesem Kontext zu betrachten. 22 2. Funktion: Erkenntnisgewinn im kontrastiven Sinn Der Sinn des Vergleichs in den verschiedenen Komparatistiken ist die Verallgemeinerung, wie Hiltrud Naßmacher richtig bemerkt. Im Optimalfall geht die Verallgemeinerung mit Nuancierungen einher. Wie dies geschieht, kann sowohl mit Hilfe der Vergleichenden Politikwissenschaft als auch mit Hilfe der literarischen Komparatistik veranschaulicht werden. Zur Konstruktion des Gegenstandes „präsidentielles System“ bemerkt beispielsweise der Politologe Jürgen Hartmann: „Beim Vergleich präsidialer Systeme zeigt sich, daß die Existenz organisierter, handlungsfähiger Parteien etwa in Frankreich, Finnland oder in der Schweiz die für die USA charakteristischen Konflikte zwischen Parlament und Regierung weitgehend ausschaltet. In jüngster Zeit hat vor allem der Typus des semi-präsidentiellen Regierungssystems (...) Beachtung gefunden, wie es exemplarisch die V. französische Republik verkörpert.“ 4 Dieser Typus gehört zwar immer noch zur Klasse der „präsidentiellen Systeme“, erweitert und nuanciert sie aber, weil er dem Phänomen der cohabitation Rechnung trägt: dem Umstand, daß der Premierminister einer anderen Partei angehört als der Präsident und mit diesem konkurrieren kann. Dirk Berg-Schlossers Versuch, „möglichst ähnliche“ und „möglichst verschiedene“ Fälle in Systemvergleichen miteinander zu verknüpfen, zeugt ebenfalls von dem Grundanliegen komparatistischer Forschung, die Erweiterung des Objektbereichs mit dessen Nuancierung zu verknüpfen. In seiner Studie zum Überleben und zum Zusammenbruch demokratischer Systeme in der Zwischenkriegszeit stellt auch Berg-Schlosser - zumindest implizit - einen Nexus zwischen Erweiterung und Nuancierung her: „Auf diese Weise können systematisch Übereinstimmungen und Kontraste ermittelt werden, die es erlauben, die gemeinsamen oder unterschiedlichen Schlüsselvariablen zu ermitteln, während die anderen konstant gehalten (‚kontrolliert‘) werden.“ 5 Auch hier erscheint der Nexus von „Übereinstimmung und Kontrast“ als der Kern komparatistischer Konstruktion. In der vergleichenden Literaturgeschichte kann die Erweiterung ebenfalls mit einer Nuancierung des Phänomens einhergehen. Dies zeigt sich im Bereich der Periodisierung, wo Begriffe wie Romantik, Modernismus oder Postmoderne nur auf internationaler oder interkultureller Ebene definiert werden können. Schränkt man die Periodisierung auf eine Philologie wie die Anglistik oder die Germanistik ein, entstehen häufig Verzerrungen. 4 J. Hartmann, „Vergleichende Regierungslehre und Systemvergleich“, in: D. Berg- Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Studienhandbuch, Opladen, Leske-Budrich, 1997 (3. Aufl.), S. 31. 5 D. Berg-Schlosser, „Makro-qualitative vergleichende Methoden“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 77. 23 Germanistische oder germanistisch-marxistische Versuche, die Romantik auf eine konservative Ideologie festzulegen, werden durch eine komparatistische Ausdehnung des Objekts auf Großbritannien und Frankreich in Frage gestellt. Solange man im deutschen Sprachbereich verweilt und die Objektkonstruktion vornehmlich auf Autoren wie Achim von Arnim, Clemens von Brentano, August von Platen, Novalis und Eichendorff konzentriert, mag die Konservatismus-These (zumindest teilweise) gerechtfertigt erscheinen. Erweitert man jedoch den germanistischen Horizont um Autoren wie Shelley, Byron und Victor Hugo, so sieht man sich gezwungen, die These zu revidieren, um den Anarchismus Shelleys und die Gesellschaftskritik Hugos in die Objektkonstruktion aufnehmen zu können. Ähnliches geschieht, wenn der Modernismus (die Spätmoderne) von Autoren wie Ihab Hassan und Linda Hutcheon auf den angloamerikanischen Bereich eingeschränkt und mit dem Konservatismus und der stilistischen Strenge eines T. S. Eliot (Yeats’, Pounds) 6 identifiziert wird. Dadurch verschwindet der andere Modernismus (die andere Spätmoderne) aus dem Blickfeld: der Modernismus von Autoren wie Heinrich Mann, Hermann Hesse, Jean-Paul Sartre, Louis-Ferdinand Céline, André Malraux, Italo Svevo und Miroslav Krleža. Die Ausdehnung des Objekts „Modernismus“ auf ganz Europa läßt ein ähnliches Bild entstehen wie im Falle der Romantik: Weit davon entfernt, eine konservative Ideologie im ästhetischen oder politischen Sinne zu sein, wird der Modernismus durch existentialistische (Sartre), anarchistische (Céline) und marxistische (der Malraux von Les Conquérants) Revolten charakterisiert. Auch deutsche Autoren wie Heinrich Mann und Alfred Döblin passen nicht in das konservative Modernismus-Bild, das eine Autorin wie Linda Hutcheon entwirft, die sich vorwiegend auf den anglo-amerikanischen Bereich konzentriert. (Vgl. Kap. VI. 1.) Analog zur reduktionistischen Betrachtung der Spätmoderne als Modernism ist die literarische Postmoderne auf eine „lesbare“ oder „konsumierbare“ Literatur im Sinne von Umberto Eco, Patrick Süskind oder John Fowles festgelegt worden. Eine Erweiterung des Objektbereichs auf die österreichische und die spanische Literatur, d.h. auf die Werke Thomas Bernhards, Christoph Ransmayrs und Félix de Azúas, läßt eine ganz andere, eine revoltierende Postmoderne im Sinne von Lyotard in Erscheinung treten: eine postmoderne Literatur, die zwar keine Utopien mehr entwirft (dadurch unterscheidet sie sich radikal von der Spätmoderne), die es aber ablehnt, sich auf irgendeine Art mit dem gesellschaftlichen status quo abzufinden. (Man 6 Vgl. L. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, London-New York, Routledge, 1988, S. 11 and S. 24. L. Surette, Modernism. Ezra Pound, T. S. Eliot, W. B. Yeats, and the Occult, Montreal-London-Buffalo, McGill-Queens Univ. Press, 1993. 24 denke u.a. an Thomas Bernhards Auslöschung, an Ransmayrs Strahlenden Untergang und an seinen Roman Die letzte Welt.) Wie in der Politikwissenschaft, der Rechtswissenschaft und der Soziologie scheinen auch in der Vergleichenden Literaturwissenschaft Erweiterung und Nuancierung des Objektbereichs ineinanderzugreifen. An dieser Stelle kann allerdings die Frage aufkommen, ob Gattungs- und Epochenbegriffe noch zu halten sind, wenn sie Widersprüchliches bezeichnen; ob politikwissenschaftliche Begriffe wie „Föderalismus“ oder „Totalitarismus“, die sich auf recht heterogene Erscheinungen beziehen, noch brauchbar sind. 7 Die Erweiterung des Objektbereichs muß nicht seine Nuancierung zur Folge haben; sie kann auch seinen Zerfall bewirken. 3. Das nominalistisch-dekonstruktivistische Argument Bekanntlich stellt Benedetto Croces Ästhetik alle komparatistischen Versuche in Frage, literarische Werke oder Kunstwerke einem gemeinsamen Nenner - einer Gattung oder einer Epoche - zu subsumieren. Croce bezeichnet den Gattungsbegriff als „leere Phantasie“ 8 und plädiert für eine rigoros werkimmanente Analyse, die sich auf das einzelne Werk konzentriert und jede spekulative Verknüpfung mit einem Oberbegriff - einem Gattungs- oder einem Epochenbegriff - strikt ablehnt. Seiner Ansicht nach gibt es nur den Don Quijote - nicht die Romangattung, der er angehören soll. Aus dieser Sicht erscheinen auch Periodenbegriffe wie Romantik, Realismus oder Modernismus als Schimären, die sich auflösen, sobald man der Besonderheiten der Werke und der Gegensätze zwischen ihnen gewahr wird. Es kommt so zu einer Umkehrung der hier erläuterten komparatistischen These: Die Erweiterung des Objektbereichs trägt nicht zu seiner Nuancierung durch eine Ausrichtung auf Spezifisches bei, sondern läßt den Gegenstand zerfallen. Croce erscheint hier als ein Erbe des philosophischen Nominalismus und als Vorläufer der Dekonstruktion. 9 Er stellt die Verallgemeinerung in Frage, die den Komparatisten aller Disziplinen vorschwebt: die Verallgemeinerung, die aus dem Vergleich hervorgehen soll. Wenn aber der Vergleich eine „leere Phantasie“ ist, weil die verglichenen Größen in- 7 Vgl. K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart, DVA, 1982, Teil II. 4: „Totalitärer Progressismus rechts oder links“. 8 B. Croce, Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, Bari, Laterza, 1973 (12. Aufl.), S. 43. 9 Zum Nominalismus der Dekonstruktion vgl. Ch. Norris, The Deconstructive Turn. Essays in the Rhetoric of Philosophy, London-New York, Routledge, 1983, S. 9-12. 25 kommensurabel sind, weil der gemeinsame Nenner fehlt, dann wird auch die komparatistische Begriffsbildung hinfällig. Ähnlich argumentieren Derrida und die Dekonstruktivisten von Yale. Ihnen sind alle Verallgemeinerungen, die Abstraktionen und Begriffe wie „Romantik“ oder „Textbedeutung“ zeitigen, suspekt. Derrida versucht beispielsweise zu zeigen, daß sich die Themen, die Jean-Pierre Richard in Mallarmés Werk findet, bei genauem Hinsehen auflösen, weil die Worteinheiten, die Richard einem gemeinsamen Nenner subsumieren möchte, in diesem Nenner nicht aufgehen, dem von Richard verwendeten Oberbegriff nicht subsumierbar sind. Wenn es eine konservative, eine liberale und eine anarchistische Romantik gibt, dann gibt es möglicherweise gar keine Romantik, sondern nur einander widersprechende Positionen und Texte. Ähnliches ließe sich vom Modernismus und von der Postmoderne sagen. Die Gegenthese zu Croces Nominalismus und Derridas Dekonstruktivismus ist von Niklas Luhmann aufgestellt worden. Er meint, daß es die Soziologie mit der Gesellschaft schlechthin zu tun hat (oder haben sollte) und wehrt sich gegen partikularistische Bezeichnungen wie „italienische“ oder „spanische Gesellschaft“: „Wie im alltäglichen Sprachgebrauch ist es auch in der Soziologie ganz üblich, von italienischer Gesellschaft, spanischer Gesellschaft usw. zu sprechen, obwohl Namen wie Italien oder Spanien in einer Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten. Parsons hat sehr überlegt die Formulierung The System of Modern Societies als Buchtitel gewählt.“ 10 Anscheinend kennt der theoretische Extremismus keine Grenzen: Während Croce nur das Besondere anerkennt, läßt Luhmann nur das Allerallgemeinste gelten. Aus theoretischer und komparatistischer Sicht ist es interessant zu beobachten, wie sich die Extreme berühren: Beide Extrempositionen - extremer Partikularismus und extremer Universalismus - haben zur Folge, daß Komparatistik und komparatistische Fragestellungen eliminiert werden. Wo es nur die italienische oder die spanische Gesellschaft gibt und keinen gemeinsamen Nenner, dort wird auch der Vergleich, der auf Verallgemeinerung zielt, müßig; wo die italienische oder die spanische Gesellschaft nicht genannt werden darf, weil der Theoretiker nur die „Weltgesellschaft“ kennt, dort wird jede Art von Komparatistik überflüssig. Der Einwand gegen Croce und Luhmann liegt auf der Hand: Ihre Positionen sind undialektisch, weil sie außerstande sind, Besonderes und Allgemeines miteinander zu verknüpfen. Wo alle Komparatistiken - von der Rechtswissenschaft bis zur Literaturwissenschaft - negiert werden, dort stimmt etwas nicht, dort fehlt etwas. Was fehlt, ist die dialektische Vermitt- 10 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 158. 26 lung zwischen dem Besonderen, dem Einzelfall, und dem Allgemeinen, der Kunst als solcher, der Gesellschaft als solcher. 4. Beispiel I: Literarischer Existentialismus In den verschiedenen Komparatistiken gilt es also, die Mannigfaltigkeit in der Einheit und die Einheit des Mannigfaltigen wahrzunehmen. Es ist natürlich immer möglich, die Mannigfaltigkeit als Heterogenität auf Kosten der Einheit hervorzuheben und einem dekonstruktivistischen Nominalismus das Wort zu reden; andererseits wird häufig die Einheit und Allgemeinheit überbetont, und die Unterschiede und Gegensätze werden dabei übersehen. Die komparatistische Frage sollte daher lauten, wie die verglichenen Einzelerscheinungen einander aufgrund ihrer Unterschiede ergänzen. Diese Vorgehensweise kann anhand einer Begriffsbestimmung des literarischen Existentialismus veranschaulicht werden. Bekanntlich wird der Existentialismus in der Literatur häufig mit dem französischen Kontext und hier vor allem mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus und bisweilen auch André Malraux identifiziert. Davon zeugt u.a. die schon ältere Studie von Emmanuel Mounier Malraux, Camus, Sartre, Bernanos. L’espoir des désespérés. 11 Literaturwissenschaftler, die sich intensiver mit diesen Autoren befaßt haben, haben jedoch auf die Unterschiede und Gegensätze zwischen den Existentialisten, etwa zwischen Sartre und Camus, hingewiesen. 12 Bekannt ist die Kontroverse, die zwischen den beiden Schriftsteller-Philosophen ausbrach, als im Jahre 1951 Camus’ L’Homme révolté erschien. In dieser Kontroverse ging es u.a. um Camus’ Einstellung zur historischen Entwicklung, zur Geschichte. Seine Skepsis der hegelianisch-marxistischen Teleologie gegenüber war Sartre, der sich dem Marxismus angenähert hatte, ein Dorn im Auge. Die Wurzeln des Konflikts reichen jedoch tiefer, als die politischen Auseinandersetzungen um den Marxismus und die französische KP vermuten lassen. Denn der Dissens betrifft das Verhältnis von Natur und Kultur, von Natur und Geschichte. Während der junge Sartre schon in der Anfangsphase seines literarischen Schaffens, also in den Jahren von La Nausée (1938), der wertindifferenten Natur mißtraut und am Ende seines Erstlingsromans eine recht autoritäre Wertsetzung im ästhetischen Bereich vornimmt, beziehen Camus und seine Erzähler eine Position außerhalb der 11 E. Mounier, Malraux, Camus, Sartre, Bernanos. L’espoir des désespérés, Paris, Seuil, 1953. 12 Vgl. z.B. H. R. Lottman, Albert Camus, Paris, Seuil, 1978, Kap. 37: „Sartre contre Camus“. 27 ideologischen Wertsetzungen. Meursault, der Held von L’Etranger (1942) beispielsweise, identifiziert sich mit der wertindifferenten Natur und lehnt die christliche Teleologie ab (zusammen mit allen anderen Teleologien). Angesichts solcher Unterschiede und Gegensätze drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll sei, von einer existentialistischen Literatur zu sprechen oder spezifischer: von einem existentialistischen Roman. Kann der „existentialistische Roman“ als literaturwissenschaftliches Objekt konstruiert werden? Obwohl ein Vergleich von Sartres und Camus’ Romanen durchaus Gemeinsamkeiten erkennen läßt - etwa die Absurdität alltäglicher Ereignisse, die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz und das Problem der Kontingenz -, sind die Gegensätze fast so wichtig wie die Übereinstimmungen. Die Objektkonstruktion „existentialistischer Roman“ nimmt einen anderen Charakter an und wird konkreter, wenn Alberto Moravias Roman Gli indifferenti (1929) zwischen Sartres La Nausée und Camus’ L’Etranger eingefügt wird. Sobald dies geschieht und die Romantexte miteinander verglichen werden, wird deutlich, daß die Indifferenz und die Einstellung der Protagonisten zu ihr eine Entwicklung durchmachen: Während Sartres Antoine Roquentin die Wertindifferenz der Natur und seine eigene Indifferenz als Körper und Teil der natürlichen Physis mit Erfolg bekämpft (er spielt die Kunst gegen die natürliche Existenz aus), begehrt der Hauptprotagonist von Gli indifferenti - Michele Ardengo - vergeblich gegen seine eigene Gleichgültigkeit auf. Er unterliegt ihr schließlich, indem er die Übermacht seines Rivalen Leo Merumeci anerkennt und sich in sein Schicksal fügt. Mit Sartres Roquentin verbindet ihn jedoch die grundsätzliche Ablehnung der Indifferenz: „Questo è il mio vero delitto... ho peccato d’indifferenza...“ 13 Diese Indifferenz, die in Moravias Roman noch als Vergehen und Sünde aufgefaßt wird, wird in Camus’ L’Etranger vorausgesetzt: jedenfalls vom Ich-Erzähler Meursault, nicht jedoch von den anderen (den Richtern und Anwälten), die er mit seiner Gleichgültigkeit allen ideologischen Wertsetzungen gegenüber vor den Kopf stößt. Der Vergleich der drei Romane zeigt somit, wie sich die Indifferenz als Austauschbarkeit von Wertsetzungen zwischen 1929 und 1942 - wenn nicht chronologisch, so doch historisch - allmählich durchsetzt. Schließlich kündigt Camus’ L’Etranger eine postmoderne Problematik an, in der alle religiösen, politischen, ästhetischen Wertsetzungen als austauschbar und kontingent erscheinen, in der außer dem Tauschwert kein oberster gesellschaftlicher Wert mehr erkennbar ist. Moravias Roman fungiert wie eine Art missing link, wie der fehlende Skeletteil in der vergleichenden Anatomie, der die Skelette zweier Wirbel- 13 A. Moravia, Gli indifferenti (1929), Mailand, Bompiani, 1980, S. 277. 28 tiere vergleichbar macht und ihre Verwandtschaft bestätigt. Es mag Zufall sein, daß es ein italienischer Roman ist; auch ein französischer Roman hätte diese Funktion erfüllen können. Aber der Vergleich zeigt, daß es sich stets lohnt, über den nationalen, den nationalphilologischen Kontext hinauszugehen und nach missing links in anderen Kulturen zu suchen. Es kommt hinzu, daß dieser Vergleich auf den kroatischen Bereich ausgedehnt werden kann. Der sechs Jahre vor La Nausée erschienene Roman Miroslav Krležas Die Rückkehr des Filip Latinovicz (Povratak Filipa Latinovicza, 1932) setzt sich mit ähnlichen Problemen auseinander wie der französische Roman: mit der Kontingenz menschlicher Werte und Wörter, mit der Abwesenheit von Sinn, mit der Möglichkeit (ästhetischer) Wertsetzungen. Wie der Held von La Nausée versucht Krležas Maler Filip Latinovicz die (vom Nihilisten Kyriales verkörperte) Indifferenz zu überwinden. Wie im Falle von Moravias Gli indifferenti geht es hier um eine typologische Verwandtschaft, die im Zusammenhang mit ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären ist. Dazu bemerkt der slowakische Komparatist Dionýz urišin: „Unter gesellschaftlich-typologischen Analogien verstehen wir solche Ähnlichkeiten literarischer Erscheinungen, die ihre Wurzeln in sozialen und ideellen Faktoren historischen Charakters haben.“ 14 Nicht zufällig stellt der kroatische Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker Zvane rnja den zwölf Jahre älteren Krleža als Vorläufer Sartres dar. Von Sartre berichtet er: „Als er (während seines Aufenthalts in Jugoslawien) Krležas Werk kennenlernte, zeigte sich Sartre sehr überrascht. Er erklärte, daß dieser große Schriftsteller den Existentialismus antizipiert hat und daß er, Sartre, viele seiner Werke nicht geschrieben hätte, wenn er Krleža früher kennengelernt hätte: aus Angst als Plagiator dazustehen.“ 15 Hier werden die Grundlagen des typologischen Vergleich sichtbar: Verschiedene literarische Texte, die in verschiedenen gesellschaftlichen und sprachlichen Kontexten entstanden sind, weisen dennoch frappierende Ähnlichkeiten auf: einen gemeinsamen Nenner. 5. Beispiel II: Die europäischen Avantgarden Das zweite Beispiel soll zeigen, daß die europäischen Avantgarden trotz erheblicher politischer Gegensätze im sprachlichen und ästhetischen Bereich 14 D. urišin, „Die wichtigsten Typen literarischer Beziehungen und Zusammenhänge“, in: G. R. Kaiser (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern 1963-1979, Stuttgart, Metzler, 1980, S. 98. 15 Z. rnja, Sukobi oko Krleže. Argumenti i svjedo anstva za još jedan obra un s antikrležijanstvom, Sarajewo, Biblioteka Sinteza, 1983, S. 13. 29 übereinstimmen. Erleichtert wird der Vergleich durch die Form der miteinander verglichenen Texte: Es handelt sich um Manifeste, die nahezu alle einen polemischen Charakter haben und sich gegen die bestehenden künstlerischen Konventionen richten. Das avantgardistische Manifest knüpft - nicht nur der Form nach - an das Kommunistische Manifest von Marx und Engels an. Wie dieses erste revolutionäre Manifest begehrt es gegen die bürgerlichen Verhältnisse auf, jedoch nicht so sehr gegen Kapitalismus und Klassenherrschaft, sondern gegen die Kunst des Bildungsbürgertums: gegen die museale Kunst der Kenner und Dilettanten, der Philologen und Professoren, der Konservatoren und Salonkünstler. So heißt es beispielsweise im Manifest des Futurismus aus dem Jahr 1909: „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den ‚Futurismus‘ gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien. - Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken.“ 16 Auch im thematischen Bereich geht es darum, die traditionellen, vor allem die romantischen Formen und Stereotypen zu verabschieden. Bekannt ist Marinettis Text aus dem Jahre 1909, der den Titel trägt „Uccidiamo il chiaro di luna! “ („Tod dem Mondschein! “). Alle europäischen Avantgarden treffen sich in einem wesentlichen Punkt: Sie nehmen sich vor, das Wort aus den Zwängen der Syntax zu befreien und stellen dadurch die harmonische Einheit des klassischen Kunstwerks in Frage, die den Klassizismus des Bildungsbürgertums symbolisiert. Im „Technischen Manifest der futuristischen Literatur“ heißt es beispielsweise: „MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.“ 17 Diesem programmatischen Aufruf entsprechen die „neuen Prinzipien des Schaffens“, die russische Futuristen wie David Burljuk, Vladimir Majakovskij, Velimir Chlebnikov und Alexander Kru onych verkünden: „Wir haben aufgehört, Wortbau und Wortaussprache nach grammatischen Regeln zu betrachten, wir haben begonnen, in den Buchstaben nur Wegweiser für 16 F. T. Marinetti, „Manifest des Futurismus“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart, Metzler, 1995, S. 5. 17 F. T. Marinetti, „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, op. cit., S. 24. 30 Wörter zu sehen. Wir haben die Syntax erschüttert.“ 18 Auch hier geht es also um eine „Befreiung des Wortes“, um „parole in libertà“, wie es bei Marinetti heißt. Bekannter noch als die futuristischen Polemiken gegen Form, Grammatik und Syntax sind die surrealistischen Experimente mit dem „automatischen Schreiben“, das den Impulsen des Unbewußten gehorcht und ohne Interpunktion und Syntax auskommt. In diesem Kontext ist André Bretons Definition des Surrealismus zu lesen: „Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ 19 Der Entdecker des Unbewußten, der mit Freuds Psychoanalyse vertraut war, abstrahiert in dieser Passage (und in seinen Manifesten insgesamt) von allen tradierten Normen und Werten. Wie Marinetti und die russischen Futuristen verabschiedet er die gesamte bürgerliche Vergangenheit, vor allem die Kunst des Bildungsbürgertums. Ähnlich äußern sich die Vorticisten in Großbritannien: „Unser Vortex hat keine Angst vor der Vergangenheit, er hat ihre Existenz vergessen.“ 20 Auch der Vorticismus versucht, mit allen überlieferten Formen und Werten zu brechen; auch er revoltiert gegen die herkömmliche Syntax, gegen klassizistische und romantische Klischees. Dieser gemeinsame Nenner, der alle europäischen Avantgarden miteinander verbindet, könnte als „ästhetisch-stilistischer Bruch mit tradierten Formen“ bezeichnet werden. Doch diese Bezeichnung verdeckt die Heterogenität der Gruppen, die gegen das Bildungsbürgertum und seine kanonisierten Gattungen aufbegehren. Es handelt sich in allen Fällen um die kritischen Intellektuellen Europas, die sich nach 1900 als Revolutionäre des Wortes den politischen Revolutionären anschließen und versuchen, im Bündnis mit ihnen oder als ihre Konkurrenten die bürgerliche Ordnung zu zerschlagen. Dazu bemerkt Nikolaj Gorlov: „Die Futuristen, die die alte Lebensart haßten, haßten auch die alte Sprache.“ 21 Der Haß der russischen und italienischen Futuristen, der französischen Surrealisten und der britischen Vorticisten geht jedoch aus sehr unterschiedlichen ideologischen Impulsen hervor. Während die russischen Futuristen 18 D. Burljuk u.a., „Richterteich“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, op. cit., S. 71. 19 A. Breton, „Manifest des Surrealismus“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, op. cit. S. 330. 20 Vortex, „Unser Vortex“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, op. cit., S. 101. 21 N. Gorlov, „Qu’est-ce que le futurisme? “, in: G. Conio (Hrsg.), Le Formalisme et le futurisme russes devant le marxisme, Lausanne, L’Age d’Homme, 1975, S. 170. 31 immer wieder versuchten, mit ihrer Sprachkritik einen Beitrag zur marxistisch-leninistischen Revolution zu leisten, profilierten sich Marinetti und seine Weggefährten als Verbündete - zeitweise sogar als Konkurrenten - von Mussolinis Faschisten. Im Gegensatz dazu definierten sich André Breton und Louis Aragon immer wieder (und trotz aller Konflikte mit der französischen KP) als Revolutionäre im Sinne der proletarischen Revolution. 22 Andere Avantgarden wie der deutsche Expressionismus und der Vorticismus sind von einer politischen Ambivalenz geprägt, die u. a. in den Expressionismus-Debatten zwischen Georg Lukács, Ernst Bloch und Bertolt Brecht zum Ausdruck kam. 23 Wir haben es im Bereich der Avantgarde also mit einer formalen und ästhetischen Homogenität zu tun (Ablehnung tradierter Formen, Suche nach neuen Verfahren), die mit der politischen Heterogenität der verschiedenen Bewegungen kontrastiert. Doch sogar diese Heterogenität gründet auf einer - ebenfalls politischen - Gemeinsamkeit: auf dem Kampf der kritischen Intellektuellen gegen ein Bildungsbürgertum, das, wie Marcuse später sagen wird, seine Ideale verraten hat. Der Kampf der kritischen Intellektuellen wird von verschiedenen, auch unvereinbaren Ideologien angeheizt: den faschistischen, den nationalsozialistischen, den marxistischen, den marxistisch-leninistischen und den anarchistischen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß sich diese ideologische Heterogenität auch im ästhetischen Bereich niederschlägt: Im Gegensatz zu den Surrealisten und den russischen Futuristen führen die italienischen Futuristen die moderne Technik (Flugtechnik und Maschinen aller Art) gegen die alten Bildungs- und Kulturideale ins Feld. Dadurch unterscheiden sie sich erheblich von einem Surrealisten wie André Breton, dem die moderne Welt nicht geheuer ist: „Ce monde dans lequel je subis ce que je subis (n’y allez pas voir), ce monde moderne, enfin, diable! que voulez-vous que j’y fasse.“ 24 Nicht zufällig beruft sich Breton auf Baudelaire und die deutschfranzösische Romantik. Dadurch gibt er eine Bindung an die Vergangenheit zu, die sowohl den italienischen Futuristen als auch den britischen Vorticisten suspekt gewesen wäre. Wie im Existentialismus greifen Homogenität und Heterogenität in der historischen Avantgarde ineinander, konkretisieren und erklären einander. Die künstlerischen Verfahren der Avantgarden sind zwar ähnlich, gehen aber aus verschiedenen politischen Positionen hervor. Diese Positionen 22 Zum Verhältnis des Surrealismus zur KPF vgl. Y. Janin, „La Transparence. Préliminaires à une étude sociologique du surréalisme“, in: Cahiers de philosophie 7, 1966. 23 Vgl. H.-J. Schmitt, Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 39-49 sowie S. 180-191 und S. 192- 230. 24 A. Breton, Manifestes du surréalisme, Paris, Gallimard, 1969, S. 62. 32 können zwar dem gemeinsamen Nenner „kritische Intellektuelle“ subsumiert und auf den revolutionären Kampf gegen das liberale Bürgertum bezogen werden; die Gruppe der „kritischen Intellektuellen“ ist aber so heterogen, daß ihre Angehörigen im Zweiten Weltkrieg gegeneinander antreten. Insgesamt zeigt sich, daß erst die Unterschiede und Gegensätze zwischen den Avantgarden es gestatten, ihre Gemeinsamkeiten richtig (d.h. historisch-genetisch) einzuschätzen. Erst der typologische Vergleich, der die gesellschaftlichen und politischen Entstehungsbedingungen berücksichtigt, gestattet es, die ästhetischen, formalen Ähnlichkeiten und Abweichungen zu erklären. Was vom literarischen Existentialismus gesagt wurde, gilt auch hier: Die Unterschiede und Abweichungen lassen den Gegenstand nicht zerfallen, sondern lassen seine Mannigfaltigkeit, sein ästhetisches Potential und seine Ambivalenz, vor allem seine politische Ambivalenz, zutage treten. 6. Vom Vergleich zum Dialog: Theorievergleich interkulturell An der Ambivalenz entzündet sich der Dialog, der auf die Tatsache reagiert, daß ein bestimmtes Phänomen widersprüchliche Aspekte aufweist und deshalb auf verschiedene Arten (re-)konstruiert werden kann. Ein Vergleich von heterogenen Theorien, die ein bestimmtes Phänomen zum Gegenstand haben und widersprüchliche Aspekte des Phänomens zutage treten lassen, lädt zum theoretischen Dialog ein. Als Beispiel seien die Theorien gesellschaftlicher Differenzierung angeführt, die in zwei verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu entwickelt haben. Während Luhmann eine Konsenstheorie der Gesellschaft entwirft und von der Annahme ausgeht, daß soziale Probleme durch eine Steigerung der Systemirritabilität zu lösen sind, entwirft Bourdieu eine Konflikttheorie der Gesellschaft, die auf die beiden Faktoren von Herrschaft und Machtausübung ausgerichtet ist. Beide Theorien zeugen (bis zu einem gewissen Grad) von den unterschiedlichen politischen Verhältnissen in Deutschland und Frankreich. Während Luhmann im Rahmen seiner Theorie die Ausdifferenzierung sozialer Systeme vorwiegend als funktionalen Prozeß betrachtet und von autonomen, „autopoietischen“ Systemen spricht, verknüpft Bourdieu den Differenzierungsprozeß mit Machtfaktoren, mit Herrschaft und symbolischer Gewalt. Dadurch wird der von Luhmann stillschweigend vorausgesetzte Nexus von Differenzierung und Autonomie in Frage gestellt. Ein Vergleich der beiden Theorien läßt die Interferenzen zwischen den verschiedenen Systemen und Feldern erkennen und zeigt, daß einige Systeme oder Felder auto- 33 nomer sind als andere. Zugleich wird die Homogenität der Systeme und Felder in Frage gestellt. Das wird am Beispiel „Wissenschaftssystem“ besonders deutlich. „Was immer als Wahrheit zählt“, schreibt Luhmann, „ist im System selbst konstituiert.“ 25 Bourdieu zeigt aber, daß diese Aussage nicht im gleichen Maße für die Mathematik und die Soziologie gilt. Während die Mathematik ein autonomes System ist, in dem ideologische Interferenzen keine Rolle spielen, ist die Soziologie - wie alle anderen Sozialwissenschaften - von ideologischen Konflikten geprägt. 26 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Homogenität oder Heterogenität des Wissenschaftssystems: Wenn sich soziologische Diskussionen, wie Bourdieu zeigt, der Einwirkung der Medien und der Ideologien nicht entziehen können, während sich Mathematik oder Informatik jenseits dieser Einwirkungen entfalten, werden Luhmanns und Bourdieus Bezeichnungen „Wissenschaftssystem“ und „wissenschaftliches Feld“ beide fragwürdig. Möglicherweise gibt es nur ein mathematisches und ein soziologisches System oder Feld. Wie soll in diesem Fall klassifiziert werden? Der Vergleich der beiden soziologischen Theorien zeitigt mindestens drei Erkenntnisse: 1. Gesellschaftstheorien, die in verschiedenen kulturellen Kontexten entstanden sind, gehen von verschiedenen ideologischen Prämissen und Gesellschaftsmodellen aus. 2. Eine Konfrontation solcher Theorien ist außerordentlich fruchtbar, weil sie die Defizite beider Ansätze erkennen läßt. Jede der beiden Theorien wirft Licht auf die Lücken und Schwachstellen der anderen. 3. Die Entdeckung dieser Lücken und Schwachstellen führt zu Kritik und Gegenkritik, zu Selbstkritik und Dialog. Vergleich und Dialog hängen insofern zusammen, als jeder Vergleich den partiellen, einseitigen Charakter einer Kunstrichtung, einer Literatur oder einer Theorie zutage treten läßt und die Frage nach der Totalität, dem Gesamtzusammenhang, aufwirft. Der offene Dialog lebt von der Erkenntnis, daß dieser Gesamtzusammenhang nie vergegenwärtigt werden kann. Als theoretisches Kriterium und als Richtlinie für den Dialog bildet er jedoch einen wichtigen Anhaltspunkt. 25 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 198. 26 Vgl. P. V. Zima, Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke, 2004, Kap. II. II. Vergleich als Konstruktion: Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie Beim Stichwort „vergleichende Wissenschaften“ drängen sich zwei komplementäre Fragen auf: 1. Welche gemeinsamen Anliegen verbinden so heterogene Disziplinen wie Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft oder Sprachwissenschaft, und 2. welche methodologische Bedeutung fällt dem Vergleich in diesen Wissenschaften zu? Die beiden Fragen ergänzen einander insofern, als die erste Frage voraussetzt, daß es gemeinsame Anliegen gibt, und daß die methodologische Bedeutung des Vergleichs in allen diesen Wissenschaften identisch oder zumindest ähnlich ist. Dies ist jedoch keineswegs sicher. Die literarische Komparatistik beispielsweise (von Insidern auch etwas überheblich „Komparatistik“ tout court genannt) lebt vom interkulturellen Vergleich. Eine ihrer Thesen lautet: Man versteht ein literarisches Phänomen besser, wenn man es im interkulturellen Kontext betrachtet und mit analogen Erscheinungen in anderen Kulturen (Literaturen) vergleicht. Diese These ist sicherlich nicht falsch, denn man versteht Wolfram von Eschenbachs Parzival zweifellos besser, wenn man bedenkt, daß der höfische Roman Chrétien de Troyes’ dem fränkischen Dichter bekannt war und auf dessen Schaffen nachhaltig eingewirkt hat. Auch Italo Svevos La coscienza di Zeno und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften wird man eher gerecht, wenn man sie einander gegenüberstellt, nicht um Einflüsse nachzuweisen, sondern um Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, die auf den Ursprung der beiden Romane in der Gesellschaft der Donaumonarchie zurückzuführen sind und diese Gesellschaft in einem neuen Licht erscheinen lassen. Aber welche Bedeutung hat diese zentrale These der vergleichenden Literaturwissenschaftler für andere Disziplinen, etwa für die vergleichenden Naturwissenschaften, an denen sich die founding fathers der Vergleichenden Literaturwissenschaft gern orientierten? So schreibt beispielsweise der Elsässer Komparatist Fernand Baldensperger im Jahre 1921: „Die ‚komparativen‘ Wissenschaften in der Biologie hatten sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu speziellen Disziplinen konstituiert, und die Literaturgeschichte konnte nicht umhin, sich auf ihre Weise davon anregen zu lassen. Cuvier in der vergleichenden Anatomie (1800 bis 1805), Blainville in vergleichender Physiologie (1833), Coste in vergleichender Embryogenese 36 (1837), sie alle hatten, mit verschiedenen Zielen, ihre Arbeiten unter dem Blickwinkel der vergleichenden Untersuchung veröffentlicht (...).“ 1 Den von Baldensperger genannten biologischen Wissenschaften ist eines gemeinsam: In ihnen spielt die interkulturelle Betrachtungsweise der vergleichenden Literaturwissenschaftler so gut wie keine Rolle. Angesichts dieser Feststellung könnte man nun auf zwei verschiedene Arten weiterargumentieren und entweder behaupten, daß die hier angesprochene Verwandtschaft zwischen Biologie und Literaturgeschichte eine Pseudoverwandtschaft und einer der Exzesse des vielgescholtenen Positivismus ist, oder aber die Diskussion auf eine abstraktere Ebene projizieren und behaupten, daß dem Vergleich (der vergleichenden Methode) auch unabhängig vom Faktor „Interkulturalität“ eine Bedeutung zukommt, die von allen (naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen) Komparatistiken erkannt wird. Da es kaum sinnvoll wäre, die frühe Ausrichtung der literarischen Komparatistik auf die Naturwissenschaften als Auswuchs des damaligen Positivismus schlicht zu übergehen, soll hier in einem ersten Schritt nach dem allen vergleichenden Theorien gemeinsamen Erkenntnisinteresse gefragt werden, einem Erkenntnisinteresse, das unabhängig von „Interkulturalität“ zu sein scheint. In einem zweiten Schritt dieser Darstellung soll der Unterschied zwischen typologischen und genetischen Vergleichen näher betrachtet werden, die beide als heuristische Konstruktionen im Rahmen bestimmter theoretischer Diskurse aufzufassen sind. Im letzten Teil ist die Frage zentral, die Positivismus und Szientismus stets vernachlässigt haben: wie sich die kulturelle und ideologische Bedingtheit von Theorien auf deren Konstruktionen und auf das vergleichende Verfahren auswirkt. 1. Die methodologische Bedeutung des Vergleichs Bekannt ist der alltägliche Einwand: „Das kann man nicht vergleichen, das sind zwei ganz verschiedene Dinge.“ In solchen Fällen könnte die Antwort lauten: Gerade, weil es sich um verschiedene Erscheinungen handelt, sollen sie verglichen werden, denn identische Einheiten aufeinander zu beziehen, ist sinnlos. Ebenso sinnlos ist ein Vergleich zweier inkommensurabler Größen, die voneinander nicht abweichen können, weil sie sich nicht berühren. Der sinnvolle Vergleich ist demnach im Spannungsfeld zwischen dem Pol der Identität und dem Pol der Inkommensurabilität anzusiedeln. Dies ist freilich eine Binsenweisheit, aber eine nützliche, weil sie unmittelbar zu der 1 F. Baldensperger, „Vergleichende Literaturwissenschaft - Das Wort und die Sache“, in: H. N. Fügen (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft, Düsseldorf-Wien, Econ, 1973, S. 26. 37 wichtigen Frage führt, an welchem Punkt oder an welchen Punkten dieses Spannungsfeldes fruchtbare Vergleichsmöglichkeiten zu finden sind. Man findet sie im Bereich der Teilidentitäten, die dadurch zustande kommen, daß sich Ähnlichkeiten und Abweichungen zweier Gegenstände die Waage halten. Auf dieser Ebene erscheint es beispielsweise sinnvoll, das im deutschen Sprachraum als präsidentiell definierte System Frankreichs mit dem der USA zu vergleichen, um beide Systeme konkreter zu verstehen und um ihre problematischen Aspekte besser beschreiben zu können (man denke an das Problem der cohabitation, das es in den USA nicht gibt, weil Exekutive und Legislative streng voneinander getrennt sind). Kurzum, es geht darum, die Einzelerscheinung im Vergleich besser identifizieren oder definieren zu können. Die Politologen Frank H. Aarebrot und Pal H. Bakka formulieren es so: „Ein Ding bekommt nur dann eine individuelle Identität, wenn man es mit anderen vergleicht.“ 2 Die Autoren vergessen allerdings hinzuzufügen, daß das „Ding an sich“ (wie schon Kant wußte) kognitiv nicht zu erfassen ist, so daß angenommen werden muß, daß vergleichende Theorien (wie alle anderen Theorien) nur mit „konstruierten Dingen“ oder Objektkonstruktionen arbeiten. Diese Überlegung ist keine wissenschaftstheoretische oder konstruktivistische Spitzfindigkeit, die Empiriker getrost vergessen können, sondern wesentlich für jede Art von Forschung, die Selbstreflexion einem blinden Umhertasten vorzieht. Denn sie führt zu der Erkenntnis, daß nicht literarische Werke, staatliche Verfassungen oder politische Systeme als solche miteinander verglichen werden, sondern nur deren (Re-)Konstruktionen in unseren stets divergierenden theoretischen Diskursen. Was bedeutet dies für die Praxis des Vergleichs? Es bedeutet konkret, daß die These der dänischen Politologen, „ein Ding bekomme nur dann eine individuelle Identität, wenn man es mit anderen vergleicht“, durch die Überlegung ergänzt werden sollte, daß Identitäten stets konstruiert sind, und daß manche theoretische Konstruktionen (in bestimmten Kontexten) sinnvoller sind als andere. Wenn beispielsweise der Politologe Ronald Inglehart in einer Studie über „Vergleichende Wertwandelforschung“ Belgien mit fünf anderen europäischen Ländern im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wertewandel vergleicht (1970-93), so trägt er dem sich verschärfenden Gegensatz zwischen Flandern und Wallonien nicht Rechnung und läßt die Frage aufkommen, ob die Objektkonstruktion „Belgien“ in diesem Kontext noch tauglich sei. In abgemilderter Form stellt sich diese Frage auch im Falle von Großbritannien (als komplexer Einheit von 2 F. H. Aarebrot, P. H. Bakka, „Die Vergleichende Methode in der Politikwissenschaft“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Studienhandbuch, Opladen, Leske und Budrich, 1997 (3. Aufl.), S. 49. 38 England, Wales, Schottland und Nordirland) und Italien mit seinem Nord- Süd-Gefälle. Es ist also keineswegs sicher, daß die Objektkonstruktionen „Belgien“, „Großbritannien“ oder „Italien“ optimal sind, wenn es um „Wertprioritäten in sechs europäischen Nationen“ 3 geht, wie der Autor sagt. Damit soll Belgien als politische Einheit und als Gegenstand der Politikwissenschaft keineswegs in Frage gestellt werden. Denn es erscheint sowohl legitim als auch fruchtbar, von „Belgien“ zu sprechen, wenn es um einen Föderalismus-Vergleich geht (Belgien ist seit 1993 ein Bundesstaat): etwa darum, den belgischen Föderalismus mit dem österreichischen, dem deutschen oder dem kanadischen zu vergleichen. Aber einem Diskurs über „vergleichende Wertwandelforschung“ scheint die Konstruktion „Belgien“ zu widersprechen, weil sich dieser Diskurs über Relevanzkriterien hinwegsetzt, die für den Wertwandel wesentlich zu sein scheinen: u.a. über den Gegensatz zwischen flämischen und wallonischen Institutionen und über den komplementären Gegensatz zwischen flämischen und wallonischen Werthaltungen, der möglicherweise ein Analogon in Großbritannien (England-Schottland) oder Italien (Norden-Süden) hat. Es geht hier also nicht nur um die Einsicht, daß jeder theoretische Gegenstand ein Konstrukt ist, sondern auch um die komplementäre ideologiekritische Erkenntnis, daß wir häufig, ohne uns dessen bewußt zu sein, mit vorkonstruierten Gegenständen arbeiten, deren Anwendung in einigen Fällen sinnvoll sein mag, in anderen Fällen jedoch Differenzen verwischt und die Analyse behindert. Der Begriff des ideologisch „Vorkonstruierten“, des préconstruit, wurde im Anschluß an Althusser und Pêcheux von Paul Henry in die Diskussion eingebracht 4 , in der es u.a. darum ging, die ideologischen Konstrukte zu erkennen, die unsere Gedanken in bestimmte Bahnen lenken. Doch zurück zum Konstruktionsvorgang, diesmal in der Literaturwissenschaft. Franz Kafka ist häufig als Autor der Existenzangst (im Sinne von Kierkegaard), als deutsch-jüdischer Schriftsteller definiert und bisweilen dem Expressionismus 5 angenähert worden. Ein Vergleich von Kafkas Romanen mit dem Werk Jaroslav Hašeks 6 konnte sich auf keinen dieser vorkonstruierten Gegenstände stützen, weil keine der bestehenden Interpretationen einen sinnvollen Vergleich zuzulassen schien: Der von vielen unver- 3 R. Inglehart, „Vergleichende Wertewandelforschung“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller- Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 147. 4 Vgl. P. Henry, „Constructions relatives et articulations discursives“, in: Langages 37, 1975. 5 Vgl. W. Falk, Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionsismus und Expressionismus, Salzburg, Otto Müller, 1961, S. 405. 6 Vgl. Vf., „Hašek und Kafka: Ambivalenz, Kritik und Krise“, in: ders., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.). 39 standene Autor der Existenzangst erschien zunächst als Antipode des volkstümlichen Satirikers. Doch es zeigte sich, daß die beiden Schriftsteller auf typologischer Ebene miteinander vergleichbar sind, sobald ihre Werke im Rahmen eines neuen Diskurses rekonstruiert werden: sobald klar wird, daß sie einander als Vertreter des mitteleuropäischen Modernismus ergänzen, weil sie beide von der grundsätzlichen Ambivalenz aller gesellschaftlichen Erscheinungen ausgehen. Diese Ambivalenz als Grundstruktur bewirkt sowohl in Kafkas als auch in Hašeks Roman, daß es zu einer destruktiven Vereinigung der Gegensätze kommt: des Edlen und des Gemeinen, des Tragischen und des Komischen, der Moral und der Ausschweifung, des Sinnvollen und des Absurden. Diese destruktive Vereinigung ist zugleich für den grotesken Einschlag von Kafkas und Hašeks Werk verantwortlich. Hier hören die Gemeinsamkeiten jedoch auf, und der Vergleich nimmt einen kontrastiven Charakter an, sobald sich herausstellt, daß Ambivalenz und Groteske 7 von Kafka ins Tragische, von Hašek jedoch ins Komisch-Satirische gewendet werden. Dieser Kontrast ist jedoch nicht dazu angetan, die beiden Autoren endgültig voneinander zu trennen, sondern bestätigt auf literaturgeschichtlicher Ebene die Vielfalt und Mannigfaltigkeit des Modernismus, der auf ambivalente Art Tragik und Komik, Engagement und Weltverzicht, Revolution und Reaktion miteinander verknüpft. Im Anschluß an dieses Beispiel erscheinen folgende Aussagen möglich: 1. Ob der Vergleich zweier oder mehrerer Gegenstände sinnvoll ist oder nicht, hängt letztlich von der Konstruktion dieser Gegenstände in einem bestimmten Diskurs ab. (Kafka als religiösen Autor, als Existentialisten oder Expressionisten kann man mit Hašek nicht vergleichen.) 2. Es ist wesentlich, die miteinander verglichenen Größen so zu konstruieren, daß der Vergleich möglichst aussagekräftig ist und die Gemeinsamkeiten auf die Abweichungen bezieht. Dazu bemerkt Hiltrud Naßmacher in ihrer anregenden Darstellung der Vergleichenden Politikforschung: „Ob beim Vergleich Aussagen erzielt werden, die nicht nur für die Vergleichsobjekte selbst gelten, hängt davon ab, wie diese ausgewählt werden. Die Auswahl der Vergleichsobjekte ist also für den Vergleich von erheblicher Relevanz.