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Wendezeiten

2011
978-3-7720-5417-4
A. Francke Verlag 
Alfred Gall

Der Band versammelt Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, die der Frage nachgehen, wie in Drama und Film Wendezeiten modelliert werden. Die Gestaltung epochaler Zäsuren bringt eigenständige Deutungsansprüche zur Geltung, die nicht auf vorgeordnete politische, gesellschaftliche oder historische Zusammenhänge zurückgeführt werden können, sondern überhaupt erst im Vollzug medial (Text und Bild) gebundener Kommunikation entworfen und zur Reflexion aufgegeben werden. Dieses Problem beleuchten die einzelnen Studien unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kulturen und mit einer historischen Perspektive, die von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert reicht. Die Beiträge bieten in ihrem Zusammenhang einen fragmentarischen Überblick über die in Drama und Film beobachtbaren Auseinandersetzungen mit tief greifenden Zäsuren, deren Deutung und Erschließung nicht zuletzt als künstlerische Gestaltung erfolgt.

Wendezeiten Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 44 Alfred Gall (Hrsg.) Wendezeiten Historische Zäsuren in Drama und Film Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8417-1 Inhalt Einleitung…………………………………………………………………………. 7 F RANK G ÖBLER : Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts im Spiegel der Dramatik: A. S. Puškin - A. K. Tolstoj - A. N. Ostrovskij………………. 13 A LFRED G ALL : „Finis Poloniae“ - vom Untergang zum Übergang: Dramatik der Sinnstiftung in der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts ….………… 33 C HRISTOPH D EUPMANN : 1977 - die RAF in Literatur, Theater und Film…………………………….…..67 W ILFRIED F LOECK : Fünfhundert Jahre später: die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt im Film zwischen triumphalistischem und revisionistischem Diskurs…………………………………………..………83 K LAUS L EY : „La Satyre Ménippée“ (1593) auf der Wende zur Regierungszeit Henry IV. Zur Zweckbestimmung und Wirkungsabsicht politischer Rhetorik……………………………………………………………..105 C HARLOTTE K RAUSS : 1830: Das drame romantique zwischen ästhetischem und politischem Revolutionsanspruch………………………………………….….141 M ARIO W ILLERSINN : Zeittheater im doppelten Sinn: Alonso de Santos‘ álbum familiar…………..163 W OLFGANG D ÜSING : „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ Epochenumbrüche in V. Brauns Dramen….………………………………….179 H ENRY T HORAU : Zwischen Euphorie, Repression und Depression - Politisches Theater in Brasilien von den 1950er bis zu den 1970er Jahren.……..………199 B RIGITTE S CHULTZE : Diktatur als „Zivilisationsbruch“: Die Stücke des Befreiten Theaters von Voskovec und Werich (1932-1938) .……….……………………………..233 E WA M AKARCZYK -S CHUSTER : ÜberLeben. Różewicz und Klata...………………………………………….…259 M ARK B ERNINGER : Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit - Der Zweite Weltkrieg im neuen britischen Geschichtsdrama…………..….281 G UNTHER N ICKEL : Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? Zum Umgang mit der NS-Zeit in den Werken Bertolt Brechts, Carl Zuckmayers und Peter Hacks‘..….………………………………………………………..…..303 M ICHAEL B ACHMANN : Inszenierte Zeugenschaft: Vom Umgang mit Auschwitz in Theater und Film……………………………………………………..…..…..325 Einleitung Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen auf die Ringvorlesung „Wendezeiten und Epochenumbrüche: Die Auseinandersetzung mit historischen Zäsuren im Drama“ zurück. Der Interdisziplinäre Arbeitskreis Drama und Theater der Johannes Gutenberg-Universität führte die Veranstaltungsreihe im Wintersemester 2009/ 10 durch. Den Anlass dazu bildeten zwei Jahrestage, die sich auf markante Zäsuren beziehen: Zum einen jährte sich der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1. September 1939), wodurch auch die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoah, aber auch den Vernichtungskrieg in Osteuropa sowie die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen während und nach dem Krieg aufgerufen wurde. Zum anderen beging man das zwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls und des Zusammenbruchs des realen Sozialismus in Europa. Die auf das Jahr 2009 fallenden Jahrestage regten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dramatischen sowie filmischen Gestaltungen epochaler Zäsuren an. Der Arbeitskreis verfolgte mit der Veranstaltungsreihe das Ziel, die dramatische und auch filmische Auseinandersetzung mit verschiedenen Erfahrungen von Wendezeiten und historischen Umbrüchen an unterschiedlichen Beispielen in einer komparatistischen Perspektive zu untersuchen. Unter Berücksichtigung verschiedener Epochen und Kulturen sollte so ein möglichst breites Spektrum an künstlerischen Gestaltungen epochaler Einschnitte thematisiert werden. Die besprochenen Dramen und Filme sind dabei keineswegs als direkter Reflex der Zeitumstände, sondern als Reflexionsmedien aufgefasst worden, durch die geschichtliche sowie kulturelle Zusammenhänge sichtbar gemacht und gesellschaftlich vermittelt werden. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die mit Zäsuren verknüpften Neubewertungen vorangehender Epochen gelegt; Film und Drama erweisen sich unter diesem Gesichtspunkt als oft auch avancierte Ausdrucksmedien sich wandelnder Einstellungen zu Geschichte und Politik. Die Ringvorlesung fokussierte vielfältige Problemzusammenhänge. Neben der Frage, wie in Theater und Film historische Zäsuren dargestellt werden, ging es auch um die Problematik, wie vorangehende Epochen betrachtet und bewertet werden, besonders aber auch darum, herauszuarbeiten, wo und wie geschichtliche Brüche in Drama und Film bemerkbar machen, wodurch die Aufmerksamkeit auch auf das sich in Werken zeigende Verständnis von Bruch bzw. Epoche gerichtet wird, also die Grundspannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität eigens in das Blickfeld gerückt. Eine nicht geringe Rolle spielen die in Drama und Film teilweise formulierten oder zumindest angedeuteten Zukunftsentwürfe, die nachhaltig von Deu- 8 Alfred Gall tungen von Geschichte abhängig sind. Konsequenterweise führt diese Betrachtung zur Reflexion auf die politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Anlehnungskontexte, die bei der Erschließung sowie Darstellung epochaler Zäsuren wirksam sind. Insbesondere die Verortung von Drama und Film im Spannungsfeld zwischen Kritik und Affirmation realgeschichtlicher Epochenwenden sowie die Problematik medialer Verfasstheit und Prägung der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Umbrüchen bildeten die Grundlage für die verschiedenen Beiträge. Die Auseinandersetzung mit Geschichte konzentriert sich nicht einfach auf die Arbeit an divergierenden Erinnerungskulturen, sondern fokussiert das komplexe Phänomen von Wendezeiten und historischen Umbrüchen, setzt also dort ein, wo Gesellschaften besonders stark Spannungen zwischen Kontinuität und Bruch ausgesetzt sind und daher Grundfragen der Identität in Politik, Gesellschaft, Religion und Kultur intensiv verhandelt werden. Literatur - nicht zuletzt das Theater - sowie Film sind jeweils ein differenziertes Medium der Beobachtung und Analyse von Umbruchsituationen. Ohne direkt ableitbar zu sein von politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen gewinnt die Kunst mit autonom vollzogenen Interventionen in den Bereich der Geschichtsdeutung ihr Eigenprofil. Drama und Film wirken als besondere, mit eigenen Vollzugsformen ausgestattete „Bedeutungspraktiken“ 1 in gesellschaftlichen und kulturellen Situationen und entwerfen eigenständige Horizonte der Erschließung und Deutung historischer Wendezeiten, ohne dabei eine synchron oder gleichsinnig mit historisch-gesellschaftlichen Ereignissen ablaufende Dynamik zu zeigen. Die künstlerische Praxis in Drama und Film steckt freilich in kulturellen und historischen Zusammenhängen, aus deren Mitte dann entsprechende Deutungsangebote für die Erfassung von Umbrüchen modelliert werden. 2 Zwischen den beiden Extrempolen l‘art pour l‘art und littérature engagée situiert, entwerfen die in den Beiträgen des Sammelbands erörterten Dramen und Filme eigenständige Sinnangebote für die Deutungserschließung geschichtlicher Zäsuren. Autonomie vollzieht sich in ihnen als jeweils selbstregulierende Bezugnahme auf historische, politische und gesellschaftliche Dimensionen und ist in dieser Form von Selbstabschottung der Kunst in Autarkie abzugrenzen. 3 1 Zum Begriff: Culler (2002) S. 81 ff. 2 Gilles Deleuze und Félix Guattari betonen, dass Literatur inmitten der Gesellschaft entstehe und eines transzendentalen Standorts ausserhalb geschichtlich-gesellschaftlicher Zusammenhänge entbehre; vgl. Deleuze / Guattari (1980), S. 16: „Ein Buch ist ein kleines Zahnrad in einer viel komplizierteren äußeren Maschinerie“. Vgl. auch Deleuze / Guattari (1997), S. 36 ff. 3 Vgl. zur Autonomie des sozialen Funktionssystems Kunst als Vollzugsform von Gesellschaft, die sich in einzelne sich autonom reproduzierende Funktionssysteme ausdifferenziert: Luhmann (1993), S. 260: „Letztlich ist Autonomie nicht haltbar in trotziger Isolierung und Unbeeinflußbarkeit, sondern nur als Beeinflußbarkeit nach systemeige- Einleitung 9 Die einzelnen Beiträge fokussieren diesbezüglich verschiedene Problemzusammenhänge. Am Beginn stehen Fallstudien, die sich mit der Erschließung ganzer Epochen bzw. epochaler Zäsuren in Drama und Film beschäftigen und dabei in retrospektiv ausgerichteter Perspektivierung vergangene Perioden bzw. Ereigniszusammenhänge in ihren Nachwirkungen thematisieren. Fragen der Sinnkonstruktion werden in diesem Abschnitt ebenso aufgeworfen wie Probleme medial vermittelter Erschließungen historischer Phänomene. Frank Göbler untersucht die im russischen Drama des 19. Jahrhunderts bei A. S. Puškin, A. K. Tolstoj sowie N. A. Ostrovskij beobachtbare Auseinandersetzung mit der sog. „Zeit der Wirren“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts, einer Epoche, die im russischen Selbstverständnis als tiefgreifende Zäsur wahrgenommen wird, die mit der Thronbesteigung von Michail Fedorovič Romanov, dem ersten Zaren aus der Dynastie der Romanovs, endet und in den besprochenen Dramen insbesondere im Blick auf die umstrittene Herrscherpersönlichkeit Boris Godunov Beachtung findet. Alfred Gall deutet die polnische Dramatik der Romantik (Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki) als Versuch historisch-metaphysischer Sinnstiftung angesichts realgeschichtlicher Umbrüche, wie sie sich mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts oder den fehl geschlagenen Aufstandsbemühungen im 19. Jahrhundert manifestieren. Besondere Beachtung findet dabei die in den erörterten Dramen beobachtbare Detranszendentalisierung der Darstellung sowie sakralisierenden Deutung von Geschichte. Christoph Deupmann richtet seine Aufmerksamkeit auf das Jahr 1977 und die Rolle der RAF. Er thematisiert v.a. die medial verfasste, myth(olog)isierende Betrachtung des „Deutschen Herbsts“ und das sich daraus ergebende öffentliche Geschichtsbild sowie die seit 1989 in Film und Literatur feststellbaren Verschiebungen in der Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte von 1977, die einerseits einer zunehmenden medialen Überformung unterworfen ist und sich anderseits, besonders deutlich seit der Wende von 1989, als abgeschlossener und damit erst recht historisch gewordener Abschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte offenbart. Wilfried Floeck widmet sich in einer kontrastiven Besprechung von Ridley Scotts „1492 - Conquest of Paradise“ und Nicolas Echevarrías „Cabeza de Vaca“ der Frage, wie im Film der dominierende triumphalistische Konquista-Diskurs einer zunehmend kritischen reflektierenden, ja revisionistischen, das europäische Superioritätsbewusstsein untergrabenden Haltung weicht, die die Begegnung mit dem Andern der kolonisierten Kulturen auch als Infragestellung der eigenen Position auffasst und an die Stelle einer homogenen Herrschaftskultur der Kolonisatoren Effekte der Hybridisierung treten lässt, die sich dann im Film auch als Identi- nen Regeln.“; vgl. zu diesem Problemzusammenhang auch: Luhmann (1997), S. 132, 218 f., 240 f. 10 Alfred Gall tätswandel von Repräsentanten der spanischen Kolonialmacht manifestieren. Die folgenden Beiträge befassen sich schwerpunktmäßig mit Dramen, die in Fokussierung auf zeitgenössische Problemfelder Umbruchsituationen in den Blick nehmen oder gar selbst herbeizuführen und zu beeinflussen trachten, also implizit oder explizit schon vom eigenen Selbstverständnis her in einer Wendezeit situiert sind und sich in einer solchen Umbruchphase zur Geltung bringen wollen. Die besprochenen Texte sind also unmittelbar in denjenigen zeitgeschichtlichen Kontext eingefügt, der als epochale Wende erfahren und entsprechend zur Darstellung gelangt oder durch literarische bzw. dramatische Praxis vorangetrieben und mitgestaltet werden soll. In dieser zeitgeschichtlichen Verankerung macht sich das durch Ambivalenzen gekennzeichnete Spannungsverhältnis zwischen politischem und ästhetischem Geltungsanspruch bemerkbar und zeichnen sich auch die für die erörterten Texte relevanten Entstehungssowie Wirkungskontexte ab. Klaus Ley lotet das Spannungsfeld zwischen Politik und Literatur aus und verankert die hinsichtlich ihrer rhetorisch organisierten Wirksamkeitsabsichten besprochenen Texte („La Satyre Ménippée“) im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzung um die Religion in der französischen Staats- und Legitimationskrise des 16. Jahrhunderts. Charlotte Kraus geht am Beispiel von Dramen Victor Hugos sowie Alexandre Dumas‘ der Frage nach, welche zeitgenössischen politischen Implikationen das „drame romantique“ prägen und welche Erfahrung eines Epochenumbruchs sich in ihm ausdrückt. Mario Willersinn befasst sich unter Rückgriff auf José Luis Alonso de Santos‘ Theaterstück „El álbum familiar“ mit der Phase des Übergangs von der Franco-Diktatur in die Demokratie und beschäftigt sich dabei mit der Frage, inwiefern im Drama eine besondere Form von Erinnerung verwirklicht und damit auch eine spezifische Erfahrung von Zeit - und Zäsur - erfasst wird. Wolfang Düsing umreißt am Beispiel von Volker Braun die Verwerfungen und Entwicklungslinien, die sich aus der Wende von 1989 ergeben, wobei der Blick insbesondere auf die jedweder menschlicher Verfügungsgewalt entzogene Dynamik der Geschichte fällt, der auch der Dramatiker kein utopisches Telos mehr entgegenzustellen vermag. Henry Thorau umreißt in seinem Beitrag das spannungsreiche Verhältnis zwischen Drama und Politik in Brasilien im Zeitraum von den 1950er bis zu den 1970er Jahren und fokussiert dabei insbesondere die verschiedenen Milieus sowie Strategien des brasilianischen Theaters unmittelbar vor, während und am Ende der Militärdiktatur. Es folgen dann Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die sich der Frage widmen, in welchen Hinsichten hier von einer radikalen Zäsur, ja geradezu von einem Zivilisationsbruch zu sprechen ist. Brigitte Schultze zeigt am Beispiel des „Befreiten Theaters“, wie im tschechischen Theater bereits in den 1930er Jahren der Aufstieg des Nationalsozia- Einleitung 11 lismus hellsichtig als bevorstehende zivilisationsgeschichtliche Katastrophe erkannt wurde. Ewa Makarczyk-Schuster erörtert am Beispiel von Różewicz und Klata, wie das polnische Nachkriegsdrama aus der Auseinandersetzung mit der Zäsur des Zweiten Weltkriegs und der kritischen Reflexion der nationalen Erinnerungskultur eine neue, innovative Formensprache entwickelt. Mark Berninger erläutert in einer Betrachtung des englischen Nachkriegsdramas, welche Verschiebungen und Verwerfungen die sich in Geschichtsdramen von Imogen Stubbs, David Harrower und Ronald Harwood manifestierende englische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg prägen. Gunther Nickel widmet sich am Beispiel von Dramen Bertold Brechts, Carl Zuckmayers sowie Peter Hacks‘ der Frage, wie im deutschen Drama der Nachkriegszeit mit der Erfahrung des Nationalsozialismus umgegangen wird und in welchem Verhältnis die mit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs abgeschlossene Epoche zur gesamten deutschen Geschichte steht. Michael Bachmann untersucht schließlich (mit Blick v.a. auf Peter Weiss, Claude Lanzmann, Goodrich/ Hackett) die Aporien und ethischen Implikationen von Zeugenschaft angesichts des Zivilisationsbruchs der Shoah und reflektiert unterschiedliche Strategien des Umgangs mit den Paradoxien der Authentizitätserzeugung. In allen Beiträgen steht das Bemühen im Vordergrund, den komplizierten Zusammenhang zwischen Geschichte und Theater bzw. Film zu erhellen und gerade das im Kontext der oft diskutierten Problematik von Erinnerungskulturen teils ausgeblendete Thema der tief greifenden Zäsur als dramatisches Phänomen (im doppelten Wortsinne) sui generis zur Geltung zu bringen. Die einzelnen Studien bieten in ihrem Zusammenhang einen fragmentarischen Überblick über die in Drama und Film beobachtbaren Auseinandersetzungen mit historischen Brüchen und Wendezeiten, deren Deutung und Erschließung nicht zuletzt in künstlerischen Gestaltungen erfolgt und gesellschaftlich relevant wird. Allen Autorinnen und Autoren sei noch einmal für ihre Beiträge gedankt, ebenso Fr. Fetzer vom Studium Generale für ihre organisatorische Unterstützung. Die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge lag in den Händen von Fr. Marta Kruzynski. Ihr gilt mein herzlicher Dank für die Sorgfalt und das Engagement bei der Vorbereitung des Bandes zum Druck. Mainz, Mai 2011 Alfred Gall Frank Göbler Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts im Spiegel der Dramatik: A. S. Puškin - A. K. Tolstoj - A. N. Ostrovskij Der historische Rahmen Wenn wir das frühe 17. Jahrhundert als Wendezeit in der russischen Geschichte verstehen, so deswegen, weil sich hier die Wende vollzog von jener Herrscherdynastie, die sich auf den legendären warägischen Staatsgründer der Kiever Rus’, Rjurik, zurückführt, zu den Romanovs, die Russland von 1613 bis 1917 beherrschten. Es handelt sich dabei um einem krisenhaften Prozess, der mit dem Tod des Zaren Fedor 1598 einsetzt und in dem Chaos der Jahre 1605 bis 1613 gipfelt, gekennzeichnet durch das Auftreten von Thronprätendenten, Machtkämpfe unter den Bojaren, ein Interregnum und die Besetzung Moskaus durch polnische Truppen. Im Russischen bezeichnet man diese Phase als „Smuta“ (Wirrnis) oder „smutnoe vremja“ (Zeit der Wirren). Die historischen Zusammenhänge sind allgemein bekannt, weshalb sich die nachfolgende Skizzierung auf das konzentriert, was für die Betrachtung der dramatischen Bearbeitungen von besonderer Bedeutung ist. 1 Eine Schlüsselszene liegt bereits im Jahr 1581. Il’ja Repin hat sie 1885 in seinem berühmten Gemälde festgehalten (Abb. 1). Es zeigt den Moskauer Großfürsten Ivan IV. und ersten „Zar von ganz Russland“, der seinen tödlich verletzten Sohn in den Armen hält. Der irre Blick des Tyrannen spiegelt das Entsetzen über die eigene Tat wieder, denn er selbst war es, der den Thronfolger tötete - bei einem seiner berüchtigten Wutausbrüche. Der Getötete wäre der Thronfolger gewesen. An seiner Stelle wurde nach dem Tod von Ivan Groznyj dessen zweitältester Sohn Fedor zum Zaren gekrönt. Dieser war jedoch regierungsunfähig und wurde zum Werkzeug des mächtigen Höflings Boris Godunov. In der Zeit von Godunovs faktischer Regentschaft kam - wahrscheinlich durch einen Unfall - der jüngste Sohn Ivan Groznyjs, Dmitrij, im Kindesalter ums Leben (1591). Als sieben Jahre später der Zar Fedor ohne Nachkommen verstarb, erlosch die genealogische Verbindung zu Rjurik - es gab niemanden, der das erste Recht auf den Zarenthron beanspruchen konnte, denn das Za- 1 Vgl. Stökl (1973), S. 256-276; ausführlich: Skrynnikov (1995). 