“ 8 Diese Bemerkungen führen gleichsam von selbst zum dritten Punkt: 3. Der Vergleich - welcher Art auch immer - sollte über sich selbst hinausweisen. Vergleicht man beispielsweise die Verfassung der Fünften französischen Republik mit 7 Zum Verhältnis von „Ambivalenz“ und „Groteske“ vgl. M. M. Bachtin, „Rabelais und Gogol. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes (Hrsg. R. Grübel), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 340-342. 8 H. Naßmacher, Vergleichende Politikforschung. Eine Einführung in Probleme und Methoden, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1991, S. 24-25. 40 der der USA, so hofft man, über den Rahmen der binären Struktur hinauszugelangen und etwas über präsidentielle Verfassungen und ihre Probleme im allgemeinen sagen zu können. Dies war auch der Sinn des Kafka-Hašek- Vergleichs: Er sollte als Zusammenführung von Übereinstimmungen und Abweichungen verallgemeinerungsfähige Aussagen über den Modernismus als literarische Periode ermöglichen. Aus diesen Überlegungen geht die erste These hervor, die den ersten Teil dieser Darstellung abschließt und als eine Art Zwischenbilanz zu lesen ist: Alle verglichenen Gegenstände sollten als Konstruktionen aufgefaßt werden, die in bestimmten Diskursen entstehen, deren Aussagesubjekte dafür sorgen sollten, daß vorkonstruierte Objekte nicht unbesehen in den Diskurs aufgenommen werden und daß der durchgeführte Vergleich verallgemeinerungsfähige Aussagen ermöglicht. 2. Typologische und genetische Vergleiche als Konstruktionen In einem zweiten Schritt soll gezeigt werden, wie sehr typologische und genetische Vergleiche Konstrukte unserer theoretischen Diskurse sind. Geht man von der semiotischen Annahme aus, daß ein theoretischer Diskurs eine semantisch-narrative Anordnung ist, die auf bestimmten Relevanzkriterien und Taxonomien (Klassifikationen) gründet, dann muß auch angenommen werden, daß Objektkonstruktionen innerhalb eines bestimmten Diskurses von dessen Relevanzen und Taxonomien abhängig sind. Dies ist der Grund, weshalb Verfassungen, politische Systeme oder literarische Werke auf so verschiedene Arten miteinander verglichen werden können: Jeder Vergleich ist eine Konstruktion, die z.T. diskursabhängig ist. Die positivistischen Begründer der französischen literaturwissenschaftlichen Komparatistik - von Ferdinand Brunetière bis Jean-Marie Carré - betrachteten das Problem naturgemäß ganz anders. In der positivistischen Tradition des 19. Jahrhunderts stehend, machten sie sich über die ideologische und theoretische Konstruierbarkeit der Welt keine Gedanken und versuchten, den Vergleich auf Faktenanalysen zu beschränken, d.h. auf nachweisbare Einflüsse, Kontakte und biographisch dokumentierte Begegnungen. Dazu heißt es noch im Jahre 1951 in Marius-François Guyards Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft: „Wo es keine ‚Beziehung‘ gibt - zwischen Mensch und Text, dem Werk und der Umgebung, in der es aufgenommen wird, zwischen einem Land und einem Reisenden, - dort endet der Bereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft.“ 9 Doch die 9 J.-M. Carré, „Vorwort“, in: M.-F. Guyard, La Littérature Comparée, Paris, PUF, 1965, S. 7. 41 Beziehungen zwischen Mensch und Text, Werk und Umgebung oder Reisenden und Ländern sind keine Fakten, die der Wissenschaftler schlicht zur Kenntnis nimmt, sondern Konstruktionen. Nur als Konstruktionen sind sie uns gegenwärtig, zugänglich und verständlich. Folglich ist die positivistische Eingrenzung der literarischen Komparatistik auf den genetischen Vergleich - d.h. auf Kontakte und Einflüsse - keine Gewähr für Wissenschaftlichkeit oder Genauigkeit. Ich kann zwar nachweisen, daß Autoren wie Pío Baroja in Spanien, André Gide in Frankreich und Gabriele D’Annunzio in Italien Friedrich Nietzsches Werk kannten und von diesem Werk beeinflußt wurden, aber ich werde nie erfahren können, was sie genau von Nietzsche gelesen haben, welche Übersetzungen sie verwendet haben (Baroja las Nietzsche in französischer Übersetzung) und welche Mißverständnisse sich aus ungenauen oder fehlerhaften Übertragungen ergaben. Auch der auf Kontakte und Einflüsse ausgerichtete genetische Vergleich hat es also nicht unmittelbar mit Fakten zu tun, sondern ist auf Konstruktionen angewiesen: auf Relevanzkriterien, Taxonomien und narrative Darstellungen, für die ein kontingentes Aussagesubjekt verantwortlich ist. Kehren wir zu dem eingangs erwähnten Beispiel aus der Mediävistik zurück: Es steht zwar fest (in der scientific community der kompetenten Philologen), daß Chrétien de Troyes das Werk Wolfram von Eschenbachs beeinflußt hat, aber es sind längst nicht alle Einzelheiten bekannt, und der vergleichende Interpret ist auf Extrapolationen und Mutmaßungen, d.h. auf conjectures und refutations im Sinne von Popper angewiesen. Und selbst dort, wo die wichtigsten Einzelheiten bekannt sind, müssen wir uns auf Konstruktionen stützen, weil wir ja die Dinge nicht so darstellen „wie sie sind“, d.h. unabhängig von uns, sondern stets von einem bestimmten Standpunkt oder gesellschaftlich-kulturellen Standort aus. Dieser Standort entscheidet über die Beschaffenheit unserer Konstruktion. Dazu bemerkt Luis J. Prieto in Pertinence et pratique: „Die Identität, die ein Subjekt einem Objekt zuerkennt, wird durch die Klasse bestimmt, mit deren Hilfe es erkannt wird (...).“ 10 Daraus folgt, daß „die Identität zweier Gegenstände nicht in diesen Gegenständen selbst anzusiedeln ist, sondern in der Kenntnis, die man von ihnen hat“. 11 Diese semiologische These, die aus Kants Philosophie ableitbar ist, wird von den radikalen Konstruktivisten Richards und von Glasersfeld bestätigt, wenn sie bemerken: „Daher gibt es keine Ebene, die als organisationsfreie Wahrnehmung bezeichnet werden könnte. Es gibt keine Tren- 10 L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, S. 83. 11 Ibid. 42 nung von Wahrnehmung und Interpretation. Der Akt des Wahrnehmens ist der Akt der Interpretierung.“ 12 Diese einander ergänzenden Aussagen sind zweifellos richtig und gelten sowohl für den genetischen Vergleich, in dem Kontakte oder Einflüsse nachgewiesen werden müssen, als auch für den typologischen Vergleich, der auf Ähnlichkeiten gründet, die nicht einfluß- oder kontaktbedingt, sondern aus ähnlichen sozio-historischen Situationen ableitbar sind. In beiden Fällen werden die Gegenstände von einem bestimmten (besonderen, partikularen) Standort aus konstruiert. In beiden Fällen ist empirische Überprüfung sinnvoll und notwendig, jedoch nicht im Sinne einer mimetischen Übereinstimmung von Konstruktion und Wirklichkeit, sondern im Sinne einer intersubjektiven Kontrolle. Nehmen wir als Beispiel die Entstehung der kanadischen Verfassung im Anschluß an den British North America Act von 1867 im Sinne einer genetischen Studie, die den britischen politischen Einfluß in Kanada in den Mittelpunkt stellt. Eine solche Studie kann entweder in Großbritannien oder im anglophonen Kanada zustande kommen und sich auf Abweichungen und Ähnlichkeiten zwischen dem britischen und dem kanadischen System beziehen. Sie kann allerdings auch in Quebec entstehen und das Ziel verfolgen, die Unmöglichkeit eines englisch-französischen Staatsgebildes nachzuweisen, das fast ausschließlich von Großbritannien geprägt wurde. Sie könnte auch in ganz anderer Absicht geschrieben werden: nämlich als Bericht über die Möglichkeiten und Grenzen eines britischen Föderalismus, der sich nicht vom devolution-Gedanken leiten läßt, sondern sich statt dessen am kanadischen föderalen Modell orientiert. In jedem Fall entsteht ein anderes Objekt, das dem Standort und den Erkenntnisinteressen des jeweiligen Beobachters entspricht. Die naivrealistische Frage, was denn nun das Wesen des kanadischen Föderalismus ausmache, wird in diesem Fall entweder gegenstandslos oder durch einen systematischen Vergleich der drei miteinander konkurrierenden Studien beantwortet. Wie sehr Rezeption nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch in der Vergleichenden Rechtswissenschaft als kulturell bedingter Prozeß verstanden wird, läßt Peter Häberles Studie Verfassungslehre als Kulturwissenschaft erkennen: „Auch das Gegenteil, das Verweigern von Rezeptionen, die Differenz läßt sich oft kulturell erklären, weil die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen und ihrer kulturellen Ambiance zu verschieden sind und ‚Importe‘ nur bedingt empfohlen werden können.“ 13 An dieser 12 J. Richards, E. von Glasersfeld, „Die Kontrolle von Wahrnehmung und die Konstruktion von Realität“, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 214. 13 Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin, Duncker & Humblot, 1982, S. 34. 43 Stelle tritt die kontrastive Funktion des Vergleichs besonders klar in Erscheinung. Daß alle Vergleiche Konstruktionen sind, die unseren Blick für bestimmte Probleme schärfen, die wir ohne diese Vergleiche nicht wahrnehmen würden, zeigen typologische Vergleiche, die die positivistischen Begründer der französischen Komparatistik nicht gelten lassen wollten, weil sie an der Idee der unmittelbar zugänglichen Fakten festhielten und die konstruktivistische Perspektive nicht kannten. Die Konstruktion einer Beziehung zwischen Kafkas und Hašeks Werk zeigt indessen, daß der typologische Vergleich den literarischen Modernismus in einem neuen Licht erscheinen lassen kann. Einen ähnlichen Erkenntnisgewinn könnte man sich als Soziologe oder Politologe von einer typologischen Studie versprechen, die das niederländische Phänomen der „Versäulung“ (verzuiling) mit dem belgischen vergleicht. Der von Kruijt und Goddijn geprägte Begriff bezeichnet einen Prozeß gegenseitiger Abkapselung verschiedener kultureller oder religiöser Gruppierungen, von denen eine jede danach strebt, ihre Autonomie institutionell zu verankern. 14 Dadurch entstehen (etwa in der niederländischen Nachkriegsgesellschaft) institutionelle „Säulen“ (zuilen) in Form von Kirchen, Schulen, Vereinen oder Kulturzentren, die religiöse (vor allem protestantische oder katholische) Orientierungen und Interessen artikulieren. Diese Form von verzuiling ist insofern ein zweideutiges Phänomen, als sie einerseits integrativ, andererseits integrationshemmend wirkt und die 14 Vgl. J. P. Kruijt und W. Goddijn, „Verzuiling en ontzuiling als sociologisch proces“, in: A. N. J. den Hollander u.a. (Hrsg.), Drift en koers. Een halve eeuw sociale verandering in Nederland, Assen, Van Gorcum, 1961 sowie: J. E. Ellemers, „Besprekingsartikel: Studies over verzuiling. De stand van zaken aan het eind van de jaren negentig“, in: Sociologische Gids 6, 1998, ders., J. E. Ellemers, „Pillarization as a process of modernization“, in: Acta Politica 1, 1984. In diesem Aufsatz beschreibt Ellemers die Versäulung folgendermaßen: „Verzuiling or Pillarization is usually defined as the particular way in which Dutch society has been organized along denominational lines. The ‚Pillars‘ (Zuilen), which form the basis of this system, are made up of different denominational groups. At first only the Catholics and orthodox Protestants, but later on also other ideological groups such as the Socialists and the (conservative) Liberals and even Jews and ‚Humanists‘ were considered to form ‚Pillars‘. In due course the main Pillars established their own network of organizations, ranging form political parties, trade unions and educational systems (including a Catholic and a Calvinist university) to broadcasting corporations, welfare agencies, sport associations and even social research institutes.“ Es gibt auch den Prozeß der „Entsäulung“: „The phenomenon which today is called Verzuiling - a term, incidentally, which was coined in the 1930s and became widely used only in the late 1940s - can be considered to have started somewhere at the end of the 19th century and the early decades of the 20th century. It reached full maturity in the 1920s and 1930s and its culmination can be situated in the late 1950s. In the course of the 1960s it started to decline, a phenomenon which is called Ontzuiling, or De-Pillarization.“ In Belgien scheint z.Z. eher „Versäulung“ als „Entsäulung“ vorzuherrschen. 44 Entfaltung des Pluralismus bald begünstigen, bald behindern kann: Sie erleichtert einerseits ein friedliches Nebeneinander der religiösen Gemeinschaften, führt andererseits aber auch zu deren Abkapselung. Insgesamt wurde jedoch deutlich, daß diese Art von „Versäulung“ eher zu einer Stabilisierung der konfessionell organisierten niederländischen Gesellschaft führte, d.h. eine eher integrative Funktion erfüllte. In diesem Zusammenhang bietet sich auf typologischer Ebene ein kontrastiver Vergleich mit der belgischen Situation der 1980er und 90er Jahre geradezu an. Denn ein solcher Vergleich, der (im Sinne vom Hiltrud Naßmacher) 15 über sich hinausweist, weil er systemtheoretische Aussagen ermöglicht, läßt einen anderen Typ von „Versäulung“ in Erscheinung treten: einen desintegrativen, zentrifugalen Typ, der die Einheit der Gesellschaft und des Staatswesens in Frage stellt. In Belgien, das im Jahre 1993 als Bundesstaat gleichsam neu gegründet wurde, scheint die sprachlich-politische Versäulung eher zu einem Auseinanderdriften der wallonischen und der flämischen Gemeinschaften als zu deren (Re-)Integration beizutragen. Ein Kommentar in der niederländischen Zeitschrift Internationale Spectator stellt das zentrifugale Zusammenwirken der politisch-ethnischen Kräfte in Belgien anschaulich dar: „Die Galionsfigur des PS (Parti Socialiste) in Charleroi, Jean-Claude Van Cauwenberghe, setzt sich für eine ‚Regionalisierung‘ der Politik auf Kosten der Bundesregierung und zugunsten der wallonischen Regierung ein. Auch der Ministerpräsident der wallonischen Regierung, Robert Collignon (PS), ist der Meinung, daß die wallonische Regierung mit mehr Macht ausgestattet werden sollte. Dann wäre noch José Happart (PS) zu nennen (...), der Belgien in einem ‚Europa der Regionen‘ aufgehen lassen möchte. Schließlich gibt es noch die Rattachisten, die meinen, daß sich Wallonien Frankreich anschließen sollte (‚rattacher à la France‘), wenn Belgien zerfällt. Zu ihnen gehört der Fraktionsvorsitzende des PS, Claude Eerdekens.“ 16 Der Vergleich mit den Niederlanden läßt die Ambivalenz des Phänomens „Versäulung“ klar zutage treten: Sie scheint im niederländischen Modell integrativ, im belgischen Modell desintegrativ zu wirken. Verschiedene Erklärungen dieser Zweigleisigkeit bieten sich an. Eine von ihnen lautet: „Versäulung“ wirkt eher integrativ, wenn sie ausschließlich konfessionell bedingt ist, sie wirkt eher destruktiv, wenn sie ethnisch-politischen Charakter hat. Auch in diesem Fall gibt es allerdings eine Gegenthese, die lautet: Mit der Zeit wird sich auch die belgische „Versäulung“ als integrative Kraft bewähren. (Hier sind Zweifel angebracht.) 15 Vgl. H. Naßmacher, Vergleichende Politikforschung, op. cit., S. 23-24. 16 D. J. Eppink, „De scheiding der Belgen“, in: Internationale Spectator, Juni, 1998, S. 315. 45 Dieser typologische Vergleich führt zu zwei Erkenntnissen auf terminologischer und theoretischer Ebene: Er läßt einerseits eine konkretere und zugleich ambivalente Bestimmung des Begriffs „Versäulung“ entstehen; er zeigt andererseits, wie der Begriff angewandt werden kann, wenn es darum geht, gesellschaftliche Integrationsbzw. Desintegrationsprozesse genauer zu beschreiben und zu erklären. Diesen Abschnitt kann eine zweite These als Zusammenfassung abschließen: Da sowohl genetische als auch typologische Vergleiche als Konstruktionen innerhalb bestimmter theoretischer Diskurse zustande kommen, erscheint das positivistische Insistieren auf Fakten als mimetischrealistische Naivität, die durch die Frage nach der Aussagekraft, der empirischen Überprüfbarkeit und der theoretischen Relevanz von Konstruktionen ersetzt werden sollte. (Auf die Auseinandersetzungen zwischen Realisten und radikalen Konstruktivisten soll hier nicht eingegangen, sondern lediglich angemerkt werden, daß ein extremer Konstruktivismus ohne realistische Annahmen wahrscheinlich unmöglich ist.) 17 3. Die kulturelle und ideologische Bedingtheit von Konstruktionen und Diskursen Im Zusammenhang mit der Konstruktion oder Konstruierbarkeit des Objekts „kanadischer Föderalismus“ wurde bereits das Problem der kulturellen und ideologischen Bedingtheit von sozialwissenschaftlichen Vergleichen und Gegenständen gestreift. Die kulturelle Bedingtheit eines komparatistischen Gegenstandes wie „europäische Romantik“ macht sich immer dann bemerkbar, wenn beispielsweise in italienischen Literaturgeschichten auch Schiller und Goethe als Romantiker und nicht als Klassiker oder Vertreter der Sturm- und Drang-Bewegung auftreten. Sie erscheinen dann als Geistesverwandte Leopardis, Esproncedas oder Coleridges und nicht als Kritiker romantischer Dekadenz. 18 Die ideologische Bedingtheit sozialwissenschaftlicher Diskurse ist vielleicht noch wichtiger als die kulturelle, weil sie in der Vergangenheit immer wieder zu Kontroversen führte, die in manchen Fällen nur scheinbar theoretischen oder wissenschaftlichen Charakter hatten. Diese Betrachtungen sollen mit einem Beispiel aus der Politikwissenschaft und einem komplementären Beispiel aus der Literaturgeschichte abgeschlossen werden. 17 Zu den im Radikalen Konstruktivismus impliziten Realitätsannahmen vlg. H. J. Wendel, Moderner Relativismus. Zur Kritik antirealistischer Sichtweisen des Erkenntnisproblems, Tübingen, Mohr, 1990, S. 190-210. 18 Vgl. z. B. „Romanticismo“, in: Enciclopedia italiana, Rom, 1906-1914, S. 64. 46 Das erste Beispiel betrifft die Brauchbarkeit des Begriffs „Totalitarismus“, der in den meisten Fällen vergleichenden Charakter hat. Sowohl der britische Soziologe Z. Barbu 19 als auch der deutsche Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher haben versucht, den Totalitarismus als ein relativ homogenes Phänomen des 20. Jahrhunderts aufzufassen, zu konstruieren. In Brachers kenntnisreicher Studie Zeit der Ideologien (1982) kündigt schon der Titel des dritten Kapitels diesen Konstruktionsversuch an: „Die Diktatur denken: Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus im Vergleich“. Freilich ist sich Bracher der Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus bewußt, wenn er schreibt: „Es läßt sich nicht leugnen, daß die tiefen Unterschiede der ideologischen Herkunft - aus einer sozialen, übernationalen Emanzipationsbewegung einerseits, aus dem sozialimperialen, völkisch-rassistischen Nationalismus andererseits - sich weitgehend verwischen, wenn im radikalen Machtkampf und in der umfassenden Machtbefestigung die diktatorischen Tendenzen und totalitären Herrschaftsmittel durchschlagen: klassisch im Nebeneinander (und zeitweiligen Miteinander) von Stalinismus und Hitlerismus.“ 20 Kurz danach ist von den „beiden totalitären Versionen“ 21 die Rede. In der zitierten Passage liegt der vergleichende Konstruktionsprozeß offen zutage: Bracher nimmt zwar zur Kenntnis, daß der semantische Gegensatz zwischen Nationalsozialismus oder Faschismus einerseits und Kommunismus andererseits relevant ist, beschließt aber, diese Relevanz dem „Totalitarismus“ als gemeinsamem Merkmal und Oberbegriff unterzuordnen. Dadurch entsteht ein komparatistischer Gegenstand, der aus ideologischen Gründen eher für konservative als für gesellschaftskritische Sozialwissenschaftler akzeptabel ist: nicht nur, weil er die emanzipatorischen Momente des internationalen Kommunismus (die Bracher selbst erwähnt) zweitrangig erscheinen läßt, sondern weil er das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Kapitalismus einerseits und zwischen Kommunismus und Kapitalismus andererseits nicht thematisiert. Schon deshalb ist es nicht verwunderlich, daß vor allem Marxisten den Terminus „Totalitarismus“ nicht goutieren. 22 Hier geht es nicht primär darum, eine Objektkonstruktion der anderen, einen Vergleich dem anderen vorzuziehen, sondern zu zeigen, daß jede 19 Vgl. Z. Barbu, Democracy and Dictatorship. Their Psychology and Patterns of Life, London, Routledge & Kegan Paul, 1956, vor allem: Part Two (The Psychology of Nazism) und Part Three (The Psychology of Communism). 20 K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart, DVA, 1982, S. 154-155. 21 Ibid., S. 155. 22 Vgl. z. B. L. Goldmann, „Socialisme et humanisme“, in: ders., Marxisme et sciences humaines, Paris, Gallimard, 1970. 47 Konstruktion bestimmte Aspekte des Gegenstandes in Erscheinung treten läßt, andere hingegen verdeckt. Brachers Modell ist einerseits durchaus nützlich, weil es die typologischen Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Stalins Kommunismus erkennen läßt, Gemeinsamkeiten, die möglicherweise auch auf Einflüsse des italienischen Faschismus und des Sowjetkommunismus auf die nationalsozialistische Bewegung zurückzuführen sind. Zugleich verdeckt der Totalitarismus-Begriff wesentliche Unterschiede - und zwar nicht nur zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, sondern auch zwischen Nationalsozialismus und italienischem oder spanischem Faschismus. Mit analogen Problemen wird man in der literarischen Avantgarde- Forschung konfrontiert. Ähnlich wie der Totalitarismus-Begriff ist der ästhetische Avantgarde-Begriff dazu angetan, die politischen und ideologischen Differenzen zwischen den europäischen Avantgarden zu verwischen: zwischen der surrealistischen Revolution, die sich zeitweise vom Marxismus inspirieren ließ, und der futuristischen Revolution in Italien, die mit der faschistischen Bewegung verflochten war. Auch zwischen dem italienischen und dem russischen Futurismus verläuft eine politische Bruchlinie, die Anfang der 20er Jahre schon im Briefwechsel zwischen Trockij und Gramsci zutage trat. 23 Kurzum: es gibt keine europäische Avantgarde (ebensowenig wie einen europäischen Totalitarismus), sondern verschiedene avantgardistische Bewegungen, die politisch - und wohl auch ästhetisch - heterogen sind. Dennoch erscheint die Bezeichnung „Avantgarde“ immer wieder als sinnvoll, weil sie die zahlreichen gemeinsamen Elemente evoziert, die vor allem auf sprachlicher und sprachkritischer Ebene die diversen Avantgarden miteinander verbinden. (Vgl. Kap. I.) Daraus ergibt sich die dritte These, die zugleich den Abschluß dieser Betrachtungen bildet: Vergleichende Konstruktionen sind - wie alle Objektkonstruktionen in den Sozialwissenschaften - kulturell und politisch bedingt, weil jede Kultur, jede Ideologie bestimmte Relevanzkriterien, Selektionen, Klassifikationen und Begriffsbestimmungen begünstigt, andere hingegen ausblendet oder gar tabuisiert. Deshalb erscheint es wichtig, die eigene Objektkonstruktion nicht für neutral oder gar objektiv zu halten, sondern in ihr das eigene kulturell und ideologisch bedingte Erkenntnisinteresse zu erkennen, um dieses mit anderen Erkenntnisinteressen und Konstruktionen dialogisch vergleichen zu können. 23 L. Trotzkij, Literatur und Revolution, München, DTV, 1972, S. 105-135. III. Komparatistik und Sozialwissenschaften An Themen hat es der Vergleichenden Literaturwissenschaft nie gefehlt. Ihre Ausdehnung auf Philosophie als histoire des idées oder history of ideas im französischen und englischen Sprachraum oder auf die „wechselseitige Erhellung der Künste“ im Sinne von Oskar Walzel hat recht bald die Gefahr der Uferlosigkeit erkennen lassen. Weit davon entfernt, dieser Gefahr entronnen zu sein, sieht sich der zeitgenössische Komparatist, der die zahlreichen ideologiekritischen und rezeptionstheoretischen Studien der 1970er und 80er Jahre noch gut im Gedächtnis hat, mit neuen Themen wie „Kulturvergleich“, „Medien“ oder „postkoloniale Literaturen“ konfrontiert. Es liegt auf der Hand, daß eine literarische Komparatistik, die der eklektischen Versuchung erliegt, alle diese Themenbereiche „abzudecken“, an Überdehnung zugrunde geht. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb vergleichende Literaturwissenschaftler in den letzten Jahren recht einseitige Vorschläge zur Eindämmung des ausufernden Objektbereichs ihrer Disziplin gemacht haben. Während die einen für eine vergleichende Medien- und Kunstwissenschaft plädieren 1 , möchten die anderen die Komparatistik in einer Kultur- oder Übersetzungswissenschaft 2 aufgehen lassen. In Wirklichkeit geht es hier nicht um Eindämmung, sondern um eine weitere Marginalisierung der Literatur in einer Zeit, die ihr immer wieder Marginalität bescheinigt. 3 Die Frage, die sich in solchen Fällen aufdrängt, lautet, ob es nicht sinnvoller und ehrlicher wäre - angesichts der institutionellen Vereinsamung aller Philologien, die zusammen mit der Literatur an den Rand des kulturellen Geschehens abgedrängt werden -, die Vergleichende Literaturwissenschaft kurzerhand durch Kultursoziologie, Kultursemiotik oder Medienwissenschaft zu ersetzen. Die Antwort, die den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet, lautet: Nein. Motiviert wird dieses Nein durch die These, daß sich die literarische Komparatistik eindeutig als Literaturwissenschaft definieren sollte, weil nur eine Disziplin, die auf einen klar umrissenen Objektbereich verweisen kann, in der Lage ist, entsprechende Theorien und Methoden zu entwickeln und sie im Dialog mit anderen Disziplinen zu konkretisieren und zu testen. 1 Vgl. B. van Heusden, E. Jongeneel, Algemene literatuurwetenschap. Een theoretische inleiding, Utrecht, Het Spectrum, 1993, S. 231. 2 S. Bassnett, Comparative Literature. A Critical Introduction, Oxford-Cambridge (Mass.), Blackwell, 1993, S. 161. 3 Vgl. H. Gamper, „‚Keiner wagt mehr seine Person daran‘. Zur Situation der Literaturwissenschaft nach vollendeter Marginalisierung der Literatur“, in: F. Griesheimer, A. Prinz (Hrsg.), Wozu Literaturwissenschaft? , Tübingen-Basel, Francke, 1991, S. 107. 50 Statt die fruchtlosen Debatten über die Erweiterung oder Ergänzung ihres Aufgabenbereichs fortzusetzen, sollte sich die Vergleichende Literaturwissenschaft auf die Zeit ihrer Entstehung besinnen, da sie sich (vor allem in Frankreich) parallel zur Philosophie und den Sozialwissenschaften entwickelte. Emile Durkheims Einladung an Gustave Lanson, einen Vortrag zum Thema „L’Histoire littéraire et la sociologie“ (1904) an der Ecole des Hautes Etudes zu halten, hatte damals eine symbolische Bedeutung, die heute im sozialwissenschaftlichen Kontext aktualisiert werden könnte. Denn nur eine Vergleichende Literaturwissenschaft, die Anschluß an die sozialwissenschaftlichen Debatten der Vergangenheit und der Gegenwart sucht, kann hoffen, eine theoretische Dynamik zu entfalten, die sie für ihre Gesprächspartner in den Sozialwissenschaften interessant werden läßt. Zu diesen Gesprächspartnern gehören vor allem die anderen Komparatistiken, die von Philologen bisher kaum beachtet wurden: die Vergleichende Soziologie, Semiotik, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft. Von ihnen, ihren Problemen und Lösungsvorschlägen, kann die literarische Komparatistik einiges lernen. Zugleich kann sie in bestimmten Fällen den Sozialwissenschaftlern helfen, ihre Probleme zu lösen und neue Probleme zu erkennen. 1. Der spezifische Charakter der literarischen Komparatistik: Interkulturalität und Sprachlichkeit Ein Vergleich mit anderen Komparatistiken, etwa mit der Soziologie oder der Politikwissenschaft, läßt zwei Besonderheiten der literarischen Komparatistik zutage treten: Sie hat es stets mit interkulturellen und sprachlichen Beziehungen zu tun. Obwohl Interkulturalität auch in den Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle spielt, ist sie dort kein entscheidendes Merkmal. So kann beispielsweise die Vergleichende Politikwissenschaft auch Institutionen innerhalb eines und desselben Kulturbereichs zum Gegenstand haben: „In Annäherung an die Unterscheidung von präsidentiellen und parlamentarischen Systemen werden hier Süddeutsche Ratsverfassung und Norddeutsche Ratsverfassung als extreme Gegensatzpaare unterschieden.“ 4 Auch in der Vergleichenden Verfassungslehre sind Vergleiche zwischen dem britischen und dem australischen Verfassungsrecht oder dem der USA üblich, d.h. Vergleiche innerhalb eines Sprachbereichs, die der literarische Komparatist den Einzelphilologien überläßt. 4 H. Naßmacher, Vergleichende Politikforschung. Eine Einführung in Probleme und Methoden, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1991, S. 43. 51 Damit tritt die Ausrichtung der Vergleichenden Literaturwissenschaft auf die Sprache und das Sprachliche in den Vordergrund. Obwohl jeder Literaturwissenschaftler (auch der Germanist, Romanist oder Anglist) die Möglichkeit haben muß, eine Brücke von der Literatur zur Malerei, zur Musik oder zum Film zu schlagen - etwa wenn es um Aubrey V. Beardsleys Werk oder um Alain Robbe-Grillets ciné-romans geht -, hat es die Vergleichende Literaturwissenschaft, die sich mit der Übersetzungswissenschaft überschneidet, primär mit der Sprachkunst zu tun. Wer hier eine unzeitgemäße oder gar konservative Tendenz wittert, wittert falsch, weil der Nexus von Sprache, Kultur und Gesellschaft, der für die literarische Komparatistik spezifisch ist, diese Disziplin für die anderen Komparatistiken interessant macht. Der mit Übersetzungsproblemen vertraute vergleichende Philologe, der auch die Forschung in der Vergleichenden und Kontrastiven Linguistik zur Kenntnis nimmt 5 , wird den vergleichenden Soziologen oder Politologen auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen können, die sich etwa daraus ergeben, daß ein französisches Wort wie esprit nicht in allen Fällen mit „Geist“ zu übersetzen ist 6 , und daß Max Webers Adjektive „wertrational“ und „zweckrational“ im Englischen und Französischen kaum Äquivalente haben. 7 Angesichts solcher Erkenntnisse drängt sich die Frage auf, ob es ohne weiteres möglich sei, deutsche Übersetzungen von Bourdieus oder Baudrillards Werken als Äquivalente der Originaltexte zu lesen. Sind hier nicht ähnliche Abweichungen wie in der Literatur feststellbar? Auf die beruhigende Antwort des Sozialwissenschaftlers, die Übersetzung werde „ungefähr stimmen“, könnte der Philologe mit der lästigen Frage reagieren, ob der Kollege es denn nicht genau wissen möchte. Denn was geschieht, wenn eine Übersetzerin Lyotards Verb totaliser mit „tolerieren“ übersetzt? 8 Wichtiger als diese vieldiskutierte Frage nach der Äquivalenz von Original und Übersetzung scheint die komplementäre Frage des soziologisch interessierten Literaturwissenschaftlers nach dem gesellschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Entstehungszusammenhang von Theorien zu sein. Diese Frage geht keineswegs, wie manche Kritiker meinen, über den Bereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft hinaus. Denn der literarische Komparatist, der sein métier ernst nimmt, möchte nicht nur erfahren, 5 Vgl. H.-M. Gauger, „Der Vergleich in der Sprachwissenschaft“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften, Tübingen, Narr, 2000, S. 166-167. 6 Vgl. J. Leenhardt, R. Picht (Hrsg.), Esprit / Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München, Piper, 1989. 7 Vgl. R. Boudon, La Logique du social, Paris, Hachette, 1979, S. 32-33. 8 Vgl. J.-F. Lyotard, Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985, Wien, Passagen, 1987, S. 30. 52 weshalb sich die deutsche Romantik mit anderen Themen befaßt als die französische oder englische; er möchte seinen eigenen theoretischen Diskurs im Kontext reflektieren und auch erfahren, weshalb die englische oder französische Literaturwissenschaft andere Themen und Probleme zur Sprache bringt als die deutsche: etwa die histoire des idées oder history of ideas. Er wird die Auswirkungen des Positivismus auf die französische Littérature Comparée und die Spuren der Hermeneutik in der deutschen Vergleichenden Literaturwissenschaft (in der Geistesgeschichte, der Rezeptionsästhetik) erkennen wollen. 9 Er wird die sprachspezifischen und kulturspezifischen Entstehungszusammenhänge der verschiedenen Theorien beschreiben und erklären wollen. Mit diesem Anliegen kommt er dem aufgeschlossenen Sozialwissenschaftler entgegen, der wissen möchte, weshalb in Frankreich andere politikwissenschaftliche und soziologische Debatten stattfinden als in Deutschland oder den Niederlanden. Weshalb ist Luhmanns Systemtheorie jenseits des Rheins bisher nicht auf fruchtbaren Boden gefallen? Weshalb wird in Deutschland vor allem Bourdieus Werk wahrgenommen und nicht die Handlungssoziologie Touraines? Diese Fragen betreffen nicht nur die „Rezeption“ von Texten; sie betreffen auch die besondere Beschaffenheit gesellschaftlicher und sprachlicher Situationen, die über „Rezeption“ oder „Nicht-Rezeption“ entscheiden. Auch ein Literaturwissenschaftler, der beschließt, den Bereich seiner Disziplin nicht zu verlassen, wird dem vergleichenden Soziologen oder Politologen als begehrenswerter Diskussionspartner erscheinen. Denn sein Versuch, die eigene Theorie im soziokulturellen und sprachlichen Kontext zu reflektieren, wird für jeden Sozialwissenschaftler anregend sein, der über die kulturelle, sprachliche und ideologische Bedingtheit seiner eigenen Theorie nachdenkt, um die ihm fremde Theorie im Kontext besser zu verstehen. 2. Vergleichstypen: Ähnlichkeiten und Unterschiede in Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft Nicht nur die Sozialwissenschaftler können vom vergleichenden Literaturwissenschaftler lernen, über die kulturelle und sprachliche Bedingtheit ihrer Diskurse nachzudenken; auch die literarischen Komparatisten werden die vergleichenden Methoden der Sozialwissenschaften mit Gewinn zur Kenntnis nehmen. 9 Vgl. P. V. Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.), Kap. I. 53 Freilich sind nicht alle soziologischen oder politikwissenschaftlichen Ansätze geeignet, interkulturelle oder interlinguale Vergleiche im Sinne der Literaturwissenschaft anzustellen. Ein Soziologe wie Luhmann schließt vorab die interkulturelle Perspektive aus, wenn er sich für den Begriff einer Weltgesellschaft einsetzt, der Einteilungen nach nationalen oder regionalen Kriterien nicht zuläßt: „Trotz der unübersehbaren weltweiten Zusammenhänge in der modernen Gesellschaft leistet die Soziologie nachdrücklichen Widerstand, wenn es darum geht, dieses globale System als Gesellschaft anzuerkennen. Wie im alltäglichen Sprachgebrauch ist es auch in der Soziologie ganz üblich, von italienischer Gesellschaft, spanischer Gesellschaft usw. zu sprechen, obwohl Namen wie Italien oder Spanien in einer Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten. Parsons hat sehr überlegt die Formulierung The System of Modern Societies als Buchtitel gewählt.“ 10 Diese Formulierung verschleiert allerdings die Tatsache, daß Parsons von der Gesellschaft tout court sprach, letztlich jedoch die nordamerikanische meinte. Luhmanns Kritik am Sprachgebrauch der Soziologie übersieht, daß es trotz einer globalen Vernetzung der Welt wesentliche Unterschiede zwischen dem staatskapitalistisch verwalteten China und dem marktwirtschaftlich funktionierenden Japan, zwischen dem föderalen Deutschland und dem einheitsstaatlichen Frankreich oder Schweden gibt - trotz übergreifender EU-Strukturen. Seine Argumente wirken unüberlegt und unrealistisch, zumal sie allen etablierten Komparatistiken - von der Vergleichenden Politikwissenschaft und der Vergleichenden Verfassungslehre bis zur Vergleichenden Literaturwissenschaft - das Daseinsrecht absprechen. Denn es ist unvorstellbar, daß Vertreter dieser Disziplinen auf Bezeichnungen wie „Deutschland“, „Rußland“, „USA“ oder „deutsche bzw. russische Verfassung / Literatur“ verzichten, ohne sich selbst aufzugeben. Glücklicherweise haben vergleichende Sozialwissenschaftler nie ernsthaft erwogen, Luhmanns Ratschläge zu befolgen. Wie die literarischen Komparatisten verwenden sie Bezeichnungen für regionale und nationale Einheiten, weil sie sich der Tatsache bewußt sind, daß der Vergleich sinnlos wird, wenn (wie bei Luhmann) alle Besonderheiten getilgt werden. Denn die vergleichende Betrachtung gilt dem Besonderen: der Abweichung in der Übereinstimmung und umgekehrt. Auf dieser Ebene haben sowohl vergleichende Politikwissenschaftler als auch Soziologen Vergleichsmöglichkeiten erkannt und Vergleichstypen eingeführt, die sich mit den komparativen Praktiken der Literaturwissen- 10 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 158. 54 schaftler überschneiden, sie gleichzeitig aber interdisziplinär konkretisieren. In allen hier kommentierten Fällen geht es um die Erkenntnis, daß die Objekte der Sozialwissenschaften mit Hilfe von neuen Klassifikationen anders konstruiert werden können. Stets geht es um Objektkonstruktionen, nicht um mehr oder weniger realistische oder „wirklichkeitsnahe“ Beschreibungen. Vergleicht man verschiedene Komparatistiken (Politikwissenschaft, Soziologie und Literaturwissenschaft) miteinander, so kristallisieren sich die folgenden Begriffspaare heraus, die insgesamt sechs Vergleichsmöglichkeiten bezeichnen: (a) horizontal - vertikal; (b) analogisch - kontrastiv; (c) typologisch - genetisch. Diese Möglichkeiten schließen sich gegenseitig keineswegs aus, sondern überschneiden sich in der Praxis, weil z.B. horizontale und vertikale Vergleiche sowohl analogisch als auch kontrastiv, sowohl typologisch als auch genetisch durchgeführt werden können. Typologische und genetische Vergleiche wiederum können einen vorwiegend horizontalen (ahistorischen) oder einen vertikalen (historischen) Charakter haben; sie können primär auf die Analogie (Ähnlichkeit) oder auf den Kontrast ausgerichtet sein - oder aber Ähnlichkeiten und Unterschiede gleichermaßen berücksichtigen. Zum ersten Vergleichspaar - horizontal-vertikal -, das sie im Zusammenhang mit nationalen politischen Systemen als geschichtlichen Phänomenen betrachtet, bemerkt Hiltrud Naßmacher, daß „die Analyse dynamischer gestaltet werden und der ‚Real‘-Einfluß gewisser Ereignisse mit größerer Genauigkeit verfolgt werden“ 11 kann. Um ihre These zu veranschaulichen, geht sie vertikal-kontrastiv vor und zeigt, daß bestimmte Faktoren, die im föderalen Deutschland als „Reformrestriktionen“ oder „Reformblockaden“ wirken - etwa „die Permanenz von Landtagswahlen mit bundesrepublikanischem Akzent“ -, im einheitsstaatlich organisierten Schweden oder in Großbritannien entfallen. Ähnlich argumentiert (ohne sich allerdings auf vergleichende Methoden zu beziehen) Gerhart Hoffmeister, wenn er den fehlenden Nationalstaat für den virulenten Nationalismus einer bestimmten deutschen Romantik nach der Revolution von 1789 verantwortlich macht: „Während die deutsche Frühromantik ‚die Revolution auf das Gebiet der Literatur‘ übertrug (...), wurden die freiheitlichen Ideale in der patriotischen Romantik der Heidelberger, Berliner und Dresdener Gruppe unter dem Druck der politischen Ereignisse und im Anschluß an Burke zur Forderung nach dem deutschen Nationalstaat umgebogen.“ 12 11 H. Naßmacher, Vergleichende Politikforschung, op. cit., S. 35-36. 12 G. Hoffmeister, Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart, Metzler, 1978, S. 20. 55 Am Schnittpunkt von Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft liegt auch die Feststellung, daß sich in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden keine Avantgarde-Bewegungen im Sinne des französischen Surrealismus oder des russischen Futurismus entwickeln konnten, weil in diesen Ländern revolutionäre Bewegungen fehlten. Die niederländische Bewegung De Stijl hatte deshalb auch eher aufklärerischen als revolutionären Charakter. 13 Das horizontal-vertikale Vergleichspaar läßt zwei Möglichkeiten des historischen Vergleichs in den Vordergrund treten: einerseits die „Momentaufnahme“, die Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar macht, andererseits Übereinstimmungen und Abweichungen in der Entwicklung zweier oder mehrerer gesellschaftlicher, politischer oder literarischer Erscheinungen. Hier zeigt sich, daß dieses Vergleichspaar die anderen beiden Vergleichspaare als alternative Konstruktionsmöglichkeiten und als komplementäre Aspekte des Vergleichs gleichsam in nuce enthält. Denn die europäischen Avantgarden können (in ihren Wechselbeziehungen) auch ganz anders konstruiert werden: nämlich im Rahmen eines analogisch-kontrastiven Modells. Dieses visiert nicht primär den historischen Zusammenhang als „Momentaufnahme“ oder Entwicklungsbeschreibung an, sondern die Definition einer Erscheinung wie „Romantik“ oder „Avantgarde“. Es soll der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Gegenstandes Rechnung tragen und sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede zutage treten lassen. In diesem Kontext erscheint die europäische Avantgarde in ihrer Gesamtheit als ein Geflecht von Ähnlichkeiten und Differenzen. Während die Ähnlichkeiten vor allem im ästhetisch-poetischen Bereich aufgezeigt werden können, treten die Differenzen vornehmlich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene in Erscheinung. So verschiedene Avantgarde-Bewegungen wie der Dadaismus, der Surrealismus, der Vorticismus sowie der russische und der italienische Futurismus wenden sich gegen klassische und romantische Harmonievorstellungen und Formgebungen; sie lösen im Extremfall (automatische Schreibweise, transmentale Sprache) die Syntax auf und führen bisweilen (Breton, Chlebnikov) die „infantile“, fragmentarische Perspektive ein. Nahezu alle Avantgarden (auch der tschechische Poetismus) versuchen, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überwinden und wenden sich gegen die kontemplative Einstellung zum Kunstwerk in Museen und Galerien (Breton, Marinetti, Teige). 13 Vgl. R. T. Segers, „Avantgarde-Export von den Niederlanden nach Frankreich“, in: P. V. Zima, J. Strutz (Hrsg.), Europäische Avantgarde, Frankfurt-Bern-Paris, Peter Lang, 1987, S. 118. 56 Trotz dieser gemeinsamen ästhetischen und stilistischen Merkmale, die es gestatten, von einer „Europäischen Avantgarde“ zu sprechen 14 , sind die politischen Unterschiede beachtlich. Während der anglo-amerikanische Vorticismus durchaus faschistoide Elemente enthielt (Wyndham Lewis) und Marinettis Futurismus schließlich in der faschistischen Bewegung aufging, solidarisierten sich französische Surrealisten, tschechische Poetisten und russische Futuristen - trotz zahlreicher Mißverständnisse, Widersprüche und Konflikte - immer wieder mit dem Marxismus und der KP. In letzter Zeit konnten politische Affinitäten zwischen Dadaismus und Anarchismus im deutschen Sprachbereich überzeugend nachgewiesen werden. 15 Insgesamt kann festgehalten werden, daß die Avantgarde - zumindest tendenziell - im ästhetisch-stilistischen Bereich relativ homogen, im politischen Bereich hingegen extrem heterogen ist. Die Heterogenität hängt eng mit den verschiedenen Nationalkulturen als politischen Systemen zusammen. Wie sehr der nationalkulturelle Kontext sowohl für Ähnlichkeiten als auch für Divergenzen verantwortlich ist, läßt eine Studie des Soziologen Richard Münch erkennen, die sich mit Formen der intellektuellen Gesprächskultur in Frankreich und England seit dem 17. Jahrhundert befaßt. Während in Frankreich der von einer Dame beherrschte literarische Salon im Mittelpunkt der Konversationskultur steht, findet der englische exchange of ideas in den Londoner Clubs statt. Von diesen „Zentren der intellektuellen Auseinandersetzung“ sagt Münch: „Ihre Besonderheit liegt darin, daß sie nicht nur Philosophen mit Schriftstellern zusammenbringen, sondern auch mit Politikern, Kaufleuten und Intellektuellen. Es sind Clubs von Gentlemen.“ 16 In diesem sozio-historischen Zusammenhang wäre wohl die Tatsache zu erklären, daß noch um 1900 die von Marcel Proust dargestellte mondäne Gesellschaft von einer Salondame (Mme Verdurin) beherrscht wird, während in Oscar Wildes Theater keiner der weiblichen Gestalten eine zentrale Rolle dieser Art zufällt. Dennoch weisen die von Proust und Wilde gemimten und parodierten Konversationsformen frappierende Ähnlichkeiten auf. Diese Wechselbeziehung zwischen Analogie und Kontrast, die in Richard Münchs Argumentation zu beobachten ist, spielt auch in der Vergleichenden Politikwissenschaft eine wichtige Rolle. Der literaturwissenschaftlichen Frage, weshalb einige Avantgarden den faschistischen, andere den marxistischen oder den anarchistischen Weg einschlugen, entspricht hier die Frage nach dem Überleben der Demokratie in Industrieländern wie Großbritannien, Schweden oder Frankreich und nach ihrem Scheitern in Italien oder 14 Vgl. P. V. Zima, J. Strutz (Hrsg.), Europäische Avantgarde, op. cit. 15 Vgl. H. Van den Berg, Avantgarde und Anarchismus. Dada in Zürich und Berlin, Heidelberg, Winter, 1999. 16 R. Münch, Die Kultur der Moderne, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1993, S. 565. 57 Deutschland. Diese Frage wurde in dem von Berg-Schlosser kommentierten „Zwischenkriegsprojekt“ aufgeworfen: „Die zentrale abhängige Variable dort war das Überleben oder der Zusammenbruch demokratischer Systeme.“ 17 Sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Politologie geht es darum, die Variablen zu ermitteln, die zur Erklärung der unterschiedlichen Reaktionen auf die Gesellschaftskrise beitragen („Zusammenbruch der Demokratie“, „faschistische Orientierung“, „marxistische Orientierung“). Dazu bemerkt Dirk Berg-Schlosser: „Auf diese Weise können systematisch Übereinstimmungen und Kontraste ermittelt werden, die es erlauben, die gemeinsamen oder unterschiedlichen Schlüsselvariablen zu ermitteln, während die anderen konstant gehalten (‚kontrolliert‘) werden.“ 18 Die Verbindung zum horizontal-vertikalen Vergleich ist leicht herzustellen: Während die gemeinsamen Schlüsselvariablen (der ästhetisch-militante Charakter aller Avantgarden) die historischen Konvergenzen erklären, können die unterschiedlichen Schlüsselvariablen (verschiedene wirtschaftliche und politische Situationen in Deutschland, Frankreich, Rußland oder Italien) für die divergierenden Entwicklungen auf der vertikalen Achse verantwortlich gemacht werden. Immer steht die Frage im Mittelpunkt, wie der Vergleich zu konstruieren ist, wenn er bestimmte Erkenntnisse zeitigen soll. Man könnte zum Beispiel erfahren wollen, welche Bedeutung der Einfluß des italienischen Faschismus auf die Entstehung des Nationalsozialismus und den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie hatte - und analog dazu, welche Rolle der italienische Futurismus als „Proto-Avantgarde“ bei der Entstehung anderer europäischer Avantgarden spielte. In diesem Fall kommt das dritte Vergleichspaar - typologisch-genetisch - als Konstruktionsmöglichkeit zur Geltung. Hier stellt sich die Frage nach der idealtypischen Bestimmbarkeit von Avantgarde, Demokratie oder „autoritärem System“. 19 Komplementär dazu wird auf horizontaler oder vertikaler Ebene nach politischer oder ästhetischer Beeinflussung gefragt. So könnte beispielsweise das avantgardistische Manifest als gesellschaftlicher und sprachlicher Typus konstruiert werden: als militanter, programmatischer und persuasiver Text, der in einer vorrevolutionären oder revolutionären sprachlichen Situation entsteht. Auf dieser Ebene könnten die Manifeste des tschechischen Poetismus einerseits als politischästhetische Texttypen aufgefaßt werden, die von der (scheinbar) revolutio- 17 D. Berg-Schlosser, „Neuere Ansätze der Komparatistik in der Politikwissenschaft“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000, S. 104. 18 D. Berg-Schlosser, „Makro-qualitative vergleichende Methoden“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, 1997 (3. Aufl.), S. 77. 19 J. Hartmann, „Vergleichende Regierungslehre und Systemvergleich“, in: D. Berg- Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, op. cit., S. 31. 58 nären Situation der Zwischenkriegszeit Zeugnis ablegen; sie könnten andererseits genetisch aus dem Einfluß Apollinaires, des Futurismus und des französischen Surrealismus abgleitet werden: „Die Dichtung, durch Marinetti von den Fesseln der Syntax und der Interpretation befreit, nahm in Apollinaires Ideogrammen eine optische, graphische Form an.“ 20 Analog dazu könnten demokratische Verfassungen einerseits als Typen konstruiert werden, in denen trotz signifikanter Abweichungen bestimmte Merkmale dominieren, andererseits genetisch als aus historischen Einflüssen ableitbare Dokumente. Die kanadische Verfassung, die im Anschluß an den British North America Act von 1867 zustande kam, könnte auf dieser Ebene sowohl historisch-genetisch als auch typologisch, nämlich als Typus einer demokratisch-föderalistischen Verfassung, dargestellt werden. Im Hinblick auf das zweite Vergleichspaar (analogisch-kontrastiv) wären hier die föderalistischen Abweichungen von der (ungeschriebenen) britischen Variante von Interesse: vor allem im Hinblick auf das Phänomen der devolution. Die Frage, weshalb im britisch-kanadischen Fall die Beeinflussung nicht auf Gegenseitigkeit beruht und weshalb sich das Vereinigte Königreich (im Zuge der devolution) nicht nach kanadischem Vorbild föderalisiert, ist im Zusammenhang mit der sozio-historisch und kulturell bedingten „Rezeptionsverweigerung“ 21 zu erklären, mit der sich Peter Häberle befaßt. Eine solche Erklärung gilt nicht nur im rechtlich-politischen, sondern auch im literarischen Bereich: In Serbien, das im Ersten Weltkrieg und zwischen den Weltkriegen zu den engsten Verbündeten Frankreichs gehörte, setzte sich nicht zufällig der Surrealismus als Avantgarde-Bewegung durch - und nicht etwa der italienische Futurismus oder der (geographisch nähere, vielleicht zu nahe! ) österreichisch-deutsche Expressionismus. Marko Risti , zusammen mit Vuco, Jovanovi und Mati einer der prominenten Vertreter des serbischen Surrealismus, war zugleich serbischer Botschafter in Paris... 3. Die soziologischen Grundlagen der (literarischen) Komparatistik: Problematiken, sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse Die hier aufgeworfene Frage nach der Rezeption oder Nicht-Rezeption von Rechts- oder Verfassungsnormen mündet in die grundsätzliche Frage nach dem gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext von Textproduktion und 20 K. Teige, „Malerei und Poesie“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart-Weimar, Metzler, 1995, S. 306. 21 Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin, Duncker und Humblot, 1982, S. 34. 59 Textrezeption. Dabei geht es selbstverständlich nicht nur um literarische, sondern auch um politische, juristische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Texte. Von Texten ist hier deshalb die Rede, weil nichtverbale Zeichensysteme wie die Malerei sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler (historischer) Achse anderen Gesetzen gehorchen. 22 Die Tatsache, daß ein bestimmter literarischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Text in einer anderen Kultur und Sprache auf fruchtbaren Boden fällt, hängt mit der gesamten gesellschaftlichen und sprachlichen Situation eines Landes zusammen, die sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wandelt. Man könnte diese Situation auch als Problematik darstellen, in der bestimmte Gruppen und Organisationen mit ihren Ideologien innerhalb von sich ständig verändernden Institutionen auftreten. Die Ideologien sind Kollektivsprachen oder Soziolekte, die in einer sprachlichen, sozio-linguistischen Situation darüber entscheiden, was zeitgemäß und was unzeitgemäß ist, was gesagt und was noch nicht oder nicht mehr gesagt werden kann. Aus jedem Soziolekt können beliebig viele Diskurse als konkrete Reden hervorgehen, die für die Problematik als sozio-linguistische Situation symptomatisch sind. Zwei Sätze aus Gottfried Benns „Gruß an Marinetti“ (1934) mögen veranschaulichen, was gemeint ist: „Mitten in einem Zeitalter stumpf gewordener, feiger und überladener Instinkte verlangten und gründeten Sie eine Kunst, die dem Feuer der Schlachten und dem Angriff der Helden nicht widersprach. Ihr Manifest wirkte verblüffend, als es erschein, es wirkt heute noch verblüffender, da alle Ihre Formulierungen Geschichte wurden.“ 23 Diese Sätze sind Bestandteile eines Diskurses, der Ästhetik mit Politik verknüpft und aus dem Soziolekt der Nationalsozialisten hervorgeht, dessen Verwandtschaft mit dem Soziolekt der italienischen Faschisten die euphorische Marinetti-Rezeption im Deutschland des Jahres 1934 erklärt. (In Benns Grußwort ist auch vom „Führer“ die Rede, „den wir alle ausnahmslos bewundern“.) 24 Daß dieser Diskurs die futuristisch-faschistische Semantik mit dem darwinistischen Biologismus der Nationalsozialisten verbindet, zeigt ein anderer Text Benns aus dem Jahr 1933: „Der neue Staat und die Intellektuellen“. Dort heißt es von der Geschichte: „Sie läßt nicht abstimmen, sondern sie schickt den neuen biologischen Typ vor, sie hat keine andere Methode, hier ist er, nun handele und leide, baue die Idee deiner Generation und deiner Art 22 Vgl. P. Francastel, Etudes de sociologie de l’art, Paris, Denoël-Gonthier, 1970, S. 12; J.- F. Lyotard, Discours, figure, Paris, Klincksieck, 1971, S. 18-19 sowie O. Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, München, Prestel Vlg., 1977, S. 249. 23 G. Benn, „Gruß an Marinetti“, in: ders., Essays und Reden, Frankfurt, Fischer, 1989, S. 492. 24 Ibid., S. 491. 60 in den Stoff der Zeit, weiche nicht, handele und leide, wie das Gesetz des Lebens es befiehlt.“ 25 Dieser Satz ist von besonderem Interesse, nicht nur, weil er die schon zitierten Sätze auf ideologischer Ebene ergänzt, sondern weil er die semantisch-narrative Struktur und das Aktantenmodell des Diskurses teilweise erkennen läßt. Die „Geschichte“ als mythischer Auftraggeber 26 (Destinateur, Greimas) gehorcht nicht den Gesetzen der Demokratie, sondern den biologischen Gesetzen des „Lebens“ (des Auftraggebers in letzter Instanz). Sie beauftragt den Subjekt-Aktanten (den „neuen biologischen Typ“) mit dem Bau der „Idee“ seiner „Generation“ und seiner „Art“ (dem Objekt- Aktanten, Greimas). Freilich konkurrierten im Jahre 1933, vor der „Machtergreifung“, zahlreiche andere Gruppensprachen mit den Soziolekten der Konservativen, der Nationalisten und der Nationalsozialisten: Liberale, Sozialdemokraten, Marxisten und Anarchisten waren ebenso präsent wie die avantgardistischen Bewegungen. Diese Situation faßt Max Horkheimer mit einem Satz zusammen: „Als Hitler dann an der Macht war, hofften unzählige Menschen wirklich auf eine Revolution.“ 27 Im Rückblick stellt sich die sozio-linguistische und politische Situation der 1930er Jahre so dar, daß nahezu alle - Avantgardisten, Marxisten, Kommunisten und Nationalsozialisten - auf eine radikale Wende zum Besseren hofften und, ähnlich wie die Spanier des Jahres 1936, moderate Lösungsvorschläge verwarfen. Descolas lapidare Bemerkung zum Zustand der spanischen Gesellschaft Mitte der dreißiger Jahre drückt diese fatale Polarisierung treffend aus: „En España ya no hay moderados.“ („In Spanien gibt es keine Gemäßigten mehr.“) 28 Dies ist einer der Gründe, weshalb es sowohl in Spanien als auch in Deutschland zu dem von Berg-Schlosser und zahlreichen Historikern beschriebenen „Zusammenbruch“ der Demokratie kam. Sowohl das rechte als auch das linke Lager erwartete die eine radikale Lösung, die zugleich als Erlösung galt. In dieser zugleich gesellschaftlichen und sprachlichen Situation erscheint das avantgardistische Manifest geradezu als „messianischer Idealtypus“ des revolutionären Soziolekts, der - horizontal, ahistorisch betrachtet - alle Hoffnungen von der extremen Linken bis zur extremen Rechten bündelt und zeigt, wie sehr sich die Extreme berühren. Sowohl der italienische Futurismus als auch der französische Surrealismus erscheinen in ihren Selbstdarstellungen als Versuche, den Menschen 25 Ibid., S. 460. 26 Vgl. A. J. Greimas, Maupassant. Exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 62-64. 27 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Verlag der Arche, 1970, S. 26. 28 J. Descola, Historia de España, London-Toronto-Wellington, Harrap, 1963, S. 385. 61 von alten, verkrusteten Formen zu befreien. In Marinettis „Der Taktilismus. Futuristisches Manifest“ wird der Futurismus als radikaler Bruch mit allem Alten angepriesen: „Er hat der Welt eine schöpferische, aktive Kunst, die Abwehr der Jugend gegen alles Veraltete, die Verherrlichung des erfinderischen, unlogischen, wahnsinnigen Schöpfergeistes gegeben.“ 29 Ergänzend heißt es in einer „Erklärung des Büros für surrealistische Forschungen (27. 1. 1925)“: „Der Surrealismus ist kein neues oder einfacheres Ausdrucksmittel, nicht einmal eine Metaphysik der Poesie; er ist ein Mittel totaler Befreiung des Geistes und all dessen, was ihm ähnelt.“ 30 In beiden Fällen wird hier programmatisch die Befreiung des Menschen von allen tradierten Denk- und Handlungsmustern verkündet. In dieser Hinsicht folgen die meisten Manifeste der Avantgarden ihrem Vorbild aus dem 19. Jahrhundert: Marx’ und Engels’ Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. Während aber die Surrealisten und die tschechischen Poetisten an die Soziolekte und Diskurse der Marxisten und Kommunisten anknüpfen, können sich die italienischen Futuristen problemlos auf die Diskurse des Faschismus berufen, der sich selbst als das Denken einer neuen Epoche begreift: „Il Fascismo, fenomeno esattamente mediterraneo, è appunto il fatto storico che apre la nuova epoca, la Terza Epoca della Civiltà umana.“ („Der Faschismus, ein in jeder Hinsicht mediterranes Phänomen, ist ja das historische Ereignis, das die Neue Epoche einläutet, die Dritte Epoche der menschlichen Zivilisation.“) 31 Hier zeigt sich, wie in der sprachlichen Situation der Zwischenkriegszeit politische und poetische Diskurse ineinandergreifen. Diese Situation bildet eine Problematik, die durch politische Ereignisse sowie durch das Auftreten neuer gesellschaftlicher Gruppierungen und neuer Soziolekte verändert wird. Was in den 20er und 30er Jahren noch sagbar war und in Form von Reden oder Manifesten proklamiert wurde, wird nach 1945 undenkbar - wie die Entwicklung von Gottfried Benns Werk zeigt. Diese Problematik, in der Soziolekte und Diskurse freundlich oder feindlich interagieren, bildet den Kontext, in dem horizontale und vertikale, analogische und kontrastive, typologische und genetische Vergleiche am ehesten durchgeführt werden können. Da es sich stets um komplementäre Aspekte des Vergleichs und somit um komplementäre Objektkonstruktionen 29 F. T. Marinetti, „Der Taktilismus. Futuristisches Manifest“ (1921), in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, op. cit., S. 219. 30 L. Aragon, „Erklärung des Büros für surrealistische Forschungen“ (27. 1. 1925), in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, op. cit., S. 344. 31 M. Bontempelli, „Brief an Bottai“ (1926), in: C. Bordoni (Hrsg.), Fascismo e politica culturale. Arte, letteratura e ideologia in Critica fascista, Bologna, Brechtiana Editrice, 1981, S. 74. 62 handelt, hängt die Art des Vergleichs einerseits vom Gegenstand, andererseits vom Erkenntnisinteresse des theoretischen Subjekts ab. Das (avantgardistische) Manifest als Typus kann sowohl horizontal - z.B. als Phänomen der 1920er Jahre - als auch vertikal - etwa im Anschluß an die Revolutionen von 1848 und die Diskurse der Junghegelianer - konstruiert werden. In diesem Fall erscheint es als zukunftsorientierter Text, der sich aus polemischen, prophetischen, persuasiven und performativen Diskursteilen zusammensetzt. Es kann auch analogisch-kontrastiv konstruiert werden, damit klar wird, wie sich trotz aller Affinitäten die Manifeste der italienischen Futuristen von denen der französischen Surrealisten und der russischen Futuristen unterscheiden. Dabei wird die Erklärung der Differenzen stets in den politischen Bereich hineinreichen. Schließlich stellt sich auch die genetische Frage nach der wechselseitigen Beeinflussung der zahlreichen Manifeste, Proklamationen und Programme. Diese kann jedoch nur konkret beantwortet werden, wenn der typologische Kontext, d.h. die vorrevolutionäre sozio-linguistische Situation, in der das Manifest als Texttypus auftreten konnte, vorausgesetzt wird. Nicht der Einfluß ist das Primäre, wie noch die Positivisten unter den französischen Literaturwissenschaftlern dachten, sondern die gesellschaftlich bedingten typologischen Affinitäten sind es, die Beeinflussung erst ermöglichen. 32 Solche Affinitäten spielen im Falle von Oscar Wilde und Hugo von Hofmannsthal eine entscheidende Rolle. Obwohl Hofmannsthal Oscar Wildes Schicksal und Werk kannte und 1905 sogar einen Artikel über Wilde veröffentlichte, wäre es kaum sinnvoll, nach Wildes Einflüssen in Hofmannsthals Werk zu fahnden oder gar zu versuchen, dieses Werk genetisch aus diesen Einflüssen abzuleiten. Ein Vergleich von Oscar Wildes Drama mit dem Konversationsdrama Hofmannsthals bietet sich zwar - aufgrund der zahlreichen Ähnlichkeiten und Abweichungen - an, sollte aber auf typologischer Ebene konstruiert werden, d.h. im gesellschaftlichen und sprachlichen Zusammenhang. Ein möglicher Ausgangspunkt wäre hier die schon erwähnte Kultursoziologie Richard Münchs. Denn sowohl Wildes als auch Hofmannsthals Dramen sind in eine von Salons, Cafés und Clubs getragene Konversationskultur eingebettet, die um die Jahrhundertwende vom Großbürgertum und seiner Bezugsgruppe, dem Adel, beherrscht wird. Die im „kulturellen Feld“ (Bourdieu) agierenden Großbürger und Adelige bilden die Mußeklasse, die leisure class im Sinne von Thorstein Veblen: eine Gruppe von privilegierten Land-, Aktien- und Obligationen-Besitzern, die außerhalb des Produktions- 32 Vgl. V. Žirmunskij, „Über das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft“, in: G. R. Kaiser (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern 1963- 1979, Stuttgart, Metzler, 1980, S. 84. 63 prozesses stehen und Zeit haben, die Konversation als ästhetisierenden Sprachgebrauch zu pflegen. „My people sit in chairs and chatter“ 33 , kommentiert Oscar Wilde seinen Roman The Picture of Dorian Gray. Dieser Satz ist nicht nur auf die Dramen Wildes anwendbar, sondern auch auf die Hugo von Hofmannsthals. Denn in beiden Fällen geht es um Konversationsdramen, die in typologisch ähnlichen sozio-linguistischen Kontexten entstanden sind: im gesellschaftlichen Milieu der Londoner oder Wiener Mußeklasse, deren Angehörige das Handeln durch das Sprechen, die vita activa durch eine vita rhetorica ersetzt haben. Konsequent ersetzt Wildes und Hofmannsthals mondänes Theater die Tat durch das Wort. Zur Rolle der Konversation in diesem Theater bemerkt Peter Szondi: „Sie hat keinen subjektiven Ursprung und kein objektives Ziel: sie führt nicht weiter, geht in keine Tat über.“ 34 Das Drama bildet also nicht einfach die Passivität einer gesellschaftlichen Gruppierung ab, sondern bringt diese Passivität zur Sprache, indem es auf intertextueller Ebene die mondäne Konversation als Soziolekt der Mußeklasse mimetisch, parodistisch und kritisch verarbeitet. Auf typologischer Ebene bietet sich nun die Möglichkeit an, Wildes und Hofmannsthals Dramen im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Differenzen zu untersuchen - oder die Ähnlichkeiten in den Vordergrund zu stellen, um das mondäne Drama als Konversationsdrama und als besonderen Typus zu bestimmen. Dieser Versuch, den Typus auf horizontaler Achse zu beschreiben, kann freilich in eine vertikal-historische Analyse übergehen, welche die Geschichte der mondänen (höfischen) Gesellschaft und ihres Soziolekts, der Konversation, zum Gegenstand hat. 35 Hier zeigt sich abermals, daß jeder der hier kommentierten Vergleiche letztlich eine Art ist, den Gegenstand zu konstruieren. Allerdings hängt die Objektkonstruktion nicht nur von „Willen und Vorstellung“ des Theoretikers ab, sondern auch von der Beschaffenheit des Gegenstandes: Während ein typologischer Vergleich von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften mit Italo Svevos La coscienza di Zeno vorwiegend auf horizontaler Ebene durchgeführt werden kann, um einen Typus des spätmodernmodernistischen Romans darzustellen, wird ein Vergleich von Bretons und Marinettis Werk die vertikal-historische Komponente, d.h. die ästhetischpolitische Entwicklung der beiden Avantgarde-Bewegungen, kaum ausblenden können. Diese Überlegung gilt in abgewandelter Form auch für die Vergleichende Verfassungslehre: Obwohl es im Prinzip möglich ist, zwei föderale Ver- 33 O. Wilde, in: R. Shewan, Oscar Wilde. Art and Egotism, London, Macmillan, 1977, S. 154. 34 P. Szondi, Theorie des Modernen Dramas, Frankfurt, Suhrkamp, 1969 (6. Aufl.), S. 88. 35 Vgl. P. V. Zima, L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris (1980), L’Harmattan, 2002 (2. Aufl.). 64 fassungen - etwa die deutsche und die kanadische - typologisch-horizontal zu vergleichen, führt die Notwendigkeit, sie im historisch-politischen Kontext zu erklären, alsbald auf die vertikale Ebene. Insgesamt mag deutlich geworden sein, daß die Auffassung des Vergleichs als komplexer Objektkonstruktion der Dogmatisierung bestimmter Vergleichsmodi („genetisch“, „typologisch“ usw.) entgegenwirkt und eine heuristische Kombination der Vergleichsebenen erleichtert. Dieses konstruktivistische Bewußtsein sollte in der literarischen Komparatistik ein sozialwissenschaftliches Bewußtsein ergänzen, welches auf dem Gedanken gründet, daß nicht nur die literarischen Texte, sondern auch die theoretischen Diskurse, die sie zum Gegenstand haben, in einem besonderen gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext entstehen und interagieren. IV. Die Stellung der Literaturwissenschaft zwischen den Kulturen. Eine textsoziologische Betrachtung Wer erfahren möchte, weshalb die Literaturwissenschaft vielen als eine verunsicherte Disziplin erscheint, die so mancher durch „Kulturwissenschaft“ oder Cultural Studies ersetzen möchte, sollte die Wortverbindung Literaturwissenschaft zunächst in einem textsoziologischen oder soziosemiotischen Kontext betrachten, in dem Gesellschaft und Kultur als sprachliche und historische Konstellationen beschreibbar sind. Wenn wir von „Gesellschaft“ oder „Kultur“ sprechen, stellen wir uns bisweilen statische Einheiten vor, in denen etwas „der Fall ist“. Der Ausdruck „französische Sprache und Kultur“ evoziert zwar eine von stereotypen Vorstellungen geprägte Tradition (Descartes, den Rationalismus der Lumières, Rousseau, die Revolution, die Décadence der Jahrhundertwende und den Existentialismus), zugleich aber auch einen status quo, dessen Dynamik kaum zur Kenntnis genommen wird. Auch die Dynamik der eigenen Kultur nimmt man vornehmlich in Krisenzeiten wahr: etwa wenn sich herausstellt, daß Literatur zu einer sozialen Randerscheinung wird und die Literaturwissenschaft ihr ins gesellschaftliche Abseits folgt. In solchen Zeiten wird man jäh der Beweglichkeit der sozialen Welt gewahr und meint sogar, keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Textlinguistik, Semiotik, Literatursoziologie und Rezeptionsästhetik, die vor rund dreißig Jahren um die Vorherrschaft im neuen literaturwissenschaftlichen „Paradigma“ rangen, werden immer seltener genannt, weil die gegenwärtige Zeit - oberflächlich betrachtet - einem neuen Vokabular zu gehorchen scheint, das z.T. aus dem englischsprachigen Bereich importiert wird: cultural studies, gender studies, postcolonial studies, media studies. Fast antiquiert klingt ein Satz aus Jürgen Kolbes Vorwort zu den Ansichten einer neuen Germanistik: „Inzwischen hat allerdings das Linguistik- Konzept Konkurrenz bekommen: durch die Literaturwissenschaft, die sich in zunehmendem Maße als Gesellschaftswissenschaft versteht.“ 1 Der Satz ist für eine gesellschaftliche und sprachliche Situation symptomatisch, in der ein linguistisches oder semiotisches mit einem soziologischen „Paradigma“ konkurrierte. Inzwischen gibt es so viele „Paradigmata“, daß der von Kuhn geprägte Paradigma-Begriff selbst sinnlos zu werden droht. Es käme darauf an, nicht bei der Frage nach Leistung oder Anwendbarkeit von Theorien stehen zu bleiben, sondern nach den Ursachen zu fragen, die Verschiebungen im theoretischen Bereich bewirken, die dazu führen, 1 J. Kolbe, „Vorwort“, in: J. Kolbe (Hrsg.), Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, München, Hanser, 1973, S. 7. 66 daß z.B. Semiotik und Rezeptionsästhetik im deutschen Sprachraum von Dekonstruktion und Gender Studies an die Peripherie der Methodendiskussion abgedrängt werden. Doch solche Schwerpunktverlagerungen finden nicht nur innerhalb einer Disziplin wie der Literaturwissenschaft statt; sie können die Disziplin als ganze erfassen: etwa, wenn diese von der Medienwissenschaft oder den importierten Cultural Studies marginalisiert wird. Angesichts dieser Entwicklung könnte man versucht sein, altbekannte Argumente ins Feld zu führen, um den Niedergang der Literaturwissenschaft zu erklären: In einer von den Medien beherrschten audiovisuellen Gesellschaft werde nicht nur die Literatur, sondern auch die sie kommentierende Wissenschaft marginal. Man könnte ein berufsorientiertes Argument hinzufügen: In einer solchen Gesellschaft möchten sich Studierende - etwa in Großbritannien - nicht auf die deutsche Literatur konzentrieren, sondern etwas über die zeitgenössische deutsche Kultur als ganze erfahren. Kultur (als Medienkultur, nicht als höfische Gesellschaft Chrestiens, Wolframs oder Hartmanns, versteht sich) bekommt hier einen zeitgemäßen, Literatur hingegen einen antiquierten Klang. Dies mag der Grund sein, weshalb gegenwärtig in Großbritannien immer häufiger Stellen mit der Bezeichnung German Studies ausgeschrieben werden. Diese Argumentation soll hier nicht fortgesetzt werden. Es gilt zu zeigen, daß die Bezeichnung „Literaturwissenschaft“ im deutschen Sinne ein sprach- und kulturspezifisches Phänomen ist, das fragwürdig erscheint, sobald es in einen interkulturellen Kontext projiziert wird. Anders gesagt: Die Bezeichnung „Literaturwissenschaft“ ist (international betrachtet) weder mit „Physik“ noch mit „Informatik“ zu vergleichen: auch nicht mit „Soziologie“ oder „Anthropologie“. Während alle diese Termini international anerkannte Disziplinen bezeichnen, ist die deutsche Wortverbindung „Literaturwissenschaft“ nicht konsensfähig. Bevor man also die Probleme der Literaturwissenschaft mit dem Vorrücken der Medien oder der Marginalisierung der Literatur erklärt, sollte man sich dem gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext zuwenden, in dem das Wort „Literaturwissenschaft“ verwendet wird. Es geht um den interkulturellen Status einer Disziplin. 1. Textsoziologische Prolegomena: Sozio-linguistische Situation, Soziolekte und Diskurse Ein Wort tritt nie isoliert oder in einem rein lexikalischen Kontext auf, sondern ist Bestandteil einer sozio-linguistischen Situation, eines Soziolekts als Gruppensprache und eines Diskurses. Nehmen wir uns der Einfachheit halber noch einmal den Satz aus Jürgen Kolbes Vorwort zu den Neuen Ansichten einer künftigen Germanistik vor: „Inzwischen allerdings hat das Lin- 67 guistik-Konzept Konkurrenz bekommen: durch eine Literaturwissenschaft, die sich in zunehmendem Maße als Gesellschaftswissenschaft versteht.“ Dieser Satz hat neben lexikalischen, semantischen und syntaktischen Aspekten auch diskursive und soziolektale Komponenten. Denn er zeugt von einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der die Diskurse der werkimmanent argumentierenden Germanistik in universitären Institutionen einem immer größeren Druck seitens der fachsprachlichen Soziolekte von Linguisten und Soziologen ausgesetzt werden und sich gezwungen sehen, textlinguistische (semiotische) oder literatursoziologische Argumente hervorzubringen, die nicht nur den fachsprachlichen Verschiebungen Rechnung tragen, sondern auch der Tatsache, daß die Soziolekte des Marxismus und der Kritischen Theorie in die Institutionen eindringen und dort sozialen und sprachlichen Druck ausüben. Man könnte - einer zeitgenössischen Terminologie folgend - von einem linguistic und einem social turn sprechen. Der Marxismus und die Kritische Theorie waren jedoch nicht die einzigen Kontrahenten der damaligen Germanistik als Philologie. Zu ihnen gesellten sich (zumindest im deutschen Sprachraum) der Kritische Rationalismus mit seinem „Falsifizierbarkeitspostulat“ und die analytische Philosophie, die als anglo-amerikanischer Soziolekt die deutsche sozio-linguistische Situation gleichsam überlagerte. Sieht man sich dieses mehrdimensionale Sprachensystem genauer an, so erkennt man unter oder hinter den Fachsprachen die ideologischen Sprachen der Tagespolitik, die zwischen Systembejahung, Reformismus (im Sinne von Poppers piecemeal engineering), marxistischer Revolution und ästhetischer Negation (im Sinne von Adorno) oszillieren. Es ist besonders aufschlußreich, in diesem Kontext die Rolle der Rezeptionsästhetik im Sinne von Hans Robert Jauß zu betrachten. Welchen soziolinguistischen Faktoren verdankt sie ihren - im deutschen Sprachraum einmaligen - Einfluß? Wohl der Tatsache, daß sie sich weder dem marxistischen oder dem kritisch-theoretischen noch dem kritisch-rationalistischen Soziolekt anschließt, sondern an eine mächtige autochtone Tradition anknüpft, die tendenziell sowohl von den Dialektikern als auch von den Analytikern und den kritischen Rationalisten bekämpft wird: an die deutsche Hermeneutik Schleiermachers, Diltheys und Gadamers, die immer noch im „Centrum der Spekulation“ 2 steht, wie Karl Rosenkranz sagen würde. Freilich geht es Jauß vornehmlich um eine kritische Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Tradition (vor allem mit Gadamer ) 3 , an die er gleichwohl anknüpft. Darin folgt er Apel und Habermas, die der Kritischen Theorie die 2 K. Rosenkranz, Das Centrum der Spekulation. Eine Komödie, Königsberg 1840. 3 Vgl. H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 26-27. 68 Spitze abbrachen, indem sie ihr eine idealistisch-kommunikative Wende gaben. Auch sie lassen sich - ähnlich wie Jauß - von dem wirkungsmächtigsten deutschen Soziolekt im philosophischen Bereich tragen. Die institutionelle und ideologische Strategie der Jaußschen Rezeptionsästhetik, die ein neues literaturwissenschaftliches „Paradigma“ begründen sollte 4 , war klar vorgezeichnet: Die einheimische hermeneutische Tradition sollte kritisch aktualisiert und sowohl gegen die Diskurse der materialistischen Dialektik als auch gegen die der analytischen Philosophie und des Kritischen Rationalismus gewendet werden. Allerdings war Jauß in seiner Auseinandersetzung mit diesen Soziolekten und ihren Diskursen so sehr in der Defensive (und das ist der springende Punkt), daß er zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit ins Auge faßte, auf den wissenschaftlichen Charakter der Literaturwissenschaft zu verzichten. Zwar verteidigte er immer wieder die hermeneutisch-reflexive Ausrichtung dieser Wissenschaft (etwa gegen die Semiotik) 5 , gab aber nie den wissenschaftlichen Anspruch auf - im Gegensatz zur Geistesgeschichte der 1920er Jahre. Insofern war auch sein Diskurs Produkt einer sozio-linguistischen Situation, in der sich so prominente Gegner wie die Marxisten und die Kritischen Rationalisten in einem Gedanken einig waren: daß Literaturwissenschaft „wissenschaftlich“ (im marxistischen oder aber im kritischrationalistischen Sinne) zu sein hatte. (Davon zeugt etwa das im Jahre 1976 erschienene Buch von Karl Eibl Kritisch-rationale Literaturwissenschaft.) 6 Jauß’ bekannter Text aus dem Jahre 1969 „Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft“, der in den Linguistischen Berichten (Nr. 3) erschien, läßt die Unreflektiertheit oder „Natürlichkeit“ (würde Althusser sagen) ideologischer und sogar theoretischer Diskurse in einer besonderen soziolinguistischen Situation erkennen. In der Situation des Jahres 1969 wurde der wissenschaftliche Auftrag (nicht so sehr der wissenschaftliche Charakter) der Literaturwissenschaft von kaum jemandem im deutschen Sprachraum in Frage gestellt. Das läßt auch der auf die analytische Philosophie ausgerichtete semiotische Diskurs eines Max Bense erkennen, der in seiner Aesthetica (1965) bemerkt: „Es gibt, wie gesagt, nicht nur eine moderne Physik und eine moderne Logik, für die der souveräne Gebrauch, den sie von der mathematischen Sprache machen, typisch ist, es gibt auch eine moderne Ästhetik, die sich ebenfalls jener exakten Ausdrucksweise bedient.“ 7 4 Vgl. H. R. Jauß, „Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft“, in: Linguistische Berichte 3, 1969. 5 Vgl. H. R. Jauß, „Goethes und Valérys Faust. Versuch, ein komparatistisches Problem mit der Hermeneutik von Frage und Antwort zu lösen“, in: Umjetnost Rije i 56, 1977, S. 56. 6 Vgl. K. Eibl, Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, München, Fink, 1976. 7 M. Bense, Aesthetica, Baden-Baden, Agis Vlg., 1965, S. 271. 69 Dieser Szientismus war in den 1960er und 70er Jahren natürlich nicht jedermanns Sache, und Jauß hat sich ihn nie zu eigen gemacht; aber seine Verwendung des Kuhnschen Paradigmabegriffs, der ja eine normal science voraussetzt, beinhaltet einen Wissenschaftsanspruch der so widersprüchlich definierten literarischen Philologie, die aus der arbeitsteiligen Trennung von Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft hervorging und seither der Verwissenschaftlichung der Sprachwissenschaft nacheiferte. Schließlich sei daran erinnert, daß in der deutschen sprachlichen Situation der 1960er und 70er Jahre niemand daran dachte - jedenfalls nicht im universitären Bereich - die Literaturwissenschaft in der Literaturkritik aufgehen zu lassen. Literaturwissenschaft und Literaturkritik waren und sind im deutschsprachigen Raum unterschiedlich institutionalisiert. Literaturkritik hat keinerlei wissenschaftliche Prätentionen, und ihre Diskurse fanden nie Eingang in literaturwissenschaftliche Zeitschriften. Die Organe der Literaturkritik sind nach wie vor Zeitungen und literarische Zeitschriften. In dieser Hinsicht entsprechen die deutschen Bezeichnungen „Literaturkritik“ und „Literaturwissenschaft“ sowohl auf sprachlicher als auch auf institutioneller Ebene der Terminologie der slawischen Länder und der Niederlande. Analog zum deutschen Terminus „Literaturwissenschaft“ wurde in Rußland der Terminus literaturovedenie (literturoved = „Literaturwissenschaftler“) eingeführt, in Tschechien der Terminus literární v da (literární v dec = „Literaturwissenschaftler“). Der serbo-kroatische Ausdruck znanost o književnosti entspricht weitgehend diesen Bezeichnungen, die möglicherweise auf deutsche Einflüsse zurückzuführen sind, die aber auch ihren Ursprung im Streben der russischen Formalisten nach Wissenschaftlichkeit im Sinne der exakten Wissenschaften haben. 8 Auch in den Niederlanden ist analog zu „Literaturwissenschaft“ von literatuurwetenschap die Rede. Auch dort ist - wie übrigens in den slawischen Ländern - Literaturkritik als besondere, wertende Diskursart anders institutionalisiert als Literaturwissenschaft. In allen diesen Ländern ist Literaturkritik - zusammen mit Literatur - Gegenstand einer z.T. empirisch orientierten Literaturwissenschaft. Insgesamt zeigt sich, daß „Wissenschaftlichkeit“ in ihren verschiedenen, z.T. widersprüchlichen Definitionen das Objekt - der Objekt-Aktant - der literaturwissenschaftlichen Diskurse im deutschen, niederländischen und slawischen Sprachraum ist. Insofern heben sich die literaturwissenschaftlichen Diskurse in diesen Sprach- und Kulturbereichen schroff von denen der Literaturkritik ab, die einen ästhetisch-wertenden, nicht jedoch wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Nach Muka ovský und Vodi ka ist es die Hauptaufgabe des Literaturkritikers, die geltende ästhetische Norm auf lite- 8 Vgl. M. M. Bachtin, „Das Problem von Inhalt und Form im Wortkunstschaffen“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes (Hrsg. R. Grübel), Frankfurt, Suhrkamp, S. 109-111. 70 rarische Texte anzuwenden, um auf diese Art zeitgemäße (dieser Norm entsprechende) ästhetische Objekte zu konstituieren. Dieser ästhetische Prozeß in seiner Gesamtheit ist aber Gegenstand der von Muka ovský und Vodi ka entwickelten semiotischen Literatur- und Kunstwissenschaft. 9 Inwiefern diese „wertfrei“ im Sinne von Max Weber sein kann oder zu sein hat, ist eine ganz andere Frage. 2. Die sozio-linguistische Situation in den englischsprachigen und romanischen Ländern Beim Übergang von der deutschen, slawischen und niederländischen sprachlichen Situation in den englischen und romanischen Kulturbereich kommt es zu einem semantischen Bruch, den die „Literaturwissenschaft“ in ihrer mitteleuropäischen Bedeutung nicht überlebt. Insofern ist sie nicht mit einer international etablierten Wissenschaft wie der Physik, der Informatik oder der Soziologie zu vergleichen. Im Englischen und in den romanischen Sprachen gibt es keine Synonyme für „Literaturwissenschaft“, weil Bezeichnungen wie literary science, science littéraire, ciencia literaria oder scienza letteraria nicht üblich sind. (Die Frage ist nicht, ob diese Ausdrücke irgendwo - möglicherweise in Übersetzungen - vorkommen, sondern welche Termini herrschend sind.) Eingebürgert haben sich hingegen die Bezeichnungen literary criticsim, critique littéraire, crítica literaria und critica letteraria, die nicht eindeutig und scharf von Bezeichnungen wie literary theory oder théorie de la littérature zu trennen sind. Begrifflich sieht es so aus, daß théorie de la littérature oder literary theory sowohl im französischen als auch im englischen Bereich der critique littéraire oder dem literary criticism subsumierbar ist, nicht jedoch umgekehrt. Dies lassen neuere französische Einführungen in die Literaturwissenschaft (critique littéraire / théorie de la littérature) erkennen, in denen neben Schriftstellern wie Proust, Sainte-Beuve und Sartre Theoretiker wie Gaston Bachelard, Charles Mauron, Roman Jakobson und Roland Barthes kommentiert werden: etwa Jérôme Rogers La Critique littéraire. 10 Besonders aufschlußreich in dieser Hinsicht ist auch das etwas neuere Buch von Fabrice Thumerel, das ebenfalls den Titel La Critique littéraire träg: Thumerel spricht im dritten Kapitel von den „drei Kritiken“, „les trois critiques“: „la critique journalistique“, „la critique universitaire“, „la critique d’écrivain“. 11 Die Relevanzkriterien und Klassifikationen seines Diskurses 9 Vgl. F. Vodi ka, Die Struktur der literarischen Entwicklung, München, Fink, 1976, S. 9- 15. 10 J. Roger, La Critique littéraire, Paris, Dunod, 1997, Kap. II: „La critique créatrice“. 11 F. Thumerel, La Critique littéraire, Paris, Armand Colin, 1998, S. 101. 71 entsprechen weitgehend denen Jérôme Rogers: Wie Roger bringt er letztlich alle Diskurse über die Literatur in einer Klasse oder Taxonomie unter, die er natürlich unterteilt. Der deutschen, niederländischen und slawischen Literaturwissenschaft ist eine solche Taxonomie fremd, weil in Mittel- und Osteuropa (ähnlich wie in Skandinavien) der Gegensatz zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft dahingehend interpretiert wird, daß Literaturkritik nicht Partnerin (Konkurrentin) der universitären Literaturwissenschaft ist, sondern deren Gegenstand. Nun mag man einwenden, daß die „Schule von Bordeaux“ (Escarpit, Estivals, Zalamansky et al.) eine ähnliche Einstellung zur Literaturkritik hatte wie die deutschen Literaturwissenschaftler. Diese „Schule“ wird in Frankreich jedoch nicht der critique littéraire zugerechnet, sondern der Soziologie. 12 So ist auch der Gegensatz zwischen dem Ausdruck sociologie de la littérature und sociocritique zu verstehen: Die eine will Soziologie sein, die andere critique littéraire, d.h. nicht unbedingt Wissenschaft als science oder science sociale. Im anglo-amerikanischen Bereich sieht die institutionelle und sprachliche Situation ähnlich aus: In einem schon älteren Buch spricht Terry Eagleton von „Categories for a Materialist Criticism“. 13 Das bedeutet konkret: Die materialistische Dialektik wird dem literary criticism zugerechnet - ähnlich wie in Frankreich, Italien oder Spanien, wo von einer critique marxiste oder einer critica marxista die Rede ist. (Damit ist in diesem Fall nicht einfach „marxistische Gesellschaftskritik“ gemeint, sondern „marxistische Literaturwissenschaft / Literaturkritik“.) Daß zwischen literary criticism und literary theory kein Gegensatz konstruiert wird, zeigt Eagletons Buch als ganzes, in dem zwischen F. R. Leavis’ criticism und dem Marxist criticism kein institutioneller Unterschied gemacht wird. 14 Dies ist wahrscheinlich kein Zufall, denn trotz aller Unterschiede, die den Idealisten und Ästheten Leavis vom marxistischen Materialisten Eagleton trennen, verbindet sie ein kritisches Anliegen: die seit Carlyle und Ruskin aktuelle Kritik des bürgerlichen Utilitarismus, der bei Eagleton als kapitalistische Ideologie aufgefaßt wird. Weder Leavis noch Eagleton erscheint der „criticism“ als empirische oder gar wertfreie Wissenschaft im Sinne von Alphons Silbermann, Hans Norbert Fügen, Norbert Gröben oder Siegfried J. Schmidt. Im Übergang von Leavis zu Raymond Williams und Eagleton nimmt der criticism zwar eine dialektische und vor allem materialistische Wende, versteht sich aber weiterhin primär als Kritik und nicht als 12 Vgl. R. Escarpit u. a., Le Littéraire et le social. Eléments pour une sociologie de la littérature, Paris, Flammarion, 1970, S. 29-41. 13 T. Eagleton, Criticism and Ideology, London, NLB, 1976, Verso, 1978, Kap. II. 14 Vgl. T. Eagleton, Criticism and Ideology, op. cit., S. 44-63. 72 Wissenschaft. Daß er in dieser Form an Walter Benjamins und Theodor W. Adornos Literaturtheorien und Ästhetiken grenzt, wird niemanden überraschen, denn diese Theorien sind von der Literaturkritik im deutschen Sinne nicht sauber zu trennen. Daß es schließlich zu einer Fusion der beiden Bezeichnungen literary criticism und literary theory kommen kann, läßt der Titel erkennen, den ein Londoner Verlag der englischen Übersetzung meines Buches über die Dekonstruktion gab: Deconstruction and Critical Theory. 15 Critical Theory bedeutet in diesem Fall nicht, wie deutschsprachige Leser vermuten könnten, „Kritische Theorie“, sondern literary theory als criticism. Es ist nicht ganz einfach, aus diesem terminologischen Labyrinth, das durch interkulturelle Interferenzen mehrdimensional wird, hinauszufinden. Den entscheidenden Schritt, durch den sich der anglo-amerikanische criticism von der mittel- und osteuropäischen Literaturwissenschaft entfernt, tut der amerikanische Dekonstruktivist Geoffrey H. Hartman, wenn er den literary critic als Literaten oder gar Schriftsteller auffaßt. Er plädiert bekanntlich für ein „synthesizing criticism (...) that would combine art and philosophy“. 16 Sein Vorbild ist Jacques Derridas Glas, eine philosophischliterarische Textcollage. Das Problem, das hier zutage tritt, sollte nicht unterschätzt werden: denn die angloamerikanischen und französischen Diskurse des criticism und der critique zeugen nicht nur von einer anderen sozio-linguistischen Situation und von anders institutionalisierten Soziolekten; sie sind auch anders strukturiert. Das wird auf aktantieller Ebene deutlich: Während der Objekt- Aktant literaturwissenschaftlicher Diskurse im deutschen oder osteuropäischen Sinne die „wissenschaftliche Darstellung der Literatur“ ist (im Rahmen erzähltheoretischer, semiotischer, phänomenologischer oder soziologischer Modelle), ist der Gegenstand von Hartmans Diskurs das „kreative Schreiben“ als „synthesizing criticism“. Das ist nicht weiter überraschend, denn Hartman steht in einer angloamerikanischen Tradition, deren Programm der New Critic Ransom prägnant zusammenfaßte, als er schrieb: „Ich bin der Ansicht, daß Dichtung auf revolutionäre Art mit der Konvention der logischen Rede bricht (...).“ 17 Für so manchen New Critic, für so manchen amerikanischen Dekonstruktivisten gelten Ransoms Aussagen über die Dichtung auch für den criticism. Der Bruch zwischen New Criticism und Dekonstruktion ist nicht so radikal wie manche denken. 15 Vgl. P. V. Zima, Deconstruction and Critical Theory. Philosophical and Aesthetic Foundations (Übers. R. Emig), London-New York, Continuum, 2002. 16 G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness. The Study of Literature Today, New Haven- London, Yale Univ. Press, 1980, S. 38. 17 J. C. Ransom, The New Criticism, Norfolk (Conn.), New Directions, 1941, S. 280. 