14 Frank Göbler rentum war ein halbes Jahrhundert zuvor unter anderem mit eben dieser Genealogie begründet worden. Abb. 1: Il’ja Repin: Ivan Groznyj und sein Sohn Ivan (1885) Boris Godunov war zu dieser Zeit zwar bereits der mächtigste Mann im Lande, aber die Krönung zum Zaren bedurfte einer besonderen Legitimation. Er zog sich daher zum Schein von der Macht zurück und ließ durch Gefolgsleute die Volksmeinung so beeinflussen, dass sich eine Bittprozession zu seinem Aufenthaltsort begab, um ihn um die Annahme der Krone zu bitten. Somit konnte er sich auf den Willen des Volkes berufen, als er sich schließlich zum Zaren krönen ließ. Nach anfänglich erfolgreicher Herrschaft geriet seine Macht aufgrund verschiedener Misserfolge mehr und mehr ins Wanken, so dass widersprüchliche Gerüchte ihre Wirkung entfalten konnten. Eines erklärte den Zaren zum Mörder des Carevič Dmitrij, ein anderes behauptete, dieser sei gar nicht tot, sondern werde nur versteckt. Ein entlaufener Mönch gab sich nun für den inzwischen herangewachsenen Dmitrij aus, holte sich militärische und politische Unterstützung in Polen und konnte, nachdem Boris Godunov im Frühjahr 1605 an einer Krankheit gestorben war, in Moskau einziehen und sich zum Zaren krönen lassen. Dieser eigent- Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 15 lich ungeheuerliche Vorgang lässt sich durch den Unmut verschiedener Bevölkerungsschichten über die Herrschaft Godunovs erklären. Ferner irritierte es die Bojaren, dass Godunov seinen Sohn zum Nachfolger bestimmen wollte. Bei der einfachen Bevölkerung wird eine gewisse Neigung bestanden haben, an die Echtheit des Thronprätendenten zu glauben, da man der genealogischen Legitimation großes Gewicht beimaß. Unter den Bojaren hingegen wird es nicht allzu viele Gläubige gegeben haben. Eher sollte wohl verhindert werden, dass das Land ins Chaos stürzte und zu leichter Beute für äußere Feinde würde. Mit allgemeinem Unbehagen wurde allerdings die Allianz des falschen Dmitrij mit den Polen betrachtet, die nicht nur Gegner Russlands bei zahlreichen militärischen Konflikten der jüngeren Vergangenheit waren, sondern auch durch eine deutliche konfessionelle und kulturelle Grenze von Russland geschieden waren. Das Unbehagen wuchs schnell, insbesondere in Anbetracht der Heirat Dmitrijs mit der polnischen Adligen Marina Mniszech. Weniger als ein Jahr nach seiner Krönung wurde dieser Pseudo-Dmitrij von Verschwörern gestürzt und umgebracht, die nun dem Bojaren Vasilij Šujskij zur Macht verhalfen. Auch Šujskijs Herrschaft war nicht von langer Dauer. Nach der polnischen Intervention war Russland ab 1610 ohne Führung. Die Befreiung von der Besatzung und die Wahl Michail Romanovs zum Zaren 1613 beendete die Zeit der Wirren und leitete eine Konsolidierungsphase ein. Zur Regierungszeit Šujskijs ist noch ein Aspekt bemerkenswert: Im Juni 1606 ließ er die sterblichen Überreste des wahren Carevič Dmitrij nach Moskau überführen; Dmitrij wurde heiliggesprochen. Dramatisierungen des Stoffes Die erste bekannte Dramatisierung von Motiven aus diesem Stoffkomplex entstand möglicherweise noch vor dem Sturz Dmitrijs, jedenfalls nicht allzulange danach - freilich nicht in Russland, wo noch gar keine weltlichen Theaterstücke geschrieben wurden, sondern am anderen Ende Europas. Der Autor war Lope de Vega (El gran duque de Moscovia y emperador perseguido, wahrsch. 1606). Doch weder diese noch die bekannteste deutsche Bearbeitung des Stoffes - Schillers Demetrius-Fragment (1804/ 05) - sollen hier interessieren, obwohl gerade die zahlreichen deutschen Versionen bis hin zu Volker Braun und Peter Hacks einer eigenen Untersuchung wert wären. 2 Allerdings scheinen es vornehmlich die russischen Stücke zu sein, die sich mit der „Smuta“ als historischer Wendezeit auseinandersetzen, und selbst unter diesen tun dies nicht alle. Im Zentrum der folgenden Betrach- 2 Vgl. Düsing (1998) zu Volker Braun und Baum (2008) zu Peter Hacks. 16 Frank Göbler tungen soll Puškins Boris Godunov stehen, der in diesem Sinne Pionier und zugleich in gattungsgeschichtlicher Perspektive überaus innovativ war. Gegenübergestellt werden ihm zwei Stücke aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Der dritte Teil der historischen Trilogie von A. K. Tolstoj (Zar Boris / Car’ Boris, 1870) und Aleksandr Ostrovskijs Der Usurpator Dmitrij und Vasilij Šujskij (Dmitrij Samozvanec i Vasilij Šujskij, 1866). Der Stoffkomplex selbst birgt schon soviel theatrales, auch theatralisches Potential in sich, dass man sich über die Häufigkeit der Dramatisierungen nicht wundern muss. Inwieweit dies in den zur Diskussion stehenden Texten umgesetzt ist und ggf. auch reflektiert wird, ist eine der Fragen, an denen sich die folgenden Betrachtungen orientieren. Eine zweite richtet sich auf das Moment der Ambivalenz, das sich in der einen oder anderen Weise durch alle Texte zieht. Beides - Theatralität und Ambivalenz - lässt sich historisch auf die Zeit Ivan Groznyjs zurückführen. Es ist überliefert, dass Ivan sich im Jahr 1564 eine Zeit lang in eine nördlich von Moskau gelegene Residenz, die Aleksandrova Sloboda, zurückzog und darauf hoffte, dass die Führerlosigkeit seine Untertanen verunsichern und gefügig machen würde - ein Kalkül, das in Kombination mit seinen brutalen Unterdrückungsmethoden auch aufging. In dieser Residenz errichtete Ivan eine parodistische Klosterordnung, die in Nikolaj Karamzins Geschichte des russischen Staates beschrieben wird und dadurch den Dramatikern des 19. Jahrhunderts gut bekannt war. 3 A. K. Tolstoj zitiert die Passage in seinem Roman über die Zeit Ivan Groznyjs. In dieser Behausung [...] widmete sich Ioann den größten Teil des Tages dem Kirchendienst, um durch unaufhörliche Geschäftigkeit seine Seele zu beruhigen. Er wollte sogar seinen Palast in ein Kloster verwandeln und seine Lieblinge in Mönche. Und wirklich wählte er unter den Opritschniki dreihundert aus, die bösesten von allen, gab ihnen den Namen einer Brüderschaft und sich selber den Rang eines Abts. [...] Er gab ihnen schwarze Barette und Kapuzen, auch schwarze Kutten, unter welchen sie prachtvolle, von Gold strotzende, mit Zobelpelzen verbrämte Kaftane trugen. Er verfaßte für sie eine Ordensregel, für deren strenge Beobachtung er selbst als Beispiel diente. Das Klosterleben Ioanns spielte sich folgendermaßen ab: Um vier Uhr morgens stieg er, zusammen mit dem Zarewitsch und Maljuta Skuratow, auf den Glockenturm, um zur Frühmesse zu läuten; die Brüderschaft eilte in die Kirche; wer nicht erschien, der wurde mit achttägigem Karzer bestraft. Der Gottesdienst dauerte bis sechs oder sieben Uhr. Der Zar psalmodierte und betete so eifrig, dass er sich bei seinen Verneigungen die Stirn auf den Steinfliesen blutig stieß. Um acht Uhr versammelte man sich abermals zur Messe, und um zehn setzten sich alle zur brüderlichen Tafel - alle, mit Ausnahme von 3 Die Herrschaft Ivan Groznyjs schildert Karamzin im 8. und 9. Band seines Geschichtswerks (1816/ 1818). Der Abschnitt zur „Aleksandrova sloboda“ befindet sich in Bd. 9, Sp. 51-52 (Karamzin (1989), kn. III). Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 17 loann, welcher, stehend, mit lauter Stimme, Anleitungen zu einem gottgefälligen Leben und allerlei Seligpreisungen vorlas. Währenddessen aß und trank die Brüderschaft sich satt, jeder Tag schien ein Feiertag, man sparte nicht mit Wein und nicht mit Met, und die Reste des Mahles trug man aus dem Palast hinaus auf den Platz für die Armen. Der Abt, das heißt der Zar, aß später zu Mittag, unterhielt sich mit seinen Lieblingen über die Ordensregel, gönnte sich ein Schläfchen oder ging ins Gefängnis, um irgendeinen Unglücklichen zu foltern. Es schien, dass dieses schreckliche Schauspiel ihn erheiterte; er kehrte mit dem Ausdruck herzlicher Genugtuung zurück und scherzte und sprach heiterer als gewöhnlich. 4 Das Zitat zeigt: Ivan spielt den von der Last des Herrschens Ermüdeten, der sich in die Abgeschiedenheit des Klosters zurückzieht; er täuscht Weltflucht vor, um letztlich seine politische Position zu festigen. Er macht seine Residenz zur Bühne für eine karnevaleske Klosterparodie, zum „Theater der Grausamkeit“. 5 Dabei schwankt die Haltung Ivans zwischen geradezu hysterischer Frömmigkeit und blasphemischer Verspottung von Religion und Klerus; kürzer ausgedrückt: zwischen Demut und Hybris. Puškins „Boris Godunov“ Interessant ist nun, dass Puškin im Boris Godunov auf diese Episode der Herrschaft Ivan Groznyjs bezug nimmt, obwohl sie weit außerhalb des szenisch präsentierten Geschehens liegt und auch keine direkte kausale Verbindung zu den Ereignissen seines Dramas aufweist. 6 Die Verbindung muss also eine andere sein: Tatsächlich kann man zeigen, dass bei der Gestaltung Godunovs und des Pseudo-Dmitrij sowohl das theatrale Moment als auch die Ambivalenz eine entscheidende Rolle spielen. Puškins Drama Boris Godunov ist bekanntlich inspiriert worden von Nikolaj Karamzin, der Anfang der 1820er Jahre in den Bänden 10 und 11 seines umfangreichen Werkes über die Geschichte des russischen Staates die Zeit der Wirren beschrieben hatte. In der ersten Druckfassung widmet Puškin sein Drama dem Andenken des inzwischen verstorbenen Karamzin. Allerdings übernimmt er nicht einfach Karamzins Geschichtsdeutung, vielmehr 4 Tolstoi (1944), S. 106-108. 5 Lachmann (1987), S. 13. 6 In der 5. Szene berichtet der Chronist Pimen darüber im Gespräch mit Grigorij, dem späteren Usurpator. 18 Frank Göbler baut er zahlreiche Unschärfen, Ambiguitäten und perspektivischen Verzerrungen in seine Dramatisierung ein. 7 Puškins Stück ist für Russland nicht nur das erste im engeren Sinne historische Drama - in dem Sinne, dass es ihm primär um die geschichtlichen Vorgänge und die daran beteiligten Kräfte geht -, sondern es ist auch ein Quantensprung in der russischen Dramatik; ein radikaler Bruch mit der klassizistischen Dramenpoetik, der u.a. ausdrücklich mit der Orientierung an Shakespeare begründet wird. Damit einher geht eine Aufwertung des dramatischen Raums, die den Text zu einem fruchtbaren Anwendungsobjekt Lotmanscher Raumsemiotik 8 macht, welche hier als Einstieg dienen soll. Abb. 2: Karte von Russland nach der Skizze von Fedor Godunov Puškin selbst lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Raums, indem er ein historisches Detail in die 10. Szene einbaut (Godunov mit seinen Kindern Fedor und Ksenija). Es ist bekannt, dass der junge Fedor (zu jener Zeit 14 oder 15 Jahre alt), sich mit Kartographie beschäftigt hatte. Eine seiner 7 Vgl. Gall (2003), insbes. S. 90: „Im Unterschied zur moralisch abgefederten Historiografie Karamzins verzichtet Puškin im Stück auf die finale Setzung eines Rahmens, der das Geschehen des Dramas um einen stabilen semantischen Schlusspunkt zentriert“. 8 Vgl. Lotman (1972), S. 311-329. Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 19 Skizzen wurde später in den Niederlanden ausgeführt und gedruckt (Abb. 2). Godunov kommentiert, als sein Sohn ihm diese Skizze vorlegt: „Das ganze Reich auf einmal: Grenzen, Städte, Flüsse“. 9 Ein Blick auf die Karte freilich zeigt zwar Städte und Flüsse, jedoch keine Grenzen: Puškin waren sie offenbar wichtiger als dem realen Carevič Fedor. Politische, kulturelle, konfessionelle, ethische Grenzen unterteilen im Text die „semantischen Felder“ 10 im Sinne Lotmans. Und historisches Geschehen wird vielfach in Grenzüberschreitungshandlungen realisiert. Zentral sind dabei die konkreten Grenzübertritte Grigorijs bzw. Dmitrijs. Schauplatz der 8. und der 14. Szene ist die Grenze zwischen Russland und Polen-Litauen. Im ersten Falle ist es ein Wirtshaus an der Grenze, in dem Grigorij inkognito mit zwei Wandermönchen Halt macht, als Häscher mit einem Steckbrief auftauchen und nach ihm fahnden. Mit Hilfe seiner Schauspielkunst kann Grigorij den Verdacht zunächst auf einen der Wandermönche lenken. Als er dann doch entlarvt wird, rettet er sich durch einen Sprung aus dem Fenster. Gleichsam mit diesem Sprung wird aus dem entlaufenen Mönch der Thronprätendent. Die Grenzüberschreitung bedeutet einen Identitätswechsel, genauer gesagt den Übertritt in eine fiktive Identität. Im Nebentext wird die Rolle von da an nicht mehr mit Grigorij, sondern als Samozvanec (Usurpator) bezeichnet. In der 14. Szene führt der Samozvanec seine Truppen gegen das eigene Land. Ausdrücklich spricht er davon, dass er dem „Feind“ den Weg nach Moskau weist; im politisch-militärischen Sinne ist sein Handeln also Landesverrat; er aber nennt es Sünde, zudem eine Sünde, die auf den Zarenmörder Boris fallen möge. Der Begriff der Sünde hat damit zu tun, dass es beim Konflikt zwischen Polen-Litauen und Russland nicht nur um territoriale und machtpolitische Fragen geht, sondern auch um Religion und Kirche sowie kulturelle Identität. Es ist der Konflikt zwischen dem byzantinischorthodoxen Kulturraum und dem lateinisch-katholischen. So könnte man sagen, dass die Tat des Prätendenten die Abkehr vom „Heiligen Russland“ ist, in dem Staat und Religion eine Einheit bilden. Insofern ist schon Grigorijs Flucht aus dem Kloster ein bedeutungsträchtiger Vorgang. Das Kloster ist der Ort kirchlicher Schriftkultur und des kirchlich geprägten nationalen Gedächtnisses - über die Umstände des Todes von Dmitrij erfährt Grigorij ja aus der Erzählung des Chronisten Pimen. Andreas Ebbinghaus hat das so interpretiert, dass Grigorij schon hier das „heilige Russland“ verlässt, und betrachtet dies in Analogie zu Boris Godunov, der ja vor seiner Krönung 9 Puschkin (1969), S. 28. „Vsë carstvo vdrug: granicy, grady, reki“ (Puškin (1996), S. 58). 10 Vgl. Lotman (1972), S. 332. 20 Frank Göbler ebenfalls die Klostermauern verlässt, hinter die er sich zurückgezogen hatte. 11 Tatsächlich spricht Vasilij Šusjkij in diesem Zusammenhang vom „Überschreiten“ („perešagnet“) 12 . Man könnte sagen, dass dieses „Überschreiten“ für Godunovs Programm einer Säkularisierung der russischen Gesellschaft steht. Dieses ist auf der thematischen Ebene kaum ausgeführt, Puškin begnügt sich mit Andeutungen - etwa der, dass der Zar seinen Sohn in seinem Interesse an modernen Wissenschaften unterstützt. Grigorij seinerseits willigt in Krakau ein, sein Land, wenn er die Macht erlangt haben wird, dem Einfluss der katholischen Kirche zu überlassen. Zugleich zeigt er Bildung und Kunstverstand, als ein Dichter ihm ein lateinisches Preisgedicht überreicht. Die Allianz mit den Polen ist also nicht allein pragmatisch motiviert, sondern schließt die Perspektive einer grundlegenden Veränderung seines Landes ein - auch im Sinne einer Säkularisierung, denn weltliche Kunst und Dichtung waren zu dieser Zeit in Russland noch kaum entwickelt. Die Frage, wie Grigorijs Tat bewertet wird, stellen wir zunächst einmal zurück. Offensichtlich ist jedenfalls deren außerordentliche Kühnheit. Wenn man die Handlungssequenzen um Grigorij-Dmitrij und Boris Godunov als parallel, nur zeitlich versetzt ansieht, könnte man sie folgendermaßen abstrahieren: Aufstieg zur höchsten Macht durch eine unerhörte Tat und Fall durch die Folgen dieser Tat. Die „unerhörte Tat“ ist nach überwiegender Auffassung in der Puškin-Rezeption der Mord am Thronfolger Dmitrij. Besonders gravierend erscheint diese Tat deswegen, weil an verschiedenen Stellen angedeutet wird, Dmitrij zeige Anzeichen von Heiligkeit. In der 10. Szene befragt Godunov Vasilij Šujskij zum Tod Dmitrijs, und dieser berichtet, die Leiche gesehen zu haben, die in der Kathedrale aufgebahrt war und auch nach drei Tagen keinerlei Anzeichen von Verwesung gezeigt habe: „Doch hell war des Zarewitsch Kinderantlitz / Und rein und still, wie nur in Schlaf gesunken“. 13 Puškin greift die im alten Russland verbreitete Vorstellung auf, dass die verlangsamte Verwesung und Heilungswunder am Grabe von Verstorbenen Anzeichen für deren Heiligkeit seien. Gegen Ende des Dramas, als die Truppen des Samozvanec näher rücken, schlägt der Patriarch vor, die „heiligen Gebeine“ des Carevič nach Moskau zu überführen. 14 Bei der Schilderung der Heilung eines Blinden am Sarg Dmirijs verliert Godunov abermals 11 Ebbinghaus (1992), S. 181. 12 Puškin (1996), S. 27. 13 Puschkin (1969), S. 32. „I detskij lik careviča byl jasen / I svež i tich, kak budto usyplennyj“ (Puškin (1996), S. 62). 14 In der Szene „Carskaja duma“, Puškin (1996), S. 82. Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 21 beinahe die Fassung. 15 - Historisch wurde der Carevič erst im Juni 1606 heiliggesprochen, ein vom Zaren Vasilij Šujskij veranlasster und zweifellos politisch motivierter Akt, aber doch mit bleibendem Einfluss auf das Bild, dass man sich nachfolgend von Dmitrij machte (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Michail V. Nesterov: Der heilige Zarevič Dmitrij (1899) Als Šujskij dem Zaren in dieser Weise den Tod des legitimen Thronfolgers bestätigt, liefert das jenem keineswegs die Beruhigung, die er erhofft. Ebbinghaus erklärt dies mit dem Entsetzen über die eigene Untat - die Ermordung eines Heiligen. Dagegen hat Alfred Gall argumentiert, dass dem Zaren hier noch einmal die drohende Gefahr durch den Schatten des Carevič verdeutlicht und die Mordtat selbst gar nicht als verbürgt dargeboten werde. 16 Tatsächlich ist es so, dass keine der betreffenden Aussagen wirklich eindeutig ist. Die unerhörte Tat kann in der Perspektive Godunovs schon darin bestehen, dass er als Hofadliger tatarischer Herkunft in die Rolle des Zaren eingetreten und daher ebenso ein Usurpator ist wie der falsche Dmitrij. In einem allegorischen Sinne kann man aber im einen wie im anderen Falle die Erschütterung Godunovs verstehen als Erschrecken über seine Abkehr von den „heiligen“ Traditionen Russlands 15 Ebbinghaus (1992) verweist darauf, dass schon in der 7. Szene ein versteckter Hinweis auf die Heiligkeit des Carevič gegeben werde (S. 176-178). 16 Vgl. Gall (2003), S. 87. . 22 Frank Göbler Hier sei noch einmal auf Ivan Groznyj verwiesen, bei dem sich der Bruch mit diesen „heiligen“ Traditionen schon anbahnt. Puškin lässt seinen Chronisten in der 5. Szene genau jene Episode referieren, die A. K. Tolstoj in seinem Roman aus Karamzins Geschichtsdarstellung zitiert, d. h. wie Ivan die Rolle des Abts spielt und seine Henkersknechte als Mönche einkleidet. Der Anspruch der Zaren, weltliches Haupt der gesamten rechtgläubigen Christenheit zu sein, untergräbt sich schon in seinem Anfang selbst durch die Ambivalenz seiner Haltung zu Religion und Klerus. Dies ist der Erzählung des Chronisten Pimen gleichsam gegen dessen eigene Intention eingeschrieben - er möchte ja die pseudoreligiösen Rituale Ivans als Ausdruck echter Reue hinstellen. Um seinen Frieden kämpfte Zar Joann, Nacheifernd unsren klösterlichen Mühen, Sein Schloß, das stolze Günstlinge durchschwärmten, Erneute sich in eines Klosters Bild: Die Frevler all in Kappen, härnen Kutten Gebarten sich als treu beflißne Mönche, Der strenge Zar als gottergebner Abt. [...] den Zaren sah ich hier, Des Henkens müde und der Zorngedanken, Nachdenklich, still saß unter uns der Strenge, Wir standen reglos da vor seinen Blicken, Er sprach zu uns in stiller Wechselrede. [...] Auch weinte er. Und wir in Tränen flehten, Dass Gott den Frieden ihm und Liebe sende In seine stürmend leidensvolle Seele. 