73 3. Der Objektverlust der Literaturwissenschaft im interkulturellen Kontext Welche Bedeutung haben nun diese Überlegungen für die Position der Literaturwissenschaft in der zeitgenössischen Gesellschaft? Die Antwort kann recht knapp ausfallen: Im Übergang von einem kulturellen Kontext zum anderen, von einer sozio-linguistischen Situation zur anderen verliert die Literaturwissenschaft ihr Objekt. Genauer gesagt: Ihre Objektkonstruktion wird als ganze in Frage gestellt. Das zeigt ein Vergleich mit der Soziologie und der Politikwissenschaft. Diese beiden Disziplinen sind zwar fachsprachlich und ideologisch ebenso heterogen wie die stets wertende und von ideologischen Kontroversen geplagte Literaturwissenschaft; aber „Soziologie“ ist eine international (interkulturell) anerkannte Bezeichnung, die sich auf einen mehr oder weniger konsensfähigen Bereich von der Demographie bis zur Religionssoziologie bezieht, und Politikwissenschaftler streben trotz der zahlreichen Verflechtungen ihres Fachs mit der Alltagspolitik nicht danach, ihre Wissenschaft mit der politischen Praxis verschmelzen zu lassen. Noch kein Politikwissenschaftler kam auf den Gedanken, seinen wissenschaftlichen Diskurs mit der Wahlkampfrhetorik des Politikers zu „synthetisieren“. Der offizielle Marxismus-Leninismus mußte sich schließlich gegen die „bürgerliche“ Soziologie und Politologie wenden, weil er gerade diese „Synthese“ anstrebte. Im Gegensatz zu diesen beiden Sozialwissenschaften hat nun die Literaturwissenschaft im internationalen oder interkulturellen Kontext kein klar definierbares Objekt. In einer Zeit der Internationalisierung und Globalisierung kann sich dieser Objektverlust fatal auswirken: Wozu Literaturwissenschaft (oder gar eine science of literature oder science de la littérature), wenn die Absolventen, die Kurse in Criticism and creative writing oder (im deutschen Sprachraum) in „Kulturwissenschaft“ besucht haben, auf dem Arbeitsmarkt besser abschneiden als Philologen? Müssen criticism und critique littéraire wissenschaftlich sein? Und wie wird in allen diesen Fällen „Wissenschaftlichkeit“ definiert? In der Ära einer postmodernen Beliebigkeit könnten solche Fragen durchaus auf fruchtbaren Boden fallen, zumal Geisteswissenschaften zunehmend im Rahmen von Freizeitangeboten studiert werden. Vergleichende Literaturwissenschaftler könnten solchen Einwänden mit einem Hinweis auf die jahrhundertealte Tradition ihrer Disziplin begegnen: Ist die Komparatistik nicht ein international anerkanntes und seit der vorigen Jahrhundertwende in den Institutionen etabliertes Fach? Es ist hier nicht der Ort, die Wissenschaftsgeschichte dieser Disziplin aufzuarbeiten und auf den problematischen Charakter ihres Objektbereichs einzugehen. Stärker noch als die Allgemeine Literaturwissenschaft leidet die Komparatistik an ihren nach allen Himmelsrichtungen offenen Grenzen. Jeder 74 kennt die zahlreichen Plädoyers für eine vergleichende Kunstwissenschaft, die zwar von der Literatur ausgeht, aber nur um über sie hinauszugelangen: in die Musik (Vertonung von Literatur), die Malerei, die Oper, den Film und die Filmwissenschaft - oder gar die Architektur. Haben wir es hier nicht mit einer „vergleichenden Kulturwissenschaft“ avant la lettre zu tun? Jedenfalls kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß eine Auflösung der literarischen Komparatistik in „Kulturwissenschaft“ oder Cultural Studies noch schneller zu bewerkstelligen wäre als die der Allgemeinen Literaturwissenschaft oder des literary criticism. Betrachtet man die Vergleichende Literaturwissenschaft in einer interkulturellen Perspektive, so stellt man fest, daß die Bezeichnung Comparative Literature in der britischen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation etwas anderes bedeutet als in der deutschen oder französischen. Comparative Literature. A Critical Introduction (1993) nennt Susan Bassnett ihre Einführung, die sich von deutschen und französischen Einführungen durch die Marginalisierung der Literatur abhebt. Sie stellt eine Art „Kulturwissenschaft“ („Cultural Studies“) avant la lettre dar. Einige Titel aus dem Inhaltsverzeichnis verdeutlichen, was gemeint ist: „Comparative Identities in the Post-Colonial World“, „Constructing Cultures: the Politics of Travellers’ Tales“, „Gender and Thematics: The Case of Guinevere“. Immerhin endet das Bändchen mit den „Translation Studies“, so daß sich der Leser vor seiner Lektüre noch der vagen Hoffnung hingeben kann, daß die literarische Übersetzung mit einem gewissen Gewicht versehen wird. Weit gefehlt: Die Kollegin aus Warwick, die sich selbst nicht primär als literary critic versteht, sondern als Übersetzungswissenschaftlerin, schließt ihre Betrachtung mit dem folgenden Absatz: „Comparative literature as a discipline has had its day. Cross-cultural work in women’s studies, in postcolonial theory, in cultural studies has changed the face of literary studies generally. We should look upon translation studies as the principal discipline from now on, with comparative literature as a valued but subsidiary subject area.“ 18 Diese Textpassage ist für das ganze Buch charakteristisch, einerseits weil sie erkennen läßt, daß Logik nicht die Stärke der Autorin ist (wenn die Aussage „comparative literature as a discipline has had its day“ gilt, dann kann diese Disziplin nicht zu einer „valued but subsidiary area“ ausgerufen werden); sie zeigt andererseits, wie mächtig der zeitgenössische Trend ist, Literaturwissenschaft mitsamt ihrem Gegenstand an die Peripherie des kulturwissenschaftlichen Geschehens zu verbannen. 18 S. Bassnett, Comparative Literature. A Critical Introduction, Oxford, Blackwell, 1993, S. 160. 75 Schließlich verdeutlicht sie, daß der Objektbereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft international und interkulturell ebenso umstritten ist wie der Gegenstand der Allgemeinen Literaturwissenschaft, der critique littéraire oder des literary criticism. Der Umstand, daß Susan Bassnetts Vorschlag zur Neubestimmung oder Abschaffung des komparatistischen Objektbereichs weder in Großbritannien noch in anderen europäischen Ländern, weder in den USA noch in Kanada konsensfähig ist, ist ein schaler Trost. Denn auch ihr Buch zeigt, wie sehr Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft beim Übergang von einem Kulturbereich in den anderen vom Zerfall bedroht sind. In dieser prekären Situation ist guter Rat teuer. Aber das Vorhaben der 1960er und 70er Jahre, die Literaturwissenschaft als Sozialwissenschaft weiterzuentwickeln war möglicherweise gar nicht so absurd. Vor allem in einer Zeit, in der die alten Geisteswissenschaften dazu neigen, sich selbst als „Kulturwissenschaften“ neu zu definieren, wäre die Literaturwissenschaft gut beraten, Anschluß an die anthropologischen, soziologischen und semiotischen Methoden und Methodendiskussionen zu suchen, zumal auch sie den Kulturbegriff für sich wiederentdeckt hat. Dieser Begriff war aber schon immer zentraler Terminus der Semiotik, der Soziologie und der Anthropologie, die im Gegensatz zu der herbeigezauberten „Kulturwissenschaft“ (im Singular! ) bahnbrechende empirische Studien zu verschiedenen Aspekten der Kultur vorweisen können. Literaturwissenschaft als Sozialwissenschaft (nicht nur als Soziologie) hat sicherlich eine Zukunft, zumal sich auch eine ihrer wichtigsten Nachbardisziplinen, die Medienwissenschaft, an den sozialwissenschaftlichen Methoden der Soziologie und der Semiotik orientieren muß, die zu den Grundlagen der Literaturwissenschaft gehören. V. Komparatistische Forschung: Kulturelle Bedingtheit und kulturelle Vielfalt Interkulturalität als Zusammentreffen verschiedener Sprachen, Kulturen und Wertsysteme, als Stich- und Schlagwort ist zwar in aller Munde, aber nur die wenigsten denken, sprechen und handeln interkulturell. Mehrsprachige Buchhandlungen sind eine Seltenheit, und in den Köpfen der Menschen sieht es so ähnlich aus wie auf den Bücherregalen der Händler: einsprachig. Das Denken im Rahmen einer bestimmte Sprache oder Kultur scheint die Norm zu sein, und diese Norm schlägt sich sowohl im kulturellen als auch im wissenschaftlichen Alltag nieder. Neuere Werke der italienischen Literatur wie Gianfranco Bettins Nemmeno il destino (1997) oder Giuseppe Culicchias Bla, bla, bla (1997) erregen im deutschen Sprachraum, dessen Literaturkritiker auf das Neueste von Botho Strauß, Peter Handke oder Robert Schneider warten, kaum die Gemüter. Von der Philosophie und der Wissenschaft, auch von der Literaturwissenschaft, erwartet man eine internationale Ausrichtung, muß aber immer wieder feststellen, daß sich französische Gedankengänge in diesen Bereichen in ganz anderen Bahnen bewegen als englische oder amerikanische, und daß englische Denkmuster anders geknüpft sind als deutsche. Die Tatsache, daß der amerikanische Dekonstruktivist Geoffrey H. Hartman von einem „französischen Denken“ („French thinking“) 1 spricht, dem wir die Wiederentdeckung Nietzsches verdanken, läßt u.a. erkennen, daß er die Gegensätze zwischen Foucault und Derrida oder Baudrillard und Foucault nicht wahrnimmt und die französische Diskussion recht distanziert betrachtet (was auch Vorteile haben mag). Daß die französische Nietzsche-Rezeption oft recht einseitig ist und sich mit deutschen Nietzsche-Interpretationen kaum berührt, zeigen Deleuzes Kommentare zu Nietzsche und ein Vergleich mit Habermas’ Nietzsche- Kritik. 2 Daß Habermas selbst Derridas Werk in englischer Sprache und über den amerikanischen Vermittler J. Culler rezipiert, zeugt von der Verschiedenheit der französischen und der deutschen sprachlich-gesellschaftlichen 1 G. H. Hartman, Saving the Text. Literature / Derrida / Philosophy, Baltimore-London, The Johns Hopkins Univ. Press, 1981, S. 28. 2 Vgl. G. Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris, PUF, 1962, 1994 (9. Aufl.), S. 36-38: Deleuze vergleicht Nietzsches Textauffassung mit der Mallarmés und weist immer wieder auf die Körperlichkeit (Materialität) des Textes und dessen Pluralität hin. Im Gegensatz dazu liest Habermas Nietzsche eher im Anschluß an die hermeneutische Tradition und die Subjektphilosophie: Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S. 106-107. 78 Bedingungen. 3 Denn ein aus dem Französischen ins Englische übersetztes dekonstruktivistisches Werk bedeutet im deutschen Kontext etwas anderes als im Ursprungsland, wo es primär als eine polemische Auseinandersetzung mit Saussures Rationalismus gelesen wird, oder in den USA, wo man es mit der in Yale entstandenen „einheimischen“ Dekonstruktion assoziiert. 4 Diese einleitenden Überlegungen führen zu der These, daß Komparatistik als Vergleichende Literaturwissenschaft - ebenso wie die Vergleichende Rechtswissenschaft, Vergleichende Sprachwissenschaft oder Vergleichende Soziologie - kulturell bedingt oder kulturspezifisch ist. In jedem Kulturbereich wird sie anders aufgefaßt, anders definiert, institutionalisiert und gelehrt. Dies ist wohl der Grund, weshalb sie in zunehmendem Maße ihre eigenen interkulturellen Komponenten entdeckt und sich der inzwischen auch von der Soziologie 5 aufgeworfenen Frage öffnet, wie Vergleiche überhaupt möglich sind und wie die kulturelle Bedingtheit der Wissenschaft im allgemeinen und der Vergleichenden Literaturwissenschaft im besonderen zu beschreiben und zu verstehen ist. Es geht also um die Selbstreflexion der Komparatistik im gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext: Aufgrund ihrer interkulturellen Beschaffenheit muß sie - gleichsam auf Metaebene - sich selbst zum Gegenstand werden. Denn ohne diese Selbstreflexion ist ein Dialog mit anderen Wissenschaften und Kulturen nur schwer vorstellbar. 1. Kultur als sozio-linguistische Situation: Soziolekte und Diskurse Mit der Frage, was Kultur sei, haben sich Anthropologen, Soziologen und Kultursemiotiker befaßt und Kultur auf verschiedene, jedoch durchaus komplementäre Arten definiert. Aus anthropologischer Sicht erscheint Kultur - nach Clyde Kluckhohn - als „das System der sichtbaren und unsichtbaren Aspekte der gesamten menschlichen Umwelt, die von Menschen geschaffen wurden“. 6 Diese anthropologische Definition des kleinsten gemeinsamen Nenners ergänzt der Soziologe Talcott Parsons, wenn er in The Social System (1951) zum Kulturbegriff bemerkt: „Es ist eine Frage von 3 Ibid., S. 212-214. 4 Vgl. J. Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek, Rowohlt, 1988, S. 195-197. 5 Vgl. J. Matthes, Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 1992. 6 C. Kluckhohn, „The Study of Culture“, in: L. A. Coser, B. Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, London-New York, Macmillan, 1966, S. 40. 79 Glaubensinhalten, von besonderen Systemen expressiver Symbole oder gar von moralischen Wertorientierungsmustern, solange diese nur ‚Annahme‘ (‚acceptance‘) und nicht aktive Verwirklichung erfordern. Diese werden hier als kulturelle Institutionen bezeichnet.“ 7 In mancher Hinsicht ergänzt Jurij Lotmans Auffassung der Kultur als Kulturtext die anthropologischen und soziologischen Definitionen, weil Kultur vom Semiotiker als die Gesamtheit der in einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt bekannten Texte dargestellt wird: als das Zusammenwirken aller verbalen und nichtverbalen, gesprochenen und geschriebenen Textarten. Die Annahme (acceptance) dieser Textarten als Vertrautheit mit einem besonderen nationalen oder regionalen Seinsmodus bildet den kleinsten gemeinsamen Nenner, d.h. die Kultur einer Gesellschaft. Diese Definitionen haben zwar den Vorteil, daß sie Kultur in ihrer Gesamtheit als System von verbalen und nichtverbalen Zeichen erfassen; sie haben aber den Nachteil, nicht spezifisch genug zu sein, wenn es um die Interaktion von geschriebenen und gesprochenen Texten geht, und ideologische Konflikte zwischen den verschiedenen Sprachformen einer Gesellschaft außer acht zu lassen. Dazu bemerken Bachtin und Vološinov in ihrer Kritik an der synchronen Linguistik Saussures: „Wir sprechen in Wirklichkeit keine Wörter aus und hören keine Wörter, sondern hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes, Angenehmes oder Unangenehmes usw. Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt.“ 8 Im Anschluß an diese Überlegungen der beiden russischen Autoren wird hier Kultur auf die sprachliche Kultur eingegrenzt (die für Literatur und Literaturwissenschaft ausschlaggebend ist) und als sprachliche, genauer sozio-linguistische Situation definiert. Eine solche Situation wird nicht nur durch acceptance im Sinne von Parsons, sondern auch durch Ablehnung und Konflikt im Sinne von Bachtin und Vološinov gekennzeichnet. Kultur als sozio-linguistische Situation kann zunächst als die Gesamtheit der interagierenden natürlichen (ethnischen) Sprachen und der ideologischen oder spezialisierten (fachlichen) Gruppensprachen aufgefaßt werden. Vor allem in mehrsprachigen Ländern oder Gegenden kommt es immer wieder zur Sprachmischung, zu einer „eteroglossia del testo“ 9 , wie Frances- 7 T. Parsons, The Social System, London, Routledge & Kegan Paul, 1951, S. 52. 8 V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, (hg. und eingeleitet von S. M. Weber), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1975, S. 126. 9 Vgl. F. Stella, „Eteroglossia del testo e comparazione interculturale“, in: Interculturalità. Antropologia, Religioni, Letterature. Testimonianze 4-5 (April / Mai), 1996: „La cultura ha bisogno per il suo stesso funzionamento di un estraneo (...)“, S. 102. 80 co Stella sagt, die von einem Gedicht des zeitgenössischen istrischen Autors Daniel Na inovi (geb. 1952) veranschaulicht wird, der einen lyrischen Gruß aus dem polnischen Zakopane in seine Heimat schickt: Gruß aus Garofuli u mižolu a na stolu kartulina. Indiric je: Zakopane Rozmanowsky Karolina Jestem zdrów und es geht mir ziemlich gut hier, kako lani. Sono sano e sto bene: Kaplar N. N. Vranicany (Nelken in der Vase / und am Tisch eine Karte [istrisches Kroatisch] / Adresse: / Zakopane / Rozmanowsky Karolina. / Bin gesund [poln.] / und es geht mir / ziemlich gut hier, wie im Vorjahr [kroat. / slow.] / Ich bin gesund und es geht mir gut: [ital.] / Kaplar / N. N. Vranicany.) 10 Na inovi s Gedicht, das mehrsprachig ist und folglich keinem Sprachbereich eindeutig zugerechnet werden kann, gibt gleichsam synekdochisch die sozio-linguistische Situation der Halbinsel Istrien wieder: Verschiedene Sprachen (Deutsch, Italienisch, Kroatisch, Polnisch und Slowenisch) treffen aufeinander und bilden einen relativ zusammenhängenden Text, der Ansichtskartengrüße (kartulina) nachahmt und parodiert. Die Parodie kommt u.a. anderem durch eine sprachliche Polyphonie zustande, die Grußklischees aus verschiedenen Sprachen miteinander verquickt. Isoliert betrachtet würde keine der Grußformen - etwa sono sano e sto bene - unsere Aufmerksamkeit erregen; erst die mehrsprachige Verflechtung der einzelnen Grüße bewirkt den vom Autor (wahrscheinlich) intendierten parodistisch-komischen Effekt. Für eine Soziosemiotik, die sich die interkulturelle Betrachtungsweise zu eigen macht, ist Na inovi s Gedicht insofern anregend, als es die mehrsprachige Intertextualität veranschaulicht, die nicht nur für Istrien, sondern auch für Südtirol, die Schweiz und andere mehrsprachige Regionen Europas 10 D. Na inovi , „Gruß aus“, in: J. Strutz (Hrsg.), Istrien (Europa Erlesen), Klagenfurt, Wieser, 1997, S. 196-197. 81 kennzeichnend ist. 11 Zugleich ist es ein Beispiel für Intertextualität tout court, für einen Vorgang, den Julia Kristeva im Anschluß an Bachtin (s.o.) als bewußte oder unbewußte Reaktion eines Autors auf das gesprochene oder geschriebene Wort in einer bestimmten sozio-historischen Situation definiert hat. 12 Im Zusammenhang mit dem bisher Gesagten könnte man Intertextualität auch als bewußte oder unbewußte Verarbeitung der jeweils gegenwärtigen sozio-linguistischen Situation auffassen: als Auseinandersetzung mit bestimmten natürlichen Sprachen, Fachsprachen oder ideologischen Sprachen, die das Denken einer Schriftsteller-, Philosophen- oder Wissenschaftlergeneration gerade bewegen. Bezeichnet man die Fachsprachen und die ideologischen Sprachen als Soziolekte (Gruppensprachen, kollektive Rhetoriken), in denen beliebig viele Diskurse als semantisch-narrative Strukturen 13 entstehen können, so kann man die sozio-linguistische Situation konkreter als ein ständiges Zusammenwirken von Soziolekten und Diskursen auffassen. Dabei ist es wichtig zu bedenken, daß ein Soziolekt (analog zu Saussures langue als System) ein unversiegbares Repertoire ist, aus dem unzählige Diskurse hervorgehen können. Der marxistische oder feministische Soziolekt ist mit anderen Soziolekten kombinierbar und kann viele verschiedene - marxistischfeministische, ökofeministische, ökomarxistische, christlich-marxistische, psychoanalytisch-marxistisch-feministische oder feministisch-dekonstruktivistische - Diskurse hervorbringen. Die sozio-linguistische Situation ist eine dynamische und offene Einheit, die stets neue diskursive Formen, neue sprachliche Kombinationen zeitigt. Eine in den 1920er Jahren neue Kombination dieser Art war zweifellos der französische Surrealismus, der als radikaler und extrem produktiver Soziolekt die Sprachen der europäischen Romantik (G. de Nerval, E. T. A. Hoffmann) mit Apollinaires Poetik, der Freudschen Psychoanalyse, Lautréamonts Les Chants de Maldoror, dem Marxismus und zahlreichen anderen Diskursen verknüpfte. Das Ergebnis war eine aggressive und explosive Sprachmischung, die Breton (als „mon intertexte“, würde Roland Bar- 11 Vgl. G. Kofler, Schreiben ist eine andere Sprache. Über Möglichkeiten der Literatur im bikulturellen Südtiroler Kontext, in: J. Strutz, P. V. Zima (Hrsg.), Komparatistik als Dialog, Frankfurt-Bern-Paris, Peter Lang, 1991, S. 19-25. 12 Vgl. J. Kristevas Kommentare zu Bachtins Theorie des Dialogs in: J. Kristeva „Le Mot, le dialogue et le roman“, in: dies., Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris, Seuil, 1969, S. 144. 13 Der Diskurs wird hier mit A. J. Greimas als semantisch-narrative Struktur aufgefaßt, für die ein sprechendes Subjekt als Aktant des Aussagevorganges verantwortlich ist und in der handelnde Subjekte als Aktanten der Aussage auftreten. Vgl. „Discours“, in: A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979. 82 thes sagen) auf seine Art beschreibt: „Mais si ma propre ligne, fort sinueuse, j’en conviens, du moins la mienne, passe par Héraclite, Abélard, Eckhardt, Retz, Rousseau, Swift, Sade, Lewis, Arnim, Lautréamont, Engels, Jarry et quelques autres? Je m’en suis fait un système de coordonnées à mon usage (...).“ 14 Der letzte Satz läßt erkennen, wie hier aus vielen disparaten Diskursen etwas Neues entsteht, etwas Besonderes und Einmaliges, das für die sozio-linguistische Situation Frankreichs der 1920er und 30er Jahre charakteristisch ist. 15 Obwohl der Surrealismus durchaus als internationale und interkulturelle Erscheinung darstellbar ist, d.h. als avantgardistischer Sprachgebrauch, der so verschiedene Kulturen wie die französische, die englische, die deutsche, die serbische, die spanische und die tschechische miteinander verbindet, bleibt er aufs engste mit der französischen Sprache und Kultur verwachsen. Im englischen und deutschen Sprachbereich tritt er als marginaler Soziolekt - neben dem englischen Vorticism und dem deutsch-österreichischen Expressionismus - auf. Nur in Ländern wie Serbien und der Tschechoslowakei, deren Kulturen der 1920er und 30er Jahre von einem starken politischen penchant für Frankreich geprägt waren, nimmt der Surrealismus zeitweise eine zentrale Stellung ein - etwa in den Werken des Serben Marko Risti oder des tschechischen Avantgardisten Vít zslav Nezval. 16 Welche Bedeutung haben nun diese Erkenntnisse für die komparatistische Forschung? Sie zeigen 1. daß literarische Texte (etwa Na inovi s Gedicht) und ganze Strömungen wie der französische Surrealismus besondere, einmalige Erscheinungen sind, die eine einmalige sozio-linguistische Situation (einen Kulturtext, würde Lotman sagen) gebündelt darstellen und nicht ohne weiteres in andere Kulturen übertragbar sind. Na inovi s Text ist unübertragbar. 17 2. Werden sie übertragen, so spielen sie eine marginale Rolle, die Rolle eines fremden Soziolekts: etwa des deutschen Expressionismus in Frankreich, des französischen Surrealismus in England oder des französischen Existentialismus in den englischsprachigen Ländern, in Italien oder den Niederlanden. 18 3. Die Übertragung eines fremden - literarischen, 14 A. Breton, Manifestes du surréalisme, Paris, Gallimard, 1969, S. 166. 15 Indirekt geht J. Dubois in L’Institution de la littérature, Paris, Nathan-Labor, 1978 auf die sprachliche Situation im Zusammenhang mit dem Schulsystem ein: S. 98-102: „L’enseignement des lettres“. 16 Vgl. M. Risti , Turpituda (1938), Zagreb, Reprint, 1972. 17 Zur Übertragbarkeit / Unübertragbarkeit literarischer Texte vgl. Vf., „Der unfaßbare Rest. Übersetzung zwischen Dekonstruktion und Semiotik“, in: J. Strutz, P. V. Zima (Hrsg.), Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur, Tübingen, Narr, 1996, S. 25-33. 18 In den Niederlanden blieb die Übertragung existentialistischer Topoi in die Literatur eher eine Randerscheinung und ist auf Sartres und Camus’ Einfluß zurückzuführen: Vgl. H. Mulisch, Het zwarte licht, Amsterdam, Bezige Bij, 1956, S. 23. 83 philosophischen oder wissenschaftlichen Soziolekts - in eine neue soziolinguistische Situation bringt stets Verzerrungen, Mißverständnisse, aber auch Neuschöpfungen mit sich - wie die Nietzsche- und Heidegger- Rezeption im zeitgenössischen Frankreich zeigt. 2. Die Komparatistik als interkulturelle und ihre eigene Kulturalität reflektierende Theorie: Zwischen Partikularismus und Universalismus Im Anschluß an diese drei Überlegungen könnte man das hier angeschnittene Problem als Antinomie im Sinne von Kant auffassen: Literarische, philosophische und sozialwissenschaftliche (soziologische, anthropologische, semiotische) Soziolekte und Diskurse sind einerseits einmalig und partikular, d.h. der Besonderheit einer Kultur als sozio-linguistischer Situation verpflichtet; andererseits streben sie als ästhetische und theoretische Diskurse nach Allgemeingültigkeit. Schließlich hatten die französischen Surrealisten nicht vor, nur die Franzosen von der Verkrustung des bürgerlichen Bewußtseins zu befreien, sondern alle Menschen; auch Sartre und Camus sprachen als Philosophen und Schriftsteller nicht nur zu ihrem Volk, sondern zu allen Lesern oder Zuschauern. Möglicherweise löst sich auch diese Antinomie zwischen Partikularismus und Universalismus auf, wenn man die Komparatistik nicht nur als Vergleichende Literaturwissenschaft, sondern als vergleichende Theorie oder Metatheorie im allgemeinsten Sinne mit der hermeneutischen Aufgabe betraut, die kulturelle und sprachliche Bedingtheit von Literaturen und Theorien sowie ihre eigene Bedingtheit zu reflektieren, um einen Dialog zwischen heterogenen Standpunkten zu ermöglichen. 19 „Ich gebe indessen zu bedenken“, bemerkt der Germanist Alois Wierlacher, „daß auch die tatsächliche und spezifische Kultur(en)gebundenheit der Wissenschaften in der Forschung und der Lehre ihre Grenzen hat.“ 20 Das ist sicherlich der Fall, aber Wierlacher hat auch recht, wenn er hinzufügt, daß „der Umfang unserer Kulturgebundenheit bis heute völlig unbekannt“ 21 ist. Schon deshalb erscheint es sinnvoll, sich in dem hier entworfenen Kontext 19 Vgl. Vf. „Komparatistik als Metatheorie. Zu interkulturellen und interdisziplinären Perspektiven in der Vergleichenden Literaturwissenschaft“, in: L. Danneberg, F. Vollhardt (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? , Stuttgart-Weimar, Metzler, 1996, S. 532-549. 20 A. Wierlacher, „Interkulturalität. Zur Konzeptualisierung eines Leitbegriffs interkultureller Literaturwissenschaft“, in: H. de Berg, M. Prangel (Hrsg.), Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Steinmetz, Heidelberg, Winter, 1999, S. 158. 21 Ibid. 84 Gedanken über das Ausmaß der kulturellen Bedingtheit von Theorien zu machen. Zunächst kann festgestellt werden, daß Naturwissenschaften und technische Wissenschaften - etwa Physik und Informatik - nicht in dem Ausmaß kulturell bedingt sind wie die Geistes- und Sozialwissenschaften: nicht nur weil Physiker und Informatiker in zunehmendem Maße das Englische als lingua franca verwenden, sondern auch und vor allem deshalb, weil sich kollektive und individuelle Werturteile (als politische, ethische oder ästhetische Urteile) nicht in den Diskursen dieser Wissenschaftler niederschlagen. Es gibt in diesem Sinne keine spezifisch spanische, katalanische oder andalusische, marxistische, feministische oder konservative Physik oder Informatik. Die Sprache der Physiker oder Informatiker fällt mit dem universell geltenden fachsprachlichen Soziolekt der Physik oder Informatik zusammen. Dennoch ist es nicht überflüssig, sich mit der Frage zu befassen, inwiefern die europäische (später die nordamerikanische und die japanische) Kultur als Rationalisierungsprozeß im Sinne von Max Weber die Entstehung zweckrational organisierter technischer Wissenschaften begünstigt, während andere Kulturen dies nicht tun. 22 Selbstverständlich ist es nicht möglich, dieser Frage nachzugehen, ohne die Grenzen dieser Betrachtung zu überschreiten. Vorerst mag die Feststellung genügen, daß diese allgemeine Bedingtheit im Sinne eines global ermöglichten Rationalisierungsprozesses sowohl für die technischen („exakten“) Wissenschaften als auch für die Sozialwissenschaften gilt. Philosophie, Soziologie, Semiotik und Literaturwissenschaft sind jedoch in einem ganz anderen Sinne kulturell bedingt als Physik oder Informatik: Zunächst sind sie an eine natürliche Sprache wie das Deutsche, das Französische oder das Englische gebunden. Diese Bindung verursacht immer wieder Übersetzungsschwierigkeiten und führt zu Mißverständnissen, die u.a. darauf zurückzuführen sind, daß Termini aus der deutschsprachigen Philosophie und Soziologie wie Weltanschauung (Mannheim, Jaspers), Erwartungshorizont (Mannheim, Gadamer, Jauß) oder Lebenswelt (Husserl, Schütz, Habermas) nicht ohne Sinnverschiebungen ins Englische, Französische oder Spanische zu übersetzen sind. Ein Adjektiv wie „weltanschaulich“ ist schier unübersetzbar - ähnlich wie Heideggers Zuhandensein oder In- Die-Welt-Geworfensein. Termini wie software und hardware haben einen ganz anderen sprachlichen Status: Selbst dort, wo sie übersetzt werden, bleibt ihre Bedeutung konstant (wie die künstlich monosemierten Bedeutungen in technischen Wörterbüchern). 22 Vgl. M. Weber, „Vom inneren Beruf zur Wissenschaft“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Körner, 1973, S. 316- 319. 85 Philosophische, soziologische oder literaturwissenschaftliche Theorien sind jedoch nicht nur an natürliche Sprachen gebunden (wie Daniel Na inovi s Gedicht), sondern auch an die Soziolekte einer spezifischen soziolinguistischen Situation. Während im deutschen Sprachraum die Soziologie Max Webers und seiner Schüler u.a. aus der Gruppensprache der Neukantianer (Lask, Rickert, Windelband) hervorging, kam in Frankreich die Durkheimsche Soziologie (Durkheim, Mauss, Halbwachs, Fauconnet) als eine Synthese der Diskurse Comtes, Montesquieus und Rousseaus zustande. In der französischen sprachlichen Situation hatten diese Diskurse eine ebenso starke Nachwirkung wie die kantianischen (und hegelianischen) in Deutschland. Dies ist einer der Gründe, weshalb Durkheims und Webers Ansätze - fait social (Durkheim-Mauss) und soziales Handeln (Weber) - nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen sind. So ist es auch zu erklären, daß in den 1960er und 70er Jahren westdeutsche und französische Marxisten nicht immer erfolgreich diskutierten: Während im deutschen Sprachraum Marxisten immer wieder hermeneutische Erklärungsmuster gegen den Kritischen Rationalismus (den sie als „Positivismus“ bezeichneten) ins Feld führten, beriefen sich Althusser und seine Schüler auf eine philosophische Tradition, die dem Kritischen Rationalismus gar nicht unähnlich ist: auf den Rationalismus Gaston Bachelards, der (wenn auch unter anderen Voraussetzungen) ebenfalls von der These ausgeht, daß sich wissenschaftliche Aussagen zu bewähren haben, d.h. daß das negative Prinzip der Widerlegung gilt. 23 In der Literaturwissenschaft sind vergleichbare interkulturelle Barrieren zwischen Deutschland und Frankreich aufgetaucht: z.B. als die von Karl Mannheim 24 in die Diskussion eingeführte Metapher des Erwartungshorizonts von dem Philosophen Gadamer und dem Literaturwissenschaftler Jauß wieder aufgegriffen und in den französischen Gadamer- und Jauß- Übersetzungen (Vérité et méthode, Pour une esthétique de la réception) ins Französische übertragen wurde. 25 In seiner Rezension von Jauß’ Pour une esthétique de la réception beanstandet Sami Naïr zwar den vagen Charakter der Metapher Erwartungshorizont / horizon d’attente, geht aber mit keinem Wort auf die Entstehungsgeschichte dieser Metapher im deutschen Kontext ein: auf ihre Nähe zu den Begriffen der Aspektstruktur und der Weltanschauung beim frühen Mannheim, auf ihren Stellenwert in Gadamers hermeneutischer Interaktion von Frage und Antwort und auf ihre kritisch- 23 Vgl. G. Bachelard, La Philosophie du non, Paris, PUF (1940) 1983 (9. Aufl.), S. 32: „Il n’y a qu’un moyen de faire avancer la science, c’est de donner tort à la science déjà constituée (...).“ 24 Vgl. K. Mannheim, Strukturen des Denkens (Hrsg. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr), Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 230. 25 Vgl. H. R. Jauß, Pour une esthétique de la réception, Paris, Gallimard, 1978. 86 ästhetische Umdeutung bei Jauß, die sich gegen Gadamers konservative Einstellung richtet. Anders gesagt: Naïr abstrahiert von der deutschen Diskussion, von der sozio-linguistischen Situation, in der die Metapher entstanden ist. 26 Hier zeigt sich, daß ein theoretischer Diskurs und seine Schlüsselbegriffe nur abstrakt, d.h. inadäquat verstanden werden, wenn man sie aus der sozio-linguistischen Situation, aus der sie hervorgegangen sind, herauslöst. Auch komparatistische Theorien sind in diesem Sinne kulturspezifisch: auch sie sind an sprachliche Situationen gebunden, die von Land zu Land verschieden sind und noch am ehesten als Momente oder synekdochische Resümees von besonderen Diskussionen zu verstehen sind. Während in Frankreich Paul Hazards Werk 27 die histoire des idées inspiriert hat, die in keiner französischen Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft fehlen darf, schlägt sich in Susan Bassnetts Comparative Literature die anglo-amerikanische sprachliche Situation nieder: „Beyond the Frontiers of Europe“, „Comparative Identities in the Post-Colonial World“, „Constructing Cultures: the Politics of Travellers’ Tales“ etc. 28 Somit erscheint jede Darstellung der Vergleichenden Literaturwissenschaft - der Soziologie, der Semiotik - als ein Ergebnis spezifischer Diskussionen, die im Kontext einer besonderen nationalen oder regionalen soziolinguistischen Situation stattfinden oder stattgefunden haben. Es genügt freilich nicht, sich mit dieser Einsicht in den partikularen Charakter von geistes- oder sozialwissenschaftlichen Theorien zu begnügen; denn jede Theorie strebt per definitionem nach Allgemeingültigkeit und Kommunizierbarkeit. Diese scheint nur auf dialogischem Wege erreichbar zu sein. 3. Komparatistik als dialogische Theorie Die hermeneutisch-semiotische Einsicht in die Partikularität, die kulturelle Bedingtheit und Begrenztheit der eigenen Theorie, die aus der hier skizzierten Selbstreflexion hervorgeht, ist ein erster Schritt aus dieser Begrenztheit hinaus: von der Partikularität zur Universalität. Ähnlich wie in den anderen Geistes- und Sozialwissenschaften kann in der Vergleichenden Literaturwissenschaft diese Begrenztheit nicht durch die Einführung einer für alle ver- 26 Vgl. S. Naïr, „Connaissance des textes et montage polémique. A propos de Pour une esthétique de la réception de H. R. Jauss“, in: A. Goldmann, S. Naïr (Hrsg.), Essais sur les formes et leurs significations, Paris, Denoël-Gonthier, 1981, S. 25. 27 Vgl. P. Hazard, La crise de la conscience européenne, 1680-1715 (2 Bde.), Paris, Plon, 1935. 28 S. Bassnett, Comparative Literature. A Critical Introduction, Oxford, Blackwell, 1993, Inhaltsverzeichnis. 87 bindlichen Universalsprache 29 überwunden werden. Denn eine Universalsprache ist nur dort möglich, wo Besonderheiten der natürlichen Sprache oder eines Soziolekts (einer Gruppensprache: z. B. des Kritischen Rationalismus, der Kritischen Theorie oder der Dekonstruktion) keine Rolle spielen. In einer technischen Sprache wie der Informatik ist das der Fall: In ihrem Bereich verbindet ein terminologischer und diskursiver Konsens alle Diskussionsteilnehmer, deren Meinungsverschiedenheiten fast immer logisch-technischer, nicht jedoch politischer oder ideologischer Art sind. (Wobei man davon ausgehen kann, daß Entscheidungen über die Anwendung von Informatik - etwa im strategischen Bereich - nicht zum eigentlichen Gegenstand der Informatiker gehören, sehr wohl jedoch zu ihrem Berufsethos.) In der Literaturwissenschaft (in der Soziologie, der Psychologie oder der Semiotik) sehen die Verhältnisse erwartungsgemäß anders aus: Hier ist eine für alle akzeptable Universalsprache unvorstellbar, weil jede Literaturtheorie, jede Komparatistik besondere, gruppenspezifische Interessen artikuliert, die sich nicht nur in der Gegenstandsbestimmung, sondern auch in der Terminologie, der Semantik und dem narrativen Ablauf der Diskurse niederschlagen (wobei ein Diskurs als semantisch-narrative Struktur im Sinne von Greimas definiert wird). 30 So sind beispielsweise Jauß’ wertbefrachteter semantischer Gegensatz zwischen Produktion und Rezeption, die hermeneutische Fundierung seiner Theorie sowie deren Ausrichtung auf den Rezipienten und die dem Diskurs innewohnende Polemik gegen die marxistische Produktionsästhetik alles andere als konsensfähig. Analog dazu fehlt es Susan Bassnetts Plädoyer für eine auf die „post-colonial world“ ausgerichtete Komparatistik, die schließlich in der Übersetzungswissenschaft aufgehen soll, an Konsensfähigkeit. 31 Es geht hier um die Frage, wie mit solchen Diskursen, deren Partikularität offen zutage liegt, umzugehen sei. Da es nicht möglich ist, sie aufgrund eines allgemeingültigen Universaldiskurses als partikulare Irrlehren zu disqualifizieren, zu ex-kommunizieren, bleibt nur eine Lösung: die dialogische. Die Komparatistik als Metatheorie 32 ist geradezu prädestiniert, den dialogischen Weg zu ebnen und eine Diskussion zwischen kulturell heterogenen Theorien zu ermöglichen. Denn der Komparatist befaßt sich nicht nur mit Literaturen in verschiedenen Sprachen, sondern auch mit philosophi- 29 In der Wissenschaftstheorie hat z.B. Otto Neurath versucht, eine Universalsprache nach physikalischem Vorbild zu entwerfen: Vgl. O. Neurath, „Universaljargon und Terminologie“, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. II (Hrsg. R. Haller, H. Rutte), Wien, Hölderlin-Pichler-Tempsky, 1981, S. 901-918. 30 Vgl. Anm. 11. 31 S. Bassnett, Comparative Literature, op. cit., S. 161. 32 Vgl. Anm. 17. 88 schen, soziologischen und psychologischen Theorien, die mit diesen Literaturen oftmals aufs engste verflochten sind. Zur Wiener Moderne gehört die von Schnitzler und anderen Schriftstellern rezipierte Psychoanalyse ebenso, wie zur Pariser Moderne die existentialistischen Philosophien gehören - zusammen mit Sartres „Questions de méthode“ in Critique de la raison dialectique. Es gehört zu den Aufgaben des Komparatisten, die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Theorie zu beschreiben und die Kulturabhängigkeit beider Textsorten im Rahmen von bestimmten sozio-linguistischen Situationen zu erklären. Die Erkenntnis dieser Bedingtheit bildet die Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Dialog zwischen kulturell heterogenen Theorien. Die Komparatistik ist insofern eine dialogische Theorie, als sie die kulturellen, gesellschaftlichen und sprachlichen Entstehungsbedingungen theoretischer Diskurse reflektiert und dadurch ihre spezifischen Erkenntnisinteressen, Begriffsbildungen und Werturteile bloßlegt. Ohne eine solche Reflexion auf Metaebene kommt bestenfalls ein Taubstummendialog zustande. Der schottische Psychologe, der die Freudsche Psychoanalyse als metaphysischen Unsinn verurteilte und nur die empirische (experimentelle) Psychologie gelten ließ (einen mit dem britischen Empirismus eng verwandten Diskurs), hätte Freuds Texte möglicherweise mit anderen Augen gelesen, wenn er außer Schnitzlers Traumnovelle auch die Werke von Mach, Musil und Bahr gekannt hätte. Möglicherweise wäre sein Unverständnis dann einer ironischen Annäherung an Freuds Sprache gewichen. Es ist eine der Aufgaben des Komparatisten, einer solchen Annäherung Vorschub zu leisten: und zwar durch eine hermeneutisch-semiotische Rekonstruktion des ursprünglichen gesellschaftlichen und sprachlichen Zusammenhangs. 33 4. Zur Gegenstandsbestimmung und Didaktik der Komparatistik in arbeitsteiliger Zeit Susan Bassnetts Versuch, die Vergleichende Literaturwissenschaft in der Übersetzungswissenschaft und den postcolonial studies aufgehen zu lassen, läßt bereits vermuten, daß der Objektbereich der literarischen Komparatistik nicht klar definiert und seine Eingrenzung nicht konsensfähig ist. Daß wir in dieser Hinsicht von einem Konsens recht weit entfernt sind, läßt auch die Einführung in die Allgemeine Literaturwissenschaft von Barend van Heusden und Els Jongeneel erkennen, deren letztes Kapitel („Comparatistiek“) der Vergleichenden Literaturwissenschaft gewidmet ist. Wer bisher glaubte, 33 Vgl. Vf., „Komparatistik als dialogische Theorie“, in: ders., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.). 89 im Mittelpunkt komparatistischer Betrachtungen stünde der Literaturvergleich, stößt hier auf eine Gegenmeinung: „Die Komparatistik oder Vergleichende Literaturwissenschaft“, stellen die Autoren unumwunden fest, „befaßt sich vor allem mit der Beziehung zwischen der Literatur und den anderen Kunstformen (...).“ 34 Wie unterscheidet sie sich nun von der Kunstwissenschaft? Liest man diese - sicherlich etwas ungewöhnliche - Neubestimmung des komparatistischen Gegenstandes parallel zu Bassnetts These über die Eingliederung der Komparatistik in die Übersetzungswissenschaft, so dekonstruiert sich das Objekt gleichsam von selbst. Denn die von Jongeneel und van Heusden angepeilte vergleichende Wissenschaft der Künste („relatie tussen literatuur en andere vormen van kunst“) hat mit Bassnetts translation studies so gut wie nichts zu tun. Studierende in den Niederlanden, denen das (statistisch durchaus wahrscheinliche) Mißgeschick widerfährt, die beiden Einführungen parallel zu lesen, werden vollends desorientiert sein und sich aus Verzweiflung einem klarer definierten Fach zuwenden (z.B. der wesentlich nützlicheren Betriebswirtschaftslehre). Es erscheint deshalb sinnvoll, die Komparatistik an dieser Stelle - in didaktisch konstruktiver und methodologisch progressiv-kritischer Absicht - als interkulturelle (zwischensprachliche) Literaturwissenschaft zu bestimmen, die die Wechselwirkung zwischen literarischen und nichtliterarischen (philosophischen, wissenschaftlichen, politischen) Diskursen im Auge behält. Dies bedeutet keineswegs, daß sie auch die histoire des idées / history of ideas 35 aufnehmen muß, die eher in den philosophischen Bereich gehört - oder daß sie gar in der Philosophie aufgeht. Es bedeutet konkret, daß sie als Vergleichende Literaturwissenschaft auch die Gruppensprachen oder Soziolekte berücksichtigt, die zwar nicht zur Literatur im eigentlichen Sinne gehören, die aber das sozio-linguistische Umfeld der literarischen Institution im Sinne von Jacques Dubois bilden. 36 Diese methodologisch unverzichtbare Ausdehnung des komparatistischen Objektbereichs erleichtert die weiter oben skizzierte Selbstreflexion der (Vergleichenden) Literaturwissenschaft, die den Dialog zwischen kulturell heterogenen Theorien ermöglichen soll. Erst wenn der gesellschaftliche, kulturelle und sprachliche Kontext reflektiert wird, in dem eine Theorie (Barthes’ Semiologie, Jauß’ Rezeptionsästhetik oder Paul Van Tieghems Komparatistik) entstanden ist, ist ein konkretes (und nicht nur abstraktes) 34 B. van Heusden, E. Jongeneel, „Comparatistiek“, in: dies., Algemene Literatuurwetenschap, Utrecht, Het Spectrum, 1993, S. 231. 35 Vgl. P. Brunel, Cl. Pichois, A.-M. Rousseau, „Histoire des idées“, in: dies., Qu’est-ce que la littérature comparée? , Paris, Armand Colin, 1983. 36 Vgl. J. Dubois, L’Institution de la littérature, op. cit. 90 Verstehen dieser Theorie möglich. Und ein solches Verstehen bildet die Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Dialog. Allerdings kommt diese Selbstreflexion und wissenschaftstheoretische Neuorientierung der Komparatistik nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern allen Wissenschaften (vor allem den Geistes- und Sozialwissenschaften) zugute, die durch ein dialogisches Selbstverständnis geprägt sind. Denn auch Habermas’ oder Baudrillards sozialphilosophische Diskurse sind an einen besonderen sozio-linguistischen Kontext gebunden, der reflektiert und rekonstruiert werden sollte, bevor eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fremden Diskurs (Habermas’ in Frankreich, Baudrillards oder Lyotards in Deutschland) einsetzt. Wer ist für eine solche Reflexion oder Rekonstruktion besser prädisponiert als der Komparatist, dessen métier die Auseinandersetzung mit dem Fremden ist? Er ist außerdem in der Lage, die Auswirkungen der Übersetzung auf den Rezeptionsvorgang zu reflektieren und auf Mißverständnisse hinzuweisen, die mit Übersetzungsschwierigkeiten oder Fehlern zusammenhängen. Natürlich wird niemand die Philosophen, Soziologen oder Wissenschaftstheoretiker daran hindern wollen, selbst über die kulturelle Bedingtheit ihrer Diskurse nachzudenken: Es steht jedem frei, sich als Komparatist (etwa vergleichender Politikwissenschaftler, Rechtswissenschaftler oder Soziologe) zu betätigen. Nicht sehr sinnvoll hingegen erscheint die in intermedialer Zeit besonders verlockende Ausdehnung der Komparatistik auf andere Kunstformen zu sein. Eine solche Ausdehnung kann im Zeitalter intensivster Arbeitsteilung nur zum Dilettantismus führen: Wo Musikwissenschaft, Kunstsoziologie und Filmsemiotik das Erbe der idealistischen (Hegelschen) Ästhetik antreten, erscheint es geradezu absurd, die Komparatistik als vergleichende Wissenschaft der Künste definieren zu wollen, deren Vertreter sich auf kompetente Art zu Literatur, Musik, Architektur, Malerei, Film und Video äußern sollten. Dies schließt freilich einzelne Analysen zu Themen wie „Literatur und Musik“ oder „Literaturverfilmung“ keineswegs aus; aber solche Studien, die, sofern sie interkulturell angelegt sind, in der Komparatistik durchaus ihre Berechtigung haben, begründen keine vergleichende Wissenschaft mit eigener Methodologie und Terminologie. Die Komparatistik sollte - aus methodologischen und didaktischen Gründen - eindeutig als literarische Komparatistik oder interkulturelle Literaturwissenschaft definiert werden. Nur als solche kann sie hoffen, als ebenbürtige Partnerin anderer vergleichender Wissenschaften (der Vergleichenden Verfassungslehre, der Vergleichenden Sprachwissenschaft oder der Vergleichenden Politikwissenschaft) auftreten zu können. Zweiter Teil: Der Vergleich in der Literaturgeschichte VI. Historische Perioden als Problematiken: Sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse Wir haben uns mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, daß literarische Epochen oder Perioden von vielen als relativ homogene Einheiten aufgefaßt werden, deren Stile, Ästhetiken oder Weltanschauungen einander im Laufe der Zeit ablösen. Ausdrücke wie „romantische Weltanschauung“, „romantischer Stil“ oder - in Italien - stile seicentesco haben sich eingebürgert und werden selten in Frage gestellt. Sie konnotieren (und Konnotationen bleiben zumeist implizit) eine sprachliche, ästhetische und politische Homogenität, die sich bei näherem Hinsehen als problematisch erweist. Trotz dieser terminologischen Konventionen, die das Zusammenwirken heterogener Strömungen, Ästhetiken und Stile innerhalb einer bestimmte Epoche verdecken, sind wir uns der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen durchaus bewußt. Wir wissen um die Gleichzeitigkeit der romantischen, der klassizistischen und der realistischen Schreibweisen in verschiedenen europäischen Kulturen, in denen die Romantik allmählich in Realismus überging. Wir wissen auch, daß die deutsche, die englische oder die französische Romantik politisch außerordentlich heterogen war, und daß Shelleys jugendlicher Anarchismus mit der konservativen Gesinnung des älteren Coleridge nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Philippe Van Tieghem stellt die gegenläufigen Strömungen innerhalb der französischen Romantik dar, wenn er zeigt, daß auch nach der offiziellen Versöhnung zwischen Liberalen und Konservativen die politischen Animositäten als ästhetisch-literarische Gegensätze weiterwirkten. 