17 Bei Boris ist nun der Bruch mit der Tradition - ebenso wie nachher bei Dmitrij - durch einen an sich positiv akzentuierten Anspruch motiviert: Bei Boris den einer gerechten, milden, weltoffenen Herrschaft, bei Dmitrij durch den Wunsch, den (vermeintlich) durch Mord zur Macht Gelangten seiner Strafe zuzuführen, und - wenn man die polnischen Szenen hinzunimmt - wohl auch durch gewisse Modernisierungsideen. Boris bricht vor allem mit der genealogischen Tradition, Dmitrij mit der kulturellen und religiösen. Was 17 Puschkin (1969), S. 14. „Car’ Ioann iskal uspokoen’ja / V podobii monašeskich trudov. / Ego dvorec, ljubimcev gordych polnyj, / Monastyrja vid novyj prinimal: / Kromešniki v taf’jach i vlasjanicach / Poslušnymi javljalos’ černecam, / A groznyj car’ igumenom smirennym. / [...] zdes’ videl ja carja, / Ustalogo ot gnevnych dum i kaznej. / Zadumčiv, tich sidel mež nami Groznyj; / My pered nim nedvižimo stojali, / I ticho on besedu s nami vel. / [...] I plakal on. A my v slezach molilis’, / Da nispošlet Gospod’ ljubov’ i mir / Ego duše, stradajuščej i burnoj.“ (Puškin (1996), S. 39). Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 23 beide zu Fall bringt, ist also nicht oder nicht nur die Übertretung einer ethischen Grenze. Die historische Dimension ist, wie man sehen konnte, sehr viel weitreichender. Im Grunde zeigt Puškins Drama, dass der autokratische Anspruch des Zartums auf Fiktionen gebaut ist und dass das Zartum sich auf diese Weise selbst aushöhlt. Diese Fiktionen veranschaulicht Puškin in den theatralen Inszenierungen Ivans IV., Boris Godunovs und des Samozvanec: Sie sichern nur kurzfristig die Macht. Letztlich aber entziehen sie dem Gemeinwesen seine Grundlage, so dass nicht nur Herrscher stürzen, sondern die Gesellschaft als ganzes zutiefst erschüttert wird. Wenn also festgehalten werden kann, dass Puškins Stück überaus aufschlussreiche Einblicke in Wirkungskräfte und Motivationszusammenhänge dieser Umbruchzeit liefert, ist doch auffällig, dass er dabei keine eindeutigen Wertungen vornimmt. Bei Godunov wie bei Dmitrij sind die Motivationen und die Fähigkeiten eher positiv, die Methoden sowie die Handlungsresultate eher negativ akzentuiert, aber fast immer nur in bestimmten Perspektiven und unter der Voraussetzung bestimmter Annahmen - ihr Bild ist damit so ambivalent wie etwa das Peters des Großen, welches Puškin in seiner Verserzählung „Der eherne Reiter“ zeichnet. Bei Peter dem Großen fehlt allerdings das Moment der Theatralität - und es wäre einer Untersuchung wert, ob Puškins Texte über Peter den Großen einen Zusammenhang zwischen der Nicht-Theatralität und dem Nicht-Scheitern herstellen. Ambivalent ist ferner das Bild des Volkes, dem die sowjetische Rezeption von Puškins Stück lange Zeit eine so positive und dynamische Rolle zuschreiben wollte. 18 Puškin präsentiert es mal als kritisch und die Manöver der Herrschenden durchschauend (auch wenn Protest meist nur indirekt oder hinter vorgehaltener Hand zum Ausdruck gebracht wird), mal als manipulierbar und opportunistisch. Vor allem aber zeigt Puškin es im Rollenspiel: In einer für die Druckfassung gestrichenen Szene spielt das Volk die Inszenierung Godunovs mit, indem es so tut, als leide es unter der Führungslosigkeit. 19 D.h., wir erfahren, dass es die Inszenierung durchschaut, aber wir erfahren nicht, was es eigentlich will. Ähnliches gilt für das Dramenende: Das Schweigen des Volkes, nachdem klar ist, dass Godunovs Frau und Sohn ermordet wurden, ist ein einziges Fragezeichen: Ist es stummer Protest und Weigerung dem Usurpator zuzujubeln oder blankes Entsetzen, 18 Die von der Akademie der Wissenschaften herausgegebene Literaturgeschichte von 1981 liefert hier eine implizite Korrektur der älteren marxistischen Lehrmeinung: „aus ,Boris Godunov‘ den Gedanken herauszulesen, das Volk sei die entscheidende Kraft der Geschichte, und zu behaupten, dadurch unterscheide sich die historische Konzeption Puškins im Kern von derjenigen Karamzins, ist unbegründet.“ Kuprejanova (1981), S. 276. 19 Ursprünglich war das die 3. Szene („Devič’e pole. Novodevičij monastyr’“ / „Jungfrauenfeld. Neujungfrauenkloster“, vgl. Puškin (1996), S. 108-109). 24 Frank Göbler Sprachlosigkeit, die Kapitulation der schweigenden Masse? Der Text lässt das offen. Exkurs: Musorgskijs „Boris Godunov“ als Spielfilm In diesem Zusammenhang ist eine Filmszene von Interesse, die das Wechselspiel von Theatralität und Ambivalenz ins 20. Jahrhundert hinein aktualisiert. Die Sequenz befindet sich in der Verfilmung von Modest Musorgskijs Oper nach dem Drama Puškins. Die Oper (1874) 20 war schon vor dem Zweiten Weltkrieg in der UdSSR auf die Bühne gelangt. Sie stand seit 1947 wieder auf dem Spielplan des Bol’šoj teatr und wurde 1948 in einer neuen Inszenierung präsentiert. Es ist zu vermuten, dass der Film, der 1954 fertiggestellt wurde 21 , auf dieser Inszenierung basiert und möglicherweise noch zu Lebzeiten Stalins begonnen wurde, jedenfalls zu einer Zeit, als der stalinistische Personenkult, die monumentalen Inszenierungen von Herrschaft, im allgemeinen Bewusstsein ganz präsent waren. Monumental ist auch die filmische Ausgestaltung der Szene: Boris Godunov hat die Krone angenommen und tritt vor das Volk. 22 Das Monumentale reicht vom setting, dem Platz vor der Erzengelkathedrale im Moskauer Kreml, über die Pracht der Kostüme bis hin zu den unübersehbaren Volksmassen, die dem Zaren huldigen. In geradezu tragischer Haltung präsentiert Godunov sich als Herrscher wider Willen, der in Demut sein Schicksal annimmt, mit folgendem Text: Wie bang ist mir! Wie seltsam angstbeklommen, Als ahnt’ es künft’ges Unheil, krampft mein Herz sich ein. O höre mich , o mein erhab’ner Vater! In Himmelshöh’n sieh gnädig meine Tränen Und deinen Segen sende gnädig mir herab Für meine Herrschaft, dass ich gerecht und gnadenreich wie du, Ein Vater werde meinem Volk! Nun laßt uns knien im Gebet 20 Das Libretto ist eine relativ freie Bearbeitung Puškins, wobei Reißner die Abweichungen von der Vorlage vor allem mit den Erfordernissen der Opernbühne begründet. „Die innere Struktur sowie das Charakterbild der Hauptfiguren sind nur unwesentlich verändert worden. So erscheint bei Mussorgskij die Machtgier Boris’ gemildert, andererseits das Menschlich-Private, also seine Rolle als Familienvater, eher noch verstärkt, zudem die Gewissenslast, die ihn nahezu in den Wahnsinn treibt, bühnenwirksam pointiert.“ Reißner (1998), S. 137. 21 Regie: Vera Stroeva; mit Chor, Ballett und Orchester des „Bol’šoj teatr“ und Aleksandr Pirogov in der Titelrolle; Dirigent: Vasilij Nebol’sin. 22 Bei Puškin zeigt der neue Zar sich nur den Bojaren (4. Szene). Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 25 Vor den entschlaf’nen Herrschern Rußlands. Doch dann zum Feste kommt herbei, Kommt alle her, vom Bettler bis zum Fürsten! Heut’ seid ihr all’, all’ meine lieben Gäste! 23 Bei Puškin ist ja der Auftritt Godunovs in der 4. Szene schon fiktionsintern eine Inszenierung, die offen lässt, ob Godunov aufrichtig spricht oder posiert. Musorgskij übernimmt diese Ambivalenz; allerdings erhält sie einen anderen Charakter, weil das Posieren hier schon genrebedingt ist - jedenfalls im Rahmen der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts. Auch im Film ist der Auftritt Godunovs als mögliches Rollenspiel markiert - das signalisieren der Gesichtsausdruck Šujskijs in der Großaufnahme und die Blicke, die sich zwei Männer aus dem Volk zuwerfen. Diese kurzen Einstellungen signalisieren, dass die Pose Godunovs durchschaut, zumindest mit Skepsis betrachtet wird. Abb. 4: Der zum Zaren gekrönte Boris Godunov tritt vor das Volk (Filmszene) Eine weitere Veränderung gegenüber der Oper tritt dadurch ein, dass das Geschehen in das Medium des Films wechselt und nun auf den realen Schauplatz versetzt werden kann: Die Szene ist im Kreml gedreht, wodurch sie einen eigentümlichen Realitätsbezug erhält. Heute wird man darin fast unweigerlich einen kritischen Kommentar zum stalinistischen Personenkult sehen - was ganz sicher nicht intendiert war. Intendiert war vielmehr, den Antagonismus von Zar und Volk aufzuzeigen. Dennoch ist die Szene auch im Zeitkontext des Films hinsichtlich ihrer Wirkungsabsicht ambivalent: 23 Mussorgsky (1948), S. 30. 26 Frank Göbler Denn sie ist auch eine Demonstration von Pracht und Größe Russlands und sollte in der Sowjetunion der Nachkriegszeit zugleich eine affirmative Funktion erfüllen. Dass das Volk bei Musorgskij eine so große Rolle spielt - mit effektvollen Chor-Passagen - lässt sich als Fortsetzung von Puškins dramenpoetischer Neuerung verstehen. Das Personal von Puškins Boris Godunov erscheint vor dem Hintergrund der noch vorherrschenden klassizistischen Normen überaus vielfältig und differenziert und zeugt von dem Bestreben, alle für den historischen Prozess bedeutsamen gesellschaftlichen Kräfte in Aktion und Interaktion zu zeigen: Neben Zaren und Bojaren treten Geistliche verschiedenen Ranges, polnische Adlige, Kosaken, Grenzwächter, Offiziere, einfache Soldaten, ein Dichter, ein Gottesnarr, Diener und einfaches Volk auf. Alle haben ihren Platz (auch Schauplatz) und ihre Stimme. Der Stoff in den 1860er Jahren Hieran haben Ostrovskij und A. K. Tolstoj angeknüpft, allerdings in einer geistesgeschichtlich stark veränderten Situation. Bis zu den 1860er Jahren war in den publizistischen Diskussionen über die künftige Entwicklung Russlands eine so starke Polarisierung eingetreten, dass schon der Verzicht auf jegliche politische Stellungnahme im Sinne einer Positionierung interpretiert wurde. Tatsächlich sind in beiden Stücken Bezüge zur aktuellen Diskussion erkennbar, wenn diese auch in verschiedene Richtungen gehen. Anderseits gibt es aufschlussreiche Übereinstimmungen, und vom Stoff her schließt Ostrovskijs Stück unmittelbar an die Tolstojsche Trilogie an. Tolstoj war politisch eher konservativ und stand dem Zarenhaus nahe, allerdings lässt er sich nicht dem slavophilen Lager zuordnen, sondern er maß dem Austausch Russlands mit dem Westen große Bedeutung bei und wies immer wieder auf die alten Verbindungen mit anderen europäischen Ländern hin, die schon während der Zeit der Kiever Rus’ bestanden hatten. Den sozialistischen und revolutionären Tendenzen stand er kritisch gegenüber, griff sie in satirischen Balladen an und formulierte u.a. über einige negative Besprechungen zur Inszenierung des ersten Teils der Trilogie: „Sämtliche Roten und Nihilisten sind darüber entrüstet und fallen nach Kräften über mich her. Ich muss gestehen, dass mir das am allermeisten schmeichelt.“ 24 Ostrovskij hat einen ganz anderen biographischen Hintergrund als Tolstoj, der u. a. als Kind Spielkamerad des Thronfolgers Aleksandr gewesen war. Ostrovskij stammte aus bürgerlichem Milieu, hatte eine juristische 24 Brief an Karolina Pavlova vom 26.3.1867, in: Tolstoj (1963), Bd. 4, S. 210. Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 27 Ausbildung erhalten und einige Zeit am Moskauer Handelsgericht gearbeitet. Dadurch kannte er die verschiedenen Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen, vor allem das Kaufmannsmilieu aus nächster Nähe und entlarvte in seinen Stücken immer wieder dessen Ignoranz und moralische Rückständigkeit. Durch seine fortschrittliche Gesinnung und sein Interesse an einer kritisch-realistischen Gesellschaftsdarstellung war er der linken Literaturkritik weit weniger verdächtig als ein Graf Tolstoj. A. K. Tolstoj Bei beiden Dramatikern will ich nur einzelne Aspekte ansprechen, möchte aber - ehe ich zu Tolstojs „Car’ Boris“ komme - die Gesamtanlage der historischen Trilogie erläutern, zu der das Stück gehört. 25 Der erste Teil konzentriert sich auf die Phase unmittelbar vor dem Tod Ivan Groznyjs 1584. Handlungskern sind die Bestrebungen Boris Godunovs, sich die faktische Macht für die Zeit nach Ivans Tod zu sichern, wobei er ethisch zweifelhafte Methoden zum Einsatz bringt und damit zunächst erfolgreich ist, mit anderen Worten - er erscheint als ziemlich skrupelloser Intrigant. Der zweite Teil spielt 1591 und stellt einen handlungsunfähigen, aber ethisch über jeden Tadel erhabenen Zaren Fedor in den Mittelpunkt. Die Handlung hingegen wird weiter von Boris vorangetrieben; sie gipfelt im Tod des Carevič Dmitrij, der den völligen Rückzug Fedors aus dem politischen Geschehen zur Folge hat. „Car’ Boris“ schließlich, der dritte Teil oder - wie Tolstoj selbst meinte - die „Katastrophe der Trilogie“ 26 , umfasst denselben Zeitraum wie Puškins Stück, d.h. es reicht von der Krönung Godunovs bis zu dessen Tod. Der falsche Dmitrij bleibt im Geschehen eine Randfigur, er erscheint nur kurz in einer burlesken Szene in einem Räuberlager. Die Figur Godunovs erscheint hier gegenüber den vorigen Teilen gewandelt. Er wird zur Verkörperung eines positiven politischen Konzepts, das man mit den Begriffen Demokratisierung, Internationalisierung und Kulturaustausch umreißen könnte. Tolstoj apostrophiert die Ziele von Godunovs Herrschaft als Zeitenwende. Nach seiner Krönung erklärt er: „dieser Tag (...) soll / Der Anfang werden einer neuen Zeit. / Als neuer Morgen über Russland leuchtend / Verhelfe er ihm eine lange Reihe / Ge- 25 Dazu ausführlich: Göbler (1992), S. 351-370. 26 Tolstoj (1963), Bd. 4, S. 395. 28 Frank Göbler segneter und wolkenloser Jahre.“ 27 Die Prinzipien dieser neuen Herrschaft werden auch recht detalliert dargelegt. a) Es wird eine Amnestie für politisch Oppositionelle angekündigt - milde Herrschaft also, deren Legitimation die „Liebe des Volkes“ ist. b) Die Rechte der Bauern sollen verbessert werden, sie sollen Land zugeteilt bekommen c) Mit den Nachbarländern soll friedliches Einvernehmen herrschen, die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Verbindungen mit den europäischen Ländern sollen intensiviert werden, u.a. durch eine Heirat der Tochter Godunovs mit dem dänischen Kronprinzen Christian. Godunov erklärt, an die Internationalität der Kiever Rus’ anknüpfen und Russland aus der durch das Tatarenjoch eingetretenen Isolation herausführen zu wollen. Diese politischen Ziele sind eindeutig positiv akzentuiert, sie sind aber weniger eine Analyse der Regierungszeit Boris Godunovs als ein Kommentar zur politischen Situation in den 1860er Jahren - und zwar in einem affirmativen und appellativen Sinne. Die 1860er Jahre sind das Jahrzehnt der Großen Reformen Aleksandrs II., aber auch wachsender Widerstände gegen die zaristische Regierung sowie sozialistischer und revolutionärer Gesellschaftsentwürfe, die sich mit den kollektivwirtschaftlichen Modellen der Slavophilen teilweise berühren. Dem wird hier das Konzept einer guten Herrschaft, einer besonnenen Reform von oben entgegengesetzt. Zugleich ist Tolstojs Text ein indirekter Appell an den Zaren Aleksandr zu einem toleranten Umgang mit der intellektuellen Opposition. Wenn wir nun wieder zum Stoff des Dramas zurückkehren, so ist zu fragen, woran Boris Godunov eigentlich scheitert. Der Text gibt darauf drei Antworten: a) Erstens sind es die Partikularinteressen des russischen Hochadels - konkretisiert am Fürsten Šujskij, der außer seinem persönlichen Machtstreben keinerlei politische Maximen kennt. b) Zweitens ist es der moskowitische Geist, der den aufgezwungenen Isolationismus der Besatzungszeit aus einer Haltung religiöser und kulturel- 27 Tolstoi (1909), S. 35. „Načalom byt’ pory dlja carstva novoj; / Svetit’ Rusi kak utro dolžen on / I vozveščat’ ej vremena inye / I rjad blagich, bezoblačnych godov! “ (Tolstoj (1963), Bd. 2, S. 431). Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 29 ler Ressentiments fortschreibt. Er wird verkörpert durch Godunovs Ehefrau, der Tochter von Maljuta Skuratov, welcher unter Ivan Groznyj die Opričnina anführte, das Exekutivorgan von Ivans Staatsterror. Sie versucht erst durch Verleumdung die Heirat der Tochter mit dem dänischen Kronprinzen zu verhindern, und erreicht dies dann - so wird zumindest angedeutet - durch einen Giftmord an Christian. c) Die dritte Antwort ist eine ethische. Der Mord am Carevič Dmitrij wird bei Tolstoj als zweifelsfrei hingestellt, ebenso wie die Verantwortung Godunovs für die Tat. Kurz vor seinem Tod wird uns ein Zar präsentiert, der einsieht, dass seine Schuld sich durch eine ethisch gute Herrschaft nicht tilgen lässt. Als Mahnung an die Bojaren, die er zur Treue auf seinen Sohn verpflichtet, formuliert er einen Satz, der letztlich auf ihn selbst gemünzt ist: „Das Böse zeugt stets Böses; einerlei: / Ob man dadurch sich selbst dient, ob dem Reich, / Nie dient das Böse uns, noch auch dem Reich / Zum Segen.“ 28 Die Gründe für Godunovs Scheitern sind also - wie man sieht - die Umkehrung eines politischen Ideals. Das Ideal selbst wäre demnach eine Monarchie, die sich ethischen Prinzipien verpflichtet sieht, eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft, in der das Wohlergehen aller Bürger gesichert sein soll, eine Gesellschaft im friedlichen und produktiven Austausch mit den anderen europäischen Ländern. Wenn man aber die historische Logik betrachtet, die Tolstojs Trilogie vermittelt, so ist die Herrscherfigur nicht - wie bei Puškin - ambivalent gezeichnet, sondern es vollzieht sich mit ihr ein Wandel vom skrupellosen Machtpolitiker zum aufgeklärten Monarchen, der tragischerweise von den Folgen seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird. Auch das Moment der Theatralität ist gegenüber Puškin stark reduziert - alleine schon dadurch, dass der falsche Dmitrij nur noch eine marginale Rolle spielt. Aber auch bei der Gestaltung Godunovs zeigt Tolstoj das Bemühen, ihn als authentischen und eindeutigen Charakter zu präsentieren. Das ist zugleich ein Aspekt der Entwicklung der Figur im Verlauf der Trilogie, denn in den ersten beiden Teilen begegnet uns Boris Godunov noch als Meister des Rollenspiels. 28 Tolstoi (1909), S. 179. „Ot zla liš’ zlo roditsja - vse edino: / Sebe l’ my im služit’ chotim il’ carstvu - / Ono ni nam, ni carstvu vprok nejdet! “ (Tolstoj (1963), Bd. 2, S. 552). 30 Frank Göbler A. N. Ostrovskij Schließlich noch einige Beobachtungen zu Ostrovskij. Interessant ist zunächst, dass Ostrovskij mit dem Stück eine Wende in seinem eigenen Schaffen eintreten sah. Während seine Dramatik sich bis dato mit der Gegenwart beschäftigte und unmittelbar für die Bühne konzipiert war, erklärte er 1866 in einem Brief, sich nun ausschließlich historischen Themen widmen zu wollen, und zwar in einer für die Bühne ungeeigneten Form, nämlich der des Puškinschen Boris Godunov. 29 Bei dieser Absichtserklärung blieb es: Erstens wurde das Stück sehr bald mit Erfolg aufgeführt (Malyj teatr, Moskau 1867), wenn auch in einer gestrafften Fassung; und zweitens kehrte er bereits Ende der 1860er Jahre wieder zu Gegenwartsthemen zurück. Sein Stück basiert auf intensiven Quellenstudien und einer sehr viel breiteren Materialbasis, als sie noch Puškin zur Verfügung hatte. Es ist zweigeteilt und konzentriert sich auf Ereignisse im Juni und Juli 1605 sowie im April und Mai 1606 - grob gesprochen also den Beginn und das Ende der Herrschaft des falschen Dmitrij. Viel mehr noch als Puškin bezieht Ostrovskij verschiedene Bevölkerungs- und Interessengruppen in seine Darstellung ein: Neben dem Hochadel sind das Gardisten, Soldaten, Kaufleute aus verschiedenen Städten, Kleinhändler, Schreiber, Popen, Pilger, Hausierer, Bauern, Kinder aus dem Volk usw. Damit geht eine Vervielfachung der Perspektiven einher, die man sich z. B. an dem Bild des falschen Zaren verdeutlichen kann: Man hält ihn für den echten Carevič, für den ehemaligen Mönch Grigorij Otrep’ev, für einen polnischen Jesuiten, für einen Häretiker, für den Antichristen etc. Die Handlung ist bestimmt von den raffinierten, teilweise überaus riskanten Manövern des Bojaren Šujskij, während Dmitrij eher als Spielball verschiedener Interessen erscheint und in einem inneren Dialog mit Ivan Groznyj erklärt, er sei fast wider Willen in die Rolle des Dmitrij gedrängt worden. 30 Das Stück will aber darauf hinaus, dass Dmitrij seine Rolle schlecht spielt: Eigensinnig wie ein Kind nutzt er die ihm zugefallene Macht vor allem dazu, luxuriösen Vergnügungen nachzugehen; Er ist leicht zu beeinflussen und lässt die mit nach Moskau gebrachten Polen nach Belieben gewähren; Gegenüber Marina verhält er sich wie ein liebeskranker Sklave etc. pp. 29 Ostrovskij (1950), S. 418 (an Burdin, 27.9.1866). 30 Teil 1, 3. Szene: „Carskim synom / Ja nazvalsja ne sam; tvoi bojare / Davno menja carevičem nazvali / [...] Ne sam ja / Na Rus’ pošel; na smenu Godunova / Davno zovet menja tvoja stolica“ (Ostrovskij (1950), S. 292). „Sohn des Zaren / habe ich mich nicht selbst genannt; deine Bojaren / Haben mir vor langem den Namen Zarewitsch gegeben / [...] Nicht ich selbst / Bin gegen Russland gezogen; Godunov abzulösen / Hat mich vor langem deine Hauptstadt gerufen.“ Die russische Staatskrise des frühen 17. Jahrhunderts 31 Die gegenseitigen Ressentiments zwischen Russen und Polen werden in episodischen Konflikten oder in Streitgesprächen veranschaulicht (Beispiel: Eine Kaufmannstochter wird von Polen entführt und anschließend vom Volk gewaltsam befreit). Ostrovskij macht daraus regelrechte Volksszenen, die u.a. der Motivierung des Aufruhrs gegen den Zaren dienen, aber zugleich auch die im Volk vielfach vorherrschende Ignoranz entlarven. Ostrovskijs unternimmt hier - allerdings ohne Idealisierung des Volkes - die Demokratisierung des Dramas, und entsprechend schließt er das Stück mit einem demokratischen Postulat. Der Fürst Golicyn begründet seine Ablehnung Šujskijs als neuen Zaren mit dem Satz: „Auf den freien Thron darf nur gelangen, wer vom ganzen Volk erwählt ist“. 31 Dass damit indirekt eine Demokratisierung des russischen Staates in der Gegenwart eingefordert wird, dürfte offensichtlich sein. Das theatrale Element ist gegenüber Puškin leicht verschoben. Während man bei Puškins Dmitrij gleichsam beobachten kann, wie er mehr und mehr in die Zarenrolle hineinwächst, bleibt er bei Ostrovskij als Schauspieler ein Dilettant, dem als Meister seines Fachs Vasilij Šujskij gegenübergestellt ist. Die Problematik des Rollenspiels ist aber auch hier nicht mehr integraler Bestandteil der historischen Analyse, sondern sie ist eher dramaturgisches Mittel und Element der Charakterzeichnung. Ganz verschwunden ist - wie auch bei Tolstoj - das Moment der Ambivalenz. Die Titelfiguren vertreten keinerlei positiv markierte Konzepte, und ihre Motivationen sind, auch wenn sie bisweilen nicht gleich enthüllt werden, zuletzt immer eindeutig bestimmbar. Insofern muss bezweifelt werden, dass Ostrovskij angesichts des im Vergleich mit Puškin differenzierteren Personals und des reicheren historischen Materials auch einen Fortschritt in der Durchdringung des historischen Prozesses erzielt. Vielmehr will es scheinen, dass Puškins Drama uns über die innere Logik dieser Umbruchzeit tatsächlich mehr zu sagen hat als seine Nachfolger. Literaturverzeichnis Baum, U.: „Über Peter Hacks’ russische Stücke“. In: Argos. Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks. H. 2. 2008, S. 65-80. Düsing, W.: „Klassisches und modernes Geschichtsdrama. Schillers Demetrius und V. Brauns Dmitrij“. In: Ders.: (Hg.), Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun. Tübingen 1998, S. 225-243. 31 „Na tron svobodnyj / Saditsja liš’ isbrannik vsenarodnyj“ (Ostrovskij (1950), S. 384). 32 Frank Göbler Ebbinghaus, A.: „Der Falsche und der Heilige Demetrius in A. S. Puškins Boris Godunov“. In: Zeitschrift für Slawistik. H. 37. 1992, S. 175-183. Gall, A.: „Erzählte Geschichte - A. S. Puškins Boris Godunov als Reflexionsmedium historiographischer Sinnstiftung in N. M. Karamzins Geschichte des Russischen Reiches“. In: R. André, C. Deupmann (Hg.), Paradoxien der Wiederholung. Heidelberg 2003, S. 71-94. Göbler, F.: Das Werk Aleksej Konstantinovič Tolstojs. München 1992. Karamzin, N. M.: Istorija gosudarstva rossijskogo. Moskva 1989. Kuprejanova, E. N.: „A. S. Puškin“. In: Dies.: (Hg.), Istorija russkoj literatury. Tom vtoroj: Ot sentimentalizma k romantizmu i realizmu. Leningrad 1981, S. 235-323. Lachmann, R.: „Vorwort“. In: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1987, S. 7-46. Lotman, J. 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Alfred Gall „Finis Poloniae“ - vom Untergang zum Übergang: Dramatik der Sinnstiftung in der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts Die polnische Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts Mit der dritten und letzten Teilung von 1795 verschwindet Polen für über 120 Jahre von der europäischen Landkarte. Tadeusz Kościuszko (1746-1817) stellte, als der von ihm angeführte Nationalaufstand gegen Russland scheiterte und 1795 den Teilungsmächten Österreich, Preußen und Russland Anlass für die endgültige Zerschlagung der polnischen Eigenstaatlichkeit bot, resignierend fest, dass mit dieser Niederlage unweigerlich das Ende Polens gekommen sei; jedenfalls werden ihm die Worte „Finis Poloniae“ zugeschrieben, auch wenn er später abstritt, dies jemals behauptet zu haben. 1 Für Polen beginnt 1795 der lange Zeitraum der Staatenlosigkeit, der erst 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, ein Ende nimmt, als die vormals unter Preußen bzw. dem Deutschen Reich, Österreich und Russland aufgeteilten polnischen Gebiete wieder zu einem gemeinsamen Staat zusammengeschlossen werden. 1795 markiert also eine tiefe Zäsur, die in der polnischen Literatur und Kultur zahlreiche Spuren hinterlassen hat. Der Verlust der Eigenstaatlichkeit sowie die verschiedenen Bemühungen der Wiedererlangung eines polnischen Staats kennzeichnen die polnische Geschichte des 19. Jahrhunderts auf mannigfaltige Weise und insbesondere die Literatur, und hier auch die Dramatik, wird auf diese Problematik immer wieder Bezug nehmen. Literatur wird in dieser Zeit in Ermangelung staatlich-politischer Instanzen und unter den Bedingungen einer zum Teil und phasenweise überaus repressiven Polenpolitik der Teilungsmächte zu einem Leitmedium kultureller und nationaler Selbstbehauptung. 2 Dabei sind schon unmittelbar nach 1795 Haltungen und Problemstellungen erkennbar, die dann auch in nachfolgenden Jahrzehnten, wenn auch in modifizierter Weise, zur Geltung kommen werden. Zu den Hauptmerkmalen der Reaktion der 1 Vgl. den Eintrag in Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 6, Leipzig 1906, S. 577 f., zugänglich unter: www.zeno.org/ Meyers-1905/ A/ Finis+Poloniae (10.05.2010). Zu den Auseinandersetzungen über ein mögliches Ende Polens (Finis Poloniae) s. auch: Żbikowski (2007), S. 68 f., zu Kościuszko vgl. ebd., S. 321 f. 2 S. dazu den Überblick bei Janion/ Żmigrodzka (2001), S. 57 ff., Kowalczykowa (2008), S. 12 ff. 34 Alfred Gall polnischen Gesellschaft auf den Verlust des eigenen Staats, der darüber hinaus aufgeteilt und der Herrschaft fremder Mächte unterworfen wird, sind folgende Verhaltensmuster zu nennen, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die polnische Kultur prägen. Zum einen dominieren, etwa in der sogenannten patriotischen Elegie des ausgehenden 18. Jhs. pessimistische Lageeinschätzungen, die auch so weit gehen, mit dem Verlust des Staates auch die Existenz der polnischen Sprache und Kultur gefährdet zu sehen. Franciszek Karpiński (1741-1825) betrachtet das Ende der polnischen Eigenstaatlichkeit auch als Ende der polnischen Literatur. In der Elegie „Klagen eines Sarmaten am Grabe Zygmunt Augusts“ legt das Dichter-Ich am Grab des letzten Jagiellonenkönigs die Laute nieder und manifestiert damit, dass mit dem Verlust des polnischen Staates auch die Literatur ihre legitimierende und Halt gebende Stütze verloren hat. 3 Zum andern wird in vielen Texten die Frage nach dem Sinn des Ereignisses aufgeworfen und in biblischer Rhetorik und theologisch ausgerichteter Reflexion mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit des Weltbaus in Verbindung gebracht. Diese Form der Theodizee, wie sie etwa bei Jan Paweł Woronicz (1757-1829) im „Das Heiligtum der Sybille“ (entst. 1801) oder der „Hymne an Gott“ (1805) als Rechtfertigung Gottes angesichts des Geschichtsverlaufs konzipiert ist, versucht die traumatische Erfahrung des Wegfalls eines polnischen Staats als Ausdruck eines göttlichen Strafgerichts zu deuten und stellt den verzweifelten Versuch dar, an der Vorstellung eines metaphysisch geordneten geschichtlichen Geschehens festzuhalten, auch wenn der realgeschichtliche Ereignisablauf eher auf eine von transzendenten Mächten losgelöste und sich rein immanent entfaltenden historische Realität zu verweisen scheint, in der auch nur immanente Kriterien und Kraftzusammenhänge wirken und keine höhere Macht, in welcher Weise auch immer, anwesend zu sein scheint. Die Ungeheuerlichkeit muss einen Grund haben, sie kann nicht einfach das Ergebnis reiner Machtpolitik oder anderswie immanent bestimmter Kräfte sein, sondern muss auf eine bestimmte Sinnhaftigkeit zurückgehen. In diesem Kontext kehrt auch die Identifikation Polens etwa 3 Zur Gattung der patriotischen Elegie, die der Trauer über den Verlust des polnischen Staats und die Aufteilung unter fremde Mächte gewidmet ist: Witkowska/ Przybylski (2002), S. 48 ff., Nalepa (2003), S. 25 ff., Karpińskis Elegie über den Verlust des eigenen Staates und die damit verbundene Gefahr eines Endes der polnischen Kultur kontrastiert mit einem vom gleichen Autor verfassten panegyrischen Lobgedicht auf Nikolaj Repnin, den von Katharina II nach Warschau entsandten bevollmächtigten Minister, dessen Rolle bei der Zerschlagung der polnischen Eigenstaatlichkeit schon von den Zeitgenossen hervorgehoben wurde, vgl. dazu und zur in der polnischen Öffentlichkeit um sich greifenden Kritik an Franciszek Karpiński: Żbikowski (2007), S. 205-216. „Finis Poloniae“ 35 mit Troja oder den in der Diaspora lebenden Juden wieder. 4 In beiden Fällen wird dadurch die Sonderstellung Polens durch Analogiebildung relativiert und zugleich eine Zukunftsperspektive entworfen, die über den tristen status quo hinausweist - für Woronicz und andere ist mit dieser Vergleichbarkeit der polnischen Erfahrung ein Ausblick auf eine Verwindung des Traumas, keinen eigenen Staat mehr zu besitzen, geben - der Untergang Trojas wird zur Voraussetzung der Entstehung des Imperium Romanum umgedeutet; in allegorischer Auslegung lässt sich so auch für das untergegangene Polen eine glorreiche Zukunft imaginieren: „Troja na to upadła, aby Rzym zrodziła“. 5 Mit dem teleologischen Geschichtsdenken wird an der Sinnhaftigkeit der Geschichte festgehalten und der polnischen Gesellschaft ein positives Identifikationsangebot gemacht. Neben elegischer Selbstbesinnung und historiosohischer Reflexion, die sich wechselseitig durchdringen können, wird durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch, in wechselnden politischen Konstellationen, der Versuch unternommen, an der Seite einzelner europäischer Großmächte an der Umwälzung des status quo mitzuwirken, um so die Wiederherstellung der polnischen Eigenstaatlichkeit zu erreichen. Vor allem Napoleon verkörpert für viele Polen die Hoffnung auf Wiedergewinnung des eigenen Staats. Er vermag breite Resonanz und Unterstützung zu gewinnen, so dass sie sich ihm viele Polen bereitwillig anschließen, auch wenn sie, realistisch betrachtet, von Napoleon lediglich für seine Zwecke ausgenutzt wurden. Aus literaturhistorischer Sicht ist in diesem Zusammenhang insbesondere an Józef Wybicki zu denken, der sich den auf der Seite Napoleons kämpfenden polnischen Legionen anschloss und auf den der am Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Text „Mazurek Dąbrowskiego“ zurückgeht, der später (1927) zur polnischen Nationalhymne werden sollte. Die Anfangszeilen bezeugen den Willen, Polen durch politisch-militärisches Engagement zu befreien und zu vereinen: „Noch ist Polen nicht gestorben, / solange wir leben. / Was uns fremde Übermacht entriss / werden wir uns mit dem Schwert zurückerobern“. 6 4 Zu diesen Analogien, die Teil der historiosophischen Versuche einer Bewältigung des Traumas der verlorenen Eigenstaatlichkeit darstellen: Janion/ Żmigrodzka (2001), S. 12 ff., 31 ff., 68 ff., 612 ff. 5 Woronicz (1828), S. 97 (dt.: „Troja fiel / um Rom zu gebären“). Bekanntlich wird der aus den Trümmern Trojas fliehende Aeneas Stammvater der Römer und gelingt es den Juden, auch ohne eigenen Staat durch Jahrhunderte hindurch ihre religiös-kulturelle Identität, bei allen Transformationen und Wandlungen, in steter Entwicklung zu behalten; 6 Zitiert und übersetzt nach: Witkowska/ Przybylski (2002), S. 60: „Jeszcze Polska nie zginęła / Kiedy my żyjemy. / Co nam obca przemoc wzięła / Szablą odbierzemy.“ (deutsche Übersetzung hier und nachfolgend, wenn keine weiteren Angaben stehen, vom Vf.). Zur Entstehungsgeschichte und den beiden unterschiedlichen Varianten der ersten Strophe s.: Witkowska/ Przybylski (2002), S. 59 f., Kowalczykowa (2008), S. 14 f. 36 Alfred Gall Das Streben nach Unabhängigkeit und Einheit zeigt sich auch an den einzelnen Aufständen, die gegen die Teilungsmächte, v.a. aber im russischen Teilungsgebiet ausbrachen (Novemberaufstand 1830/ 31, Januaraufstand 1863/ 64). Daneben treten Bemühungen in Erscheinung, die polnische kulturelle Identität gegenüber dem Druck der Teilungsmächte zu behaupten und weiter zu entwickeln, wobei diese auf Kultur-, Sprach- und Bildungspolitik ausgerichteten Strömungen in einem zwischen Affirmation und Kritik pendelnden Spannungsverhältnis zu den Aufstandsversuchen stehen - Aufstände, vor allem deren Scheitern sowie die anschließenden Repressionen der Teilungsmächte, sind, v.a. seit den 1860er Jahren im Kontext der organischen Arbeit (praca organiczna), weit mehr eine Gefahr für die polnische Nation als ein Erfolg versprechendes Mittel zur Durchsetzung eigener legitimer Ansprüche. Daneben wäre auf die Tatsache hinzuweisen, dass für viele Polinnen und Polen mit der endgültigen Zerschlagung des polnischen Staats eine von 1772 her (der ersten Teilung) nachwirkende Anspannung und Verunsicherung ein - wenn auch katastrophales - Ende gefunden hat. Das Ende der Eigenstaatlichkeit erscheint als Ende der Geschichte Polens, ja als Tod Polens, das durch ein perfides Verbrechen der Teilungsmächte unwiederbringlich aus der Geschichte der Menschheit getilgt sei. 7 Die pessimistische Grundstimmung prägt die in nationalpatriotischer Erschütterung verfassten thanatopoetischen Texte um die Jahrhundertwende (1800), in denen freilich auch die individuell-existenziellen Dimensionen des politischen Geschehens freigelegt werden, etwa in Czartoryskis Klagelied Der polnische Sänger (Bard polski) aus dem Jahr 1795: Cóż jestem - rzecze - i co ze mnie będzie? Wyzuty z stanu, z Ojczyzny, z istności, Obcy dla świata, w nikczemników rzędzie Bez celu zmierzłe wlec życie skazany, Pożyje w nudach i zginę nieznany. 8 Was bin ich - sprach er - und was wird aus mir werden? Des gesellschaftlichen Rangs, des Vaterlands, des eigenen Wesens beraubt, Ein Fremder für die Welt, in der Reihe der Lumpen Verurteilt, ohne Ziel ein Abscheu erregendes Leben zu fristen, Ich werde in Langeweile leben und unbekannt sterben. Aus diesem Überblick ergibt sich, dass der Verlust des eigenen Staats für die polnische Kultur nicht ein isoliertes, einheitlich bewertetes Ereignis, sondern einen spannungsreichen Ereigniszusammenhang darstellt, der für eine ganze Epoche - von 1795 bis 1918 - paradigmatische Bedeutung hat. Es wird 7 Żbikowski (2007), S. 79 ff., Nalepa (2003), S. 246 f. 8 Czartoryski (1912), S. 28 (dt. v. Vf.), dazu: Żbikowski (2007), S. 41 ff. „Finis Poloniae“ 37 nicht zuletzt die Literatur sein, die in dieser Zeit die historische Erfahrung des Verlusts der Eigenstaatlichkeit mit all ihren Konsequenzen thematisieren und reflektieren wird, wobei neben einer selbstkritischen Revision der polnischen Geschichte weit ausgreifende utopisch-heilsgeschichtliche Zukunftsentwürfe zu beobachten sind. In dem skizzierten Spannungsfeld, das die polnische Kultur im Zeitalter der Staatenlosigkeit und Fremdherrschaft prägt, ist auch das polnische romantische Drama situiert. An drei Dramen soll gezeigt werden, wie die Zeit der Teilungen als Erfahrung geschichtlicher Negativität umgedeutet wird zu einer, trotz allem, positive Sinndimensionen enthaltenden Widerfahrnis: Aus dem Untergang wird in der dramatischen Gestaltung ein Übergang. 9 Die Konstruktion einer die Negativität der realen Geschichtserfahrung überschreitenden Positivität wird am Beispiel von Adam Mickiewiczs (1798- 1855) romantischen Drama Dziady (und zwar dem dritten Teil) sowie Juliusz Słowackis (1809-1849) Dramen Kordian (Kordian) und Ksiądz Marek (Priester Marek) untersucht. Eine Besonderheit dieser Dramen ist darin zu sehen, dass sie alle im Exil ohne Gedanken an eine unmittelbar erfolgende Inszenierung entstanden, was auch mit einer Freisetzung der dramatischen Imagination von zeitgenössischen Vorstellungen über Inszenierbarkeit verbunden ist. 10 Die in den Dramentexten sehr unterschiedlich aufgenommene politische Problematik sorgt dafür, dass die Stücke v.a. im russischen Teilungsgebiet verboten sind, lediglich in Galizien und dann vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden die hier besprochenen Dramen dann teilweise aufgeführt werden. Mickiewiczs Dziady werden immerhin eine Aufführung noch zu Lebzeiten des Autors, zwar in dessen Abwesenheit, erfahren, während die beiden Dramen Słowackis erst 1899 (Kordian) bzw. 1901 (Ksiądz Marek) uraufgeführt werden. Aber der schwierigen Kontaktaufnahme mit einer Öffentlichkeit zum Trotz - Exil und Zensur erschweren, ja verunmöglichen, die Begegnung mit dem polnischen Theaterpublikum - werden die Dramen zu Kernelementen des polnischen literarischen Kanons. 9 Wie im Beitrag von Charlotte Krauss („1830: Das drame romantique zwischen ästhetischem und politischem Revolutionsanspruch“) verbinden sich so politische und ästhetische Dimensionen zu einem Funktionszusammenhang. 