1 Hier wird deutlich, wie wenig sinnvoll es ist, sich eine politisch oder ästhetisch homogene französische Romantik vorzustellen. Auch die realistische Literatur bietet kein einheitlichen Bild, und Stephan Kohl weist ganz zu Recht auf den Gegensatz zwischen Liberalismus und Konservatismus innerhalb des Realismus hin. 2 Angesichts solcher Diagnosen, die eher die Antagonismen und Dissonanzen hervorheben, stellt sich die Frage, ob es noch sinnvoll sei, Romantik, Realismus oder Modernismus als zusammenhängende Einheiten darzustellen. Ist es sinnvoll, mit Douwe Fokkema von einem „Sozio-Kode“ 3 des Modernismus zu sprechen? Haben wir es noch mit definierbaren Bezeichnun- 1 Vgl. Ph. Van Tieghem, Le Romantisme français, Paris, PUF, 1963, S. 22. 2 Vgl. S. Kohl, Realismus: Theorie und Geschichte, München, Fink, 1977, S. 79-81. 3 Vgl. D. W. Fokkema, Literary History, Modernism, and Postmodernism (The Harvard University Erasmus Lectures, Spring 1983), Amsterdam-Philadelphia, J. Benjamins, 1984, S. 12. 94 gen zu tun? Oder sollen wir mit Croce vor den schier unlösbaren Problemen einer Literatur- und Gattungsgeschichte die Waffen strecken? Diese Probleme scheinen ins Unermeßliche zu wachsen, wenn man sich eine Begriffsbestimmung des literarischen Modernismus auf internationaler und interkultureller Ebene vornimmt. In seiner Studie über den Modernismus - The Birth of Modernism - kommentiert Leon Surette die Werke von Ezra Pound, T. S. Eliot und W. B. Yeats und meint, aus seinen recht detaillierten Analysen Hypothesen über die Ausrichtung der gesamten spätmodernen Literatur ableiten zu können. Er vertritt die etwas ungewöhnliche Ansicht, „der Modernismus sei durch stilistische Strenge sowie durch einen metaphysischen und epistemologischen Absolutismus gekennzeichnet“. 4 Er fügt hinzu, der Modernismus sei „klassizistischer Strenge, dem Okkultismus und der Mystik verpflichtet gewesen“. 5 Diese Konstruktion, die hier nicht in allen Einzelheiten erörtert werden kann, mag auf T. S. Eliot, Ezra Pound und W. B. Yeats anwendbar sein; im Falle von W. H. Auden, Stephen Spender, Christopher Isherwood oder James Joyce verliert sie jedoch ihre Relevanz. Wird sie auf politisch engagierte Autoren wie Jean-Paul Sartre und André Malraux in Frankreich oder Heinrich Mann und Bertolt Brecht in Deutschland angewandt, so büßt sie ihre Glaubwürdigkeit vollends ein. An dieser Stelle erscheint eine Rückkehr zur Ausgangsfrage unvermeidlich: Wie kann man Romantik, Modernismus oder Postmoderne definieren, ohne dem Reduktionismus zu verfallen, der den Modernismus auf seine konservativen Komponenten im Sinne von Eliot und Pound festlegt? Eine mögliche Antwort auf diese Frage ist der Vorschlag, Epochen oder Perioden als Problematiken oder sozio-linguistische Situationen aufzufassen. Der Problematik-Begriff, der hier nicht im Sinne von Louis Althusser verwendet wird, soll die politische und ästhetische Heterogenität von Epochen wie Romantik und Modernismus zum Ausdruck bringen, ohne deren relative Einheit zu verdecken. Diese Einheit scheint darin zu bestehen, daß die unübersehbare Heterogenität nicht einfach als ein dekonstruierendes Element aufgefaßt wird, welches das literarhistorische Gebäude schließlich zum Einsturz bringt, sondern als ein Aspekt der gesellschaftlich-literarischen Gesamtsituation, die durch ein Ensemble von verwandten Problemen und Fragestellungen strukturiert wird. In dieser zugleich gesellschaftlichen, sprachlichen und ästhetischen Situation reagieren Politiker, Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller auf dieselben Probleme mit stark divergierenden 4 L. Surette, The Birth of Modernism. Ezra Pound, T. S. Eliot, W. B. Yeats, and the Occult, Montreal-Kingston, McGill-Queens Univ. Press, 1993, S. 286. 5 Ibid. 95 Diskursen. Kurzum, es geht darum, die Einheit in der Heterogenität wahrzunehmen - und umgekehrt. 1. Die Problematik als sozio-linguistische Situation In einer Zeit, in der die Sprache wuchert und Neologismen von allen Seiten auf uns eindringen, mag es nicht überflüssig sein, Begriffe wie Problematik und sozio-linguistische Situation zu erläutern und zu rechtfertigen. Der Ausdruck Problematik soll andeuten, daß es sich nicht um eine homogene Ästhetik, Poetik oder Stilistik handelt, sondern um ein Zusammenwirken von Problemen; der komplementäre Ausdruck sozio-linguistische Situation soll dieses Zusammenwirken als ein Miteinander oder Gegeneinander von Gruppensprachen konkretisieren. Vor allem die Moderne-Postmoderne-Diskussion hat sehr darunter gelitten, daß die Beteiligten mitunter versucht haben, die beiden Epochen- oder Systembegriffe als Ästhetiken und Poetiken zu deuten. So versucht beispielsweise Linda Hutcheon, den Modernismus auf einen „Formalismus und einen ästhetischen Historismus“ 6 festzulegen, und spricht von „einem modernistischen Erbe der Nicht-Engagiertheit“. 7 Sie stellt sich einen einheitlichen Modernismus vor, dessen Ästhetik und Stilistik in großen Zügen seiner politischen Gesinnung entsprechen. Diese Charakteristik mag brauchbar sein, solange man die Bezeichnung „modern“ oder „modernistisch“ auf T. S. Eliot, Pound und Yeats beschränkt; sie verliert jedoch ihre Relevanz, sobald sie auf Modernisten wie Sartre, Céline, Svevo oder Hemingway angewandt wird. Die Alternative zu Hutcheons Vorgehensweise ist kein theoretischer (croceanischer) Verzicht auf Periodisierung und eine gattungsorientierte Literarhistorie, sondern eine Steigerung der Komplexität unseres theoretischen Modells. Die Bezeichnungen „Problematik“ und „sozio-linguistische Situation“ sind Versuche, die Komplexität des Modells zu vergrößern, ohne auf das Kohärenzkriterium zu verzichten. Denn die Problematik oder sozio-linguistische Situation könnte als historische Einheit gedacht werden, die sowohl zur Zukunft als auch zur Vergangenheit hin offen ist und sich aus heterogenen „befreundeten“ oder „verfeindeten“ Soziolekten und Diskursen zusammensetzt, die jedoch alle auf dieselben Probleme und Fragestellungen reagieren. 6 L. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction, London-New York, Routledge, 1988, S. 88. 7 Ibid. 96 In ihrer Kritik an der synchronen Linguistik der Genfer Schule, die dazu neigt, das Aussagesubjekt als abstrakte Instanz zu betrachten, die jenseits von Ideologien, Interessen und Gruppensprachen anzusiedeln ist, bemerken Bachtin und Vološinov: „In der Tat, die sprachliche Form tritt dem Sprechenden, wie wir gerade gezeigt haben, nur im Kontext bestimmter Äußerungen, und folglich nur in einem bestimmten ideologischen Kontext gegenüber. Wir sprechen in Wirklichkeit keine Wörter aus und hören keine Wörter, sondern hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes, Angenehmes oder Unangenehmes usw. Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt.“ 8 Überträgt man diese Passage in eine sozio-semiotische oder textsoziologische Terminologie, so ergibt sich folgendes Bild: Gruppensprachen oder Soziolekte und die aus ihnen hervorgehenden Diskurse setzten sich mit rivalisierenden Sprachen und deren Diskursen auseinander, die besondere, für eine Epoche charakteristische Standpunkte und Interessen artikulieren. In diesem Zusammenhang kann ein Soziolekt als Gruppensprache definiert werden, die durch ein besonderes lexikalisches Repertoire, eine Semantik und ein Klassifikationsmuster (faire taxinomique, Greimas) gekennzeichnet ist und zum Ausgangspunkt unendlich vieler Diskurse (Erzählungen, narrativer Abläufe) werden kann. Geht man über die von Zelig Harris vorgeschlagene, rein formale Definition des Diskurses hinaus, so wird man den Diskurs als transphrastische Einheit definieren, deren semantische Grundlage Bestandteil eines Kodes ist, der einem Soziolekt angehört. Ausgehend von diesen knappen Definitionen, versteht man besser, was in diesem Fall mit sozio-linguistischer Situation oder Problematik gemeint ist: Es handelt sich um ein Ensemble von Diskursen und Soziolekten, von denen einige der Vergangenheit angehören, während andere bereits die Zukunft ankündigen. Während zahlreiche Diskurse des Modernismus und der Avantgarde auf den Marxismus und die revolutionäre Utopie ausgerichtet sind (etwa die der Surrealisten, der russischen Futuristen, Brechts und Benjamins), knüpfen andere (z. B. die T. S. Eliots und Th. Manns) an die klassisch-humanistische Tradition an; Hesse und Breton setzen sich zugleich mit den Sprachen der Psychoanalyse auseinander. Trotz dieser Divergenzen, die Zweifel an der Brauchbarkeit des Modernismus-Begriffs aufkommen lassen, orientieren sich die meisten dieser Diskurse an grundsätzlichen Problemen, die für den Modernismus (seit 1850 oder 1880) charakteristisch sind: die Identität des individuellen (männlichen) Subjekts; die Suche nach der individuellen Wahrheit; das Streben nach Verwirklichung einer politischen, ästhetischen oder religiösen Utopie 8 V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie (hg. und eingeleitet von S. M. Weber), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1975, S. 126. 97 und das Problem der Natur als Befreiung oder Bedrohung des individuellen Subjekts. 9 (Vgl. Kap. VIII.) Man wird sehen, wie sich innerhalb der postmodernen Problematik alle diese Orientierungen verschieben, wobei die Diskurse des Modernismus an die Peripherie des Geschehens relegiert werden und neue Diskursformen ins Zentrum der Problematik rücken: Die Diskurse über die Natur sind nicht mehr auf das männliche Subjekt und seine Identität ausgerichtet, sondern auf die Natur als ökologisches Problem; die Diskurse über die Frau sind nicht länger erotische Reden eines männlichen Ichs, das für die Konstruktion der Weiblichkeit verantwortlich ist, sondern (überwiegend) weibliche Diskurse über die Stellung der Frau, ihre Emanzipationsmöglichkeiten etc. Wir haben es also mit einer Verschiebung innerhalb der diskursiven Konstellation zu tun. Diese Verschiebung bedeutet keineswegs, daß ältere Soziolekte und Diskurse - etwa die des Modernismus in der postmodernen Problematik - völlig verschwinden: Sie werden lediglich an den Rand des Geschehens abgedrängt. 2. Sozio-linguistische Problematik, Episteme und Paradigma Diese Skizze des Problematik-Begriffs läßt den Gegensatz zu Michel Foucaults Episteme und zu Kuhns Paradigma erkennen. Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede? - Zunächst darin, daß Foucaults und Kuhns Begriffe (trotz aller Unterschiede, die es zwischen ihnen gibt) geschlossene Systeme bezeichnen, deren Veränderungen biologischen Mutationen gleichen, die Foucault beschreibt, ohne sie ausführlich zu erklären 10 , während Kuhn zu zeigen versucht, daß ein jedes Paradigma die Elemente seiner eigenen Zerstörung enthält: Widersprüche oder Anomalien, die im Verlauf der normalen Forschung (der normal science) jäh auftreten und das gesamte Erkenntnissystem zum Einsturz bringen können. 11 In solchen Fällen wird das bestehende Paradigma durch ein neues ersetzt, und der Erkenntnis- oder Wissenschaftsprozeß fängt von vorn an. Eine literarische oder literarhistorische Problematik, wie sie hier skizziert wurde, ist ganz anders geartet: Es handelt sich nicht um ein geschlos- 9 Eine ausführliche Darstellung des Modernismus als Problematik findet sich in: Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2001 (2. Aufl.), S. 266. 10 So kritisiert beispielsweise J. Piaget Foucaults Episteme-Konstruktion aus genetischer Sicht: „(...) La succession des épistémè devient de ce fait entièrement incompréhensible (…).“ (J. Piaget, Le Structuralisme, Paris, PUF, 1974, S. 114.) 11 Vgl. Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt, Suhrkamp, 1962, S.134. 98 senes System, das an seinen Widersprüchen oder Lücken global scheitert, sondern um eine offene historische Totalität, die sich nur allmählich, oft unmerklich wandelt, indem sie bestimmte Probleme, die im Mittelpunkt standen, an den Rand des Geschehens verlagert. So mußten beispielsweise die romantischen Diskurse, die des Verhältnis von Individuum und Natur zum Gegenstand hatten, den realistischen und naturalistischen Diskursen weichen, die auf das städtische Milieu und dessen Kollektivsubjekte ausgerichtet waren: auf Arbeiter, Journalisten, Weber und Bauern. 3. Der Übergang vom Modernismus zur Postmoderne Betrachtet man aus dieser Sicht den allmählichen Übergang vom politischen, philosophischen und literarischen Modernismus zur Postmoderne, so stellt man fest, daß die Soziolekte und Diskurse, die auf die Utopie und die Überwindung bürgerlicher Verhältnisse abzielten, allmählich von eindimensionalen Sprachen abgelöst werden, die das Machbare hervorheben oder einer aussichtlosen Revolte das Wort reden. Ob sie sich nun auf Rortys Pragmatismus, Vattimos pensiero debole, Foucaults späten Rückzug in eine klassizistisch verbrämte Privatsphäre oder Lyotards Kritik der métarécits berufen, sie lehnen alle die als gefährlich apostrophierten Utopien der Moderne und des Modernismus ab: die rationalistischen, revolutionären und ästhetischen Prophetien. Das surrealistische Denken André Bretons wird in der neuen sozio-linguistischen Problematik der Postmoderne unglaubwürdig, weil diese Problematik die von Marcuse beschworene zweite oder utopische Dimension zur Atrophie verurteilt. „Il faut que l’homme s’évade de cette lice ridicule qu’on lui a faite: le prétendu réel actuel avec la perspective d’un réel futur qui ne vaille guère mieux“ 12 , schreibt Breton in den „Prolégomènes à un troisième manifeste du surréalisme“. Bretons Pseudorealität ist zur Wirklichkeit tout court geworden, wenn wir Baudrillard glauben dürfen 13 , und das postmoderne Subjekt denkt gar nicht daran, aus dem von Breton geschmähten Gehege auszubrechen, weil es sich seiner eigenen Gefangenschaft nicht mehr bewußt ist. In einer neuen sozio-linguistischen Problematik ändert sich die sprachliche Wahrnehmung und zusammen mit ihr das, was gedacht, geschrieben und gesagt werden kann - „ce qui peut et doit être dit“ 14 , wie Michel Pêcheux im Anschluß an Foucault sagt. 12 A. Breton, Manifestes du surréalisme, Paris, Gallimard, 1969, S. 167. 13 Vgl. J. Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris, Galilée, 1981, S. 36-42. 14 M. Pêcheux, Les Vérités de La Palice, Paris, Maspero, 1975, S. 144. 99 Zugleich mit der postmodernen Ablehnung der Utopie oder der zweiten Dimension kommt in den herrschenden Diskursen eine Ablehnung des cartesischen und hegelianischen Universalismus zum Ausdruck: eines Universalismus, der noch das Denken der Spätmoderne beherrschte. Alle Sprachformen der Postmoderne - die soziologischen, philosophischen und literarischen - könnten als Revolten gegen den modernen Universalismus aufgefaßt werden. Die Aufwertung des Signifikanten bei Barthes und Derrida, die Paralogie Lyotards und das von Deleuze und Guattari entwickelte rhizomatische Denken zeugen von einer dramatischen Partikularisierung der Sprache und des Sprachbewußtseins: von einer Partikularisierung, die von Nietzsche ausgeht und sich mit Vehemenz gegen Descartes, Hegel und Saussure richtet. Alain Touraine faßt diesen Bruch mit dem totalisierenden Universalismus der Moderne zusammen, wenn er bemerkt: „Eros, nation, entreprise et consommation sont les morceaux éclatés de la modernité qui était rationalisation et identification de l’être humain et de ses rôles sociaux.“ 15 Ob man diese Partikularisierungstendenz nun begrüßt oder bedauert, tut nichts zur Sache: Sie hat sich in der gegenwärtigen sozio-linguistischen Situation in allen herrschenden Soziolekten und Diskursen durchgesetzt. In diesen Sprachformen gesellt sich die Ablehnung des Universalismus zu einer radikalen Kritik an der Vorstellung von einer einheitlichen Menschheit oder von der „Menschheit als Einheit“ 16 , wie Agnes Heller sagt. Diese Kritik, die von Sartre und Merleau-Ponty initiiert wurde, mündet bei Postmodernisten wie Lyotard, Vattimo oder Zygmunt Bauman in einen radikalen Pluralismus, der mit der Idee universeller Humanität nicht zu vereinbaren ist: Jede Gruppe, jede ethnische Minderheit beansprucht ihre eigene Humanitätsvorstellung. Dennoch nimmt diese Tendenz zu Pluralismus und Zersplitterung nicht in allen philosophischen, literarischen und politischen Diskursen der Postmoderne die gleiche Form an. So versucht beispielsweise Touraine, die Zersplitterung der postmodernen Gesellschaft einzudämmen, während Vattimo, Lyotard und Bauman einem radikalen Pluralismus das Wort reden. Obwohl jeder dieser Diskurse auf seine Art auf das Problem der Partikularisierung reagiert, ist nahezu allen zeitgenössischen Sprachformen die Ausrichtung auf das Partikulare, die Pluralisierung und den Pragmatismus gemeinsam. Ähnliches kann im Rahmen der postmodernen Problematik - dynamisch ausgedrückt: im Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne - von der Beziehung zwischen Subjektivität und Natur gesagt werden. Einige 15 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 170. 16 Vgl. A. Heller, Die Philosophie des linken Radikalismus. Ein Bekenntnis zur Philosophie, Hamburg, VSA-Verlag, 1978, S. 132. 100 Diskurse (etwa die, die von Foucaults Werk ausgehen) geben den als ideologisch apostrophierten Subjektbegriff auf, während andere (man denke an Vattimo) zur Vorstellung eines gespaltenen, pluralisierten und fragmentierten Subjekts neigen. Eine dritte Gruppe (man denke an Touraine und seine Critique de la modernité) neigt dazu, in der sozialen Bewegung eine wirksame Gegenkraft zu Anonymität, Wirtschaftssystem und Staatsbürokratie zu erkennen. Die Natur, die die Modernisten vom Standpunkt des individuellen Subjekts aus als befreiende oder bedrohliche Kraft betrachteten, die den Einzelnen aus der unbehaglich gewordenen Kultur herausführen oder aber als Kulturwesen vernichten konnte, erscheint nunmehr in einer ökologischen Perspektive: als vom Subjekt verwaltete und ausgebeutete Natur. (Vgl. Kap. VIII.) Die postmoderne Frage lautet nicht so sehr, was die Natur für das suchende männliche Subjekt bedeutet, sondern wie sie vor der Ausbeutung durch das Gesellschaftssystem geschützt werden kann. Die bereits erwähnte Tendenz zum Pluralismus weist nicht nur politische und philosophische, sondern auch ästhetische Komponenten auf. Innerhalb der postmodernen Problematik neigen Diskurse über die Kunst dazu, die Vielfalt der Stile und die Stilmischung zu legitimieren. Dies scheint auch für die marxistischen Diskurse Fredric Jamesons oder Michael Ryans zu gelten. 17 Romanautoren wie Eco, Robbe-Grillet oder John Barth in den USA fühlen sich einem stilistischen Pluralismus verpflichtet, der Elemente des Detektivromans mit avantgardistischen und traditionellen Verfahren kombiniert. Die postmoderne Prosa ist - wie schon die modernistische - außerordentlich heterogen, weil jeder Text auf seine spezifische Art auf die Problematik als ganze reagiert. Dennoch scheinen die Stilmischung und die Ausrichtung auf populäre Formen die Grundlagen dieser Prosa zu bilden. Auf sie geht Vattimo in seiner Ästhetik der Heterotopie ein: einer Ästhetik, die den modernistischen Idealen der Kohärenz, der Innovation, der Originalität und der Normverletzung die Heterogenität und den Pluralismus gegenüberstellt. Es nimmt daher nicht wunder, daß in einer sprachlichen Situation, in der stilistische Heterogenität als fait accompli anerkannt oder gar gefeiert wird, die institutionalisierten Soziolekte und Diskurse ein ganz neues Problem zur Sprache bringen: das Verschwinden der autonomen Kunst sowie der Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst. Im Zusammenhang mit diesem Verschwinden, mit dem sich auch Jean Baudrillard befaßt 18 , spricht der bri- 17 Vgl. F. Jameson, Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham (North Carolina), Duke Univ. Press, 1991 sowie M. Ryan, Politics and Culture: Working Hypotheses for a Post-Revolutionary Society, London, Macmillan, 1989. 18 Vgl. J. Baudrillard, La Transparence du mal, Paris, Galilée, 1990: „Transesthétique“, S. 22-27. 101 tische Soziologe Scott Lash von einer Entdifferenzierung der Stile und des Kunstpublikums. 19 Er will damit zum Ausdruck bringen, daß in der postmodernen Situation der hohe und der populäre Stil nicht mehr streng geschieden werden, und daß die modernistische Differenzierung, die eine klare Trennung zwischen wertvoller und kommerzialisierter Literatur (Kunst) forderte, zusehends obsolet wird. Les Gommes von Robbe-Grillet, ein Text, der den Diskurs des Kriminalromans parodiert, Il nome della rosa von Eco und Patrick Süskinds Das Parfum veranschaulichen Lashs Argument. Parallel zu dieser Entdifferenzierung der Schreibweisen zeigt Scott Lash eine Entdifferenzierung des Publikums auf: Es sei kaum noch möglich, meint er, innerhalb der postmodernen Problematik die Konsumenten kommerzialisierter Klischees sauber von einer literarischen Elite zu unterscheiden, die nur reine Formen im Sinne des Ästhetizismus oder avantgardistische Textexperimente goutiert. Denn die Avantgarde selbst unternimmt alles, um populär zu wirken: Denken wir an Robbe-Grillets cinéromans, an die Romane Ecos oder an das Poptheater Werner Schwabs in Österreich. Trotz dieser gemeinsamen Ausrichtung postmoderner Diskurse auf die Entdifferenzierung im Sinne von Lash sollte man die diskursiven Abweichungen nicht aus den Augen verlieren. Im Gegensatz zu Vattimo, der einem grenzenlosen ästhetischen Pluralismus das Wort redet, stellt sich der späte Lyotard eine postmoderne Ästhetik des Erhabenen vor, die sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen eine Vereinnahmung durch die Kulturindustrie sperrt. Zumindest in diesem Punkt oszilliert die postmoderne Diskursivität zwischen zwei Polen: zwischen einer negativen Ästhetik im Sinne von Lyotards Leçons sur l’Analytique du Sublime (1991) und einer affirmativen Ästhetik der Heterotopie und des Pluralismus im Sinne von Vattimo. Insgesamt zeigt sich, daß die „Postmoderne“ weder ein homogener Stil noch eine Ideologie, noch eine Weltanschauung ist, sondern ein Ensemble von Problemen und Fragestellungen, die sehr heterogene Reaktionen hervorrufen können. Vielleicht sollte man im Rückblick versuchen, auch den Realismus, die Romantik oder die Aufklärung als relativ heterogene Problematiken in dem hier vorgeschlagenen Sinne zu verstehen. 19 Vgl. S. Lash, Sociology of Postmodernism, London-New York, Routledge, 1990, S. 173. 102 4. Kulturelle Differenzen oder: Der spezifische Charakter nationaler Problematiken Zum Abschluß einige Bemerkungen zum kulturspezifischen und nationalen Charakter der sozio-linguistischen Problematiken. Diejenigen, die nicht in jeder Hinsicht mit den anglo-amerikanischen Debatten vertraut sind, werden sich vielleicht fragen, was hier genau mit „Modernismus“ und „Postmoderne“ gemeint ist. Diese Frage, die hier nicht ausführlich beantwortet werden kann, ohne den Rahmen dieser Darstellung zu sprengen, ist deshalb aufschlußreich, weil sie erkennen läßt, daß die Problematiken von Nationalkultur zu Nationalkultur stark voneinander abweichen. In Frankreich beispielsweise würde man eher von einer modernité sprechen, die im 16. oder 17. Jahrhundert beginnt, und von einer modernen Literatur seit Baudelaire (seit etwa 1850). In diesem Kontext ist die von Walter Benjamin eingeführte Bezeichnung „die Moderne“ beheimatet. Dennoch kommt auch in französischen Diskussionen sporadisch das Wort modernisme vor und bezeichnet - wie im Englischen - die Literatur Prousts, Gides, Joyces, Svevos und Thomas Manns. Es wird als Antonym zum literarischen Postmodernismus (Robbe-Grillets, Butors, Calvinos, Ecos und John Barths) verwendet, dessen Verwandtschaft mit Lyotards condition postmoderne ausführlicher dargestellt werden müßte. Im Anschluß an Lyotard werden Bezeichnungen wie postmoderne und postmodernisme immer wieder verwendet, ohne wirklich ins Zentrum der Problematik vorzudringen wie in Großbritannien oder Nordamerika. 20 Trotz dieser Affinitäten zwischen den anglo-amerikanischen und französischen Debatten stößt man immer wieder auf starke kulturbedingte Abweichungen und Diskrepanzen. Obwohl die Bezeichnung „postmoderne Literatur“, die im Mittelpunkt der anglo-amerikanischen Debatten steht, in Frankreich durchaus bekannt ist, ist sie dort eher eine Randerscheinung. Einen ganz anderen Stellenwert nimmt sie in Quebec ein, wo die sozio-linguistische Situation von den Diskussionen im englischsprachigen Kanada und in den USA beeinflußt wird. Die von Barbara Hovercroft und Silvia Söderlind erstellte Bibliographie in der Sondernummer von Tangence 39 erscheint in diesem Zusammenhang als ein wichtiges Dokument der Postmoderne-Diskussion in Quebec, weil sie zeigt, daß die Bezeichnung „Postmoderne“ im französischsprachigen Kanada einen ganz anderen Status hat als in Frankreich. 21 Ingesamt kann man feststellen, daß das, „was gesagt werden soll“ (um es mit Pêcheux auszudrücken) nicht nur von der sozio-linguistischen Pro- 20 Vgl. Y. Boisvert, Le Monde postmoderne, Paris, L’Harmattan, 1996. 21 Vgl. „La Fiction postmoderne“, Tangence 39 (Hrsg. F. Fortier), 1993. 103 blematik im historischen Sinne abhängt, sondern auch von der nationalkulturellen Problematik, die uns bisweilen daran hindert, ausländische Literaturwissenschaftler zu verstehen. Denn jedes Wort und jede Aussage gehören einer spezifischen Problematik an, die es zu rekonstruieren gilt, wenn man die Sprache des anderen verstehen will. In diesem Zusammenhang sollte versucht werden, literarische Epochen oder Perioden nicht nur als Problematiken oder heterogen-homogene historische Systeme, sondern zugleich als interkulturelle Einheiten zu betrachten, deren Entwicklung auch von internationalen Parallelentwicklungen, Kontakten und Konflikten abhängt. Die komparatistische Perspektive bürgt dafür, daß Reduktionen im Sinne von Linda Hutcheon und Leon Surette vermieden werden. Solche Reduktionen sind regelmäßig in einigen Nationalphilologien zu beobachten, in denen „Romantik“ immer wieder mit deutscher, englischer oder französischer Romantik identifiziert wird, in denen „Modernismus“ anglistisch-amerikanistisch auf ein anglo-amerikanisches Textkorpus eingeengt wird, in dem T. S. Eliot, Ezra Pound und die New Critics dominieren. Eine Periodisierung, die die Struktur als ganze - in ihrer Offenheit und Historizität - wahrnimmt, wird von den hier skizzierten zwei Prämissen ausgehen: von dem Gedanken, daß eine Periode in ihrer Dynamik nur als sozio-linguistische Problematik zu verstehen ist - und daß diese Problematik stets interkulturellen Charakter hat. VII. Einheit und Vielfalt: Von der Romantik zur Spätmoderne Es ist nicht immer einfach, literarische Perioden oder Epochen wie Klassik, Romantik, Realismus oder Modernismus (Spätmoderne) zu definieren, weil sich oft herausstellt, daß ihre Homogenität von widersprüchlichen Tendenzen in Frage gestellt wird. Vor allem eine komparatistische Betrachtungsweise zeigt, daß die europäische Romantik nicht einfach auf „Konservatismus“ oder „Mittelaltersehnsucht“ zu reduzieren ist, weil die Werke Platens, Eichendorffs oder Novalis’ mit den Werken des Anarchisten Shelley und des Revolutionärs Byron koexistieren. Dennoch scheint es möglich zu sein, in jeder Epoche, die hier als widersprüchliche Problematik aufgefaßt wird (vgl. Kap. VI), eine dominierende Tendenz aufzuzeigen, die freilich gegenläufige Tendenzen nicht ausschließt. Obwohl die Problematik als ganze zugleich homogen und heterogen ist, weil Schriftsteller und Schriftstellergruppen auf die gleichen Probleme unterschiedlich reagieren und dabei oft gegensätzliche politische und ästhetische Interessen artikulieren, kann häufig ein gemeinsamer Nenner als „Dominante“ aufgezeigt werden. Eine der thematischen Dominanten des Realismus ist beispielsweise die Aufnahme der arbeitenden Bevölkerung in die Novelle und den Roman: einer sozialen Gruppe, die sowohl von der Klassik als auch von der Romantik weitgehend ausgeschlossen wurde. 1. Innere und äußere Umkodierung Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Hauptthese dieser Darstellung: daß der romantische Text durch ein systematisches Streben nach Homogenität geprägt ist, während realistische und vor allem spätmoderne (modernistische) Textsorten zur Heterogenität oder zur „äußeren Umkodierung“, wie der Semiotiker Jurij Lotman sagt, tendieren. Was meint Lotman mit „äußerer Umkodierung“? Während der romantische Text nur die „innere Umkodierung“ kennt, die im Bereich eines relativ homogenen Stils verharrt, kennen realistische und modernistische Texte die „äußere Umkodierung“, die durch den „Stilbruch“ oder die Heterogenität der Stile gekennzeichnet wird. Eine solche Heterogenität, erklärt Lotman, läßt der romantische Text nicht zu; er kennt nur die innere Umkodierung, die darin besteht, daß ein bestimmtes Zeichen mit verwandten oder ähnlichen Zeichen verknüpft wird, d.h. mit Zeichen, die (wie Greimas sagen würde) auf ein und derselben stilistischen Isotopieebene angesiedelt sind. 106 Lotman zeigt, wie Lermontov dem romantischen Prinzip der inneren (oder innersystemischen) Umkodierung untreu wird, wenn er in einem Gedicht den Mond einerseits mit einem „warägischen Schild“, andererseits mit „holländischem Käse“ assoziiert. Luná katíftsja v zímnich oblákach Kak š it varjažskij ili sýr gollándskoj Der Mond rollt in winterlichen Wolken Wie ein warägischer Schild oder ein holländischer Käse 1 Greimas würde in diesem Fall von einem Isotopiebruch sprechen, von einem Bruch zwischen zwei semantischen Ebenen, von denen die eine dem Oberbegriff „Heldentum“ („Epos“), die andere hingegen dem Oberbegriff „Nahrung“ subsumiert werden könnte. Es kommt hinzu, daß die Endung „oj“ (wie in einigen anderen slawischen Sprachen) die Umgangssprache konnotiert (Schriftsprache: gollándskij), wobei auch ein stilistischer Bruch zutage tritt. Das romantische System als ganzes sperrt sich gegen die äußere Umkodierung, so daß es nicht in ein anderes, ihm fremdes System übersetzt werden kann / darf. Dazu bemerkt Lotman: „Das romantische System als ganzes wird (aus der Sicht der Romantik) der Umcodierung grundsätzlich nicht unterzogen. Als ganzes ist es einzigartig, bildet das Universum des jeweiligen Dichters und hat folglich keine semantische Bedeutung (keinen Ausdruck in einem anderen System). Am Anbruch der russischen Frühromantik zitierte Aleksej M. Kutuzov im Gleichklang des Gefühls zustimmend die Worte Jakob Böhmes: ,Engel und Teufel befinden sich unweit voneinander; doch der Engel befindet sich im Paradies, und wäre er auch in der Hölle, und sieht die Hölle nicht, also befindet auch der Teufel sich in der Hölle, und wäre er auch inmitten des Paradieses, und sieht das Paradies nicht‘.“ 2 Ein solches System ist nicht nur dualistisch, sondern auch monologisch, weil es einen Dialog mit dem Anderen, dem Andersartigen durchgehend ausschließt. Das Andere wird nicht zur Kenntnis genommen, und wenn, dann wird es assimiliert, d.h. dem Einen angeglichen. Realistische und spätmoderne („modernistische“) Systeme gehorchen der äußeren Umkodierung, die heterogene Stile und Standpunkte zusammenführt: „Zum Träger der Bedeutung wird nicht irgendeine stilistische Schicht, sondern der Schnitt 1 Zit. nach: J. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 72. 2 Ibid., S. 71. 107 vieler kontrastierender Stile (Standpunkte), der eine gewisse ,objektive‘ (suprastilistische) Bedeutung ergibt.“ 3 Im Anschluß an diese Überlegungen soll in einem ersten Schritt gezeigt werden, daß in Fichtes Reden an die deutsche Nation, Novalis’ Die Christenheit oder Europa und Chateaubriands Génie du christianisme das Prinzip der „inneren Umkodierung“ dominiert, so daß das Andersartige entweder ausgegrenzt, assimiliert oder mit Bedauern zur Kenntnis genommen wird. Freilich handelt es sich um drei durchaus heterogene Texte, die zwar alle um 1800 entstanden sind, die aber so viele verschiedene Aspekte aufweisen, daß es in diesem Zusammenhang sinnvoll erscheint, einen einzigen Aspekt zu beleuchten: nämlich die - möglicherweise kulturell bedingte - Tendenz der drei Autoren, das Andersartige oder Andere auf das Eine zurückzuführen und die Heterogenität als einen Mangel oder Makel aufzufassen, den es zu beseitigen gilt. Es ist eine Tendenz, die im interkulturellen Vergleich (französische-deutsche Romantik) noch am ehesten sichtbar wird. 2. Das Eine, das Ursprüngliche und der Monolog: Fichte Fichtes Reden an die deutsche Nation könnten als ein großangelegter Versuch gelesen werden, das Wesen des Deutschtums in Erscheinung treten zu lassen und alles Andersartige dem Deutschtum gegenüber abzuwerten. Es komm hier nicht darauf an, Fichtes Diskurs zu kritisieren und die Kritik in dem zweifellos trivialen Vorwurf gipfeln zu lassen, er sei ein böser Nationalist gewesen, sondern darauf, die semantischen und syntaktisch-narrativen Verfahren zu verstehen, die diesem Diskurs zugrunde liegen. Dabei wird es notwendig sein, selektiv vorzugehen, d.h. einige besonders signifikante Passagen herauszugreifen. In seiner Vierten Rede befaßt sich Fichte mit der „Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft“. Ein solcher Untertitel weckt bei verschiedenen Lesern ungleiche Erwartungen: Während der naive Leser hoffen mag, etwas über den Unterschied zwischen den Deutschen, den Niederländern und den Schweden zu erfahren, hält der Semiotiker Ausschau nach Fichtes Klassifikationsverfahren, d.h. nach seiner Taxonomie. Wie immer geht der naive Leser leer aus, während der Semiotiker (wenigstens diesmal) einen beachtlichen Fang macht. Der naive Leser geht deshalb leer aus, weil er zu seiner Verwunderung erfährt, daß „die Skandinavier hier unbezweifelt für Deutsche genommen werden und unter allen den allgemeinen Folgen unserer Betrachtungen mit 3 Ibid., S. 75. 108 begriffen sind“. 4 Auch der Semiotiker ist verwundert, hält sich aber nicht lange bei dieser seltsamen Identifizierung auf, sondern verfolgt den Klassifikationsprozeß bis an den Punkt, wo sich herausstellt, daß auch Franzosen, Spanier und Italiener der Klasse der „Germanen“ subsumiert werden, so daß die folgende Konstruktion entsteht: „Ebensowenig wolle man auf den Umstand ein Gewicht legen, daß in den eroberten Ländern die germanische Abstammung mit den früheren Bewohnern vermischt worden; denn Sieger und Herrscher und Bildner des aus der Vermischung entstehenden neuen Volks waren doch nur die Germanen.“ 5 Im Rahmen dieser Konstruktion werden Franzosen zu Franken und Spanier zu Westgoten. Entscheidend ist nun die Argumentation, die aus dieser Konstruktion hervorgeht: Spanier, Italiener und Franzosen sind zwar ihrem Wesen nach (d.h. in Fichtes Diskurs) Germanen, haben aber die germanische Sprache aufgegeben und bedienen sich lateinischer Sprachen, die ihnen - Fichte zufolge - nicht eigen sind und aufgrund ihrer Abstraktion nicht als lebendige Sprachen fungieren und kein wahres Empfinden ausdrücken können. Damit liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen den Deutschen und „den anderen Völkern germanischer Abkunft“ (wie Fichte sagt) offen zutage: „Die Verschiedenheit ist sogleich bei der ersten Trennung des gemeinschaftlichen Stamms entstanden und besteht darin, daß der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber tote Sprache.“ 6 Für den Semiotiker ist in dieser Passage vor allem die Verflechtung von semantischer Klassifikation und narrativem Ablauf des Diskurses interessant. Der Unterschied zwischen den Deutschen und den anderen Germanen oder Europäern besteht darin, daß der Deutsche seine ursprüngliche Sprache beibehielt, während sich die anderen germanischen Stämme (gemeint sind u.a. die Franzosen und Spanier) lateinische Idiome aneigneten, die Fichte zufolge nur als tote Sprachen funktionieren können. Daraus ergibt sich gleichsam von selbst die Schlußfolgerung, daß nur die Deutschen (Deutsche und Skandinavier, wahrscheinlich auch Niederländer) des eigentlichen Ausdrucks fähig sind. Die anderen, so Fichte, haben genaugenommen gar keine Muttersprache und sind gezwungen, ihre Gedanken und Gefühle in toten Sprachen auszudrücken. Daß dabei nichts Ernstzunehmendes herauskommen kann, versteht sich im Rahmen des Fichteschen Diskurses fast von selbst. Die semantische Dichotomie eigentlich / uneigentlich (authentisch / inauthentisch), die diesen 4 J. G. Fichte, Fichtes Reden an die deutsche Nation (Hrsg. A. Liebert), Berlin, Deutsche Bibliothek, 1912, S. 56. 5 Ibid. S. 58. 6 Ibid. S. 71. 109 Diskurs strukturiert, sorgt dafür, daß die anderen germanischen (europäischen) Völker, von denen hier die Rede ist, soweit abgewertet werden, daß sie eines authentischen Gedankens und Gefühls nicht mehr fähig sind, und „daß der Deutsche, indem er die römische Stammsprache lernt, die abgestammten gewissermaßen zugleich mit erhält und, falls er etwa die erste gründlicher lernen sollte denn der Ausländer, welches er aus dem angeführten Grunde gar wohl vermag, er zugleich auch dieses Ausländers eigene Sprachen weit gründlicher verstehen und weit eigentümlicher besitzen lernt denn jener selbst, der sie redet; daß daher der Deutsche, wenn er sich nur aller seiner Vorteile bedient, den Ausländer immerfort übersehen und ihn vollkommen, sogar besser denn er sich selbst verstehen und ihn nach seiner ganzen Ausdehnung übersetzen kann, dagegen der Ausländer ohne eine höchst mühsame Erlernung der deutschen Sprache den wahren Deutschen niemals verstehen kann und das echt Deutsche ohne Zweifel unübersetzt lassen wird“. 7 Dieses lange Zitat veranschaulicht nicht nur Fichtes Einstellung zur Nationalsprache, sondern führt auch zum Ausgangspunkt des hier entwickelten Gedankengangs zurück, nämlich zu Lotmans These, daß das romantische System unübersetzbar sei, daß es der Umkodierung nicht unterzogen werde. Genau das meint Fichte - der nun sehr wohl der äußeren Umkodierung unterzogen wird -, wenn er behauptet: „das echt Deutsche“ sei unübersetzbar. Komplementär dazu verhält sich seine Behauptung, man könne vom Deutschen aus die anderen Sprachen verstehen, nicht aber umgekehrt. So kommt es, daß der Deutsche den Ausländer besser versteht als dieser sich selbst. (Man wird hier an den von Brecht erzählten Witz erinnert, in dem ein Pilot seinem Kollegen erklärt: „Schwalben zum Beispiel fliegen verkehrt.“) Insgesamt zeigt sich, daß Fichtes Diskurs, der Homogenität und Echtheit zu seinem zentralen Anliegen und seinem Telos macht, zugleich von der ideologischen Dichotomie echt / unecht strukturiert wird, die auch in anderen Reden an die deutsche Nation, etwa in der fünften Rede, zutage tritt, wo von der „Unnatur“ des Auslandes die Rede ist: „Dem Auslande kommt diese Unnatur von selbst in sein Leben, weil es ursprünglich und in einer Hauptsache von der Natur abgewichen (…).“ 8 Anders gesagt: Fichtes Rede ist die ideologische Rede par excellence, wenn man davon ausgeht, daß der ideologische Diskurs sich mit der Wirklichkeit oder Wahrheit identifiziert, von der semantischen Dichotomie beherrscht wird und eine monologische Struktur aufweist. 7 Ibid., S. 72-73. 8 Ibid., S. 85. 110 3. Die romantische Christenheit als Einheit: Novalis Nun könnte man einwenden, daß Fichtes Reden für die deutsche oder europäische Romantik nicht charakteristisch sind, daß die Romantik als internationale Erscheinung ein sehr komplexes und widersprüchliches Ganzes ist, in dem liberale, konservative und bisweilen sogar anarchistische Tendenzen zusammenwirken. Es wird wohl nie gelingen, Shelley und Coleridge, Chateaubriand und Victor Hugo auf einen Nenner zu bringen; dazu ist die Romantik ideologisch zu heterogen. Dennoch kann gezeigt werden, daß es eine romantische Neigung gibt zu vereinheitlichen und das Eine und Eigentliche dem Anderen und Uneigentlichen gegenüber aufzuwerten. Anders gesagt: Im Gegensatz zur Spätmoderne, die die Heterogenität, die äußere Umkodierung und die Vielstimmigkeit eingeführt hat, tendiert der romantische Diskurs zur Homogenität, zur inneren Umkodierung und zum Monolog. Das wird unter anderem in Novalis’ bekannter Schrift Die Christenheit oder Europa deutlich, wo die Reformation nicht primär als notwendige Kritik und als Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens gesehen wird, sondern als Bedrohung des Einen, der Homogenität. Schon der erste Satz läßt die Ausrichtung auf dieses Eine erkennen: „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte (...).“ 9 Es geht hier nicht um die Frage, ob diese Darstellung mythisch sei oder nicht, sondern um die Ausrichtung auf das Eine, die einem roten Faden gleich Novalis’ Text durchzieht. Angesichts dieser Teleologie nimmt es nicht wunder, wenn der Autor schließlich lapidar feststellt: „Mit der Reformation war’s um die Christenheit getan.“ 10 Obwohl Novalis der Reformation und den Protestanten wesentlich mehr Verständnis und Sympathie entgegenbringt als Fichte den „ausländischen Völkern“ (den latinisierten Germanen), macht er kein Hehl aus seiner Überzeugung, daß der Verlust der Einheit mit dem Verlust des Echten, des Authentischen und Eigentlichen einhergeht. Obwohl die Protestanten wichtige Reformen einführten, sagt Novalis, vergaßen sie „das notwendige Resultat ihres Prozesses, trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war“. 11 Auch in diesem Falle sind nicht Kritik und Gegenkritik entscheidend, sondern die Ähnlichkeit der Argumentationsmuster: Wie Fichte, der die Abspaltung der „latinisierten Germanen“ vom ursprünglichen deutsch- 9 Novalis, Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment, Stuttgart, Reclam, 1950, S. 26. 10 Ibid., S. 35. 11 Ibid., S. 33. 111 germanischen Stamm bedauert, empfindet Novalis die protestantische Abspaltung als „Frevel“, nicht etwa als Bereicherung oder als Aufforderung zum Dialog (und zu einer vernünftigen Reform). Der Diskurs, der auf Einheit und Vereinheitlichung ausgerichtet ist (Novalis gibt am Ende seiner Betrachtungen der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der Christenheit Ausdruck) und zum Monolog neigt, muß auch die Vieldeutigkeit des geschriebenen Wortes ablehnen. Konsequent wirft Novalis Luther vor, er habe in den religiösen Bereich die Philologie eingeführt, die nicht die Wahrheit, sondern das vieldeutige, d.h. interpretierbare und umstrittene Wort zum Gegenstand hat: „Dem religiösen Sinn war diese Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet wie der Buchstabe.“ 12 An dieser Stelle zeigt sich, wie semantischer Dualismus, eine starke monologische Tendenz und das Streben nach Monosemie (nach der Vergegenwärtigung des Sinnes, würde Derrida wohl sagen) in Novalis’ Abhandlung ineinandergreifen. 13 Obwohl es prekär erscheint, dem Romantiker und Kant-Leser Novalis totalitäre Neigungen im spätmodernen Sinn anzulasten, sollte daran erinnert werden, daß auch die politischen Vorstellungen dieses Autors vom Streben nach Einheit und Vereinheitlichung geprägt sind. So lesen wir beispielsweise in den Fragmenten: „Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht. Überall sollte der Staat sichtbar, jeder Mensch als Bürger charakterisiert sein. Ließen sich nicht Abzeichen und Uniformen durchaus einführen? Wer so etwas für geringfügig hält, kennt eine wesentliche Eigentümlichkeit unserer Natur nicht.