10 Zur zeitgenössischen Situation des Theaters und zur Problematik der durch die Teilungsmächte weitgehend kontrollierten polnischen Theaterkultur, in deren Kontext politisch brisante Stücke der Zensur zum Opfer fielen: Kowalczykowa (2008), S. 108 ff., 133 ff., die aufführungstechnischen, spezifisch dramatischen Voraussetzungen des zeitgenössischen Theaters erörtert, in Bezug auf Słowacki, unter Berücksichtigung der besonderen Situation Polens, das unter den Bedingungen der Fremdherrschaft kein autonomes Theaterleben kennt: Chacko (2006), S. 34 ff., 56 ff. 38 Alfred Gall Adam Mickiewicz: Dziady (Die Ahnenfeier) Mit den Dziady (Ahnenfeier, teils auch als Totenfeier übersetzt) 11 ist dasjenige Drama Mickiewiczs angesprochen, das in der Wirkungsgeschichte zum polnischen Nationaldrama schlechthin wird und weit in das 20. Jh. hinein über seine ästhetische Komplexität hinaus als politisch brisantes Stück wahrgenommen wird. 12 Das Drama gilt als eines der Hauptwerke der Romantik. Bezeichnenderweise gibt Mickiewicz im Untertitel für die Gattung des Stückes den Begriff Poema (ein Poem) an und verweist so auf die romantische Hybridisierung der Gattung, die sich in diesem Text u.a. auch darin zeigt, dass dem dritten Teil des Dramas ein umfangreicher Exkurs beigefügt ist, der als eigenständiger versepischer Passus die Kohärenz des Dramas aufsprengt. Das Drama Dziady ist ein unabgeschlossenes Fragment, das aus mehreren, recht lose zusammenhängenden Teilen besteht: Der II und der IV Teil entstehen 1823 in Wilna, daher werden diese beiden Teile auch als Wilnaer Ahnenfeier (Dziady wileńskie) bezeichnet. Der I Teil entsteht ebenfalls in Wilna, wird freilich nicht abgeschlossen und bleibt ein Fragment, das erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht wird (1860). Der dritte Teil (Dziady, cz. III) entstand 1832, nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes, in Dresden, weshalb man ihn auch Dresdener Ahnenfeier (Dziady drezdeńskie) nennt. Der Text entsteht also in der Emigration. Mickiewicz selbst ließ sich, nachdem er 1829 Russland verlassen hatte, in Westeuropa nieder und war, nachdem mit dem Ende des Novemberaufstands einige Tausend Polen als Emigranten in den Westen zogen, bald die literarische Führungsgestalt der Großen Emigration und hat mit seinem Wirken in Frankreich, etwa als Professor am Collège de France, den Versuch unternommen, in Wort und Praxis für die Polen in der Emigration sowie in den Teilungsgebieten eine verbindliche Perspektive auf die erlittene Geschichte zu entwerfen. Das Drama gehört in diesen Kontext und ist als eine der einflussreichsten Ausformulierungen einer messianistischen Deutung der Geschichte für die polnische Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung gewesen. Das Drama ist ein offener, heterogener Text, der verschiedene Gattungstraditionen umfasst. Das Drama stellt einen weit ausgreifenden Versuch dar, ein ästhetisches sowie politisch-kulturelles Paradigma zu entwickeln und durchzusetzen, ohne dass ein vorgängig garantierter Sinnzusammenhang 11 Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: Mickiewicz (1991). 12 1968 wurde das Stück, das am Warschauer Nationaltheater unter der Regie von Kazimierz Dejmek aufgeführt wurde, auf Druck der staatlichen Behörden wegen angeblich antisowjetischer sowie antirussischer Tendenzen vom Spielplan genommen, was der unmittelbare Anlass zu Studentenprotesten wurde, die den März-Unruhen von 1968 vorausgingen; dazu: Krasiński (2005) und Kowalczykowa (2008), S. 129. „Finis Poloniae“ 39 dem Text vorgeordnet wäre - es ist das Drama selbst, das in seinem Vollzug auch den Aufriss einer neuen Welt- und Geschichtsordnung anstrebt und aus sich heraus die entsprechenden Bedingungen der Möglichkeit dieses Sinnentwurfs zu setzen bemüht ist. In dieser selbstreflexiven Setzung zeigt sich, dass Mickiewicz in seiner literarischen Praxis den geschichtlich gegebenen Erfahrungskontext der Staatenlosigkeit auch als Wegfall transzendental vorauszusetzender Bedingungsverhältnisse, in denen die Literatur als fraglos gegebene Größe eingebettet wäre, begreift. 13 Das Drama selbst entzieht sich dem Anspruch der mimetischen Darstellung von Handlung, auch die Protagonisten erscheinen nicht als realistische Verkörperungen von Personen. In postaristotelischer Ausrichtung und deutlicher Anknüpfung an mittelalterliche sowie barocke Formen des Theaters 14 , aber auch in einer gewissen Parallele zu Goethes Faust-Dichtung, wird die Bühne zum Schauplatz, auf dem irdische, himmlische und teuflische Kräfte aufeinander treffen und auf dem der Protagonist, dessen Identität verschiedenen Metamorphosen ausgesetzt ist, sich in stets wechselnden Kontexten bewegt und zu behaupten versucht. Die metaphysisch-übersinnliche Welt der Geister und Dämonen, der Toten und Wiedergänger, ist integraler Bestandteil des Dramas. Mickiewicz selbst betont in einem Vortrag, den er am Collège de France in den 1840er Jahren hält, dass das slawische Drama 15 u.a. dadurch gekennzeichnet sei, dass in ihm die irdische und die jenseitige Welt aufs Engste miteinander verflochten seien, ja sich gegenseitig bedingen und prägen würden. Dies läuft natürlich jeder Festlegung auf eine mimetischrealistische Darstellung zuwider. Gerade für die polnische Dichtung sei, so Mickiewicz im Kommentar zur französischen Ausgabe der Ahnenfeier (die Übersetzung erschien 1834), die Überzeugung, dass die sichtbare und die unsichtbare Welt, das Diesseits und das Jenseits ineinander verflochten seien, von elementarer Bedeutung: „Wiara we wpływ świata niewidzialnego, 13 Zur Freisetzung einer Dramatik, die fragmenthaft bleibt, dem klassizistischen Ideal innerer Harmonie und Geschlossenheit abschwört und die Vernetzung auch disparater Elemente (vgl. Sprache, Stil) sowie Dimensionen (reale Geschichte und Metaphysik) anstrebt vgl. am Beispiel von Mickiewicz: Kowalczykowa (2008), S. 108-112. Zum Zerfall transzendentaler Voraussetzungsverhältnisse und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit einer neuen Selbstsetzung der literarischen Praxis insbesondere in der Dramatik, wie sie sich in den Dziady bei Mickiewicz zeigt, erörtert im Kontext der Suche nach einer neuen Verankerung von sowohl individueller als auch gesellschaftlicher Identität: Kuziak (2009), S. 60-69. 14 Zur Tradition der Moralitäten und Mysterienspiele; diesen literaturgeschichtlichen Verweiszusammenhang einer nicht-aristotelischen Dramatik untersucht: Jagodzińska (2006), S. 43 ff., 46 ff., 75 ff. (speziell zu den Dziady, Teil III). 15 Mickiewicz (1955), t. 11, S. 116-126, Mickiewicz bezieht sich auf Zygmunt Krasińskis Nie-Boska komedia (Die ungöttliche Komödie, 1835), Aleksandr S. Puškins Boris Godunov (Boris Godunov, 1825) sowie Sima Milutinović Sarajlijas Tragedija Obilić (Die Tragödie Obilić, 1837); vgl. dazu auch: Szturc (1999), S. 21. 40 Alfred Gall niematerialnego, na sferę myśli i działań jest ideą macierzystą poematu polskiego“ („Der Glaube an den Einfluss der unsichtbare, immateriellen Welt auf die Sphäre des Denkens und Handelns ist der Nährboden der polnischen Dichtung“). 16 Für Mickiewiczs Verständnis der Gattung entscheidend ist die pragmatische Funktion des Dramas, das den Übergang der Dichtkunst zur Tat markiert, also die Öffentlichkeit direkt mobilisiere: „La poésie est mise en mouvement“. 17 Das Drama Dziady realisiert Mickiewiczs Überlegungen zur Präsenz einer transzendenten Dimension um, indem es zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, der Welt der Ahnen, vermittelt und zwar in einer offenen Struktur, in der sich die Identität des Hauptprotagonisten mehrmals wandelt. Zu erkennen ist dies vor allem im Teil II, wo das auf heidnische Ursprünge zurückgehende Ritual der Ahnenfeier inszeniert wird. 18 Die versammelte Gemeinde, die sich im Ritual der Ahnenfeier über moralische Werte verständigt und zugleich ihren Dienst an den Verstorbenen leistet, findet zu ihrer Identität im Akt der gemeinsamen Erinnerung. In Teil II der „Ahnenfeier“ beruht Vergesellschaftung auf moralischen Grundlagen, die in einer gemeinschaftlich praktizierten Erinnerungskultur vergegenwärtigt werden. Die Gegenwart verweist stets auf die Vergangenheit zurück, sie erhält ihre Substanz von ihr. Am Ende dieses Teils erscheint ein Untoter, ein Geist, der sich aber nicht durch das Ritual beeinflussen lässt und nur auf sein verwundetes Herz zeigt. 19 Damit wird die Beziehung zwischen Lebenden und Toten in Frage gestellt, ein Riss durchtrennt die aufeinander bezogenen Dimensionen der Gegenwart und der Welt der Toten. Der anschließende vierte Teil bringt den Protagonisten Gustaw ins Spiel, der in der absolut gesetzten Liebe die Erfüllung seines Lebens sucht, jedoch an unglücklicher Liebe zerbricht und ganz in seinem Schmerz aufgeht. Als byronistischer Held, der sich von der Gesellschaft abwendet und sich im 16 Szturc (1999), S. 211 ff. 17 Mickiewicz (1955), t. 11, S. 117, vgl. ebd.: „Przeznaczeniem tej sztuki jest pobudzać, a raczej, jeśli wolno tak się wyrazić, zniewalać do działania duchy opieszałe.“ (dt.: „Es ist die Bestimmung dieses Theaterstücks, anzuspornen, wenn man dass so sagen darf, träge Geister zum Handeln zu zwingen.“). 18 Es werden in einem heidnischen Ritual die Geister der Toten beschworen, die auch erscheinen, und den im Ritual versammelten Lebenden Botschaften, Einsichten und moralischen Weisungen darbringen. Der Kontakt mit den Toten ist moralische Belehrung, zugleich stehen die Lebenden den Toten, die als noch unerlöste Seelen weiterhin auf Erden herumirren, bei, so dass die unruhigen Geister auf der Suche nach Erlösung Halt und Beistand bei den Lebenden finden, deren Verpflichtung gegenüber den Toten darin besteht, zu deren Rettung beizutragen. Zu dieser Verbindung von liturgischem Ritual und Literatur in den Dziady vgl.: Jagodzińska (2006), S. 75 ff., Kuziak (2009), S. 188 ff. 19 Mickiewicz (1991), S. 80-89. „Finis Poloniae“ 41 Scheitern des eigenen Glücksentwurfs als „existenzieller Außenseiter“ 20 begreift, findet Gustaw keine ihm entsprechende Position in der Gesellschaft. Von tiefer Verzweiflung überwältigt, begeht er Selbstmord, dabei durchaus, nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen Kluft, die ihn von seiner Geliebten Maryla trennt, dem Muster Werthers folgend. Die Sujetkonstellation eines an der Liebe zerbrechenden Protagonisten wird in der weiteren Entfaltung des Dramas überschritten, wenn im dritten Teil, der hier fokussiert werden soll, Gustaw - der in Teil II Selbstmord verübte - unter Missachtung einer kausallogisch nachvollziehbaren Verkettung der einzelnen Teile des Dramas wiederkehrt, wobei er in Teil III eine entscheidende Veränderung erfährt: Aus dem an seinem Liebesunglück zerbrechenden Gustaw wird der sich gegen die Welt und Gott auflehnende Konrad, der sich über die individuell verankerte Liebesbeziehung hinaus der ganzen Nation hinzuzuwenden gedenkt. Der III Teil spielt im Wilnaer Basilianerkloster, wo in einem zum Kerker umfunktionierten Keller polnische Studenten wegen angeblicher antizaristischer Machenschaften inhaftiert sind und auf ihre Verurteilung warten. 21 Die Überschreitung der absolut gesetzten persönlichen Liebesbeziehung erfolgt bei dem zu Konrad gewandelten Gustaw als Ausdehnung der Liebe auf die ganze Nation. Der aus der Metamorphose Gustaws entstandene Konrad formuliert in der Großen Improvisation (Wielka Improwizacja) in einer Art Selbstapotheose den mit der romantischen Dichtung verknüpften Anspruch, mit den eigenen Worten eine Nation, ja eine ganze Welt neu zu schaffen, die an die Stelle der delegitimierten göttlichen Schöpfung treten solle. 22 Konrad verwirft die bestehende Wirklichkeit, und d.h. auch die reale Geschichte, weil sie lediglich Offenbarung und Ausdruck diabolischer Kräfte sei. Gott erscheint in der Großen Improvisation als frivoler Betrachter menschlichen Leids, das sich vor allem in der ungerechtfertigten und empörenden Unterdrückung der Polen zeige. In der großen Improvisation wird ein Modell von Autorschaft und Dichtung inszeniert, das auf die Überwindung der manifesten Wirklichkeit und Neukonstitution der Welt aus dem Geist der dichterischen Imagination hinausläuft. Das in der Verhaftung und Misshandlung der gefangenen jungen Polen konkretisierte Faktum der Gewalt, und indirekt, ohne explizite Nennung, auch die Situation der Teilungen sowie Staatenlosigkeit Polens und ineins damit das Scheitern des Novemberaufstands von 1830/ 31 werden im ekstatischen Monolog Konrads zum Indiz der Gottverlassenheit der Welt, an deren Stelle die durch das romantische Dichter-Ich neu zu schaffende Weltordnung zu setzen sei, in deren Rahmen dann auch das geknechtete Polen den ihm gebührenden Platz 20 Zur Unterscheidung des existentiellen, kraft seiner Eigenart zum isolierten Fremdkörper in der Gesellschaft gestempelten Außenseiters vom intentionalen Außenseiter, der sich bewusst von der Gesellschaft zu unterscheiden bemüht: Mayer (1981), S. 13 f. 21 Mickiewicz (1991), S. 186 ff. 22 Mickiewicz (1991), S. 246-265. 42 Alfred Gall unter den freien Nationen wiedergewinnen wird. Für den als Prophet der Nation sprechenden Konrad ist es die zur allmächtigen Zentralinstanz der Stiftung von Welt emporgehobene Dichtung, der die prometheische Herausforderung, eine neue, gerechte und autonom von Menschenhand gesetzte Welt zu stiften überantwortet ist. 23 Dichtung wird damit zum Weltentwurf, in dessen Rahmen Realität wieder fassbar wird. 24 Die Große Improvisation, die radikale Rebellion gegen Gott, ist die Artikulation einer fast gnostisch anmutenden Weltablehnung doch auch gleichzeitig Ausdruck einer grenzenlosen Selbstüberhöhung des romantischen Dichters, der angesichts der Tristesse der realen Geschichte die Neusetzung der Welt heraufbeschwört, um sich und die polnische Nation aus dem Verhängnis der Geschichte zu erlösen. 25 Sinnstiftung angesichts der traumatischen Katastrophen in der Realgeschichte erfolgt bei Konrad als Versuch der Selbsterlösung, die durch den Dichterpropheten zugleich der Nation insgesamt zuteil werden soll: Boga, natury godne takie pienie! Pieśń to wielka, pieśń-tworzenie. Taka pieśń jest siła, dzielność, Taka pieśń jest nieśmiertelność! Ja czuję nieśmiertelność, nieśmiertelność tworzę, Cóż Ty większego mogłeś zrobić - Boże? Patrz, jak te myśli dobywam sam z siebie, Wcielam w słowa, one lecą [...] Ja kocham cały naród! objąłem w ramiona Wszystkie przeszłe i przyszłe jego pokolenia, Przycisnąłem tu do łona […] Chcę go dźwignąć, uszczęśliwić, Chcę nim cały świat zadziwić [...] Tę władzę, którą mam nad przyrodzeniem, 23 Dalman (2008), S. 106 ff., 151 ff. 24 Es geht dann auch in Konrads Monolog nicht um die Darstellung einer wie auch immer definierten Wirklichkeit, sondern das Eröffnen einer Welt, in deren Rahmen sich dann überhaupt wieder der Darstellung darbietende Wirklichkeit zeigt. Auch wird erst durch die beabsichtigte Neueröffnung einer Welt eine Wirklichkeit erkennbar, deren Darstellung dann auch erstrebenswert wäre, die real gegebene Welt, die von Konrad als schlechte Schöpfung verspottete Welt Gottes, der nur ein teuflischer Demiurg zu sein scheint, gilt es hingegen zu überwinden; vgl. dazu: Kuziak (2009), S. 291 f. Die bei Konrad deutlich erkennbaren Affinitäten zu gnostischen Traditionszusammenhängen werden von Dalman - Dalman (2008), S. 175 ff. -, die ihre Überlegungen zur Theologie in den Dziady mehrheitlich in einem katholischen, zum Teil mystischen (Meister Eckhart) Kontext situiert und v.a. die biblischen Dimensionen untersucht, nicht eigens thematisiert. Auch Jagodzińska - Jagodzińska (2006), S. 88 ff., 101 ff. - fokussiert in der Auseinandersetzung mit den theologischen Implikationen der Großen Improvisation vor allem liturgische Aspekte. 25 Jagodzińska (2006), S. 175 ff. „Finis Poloniae“ 43 Chcę wywrzeć na ludzkie dusze, Jak ptaki i jak gwiazdy rządzę mym skinieniem, Tak bliźnich rozrządzać muszę. [...] Ja bym mój naród jak pieśń żywą stworzył, I większe niżli Ty zrobiłbym dziwo, Zanuciłbym pieśń szczęśliwą! Daj mi rząd dusz! - Gottes, der Natur, ist würdig so zu singen! Solch ein Lied ist Kraft und Wirksamkeit, Solch ein Lied - es ist Unsterblichkeit! Ja, Unsterbliches empfinden und Unsterbliches gestalten, Konntest du, mein Gott, denn Grösseres entfalten? Schau, wie ich aus mir heraus empfange allen Sinn, Ihn im Wort gestalte, wie er fliegt […] Was ich liebe ist ein Volk! Ich halt es fest umfangen, Halte es an meine Brust, Kommende Geschlechter und Geschlechter, die vergangen. […] Will es beglücken und bewegen, Will mit ihm die ganze Welt erregen. […] Diese Macht, die mir gegeben, die Natur zu zähmen, Will ich üben über Menschenhirne, Muss die Nächsten in die Herrschaft nehmen, Nur mit einem Winke lenk ich Vögel und Gestirne. […] Schaff ich mir ein Volk und lass es wie ein Lied erstehn. Wollte gröss’res Wunder noch als du vollbringen, Finge an, das Lied des Glücks zu singen. Gib mir Seelen! - 26 Die Szene endet freilich damit, dass der überspannte Konrad ohnmächtig niedersinkt. Die Auflehnung gegen Gott führt nicht zur beabsichtigten Etablierung einer neuen Weltordnung, der Ruf Konrads nach einer Neuschaffung der Welt verpufft wirkungslos. Von herbeieilenden Engeln wird der Held - durchaus vergleichbar mit Goethes Faust - von der Bühne getragen. Die in der Großen Improvisation umrissene Konzeption einer durch Selbstermächtigung zu schaffenden neuen Weltordnung und damit einhergehend die Idee der durch Dichterwort erfolgenden Selbsterlösung aus dem Unheil der Geschichte erweisen sich als nicht tragbar. In scharfem Kontrast zu Konrads prometheischer Selbstüberhöhung steht im III Teil der Dziady eine nicht minder weit ausgreifende Vision, die aber nicht die Überschreitung der gegebenen Welt anstrebt, sondern die Erkenntnis einer auch im realen, für Polen so verhängnisvollen Geschichtsverlauf anwesenden göttlichen Instanz, deren Wirken selbst in den historischen 26 Mickiewicz (1991), S. 248-257 (deutsche Übersetzung der Stellen aus den Dziady hier und nachfolgend von Walter Schamschula). 44 Alfred Gall Katastrophen, die Polen heimsuchen, eine heilsgeschichtliche Dimension aufspannt, in deren Horizont auch für Polen Erlösung und damit Freiheit als Ziel sowie Sinn der Geschichte erkennbar werden. In dieser Vision (widzenie), die im Drama dem Priester Piotr zuteil wird, zeichnen sich die elementaren Grundlagen des polnischen Messianismus, wie er sich in den 1830er Jahren zu entwickeln beginnt, in aller Deutlichkeit ab. Dem Priesters Piotr erscheint die messianische Teleologie der Geschichte in einer Epiphanie, die den Verhängniszusammenhang der Geschichte durchbricht und eine neue Heilsperspektive offenbart. 27 In der Vision des Priesters Piotr zeichnet sich eine den Geschichtsverlauf bei allem Leid als sinnvolles Geschehen annehmende Grundhaltung ab, die christliches Ideengut, mit anderen Worten ein christlich-religiöses Beschreibungsvokabular 28 bzw. ein entsprechendes Beschreibungssystem 29 aktualisiert, und damit über den Realkontext der Geschichte einen utopischen Erwartungssowie Erlösungshorizont aufspannt und damit eine neue Welt in ihren auf die utopische Zukunft umrissenen Profil eröffnet. Zugleich wird mit dieser Aktualisierung eines christlich-eschatologischen Beschreibungsvokabulars auch ein Maßstab zur Beurteilung sowie Bewertung der realen Geschichte geschaffen, so dass die faktisch gegebene Welt nicht wie in der Großen Improvisation Konrads überwunden und durch eine neue Welt ersetzt, sondern nur angemessen ausgelegt bzw. erkannt werden muss. Der in hypertropher Selbstüberhöhung scheiternde Dichter - Konrad - wird abgelöst durch den demütigen Piotr und dessen Bewusstsein, dass die aus den Fugen geratene Welt trotz allem eine heilsgeschichtliche Sinndimension enthält. Die zentrale Denkfigur, die in der ekstatischen Entrückung Piotrs den Kern der utopischen Vision ausmacht, ist die Vorstellung, dass Polen eine in der Heilsgeschichte analoge Bedeutung wie der ans Kreuz geschlagene Jesus Christus hat: Der Untergang Polens erscheint als Opfergang für die ganze Menschheit, die einer wahrhaften Verwirklichung des Christentums auf dem Feld der Politik und Geschichte harrt und diese Verwirklichung in Zukunft auch durch die Polen, die das in Analogie zu Christus in der Geschichte dargebrachte Opferlamm sind, erfahren wird. In der eschatologischen Epiphanie Piotrs wird Polen nämlich - so wie einst Jesus Christus - von den Toten auferstehen und in Herrlichkeit wiederkommen, wodurch ein neues Zeitalter einer erlösten Menschheit eingeläutet werden wird. 30 27 Zum Priester Piotr, einem Ordensgeistlichen, und dessen charakteristischem Profil der Christus-Nachfolge, vgl.: Dalman (2008), S. 229 ff. Zur Vision des Priesters Piotr als Epiphanie des göttlichen Geistes, der die Geschichte durchwirkt: Jagodzińska (2006), S. 130 ff. 28 Begriff nach: Rorty (1989), S. 5 ff. 29 Begriff nach: Goodman (1978), S. 2 ff. 30 Mickiewicz (1991), S. 296-303. „Finis Poloniae“ 45 Die in der Vision erscheinende kryptische Erlöserfigur - im Text mit zahlenmystischer Spekulation engimatisch als „44“ 31 bezeichnet - wird im Unterschied zu Jesus Christus Erlösung als gesamtgesellschaftliche, politische Erneuerung der Menschheit in einer sich durchsetzenden universalchristlichen Weltordnung mit sich bringen. Die Idee einer in und durch die Geschichte erfolgenden Erlösung ist freilich - wenn man die katholische Dogmatik berücksichtigt - Häresie, selbst wenn die Vision einem Geistlichen zuteil wird. Polen erscheint Piotr als Christus der Völker und erfüllt eine martyrologische Mission der Erlösung durch Leid und Niederlage. Die polnische Geschichte wird im Rückgriff auf biblische Semantik in Analogie zur Passionsgeschichte erzählt, so werden etwa die durch die russische Herrschaftsmacht erfolgende Inhaftierung und Verurteilung (unschuldiger) polnischer Studenten in den 1820er Jahren mit dem von Herodes angeordneten Kindermord in Bethlehem verglichen. 32 Die Konstruktion einer solchen Analogie steht für eine typologische Deutung der Realgeschichte 33 , deren Referenzrahmen in einer subjektiv gebrochenen, christlichen „Imaginationssemantik“ 34 zu sehen ist. Dieser Rahmen soll die historiosophisch-theologische Referenz erzeugen und beglaubigen, wobei dadurch zugleich der konfessionell gebundene Glaubenszusammenhang aufgesprengt und „entstellt“ (Bohrer) wird. An die Stelle der sakrosankten Überlieferung tritt die imaginierende Phantasie des romantischen Dichters - Mickiewicz - der die Vision entwirft und dem Priester Piotr die sich aus ihr ergebende metaphorisierte Christologie zur Beschreibung der Rolle Polens in den Mund legt 35 : KS. PIOTR (modli się leżąc krzyżem) Panie! czymże ja jestem przed Twoim obliczem? - 31 Mickiewicz (1991), S. 302. 32 Mickiewicz (1991), S. 296 ff., so bereits im Vorwort des Autors: Ebd., S. 186 ff. 33 Die typologisierende Betrachtung der Geschichte durch Analogiesetzung mit der biblischen Passionsgeschichte wird Mickiewicz auch in eigenem Namen in seinem messianistischen Traktat Księgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego (Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft, 1832) aufgreifen, dazu: Stefanowska (1962), bes. S. 80 ff. 34 Zum Begriff und dessen Herleitung aus dem romantisch-subjektiven Arrangement religiöser Offenbarungswahrheiten, die in die Verfügungsgewalt literarischer Imagination geraten: Bohrer: Die romantische Entstellung des Geistes, in: Bohrer (1998), S. 58-88. 35 Sakralisierung ist damit in paradoxer Wendung zugleich Säkularisierung im Sinne der Verfügbarkeit über das Absolute, im Sinne der zweckrational gebundenen Instrumentalisierung der christlichen Offenbarungswahrheit. Vgl. zum Kontext der romantischen Entstellung der orthodoxen theologischen Vorstellungswelt einschließlich ihres fundierenden Vokabulars: Bohrer: Die romantische Entstellung des Geistes, in: Bohrer (1998), S. 58-88. 46 Alfred Gall Prochem i niczem; Ale gdym Tobie moję nicość wyspowiadał, Ja, proch, będę z Panem gadał. WIDZENIE Tyran wstał - Herod! - Panie, cała Polska młoda Wydana w ręce Heroda. […] Ach, Panie, już widzę krzyż ach, jak długo, długo Musi go nosić - Panie, zlituj się nad sługą. […] Krzyż ma długie, na całą Europę ramiona, Z trzech wyschłych ludów, jak z trzech twardych drzew ukuty. - Już wleką; już mój Naród na tronie pokuty - Rzekł: "Pragnę" - Rakus octem, Borus żółcią poi, A matka Wolność u nóg zapłakana stoi. Patrz oto żołdak Moskal z kopiją przyskoczył I krew niewinną mego narodu wytoczył. […] Mój kochanek na niebie, sprzed oczu nie zginął. […] Trzy końce świata drzą, gdy on woła; […] To namiestnik wolności na ziemi widomy! On to na sławie zbuduje ogromy Swego kościoła! Nad ludy i nad króle podniesiony; Na trzech stoi koronach, a sam bez korony; A życie jego trud trudów, A tytuł jego lud ludów; Z matki obcej, krew jego dawne bohatery, A imię jego czterdzieści i cztery. Sława! sława! sława! Der Bruder Peter Herr! Was bin ich vor dem Bilde deines Angesichts? - Staub bin ich, ein Nichts; Hab ich erst bekannt mein eitles, nicht’ges Sinnen, Kann die Zwiesprach zwischen mir, dem Wurm, und dir beginnen. (Vision) Ein Tyrann stand auf - Herodes - Herr, ganz Polen junges Leben Ist Herodes’ Händen preisgegeben. […] Herr, ich sehe schon das Kreuz - wie lange, ach wie lange noch Muss es tragen - Herr, mit deinem Diener hab Erbarmen doch. […] Seine langen Arme lässt das Kreuz in alle Richtungen Europas streben, Aus drei ausgedörrten Völkern 36 wie aus hartem Holz geformt. Und schon Zerrt man ihn. Schon ist er auf dem Leidensthron - Und er spricht: „Mich dürstet“. Sieh, der Österreicher ihn mit Essig tränkt, 36 Gemeint sind die drei Teilungsmächte: Preußen, Österreich, Russland. „Finis Poloniae“ 47 Galle reicht der Preusse ihm. Die Mutter Freiheit steht am Kreuz in Gram versenkt. Da! Ein Moskowitersöldner sprengt mit seinem Spiess herbei, Bohrt ihn in den Leib, dass meines Volkes schuldlos Blut vergossen sei. […] Mein Geliebter ist im Himmel, meinem Auge nicht entschwunden. […] Und es müssen, wenn er ruft, Drei Enden dieser Welt erbeben; […] Er, der Walter aller Freiheit auf der Welt, ist sichtbar allen! Auf der Grösse baut er seine Ruhmeshallen, Eine Kirche dieser Welt zu geben! Hoch erhoben über jedem König, jedem Erdensohne; Auf drei Kronen steht er, selber ohne Krone: Uns sein Leben - Mühe über Müh’n, Volk der Völker - ja so nennt man ihn; Ein Geschlecht von Helden, fremde Mutter ist’s, die ihn gebiert, „Vierundvierzig“ ist der Name, den er führt. Ruhm und Ehre, Ruhm und Ehre! 37 Das in der Vision des Priesters Piotr aufscheinende Deutungsschema, im dem die polnische Geschichte seit dem Zeitraum der Teilungen bis zur Niederschlagung des Novemberaufstands als Martyrium und damit doch heilsgeschichtlich privilegierter Erfahrungszusammenhang motiviert ist, findet im Drama selbst freilich keine unmittelbare Beglaubigung, es bleibt bei der Konstruktion einer die christliche Offenbarung auf die polnische Situation übersetzenden Semantik. Bezeichnend ist, dass in einem umfangreichen versepischen Exkurs (dem Ustęp), der die Kohärenz des Dramas unterminiert und in dem eine radikale Kritik an der russischen Autokratie formuliert wird, eine weitere Metamorphose des romantischen Helden beobachtet werden kann. 38 Als Randfigur erscheint ein anonym bleibender Pilger, der, zwangsweise nach Russland verschlagen, deutlich erkennbar auf Konrad verweist, der aber nichts mehr mit der weit ausgreifenden Selbstermächtigung des romantischen Dichters zu tun hat und vielmehr ein Existenzmodell verkörpert. Der Pilger bezieht seine Identität von einem zukünftigen Ziel her, das seinem Leben Sinn und Richtung vorgibt. Er ist derjenige, der im Wissen um das in der Realgeschichte verborgene heilsgeschichtliche Geschehen über die reine materielle Faktizität des Gegebenen hinaus sieht und das Telos der messianischen Erlösung zum Leitstern seines Lebens macht. Jedoch bleibt es offen, ob er das Ziel auch tatsächlich erreicht. Der Text kann hier auch keine Auskunft geben, das die messianische Sinnperspektive, die der Realgeschichte abgewonnen wird, eine Beglaubigung auch nur in der Geschichte selbst, also außerhalb des Textes, finden kann. Das Drama Dziady 37 Mickiewicz (1991), S. 296-303. 38 Zu den Wandlungen des romantischen Helden und ihrer immanenten Zielgerichtetheit, die im Modell des Pilgers idealtypische Gestalt gewinnt: Przybylski (1993), S. 236-263. 48 Alfred Gall weist somit in seiner Wirkungsabsicht über sich selbst hinaus auf das Feld der Politik bzw. der Geschichte, auf dem erst der literarische Entwurf einer messianischen Sinnordnung seine Umsetzung und damit Bestätigung erfahren wird. In diesem Sinne ist auch der messianistiscche Traktat Die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft (1832) zu lesen, in dem Mickiewicz für die Polen, insbesondere für die Emigration, das identitätsstiftende Modell einer die Gegenwart transzendierenden Wanderschaft entwirft und damit verhindern möchte, dass die Polen sich als ziellos in der Welt verstreute, atomisierte Gesellschaft begreifen. Der anonyme Pilger aus dem III Teil der Dziady verkörpert diese Identität, die ihren Grund nicht in einer bereits gegebenen Substanz hat, sondern ihn vom eschatologischen Telos her bezieht. Mit diesem Sinnangebot umreisst das Drama eine messianische Neuvergesellschaftung der Polen, die sich auch ohne Staat als eine (imaginierte) Gemeinschaft begreifen sollen. Das fragmentarische Drama, das als work in progress angelegt ist, lässt sich als Versuch verstehen, eine „Welt zu bilden“ (Heidegger), und nicht einfach darzustellen. 39 Und dabei sind zunächst die fragwürdig gewordene Welt, deren unklarer ontologischer Status und zweifelhafte historische Legitimität, aber auch das innerlich zerrissene Individuum, das über keine transzendental gegebenen Voraussetzungen seiner Identität mehr verfügt, Ausgangspunkte der Neuinszenierung von Identitätsmodellen. Geschichte, Welt, Individuum - sie alle sind nicht mehr gegebene Größen, die im Drama in einer bestimmten Konstellation erscheinen - sie alle sind problematische Größen, die in ihrer Eigenart überhaupt erst neu bestimmt werden. Das Drama Dziady setzt mit den lose aneinander gereihten Entwürfen von Identitäten (die allesamt prekär sind) eine Reflexion über den Umgang mit den weggefallenen transzendentalen Voraussetzungen einer Einbettung des Individuums in Geschichte und Welt in Gang und beabsichtigt so die Restitution der Bedingungen der Möglichkeit eines in der Welt eingebetteten und geschichtlich handelnden Subjekts. 40 Darin erweist sich der fragmentarische und offene Aufbau des Dramas, das auf eine Repräsentation einer stringent umrissenen Handlung verzichtet, als autonome literarische Form der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Umbruch, der sich für die polnische Kultur aus den Teilungen sowie der sich anschliessenden Fremdherrschaft ergab. 39 Zum weltbildenden Menschen vgl.: Heidegger (2004), S. 261 ff., 498 ff. Zur Kunst als Weltbildung vgl.: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Heidegger (1995), S. 1-74, bes. S. 19 ff., 41 ff.; vgl. hierzu auch Figal: Kunst als Weltdarstellung, in: Ders. (1996), S. 45-63, bes. S. 55 zur Kunst als „Weltdarstellung, die als Welterschließung vollzogen wird“ und damit nicht als passive Reproduktion, sondern als „Weltherstellung“ zu begreifen ist. 40 Als Suche Mickiewiczs nach einer neuen Ganzheit erörtert diesen Zusammenhang: Kuziak (2009), S. 299 f. „Finis Poloniae“ 49 Die Fragmenthaftigkeit und Unabgeschlossenheit des Dramas bringt zum Ausdruck, dass keine kohärente dramatische Realität entworfen wird. Identitätsmodelle werden verhandelt und mit dem Seinsentwurf des Pilgers auf ein in die Zukunft weisendes Telos abgeschlossen. Als work in progress findet das Drama den Abschluss nicht in sich selbst, es verkörpert damit nicht das in sich ruhende ästhetische Gebilde. Das Telos liegt nicht im Text selbst und ist so nicht als rein ästhetisch fassbar, vielmehr verweist es auf die außerliterarische Welt, die durch den Impuls des Dramas verändert werden soll. Der Sinn und Zweck des Dramas liegt in der Selbstüberschreitung der Kunst, die zur wirklichkeitsverändernden Praxis werden soll, die eine neue Welt setzt, also eine auf ihre messianische Erfüllung hin ausgerichtete Weltordnung stiftet. Wenn Dichtung, wie Mickiewicz meint, „mise en mouvement“ sei, dann ist die im Sinne Hegels klassische Kunstform zerschlagen und eine romantische Kunstform gemeint, die ihre komplementäre Erfüllung in einer die Geschichte verändernden, die Welt neu setzenden Praxis findet. Dabei wird der Umbruch, wie er sich im Verlust der Eigenstaatlichkeit, den Teilungen und den scheiternden Aufstandsbemühungen zeigt, zum Ereigniszusammenhang, der in einer dezentrierten, fragmentarischen Dramatik aufgegriffen und mit Deutungshorizonten der Sinnstiftung versehen wird, und zwar so, dass in die Zukunft gerichtetes Handeln legitimiert und moralisch motiviert wird. Das Drama als romantisches Fragment ist dann tatsächlich „Reflexionsform defizienter Totalität“ 41 , aber nicht in der Weise, dass die Reflexion die Darstellung überwölbt und zum Abschluss bringt, sondern so, dass politisches Handeln aus dem messianischen Erlösungsbewusstsein dem Text zur Vollendung verhilft. Die Analogie mit Christus soll die Transzendierung der Faktizität des Gegebenen beglaubigen, die Polen zu einer historisch wirksamen Gesellschaft in Ermangelung eines Staats integrieren und zugleich die Überschreitung einer in ihrer ontologischen Substanz prekär gewordenen und historisch-politisch delegitimierten Realitätsordnung sicherstellen. Juliusz Słowacki: Kordian (Kordian) Noch mehr als für das immerhin 1848 in Krakau uraufgeführte romantische Drama Die Ahnenfeier von Mickiewicz gilt für die hier im Mittelpunkt stehenden beiden Dramen Słowackis, dass sie erst viel später den Weg auf die Bühne gefunden haben: Kordian wurde erst 1899 in Krakau uraufgeführt, 41 Vgl. zum Fragment als Schwundform von Totalität, die noch real werden muss und zur damit mitschwingenden Idee, dass das Fragment Reflexionsform defizienter Ganzheit sei: Hörisch (1976), S. 180-206; vgl. auch: Ostermann: Fragment/ Aphorismus, in: Romantik-Handbuch, S. 276-288. 50 Alfred Gall Ksiądz Marek 1901, ebenfalls in Krakau. Auch Słowacki verfasste seine Texte in der Emigration. Kordian entstand in Genf und wurde 1834 in Paris veröffentlicht. Das Drama ist als Gegentext zu Mickiewiczs Dziady angelegt und ist zugleich ein Portrait - wie man im Anschluss an Lermontov sagen könnte - des Helden unserer Zeit. Die für den Protagonisten Kordian kennzeichnende Stimmung ist Melancholie. Die innere Zerrissenheit ist, wie bei Hamlet, Ursache für die scheiternde Umsetzung von Vorhaben und äußert sich in einer wiederkehrenden Untätigkeit, deren Überwindung freilich, auch wenn sie stets scheitern soll, das Hauptanliegen des Titelhelden ist. Im Prolog wird Bezug genommen auf das Scheitern des Novemberaufstands, der - ohne nun eigens im Detail thematisiert zu werden - den latent präsenten Hintergrund des Dramas ausmacht. Das Drama selbst, der Untertitel gibt es zu verstehen, ist als erster Teil einer Trilogie mit dem Titel Die Thronverschwörung (Spisek koronacyjny) konzipiert. Die beiden folgenden Teile werden freilich nie geschrieben - die beabsichtigte Dramentrilogie bleibt also auch ein Fragment. In Kordian thematisiert Słowacki die Stellung des Einzelnen in der Geschichte und nimmt in der Sujetkonstruktion Bezug auf die 1829 im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Inthronisation des Zaren Nikolaj I. in Warschau aufgeflogene Verschwörung patriotischer Polen, die ein Attentat auf den russischen Zaren planten. Das Drama ist weit mehr ein Konglomerat heterogener Szenen als eine nach Regeln der Wahrscheinlichkeit konstruierte Darstellung einer bestimmten Handlung, und die klassizistischen drei Einheiten darf man bei der Betrachtung des Stücks getrost ausblenden. Wie Mickiewiczs Dziady ist auch Kordian ein über die aristotelische Mimesis der Handlung hinausführendes, offenes und fragmenthaftes Drama, das aber im Vergleich mit der Ahnenfeier deutlich mehr selbstreferenzielle Stellen enthält. 42 Neben der zum Teil fast phantastisch anmutenden Fügung der Sequenzen - am Ende des ersten Akts begeht Kordian aus unglücklicher Liebe Selbstmord, im zweiten Akt wird er ohne weitere Erklärungen wieder erscheinen und quicklebendig an verschiedenen Orten Europas in Erscheinung treten - sind nämlich zahlreiche, auch durch intertextuelle Referenzen abgestützte metadramatische Passagen charakteristisch für das Drama. In der mit Vorbereitung (Przygotowanie) bezeichneten Stelle treten in der Silvesternacht 1799 diabolische Figuren auf (eine Hexe, der Teufel, Satan, Mephistopheles, Astaroth), die den Beginn des neuen Jahrhunderts unter dämonisch-teuflischem Vorzeichen ankündigen und die Geschichte als Teufelswerk, als dem Tod und der Vernichtung geweihtes, heilloses Geschehen zu erkennen geben. 43 Die gegen Ende herbeieilenden göttlichen Kräfte - ein Engelschor tritt auf - können dieser infernali- 42 Kowalczykowa (2008), S. 143. 43 Dazu detaillierter: Próchnicki (1992), S. 63 ff. „Finis Poloniae“ 51 schen Vision der Geschichte sowie der Welt insgesamt nur die Aussicht auf eine Erlösung des Menschen durch Gott - analog zur Erschaffung Adams - entgegenhalten, worunter auch die Wiederbelebung eines untergegangen Volkes zu verstehen ist (lud skonał), also auf Polen angespielt wird. Der an der Spitze der Engel stehende Erzengel bittet Gott darum, ein Volk - Polen - zu erlösen oder ihm ein endgültiges Ende zu bereiten, es auf jeden Fall aus der unerträglichen Zwischenposition (weder lebt es noch ist es ganz gestorben) zu erlösen. Gott antwortet - in den Worten des Erzengels - dass sein Wille geschehe - wie dieser Wille aber aussieht, bleibt offen. 