“ 14 In den Fragmenten stößt man auf zahlreiche komplementäre Aussagen. Sie sollten uns zwar nicht veranlassen - wie es in manchen Arbeiten über die Romantik geschehen ist -, Novalis als einen Vorläufer des Totalitarismus anzuprangern, sie lassen aber ein Streben nach Homogenität erkennen, das im Totalitarismus vorkommt und dem liberal-individualistischen Denken fremd ist. Jedenfalls ist Gerhart Hoffmeister recht zu geben, wenn er zusammenfassend feststellt: „Durch ihre Mittelalterbegeisterung entstand in der europäischen Romantik eine christlich-reaktionäre Tendenz, durch den Bruch mit der griechisch-lateinischen Bildungstradition zugleich eine progressive Ausrichtung.“ 15 Hoffmeister versucht, der Ambivalenz der Romantik gerecht zu werden, wenn er hinzufügt: „Der Angriff auf das Christentum durch die ,satanische Romantik‘ signalisiert die Endphase der mit der Reformation begonnenen 12 Ibid., S. 34-35. 13 Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 425. 14 Novalis, Die Christenheit oder Europa, op. cit., S. 72. 15 G. Hoffmeister, Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart, Metzler, 1978, S. 98. 112 Säkularisierung Europas.“ 16 Diese Säkularisierungstendenz verbindet die „satanische Romantik“ - wie schon Mario Praz gesehen hat 17 - mit der Spätmoderne. 4. Die Aufwertung der Christenheit: Chateaubriand Von einer modernen Tendenz dieser Art kann im Zusammenhang mit Chateaubriands Génie du christianisme (1802) nicht die Rede sein. Auch der französische Romantiker geht vom semantischen Gegensatz echt / unecht aus; nur besetzt er die Terme anders als etwa Fichte. Nicht das deutsche Germanentum bürgt für Echtheit und Authentizität in seinem Diskurs, sondern das Christentum, das - anders als etwa bei Nietzsche - für die wertvollsten Eigenschaften des abendländischen Menschen verantwortlich gemacht wird. „L’Evangile a prévenu la destruction de la société“ 18 , lesen wir beispielsweise im zweiten Band, wo das Christentum als die eigentliche Religion erscheint, der Islam (und alle anderen Religionslehren) hingegen als etwas Abgeleitetes: „ (...) Car le mahométisme a du moins un fonds de morale qu’il tient de la religion chrétienne, dont il n’est, après tout, qu’une secte très éloignée.“ 19 Chateaubriand argumentiert im religiösen Kontext so ähnlich wie Fichte im politisch-nationalen: Das Eigene ist zugleich das Eigentliche, das Fremde das Abgeleitete, Sekundäre. Die eigene Sprache ist edel und echt, die anderen Sprachen sind entweder Dialekte oder tote Sprachen, die nichts Lebendiges auszudrücken vermögen. In Chateaubriands umfangreichem Werk ist allerdings nicht der Islam der eigentliche Gegenspieler des Christentums, sondern der römische Polytheismus, der systematisch mit negativen Konnotationen versehen und mit allen Mitteln diskreditiert wird. Der Polytheismus erscheint nicht so sehr als Alternative zum Monotheismus, als mögliches Kultursystem im anthropologischen Sinne, sondern als etwas Unvollkommenes, das nur einer unvollkommenen Gesellschaft eigen sein kann: „Le polythéisme, religion imparfaite de toutes les manières, pouvait donc convenir à cet état imparfait de la société (...).“ 20 16 Ibid. 17 Vgl. M. Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München, DTV, 1981 (2. Aufl.), S. 94 und Kap. IV. 18 F. R. de Chateaubriand, Génie du christianisme, Bd. II, Paris, Garnier-Flammarion, 1966, S. 248. 19 Ibid. 20 Ibid., S. 252. 113 Für Chateaubriand ist der Polytheismus schon deshalb unvollkommen und verdammenswert, weil er das Eine negiert und die Vielzahl zum herrschenden Prinzip erhebt. In dieser Hinsicht weist Chateaubriands Diskurs frappierende Ähnlichkeiten mit den Diskursen Novalis’ und Fichtes auf: Auch der französische Romantiker lehnt konkurrierende Instanzen ab; auch er vermag nur das Eine zu akzeptieren und ist schon deshalb gezwungen, das Andere (den Polytheismus, den Islam) abzuwerten, zu diskreditieren. Schließlich ist bemerkenswert, daß Chateaubriand die christliche Religion mit der Geburt der Nation und des Nationalen verknüpft. Während das polytheistische (d.h. „heidnische“) Zeitalter nur die diffuse Masse der Völker und Bevölkerungen kennt, entstehen in der christlichen Ära Nationen: „Il y avait des peuples, il n’y avait point de nations.“ 21 Chateaubriand ist kein großer Empiriker (ebensowenig wie Fichte), und der Unterschied zwischen peuple und nation geht aus seinem Text nicht sehr klar hervor. Er scheint darin zu bestehen, daß das antike Volk heterogen ist, während die Nation als politische und ideelle Einheit aufgefaßt wird. Diese Vorstellung teilt Chateaubriand mit zahlreichen europäischen Romantikern wie Byron, Görres oder dem slowenischen Nationaldichter Prešeren. Insgesamt kann festgehalten werden, daß die romantischen Dichter Europas wesentlich zur Stärkung des Nationalbewußtseins beigetragen haben: nicht nur in Deutschland, sondern auch und vor allem in Mittel- und Osteuropa (man denke an Adam Mickiewiczs Epos Konrad Wallenrod und an seine in Paris verfaßten Ksiegi Narodu Polskiego). 5. Spätmoderne Vielfalt Schriftsteller der Spätmoderne und vor allem der Postmoderne stellen diese romantische Auffassung der nationalen Identität grundsätzlich in Frage; viele von ihnen setzen sich ausdrücklich für Heterogenität, Stilvermischung und Polyphonie ein. Es ist hier nicht der Ort, die spätmoderne Kritik am Nationalstaat zu rekonstruieren, die in den Werken Musils, Kafkas, Brochs, Sartres, Camus’ und Moravias anklingt. Wichtiger ist in dem hier konstruierten Zusammenhang das Bekenntnis spätmoderner Autoren zur ästhetischen und stilistischen Vielfalt, die bereits im literarischen Realismus angelegt ist. Besonders charakteristisch für die Stil- und Sprachmischung ist Arthur Rimbauds alchimie du verbe, die der Dichter in Une saison en enfer (Eine Zeit in der Hölle) kommentiert. Dort wird der alte (romantische) mit dem neuen Stil vermischt und zugleich kritisch kommentiert: 21 Ibid. 114 La vieillerie poétique avait une bonne part dans mon alchimie du verbe. Je m’habituai à l’hallucination simple: je voyais très-franchement une mosquée à la place d’une usine, une école de tambours faite par des anges, des calèches sur les routes du ciel, un salon au fond d’un lac; les monstres, les mystères; un titre de vaudeville dressait des épouvantes devant moi. Puis j’expliquais mes sophismes magiques avec l’hallucination des mots! (Der poetische Trödel hatte großen Anteil an meiner Alchimie des Worts. Ich wurde vertrauter mit der einfachen Halluzination: ohne weiteres sah ich eine Moschee an der Stelle einer Fabrik, eine Schule, in welcher Engel das Trommeln lehrten, Kaleschen auf den Straßen des Himmels; einen Salon auf dem Grund eines Sees; die Ungeheuer, die Geheimnisse; der Titel eines Singspiels türmte Schreckensbilder vor mir auf.) Dann verdeutlichte ich meine magischen Sophismen mit Hilfe der Halluzination der Wörter! 22 Die „Alchimie des Wortes“ verarbeitet die unterschiedlichsten Stilebenen und Sprachmuster. Aus ihr geht eine neue Schreibweise hervor, die Extreme miteinander verknüpft und zugleich etwas Neues entstehen läßt: eine spätmoderne experimentelle Lyrik, die selbstreflexiv das Lyrische mit dem Essay, das Altbekannte mit dem nie Gehörten verschmelzen läßt. Die vom Dichter ins Leben gerufenen Halluzinationen verbinden unvereinbare Elemente - Gotteshäuser und Fabriken, Engel und Trommeln - und nehmen surrealistische Szenarien vorweg, indem sie Kaleschen über den Himmel fahren lassen und auf dem Seeboden einen Salon eröffnen. Man ist hier recht weit von den religiösen und ästhetischen Idyllen eines Chateaubriand oder eines Novalis entfernt. Radikalisiert wird hier Baudelaires früher Modernismus, der, wie Walter Benjamin wußte, eine Absage an das romantische Streben nach sprachlicher und ästhetischer Homogenität war: „Die Fleurs du mal sind das erste Buch, das Worte nicht allein prosaischer Provenienz sondern städtischer in der Lyrik verwertet hat.“ 23 Benjamin nennt so moderne Wörter wie quinquet, wagon oder omnibus, die bei einem romanischen Autor wie Lamartine undenkbar wären. Romane der Spätmoderne - etwa Joyces Ulysses oder Brochs Die Schlafwandler - haben diese Heterogenität sowohl auf politischer als auch auf ästhetischer Ebene weiterentwickelt. Während Joyces Romanexperiment alle nur denkbaren Sprachen und Ideologien kollidieren und zerfallen läßt, versucht Broch, ganze Weltbilder wie „Romantik“ oder „Anarchie“ gleich- 22 A. Rimbaud, Une saison en enfer / Eine Zeit in der Hölle (Französisch / Deutsch), Stuttgart, Reclam, 1970, S. 52-53. 23 W. Benjamin., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt, Suhrkamp (1955), 1974, S. 99. 115 sam von außen zu betrachten und kritisch zu relativieren. Jeder Roman seiner Romantrilogie Die Schlafwandler hat ein anderes Weltbild zum Gegenstand: „Pasenow oder die Romantik“, „Esch oder die Anarchie“, „Huguenau oder die Sachlichkeit“. In jedem dieser Romane wird das genannte Weltbild grundsätzlich in Frage gestellt, ohne daß der modernistisch-agnostische Erzähler willens oder in der Lage wäre, eine zeitgemäße Alternative vorzuschlagen. Die Spätmoderne scheint eine Epoche oder Problematik zu sein, in der Kritik und kritische Relativierung vorherrschen - nicht der Glaube an eine bestimmte Welt- und Wertordnung. Dies geht klar aus den Kommentaren des Brochschen Erzählers zur „Romantik“ hervor: „(...) Ein Romantiker also, dem es um Geschlossenheit des Welt- und Wertbildes geht, und der das ersehnte Bild in der Vergangenheit sucht, er wird mit gutem Grund auf das Mittelalter hinblicken. Denn das Mittelalter besaß das ideale Wertzentrum, auf das es ankommt, besaß einen obersten Wert, dem alle anderen Werte untertan waren: den Glauben an den christlichen Gott.“ 24 Dieser Wert ist in der Spätmoderne, die von Nietzsches Kritik eingeleitet wird, endgültig zerfallen. Deshalb streben Modernisten wie Broch, Sartre, Musil, Joyce oder Italo Svevo, denen utopisches Bewußtsein keineswegs fremd ist, weder nach politischer noch nach stilistischer Homogenität. Als Erben Rimbauds führen sie in ihren Werken grundverschiedene Sprachen zusammen und bewirken eine zugleich politische, ästhetische und stilistische Polyphonie, die ein Romantiker wie Chateaubriand kaum verstanden (und sicherlich nicht goutiert) hätte. Insgesamt zeigt sich, daß die beiden Theoreme „romantische Homogenität“ („innere Umkodierung“) und „modernistische Heterogenität“ („äußere Umkodierung“) auf komparatistischer Ebene durchaus plausibel gemacht werden können: Während die Triade Novalis-Chateaubriand-Fichte das romantische Streben nach Homogenität und Einheit verkörpert, drücken Rimbauds freier Vers und die großen Romanexperimente der Spätmoderne das essayistische Streben nach Vielfalt und Offenheit aus. Dieses Streben klingt in Brochs relativierender Kritik der Romantik an. Zugleich wird auf komparatistischer Ebene auch deutlich, daß die Epochen als widersprüchliche Problematiken nicht so einfach beschaffen sind, wie es im Zusammenhang mit Brochs Kritik und Lotmans semiotischer Analyse scheinen mag. Shelleys Gedichte mögen insgesamt dem Gesetz der „inneren Umkodierung“ gehorchen, aber ihr Kode ist alles andere als restaurativ oder gar christlich-feudal. Die letzte Strophe seines berühmtem Gedichtes The Mask of Anarchy. Written on the Occasion of the Massacre at Manchester lautet: 24 H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 496. 116 Rise like lions after slumber In unvanquishable number - Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you Ye are many - they are few. Der Aufruf zum Aufstand, zur Revolution ist kaum zu überhören. Und dennoch verbindet die Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen den anarchistischen Romantiker Shelley mit dem Gesellschaftskritiker Novalis: Beiden ist es letztlich um die Überwindung unmenschlicher Verhältnisse zu tun, die in Novalis’ Ofterdingen-Roman (Besuch beim Bergmann) mit der Vermittlung durch den Tauschwert und mit der Warenwirtschaft verknüpft werden. Auch E. T. A. Hoffmanns Doppelroman Lebensansichten des Katers Murr, in dem die Geschichte des Katers, der für den Spießbürger steht, zur Geschichte des kunstbegeisterten Kappellmeisters Kreißler parallel verläuft, ist kaum als konservative Rückbesinnung auf eine christlich-feudale Idylle zu lesen. Besser verstanden wird der Roman als radikale Kritik an einem in kleinlichen Intrigen verstrickten Feudalabsolutismus, an einem Bildungsbürgertum, das die Kunst als Ornament und Statussymbol mißversteht, und an einer Kirche, deren Ideale nicht mehr überzeugen. Das Ideal, das Hoffmann - wie Novalis - uneingeschränkt gelten läßt, ist die Kunst, die bis in die Spätmoderne des jungen Sartre ihre utopische Aura ausstrahlt. Hoffmanns Roman weist nicht nur gesellschaftskritische, sondern auch experimentelle Komponenten auf, die ihn in vieler Hinsicht zu einem Vorläufer modernistischer Romane machen. Wie in Brochs Die Schlafwandler wird schon bei Hoffmann parallel erzählt, und die Erzählung des realistischschlauen, aber banausischen Katers Murr relativiert an entscheidenden Stellen den überzogenen romantischen Idealismus Kreißlers, der allerdings - wie Hoffmanns Kreißleriana zeigen - seine Gültigkeit mit Einschränkungen behält. Obwohl eine komparatistische Betrachtung, wie sich hier zeigt, die Komplexität steigert und immer wieder daran erinnert, daß die Festlegung einer Problematik wie der Romantik auf „Konservatismus“, „Weltflucht“, „Weltschmerz“ oder „Irrationalismus“ stets eine unzulässige Vereinfachung beinhaltet, läßt sie den Gegenstand nicht zerfallen. Sie suggeriert nicht auf nominalistische Art (im Sinne von Croce), daß der Gegenstand „Romantik“ nicht konstruiert werden kann, weil es ihn nicht gibt; vielmehr zeigt sie, daß er in all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit - als Problematik - rekonstruiert werden sollte. Dabei wird auch deutlich, daß es zwischen Dichtern wie Novalis, Shelley und Hoffmann wesentliche Konvergenzen gibt: etwa die Kritik an Bürgertum und Warenwirtschaft - und die Hinwen- 117 dung zum Kunstideal. Dieses beherrscht auch die Spätmoderne Prousts, des jungen Joyce, des jungen Sartre und spielt noch in Thomas Manns Doktor Faustus (1947) eine zentrale Rolle. Trotz des sich durchsetzenden Heterogenitätsprinzips finden sich auch in der Spätmoderne Prosatexte und Gedichte, die von stilistischer Homogenität und „innerer Umkodierung“ geprägt sind: etwa die Dichtungen T. S. Eliots oder Valérys. Auch hier trägt die komparatistische Öffnung dazu bei, daß die ganze Komplexität einer Problematik wahrgenommen wird, daß Reduktionen vermieden werden. Sie bewirkt aber auch, daß Gemeinsamkeiten zutage treten: etwa das nahezu allen Modernisten gemeinsame Prinzip, das in Valérys lapidarem Satz zum Ausdruck kommt: „Le Beau est négatif.“ Dieses Prinzip gilt von Mallarmé bis Adorno, von Rilke bis Proust und Yeats und schlägt sich noch in den Andeutungen und Leerstellen der Avantgarden nieder. In seinem vollen Ausmaß wird es erst von der komparatistischen Warte aus erkennbar. VIII. Die Revolte der Natur in der spätmodernen Prosa Es geht nicht nur darum, die Revolte der Natur in der spätmodernen Prosa zu beschreiben, sondern auch um die Frage, ob die ambivalente Natur - die Natur als Befreiung und als Bedrohung des Subjekts - nicht eines der Hauptcharakteristika der Spätmoderne (als Modernismus) sei. Konkreter lautet die Frage, ob die Spätmoderne nicht aus dem subjektiven „Unbehagen in der Kultur“ hervorgegangen sei, aus dem die Entdeckung einer unversöhnten, aber unbezähmbaren Natur hervorgeht. Kurzum, es geht um die prekäre Stellung des individuellen Subjekts zwischen einer unglaubwürdig gewordenen Kultur (als Moral und Konvention) und einer seit der Aufklärung utilitaristisch manipulierten Natur, die nun ihr Recht fordert - oder gar Rache nimmt. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen steht das zerfallende Subjekt, das sowohl Nietzsche als auch die Psychoanalyse, sowohl der Roman der Jahrhundertwende als auch die avantgardistischen Bewegungen Europas in extremis zu retten versuchen - zugleich aber einer dekonstruierenden Kritik unterwerfen. Die Rettungsversuche fallen oftmals aporetisch aus, weil einige Autoren in der inneren und äußeren Natur eine Retterin der in Konventionen befangenen Subjektivität erblicken, während andere Autoren den gesamten natürlichen Bereich zur Gefahrenzone erklären und mit negativen, pejorativen Konnotationen versehen. Eine dritte Gruppe von Schriftstellern - man denke an André Gide oder D. H. Lawrence - erkennt den Doppelcharakter der Natur und trägt den Widerspruch im Rahmen einer extremen Ambivalenz aus, die den gesamten Modernismus prägt. Geht man von der Hypothese aus, daß die Subjektproblematik, d.h. das Schwanken des Subjekts zwischen einer als euphorisch oder dysphorisch empfundenen Natur und einer zerfallenden oder in Mißkredit geratenen Kultur, eines der Hauptmerkmale der Spätmoderne (des Modernismus) ist, dann stellt sich die Frage, ob es nicht möglich wäre, im Anschluß an diese Problematik Spätmoderne und Postmoderne zu unterscheiden. Letztere könnte in diesem Kontext als eine Epoche aufgefaßt werden, in der das Subjektproblem sekundär wird oder gar verschwindet. 1. Modernismus und Moderne: Von den Junghegelianern zu Nietzsche Zunächst soll im Anschluß an die hier skizzierte Problematik ein konkreter Begriff der Spätmoderne vorgeschlagen werden, der sowohl die seit den 120 Wiener literarischen Debatten 1 und seit Walter Benjamin im deutschen Sprachraum gängige Bezeichnung „Moderne“ als auch den aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Terminus Modernism umfaßt. Dabei soll die Terminologie nicht überdehnt oder gar verwässert, sondern durch die Aufdeckung einer Kontinuität zwischen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konkretisiert werden. Als einer der ersten hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts wohl Charles Baudelaire die Natur und das Natürliche als eine Gefahr empfunden. Schreibt er nicht in „Mon cœur mis à nu“: „La femme est naturelle, c’est-àdire abominable“? 2 Als Antipode der Frau und des Weiblichen schlechthin erscheint in diesem Zusammenhang bekanntlich der Dandy, dessen ästhetisierende und narzißtische Selbstbeherrschung zugleich Naturbeherrschung ist: „La femme est le contraire du Dandy.“ 3 - „In der Opposition, die Baudelaire gegen die Natur anmeldet, steckt zuvörderst ein tiefer Protest gegen das ‚Organische‘“ 4 , kommentiert Walter Benjamin die Phobie des Dichters. Wer mit seiner Baudelaire-Studie und seinem Passagen-Werk vertraut ist, wird den Eindruck gewinnen, daß es sich um eine Phobie der Spätmoderne (des Modernismus) handelt, die mit dem anthropomorphen Naturbegriff der Romantik (etwa Eichendorffs oder Lamartines) bricht. Mag sein, daß es sich so verhält, aber die Spätmoderne scheint auch ihre Kehrseite zu haben, denn manche ihrer Vertreter betrachten die Natur keineswegs als zu bannende Gefahr, sondern als befreiendes Prinzip oder - komplementär dazu - als etwas, was es vom Herrschaftsanspruch des Rationalismus und von den Zwängen der systematischen Philosophie zu befreien gilt. In Deutschland fällt der Anbruch der Spätmoderne möglicherweise mit dem Revolutionsjahr 1848 zusammen und mit der Kritik der Junghegelianer an Hegels philosophischem System, das die Natur auf allen Ebenen, vor allem aber im ästhetischen Bereich, dem Geist und dem begrifflichen Denken unterwarf. Während Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik selbstsicher behauptet: „Denn alles Geistige ist besser als jedes Naturereignis“ 5 , können die Junghegelianer nicht mehr so recht an die Allmacht des Geistes glauben und beginnen um 1850 herum, den Logozentrismus des Hegelschen Systems in Frage zu stellen. 1 Vgl. G. Wunberg, S. Dietrich (Hrsg.), Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, Freiburg, Rombach, 1998 (2. Aufl.). 2 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. I, texte établi, présenté et annoté par Cl. Pichois, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1975, S. 677. 3 Ibid. 4 W. Benjamins, Charles Baudelaire, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 171. 5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 49. 121 Gerade bei Friedrich Theodor Vischer, der sich selbst immer als Hegelianer und Hegel-Schüler bezeichnet hat, kommen Zweifel an der Identität von Geist und Natur, von Subjekt und Objekt auf. Es ist wohl kein Zufall, daß er gerade in einer Rezension von Johannes Volkelts Buch über den Traum zu Hegels Identitätsdenken bemerkt: „Er [Hegel] meint, in seiner Weltvernunft die Natur mit dem Begriff beisammen zu haben, aber er hat ihre scheinbar absolute Spaltung, ihre Diremtion, er hat aus der Idee das ‚Anderssein‘ nicht erklärt (...). Ist also die Natur nicht wirklich abgeleitet, so ist es auch der mit ihr gegebene Zufall nicht, und hieraus folgt zugleich, daß Hegel vom Zufall in der Naturseite des Geistes, als auch vom Traume, geringschätzig wie von allem Zufälligen, nur flüchtig und beiläufig redet.“ 6 In dieser Passage wird nicht nur die Grundproblematik der Junghegelianer, sondern die der gesamten Spätmoderne zusammengefaßt: Wenn Geist und Natur auseinandertreten und Hegels logozentristisches System (auch bei einem wohlmeinenden Hegelianer wie Vischer) zerfällt, dann werden die Zerfallsprodukte dieses Systems sichtbar: das Einmalige, Partikulare, der Zufall, der Traum. Anhand von Vischers Rezension und von Publikationen anderer Hegelianer wie Karl Rosenkranz, Max Stirner und Ludwig Feuerbach ist nicht nur der semantische Raster nachhegelianischer Diskurse zu rekonstruieren, sondern die gesamte sprachliche Situation der politischen, philosophischen und literarischen Spätmoderne, in der die Natur gegen die Kultur, die Demokratie gegen die Herrschaft, das Lachen gegen den Ernst, der Dialog gegen den Monolog, das Unbewußte gegen das Bewußte, der Traum gegen den Logos, der Zufall gegen die Notwendigkeit und die Verdoppelung des Subjekts gegen dessen Identität ausgespielt werden. Als fragwürdig erscheint in dieser Situation das idealistische System Hegels, das Geist und Natur, Subjekt und Objekt monologisch identifiziert, zusammenzwingt und danach strebt, die Natur in den Geist, den Zufall in die Notwendigkeit, das Unbewußte ins Bewußtsein zu integrieren Nicht zufällig wird in F. Th. Vischers Roman Auch Einer (1879) der Zufall als „Tücke des Objekts“ zur geheimen Triebfeder der Handlung. Dieser Roman ist u.a. auch als Parodie des Hegelschen Systemdenkens zu lesen, das durch dialektische Synthesen eine Harmonie vortäuscht, die es nicht gibt. Jedenfalls kann Vischers Erzähler nicht mehr so recht an diese Harmonie im „wahren Ganzen“ glauben: „Ich gehe nun mit Seufzen an die Aufgabe, dem geneigten Leser ein nach Möglichkeit abgekürztes Bild von dem Bilde des harmonischen Weltalls vorzuführen. Was gegeben werden sollte, war eine klar geordnete Übersicht der Durchkreuzungen, denen das 6 F. Th. Vischer, „Der Traum. Eine Studie zu der Schrift: Die Traumphantasie von Dr. Johann Volkelt“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. IV, München, Meyer & Jessen, 1922, S. 482. 122 Leben und Tun des armen Sterblichen durch die Tücke jenes Etwas unterliegt, das wir in Kürze den kleinen Zufall nennen.“ 7 Einige Seiten weiter heißt es mit einem kritischen Seitenblick auf Hegel: „(...) Es gibt ja keinen Plan fürs Planlose, kein System des Systemlosen.“ 8 In dieser Situation geraten wieder die unbändige Natur und der naturwüchsige Zufall in den Blick. Friedrich Nietzsches Bedeutung innerhalb dieser philosophischen Evolution besteht u.a. darin, daß er die Probleme der Spätmoderne, die in den verschiedenen junghegelianischen Philosophien nur anklingen, klar formuliert und miteinander verknüpft. Er kannte nicht nur Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum (1845), sondern zitierte in der Genealogie der Moral auch Feuerbachs Wort von der „gesunden Sinnlichkeit“. Er nahm sich nicht nur eine Apologie der Natur und der gesunden Naturinstinkte vor, sondern stellte zusammen mit der etablierten Kultur und Moral auch Hegels Geist und die begriffliche Wahrheit des Systemdenkers in Frage, als er die Behauptung wagte, „daß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine ‚Seele‘, einen ‚Geist‘ erlog, um den Leib zuschanden zu machen (...)“. 9 In junghegelianischer Tradition stehend, polemisierte er gegen die Allmacht des Subjekts, wandte sich im Aphorismus gegen das System, verteidigte das Unbewußte und den Instinkt gegen den Logos und trieb Feuerbachs Religionskritik auf die Spitze, indem er die bekannte Theorie des Ressentiments entwickelte. Es wäre jedoch eine grobe Vereinfachung der Problematik zu glauben, daß Nietzsches Plädoyer für die verleumdete und geknechtete menschliche Natur, für die gesunden Instinkte und den Ausbruch aus einer depravierten Moral die einzig mögliche Weiterführung der junghegelianischen Kritik an Hegel ist. Denn von Hegel führt auch ein Weg zu Søren Kierkegaard 10 , dessen Tagebuch eines Verführers - ähnlich wie Huysmans’ A Rebours - die Peripetien eines auswegslosen Ästhetizismus schildert, der zunächst durch die ethische, später durch die religiöse Askese abgelöst wird. Dadurch wird die Natur der Kultur als Religion untergeordnet. 7 F. Th. Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Bd. II, Tübingen, Schwäbische Verlagsgesellschaft, 1879 (Reprint), S. 288. 8 Ibid., S. 297. 9 F. Nietzsche, Ecce Homo, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 1157. 10 Vgl. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg, Meiner, 1986 (9. Aufl.), S. 125-130. 123 2. Die Angst vor der Natur: Kafka, Krleža, Sartre Es nimmt nicht wunder, daß sich im 20. Jahrhundert gerade Autoren wie Franz Kafka, Miroslav Krleža und Jean-Paul Sartre mit dem dänischen Philosophen beschäftigen. Die von ihnen dargestellte Existenzproblematik ist insofern als junghegelianisch oder „spätmodern“ zu bezeichnen, als auch sie das individuelle Subjekt im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur betrachten und dabei recht eindeutig Partei für eine in der Kultur verankerte Subjektivität ergreifen. Bei allen drei Autoren wird das Natürliche mit negativen Konnotationen versehen und verursacht Dysphorie. In Kafkas Erzählung Das Urteil ist Gregor Samsas Verwandlung in einen Käfer nicht nur - wie Falter Falk richtig bemerkt - eine „Verwandlung ins Fremde“ 11 , sondern zugleich eine Verwandlung ins Tierische und Ekelerregende. Von Gregor Samsa, der als Käfer gezwungen ist, die verschlossene Tür seines Schlafzimmers mit dem Mund aufzumachen, heißt es: „(...) Aber dafür waren die Kiefer freilich sehr stark; mit ihrer Hilfe brachte er auch wirklich den Schlüssel in Bewegung und achtete nicht darauf, daß er sich zweifellos irgendeinen Schaden zufügte, denn eine braune Flüssigkeit kam ihm aus dem Mund, floß über den Schlüssel und tropfte auf den Boden.“ 12 Bei Kafka hat die Natur nie euphorischen Charakter, sondern ist stets angst- oder ekelerregend: Die Männer, die Josef K. verhaften, fallen durch „geistige Beschränktheit“ 13 und infantil-tierisches Benehmen auf, auf das K. zunächst mit selbstsicherem Rationalismus reagiert. Anfangs gibt er sich noch der Illusion hin, „endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können“. 14 Doch dieser Rationalismus scheitert an der Naturwüchsigkeit einer Welt, die nichtrationale Tiermenschen bewohnen, deren Sexualität vom Animalischen nicht zu trennen ist. Immer wieder erscheint sie als eine Bedrohung des Subjekts und seiner Vernunft. Als K. entdeckt, daß Leni, die Geliebte des Advokaten, eine Flossenhaut zwischen den Fingern hat, ruft er aus: „Was für ein Naturspiel! “ und fügt hinzu: „Was für eine hübsche Kralle! “ 15 In der Erzählung Ein Landarzt wird die Natur (die „Schneewüste“ und die „unirdischen Pferde“) dem erzählenden Subjekt zum Verhängnis: „Nackt, dem 11 Vgl. W. Falk, Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus, Salzburg, Otto Müller Vlg., 1981, S. 111. 12 F. Kafka, Das Urteil, Frankfurt, Fischer, 1952, S. 30. 13 F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer, 1960, S. 12. 14 Ibid., S. 13. 15 Ibid., S. 82. 124 Froste dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich alter Mann mich umher.“ 16 Eindeutiger noch als bei Kafka erscheint die Natur beim Kierkegaard- Leser und Neocartesianer Jean-Paul Sartre als eine akute Bedrohung der Subjektivität. Vor allem der junge Sartre reagiert auf diese Bedrohung im Sinne eines cartesianischen Rationalismus, zu dem sich Antoine Roquentin, der Erzähler von La Nausée (1938), ohne Umschweife bekennt. Sein Ideal ist der geometrische Kreis, der alle naturwüchsigen Zufälle der Existenz (der existence) ausschließt: „Un cercle n’est pas absurde, il s’explique très bien par la rotation d’un segment de droite autour d’une de ses extrémités. Mais aussi un cercle n’existe pas. Cette racine, au contraire, existait dans la mesure où je ne pouvais pas l’expliquer.“ 17 Das Absurde des Existentialisten wird hier mit dem Natürlichen, dem Naturwüchsigen und konkret mit der berühmt gewordenen Wurzel eines Kastanienbaumes im Park von Bouville, assoziiert. Als Teil der Natur wird die Wurzel in ihrer Unförmigkeit und Zufallsbedingtheit zu einer Bedrohung des Subjekts, das sich angesichts der nichterklärbaren, opaken Dinghaftigkeit der Welt zur Sprachlosigkeit - d.h. Subjektlosigkeit als kontingenter Individualität - verurteilt fühlt. „Les choses se sont délivrées de leurs noms“ 18 , stellt Roquentin fest. Junghegelianisch und spätmodern in dem hier vorgeschlagenen Sinn ist die Problematik von Sartres Erzähler deshalb, weil er als vernunftbegabtes Wesen entdeckt, daß er (um es mit Friedrich Theodeor Vischer zu sagen) „die Natur mit dem Begriff nicht beisammen hat“. Auf diese modernistische Horrorvision reagiert der Rationalist Sartre, der Autor von L’Imagination (1936) und L’Imaginaire (1940), mit einer ästhetizistischen Apotheose der Kunst (der Literatur), die er später in Les Mots (1964) selbstkritisch relativiert. Als besonders anregend erscheint in dem hier skizzierten Zusammenhang ein kurzer Vergleich mit Miroslav Krležas erstem Roman Povratak Filipa Latinovicza (1932), der in der vergleichenden Literaturgeschichte häufig zwischen Existentialismus und Expressionismus verortet wird, da er wie La Nausée die Subjekt-Objekt-Problematik in den Mittelpunkt der Erzählung stellt. Wie kommt Subjektivität überhaupt zustande? Ähnlich wie La Nausée beginnt Krležas Roman mit dieser Frage und endet mit ihr. „Biti 16 F. Kafka, „Ein Landarzt“ in: ders., Das Urteil, op. cit., S. 79. 17 J.-P. Sartre, La Nausée, in: Œuvres romanesques, éd. établie par M. Contat et M. Rybalka, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1980, 153. 18 Ibid., S. 148. 125 subjekt i osje ati identitet svoga subjekta.“ („Subjekt sein und die Identität des eigenen Subjekts fühlen.“) 19 Dies ist besonders schwierig, wenn die Kultur - wie in Krležas Roman - als kontingentes Konstrukt erscheint, das keinen Schutz vor Naturwüchsigkeit und Zufall bietet. Zur Naturwüchsigkeit gehört - wie bei Sartre - der eigene Körper, der als kontingente Größe mit der Subjektivität und dem Subjektsein nicht identisch ist: „Identitet jednog subjekta ne da se utvrditi ni po licu ni po grimasama, ni po njekim vanjskim pojavama.“ („Die Identität eines Subjekts läßt sich weder am Gesicht noch an den Grimassen noch an irgendwelchen äußeren Erscheinungen messen.“) 20 Das Subjekt ist neu zu konstituieren, notfalls durch eine schöpferische Tat jenseits der etablierten Kultur. Diese Tat ist entscheidend für Krležas Roman, an dessen Ende es dem Maler Latinovicz gelingt, sich über die animalische Natur des gescheiterten Anwalts Balo anski und den nihilistischen Materialismus des verkommenen Hautarztes Kyriales durch künstlerische Kreativität zu erheben. Typologisch ist das Romanende durchaus mit dem von La Nausée zu vergleichen: Latinovizc, der nahe daran war, an seinen künstlerischen Fähigkeiten zu verzweifeln, findet seine Inspiration wieder und definiert sich endgültig als Künstler: „Sve se pod njegovom rukom u posljednje vrijeme pretvaralo u sliku (...).“ („Unter seiner Hand verwandelte sich in letzter Zeit alles in Bilder [...].“) 21 Dieser Abschluß erinnert nicht nur an die letzten Seiten von Sartres La Nausée, sondern auch an Prousts Recherche, in der die wiedergefundene Zeit mit der Entdeckung der Literatur als der wahren Wirklichkeit zusammenfällt. Die prekäre Situation des Subjekts zwischen einer fragwürdig gewordenen Kultur und einer als bedrohlich erscheinenden Natur wird schließlich auch von Thomas Mann in seiner bekannten Rede zum 80. Geburtstag von Sigmund Freud zur Sprache gebracht: „Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so steht es fast rührend, recht eigentlich besorgniserregend damit. Es ist ein kleiner, vorgeschobener, erleuchteter und wachsamer Teil des ‚Es‘ - ungefähr wie Europa eine kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asiens ist.“ 22 Auch hier erscheint die „innere Natur“ als etwas Bedrohliches, das inmitten der europäischen Kulturkrise, des „Unbehagens in der Kultur“, wie Freud sagt, das Subjekt und seine Autonomie in Frage stellt. Die Krise der 19 M. Krleža, Povratak Filipa Latinovicza, in: ders., Dva romana. Izabrana Djela, Agram- Belgrad-Sarajewo, Naprijed-Prosveta-Svjetlost, 1966, S. 39. (Die Rückkehr des Filip Latinovicz, Frankfurt, Fischer, 1987, S. 45.) 20 Ibid., S. 40. (Ibid., S. 45.) 21 Ibid., S. 178. (Ibid., S. 225-226.) 22 Th. Mann, „Freud und die Zukunft“, in: S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt, Fischer, 1953, S. 139. 126 tradierten Kulturwerte, die Autoren wie Sartre, Kafka, Krleža und Hermann Hesse immer wieder zum Thema wird, schärft auch Thomas Manns Blick für die Gefahr, die vom Naturwüchsig-Triebhaften ausgeht. In diesem Kontext könnte die Spätmoderne als ein Kulturtyp und eine Problematik definiert werden, in denen die prekäre Stellung des Subjekts zwischen Natur und Kultur, zwischen „Es“ und „Kultur-Überich“ (Freud), zwischen Bewußtem und Unbewußtem zentral ist. In diesen Zusammenhang gehört auch das Spannungsverhältnis zwischen dem „mütterlichen“ und dem „väterlichen“ Pol, unter dem die gegen die väterliche Tradition revoltierenden Protagonisten der Spätmoderne leiden. 3. Natur als Befreiung: Baroja, Camus, Aragon Diese Definition - besser: Teildefinition - der Spätmoderne (des Modernismus) ist mit umgekehrten Vorzeichen auch auf jene Autoren anwendbar, denen die Natur als Triebfeder subjektiver Befreiung erscheint. In diesem Zusammenhang seien hier nur drei Autoren erwähnt, von denen zwei nachhaltig von Nietzsche beeinflußt wurden, während der dritte mit Freuds Unbewußtem experimentierte: Pío Baroja, Albert Camus und Louis Aragon. Pío Barojas Romane Camino de perfección und El Mayorazgo de Labraz sind an der Schwelle zum 20. Jahrhundert erschienen: in den Jahren 1902 und 1903. Beide stellen ein zerrissenes Subjekt dar, das zwischen Natur und Kultur schwankt und sich schließlich in der mediterranen Natur von den Zwängen eines asketischen Christentums befreit. Die Geschichte Fernando Ossorios, des Romanhelden von Camino de perfección, ist die eines Subjekts, das die asketische Moral Kastiliens als Zwangsjacke empfindet und stets von neuem versucht, diese Zwangsjacke abzustreifen. Sein „Unbehagen in der Kultur“ gipfelt schließlich in der Erkenntnis, daß sich in Nietzsches radikaler Religionskritik ein Ausweg aus der Krise abzeichnet. Um die Jahrhundertwende ist Nietzsche in Spanien nur einigen wenigen bekannt, aber sein Einfluß wächst: vor allem unter den Schriftstellern, die wie Pío Baroja der sogenannten Generación del 98 angehören (Azorín, Valle-Inclán, Ganivet). Baroja rezipiert Nietzsche nicht unkritisch: Er übernimmt zwar seine Religionskritik sowie seine Kritik des Ressentiments, polemisiert aber in verschiedenen kurzen Artikeln gegen die misogyne Einstellung des deutschen Philosophen. Entsprechend fällt das Ende von Camino de perfección aus: Ossorio findet außerhalb der geographischen und ideologischen Grenzen Kastiliens, in der Landschaft Valencias und vor allem in der Gestalt der jungen Dolores, die Natur, das Glück und die Befreiung: „Sí; ella era el gran río de la Naturaleza, poderosa, fuerte; Fernando comprendía entonces, como no había 127 comprendido nunca, la grandeza inmensa de la mujer, y al besar Dolores, creía que era el mismo Dios el que se lo mandaba.“ 23 Ähnlich endet der Roman El mayorazgo de Labraz, der ein Jahr nach Camino de perfección erschien. Auch der Mayorazgo und seine Gefährtin Marina finden das Glück in dem Augenblick, da das asketische Kastilien hinter der Sierra verschwindet und am Horizont der blaue Streifen des Mittelmeers sichtbar wird: „Aquel despertar de la Naturaleza, aquella ráfaga de vida que se sentía en el aire, les había infundido a los dos una extraña laxitud.“ 24 Im selben Augenblick erwacht sowohl auf seiten des blinden Mayorazgo als auch auf seiten der um viele Jahre jüngeren Marina das geschlechtliche Verlangen, und die letzte Zeile des Romans lautet: „Y el ciego y la niña se fundieron los dos en un largo beso.“ 25 Nicht zufällig heißt das Mädchen Marina, denn bei Baroja ist das Wasser - und vor allem das Mittelmeer - eine Metapher fürs Leben. An dieser Stelle drängt sich geradezu ein Vergleich mit einem anderen Nietzscheaner auf, in dessen Werk Wasser und Mittelmeer ebenfalls das Lebensprinzip symbolisieren: mit Albert Camus. Zwar hat er seinen Roman L’Etranger 40 Jahre nach Camino de perfección veröffentlicht, aber immer noch im Kontext der spätmodern-modernistischen Problematik. Als Nietzscheaner und Erbe der Junghegelianer stellt Camus nicht nur die christliche, sondern auch die hegelianisch-marxistische „Metaerzählung“ (Lyotard) in Frage: „Pour Marx, la nature est ce qu’on subjugue pour obéir à l’histoire, pour Nietzsche ce à quoi on obéit, pour subjuguer l’histoire. C’est la différence du chrétien au Grec.“ 26 Trotz seiner Kritik an Nietzsche steht Camus diesem Jung- und Antihegelianer näher als dem Junghegelianer Marx, der die Geschichte vergöttlicht. In seinen Romanen - sowohl in L’Etranger als auch in La Peste - stellt er das asketische Christentum als ideologische Erzählung in Frage, indem er Protagonisten wie Meursault und den Dr. Rieux auftreten läßt, die primär dem Naturgesetz gehorchen. Der Fremde ist ein Roman, dessen Held seinem mediterranen Naturinstinkt folgt und dafür vom Gericht im Rahmen einer ideologischen, manichäischen Erzählung zum Tode verurteilt wird. Darin ist er mit dem Dr. Rieux aus La Peste und den vielen Opfern der Pest solidarisch, deren Tod in den moralisierenden Predigten des Père Paneloux als Strafe Gottes gerechtfertigt wird: „(...) L’amour de Dieu est un amour difficile. Il suppose l’abandon total de soi-même et le dédain de sa per- 23 P. Baroja, Camino de perfección. Pasión mística, New York, Las Americas Publishing Company, 1952, S. 201. 24 P. Baroja, El Mayorazgo de Labraz, Madrid, Espasa Calpe, 1980, S. 162. 25 Ibid., S. 162. 26 A. Camus, L’Homme révolté, in: Essais, textes établis et annotés par R. Quillliot et L. Faucon, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1965, S. 488. 128 sonne.“ 27 Im Gegensatz dazu ergreifen Camus und sein Erzähler Partei für die malträtierte menschliche Natur. Darin unterscheiden sie sich vom Rationalisten Sartre, der sowohl die „äußere“ als auch die „innere“ Natur des Menschen mit Mißtrauen betrachtete und die féerie intérieure, wie André Breton das Unbewußte nennt, strikt ablehnte. So heißt es beispielsweise in Qu’est-ce que la littérature? , wo Sartre mit Breton und den Surrealisten abrechnet: „Il s’agit d’anéantir, d’abord, les distinctions reçues entre vie consciente et inconsciente, entre rêve et veille. Cela signifie qu’on dissout la subjectivité.“ 28 Sartre, dessen Erzähler in La Nausée die Übermacht der Natur fürchtet, hat nicht ganz unrecht, denn in vieler Hinsicht läuft das surrealistische Experiment mit dem Unbewussten auf das hinaus, was Gisela Steinwachs im Zusammenhang mit Bretons Nadja als die „Rückverwandlung von Kultur in Natur“ 29 bezeichnet. Trotz seiner Kritik an Breton und den Surrealisten hat Camus sich diese rationalistische Ablehnung der inneren Natur nicht zu eigen gemacht; eher lehnte er Sartres moralisierenden Historismus ab, der in Sartres Kritik an L’Homme révolté zum Ausdruck kommt und der Anfang der 1950er Jahre zum Bruch zwischen den beiden existentialistischen Philosophen führte. Dieser Bruch wäre hier im Rahmen der spätmodernen Problematik zu erklären: einer Problematik, in der die ambivalente Natur vom Standpunkt des Subjekts bald als bedrohliches, bald als befreiendes Prinzip erscheinen kann. Während Sartre für die menschliche Ratio und die menschliche Geschichte Partei ergriff, plädierte Camus für die menschliche Natur. An diesem spätmodern-modernistischen Widerspruch zerbrach der Pariser Existentialismus. Dennoch waren sich die beiden Philosophen der Existenz in einem Punkt einig: in ihrer Ablehnung der surrealistischen Symbiose von äußerer und innerer Natur, von Natur und Unbewußtem. Sie wird geradezu beispielhaft in Louis Aragons Le Paysan de Paris (1926) dargestellt, wo die vom Menschen manipulierte Natur der Buttes Chaumont (ein Park im Nordosten von Paris) zugleich als Ausdruck des - ebenfalls manipulierten - Unbewußten erscheint. Weder bei Aragon noch bei Breton kann von einer euphorischen Rückkehr zur Natur im Sinne der Romantik die Rede sein. Auch Camus’ oder 27 A. Camus, La Peste, in: Théâtre, Récits, Nouvelles, textes établis et annotés par R. Quilliot, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1962, S. 1405. 28 J.-P. Sartre, Qu’est-ce que la littérature? , Paris, Gallimard, 1948, S. 220. 29 Vgl. G. Steinwachs, Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung von Kultur in Natur, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, S. 13: „Dennoch, auch in der zivilisierten Gesellschaft beschränkt sich die Rolle der Natur nicht auf die eines Objektes, auf das verzichtet wird. Vielmehr tritt sie auch hier als sich rächendes Subjekt in Erscheinung.“ 129 Barojas Wassereuphorie wird man vergeblich bei ihnen suchen. In Le Paysan de Paris ist Natur stets gestaltete, urbane Natur, die aller menschlichen Manipulation zum trotz stets von neuem ihr ungebändigtes, undurchschaubares Wesen zutage treten läßt, und zwar immer dort, wo es am wenigsten erwartet wird: im urbanen Bereich der Kultur, die metaphorisch der Natur angeglichen wird. Darin ähnelt Natur dem Unbewußten, das im Laufe von Sozialisationsprozessen durch Verdrängung, Verformung, Unkenntlichmachung zustande kommt. Aragon legt in dieser Hinsicht keine Interpretation nahe, denn er sagt es rundheraus: „La nature est mon inconscient.“ 30 Etwas weiter wird das sozialisierte Bewußtsein dem Unbewußten, dem inconscient, untergeordnet: „Mais si l’on songe que le conscient ne puise nulle part ses éléments, si ce n’est dans l’inconscient, on est bien obligé de convenir que le conscient est contenu dans l’inconscient.“ 31 Vor diesem Hintergrund erscheint der Park von Les Buttes Chaumont als das Unbewußte der Stadt: „aux approches du parc où est niché l’inconscient de la ville“. 32 Dieses Unbewußte der Zivilisation wird während eines nächtlichen Spaziergangs durch die Buttes von den drei Surrealisten - Louis Aragon, André Breton und Marcel Noll - ästhetisch erschlossen. Unvergessen bleibt zwar die Romantik, der die Surrealisten so viel verdanken, aber inmitten von einer zivilisatorisch gezähmten Natur wird sie zum Anachronismus: Lamartines Lac - „qui fait si joli en musique“ 33 - wird modernistisch als Illusion entlarvt. Denn die surrealistische Natur ist eine durch Herrschaftsmechanismen und das Unbehagen in der Kultur verfremdete Welt. Insofern handelt es sich bei der surrealistischen Befreiung im Unbewußt-Natürlichen um einen ambivalenten Prozeß. Die Nacht ist ein von dieser Verfremdung geprägtes Naturphänomen. Sie ist - wie in Bretons Nadja - die nächtliche Stadt: „La nuit de nos villes ne ressemble plus à cette clameur des chiens des ténèbres latines, ni à la chauve-souris du Moyen-Age, ni à cette image des douleurs qui est la nuit de la Renaissance. C’est un monstre immense de tôle, percé mille fois de couteaux. Le sang de la nuit moderne est une lumière chantante. (...) La nuit a des sifflets et des lacs de lueurs.“ 34 In diesem Text kommt es durch die Synthese von Bewußtem und Unbewußtem zu einer von Widersprüchen und surrealen Metaphern gesättigten Einheit von Natur und Kultur, in der bald Natur vermenschlicht, bald Kultur 30 L. Aragon, Le Paysan de Paris, Paris, Gallimard (1926), 1953, S. 153. 31 Ibid., S. 154. 32 Ibid., S. 168. 33 Ibid., S. 176. 34 Ibid., S. 173. 130 ins Natürliche projiziert, verwandelt wird. Die Lichter der Stadt erscheinen als „Seen von Lichtern“ („lacs de lueur“). Dem Rationalisten Sartre waren solchen Synthesen unheimlich; er warf den Surrealisten vor, die Subjektivität im Unbewußten, die Kultur in der Natur aufzulösen (s.o.). Er selbst fand jedoch keinen Ausweg aus dem Dilemma der Naturbeherrschung. Am Ende von La Nausée wird diese, wie François George richtig gesehen hat 35 , nur gesteigert. Auch D. H. Lawrences Widersprüche zeigen, daß er zwischen Natur und Kultur schwankt, ohne eine Lösung im Literarischen zu finden. Es bleibt das Verdienst des frühen Aragon und der anderen Surrealisten, daß sie sich mit Freuds Entdeckung des Unbewußten produktiv auseinandersetzten und dabei neue Entdeckungen machten, die an Proust, Nerval, E. T. A. Hoffmann und andere Romantiker anknüpfen. 4. Die Ambivalenz der Natur: D. H. Lawrence Wie ambivalent der Naturbegriff der Spätmoderne ist, zeigt schließlich das Werk von D. H. Lawrence, in dem die Natur sowohl als befreiende als auch als bedrohliche Macht erscheint. Eine Macht ist sie in beiden Fällen, und vor allem Lawrences short novel The Virgin and the Gipsy (1927) zeigt, wie sich innere und äußere Natur - Liebesverlangen und Überschwemmung - vereinigen und die unglaubwürdig gewordene Kultur eines englischen Vikars und Pharisäers hinwegfegen. Yvette, Tochter des Vikars, rebelliert gegen eine repressive, geisttötende anglikanische Kultur und gegen das kleinbürgerliche Milieu ihres Vaters, das ihre revoltierende Mutter auf skandalöse Art (mit einem jüngeren Mann) verlassen hat. Yvette fühlt sich von einem jungen Zigeuner angezogen, der in ihrer Gegend mit seiner Sippe ein Nomadenleben führt. In der Gestalt des Zigeuners gehen innere und äußere Natur, unbewußtes erotisches Verlangen und Sexualität ineinander über: „Then with a slow, effortless spring of his flexible loins, he was on the cart again, and touching the horse with the reins. The roan horse was away at once, the cart-wheels grinding uphill, and soon the man was gone, without looking round. Gone like a dream which was only a dream, yet which she could not shake off.“ 36 Eines Tages läßt der junge Zigeuner Yvette von der alten Zigeunerin ausrichten: „Be braver in your heart... Be braver in your body“ und: „Listen for the voice of water.“ 37 Tatsächlich bricht kurze Zeit später ein Damm, 35 Vgl. F. George, Sur Sartre, Paris, Bourgois, 1976, S. 420. 36 D. H. Lawrence, „The Virgin and the Gipsy“, in: The Complete Short Novels, Harmondsworth, Penguin, 1982, S. 509. 37 Ibid., S. 540. 131 und die Wassermassen zerstören das Haus des Vikars (die alte „Rectory“), in dem auch dessen Mutter, eine Inkarnation kleinbürgerlicher Heuchelei, ertrinkt. Yvette und der Zigeuner flüchten vor den Fluten in das halb eingestürzte Haus und finden im oberen Stockwerk ihr kurzes Liebesglück: „‚Warm me‘, she moaned, with chattering teeth. ‚Warm me! I shall die of shivering‘.“ 38 „The voice of water“: Der Leser wird hier nicht nur an Camus, sondern auch und vor allem an Baroja erinnert, in dessen Camino de perfección von einer „Quelle“ die Rede ist, deren Gesang niemand verstand: „una fuente que cantaba invariable y monótona su eterna canción no comprendida“. 39 Bei Lawrence kann die Natur allerdings auch als bedrohliche Macht erscheinen, die wenig mit Befreiung, dafür aber mehr mit Nietzsches Theorie des Machtinstinkts zu tun hat. Im Kurzroman The Fox (1923) zeigt Lawrence beispielsweise, wie ein junger Mann, der mit dem Fuchs und der ungezähmten Natur assoziiert wird, die beiden Freundinnen March und Banford entzweit, Jill Banford (scheinbar zufällig, ohne es zu beabsichtigen) tötet und sich der anderen Frau bemächtigt: „He wanted to veil her woman’s spirit, as Orientals veil the woman’s face. (...) He wanted to make her submit, yield, blindly pass away out of all her strenuous consciousness. He wanted to take away her consciousness, and make her just his woman. Just his woman.“ 40 Von einer Befreiung im Natürlichen, im Geschlechtlichen - wie etwa bei Baroja - kann hier nicht die Rede sein. Nietzsches Machtinstinkt tritt in den Vordergrund und zerstört die erotische Liebe. Daß Lawrence auch die innere Natur, die verdrängte Sexualität, für eine Gefahr hielt, läßt seine skeptische und kritische Einstellung zur Psychoanalyse erkennen, der er bisweilen die Zersetzung von Kultur und Moral vorwirft: „First and foremost the issue is a moral issue. It is not here a matter of reform, new moral values. It is the life or death of all morality. (...) Psychoanalysis is out, under a therapeutic disguise, to do away entirely with the moral faculty in man (...).“ 41 Diese Zeilen hätte auch Jean-Paul Sartre schreiben können. Das spätmoderne Bewußtsein schwankt hier - ähnlich wie bei Hermann Hesse und André Gide - zwischen einer unglaubwürdig gewordenen Kultur und einer ambivalenten Natur, die bald als Bedrohung, bald als Befreiung des Subjekts dargestellt wird. Dies scheint die Problematik der Spätmoderne und insbesondere der modernistischen Literatur zu sein, in der das individuelle Subjekt und seine Identität noch zentral sind. 38 Ibid., S. 549. 39 P. Baroja, Camino de perfección, op. cit., S. 60. 40 D. H. Lawrence, „The Fox“, in: The Complete Short Novels, op. cit., S. 204. 41 D. H. Lawrence, „Psychoanalysis vs. Morality“, in: ders., Fantasia of the Unconscious. Psychoanalysis and the Unconscious, Harmondsworth, Penguin, 1983, S. 202. 132 5. Homogenität und Heterogenität der Problematik: Schlußbetrachtung Obwohl die spätmodern-modernistische Problematik relativ heterogen ist und nicht auf Naturfeindschaft (Jauß) im Sinne von Baudelaire, Sartre und Kafka oder auf Natureuphorie im Sinne von Baroja und Camus festgelegt werden kann, bildet sie dennoch eine Einheit, die im vorliegenden Fall durch das Subjektproblem gewährleistet wird. Das von Freud analysierte „Unbehagen in der Kultur“, das individuelle Subjektivität grundsätzlich in Frage stellt, wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allen Modernisten - von Baudelaire und Nietzsche bis Gide und Lawrence - zum Problem. In den meisten Fällen gilt es, das laut Ernst Mach „unrettbare“ Subjekt in extremis doch noch zu retten: durch eine Flucht in die Natur (ins Unbewußte und Onirische) oder durch einen Rückzug in die vielgeschmähte und attackierte „bürgerliche Kultur“. Die beiden Auswege, die oft zu Sackgassen werden, wie Lawrences Werk zeigt, zeugen von der Ambivalenz des individuellen Subjekts in der Spätmoderne und von der Ambivalenz des Subjektbegriffs, der sowohl das „Zugrundeliegende“ als auch das „Unterworfene“ meint (subiectum und hypokeimenon). Den meisten spätmodernen Autoren ist es jedoch nicht nur um das Subjekt zu tun, sondern auch um die subjektive Suche nach einer besseren, utopischen Welt: nach dem „Gesetz“ (Kafka), der „Kunst“ (Proust, der junge Joyce), der „Utopie des anderen Zustandes“ (Musil), der „authentischen Welt des Unbewußten“ (Breton) oder der „klassenlosen Gesellschaft“ (Brecht, Malraux in seiner marxistischen Phase). Der „Zerfall der Werte“ (Broch) führt schließlich zu der postmodernen Relativierung aller Werte und zu der Erkenntnis, daß in der Wirtschaftsgesellschaft alle Wertsetzungen - sowohl Ideologien als auch Utopien - austauschbar, indifferent werden. Ein lapidarer Satz Thomas Bernhards faßt den Indifferenzzusammenhang der Postmoderne prägnant zusammen: „Mein Standpunkt ist die Gleichwertigkeit aller Dinge.“ (Bernhard, Die Zeit, 29. Juni 1979, S. 33.) In diesem Kontext tritt das spätmoderne Subjekt in den Hintergrund, und seine Suche nach der „wahren Welt“ erscheint irrelevant. Andere Probleme treten in den Vordergrund, die alte Konstellation zerfällt wie im Kaleidoskop, und ein neues Bild wird sichtbar: das Bild einer gefährdeten Natur und einer gefährdeten Menschheit, das sowohl in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow als auch in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt klare Konturen annimmt. Während eine spielerische Postmoderne die modernistische Suche relativiert und parodiert (etwa John Barth in Lost in the Funhouse), begehrt eine revoltierende Postmoderne (Pynchon, Ransmayr) gegen die sich abzeichnende Katastrophe auf. Insgesamt wird deutlich, daß die hier skizzierten Perioden als Problematiken nur komparatistisch rekonstruierbar sind: sowohl im besonderen als 133 auch im allgemeinen. Die Stellung des spätmodernen Subjekts zur Natur kann nur auf interkultureller Ebene umfassend (konkret) dargestellt werden, auf der die Erben Baudelaires - Kafka, Krleža und Sartre - die naturabgewandte Seite der Spätmoderne sichtbar werden lassen, während Autoren wie Baroja, Camus und bis zu einem gewissen Grad auch die Surrealisten als Erben Nietzsches die Natur als menschliche Natur bejahen. In Großbritannien zeigt Lawrences ambivalentes Werk, daß auch eine Zwischenposition denkbar ist, die aus der Janusköpfigkeit der Natur hervorgeht. Sowohl die spätmoderne als auch die postmoderne Problematik ist nur komparatistisch rekonstruierbar, weil nur im Vergleich Widersprüche, Parallelen, Konvergenzen und Divergenzen aufgezeigt werden können. IX. Negativität zwischen Spätmoderne und Postmoderne Nach den Revolutionen und Aufständen des Jahres 1848, nach dem Zerfall des Hegelschen Systems im kritischen Denken der Junghegelianer meint Negativität in Philosophie und Literatur vor allem Auflehnung gegen die bürgerlichen Verhältnisse. Diese Auflehnung nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene, auch widersprüchliche Formen an. Während Marx und Engels in ihrem 1848 erschienenen Kommunistischen Manifest eine klassenlose Gesellschaft ins Auge fassen, sterbt der Anarchist Peter Fürst Kropotkin eine anarchistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung an, die auf einer egoistisch motivierten gegenseitigen Hilfe gründet. Seine Ablehnung der Bürgerlichkeit wird von Michael Bakunin übertroffen, der als Hegelianer und Hegel-Kritiker eine negative Philosophie entwickelt, die auf die Vernichtung alles Bestehenden hinausläuft. In dieser Kurzdarstellung zeichnen sich bereits die beiden Pole ab, zwischen denen sich negatives, kritisches Denken bewegt: die neue Gesellschaftsordnung und die Negation schlechthin. Längst sind die anarchistischen Entwürfe in Vergessenheit geraten, und auch der Marxismus wurde bis vor kurzem in einigen Kreisen für tot erklärt (Jean-Marie Benoist, Marx est mort, Paris 1970), aber das zeitgenössische Denken scheint sich weiterhin zwischen dem Pol der Affirmation und dem der Negation zu bewegen. Während ein Philosoph wie Karl R. Popper meint, die demokratische Marktgesellschaft durch piecemeal social engineering 1 Schritt für Schritt reformieren zu können und Luhmann alle anfallenden Probleme des Spätkapitalismus durch eine Steigerung der „Irritierbarkeit“ sozialer Systeme lösen möchte 2 , weisen kritische Theorien der Gesellschaft auf das Herrschaftsprinzip hin, das den Systemen - Wirtschaft, Politik, Wissenschaft - innewohnt. So oszilliert auch das nachmoderne Denken zwischen dem Pol der Reform und dem der Revolte. Im folgenden soll gezeigt werden, worin sich die moderne und spätmoderne Revolte von der postmodernen unterscheidet: Während die meisten modernen und spätmodernen (modernistischen) Gesellschaftskritiken eine bessere, rationale, menschliche Ordnung anvisieren und sich dem rationalistischen, marxistischen, anarchistischen oder kritisch-theoretischen Diskurs der Emanzipation zuordnen lassen, sind die postmodernen Negationen des Bestehenden ausweglos. Es gilt entweder, das Schlimmste - etwa im 1 Vgl. K. R. Popper, The Open Society and its Enemies. The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, Bd. II, London, Routledge & Kegan Paul, 1945, S. 222. 2 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 503-504. 136 ökologischen Sinne - zu verhüten oder einer aussichtslosen Revolte das Wort zu reden. Während ökologisch-literarische Entwürfe - z. B. Ernest Callenbachs Ecotopia oder Ecotopia Emerging - der ersten Kategorie zuzurechnen sind, entsprechen Lyotards späte Ästhetik und einige literarische Werke wie Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, Thomas Bernhards Auslöschung oder Christoph Ransmayrs Die letzte Welt der zweiten. Es gibt also durchaus - neben einer affirmativen - eine negative und negierende Postmoderne. Es soll gezeigt werden, daß die Postmoderne nicht auf Affirmation, lesbares Schreiben und Konsum festgelegt werden kann. Der Lyotard der späten 80er und frühen 90er Jahre hat sich von dieser affirmativen Postmoderne eines Charles Jencks eindeutig distanziert. Seine postmoderne Ästhetik ist eine Fortsetzung der spätmodernen Negationen Mallarmés, Valérys und Adornos. Von ihnen unterscheidet sie sich wesentlich dadurch, daß sie den Begriff des autonomen, kritischen und selbstkritischen Subjekts preisgibt und nicht mehr von der aufklärerischen Hoffnung auf Emanzipation getragen wird. Sowohl im spätmodernen als auch im postmodernen Bereich soll „Negation“ komparatistisch erschlossen werden: d.h. nicht im Rahmen eines Sprachbereichs, sondern interkulturell. Erst auf interkultureller Ebene kann sie konkret, in ihren verschiedenen Aspekten, beschrieben werden. Zugleich wird deutlich, daß Adornos Kritische Theorie der Gesellschaft nur im interkulturellen Zusammenhang, nämlich als konsequente Weiterführung von Mallarmés und Valérys Ästhetiken, zu verstehen ist - und nicht nur als kritische Reaktion auf die geschichtsimmanenten Dialektiken von Hegel und Marx. Von komparatistischer Bedeutung ist schließlich die hier nachgezeichnete Interaktion von Literatur und Philosophie, die schon vor Jahrzehnten ein Komparatist wie Henry Remak zu Recht als zentrales Thema der Vergleichenden Literaturwissenschaft bezeichnete. 3 Denn es stellt sich immer wieder heraus, daß Philosophie auf vielerlei Arten mit der Literatur verwoben ist: nicht nur in den Werken Diderots, Rousseaus oder Sartres, sondern auch in der Ästhetik eines Max Bense, die Francis Ponge, Gertrude Stein und der konkreten Dichtung zahlreiche Impulse verdankt. 4 Ähnliches ließe sich von Adornos negativer Dialektik sagen, deren Negationen von 3 Vgl. H. H. H. Remak, „Comparative Literature. Its Definition and Function“, in: N. P. Stallknecht, H. Frenz (Hrsg.), Comparative Literature. Method and Perspective, Carbondale, Southern Illinois Univ. Press, 1971, S. 22. 4 Vgl. M. Bense, Die Realität der Literatur, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1971: „Ponge und die literarische Praxis“, „Was erzählt Gertrude Stein? “ und „Notiz über konkrete Poesie“. 137 Mallarmés Dichtung und Prosa zum Teil vorweggenommen wurden. 5 Eine Trennung von Philosophie und Literatur ist nur auf Kosten beider Bereiche durchführbar. 1. Mallarmé und Adorno in der spätmodernen Problematik Die Spätmoderne (etwa seit 1850), die hier nicht als Weltanschauung, Ideologie oder Ästhetik, sondern als Problematik aufgefaßt wird (vgl. Kap. VI), ist eine heterogene Konstellation, in der Philosophen, Schriftsteller und Künstler sehr unterschiedlich auf miteinander verwandte Probleme reagieren. Ein Problem, eine Frage ist ihnen allen gemeinsam: Die Frage nach einer besseren Welt. Diese Frage klingt noch einmal an der Schwelle zur Postmoderne in Anthony Burgess’ bekanntem Roman A Clockwork Orange (1962) an, zu einem Zeitpunkt also, da der nachmoderne Nouveau Roman sich längst von spätmodernen Problemen wie „Wahrheit“, „Freiheit“ und „Emanzipation“ verabschiedet hat: „And in this better world, O my brothers, I was like a big field with all flowers and trees (...).“ 6 Dieser Text wirkt wie ein letztes Aufleuchten moderner und spätmoderner Hoffnungen vor dem Einbruch der Postmoderne, die aufgehört hat, an die Möglichkeit einer besseren Welt zu glauben. Trotz aller Unterschiede und Gegensätze, die sie trennen, hielten die spätmodernen Philosophen, Schriftsteller und Künstler an dieser Möglichkeit fest. Einige - etwa Brecht - folgten Marx und argumentierten wie er historisch-immanent. Ihnen war Negativität nur ein Mittel zum Zweck: zur Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft, die keine abstrakte Utopie war, sondern aus dem historischen Prozeß hervorgehen sollte. Charakteristisch für diesen Standpunkt ist der folgende Text von Bertolt Brecht: „Realistisch heißt: den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdeckend / die herrschenden Gesichtspunkte als die Gesichtspunkte der Herrschenden entlarvend / vom Standpunkt der Klasse aus schreibend, welche für die dringendsten Schwierigkeiten, in denen die menschliche Gesellschaft steckt, die breitesten Lösungen bereit hält / das Moment der Entwicklung betonend / konkret und das Abstrahieren ermöglichend.“ 7 Dies ist ein Beispiel für historisch-immanente Kritik im marxistischen Sinne. Die bessere Welt wird nicht idealistisch-utopisch der gesellschaftlichen Wirklichkeit 5 Zu den vielfältigen Beziehungen zwischen Mallarmé, Valéry und Adorno vgl. Vf., Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2005, Kap. IV. 6 A. Burgess, A Clockwork Orange (1962), London, Penguin, 1972, S. 59. 7 B. Brecht, Über Realismus (Hrsg. W. Hecht), Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S. 70. 138 entgegengesetzt, sondern soll aus dieser Wirklichkeit und deren Widersprüchen, Negativitäten hervorgehen. Aber schon innerhalb der spätmodernen Problematik zeichnet sich eine Absage an das Emanzipationsversprechen ab: nicht nur an das marxistische, sondern auch an das humanistische. Mit dieser Absage geht ein Rückzug in die reine Negativität einher. Sie tritt in Thomas Manns großem Roman Doktor Faustus (1947) in den Vordergrund, dessen nietzscheanischer Held Adrian Leverkühn nicht nur die negative Musikästhetik Arnold Schönbergs und Alban Bergs vertritt, sondern auch die ästhetische Negativität im Sinne von Theodor W. Adorno. Bekannt ist seine Absage an den Humanismus der Neunten Symphonie Beethovens: „‚Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.‘ - ‚Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen? ‘ - ‚Die Neunte Symphonie‘, erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete.“ 8 Nicht Thomas Mann wendet sich hier vom Humanismus und seiner Geschichtsauffassung ab, auch nicht sein human und humanistisch denkender Erzähler Serenus Zeitblom, sondern der avantgardistische Held, in dessen Musikauffassung immer wieder Spuren von Adornos negativer Ästhetik anzutreffen sind. Von Leverkühns „Faust-Kantate“ heißt es gegen Ende des Romans: „(...) - Es ist gleichsam der umgekehrte Weg des ‚Liedes an die Freude‘, das kongeniale Negativ jenes Überganges der Symphonie in den Vokal-Jubel, es ist die Zurücknahme...“ 9 Innerhalb der spätmodernen Problematik hat diese „Zurücknahme“ des Humanismus, seiner Versprechen und seiner Diskurse eine lange Geschichte. Einen Höhepunkt dieser Geschichte bildet die Entwicklung der französischen Dichtung von Mallarmé zu Valéry. Es ist eine Dichtung, die auf weniger spektakuläre Art als Thomas Manns Held, aber durch kompromißlose sprachliche Askese mit der humanistischen Tradition bricht und das konsequent weitertreibt, was Ortega y Gasset, der Mallarmé mehrmals erwähnt, als „Entmenschlichung der Kunst“, als „deshumanización del arte“ 10 bezeichnet. Lange vor Adorno und dem fiktiven Adrian Leverkühn entwirft Stéphane Mallarmé das Programm einer negativen Poetik, deren Spuren in Adornos ästhetischer Theorie kaum zu übersehen sind. „Sie wird, immerdar, 8 Th. Mann, Doktor Faustus (1947). Die Entstehung des Doktor Faustus (1949), Frankfurt, Fischer, 2001 (2. Aufl.), S. 633. 9 Ibid., S. 648. 10 Vgl. J. Ortega y Gasset, Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst (1925), München, DTV, 1964, S. 23: „Durch das Mittel gehäufter Negationen verhindert die Dichtung Mallarmés jede Gefühlsmäßige Resonanz (...).“ 139 ausgeschlossen bleiben“ („Elle, toujours restera exclue“) 11 , schreibt Mallarmé über die Dichtung, die er als Stellvertreterin des Dichters auftreten läßt. Im Rückblick erscheint er als ein Vorläufer Adornos, der wie keiner vor ihm das lyrische Wort gegen die „universelle Reportage“ der Werbung, des Journalismus und der politischen Rhetorik abgrenzte. Die folgende Passage aus „Crise de vers“ nimmt wesentliche Gedanken Adornos vorweg und läßt die Vermutung aufkommen, daß der Mitbegründer der Kritischen Theorie eine Ästhetik im Sinne von Mallarmé entwarf: „Erzählen, lehren, selbst beschreiben, das geht, und wiewohl es Jedem vielleicht zum Austausch des menschlichen Denkens genügen würde, aus der Hand des Nächsten schweigend eine Münze zu nehmen oder in sie zu legen, unterhält der elementare Gebrauch der Rede die universelle Reportage, an der, die Literatur ausgenommen, alles teilhat im gegenwärtigen Schrifttum.“ 12 Dieser lange Satz antizipiert vieles von dem, was Adorno später über die Negativität der Literatur schreibt, die sich gegen den kulturindustriellen Sprachgebrauch zur Wehr setzt. Die sprachliche Negativität, die Adorno in den Noten zur Literatur und in der Ästhetischen Theorie vorschwebt, wird in Paul Valérys eindrucksvoller Beschreibung von Mallarmés Stil vorweggenommen: „Keine Beredsamkeit; keine Erzählungen; keine Maximen, und seien sie noch so tiefsinnig; kein unmittelbarer Rekurs auf gängige Leidenschaften; keine Zugeständnisse an familiäre Formen; nichts ‚allzu Menschliches‘, das so viele Gedichte verdirbt, eine stets unerwartete Ausdrucksweise (...).“ 13 Nicht zufällig ermutigt Adorno in seinem bekannten Brief vom 18. März 1936 Walter Benjamin, einen Artikel über Mallarmé zu schreiben 14 , den Benjamin der Zeitschrift für Sozialforschung versprochen hatte. Ein solcher Artikel entsprach Adornos anhaltendem Interesse für Mallarmé und Valéry. Sein Brief an Benjamin zeigt, wie nachhaltig die beiden französischen Dichter sein Denken beeinflußt haben. Bekanntlich erscheint ihm ein Dichter wie Valéry als „Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ 15 in einer Zeit, da das Proletariat als revolutionäres Subjekt im Sinne von Marx und Lukács zusehends in das spätkapitalistische System integriert wird. 11 S. Mallarmé, „Das Buch betreffend“ / „Quant au livre“, Kritische Schriften (Französisch und Deutsch), (Hrsg. G. Goebel, B. Rommel), Gerlingen, Lambert Schneider-Bleicher, 1998, S. 248-249. 12 S. Mallarmé, „Verskrise“, in: ders., Kritische Schriften, op. cit., S. 229. 13 P. Valéry, Œuvres, Bd. I, éd. établie et annotée par J. Hytier, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1957, S. 647. 14 Adorno-Benjamin. Briefwechsel, 1928-1940 (Hrsg. H. Lonitz), Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 169-170. 15 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 195. 140 So wird die Negativität der Kunst zu einer sublimierten, „verwundenen“ Revolution, die auch dort scheiterte, wo sie erfolgreich war. Treffend drückt es Karl Markus Michel aus: „Ja ich behaupte: für Adorno ist die Kunst das, was für die linke Intelligenz hundert Jahre lang das Proletariat war (...).“ 16 Die Negativität von Adornos gesellschaftlicher und ästhetischer Theorie erklärt sich so aus dem Scheitern der Revolution und des Marxschen Emanzipationsversprechens. Auf diesen Tatbestand bezieht sich der erste Satz der Negativen Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 17 Eine solche Philosophie kann nur negativ sein. Aus dieser Negativität ergibt sich ihre geistige Nähe zu Mallarmé. Diese Nähe beinhaltet keineswegs eine Abkehr vom historischen Emanzipationsversprechen oder gar einen ästhetisierenden Konservativismus. Vielmehr sind Gesellschaftskritik und Emanzipation in der von Mallarmé geerbten ästhetischen Negativität aufgehoben. Dies geht recht eindeutig aus den wenigen Kommentaren zu Mallarmé hervor, auf die der Leser der Ästhetischen Theorie stößt. In den „Paralipomena“ beispielsweise nähert Adorno Mallarmés reine Dichtung dem Dadaismus an. Wie die Vertreter der Avantgarde lehnt der Dichter die Sinngebung ab, all das, was die Ideologen als „Aussage“ bezeichnen: „Aber in der Verweigerung der heute von allen Konservativen salbungsvoll gepredigten Aussage berührte er sich mit dem politischen Gegenpol, dem Dadaismus (...). Seit Mallarmé hat die hermetische Dichtung in ihrer mehr als achtzigjährigen Geschichte sich verändert, auch als Reflex auf die gesellschaftliche Tendenz: die Phrase vom elfenbeinernen Turm reicht an die fensterlosen Gebilde nicht heran.“ 18 Diese Einschätzung entspricht durchaus auch dem Selbstverständnis Mallarmés, der dem Anarchisten Fénéon vorwarf, die Gewaltanwendung zu überschätzen und die kritische Wirkung des geschriebenen Wortes zu unterschätzen. „Es gibt keine wirksamere Waffe als die Literatur“ 19 , soll er in diesem Zusammenhang gesagt haben. Jean-Luc Steinmetz kommentiert: „Der friedliche Bewohner der Rue de Rome erfüllte so seine alltäglichsten Gesten auf denkbar einfache Art mit einer sonderbar subversiven Macht und schien zu irgendeiner Gewaltanwendung einzuladen, die zum Einsturz der grotesken Fassaden einer morschen Gesellschaft geführt hätte.“ 20 Auf dieser 16 B. Lindner, W. M. Lüdke (Hrsg.), Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp (1979), 1980, S. 73. 17 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 13. 18 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 476. 19 S. Mallarmé in: J.-L. Steinmetz, Stéphane Mallarmé. L’absolu au jour le jour, Paris, Fayard, 1998, S. 390. 20 J.-L. Steinmetz, Mallarmé, op. cit., S. 390. 141 Ebene einer unversöhnlichen Ablehnung des Bestehenden treffen sich Mallarmé und Adorno mit den Anarchisten. 2. Eine affirmative Postmoderne Sowohl im politischen als auch im philosophischen und literarischen Bereich haben Theoretiker der Postmoderne versucht, aus dem hermetischnegativen Denken auszubrechen: entweder in eine „fröhliche Anarchie“, die die Kunst als autonome Instanz negiert (der Lyotard der 70er Jahre), oder in eine positive, affirmative Ästhetik, die an traditionelle Kunst- und Literaturformen anknüpft (der Eco von Il nome della rosa, 1980). In Arbeiten wie Dérive à partir de Marx et Freud (1973), Des dispositifs pulsionnels (1973) sowie Economie libidinale (1974) versuchte Lyotard, der Ablehnung eine immanente Wende zu geben: sie gesellschaftlich wirksam werden zu lassen. Dabei faßte er eine affirmative Ästhetik ins Auge, die er als Gegenentwurf zu Adornos negativer Ästhetik konzipierte, und die nicht länger auf dem Prinzip der asketischen Abstinenz, sondern auf dem der libidinösen Besetzung gründete. Es kam so zu einer Synthese von negativ-subversiven und affirmativen Elementen, die auf allen Ebenen Spuren der 1968er Revolte aufweist. Diese Synthese könnte als eine Umkehrung von Daniel Bells soziologischer Theorie der nachindustriellen Gesellschaft aufgefaßt werden. Bekanntlich diagnostiziert Bell eine Krise des Spätkapitalismus und führt sie auf die Tatsache zurück, daß die puritanische Askese, die - nach Max Weber - stets Triebfeder kapitalistischer Produktivität war, nach dem Zweiten Weltkrieg einer carpe diem-Mentalität wich, einer konsumorientierten Gesinnung, die eine akute Gefahr für das kapitalistische System darstellte. In seiner Abhandlung über die nachindustrielle Gesellschaft geht er ausführlich auf diese Entwicklung ein: „Um die Mitte des 20. Jahrhunderts suchte sich der Kapitalismus nicht länger durch Arbeit oder Eigentum zu rechtfertigen, sondern begnügte sich mit den Statussymbolen materiellen Besitzes und der Ausweitung der Vergnügungen. Ein höherer Lebensstandard und eine Lockerung der Sitten wurden nun als Zeichen persönlicher Freiheit gewertet und zum Selbstzweck erhoben.“ 21 Bell fügt im moralisierenden Ton hinzu: „Die Ironie des Schicksals aber wollte es, daß all dies vom Kapitalismus selbst unterminiert wurde, der durch Massenproduktion und Massenkonsum die protestantische Ethik zerstörte und an ihrer Stelle eifrig eine hedonistische Lebensweise förderte.“ 22 21 D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt-New York, Campus, 1989, S. 363. 22 Ibid. 142 Es ist amüsant zu beobachten, wie der Postmarxist und Neofreudianer Lyotard Anfang der 70er Jahre die Diagnose des konservativen Soziologen Bell bestätigt, indem er diese „hedonistische Lebensweise“ als kritischsubversives Verhalten anpreist, das dem verhaßten Kapitalismus ein Ende bereiten wird. Er beobachtet mit Bell die Negativität der Entwicklung, heißt sie aber willkommen: „Produktionsunterbrechungen, Konsum ohne Gegenleistung, Ablehnung der ‚Arbeit‘, (illusorische? ) Gemeinschaften, happenings, Bewegungen für sexuelle Freiheit, Besetzungen, Squattings, Produktionen von Lauten, Wörtern, Farben ohne die Absicht, ‚Werke‘ hervorzubringen. Das sind also die ‚überzähligen Menschen‘, die ‚Herren‘ von heute: Randgestalten, experimentierende Maler, Pops, Hippies und Yippies, Parasiten, Verrückte, Internierte? Es gibt mehr Intensität und weniger Intention in einer Stunde ihres Lebens als in tausend Wörtern eines Berufsphilosophen. Vielleicht sind sie eher Nietzscheaner als die Nietzsche-Leser.“ 23 Die Kunst erscheint dem Lyotard der 70er Jahre nicht als Statthalterin des „gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“, des Emanzipationsversprechens und der Utopie. Sie wird in einem Atemzug mit dem „Kapital“ genannt: „Das Kapital und die ‚Kunst‘ (...) verlassen wir nicht auf dem Wege der sprachlichen oder nihilistischen Kritik, sondern durch eine Verlagerung (déplacement) der libidinösen Investition. Wir verlangen nicht nach Besitz, ‚Arbeit‘, Herrschaft... Was können sie dagegen tun? “ 24 Während der spätmoderne Bell das Verschwinden der puritanischen Produktionsmoral bedauert, nimmt sich der postmoderne Lyotard vor, die letzten Reste dieser Moral systematisch auszuhöhlen, um das etablierte System überwinden zu können. Anders als der kritische Theoretiker Marcuse 25 , anders als der Neomarxist Goldmann 26 beruft er sich dabei auf Nietzsche und seine Religions- und Askese-Kritik. Aber mit Marcuse und Goldmann verbindet ihn die Ausrichtung des kritischen Denkens auf die Randgruppen der Gesellschaft. Nach der Integration der Arbeiterklasse in die spätkapitalistische Ordnung erscheinen sie allen drei Denkern als die Erben des historischen Subjekts und als die einzigen, die eine Überwindung des Spätkapitalismus in die Wege leiten könnten. Bei aller Gegensätzlichkeit ist Lyotard und Daniel Bell in den 70er Jahren eines gemeinsam: ihre Fehleinschätzung der spätkapitalistischen Entwicklung. Sie haben übersehen, daß der von ihnen konstruierte Gegensatz zwischen Produktion und Konsum kein Widerspruch ist, weil die beiden Wirtschaftssphären einander ergänzen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg stark angewachsene Dienstleistungssektor und der immer noch wachsende 23 J.-F. Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris (1973), Galilée, 1994, S. 226-227. 24 Ibid., S. 110-111. 25 Vgl. H. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 46. 26 Vgl. L. Goldmann, Marxisme et sciences humaines, Paris, Gallimard, 1970, S. 13-14. 143 Freizeitbereich steigern die Nachfrage nach neuen Produkten und tragen dadurch nicht unwesentlich zur Expansion des Marktes und zum Wirtschaftswachstum bei. Freizeitaktivitäten und Konsumorientierung stehen folglich nicht im Widerspruch zur Produktivität und zum Produktionsprozeß. Es kommt hinzu, daß die meisten Arbeit suchen, ihrer Arbeit nachgehen und an ihrem Arbeitsplatz hängen, weil sie sehr wohl wissen, daß sie ohne Arbeit auf Konsum und Freizeitaktivitäten verzichten müßten. Die von Lyotard erwähnten Hippies waren bekanntlich eine Ausnahme und gehören inzwischen der Vergangenheit an... Der Lyotard der 80er Jahre muß ähnliche Überlegungen angestellt haben, denn in seinem Spätwerk - in L’Inhumain, L’Enthousiasme und vor allem in Leçons sur l’Analytique du Sublime - kehrt er zu einer Negativität zurück, die Adornos negativem Denken gar nicht unähnlich ist. Dennoch unterscheidet sie sich wesentlich von ihm. 3. Postmoderne als Negation Etwas vereinfachend ließe sich sagen, daß die verschiedenen Varianten des nachmodernen Denkens aus der Erkenntnis der Intellektuellen hervorgegangen sind, daß eine Überwindung des spätkapitalistischen Systems in absehbarer Zeit nicht möglich ist. 27 In diesem Zusammenhang spricht Gianni Vattimo im Anschluß an Heidegger von einer postmodernen „Verwindung“. Die Intellektuellen müssen die Tatsache, daß das System nicht überwunden werden kann, verwinden: „Es ist nun genau der Unterschied zwischen Verwindung und Überwindung, der uns helfen kann, das ‚post‘ der Postmoderne philosophisch zu bestimmen.“ 28 Diese Verwindung spricht aus dem schon zitierten ersten Satz der Negativen Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Adornos negative Dialektik als ganze könnte als ein Ergebnis dieser Verwindung aufgefaßt werden: Da die Überwindung nicht mehr möglich erscheint, weil sich die materialistische Dialektik als „Philosophie der Praxis“ 29 (Gramsci) nicht mehr in der Geschichte verwirklicht, wird Dialektik negativ, und Gesellschaftskritik zieht sich dorthin zurück, wo sie einmal ihrer Verwirklichung harrte: in Mallarmés „poésie pure“. Eine ganz andere Art der Verwindung ist beim postmodernen Theoretiker und Schriftsteller Umberto Eco zu beobachten. Er wirft der hermetischen Dichtung und der Avantgarde vor, in eine Sackgasse geraten zu sein 27 Vgl. A. Callinicos, Against Postmodernism. A Marxist Critique, Cambridge, Polity, 1989. 28 G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. 29 Vgl. A. Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Frankfurt, Fischer, 1967. 144 und schlägt einen ästhetischen Rückzug vor: „Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht (die Concept Art). Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.“ 30 Könnte an dieser Stelle nicht von einer ästhetischen Verwindung die Rede sein? Es ist eine Verwindung, die sich durch ihre affirmative Wende von der Adornos unterscheidet, sich aber dennoch in einem Punkt mit Adornos Theorie überschneidet: in der Erkenntnis, daß der kritisch-emanzipatorische Prozeß nicht weitergeht, daß, wie Adorno es ausdrückt, „die Zukunft verbaut“ ist. Denn Eco spricht zumindest implizit auch von den „unmöglichen Texten“ Mallarmés: von dessen Livre, das nur als Fragment und Utopie existiert. Implizit spricht er auch von Mallarmés „Verstummen“, auf das sich sowohl Sartre (in seinen Kommentaren zu Mallarmé) 31 als auch Hugo Friedrich 32 beziehen. Doch das Verstummen Mallarmés ist nicht nur das Verstummen der Textutopie, sondern auch das Verstummen der gesellschaftlichen Utopie, die dem hermetischen Gedicht innewohnte. Eine dritte Form der Verwindung stellt die Negativität des späten Lyotard dar, dessen Ästhetik einerseits von Kants Kritik der Urteilskraft ausgeht, andererseits der negativen Ästhetik Adornos nachempfunden ist. Dennoch handelt es sich bei Lyotard nicht um eine spätmoderne Negativität wie bei Adorno, sondern um eine postmoderne Negativität. Worin besteht der Unterschied? Er besteht - in einem Satz ausgedrückt - darin, daß Lyotards postmoderne Negation das emanzipatorische Versprechen und die Utopie, die Adornos Denken noch innewohnen, getilgt hat. Dieser Tilgung fällt auch das autonome Subjekt zum Opfer, das bei Adorno und Horkheimer für Gesellschaftskritik und Emanzipation verantwortlich ist. Der Bruch, der Lyotards negierende Postmoderne von Adornos kritischer Spätmoderne trennt, ist ein Bruch mit den komplementären Begriffen „Subjekt“, „Schönheit“ und „Form“. Indem Lyotard in L’Inhumain behauptet, das Erhabene sei „die Weise künstlerischer Sensibilität, die die Moderne kennzeichnet“ 33 , entfernt er sich nur einen Schritt von Mallar- 30 U. Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“ (1983), München, DTV, 1987, S. 78. 31 Vgl. J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, in: Obliques „Sartre“, 1979, S. 190. 32 Vgl. H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (erw. Neuausgabe), Reinbek, Rowohlt, 1970 (3. Aufl.), S. 117: „Die Nähe des Schweigens“. 33 J.-F. Lyotard, Das Inhumane (1988), Wien, Passagen, 1989, S. 166. 145 més und Adornos Ästhetik des Negativ-Schönen, aber dieser Schritt ist entscheidend. Er ist entscheidend, nicht nur weil er Adornos und Mallarmés Unterordnung des Erhabenen unter das Schöne zugunsten des Erhabenen aufhebt, sondern auch deshalb, weil er das Erhabene gegen das Schöne wendet. Durch diese Wende werden auch das Subjekt und die mit ihm liierte künstlerische Form negiert. Zugleich wird das Emanzipationsversprechen, das dem Subjekt - in seiner individuellen und kollektiven Gestalt - galt, zurückgenommen. Im Gegensatz zu Adorno, der mit Mallarmé und Valéry behauptet, daß subjektive und künstlerische Autonomie durch künstlerische Formgebung gewährleistet wird, beruft sich Lyotard auf Kant - d.h. auf seine eigene Rekonstruktion der Kantschen Ästhetik -, um das Erhabene gegen das Schöne als Grundlage der Subjektivität ausspielen zu können. Vergebens fordert die Vernunft, der das Erhabene entspricht, daß dieses von der mit dem Verstand verbündeten Einbildungskraft dargestellt werde; denn die Einbildungskraft ist begrenzt, während das Erhabene unbegrenzt ist: „Anstelle des Verstandes betritt also die Vernunft die ‚Szenerie‘. Sie fordert das einbildende Denken heraus: mach das Absolute, das ich begrifflich vorstelle, durch deine Formen präsent! Die Form ist nun aber Begrenzung (...). Sie kann das Absolute nicht darstellen.“ 34 Schließlich kann der Widerspruch, der das Scheitern des Subjekts vor dem Erhabenen zur Folge hat, aus der Inkommensurabilität zwischen dem Verstand und der Einbildungskraft einerseits und der Vernunft andererseits abgeleitet werden. Die Einbildungskraft, die das Schöne durch ihre Formgebung darstellen kann, scheitert angesichts des Erhabenen, das die Vernunft denken kann. Lyotard siedelt diese Inkommensurabilität innerhalb des Erhabenen an und spricht von einem „différend qui se trouve au cœur du sentiment sublime“. 35 Es geht hier um zwei miteinander unvereinbare Arten des Denkens: das Unermeßliche der Vernunft und das Meßbare und Formbare der Einbildungskraft. Dieser Gegensatz zwischen den Denkformen ist unüberbrückbar, und das Subjekt fällt ihm zum Opfer. Vom Subjekt, das bei ihm nur in Anführungszeichen vorkommt, sagt Lyotard: „Der Geschmack versprach ihm ein schönes Leben, das Erhabene droht ihm mit dem Tod.“ 36 An dieser Stelle macht sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Lyotard und Adorno bemerkbar: Im Gegensatz zu Adorno, der - wie Mallarmé und Valéry - eine Stärkung des individuellen Subjekts anstrebt (u.a. durch ästhetische Formgebung), folgt Lyotard postmodernen Denkern wie Deleuze, Guattari und 34 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen (1991), München, Fink, 1994, S. 141. 35 J. F. Lyotard, Leçons sur l’Analytique du sublime, Paris, Galilée, 1991, S. 154. 36 J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, op. cit., S. 163. 146 Foucault, die in der Subjektivität eher ein Produkt repressiver Strukturen zu erkennen meinen (z.B. der Familie) als eine autonome Instanz. Dennoch knüpft seine Gesellschaftskritik an die der Kritischen Theorie an, etwa wenn in L’Inhumain beschrieben wird, „wie die neuromantischen und symbolischen Formen, die von Kulturkommissaren und kollaborierenden Künstlern in der Malerei und vor allem der Musik durchgesetzt wurden, die negative Dialektik (...) blockieren mußten (...)“. 37 Die Nähe zur Negativität Adornos ist an dieser Stelle kaum zu übersehen. Dies ist wohl der Grund, warum der postmoderne Lyotard mit der affirmativen Postmoderne im Sinne von Vattimo, Eco oder Charles Jencks nichts zu tun haben will. In L’Inhumain ersucht er sogar den Leser, die von Jencks propagierte „transavantgardistische Postmoderne“ nicht mit dem zu verwechseln, was er selbst als condition postmoderne bezeichnet. Er erklärt, daß der Transavantgardismus „unter dem Vorwand, das Erbe der Avantgarde zu bewahren, ein gutes Mittel, es zu verschleudern“ 38 ist. Er entwirft eine postmoderne Negativität, die zwar an die der Kritischen Theorie Adornos anknüpft, zugleich aber die letzten Spuren von Positivität tilgt, die diese noch aufweist: die Autonomie des Subjekts und der Kunst, das Emanzipationsversprechen und die utopische Perspektive. Kurzum, es ist der Humanismus der Frankfurter Kritischen Theorie, der Lyotard ein Dorn im Auge ist. Diese Theorie ist ihm nicht negativ genug: „Ce n’est pourtant pas à dire qu’on peut se contenter, avec ladite Ecole de Francfort, de critiquer la subordination de l’esprit aux règles et aux valeurs de l’industrie culturelle. Positif ou négatif, ce diagnostic relève encore d’un point de vue humaniste.“ 39 Im Frankreich der 60er und 70er Jahre, im Frankreich des Strukturalismus und Poststrukturalismus war der Humanismus im Sinne von Sartre, Henri Lefebvre oder Lucien Goldmann verpönt. Mit diesem Humanismus war jedoch die Kritische Theorie der Nachkriegszeit noch solidarisch. Lyotards Absage an alle humanistischen Wertsetzungen ist für ein postmodernes Denken symptomatisch, das zwar Kritik, Auflehnung und Revolte kennt, aber nur in ihrer destruktiven Ausprägung: als Verzweiflungstaten. Man könnte von Verzweiflungstaten sprechen, die aus der Notwendigkeit der postmodernen „Verwindung“ hervorgehen. Obwohl diese Art von Verzweiflung schon bei Mallarmé und Adorno anklingt, steht sie weder bei dem einen noch bei dem anderen im Vordergrund. Erst die postmoderne Einsicht in die (vorläufige) Unabänderlichkeit der spätkapitalistischen Verhältnisse läßt die Verzweiflung dominant werden. 37 J.-F. Lyotard, Das Inhumane, op. cit., S. 183. 38 Ibid., S. 220. 39 J.-F. Lyotard, L’Inhumain. Causeries sur le temps, Paris, Galilée, 1988, S. 75. 147 4. Die Negativität postmoderner Literatur Diese Verzweiflung ist auch für eine postmoderne Literatur kennzeichnend, die zwar die spätmoderne Negation und Kritik fortsetzt, es jedoch ablehnt, emanzipatorische, humanistische oder utopische Perspektiven zu öffnen. In dieser Hinsicht stimmt sie mit der Ästhetik des späten Lyotard überein, die sich vom Emanzipationsversprechen des Marxismus und der Kritischen Theorie abwendet. Es wird häufig übersehen, daß die literarische Postmoderne nicht mit den Werken Umberto Ecos, John Fowles’ oder Patrick Süskinds identisch ist, deren Autoren auf Lesbarkeit, Popularität und Verfilmung abzielen (selbst wenn sie es nicht zugeben). Die andere, die negierende Postmoderne kommt in einer revoltierenden Literatur zum Ausdruck, die das Erhabene im Sinne von Lyotard zur Sprache bringt. Sie wirft die Frage nach dem Undarstellbaren auf, zu der Lyotard bemerkt, sie sei in seinen Augen die einzige, „die im kommenden Jahrhundert den Einsatz von Leben und Denken lohnt“. 40 In den Werken von Autoren wie Thomas Pynchon und Christoph Ransmayr wird dieses Erhaben-Undarstellbare in verschiedenen Kontexten zum Thema. Besonders charakteristisch ist die folgende Passage aus Pynchons Weltkriegsroman Gravity’s Rainbow, der die Herausforderung des Gewaltig- Erhabenen auf allen Ebenen annimmt: „KRUPPALOOMA comes this giant explosion: water leaps in a surprised blue-green tongue (ever seen a toilet hollering, ‚Yikes! ‘? ) out of every single black-lidded bowl, pipes wrench and scream, walls and floor shudder, plaster begins to fall in crescents and powder-sheets as all the chattering transvestites fall silent, reach out to touch anyone nearby as a gesture of preparation for the Voice out of the Loudspeaker, saying: ‚That was a sodium bomb. Sodium explodes when it touches water‘.“ 41 Abgesehen vom Wort „giant“, das nicht eigens kommentiert werden muß, fällt die erdbebenartige Atmosphäre auf, die vom Erzähler evoziert wird, sowie das Wort „silent“, das von der Sprachlosigkeit des Menschen angesichts der Erhabenheit einer Katastrophe zeugt. Man wird an die Beschreibungen des Erhabenen in Kants Kritik der Urteilskraft erinnert: „Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.“ 42 Kant nennt als Beispiele Vulkanausbrüche, Stürme, Gewitter usw. In diesem Sinne, im Sinne des Natürlich-Erhabenen, mag auch der Krieg erhaben erscheinen. 40 J.-F. Lyotard, Das Inhumane, op. cit., S. 221. 41 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow (1973), London, Pan Books-Picador, 1975, S. 690. 42 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, Reclam, 1971, S. 144. 148 Ähnlich wie bei Lyotard zerfällt bei Pynchon das individuelle Subjekt angesichts der Erhabenheit der militärischen Ereignisse: „If there is something comforting - religious if you want - about paranoia, there is still also anti-paranoia, where nothing is connected to anything, a condition not many of us can bear for long.