44 Damit ist eine Grundspannung umrissen, die das ganze Stück durchziehen wird und in kritischer Anlehnung an Mickiewicz konzipiert ist: Ist die Geschichte - so wie Konrad in der Großen Improvisation empört meint - ein Teufelswerk und allein in den Händen eines bösen Demiurgen bzw. des Teufels selbst, oder ist sie trotz allem Leid und aller Zerstörung abgestützt in einer göttlichen Ordnung? Kordian signalisiert gleich zu Beginn, dass die Geschichte nicht in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang eingespannt ist, sondern das Kampffeld darstellt, auf dem sich der Mensch zwischen teuflischen und göttlichen Kräften bewegt. In der Vorbereitung sind deutliche Reminiszenz an Shakespeares Macbeth erkennbar. So wie dort eingangs die Hexen die Zukunft verheißen und sich an Macbeth sowie Banquo wenden, sind es bei Słowacki die dämonischen Figuren, die, teils mit Hilfe eines Hexenkessels, die Zukunft bestimmen und sogar selbst zu machen beginnen, indem sie Menschen formen, denen es bestimmt ist, eine Rolle in der Geschichte zu spielen. In sarkastischsatirischer Zuspitzung setzt sich Słowacki an dieser Stelle mit dem Novemberaufstand auseinander; die im Hexenkessel erschaffenen Menschen werden u.a. die Anführer des Novemberaufstands sein und für die polnische Geschichte eine prägende Rolle spielen (Skrzyniecki, Niemcewicz, Czartoryski), aber auch andere historische Persönlichkeiten entsteigen dem Hexenkessel und treten in die Geschichte ein (Machiavelli, Napoleon). Die Geschichte wird dabei als sich gleichgültig drehendes Räderwerk modelliert, als Räderwerk, das alles zermalmt und keine Beständigkeit zulässt, dabei aber auch sich selbst genügt und nicht auf eine höhere Zielbestimmung bezogen werden kann. Satan meint denn auch sichtlich vergnügt: „Wiek, co przyjdzie, ucieszy szatany.“ 45 („Das Jahrhundert, das kommen wird, wird die Teufel erfreuen“). Die ironische Erinnerung an einflussreiche Persönlichkeiten, die weit mehr Puppen in der Hand des blinden und teuflischen Schicksals sind als die Geschichte mit planvollen Handlungen gestaltende Individuen, ordnet die Geschichte dem Bereich der Heillosigkeit und Nichtigkeit zu. 44 Słowacki (1949), t. 5, S. 165-176. 45 Słowacki (1949), t. 5, S. 169. 52 Alfred Gall Der erste Akt beginnt mit dem 15 Jahre alten Kordian, der auf einem Hof lebt und sich dort mit Grzegorz, dem alten Diener, unterhält. Während Kordian an einer unglücklichen Liebe leidet und das Leben als ödes Einerlei ohne Sinn und Wert betrachtet, also in schwermütiger Vertiefung in sich selbst die Langeweile als Ausdruck einer existenziellen Nichtigkeit des Lebens betrachtet 46 , verkörpert der alte Diener, der einst an der Seite Napoleons in Ägypten und Europa kämpfte, Tatkraft und Entschlossenheit, die sich nur aufgrund des hohen Alters nicht mehr in einem ereignisreichen, auch für das polnische Vaterland engagierten Leben manifestieren. Kordian bewundert den alten Mann, bleibt aber in seiner Melancholie befangen. Die Langeweile kulminiert in Orientierungslosigkeit und Unbestimmbarkeit der Existenz, die weder ein Ziel noch ein wie auch immer bestimmtes Glück erreichen kann. 47 Kordian stellt sich die auf Hamlet anspielende Frage „leben? oder nicht leben? “ („żyć? Albo li nie żyć? “). 48 An der unglücklichen Liebe und dem eigenen Verdruss über das Leben zerbrechend, zieht sich Kordian in den Wald zurück, wo er sich umbringt. 49 Wie schon Mickiewicz im vierten Teil der Totenfeier wird auch bei Słowacki das auf Goethes Werther zurückgehende Motiv des Selbstmords aus unglücklicher Liebe aufgegriffen. Und wie schon bei Mickiewicz legt es auch Słowacki auf eine Überschreitung der absolut gesetzten Liebe an. Dies zeigt sich im zweiten Akt, in dem Kordian als nun junger Mann an verschiedenen Orten in Erscheinung tritt und dabei die vormalige obsessive Bindung an die persönliche Liebesbeziehung überwindet. In London, am Kreidefelsen von Dover oder dann in Italien ist Kordian, inzwischen zum Dichter herangereift, in einer kaleidoskopartigen Auffächerung mit verschiedenen Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft konfrontiert. 50 Für die Absage an die Absolutheit der Liebe zeugt nun die Liebesbeziehung mit 46 Kordian ist eine der in der polnischen Romantik häufig vorkommenden literarischen Figuren, die auf Shakespeares Hamlet verweisen (s. dazu: Inglot (2007), S. 70 f. und Miłosz (1997), S. 272 f.). Diese Protagonisten - neben Kordian ist auch an Szczęsny Kossakowski aus Słowackis unvollendetem Drama Horsztyński (Horsztyński, 1835) zu denken - sind Ausdruck einer melancholischen, des Lebens überdrüssigen Haltung des Subjekts, das in sich zerrissen, ohnmächtig der Geschichte gegenübersteht, und die eigene Existenz nur noch als Leben zum Tode ohne innere Sinnhaftigkeit und nach außen ausstrahlende Wirkmächtigkeit begreift; vgl. dazu: Ławski (2008), bes. S. 78 ff., Trznadel (1989), S. 13 f. 47 Słowacki (1949), t. 5, S. 190: „Zamknięty jestem w kole czarów tajemniczém, / Nie wyjdę z niego... Mogłem być czémś... będę niczém...“ („Eingeschlossen bin ich in einem geheimnisvollen Zauberkreis, / Ich werde ihm nicht entkommen… Ich konnte jemand sein… werde niemand sein… “). 48 Słowacki (1949), t. 5, S. 189. 49 Der Suizid ist sowohl Folge der existenziellen Krise als auch Ausdruck der Suche nach einer anderen, höheren Ordnung, die sich über die der Sinnlosigkeit preisgegebenen Immanenz wölbt, s. dazu: Kuziak (2001), S. 169 ff. 50 Próchnicki (1992), S. 61 ff. „Finis Poloniae“ 53 Wioletta, die daran scheitert, dass Kordian den ihr von ihm selbst geschenkten Schmuck verspielt und von ihr zum Teufel geschickt wird. Kordian freilich geht nicht zum Teufel, sondern zum Papst. Hintergrund der im Drama dargestellten Audienz ist das viele Polen erschütternde Skandalon, dass der damalige Papst Gregor XVI. den Novemberaufstand scharf verurteilte und in der Bulle Cum primum von 1832 die Polen zum Gehorsam gegenüber der legitimen Herrschaft der Teilungsmächte aufrief. 51 In einer meisterhaften Groteske lässt Słowacki in der Audienz den Papst zusammen mit einem Papagei auftreten, der das zusehends hitziger werdende Gespräch der beiden mit seinen dazwischen gekrächzten Versatzstücken aus der katholischen Liturgie (de profundis clamavi, miserere, Lacryma Christi) begleitet und den ganzen päpstlichen Pomp in sich zerfallen lässt. Damit wird im Drama auch eine grundsätzliche Distanzierung von konfessionell gebundenen religiösen Beschreibungsvokabularen vollzogen - die religiöse Begrifflichkeit verkommt zum sinnleeren Gestammel eines Tiers und verliert jedwede Legitimität. Kordian führt etwas Erde mit sich, die mit dem Blut aufständischer Polen durchtränkt ist und bittet den Papst, diese Erde zu segnen, was der Papst entrüstet ablehnt. Auf das beharrliche Insistieren Kordians reagiert der Papst schroff, in dem er über die Erde und d.h. über die aufständischen Polen das Anathema verhängt. Das Oberhaupt der katholischen Kirche bietet Kordian keine Hilfe im Bestreben, für Polen Unterstützung und zumindest Würdigung des Kampfes um Unabhängigkeit zu erhalten: KORDIAN (rzucając na powietrze garść ziemi) Rzucam na cztery wiatry męczennika prochy! Ze skalanymi usty do kraju powrócę... PAPIEŻ Na pobitych Polaków pierwszy klątwę rzucę. Niechaj wiara jak drzewo oliwkowe buja, A lud pod jego cieniem żyje. PAPUGA Alleluja! ... 52 KORDIAN (eine Handvoll Erde in die Luft werfend) Ich werfe den Staub des Märtyrers in alle vier Windrichtungen Mit besudeltem Mund werde ich nach Hause zurückkehren... 51 Zum Kontext und zur entsprechenden Szene im Drama: Próchnicki (1992), S. 75. 52 Słowacki (1949), t. 5, S. 209. 54 Alfred Gall PAPIEŻ Über die gefallenen Polen spreche ich als erstes den Bann aus Möge der Glaube wie ein Olivenbaum wachsen Und das Volk unter seinem Schatten gedeihen PAPUGA Halleluja! Enttäuscht vom Papst und auf sich selbst zurückgeworfen begibt sich Kordian auf den Gipfel des Mont Blanc, wo er in ekstatischer Entrückung eine neue Sinnperspektive aufblitzen sieht. Die Epiphanie, die ihm zuteil wird, überschreitet die absolut gesetzte individuelle Liebe, die Religion in ihrer konfessionell-institutionell gebundenen Gestalt, aber auch jede Einbindung in soziale Strukturen. Das Subjekt wird aus den es umgebenden und tragenden Strukturen, die Sinn garantieren, herausgelöst und ist ganz auf sich selbst gestellt: Kordian steht als Dichter auf dem Berggipfel unmittelbar vor Gott und stellt sich die an Mickiewiczs Konrad erinnernde Frage nach dem Sinn und Zweck der Geschichte sowie der Bedeutung des Individuums. Die Isolation des auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts zeitigt im Vergleich mit dem III Teil der Dziady Mickiewiczs hingegen grundsätzlich andere Konsequenzen. Als Ausweg aus der schmerzvoll erfahrenen Vereinsamung steigt in Kordian der Wunsch zu Handeln und mit einer großen Tat die Geschichte zu prägen. Die aufkeimende Idee des Selbstmords rückt dadurch in den Hintergrund. Dabei sieht sich Kordian in einer bestimmten Mission, die ihn in die Welt, d.h. in die Geschichte und die Gesellschaft, zurück bringen wird und deren Sinn darin besteht, die Polen zu neuen Taten im Freiheitskampf zu stimulieren. Wie in der Vision des Priesters Piotr bei Mickiewicz erfordert auch die Epiphanie Kordians die Bereitschaft des Individuums, sich für das Wohl der Nation zum Opfer zu bringen. Im Unterschied freilich zur martyrologisch-messianistischen Verklärung des Opfers in Dziady setzt Kordian auf die große, wirklichkeitsverändernde Tat, für die der Held auch den Tod auf sich nimmt, ohne dass ein sakraler Bezugsrahmen dem Sterben des Helden einen religiös verbürgten Sinn verleiht. Kordian sieht sich vielmehr als politisch bewusster Akteur, der für seine Mitstreiter im Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit mit seiner Selbstaufopferung - gedacht ist an die Ausführung eines Attentats auf den in Warschau erwarteten russischen Zaren Nikolaj I. - den Weg zur großen nationalpatriotischen Erhebung frei macht. Entsprechend fällt in Kordian die Analogie mit Christus weg und wird die rein innerweltliche Übereinstimmung mit der alteidgenössischen Heldenfigur Winkelried 53 hervorgehoben: 53 Winkelried soll der Überlieferung nach in der Schlacht bei Sempach (1386) ein Bündel Lanzen der habsburgischen Ritter gepackt, sich in die eigene Brust gerammt und damit den Eidgenossen eine Bresche in die Stellung der Habsburger geöffnet haben, was den „Finis Poloniae“ 55 KORDIAN Duch rycerza powstał z lodów... Winkelried dzidy wrogów zebrał i w pierś włożył, Ludy! Winkelried ożył! Polska Winkelriedem narodów! Poświęci się, choć padnie jak dawniéj! jak nieraz! Nieście mię, chmury! nieście, wiatry! nieście, ptacy! 54 Der Geist des Ritters entsprang dem Eis Winkelried nahm die Speere der Gegner und stiess sie sich selbst in die Brust Polen - der Winkelried der Völker! Opfert sich, auch wenn es wie früher fallen wir! Wie schon mehrmals! Tragt mich, Wolken! Tragt mich, Winde! Tragt mich Vögel! Das Selbstopfer kommt ohne religiöse Untermauerung aus und fokussiert die aus dem Willen zur Veränderung der Geschichte resultierende Kraft, die auch die Preisgabe des eigenen Lebens einschließt und damit eine grundlegende Differenz zu Mickiewiczs Dziady markiert. An die Stelle des gegen Gott aufbegehrenden Konrad oder des Pilgers, der sich auf dem Weg in seine ferne, heilsgeschichtliche Heimat befindet, tritt der Kämpfer, der durch Engagement die Geschichte verändern möchte. Mit dem heroischen Aufbruch schließt der zweite Akt, der dritte Akt führt uns in ein Verließ der Warschauer Johannes-Kathedrale, wo eine Verschwörung gegen den russischen Zaren Nikolaj I., der in Warschau auch zum polnischen König gekrönt wurde und sich nun im Königsschloss befindet, vorbereitet wird. Die vermummten Verschwörer - ihre Losung ist „Winkelried“ - beratschlagen das Vorgehen und können sich nicht einig werden, ob die Ermordung des Zaren und neuen Königs gerechtfertigt ist oder ob das Attentat eine verwerfliche Mordtat darstellt, die dem Anliegen, für Polen die Freiheit wiederzuerlangen, nur Schaden zufügen würde. In die Diskussion über die Legitimität von Gewalt im Kampf um Unabhängigkeit mischt sich Kordian ein, der sich die Kapuze vom Kopf reißt und vehement darauf dringt, den Tyrannenmord zu vollziehen, wobei er zur moralischen Entlastung der Versammelten bereitwillig die Tat allein auf sich nehmen will, also als Einzelner die Ermordung des Zaren durchführen und auf sich nehmen will. Die Selbstaufopferung läuft darauf hinaus, sich selbst als moralisches Subjekt der großen Tat zum Opfer darzubringen. 55 Die Umsetzung dieses Vorhabens führt Kordian in die königlichen Gemächer, wo er zur Bewachung des Zaren abkommandiert ist und diese Gelegenheit für die Ermordung des verhassten Herrschers nutzen möchte. Auf Ausschlag für den späteren Sieg der Eidgenossen gegeben habe; zu Winkelried vgl.: Marchal (2006), S. 305 ff. 54 Słowacki (1949), t. 5, S. 211 f. 55 Słowacki, (1949), t.5, S. 217-238, bes. S. 235-238. 56 Alfred Gall dem Weg ins Schlafzimmer von Nikolaj I. wird er von Halluzinationen und Gewissensbissen heimgesucht. Bevor er sein Vorhaben umsetzen kann, fällt er vor der Schlafzimmertür ohnmächtig zu Boden. Der Zar öffnet die Tür und lässt Kordian verhaften. 56 In der Zelle eines Irrenhauses kommt Kordian wieder zu sich. Der Besuch des Doktors - es handelt sich um den verkleideten Teufel - führt zu einem Streitgespräch über die Bedeutung des Selbstopfers: Während Kordian in dieser Tat die Geburt eines neuen Menschen und einen elementaren Akt der Selbstüberschreitung sieht, erkennt der Teufel im Selbstopfer nur eine sinnlose Tat, die keinerlei Einfluss auf die Geschichte hat. Das Drama endet damit, dass der zum Tode verurteilte Kordian vor dem Erschießungskommando steht, während die Begnadigung des Zaren, der sich erweichen lässt und das Todesurteil aufhebt, von einem Kurier zur Stätte der Hinrichtung gebracht wird. Es bleibt offen, ob der Reiter rechtzeitig eintrifft, um die Exekution noch zu verhindern. 57 Die Geschichte und die individuelle Existenz klaffen weiterhin auseinander. Sie sind in Kordian nicht durch die moralisch begründete Selbstaufopferung des Subjekts vermittelbar. Bis zuletzt bleibt offen, ob und wie das Individuum Geschichte gestalten kann. Die in der Vorbereitung aufgeworfene Frage, ob die Geschichte letzten Endes durch den Teufel oder Gott bestimmt wird, ist nach wie vor ungeklärt. Damit entfällt in Kordian die unter messianistischem Vorzeichen stehende Gleichsetzung Polens mit Christus. Die Frage der Möglichkeit von Sinnstiftung angesichts einer aus den Fugen geratenen Geschichte wird in Kordian zwar inszeniert, sie bleibt aber ohne Antwort, was zugleich die Delegitimierung jedweden messianistischen Sinnstiftung indiziert. Das Individuum bleibt in seiner Identität auf sich selbst zurückgeworfen; eine Vermittlung mit Gesellschaft und Nation, Moral und Religion, unterbleibt, ein utopisches Telos der gelingenden Vergesellschaftung des Subjekts fehlt. Gerade die im Drama aufgerufene Sinndimension der großen Tat, die die Welt verändert, bleibt ohne Realisierung, was auch als ironische Selbstreflexivität des Stücks dazu führt, dass Kordian die im eigenen Vollzug entworfene Sinnmöglichkeit zugleich verwirft. Das romantische Drama reflektiert in seiner offenen, fragmenthaften Struktur, in der die Identität des Protagonisten (Kordian) aufgefächert und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als jeweils problematisch und isoliert erscheint, die unüberbrückbare Kluft zwischen Subjekt und Gesellschaft, die beide unvermittelt über dem Abgrund der Geschichte voneinander getrennt stehen. Sinnstiftung als Aufhebung dieser Diskrepanz funktioniert in Kordian im Kontrast zu Mickiewiczs Dziady nur als schon im Text selbst unbeglaubigter Entwurf 56 Słowacki, (1949), S. 239-246. 57 Słowacki, (1949), S. 257-277. „Finis Poloniae“ 57 einer die Geschichte autonom gestaltenden Tat, mit der Individuum und Geschichte wiederum korreliert werden sollen. Juliusz Słowacki: Ksiądz Marek (Priester Marek) Die in Kordian Fragment gebliebene Auseinandersetzung mit der Gestaltungsmöglichkeit und Identität des einzelnen angesichts der Geschichte wird von Słowacki in späteren Texten aufgegriffen. Insbesondere seit der folgenschweren Begegnung mit dem sektiererischen Mystiker Andrzej Towiański (1799-1878) im Jahre 1842 wendet sich Słowacki messianistischen Ideen zu, die er in der Folgezeit zu einem eigenen messianistischen Ansatz entwickelt. 58 Diese messianistische Wende zeigt sich darin, dass Słowacki der ironischen Inszenierung von Sinnstiftungsmodellen, wie er sie in Kordian im kritischen Anschluss an Mickiewicz aufgreift, eigene Entwürfe von Sinnhaftigkeit auf der Grundlage einer teleologischen Historiosophie gegenüberstellt. Am Beispiel des Dramas Ksiądz Marek (Priester Marek) kann dieser folgenschwere Paradigmenwechsel gut beobachtet werden. Priester Marek wird im Untertitel als romantisches Poem bezeichnet, wodurch Słowacki. so wie bereits Mickiewicz in den Dziady, auf die romantische Gattungshybridisierung anspielt, die auch als Hinweis auf den Charakter eines Lesedramas, also einer in diesem Sinne episierten Dramatik, gelten kann und die Dimension der Bühnenumsetzung bewusst ausklammert. Das Drama steht im Kontext eines bei Słowacki seit 1842 intensivierten Bestrebens, in versepischen Texten, Prosa und Traktatliteratur, aber auch in der Gattung des Dramas nach einer in Kordian noch offen gebliebenen, gelingenden Vermittlung zwischen Individuum und Geschichte, zwischen Polen und realgeschichtlichem Zustand der Welt zu suchen. Słowacki sieht dabei die Wirklichkeit als permanenten Prozess, dessen Sinn und Telos sich dem Dichterseher eröffnet. Geschichte ist in Słowackis messianistischer Vision ein Prozess, in dessen Verlauf sich ein göttlicher Geist in und durch die Wirklichkeit - und zwar die materiell-physikalische als auch die geschichtlichkulturelle - verwirklicht und dabei seinem Telos der Totalepiphanie zustrebt. In der Selbstvervollkommnung des stets über sich selbst und die manifeste Wirklichkeit hinausarbeitenden Menschen erhält dieser Prozess seine 58 Es ist hier nicht der Ort, um die Genese von Słowackis messianistischem Denken ausführlich darzulegen und die als „Schöpfung aus dem Geist“ bzw. „Schöpfungsphilosophie“ („filozofia genezyjska“) in die Literaturgeschichte eingegangenen Überlegungen im Detail vorzustellen; s. dazu den Überblick bei: Witkowksa/ Przybylski (2002), S. 351-371; Treugutt: Czy istnieje filozofia genezyjska, in: Janion, Żmigrodzkiej (Hgg.) (1981), S. 27-40; Janion/ Żmigrodzka (2001), S. 134 ff.; Kowalczykowa (2003), S. 215 ff.; Sawrymowicz (1966), S. 234 zu Towiański. Zum europäischen Kontext von Słowackis Messianismus vgl.: Janion (2000), S. 80-88. 