“ 43 Denn diese conditio inhumana bewirkt den Zerfall der Subjektivität: „Well right now Slothrop feels himself sliding onto the anti-paranoid part of his cycle, feels the whole city around him going back roofless, vulnerable, uncentered as he is (...).“ 44 Zusammen mit der Wirklichkeit und dem Wirklichkeitsbewußtein zertrümmert die Gewalt des Krieges das Subjekt, das hilflos zwischen Paranoia und Anti-Paranoia schwankt. Auch bei Christoph Ransmayr fallen menschliche Kultur und Subjektivität einer erhabenen, schier unfaßbaren Natur zum Opfer, die über Nacht Gebirge entstehen läßt, sich in die Stadt hinein ausbreitet und Kultur in Natur zurückverwandelt: „(...) Die Gassen waren Hohlwege durch dorniges, blühendes Dickicht und ihre Bewohner in Steine verwandelt oder in Vögel, in Wölfe und leeren Hall.“ 45 Im Falle von Ransmayr, dessen Roman Die letzte Welt aus einer intertextuellen Verarbeitung von Ovids Metamorphosen hervorging, besteht das Erhabene in einer letzten Verwandlung der Menschheit. Diese wird als Naturkatastrophe dargestellt - ähnlich wie der Zweite Weltkrieg bei Pynchon: „Der Untergang! schrie Echo, das Ende der wölfischen Menschheit - (...).“ 46 Dieses Ende wird als Versteinerung phantasiert: „Aus einem Steinhagel, schrie Echo, werde nach der kommenden, allesvernichtenden Flut die neue Menschheit hervorgehen, - diese Zukunft habe ihr Naso an einem Wintertag aus dem Feuer gelesen, aus jedem Kiesel ein Ungeheuer! schrie Echo, Menschen aus Stein habe der Verbannte seiner Welt prophezeit. Was aber aus dem Schlick eines an seiner wölfischen Gier, seiner Blödheit und Herrschsucht zugrundegegangenen Geschlechts hervorkriechen werde, das habe Naso die eigentliche und wahre Menschheit genannt, eine Brut von mineralischer Härte, das Herz aus Basalt, die Augen aus Serpentin, ohne Gefühle, ohne eine Sprache der Liebe (...).“ 47 Beschrieben wird hier eine kollektive Metamorphose, die bei Ovid so nicht vorkommt, die aber der postmodernen Gesellschaft möglicherweise angemessen ist. Auch Ransmayr versucht - in Übereinstimmung mit Lyotards Ästhetik des Erhabenen - das Undarstellbare und Unausdenkbare darzustellen: das Ende der Menschheit. Mag dieses Ende kommen oder nicht, es ist in der 43 Th. Pynchon, Gravity’s Rainbow, op. cit., S. 434. 44 Ibid. 45 Ch. Ransmayr, Die letzte Welt (1988), Frankfurt, Fischer, 1995, S. 286. 46 Ibid., S. 162. 47 Ibid., S. 169. 149 Nachmoderne, ja bereits in der Spätmoderne, die 1945 mit atomarer Zerstörung endete, zu einer konkreten Möglichkeit geworden. Lyotard, Pynchon und Ransmayr verbindet die reine Negation, die sowohl das Emanzipationsversprechen als auch die Utopie tilgt. X. Dekonstruktion und Postmoderne als partikularisierende Herausforderungen der Komparatistik Eine Theorie, die zu kritisieren es sich lohnt, verdient es, zunächst verstanden zu werden. Allzu oft ist die Dekonstruktion kritisiert und pauschal verurteilt worden, ohne daß die Kritiker sich bemüht hätten, sie zumindest ansatzweise zu verstehen. Dies mag damit zusammenhängen, daß viele meinen, mit Modeerscheinungen leichtfertig umgehen zu können. Und die Dekonstruktion ist z. Z. noch eine Modeerscheinung. Aber das macht sie nicht theoretisch wertvoller als andere philosophische und literaturwissenschaftliche Strömungen - oder weniger wertvoll. Auch der Marxismus, die Semiotik und der Strukturalismus waren in den 1960er und 70er Jahren Modeerscheinungen und haben darunter gelitten − wie in den letzten Jahrzehnten die Dekonstruktion. Man hat sie − bewußt oder unbewußt − nicht nach theoretischen, sondern nach kommerziellen Kriterien beurteilt − wie Markenprodukte bestimmter Firmen, die zeitweise „in“ sind. 1. Die Dekonstruktion in der Postmoderne In dieser Situation sollte man sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß die Dekonstruktion (noch oder nicht mehr) „in“ ist, sondern versuchen, ihr Wirkungspotential in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation zu erklären. Dazu ist es notwendig, etwas weiter auszuholen und auf die Beziehung zwischen Dekonstruktion und Postmoderne in Frankreich einzugehen. In Frankreich deshalb, weil sich diese Darstellung − um die Komplexität nicht ins Unermeßliche zu steigern − auf den philosophischästhetischen Ansatz von Jacques Derrida konzentriert. Die französische Postmoderne gibt es nicht als historische oder gesellschaftliche Realität, die von allen Beobachtern gleich wahrgenommen und gleich gedeutet wird. Es ist eine mögliche Konstruktion, die sich auf verschiedene Ereignisse und Entwicklungen stützt, die allesamt eine gemeinsame Tendenz aufweisen: die Tendenz zu einer radikalen Partikularisierung des Denkens. Diese könnte man provisorisch wie folgt definieren: Es ist eine Abneigung gegen Universalismus und Rationalismus; gegen alle philosophischen, soziologischen und literaturwissenschaftlichen Versuche, allgemeingültige Thesen aufzustellen und die Wirklichkeit im Rahmen von Begriffssystemen und mit Hilfe von eindeutigen Begriffen zu definieren. Diese Abneigung gegen Universalismus und Rationalismus macht sich in Frankreich (aber auch in anderen europäischen Ländern und in Nordamerika) sowohl in der Philosophie als auch in der Soziologie und der Litera- 152 turwissenschaft bemerkbar. In der Philosophie sind vor allem die Werke von Jean-François Lyotard (La Condition postmoderne, 1979, Le Différend, 1983), Gilles Deleuze (Différence et répétition, 1968, Logique du sens, 1969), Michel Foucault (Les Mots et les choses, 1966, L’Ordre du discours, 1971) und vor allem das Werk Jacques Derridas von der Polemik gegen Universalismus und Rationalismus durchzogen. Trotz beträchtlicher Unterschiede ist ihnen ein Faktor gemeinsam: die Partikularisierungstendenz, die sich vorwiegend im sprachlichen Bereich bemerkbar macht. Während Lyotard sowohl in La Condition postmoderne als auch in Le Différend für eine drastische Partikularisierung der Sprache eintritt, indem er eine radikale Heterogenität der Sprachspiele und Diskurse postuliert (jedes Sprachspiel ist partikular, sagt er, es gibt keine übergeordneten sprachlichen Kriterien, mit deren Hilfe man sie alle beurteilen oder gar vereinheitlichen könnte), behauptet Deleuze, daß es eine Wiederholung desselben Begriffs nicht gibt, nicht geben kann, weil jede Wiederholung etwas Neues, Besonderes zeitigt, und Jacques Derrida macht sich diesen Gedanken zu eigen, indem er − wie sich zeigen wird − die Möglichkeit einer stabilen Begrifflichkeit leugnet. Sowohl bei Derrida als auch bei Roland Barthes, der von vielen ebenfalls als ein Vertreter der französischen Postmoderne und des Poststrukturalismus gelesen wird, findet eine Verschiebung vom Begriff als Signifikat (als signifié im Sinne von Saussure) zum Signifikanten, d. h. zur phonetischen Ebene statt. Dazu bemerkt Barthes: „Die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus.“ 1 Der Signifikant ist aber − im Gegensatz zum Signifikat oder Begriff − das Partikulare, das Nicht- Verallgemeinerungsfähige: das physisch-körperliche, das in keinem Begriff, in keiner Abstraktion aufgeht. So ist es wohl zu erklären, daß Barthes in „Le Grain de la voix“ von der „Wollust der Laut-Signifikanten der Sprache“ 2 spricht. Es kommt ihm (wie auch Derrida und Foucault) darauf an, die Sprache als Zusammenspiel von Signifikanten der körperlichen physis anzuverwandeln. Dadurch nähert er sich dem von vielen als „postmodern“ bezeichneten Philosophen Michel Foucault, der (etwas verkürzt ausgedrückt) den menschlichen Körper gegen den Geist, die physis gegen den Begriff ausspielt. Die Gegner all dieser postmodernen Denker sind − wie zu erwarten war − Platon, die Rationalisten von Descartes bis Comte, Hegel und Marx. Weshalb kann man diese Denker als „postmodern“ bezeichnen? Weil sie sich gegen eine Moderne wenden, die seit der Aufklärung (also seit dem 18. Jahrhundert) von Rationalismus, Hegelianismus und Marxismus geprägt 1 R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 11. 2 R. Barthes, „Le Grain de la voix“, in: L’Obvie et l’obus. Essais critiques III, Paris, Seuil, 1982, S. 239. 153 ist − oder war. Von diesem Affekt gegen eine rationalistisch-hegelianische Moderne zeugen nicht nur die Schriften der Sprachphilosophen und Literaturtheoretiker (Derrida und Deleuze haben immer wieder literarische Texte kommentiert, Barthes war Literaturkritiker), sondern auch die Arbeiten der Soziologen. Eine der bekanntesten ist Alain Touraines Buch Critique de la modernité. Obwohl Touraine sich selbst nicht zu den Postmodernen rechnet, versucht er immer wieder, das Besondere − das gesellschaftliche Subjekt als Bewegung, als mouvement social − gegenüber allen Abstraktionen wie Staat, Geld, Geschichte aufzuwerten, zu verteidigen. Der deutsche Soziologe Friedrich H. Tenbruck bestätigt die Partikularisierungstendenzen in der nachmodernen Gesellschaft, wenn er schreibt: „Nur eine Alternative wäre denkbar: daß der Gedanke der universalistischen Wahrheit am Ende wieder aus der Welt käme, so wie er einmal in sie hineingekommen ist. Auf solchen Pluralismus, in dem die Wahrheit sich auf dem Platz einer wie immer definierten praktischen und faktischen Richtigkeit einzelner Aussagen bescheiden müßte, deuten viele Anzeichen hin. Denn seit langer Zeit sind wieder Lehren offensichtlich erfolgreich, welche sich nicht an universalistischen Wahrheitskriterien orientieren. Es sind auch nicht nur religiöse Sekten und Kulte, welche sich rein für das anbieten, was sie sind, ohne nach anderen Bekenntnissen zu fragen. Auch durch die neue Jugendkultur weht mächtig der partikularistische Zug (...).“ 3 Diese Passage aus Tenbrucks Buch über die Moderne stellt auf soziologischer Ebene sehr anschaulich die Partikularisierungstendenz dar, die ein Leitmotiv der Postmoderne ist. Tenbruck faßt hier in aller Knappheit zusammen, was nicht nur in der postmodernen Gesellschaft, sondern auch in den nachmodernen Philosophien und Literaturtheorien täglich praktiziert wird: die Abwendung vom Allgemeinen und Verallgemeinerungsfähigen und die allgegenwärtige Aufwertung des Partikularen, des Einmaligen, Opaken, das sich der begrifflichen Definition entzieht. 2. Einflüsse: Romantik, Nietzsche, Heidegger In der hier skizzierten gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der sich auf allen Ebenen ein starkes Penchant zum Besonderen bemerkbar macht, wirken vor allem Philosophien und Literaturtheorien, die diese Partikularisierung bestätigen, veranschaulichen und weiterentwickeln. Die älteren Philosophien, die die gegenwärtige Partikularisierung am nachhaltigsten fördern, sind die Philosophien der Romantiker, Nietzsches 3 F. H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990 (2. Aufl.), S. 118. 154 und Heideggers. Komplementär dazu werden die auf Universalismus und Begrifflichkeit ausgerichteten Diskurse Platons, der Aufklärung, des Rationalismus, des Hegelianismus und des Marxismus abgelehnt. Dies ist der Grund, weshalb allen Dekonstruktivisten − von Derrida bis Geoffrey H. Hartman − Friedrich Nietzsche zum wichtigsten Vorläufer wird. Neben Nietzsche haben auch Romantiker wie Friedrich Schlegel (vor allem bei Hartman) und Heidegger nachhaltig auf die Theorien der Dekonstruktion eingewirkt. Schon Friedrich Schlegel verteidigte in seinem bekannten Aufsatz „Über die Unverständlichkeit“ die opaken Aspekte der Sprache, die uns daran hindern, die restlose begriffliche Transparenz herbeizuführen, nach der die Aufklärer und Rationalisten strebten. Er bemerkt mit einem ironischen Seitenblick auf die rationalistisch argumentierenden Zeitgenossen: „Ich wollte zeigen, daß man die reinste und gediegenste Unverständlichkeit gerade aus der Wissenschaft und aus der Kunst erhält, die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehen, aus der Philosophie und Philologie.“ 4 Dieses Paradoxon greifen in der heutigen Zeit die Dekonstruktivisten auf, wenn sie zu zeigen versuchen, wie literarische oder philosophische Texte schließlich (d.h. bei genauerem Hinsehen) das Gegenteil von dem bedeuten, was der Autor auszusagen meinte. Komplementär zur romantischen Kritik am Rationalismus plädiert Friedrich Nietzsche für das Einmalige und Unverwechselbare, das nicht im Begriff aufgeht. Ja er stellt das Zustandekommen der Begrifflichkeit als solcher in Frage: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen“. Er fügt hinzu: „Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.“ 5 Von diesem Undefinierbaren und Unzugänglichen scheinen die Dekonstruktivisten fasziniert zu sein; und sie werfen (wie Nietzsche) den Rationalisten, Hegelianern und Marxisten unter den Literaturwissenschaftlern Naivität vor, die darin bestehe, das Unzugängliche für zugänglich, für begrifflich definierbar, erfaßbar zu halten. Dies sei an einem Beispiel illustriert, das dem bisher Gesagten eine konkretere Gestalt geben wird. Derrida hält Kafkas Parabel Vor dem Gesetz für eine allegorische Darstellung dieser Unzugänglichkeit. Er spricht von einem „récit de cette inaccessibilité au récit“, von einer „Erzählung der Unzugänglichkeit“. Zugleich erscheint ihm die Parabel als eine Suche nach 4 F. Schlegel, „Über die Unverständlichkeit“, in: ders., Kritische Ausgabe, Bd. III, Paderborn, Schöningh, 1967, S. 364. 5 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke, Bd. V (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 313. 155 dem Wesen oder dem Gesetz, das sich dem Zugriff des Suchenden unablässig entzieht: „Was für immer, bis zum Tod, verschoben wird, das ist der Eintritt in das Gesetz selbst.“ („Ce qui est à jamais différé, jusqu’à la mort, c’est l’entrée dans la loi elle-même.“) 6 Endlos verschoben wird auch die Wahrheit des Kafkaschen Textes, dessen Leser − mit Derrida − von Deutung zu Deutung eilt, ohne jemals die wahre Bedeutung zu finden, ohne in das Gesetz des Textes eindringen zu können. Vom Gesetz sagt Derrida, daß es kein Wesen habe: „Es entzieht sich dem Wesen des Seins, das die Präsenz wäre. Seine ,Wahrheit‘ ist jene Nichtwahrheit, von der Heidegger sagt, daß sie die Wahrheit der Wahrheit ist.“ 7 Explizit wird hier Heidegger erwähnt, der zusammen mit den Romantikern und Nietzsche das Denken Derridas und der anderen Dekonstruktivisten beeinflußt hat. In mancher Hinsicht setzt Heidegger Nietzsches Kritik der abendländischen Metaphysik fort und radikalisiert sie, indem er u.a. behauptet, die gesamte Begrifflichkeit dieser Tradition sei mit dem „Willen zum Willen“ (wie er sagt), also mit dem Willen zur Macht verquickt. Obwohl Heideggers Beschwörung des Seins und der Seinsgegenwart als Sinngegenwart den Absichten Derridas diametral entgegengesetzt ist, kündigt seine Destruktion der Metaphysik oder „der Geschichte der Ontologie“, wie er sagt, die Dekonstruktion Derridas an. Heidegger selbst beschreibt den von ihm geplanten Destruktionsprozeß als „Auflockerung der verhärteten Tradition und (...) Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“. 8 Auch Derrida faßt seine Dekonstruktion, die begriffsgeschichtlich von Heideggers Destruktion ableitbar ist, nicht als Zerstörung auf, sondern als Grenzüberschreitung, Aufdeckung von Widersprüchen und Zerlegung. Er knüpft an Nietzsche und Heidegger an, wenn er seine Vorgehensweise als Nachdenken über das System und als Kritik des systematischen Denkens darstellt: „Es ist also ein Nachdenken über das System, über die Schließung und die Öffnung des Systems (clôture et ouverture du système). Es war natürlich auch eine aktive und ein wenig sinnverschiebende Übersetzung von Heideggers Wort ‚Destruktion‘ als Destruktion der Ontologie, das auch nicht Annullierung, Vernichtung der Ontologie bedeutet, sondern eine Strukturanalyse (analyse de la structure) der traditionellen Ontologie.“ 9 Die Dekonstruktion, erklärt Derrida, sei keine Kritik, sondern eher „Abbau“ (er verwendet das deutsche Wort). Es soll ein Abbau der mit der technischen und technologischen Herrschaft verzahnten Herrschaft des Begriffs − des Logos und des Logozentrismus − sein. 6 J. Derrida, „Préjugés“, in: N. W. Bolz, W. Hübener (Hrsg.), Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1983, S. 350. 7 Ibid., S. 356. 8 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 1963 (10. Aufl.), S. 22. 9 J. Derrida, Points de suspension. Entretiens, Paris, Galilée, 1992, S. 226. 156 3. Aufwertung der Ausdrucksebene: signifiant, itérabilité, différance Wie sieht nun Derridas Dekonstruktion als Interpretationsverfahren auf sprachlicher Ebene aus? Man kann in diesem Zusammenhang zwei komplementäre Aspekte unterscheiden: (a) die schon kommentierte Partikularisierungstendenz, die Derrida von Nietzsche erbt und die in einer drastischen Aufwertung des Signifikanten (Saussure) dem Signifikat gegenüber besteht. Man könnte im Anschluß an den dänischen Linguisten und Semiotiker (Saussurianer) Louis Hjelmslev von einer globalen Aufwertung der Ausdrucksebene (der Ebene der Signifikanten) der Inhaltsebene (der begrifflichen Ebene der Signifikate) gegenüber sprechen. (b) An zweiter Stelle steht (komplementär zur Partikularisierungstendenz) die Aufdeckung des Widerspruchs im Text. Zunächst soll hier die Partikularisierung der Sprache bei Derrida kommentiert werden. Der Rationalist Saussure meinte noch in seinem Cours de linguistique générale, Funktion und Bedeutung einzelner Wortzeichen im Rahmen des von ihm konstruierten Sprachsystems begrifflich fixieren zu können. Bekanntlich hat Saussures synchrone Sprachauffassung einen systematischfunktionalen Charakter: Ein bestimmtes phonetisches oder lexikalisches Element kann nicht isoliert, unabhängig von den anderen Sprachelementen definiert werden, sondern nur funktional, im Kontext, in dem es mit anderen Elementen interagiert. Saussure selbst erklärt: „Innerhalb einer und derselben Sprache begrenzen sich gegenseitig alle Worte, welche verwandte Vorstellungen ausdrücken: Synonyma wie denken, meinen, glauben haben ihren besonderen Wert nur durch ihre Gegenüberstellung; wenn meinen nicht vorhanden wäre, würde sein ganzer Inhalt seinen Konkurrenten zufallen.“ 10 Derrida übernimmt zwar Saussures These, der zufolge die Bedeutung eines Wortes nicht an und für sich, sondern nur im Hinblick auf seine Differenzen im Vergleich mit anderen Worteinheiten bestimmt werden kann; er radikalisiert sie aber und durchbricht den rationalistischen Rahmen, wenn er hinzufügt, daß auch Saussures differentielle Betrachtung eine Wortbedeutung nicht fixieren kann. Die Vergegenwärtigung des Sinnes, die „Sinnpräsenz“ („présence du sens“), sagt Derrida, ist nicht zu haben. Weshalb nicht? Weil der sprachliche Kontext nie aufhört und folglich auch nicht der Differenzierungsprozeß, von dem Bedeutung abhängt. Ein Text erscheint ihm als offenes Zusammenspiel von Signifikanten, deren Bedeutung nie eindeutig bestimmbar ist: „Und wenn die Bedeutung des Sinns (in der allgemeinen Bedeutung des Wortes Sinn, nicht aber von Bezeichnung) unendliches Einbegriffensein ist? Die unbestimmte Rückverweisung eines Signifikanten auf 10 F. de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, De Gruyter, 1967 (2. Aufl.), S. 138. 157 einen Signifikanten? Wenn seine Kraft eine gewisse reine und unendliche Mehrdeutigkeit ist, die dem bezeichneten Sinn keinen Aufschub und keine Ruhe läßt, die ihn in seiner eigenen Ökonomie auffordert, zum Zeichen zu werden und sich selbst aufzuschieben? “ 11 Derrida nennt diese endlose Aufschiebung des Sinnes différance (vom frz. Verb différer: verschieben, vertagen, sich unterscheiden). Was bedeutet nun der Ausdruck „in seiner eigenen Ökonomie“? Er bedeutet, daß Sinn nur als Sinnverschiebung, als Differenz existiert und nicht als statische Idee im Sinne von Platon oder als immer schon gegenwärtiges Signifikat, dessen Existenz auch Saussure vorauszusetzen scheint. Wie manifestiert sich in Derridas différance die hier angesprochene Partikularisierungstendenz? Sie tritt in der Hervorhebung der Signifikanten und der gesamten Ausdrucksebene der Sprache in Erscheinung: Indem Derrida behauptet, daß eine Fixierung der Wortbedeutung als Begrifflichkeit (als Signifikat im Sinne von Saussure) nicht möglich ist, wertet er die Ebene der Signifikanten (also die Ausdrucksebene) der Inhaltsebene, der begrifflichen Ebene gegenüber auf. Zugleich partikularisiert er die Bedeutung (ähnlich wie Hume und die Nominalisten), indem er die Möglichkeit eines definierbaren (eingrenzbaren) und allgemeingültigen Begriffs leugnet. Für ihn gibt es nur „die bestimmte Rückverweisung eines Signifikanten auf einen Signifikanten“, kein Signifikat und folglich auch keine begrifflich fixierbare Bedeutung eines Textes. Diese These Derridas hat − außer der différance − einen zweiten wichtigen Aspekt: den der Iterabilität (itérabilité: iter = Weg, iterum = wiederum, reiterare = wiederholen). Während rationalistische Semiotiker wie Greimas behaupten, daß die Wiederholung eines Wortes oder Textelements die Textkohärenz stärkt und die thematisch-begriffliche Definition dieses Textes erleichtert, stellt Derrida die Gegenthese auf: Die Wiederholung eines Wortes oder Textelements stärkt nicht die Textkohärenz, sondern zersetzt den Sinn. Sie zersetzt den Sinn, weil das Wort, sobald es in einem etwas anderen Zusammenhang wiederholt wird, eine etwas andere Bedeutung annimmt. Es kommt also bei jeder Wiederholung zu einer Sinnverschiebung, die dazu führt, daß die Identität eines Wortes (eines Textelements) nie eindeutig bestimmt werden kann. Auch im Zusammenhang mit der Iterabilität gilt, was Derrida im Zusammenhang mit der différance sagt: Eine Sinngegenwart als „présence du sens“ ist nicht möglich. Wie sieht lterabilität in der literaturtheoretischen Praxis aus? Derrida verwendet zwar das Wort Iterabilität nicht, wenn er Jean-Pierre Richards Mallarmé-Interpretationen kritisiert; aber er wendet das dekonstruktive Iterabilitätsprinzip an. Gegen den Thematologen Richard, der versucht, in Mal- 11 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt, Suhrkamp (1972), 1976, S. 44-45. 158 larmés Dichtung bestimmte Themen aufzuzeigen und ihren Zusammenhang zu beschreiben, wendet Derrida in La Dissémination ein, daß diese Themen gleichsam von selbst zerfallen, wenn man die Texte unter die Lupe nimmt. So zerlegt Derrida beispielsweise das von Richard beschriebene Thema der Falte (pli), das in verschiedenen Gedichten Mallarmés eine wichtige Rolle spielt (etwa in Hommage: „Le silence déjà funèbre d’une moire / Dispose plus qu’un pli seul sur le mobilier“) und das Richard zum Bestandteil einer semantischen Totalität macht, die vom Begriff der intimité (Intimität) zusammengehalten wird. Derrida stellt diese thematische, auf Totalität und Gesamtbedeutung ausgerichtete Interpretation radikal in Frage, indem er all das betont, „was in der Falte auch Öffnung, Streuung, räumliches und zeitliches Auseinandertreten usw. bedeutet“. 12 Mit anderen Worten: Das Wort pli nimmt bei Mallarmé in verschiedenen Kontexten verschiedene (auch widersprüchliche) Bedeutungen an, und es ist daher unmöglich, es in einen homogenen Sinnzusammenhang einzufügen. Werden die verschiedenen Bedeutungen von pli aufeinander bezogen, so kommt nicht eine Gesamtbedeutung zustande, sondern der von Richard konstruierte Sinnzusammenhang zerfällt. Ein anderes Beispiel für Iterabilität ist die dekonstruktivistische Analyse von Thomas Hardys Roman Tess of the d’Urbervilles, die J. Hillis Miller durchgeführt hat. Miller unterscheidet im Anschluß an Deleuze und Derrida zwei Arten der Wiederholung: die platonische und die nietzscheanische. Während die platonische Wiederholung ein Wiederauftreten des mit sich Identischen ist (x = x), ist die nietzscheanische Wiederholung eine Wiederholung mit Abweichung, mit Differenz. (In diesem Zusammenhang sei an das Nietzsche-Zitat erinnert: „Jeder Begriff entsteht durch das Gleichsetzen des Nichtgleichen. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff.“) 13 In seinen Kommentaren zu Hardys Roman spielt Miller die nietzscheanische Wiederholung gegen die platonische aus und versucht zu zeigen, wie jede Wiederholung das platonische Kohärenz-Prinzip in Frage stellt. Wie Derrida im Falle von Mallarmé greift er ein Thema des Romans heraus, das ihm besonders wichtig erscheint, nämlich die Vergewaltigung von Tess, die mit anderen Elementen der Gewalt (und des Schreibens) assoziiert wird: die rote Schleife in Tess’ Haar, die Erdbeere, die sie aufißt, weil Alec, der sie vergewaltigt hat, sie dazu zwingt; die Rose, die sie von Alec bekommt, und die sie am Kinn verletzt usw. Allen diesen Elementen ist die rote Farbe gemeinsam, die im Roman mit der „männlichen Sonne“ („masculine sun“, sagt Miller) und der Sexualität verknüpft wird. 12 J. Derrida, La Dissémination, Paris, Seuil, 1972, S. 303. 13 Vgl. Anm. 5. 159 Wer nun meint, daß hier auf recht konventionelle Art ein Textzusammenhang konstruiert werden soll, der irrt. Denn Miller beharrt auf der nietzscheanischen Einmaligkeit, Partikularität und Differenz: „Die Beziehung zwischen den Verbindungen in einer einzelnen Bedeutungskette von Tess of the d’Urbervilles ist stets Wiederholung mit Differenz, und die Differenz ist ebenso wichtig wie die Wiederholung.“ 14 Auch zwischen den einzelnen Bedeutungssträngen, die Miller in Hardys Roman findet, herrscht Disparität und nicht Homogenität, so daß Miller von „unvereinbaren Erklärungen dessen, was mit Tess geschieht“, sprechen kann. Er erklärt diesen Sachverhalt so: „Sie können nicht alle wahr sein, und dennoch sind sie alle in den Wörtern des Romans enthalten.“ 15 Mit anderen Worten: Der Roman ist widersprüchlich und kann nicht als semantische Einheit auf den Begriff gebracht werden. Die für die Dekonstruktion charakteristische Partikularisierungstendenz setzt sich auch hier durch. 4. Kritik Eine Kritik der Dekonstruktion in deren verschiedenen Ausprägungen und Formen sollte stets den nachmodernen Kontext berücksichtigen, in dem die verschiedenen dekonstruktivistischen Theorien entstanden sind. Es war ein Anliegen moderner und spätmoderner Philosophen und Literaturwissenschaftler wie Hans-Georg Gadamer, Jean-Pierre Richard, Lucien Goldmann und Algirdas J. Greimas, literarische Texte als sinnvolle Totalitäten oder Strukturen darzustellen. Es galt, die Einheit des Textes zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Vor allem der Marxist Goldmann war von Hegels Kategorie der Totalität fasziniert und versuchte, alle literarischen Werke auf einen historischen Sinn, auf eine Weltanschauung festzulegen. Von Becketts Opus sagte er in einer Diskussion mit Adorno: „Voraussichtlich wird es mir gelingen nachzuweisen, daß dieses Werk, wenn es ein großes Werk ist, die Widersprüche, Schwierigkeiten und Brüche dennoch in eine globale Weltanschauung integriert, die auf ein System reduziert werden kann“ (wörtlich: „qui peut être réduite en système“). 16 Adorno hat diese Aussage mit großer Skepsis kommentiert; auf die Dekonstruktion würde sie wohl wie ein rotes Tuch wirken. Denn die Dekonstruktivisten gehören einem anderen „Paradigma“ an, in dem nicht mehr das Kohärenzpostulat gilt, 14 J. H. Miller, Fiction and Repetition. Seven English Novels, Cambridge (Mass.), Harvard Univ. Press, 1982, S. 128. 15 Ibid. 16 L. Goldmann, Th. W. Adorno, „Discussion extraite des actes du second colloque international sur la sociologie de la littérature tenu à Royaumont“, in: Revue de l’Institut de Sociologie 3-4, 1973, S. 540. 160 sondern (wie die russischen Formalisten sagen würden) das entgegengesetzte Prinzip des Widerspruchs, des Sinnzerfalls. Dieses Prinzip ist nicht grundsätzlich falsch oder steril, weil es ganz zu Recht den rationalistischen oder hegelianischen Gewaltakt der Totalisierung, der Sinndogmatisierung in Frage stellt und bestehende Widersprüche offen zutage treten läßt. (Schon Muka ovský und die Prager Strukturalisten faßten Kunstwerke als widersprüchliche Einheiten auf und ließen sich dabei von der avantgardistischen Negation der harmonischen Totalität der Klassik leiten.) Allerdings sollte Derridas, de Mans und Millers Jagd nach Widersprüchen nicht der Weisheit letzter Schluß sein. Die naive Bemerkung „manche Texte sind eben zusammenhängend, andere nicht“ ist gar nicht so trivial: denn sie gilt nicht nur für die Theorie (von der Seminararbeit bis zum anspruchsvollen Buch, dessen Widersprüche nicht immer von schlechter theoretischer Qualität zeugen müssen), sondern auch für die Literatur und die Kunst allgemein. Die historischen Avantgarden ließen es auf den kühnen Widerspruch ankommen, und in den zeitgenössischen Avantgarden ist der Widerspruch vorprogrammiert. Während Aufklärer und Realisten didaktisch wirken wollten und deshalb relativ zusammenhängend schrieben, nahmen sich Dadaisten, Surrealisten, Futuristen oder Autoren wie Beckett vor, unsere Sinngebung radikal in Frage zu stellen oder den Sinn zu zerstören. Man kann einen Text von Gottsched nicht so behandeln wie einen avantgardistischen Text Marinettis oder Tristan Tzaras. Mit anderen Worten: Das dekonstruktivistische Prinzip der Iterabilität oder der différance gilt in einigen, nicht aber in allen Fällen; in einem und demselben Text gilt es bis zu einem gewissen Grad, aber nicht global. Dies bedeutet, daß die postmoderne Partikularisierungstendenz, die sich in der Dekonstruktion auf sprachlicher Ebene niederschlägt, einerseits berechtigt ist, weil sie der rationalistischen und hegelianischen Vereinnahmung der Kunst durch den Begriff entgegenwirkt; andererseits ist sie jedoch ein theoretischer Extremismus, der den Ausblick auf sprachliche Universalien und Texttiefenstrukturen (im Sinne von Greimas’ Semiotik) verstellt. Die dekonstruktivistische Position ist insofern widersprüchlich, als Derrida − wie alle anderen Philosophen − zumindest implizit postuliert, daß seine Texte eine bestimmte Bedeutung haben, die von Kritikern verzerrt oder mißverstanden werden kann. 17 Es hat jedoch keinen Sinn, Mißverständnisse oder ungerechte Kritik zurückzuweisen, wenn man nicht bereit ist, die Existenz bestimmter stabiler Bedeutungen und Textstrukturen, d.h. sprachlicher 17 Vgl. die Debatte zwischen Derrida und Searle, in: J. Derrida, Limited Inc., Paris, Galilée, 1990, S. 92-94. 161 Universalien, vorauszusetzen. Nur unter dieser Voraussetzung ist eine rationale Diskussion über eine Theorie wie die Dekonstruktion möglich. Daher ist dem schwedischen Linguisten Bertil Malmberg recht zu geben, wenn er in seiner Kritik an Derrida (schon in den 1970er Jahren) darauf hinweist, daß sich der Dekonstruktivist allzu leichtfertig über die Universalien der Sprache hinwegsetzt: „In Wirklichkeit ist es also das Prinzip der allgemeinen Strukturen (der Tiefenstrukturen) und der sprachlichen Universalien, das sowohl die Möglichkeit der Übersetzungen als auch die der Transformationen innerhalb einzelner Sprachen erklärt.“ 18 Auch Derridas Werk, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, lebt von diesen Transformationen, und Derrida, der ganz zu Recht auf die Sinnverschiebungen im Übersetzungsprozeß hinweist 19 , kann nicht ohne weiteres behaupten, daß diese Verschiebungen völlig neue Texte zeitigen, die den Originalen auf keine Weise mehr entsprechen. Denn in diesem Fall könnte er sich mit amerikanischen, deutschen oder spanischen Lesern nicht mehr über „sein“ (wessen denn? ) Werk unterhalten. Die Dekonstruktivisten, die einerseits die Partikularisierung auf die Spitze treiben, indem sie die Ebene der Signifikanten drastisch gegenüber der Ebene der Signifikate aufwerten, scheinen sich andererseits gegen diese Tendenz zu kehren, indem sie universalistisch behaupten, daß alle Texte (also auch philosophische und wissenschaftliche Werke) dekonstruiert werden können und sich der eindeutigen Sinngebung verweigern. Gerade der Partikularisierer und Nietzscheaner J. Hillis Miller, der unermüdlich gegen den begrifflichen Universalismus polemisiert, behauptet: „Ich würde sagen, daß ich denke, daß meine Lektüre von Yeats’ Gedicht richtig ist und daß alle richtig denkenden Menschen („right thinking people“), sofern man ihnen Zeit läßt, meiner Lesart zustimmen werden.“ 20 Miller universalisiert diese Aussage weiter, wenn er an anderer Stelle behauptet: „I’m prepared to say that all good readers are deconstructionists.“ 21 Dies bedeutet aber, daß Leser, die − wie die Strukturalisten, die Psychoanalytiker, die Marxisten oder die Hermeneutiker − nach Kohärenz streben, per definitionem schlechte Leser sind. Es bedeutet zugleich, daß Miller mit diesen pauschalen Aussagen gegen das Partikularisierungsstreben der gesamten Dekonstruktion verstößt. Denn er behauptet zugleich in Hawthorne and History: „Jeder Akt 18 B. Malmberg, „Derrida et la sémiologie: quelques notes marginales“, Semiotica 11/ 2, 1974, S. 196. 19 Vgl. J. Derrida, „Des tours de Babel“, in: Psyché. Inventions de l’autre, Paris, Galilée, 1987, S. 207. 20 J. H. Miller, Theory now and then, New York-London, Harvester-Wheatsheaf, 1991, S. 196. 21 J. H. Miller, Hawthorne and History. Defacing It, Oxford, Blackwell, 1991, S. 158. 162 des Lesens ist einmalig.“ 22 Wie kann es dann allgemeine (z.B. dekonstruktivistische) Regeln geben, die es uns gestatten, richtige von falschen Lektüren und gute von schlechten Lesern zu unterscheiden? Der Partikularismus der Dekonstruktion führt nicht nur zu einer Ausblendung der sprachlichen Universalien und der von den meisten Lesern oder Übersetzern mehr oder weniger spontan erkannten Textstrukturen, sondern auch zu einer Abwendung von den Sozialwissenschaften und deren Methoden. Was für Adornos Ästhetisierung der Theorie in Essay, Konstellation (Konfiguration) und Parataxis gilt, gilt mutatis mutandis auch für den Diskurs der Dekonstruktion, der die rhetorische Figur aufwertet und sich (bei Paul de Man explizit) gegen Theorie, Theoriebildung und Begrifflichkeit wendet: „Philosophie erweist sich als unendliche Reflexion ihrer eigenen Destruktion in den Händen der Literatur.“ 23 Eine solche Philosophie marginalisiert sich durch selbstverordnete Esoterik und spielt in der Methodendiskussion der Sozialwissenschaften keine Rolle mehr. Sie wird zu einem Essayismus, der dem literarischen Diskurs nacheifert. An dieser Stelle tritt die Affinität zwischen der werkimmanenten Methode der New Critics und der ihrer dekonstruktivistischen Erben zutage. Wie J. C. Ransom, der Theoretiker der Autonomieästhetik, könnte de Man sagen: „Ich bin der Ansicht, daß Dichtung auf revolutionäre Art mit der Konvention der logischen Rede bricht (...).“ 24 Im New Criticism sollte die Theorie diese Revolution nachvollziehen, und in der Dekonstruktion wurde sie auf theoretischer Ebene vollendet: gegen die Theorie als begriffliches Denken. 5. Dekonstruktion und Vergleichende Literaturgeschichte Als radikaler, nietzscheanischer Diskurs, der sich gegen Theorie als begriffliche Wahrheitssuche wendet, fordert die Dekonstruktion im Sinne von Derrida, de Man und Miller die traditionelle Geschichtsschreibung auf zwei Ebenen heraus. Sie bestreitet - wohl zu Recht -, daß es objektiv darstellbare historische Abläufe gibt, weil jede Geschichtsschreibung in erster Linie eine nur mögliche Erzählung ist, d.h. letztlich ein Text, der verschiedene, auch widersprüchliche Lektüren zuläßt. Sie suggeriert zugleich - wahrscheinlich 22 Ibid., S. 135. 23 P. de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 158-159. 24 J. C. Ransom, The New Criticism, Norfolk (Conn.), New Directions, 1941, S. 280. 163 zu Unrecht -, daß diese Widersprüche nicht aufzulösen sind und daß Perioden wie „Romantik“ oder „Realismus“ ebenso widersprüchlich sind wie einzelne Texte der Literatur, die sich, wie Derrida und Paul de Man meinen, bei gründlicher Analyse selbst dekonstruieren. Auf der ersten Ebene argumentiert vor allem Alun Munslow in Deconstructing History (1997), wenn er gegen alle realistisch-empiristischen Geschichtsauffassungen einwendet: „The deconstructionist historian, on the other hand, maintains that evidence only signposts possible realities and possible interpretations because all contexts are inevitably textualised and or narrativised or texts within texts.“ 25 Diese Auffassung ist (trotz des Titels, den Munslow seinem Buch gab) kaum als „dekonstruktivistisch“ zu bezeichnen: Sie stimmt weitgehend mit semiotischen und konstruktivistischen Auffassungen der Geschichtsschreibung überein. Sie alle gehen von der Annahme aus, daß jeder geschichtswissenschaftliche Diskurs eine narrative Konstruktion ist, die auf besonderen (kulturell und ideologisch bedingten) Relevanzkriterien, Selektionen, Klassifikationen und Definitionen gründet. Im semiotischen Kontext versteht es sich allerdings von selbst, daß die Relevanzkriterien und Selektionen nicht willkürlich sein dürfen und daß jeder Diskurs suspekt ist, der sich über allgemein anerkannte, dokumentierte und im jahrelangen Dialog erhärtete Fakten (mögen es auch Texte sein) hinwegsetzt. Dekonstruktivistisch im eigentlichen Sinne ist die These über den widersprüchlichen Charakter aller Texte - auch der historischen Dokumente. Konsequent zu Ende gedacht läßt diese These - zusammen mit dem philosophischen und dem literarischen Text - auch die Geschichte als Sinnzusammenhang zerfallen. Über das zweideutige Ende von Yeats’ bekanntem Gedicht Among Schoolchildren schreibt Paul de Man: „Die beiden Lektüren müssen sich in direkter Konfrontation aufeinander beziehen, denn die eine ist genau der Irrtum, der von der anderen denunziert wird und von ihr aufgelöst werden muß. Wir können mit keinem Mittel eine gültige Entscheidung über die Priorität einer der beiden Lektüren über die andere herbeiführen; keine kann ohne die andere existieren.“ 26 Auf eine literaturgeschichtliche Epoche wie die Romantik angewandt würde dies bedeuten, daß sich auch der „romantische Text“ bei näherer Betrachtung auflöst: Zu widersprüchlich ist die Romantik, zu viele gegensätzliche Positionen kollidieren in ihr, als daß man sie auf kohärente Art darstellen könnte. In diesem Sinne argumentiert J. Hillis Miller, wenn er in Hawthorn and History (1991) behauptet: „History, I now conclude, is an endless series of disruptive happenings.“ 27 Analog zu seiner Interpretation von Hardys 25 A. Munslow, Deconstructing History, London-New York, Routledge, 1997, S. 26. 26 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 42. 27 J. Hillis Miller, Hawthorne and History, op. cit., S. 124. 164 Roman Tess of the d’Urbervilles (s. o.) sieht er die Geschichte als eine endlose Reihe von Abweichungen, Diskrepanzen und Widersprüchen, die zu keinem Zeitpunkt ein sinnvolles Ganzes ergeben. Jedes Ereignis ist einmalig, vieldeutig und fügt sich in keinen sinnvollen Ereignisablauf ein. Sowohl bei de Man als auch bei Miller greifen sinnzersetzender Widerspruch und Partikularismus ineinander: Während sich die Partikularität eines Ereignisses gegen begriffliche Verallgemeinerungen sperrt, läßt der Widerspruch jede von Literaturhistorikern angepeilte Kohärenz zerfallen. Wie die Dekonstruktivisten suchen die Komparatisten den Widerspruch in der Literatur und der Literaturgeschichte; aber anders als die Vertreter der Dekonstruktion nehmen sie auch die Einheit wahr, die den Widerspruch erst ermöglicht und als sinnvollen Widerspruch erklärt. Denn um einander widersprechen zu können, müssen Gesprächspartner die gleiche Sprache benutzen und vergleichbare Interessen verfolgen. Beim Mediziner, mit dem er gern Golf spielt, wird der Literaturwissenschaftler auch dann mit wohlwollendem Nicken rechnen können, wenn er ihm eine völlig absurde Literaturtheorie erläutert. Ganz anders wird der Philologe als Hermeneutiker oder Erzähltheoretiker reagieren, der die Sprache des Kollegen sehr wohl versteht, aber ablehnt. Zu einem Zerwürfnis zwischen Camus und Sartre kam es nach Camus’ Publikation von L’Homme révolté (1951), weil beiden Autoren nach dem von Nietzsche verkündeten „Tod Gottes“ die individuelle Existenz zum Problem wurde. Während sich aber Sartre eine Lösung dieses Problems im Rahmen der marxistischen Geschichtsauffassung vorstellen konnte, lehnte Camus (darin ein Vorläufer der Postmoderne) jede Art von historischer Teleologie ab. Beide dachten und schrieben jedoch im Rahmen einer existentialistisch-modernistischen Problematik. Es besteht kein Grund, in diesem Fall nur die Antinomie wahrzunehmen und die gemeinsame Problematik, an der auch Autoren wie Moravia, Krleža und Malraux teilhaben, aus den Augen zu verlieren oder zu leugnen. Ähnliches könnte von den europäischen Avantgarden gesagt werden. Die Tatsache, daß Surrealisten wie Breton zeitweise mit dem Marxismus der KPF sympathisierten, während Marinettis Futuristen zu Weggefährten von Mussolinis Faschisten wurden, sollte nicht die gemeinsame Problematik vergessen lassen: das utopische Streben nach einer neuen Gesellschaft und einem neuen, vom bürgerlichen Denken befreiten Menschen. Dieses Streben verbindet auch die anglo-amerikanischen Vorticists mit den russischen Futuristen. Der Komparatist wird - wie der Dekonstruktivist - den ästhetischpolitischen Widerspruch wahrnehmen und sich allen Versuchen widersetzen, „Romantik“, „Modernismus“, „Existentialismus“ oder „Avantgarde“ auf eine Ideologie oder gar Ästhetik festzulegen. Zugleich wird er aber bemüht sein, Widerspruch, Konflikt und Dissens im Rahmen einer dynami- 165 schen, interkulturell strukturierten Problematik zu verstehen, die durchaus eine historische Einheit bildet, sich aber auch entwickelt und in etwas Neues übergeht, weil sie voller Antinomien ist. Mit ihrer einseitigen Betonung des Widerspruchs, der Aporie und des Partikularen hat sich die Dekonstruktion selbst den Ausblick auf die Kehrseite der Medaille versperrt. Auswahlbibliographie (Zur Theorie und Methodologie der Komparatistik[-en]) Aarebrot, F. H., Bakka, P. H., „Die Vergleichende Methode in der Politikwissenschaft“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. 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Žirmunskij, V., „Über das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft“, in: G. R. Kaiser (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern 1963-1979, Stuttgart, Metzler, 1980. Quellennachweise Einleitung: Thesen zu einer soziologisch-semiotischen Komparatistik (Originalbeitrag). I. Die Funktion des Vergleichs in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Originalbeitrag). II. Vergleich als Konstruktion: Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie, zuerst erschienen in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000 (ergänzt und erweitert). III. Komparatistik und Sozialwissenschaften, zuerst erschienen in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL, 2004/ 2005. IV. Die Stellung der Literaturwissenschaft zwischen den Kulturen. Eine textsoziologische Betrachtung, zuerst erschienen in: H. Foltinek, Ch. Leitgeb (Hrsg.), Literaturwissenschaft: intermedial - interdisziplinär, Wien, Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften, 2002 (leicht modifiziert). V. Komparatistische Forschung: Kulturelle Bedingtheit und kulturelle Vielfalt, zuerst erschienen in: Sprachkunst XXX/ 1, 1999, danach in abgewandelter Form in: A. Wierlacher, A. Bogner (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2003 (geändert, ergänzt). VI. Historische Perioden als Problematiken: Sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse, zuerst erschienen in: D. Dolinar, M. Juvan (Hrsg.), Kako pisati literarno zgodovino danes? . Razprave, Laibach, Znanstvenorazsikovalni center Slovenske akademije znanosti in umetnosti, 2003 (leicht erweitert). VII. Einheit und Vielfalt: Von der Romantik zur Spätmoderne, zuerst erschienen in: A. von Bormann (Hrsg.), Volk - Nation - Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1998 (stark erweitert und geändert). VIII. Die Revolte der Natur in der spätmodernen Prosa (Originalbeitrag). IX. Negativität zwischen Spätmoderne und Postmoderne (Originalbeitrag). X. Dekonstruktion und Postmoderne als partikularisierende Herausforderungen der Komparatistik, zuerst erschienen in: H. Jaumann u.a. (Hrsg.), Domänen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Stauffenburg Verlag, 2001 (erweitert und geändert). Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG JANUAR 2011 JETZT BESTELLEN! Peter V. Zima Komparatistik UTB S 2., überarbeitete und ergänzte Auflage 2011, XII, 425 Seiten, €[D] 19,90/ SFr 30,50 ISBN 978-3-8252-1705-1 Im Anschluss an eine detaillierte Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der literarischen Komparatistik geht der Autor ausführlich auf die wichtigsten Probleme und Themen der Vergleichenden Literaturwissenschaft ein: Vergleichstypen, interkulturelle Rezeption, Übersetzung, Periodisierung, Gattungsgeschichte, Thematologie und Mythenforschung. Mit zwei neuen Kapiteln: Gattungsgeschichte: Der Roman und Thematologie und Mythenforschung. 004711 Auslieferung Januar 2011.indd 32 19.01.11 16: 03