58 Alfred Gall Vollzugsform, da der Geist auf das Mitwirken der Menschen angewiesen ist und sich nur verwirklichen kann, wenn durch menschliches Handeln der göttliche Geist mit der von ihm abgefallenen Welt versöhnt wird. 59 Das Telos des Prozesses der Geistwerdung, mit der die materielle Welt mit ihrer eigentlichen Substanz, der Welt des Geistes, vermittelt wird, ist in der finalen Vereinigung von Gott, Mensch und Natur in einer zu ihrer eschatologischen Verwirklichung gelangenden Heilsgeschichte zu sehen. Die historischen Ereigniszusammenhänge enthalten einen über sie selbst hinausweisenden und die heilsgeschichtliche Sinndimension aufrufenden Sinn, der dem dichterischen Seher offen steht. Auch hier ist, wie schon bei Mickiewicz, das messianistische Denken häretisch angelegt, da es Erlösung als Erlösung in und durch Geschichte - und nicht von der Geschichte - begreift. Charakteristisch für Słowackis Messianismus ist die Idee, dass die manifeste Wirklichkeit überstiegen, ja zerschlagen werden muss, um eine höhere Stufe im Prozess der Weltwerdung des Geists zu erreichen. Die historische Wirklichkeit ist in der Schöpfungsphilosophie eine Form, die aber stets wieder von neuem durchbrochen werden muss, damit der Geist nicht in Stagnation erstarrt und seiner Totalverwirklichung entgegen gehen kann. Dafür sind herausragende Individuen nötig, die in und gegen eine konkrete historische Wirklichkeit diese geisterfüllte Zukunftsdimension in Anschlag bringen und damit die Transzendierung einmal geronnener Formen ermöglichen. Damit ist zum einen für einen polnischen Kontext die schon bei Mickiewicz beobachtbare Vorstellung angesprochen, dass der status quo nicht eine Station auf dem Weg zur Totalverwirklichung des Geistes darstellt, sondern einer Erstarrung in einer leeren Form gleichkommt, die dringend dynamisiert werden muss, damit der Prozess der Geistwerdung der Wirklichkeit nachhaltig vorangetrieben werden kann. Auch bei Słowacki steht die Absicht im Mittelpunkt, eine aus polnischer Sicht unbefriedigende sowie delegitimierte historische Wirklichkeit zu überwinden und eine neue Welt- und Seinsordnung zu etablieren, wobei Słowacki, im Unterschied zu Mickiewiczs christologischer Selbstbeschreibung Polens, eine aktivistische, die permanente Umwälzung der Realität betonende Vorgehensweise bevorzugt. Im Drama Priester Marek findet diese historiosophische Geistmetaphysik für die Neubewertung der polnischen Geschichte Verwendung. Das Drama spielt unmittelbar vor der ersten polnischen Teilung von 1772 und schildert die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Kontext der Konföderation von Bar (1768-1772), der sich diejenigen polnischen Adligen anschlossen, die sich, auch unter Verwendung von Waffengewalt, gegen die ihrer Meinung nach allzu stark unter russischem Einfluss stehende königliche Zentralgewalt in 59 Dazu: Witkowksa, Przybylski (2002), S. 351-371 und Sawrymowicz (1966), S. 247 ff., 250 ff . „Finis Poloniae“ 59 Warschau wandten. 60 Im Mittelpunkt steht die Stadt und Festung Bar, in der sich die Konföderierten gegen eine russische Übermacht, die im Auftrag des unter russischer Kuratel stehenden polnischen Königs die Stadt erobern soll, zu behaupten versuchen. Im Brennpunkt steht der Priester Marek, eine auch historisch verbürgte Person (Marek Jandołowicz), der die Aufständischen anfeuert und sich gegen den sich breit machenden Defaitismus und für die bedingungslose Fortsetzung des Widerstandskampfs gegen die russische Armee stark macht. In Priester Marek erfolgt der Rückblick auf die Zeit der ausgehenden Adelsrepublik mit dem Ziel einer Revision der polnischen Geschichte, deren Neubewertung als retrospektiv erfolgende Sinnstiftung eine in die Zukunft weisende Perspektive freilegen soll, auf deren Grundlage auch das Trauma der Teilungen sowie des niedergeschlagenen Novemberaufstands überwunden werden soll. Polen soll als relevante historische Größe bewahrt und als wesentliches Moment der Entfaltungsdynamik des göttlichen Geistes identifiziert werden. In der romantischen Imagination, wie sie sich in Priester Marek artikuliert, schwingt in und mit der Realgeschichte eine auf den nach Totalepiphanie drängenden Geist verweisende heilsgeschichtliche Bedeutungsebene mit, die es zu erfassen und zu vergegenwärtigen gilt. Der im Drama erfolgende Nachweis, dass sich als Grundlage der Geschichte die Geistmetaphysik identifizieren lässt, führt dazu, dass Słowacki keineswegs an einer faktengetreuen Aufarbeitung des historischen Stoffs interessiert ist, sondern weit mehr die Ausarbeitung eines an einem konkreten historischen Thema entwickelten Referenzrahmens zur Erfassung des tieferen Sinns der historischen Rolle Polens interessiert ist. Der Priester Marek wird in dieser Perspektive zur beinahe mythische Dimensionen annehmenden Heldengestalt, deren Tod in den Händen der siegreichen Russen zum nationalen Martyrium stilisiert wird, zugleich aber, im Kontext der anvisierten Totalepiphanie des göttlichen Geistes, als sinnvolle Opfertat im Kampf um die Freiheit des Vaterlands gewürdigt wird. Diese Neudeutung der Konföderation von Bar ist zum einen eine verklärende, anachronistische Darstellung der Konföderation von Bar, die als Inbegriff eines nationalen Unabhängigkeitskampfes 61 erscheint, zum anderen wird das im Drama modellierte Geschehen und dabei insbesondere das Wirken des Priesters zum Ausdruck einer aktiven Beteiligung an der Vermittlung des göttlichen Geistes mit der geschichtlichen Welt. Der Priester ist ein in die Zukunft schauender Prophet eines neuen Polens, das an die Stelle der in den Kämpfen um Bar in Blut und Zerstörung versinkenden alten Adelsrepublik treten wird. Der Priester han- 60 Zur Bezugnahme auf die Konföderation von Bar im Drama s.: Janion/ Żmigrodzka (2001), S. 80 ff. 61 Die Konföderation von Bar ist so Teil einer romantischen Projektion des nationalen Freiheitskampfs in eine frühere Epoche. Zur Umdeutung des geschichtlichen Ereigniszusammenhangs in der Romantik vgl.: Janion/ Żmigrodzka (2001), S. 79-91. 60 Alfred Gall delt und spricht aus dem Bewusstsein des sich in der Geschichte realisierenden göttlichen Geistes und liest die Realereignisse als Zeichen eines eschatologischen Geschehens, das sich ihm auch in zahlreichen Träumen und Visionen offenbart. 62 Er führt das Vaterland, das neue Polen der messianischen Zukunft, bei aller Zerstörung und Todesgeweihtheit in der Gegenwart, zur ersehnten Erlösung. Auch hier wirkt bei Słowacki, ähnlich wie schon bei Mickiewicz, freilich mit Betonung des aktiven Gestaltens und Mitwirkens, die messianistische Idee nach, dass Tod und Zerstörung, Krieg und Niederlage, nicht einen endgültigen Untergang, sondern lediglich ein Übergangsstadium im Prozess der Weltwerdung eines göttlichen Geistes darstellen. Die Festung Bar, deren Belagerung, Eroberung und anschließende Zerstörung durch russische Truppen geschildert wird, wird im Drama zur Wiege eines neuen, seine Verwirklichung in der Geschichte findenden Polens, das seine Substanz aus dem realgeschichtlich in der Konföderation von Bar zwar gescheiterten Unabhängigkeitswillen bezieht, denn in diesem Engagement, das für Słowacki im Einklang steht mit dem sich in der Geschichte entfaltenden Geist, liegt das Unterpfand für die künftig zu resituierende Freiheit verborgen. Die Revision der Geschichte, die über ihren faktischen Gehalt hinaus in einen messianistischen Deutungs- und Referenzrahmen integriert wird, geht also einher mit dem Entwurf einer eschatologischen Zukunftsdimension, die sich jedoch nicht von selbst verwirklicht, sondern der tätigen Mitwirkung bedarf. 63 Das von Słowacki im Drama entgegen dem faktischen Geschichtsverlauf entworfene messianische Bewusstsein des Priesters Marek speist sich aus der Neudeutung der Wirklichkeit, in der sich der göttliche Geist zeichenhaft zu erkennen gibt. 64 In visionär-prophetischer Rede verkündet der Priester im Kanonendonner auf den brennenden Mauern der Festung das ihm geoffenbarte Wirken des Geistes und feuert so die Konföderierten in ihrem Abwehrkampf an: KSIĄDZ MAREK Ja ksiądz prosty, powiem tobie, Że tu leży Polska w żłobie, Lecz Polska nie tego wieku […] Więc się nie dziw, że tak błyskam Jak Mojżesz duchem natchnięty, Żem jest jako ów Jan święty, […] Bo zaprawdę jestem w lidze Z duchami i ze świętymi! […] 65 62 Piasecka (1992), S. 15 ff.; Piwińska (1992), S. 268, 291 f., 440 f. 63 Jagodzińska (2006), S. 265 ff. 64 Jagodzińska (2006), S. 261 ff. 65 Słowacki (1949), t. 8, S. 21 ff. „Finis Poloniae“ 61 Ich, ein einfacher Priester, sage dir, Hier liegt Polen in der Krippe Aber nicht das Polen unserer Zeit […] Wundere dich also nicht, dass ich leuchte Wie Moses vom Geist inspiriert, Dass ich bin wie jener heilige Johannes […] Denn wahrlich, ich steh’ im Bunde Mit Heiligen und dem Geiste […] Der Anführer der Konföderierten, Kazimierz Pułaski, wird nach dem Tod des Priesters die in den prophetischen Worten aufscheinende Zukunftsdimension eines neuen Polens aufgreifen und als Ausblick auf eine bevorstehende Überwindung des durch Zerstörung und Niederlage gekennzeichneten status quo anerkennen: K. PUŁAWSKI Jenerale, ręce cudze Dotknęły się tego ciała I to ciało już nie nasze: Ale jego duch i chwała, Przelana w polskie pałasze I serca, świadectwo wyda. A jak tu się teraz wznosi Zmartwychwstańców piramida I to ciało łzami rosi, O życiu świadcząc płakaniem: Tak my... (odgłosy moje wieszcze! ) Wszyscy, wszyscy zmartwychwstaniem! 66 Meine Generäle, fremde Hände Berührten diesen Leichnam Der nicht mehr zu uns gehört: Aber sein Geist und Ruhm, In polnische Säbel und Herzen Gegossen, ist Zeugnis. So wie sich hier und jetzt erhebt Die Pyramide der Auferstehenden Und den Leichnam mit Tränen benetzt, Dessen Leben mit Wehklagen bezeugt: So werden wir ... mein prophetisches Echo Alle, wirklich alle auferstehn! Das neue, messianische Polen, das im Drama entworfen wird, ist gerade in der Niederlage im Entstehen begriffen, und das schon seit dem ausgehenden 66 Słowacki (1949), t. 8, S. 116. 62 Alfred Gall 18. Jahrhundert, die Konföderation von Bar ist dafür ein Indiz. Dieses neue Polen entsteht aus den Qualen und Leiden, der Tod, das heißt der Untergang des Staats, wird überwunden durch die eschatologische Sinndimension der Auferstehung. In pragmatischer Hinsicht ist das Drama so als Słowackis imaginierender Geschichtsentwurf zu sehen, in dessen Vollzug der reale Ereignisablauf mit einer messianischen Sinngeschichte überschrieben wird, wodurch eine Sinnstiftung geleistet wird, die den Untergang zur blossen Zwischenstufe - einen Übergang - auf dem Weg zur Neuverwirklichung Polens in der Geschichte umcodiert. Fazit In allen hier besprochenen Dramen wird der Umbruch, der sich für die polnische Kultur aus dem Verlust der Eigenstaatlichkeit, den Repressionen durch die Teilungsmächte sowie den scheiternden Widerstandsbemühungen ergibt, in wechselnden Konstellationen verhandelt. Dabei werden unter Umgehung einer mimetischen Dramatik Existenzmöglichkeiten durchgespielt und Weltverhältnisse neu inszeniert - also nicht einfach gegebene Protagonisten mit fester Identität in ebenso gegebene historische Wirklichkeiten versetzt, sondern beides, Protagonisten und Geschichte, werden reflektieren neu gesetzt bzw. in den Blick genommen. Zur romantischen Dramatik gehört, bei allen Differenzen im Einzelnen, dieses Durchspielen von Existenzmöglichkeiten 67 , das auch das Ausloten transzendentaler Rahmenbedingungen von Geschichte und Individualität oder Identität umfasst und so auch metadramatische Aspekte beinhaltet: Die romantische Dramatik setzt nicht das Vorhandensein von Individuen, die in konkreten Situationen aufeinander treffen und dann in einer kausallogischen Verkettung in Handlungssequenzen eingebunden sind, voraus, sondern reflektiert das Fragwürdigwerden all dieser Begriffe und Kategorien. Mit der metadramatisch fundierten Reflexion transzendentaler Aprioris werden die Grundlagen der Dramatik als eigentlicher Problembereich inszeniert. Der realgeschichtlich erfahrene Umbruch wird zur Irritation, die zur Auseinandersetzung mit Grundfragen zwingt: Was ist Geschichte, was ist Gesellschaft, was ist ein Individuum, besonders ein Individuum in der Geschichte und wie soll eine gelingende Existenz aussehen. In wechselnden Konstellationen greifen die einzelnen Dramen diese Problemfelder auf. Die romantische Dramatik der Sinnstiftung kann so auch als Schaffung und konstellative Inszenierung neuer transzendentaler Rahmenbedingungen von Geschichte, Gesellschaft und Individualität interpretiert werden. Speziell der Messianismus, wie er sich auf sehr unterschiedliche Weise bei 67 Dazu s. allg.: Janion/ Żmigrodzka (2004), S. 9 ff., 57 ff. „Finis Poloniae“ 63 Mickiewicz und Słowacki zeigt, kann als Auffüllen der Lücke nach dem Fragwürdigwerden delegitimierter Konstanten (Welt, Geschichte, Individuum) aufgefasst werden. Die Fragwürdigkeit selbst geht auf die Erschütterung durch den Epochenumbruch, der mit den Teilungen und den anschließenden Ereigniszusammenhängen einhergeht, zurück. Die ehedem anerkannten, etablierten und vertrauten Zusammenhänge von Geschichte, Welt und Individuum verlieren ihre Gültigkeit und werden als solche problematisch, was dann im romantischen Drama zur Inszenierung möglicher Neueinbettungen und Neuschaffungen von Individuum und Geschichte wird. In dieser Perspektive kann das polnische romantische Drama durchaus auch als Beispiel für die von Gilles Deleuze definierte „subrepräsentative Variation“ 68 gelten. Damit ist gemeint, dass durch eine Auflösung a priori gegebener Bezugsgrößen eine Destabilisierung der dramatischen Struktur einsetzt, in deren Zusammenhang die einzelnen Zeichensysteme - Sprache, Bewegung, Handlung, Klänge und Farbeindrücke, aber auch Individualität und Raum - nicht mehr gebündelt oder kausallogisch stringent aufeinander bezogen sind, sondern sich in einer Weise frei entfalten, die nicht mehr durch eine Kohärenzstiftung aufgehoben werden kann, also auf eine Unterwanderung institutionalisierter, durch mimetische Ordnungen gesicherter Konfliktrepräsentationen hinausläuft. 69 Damit wird eine repräsentierende dramatische Darstellung unterboten und ein dramatisches Geschehen verwirklicht, das sich nicht auf bereits gesicherte feste Handlungskonstellationen, klare sprachliche Kommunikationsstrukturen oder kausallogisch kohärente Bewegungsfolgen stützen kann. Die subrepräsentative Variation des Dramas entbehrt der „normalisierten, kodifizierten, institutionalisierten Repräsentation“, was genau auch auf das polnische romantische Drama zutrifft, das solcher Kategorien entbehrt, allerdings, und das wäre dann der grundlegende Unterschied zu den Überlegungen von Deleuze, bei aller Forcierung der Fragmenthaftigkeit und innerer Widersprüchlichkeit, nach neuen transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Repräsentationssystemen Ausschau hält. Die „Gerichtetheit“ in die Zukunft ist in allen drei Dramen entscheidend. Nie geht es um die blosse Restitution des Gewesenen, das durch den Umbruch auch im Kern als überholt und damit delegitimiert ausgewiesen ist. Dass dies durchaus von den Autoren der Romantik reflektiert wurde geht etwa aus den Vorlesungen, die Mickiewicz im Jahr 1840 am Pariser Collège de France hielt, hervor. Mickiewicz stellt im Rahmen der Ausarbeitung einer messianistisch orientierten Betrachtung der polnischen Literatur- und Kul- 68 Gilles Deleuze: Ein Manifest weniger, in: Deleuze (1980), S. 37-74, hier S. 66, Deleuze bezieht sich konkret auf Carmelo Bene. 69 Esslin (1987), S. 38, S. 52 ff. zum framing als organisierendes Verfahren der Anordnung einzelner für das Drama relevanter semiotischer Größen wie Bewegung, Körper, Sprache, Klänge etc. 64 Alfred Gall turgeschichte klar, dass es im Kampf um die Einheit und Unabhängigkeit Polens nicht um die Wiederbringung des historischen Polens, der alten Adelsrepublik Polen-Litauen gehen kann. Das Vaterland ist nicht einfach gegeben oder durch Tradition gesichert, es muss erst wieder geschaffen werden, ist also weit mehr ein Projekt und keine von der Zeit unberührte Substanz: Dans l’opinion de réformateurs modernes, la patrie, c’est l’ordre politique de l’avenir qu’il faut travailler à établir. La liberté, la puissance et le bonheur entrent nécessairement dans l’ensemble de cette conception. Il n’y rien d’étonnant que cette idée n’ait pas encore été complètement réalisée ; car l’état sociale de la Pologne n’a jamais complètement répondu aux conditions indispensables à cette réalisation. 70 Nach der Überzeugung vieler heutiger Reformer ist das Vaterland eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung, die man erst noch schaffen muss. Freiheit, Macht und Wohlergehen sind notwendige Elemente dieser Konzeption. Es erstaunt nicht, dass sie bisher noch nicht vollständig verwirklicht worden ist, denn der gesellschaftliche Zustand in Polen - gem. ist das alte Polen - hat nie vollkommen den zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Bedingungen entsprochen. 71 Die Dramen von Mickiewicz und Słowacki zeigen in ihren fragmentarischen, dezentrierten, die transzendentalen Aprioris aushebelnden Verfahrensordnungen, wie ein solches Projekt (als literarischer Entwurf von Sinnstiftungen) angesichts eines historischen Umbruchs erfolgen kann. Die romantische Dramatik umreißt in ihrem eigenen Vollzug, ohne sich an vorgegebene Weltbeschreibungen - sei es nun Religion oder Philosophie - anzulehnen, jeweils eigenständige und autonome Sinnstiftungen. Literaturverzeichnis Bohrer, K.H.: Die Grenzen der Ästhetik. München, Wien 1998 (Edition Akzente). Cegielski, T.: Das alte Reich und die erste Teilung Polens 1768-1774. Stuttgart 1988. Chacko, M.: Dramat i teatr Juliusza Słowackiego. Rekonesans. Wrocław 2006. 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Eine Kleidermarke? “ 1 Wer sich nach signifikanten Wendezeiten, Umbrüchen oder Zäsuren in der deutschen Geschichte nach 1945 umfragte, würde leicht hinsichtlich mindestens zweier Daten Einigkeit erzielen: Für das Jahr 1968, das für den Anschluss Westdeutschlands an eine internationale Protestbewegung und die daraus folgende Umformung der Bundesrepublik zu einem liberalen und demokratischen Land steht, und für das Jahr 1989, das Jahr des deutschen „Mauerfalls“ und der Erosion des politischen Ost-West-Gegensatzes, die auch in Osteuropa mit dem Ende der rumänischen Ceausescu-Diktatur manifest geworden ist. Das Jahr 1977 scheint dagegen nicht in dieselbe Reihe zu gehören. Der Blick in zwei Bände der jüngeren Zeitgeschichtsforschung bestätigt das: Unter den „Deutschen Erinnerungsorten“ in der dreibändigen Auswahl von Etienne François und Hagen Schulze findet der Memorialtopos „Siebenundsiebzig“ - anders als „Achtundsechzig“ und der Slogan von 1989 „Wir sind das Volk“ - keinen Platz. 2 Ein 2008 erschienener Band mit dem Titel Deutsche Gründungsmythen enthält zwar einen Beitrag, der „Achtundsechzig und Siebenundsiebzig“ zusammenführt, verneint jedoch den Status als „Gründungsmythos“ für das letztere Datum (im Gegensatz zum ersteren) mit der Begründung: „Es geht nicht um einen Gründungsmythos, sondern um ein kollektives Phantasma (das Kollektiv ist klein)“. 3 „1977“ sei das Phantasma einer radikalisierten Linken gewesen, die für einen kurzen Augenblick den Staat in der Rolle des Henkers und mit den in Zweifel gezogenen Selbstmorden von Stammheim - von Baader, Ensslin und Raspe - die „Blutspur“ der Weimarer Republik sich in die Bundesrepublik hineinziehen sah. Für eine Zäsur im Sinne der Gründung einer neuen, antifaschistischen Gesellschaft reichte diese Opferphantasie jedoch nicht aus. Für den größeren Teil der Linken wurde mit den Leichen der ersten Generation der „RAF“ eher die eigene Hoffnung zu Grabe getragen, das als totalitär wahrgenommene System ließe sich mit Gewalt umstürzen. 1 Cosgrove (2005), S. 47. 2 François / Schulze (2001). 3 Rohrwasser (2008), S. 190. 68 Christoph Deupmann Dennoch kann „1977“ zumindest als intermediäres Umbruchdatum verstanden werden: als ein Geschichtszeichen, 4 das seine Position zwischen den gegensätzlichen Wendezeit-Daten „1968“ und „1989“ bezieht, von denen her es seine Bedeutung erhält. Als solches intermediäres Datum versteht Heinz Bude auch den Chronotopos „Achtundsechzig“: „In der Mythologie der Bundesrepublik liegt 1968 zwischen 1945 und 1989“. 5 Der Protest von „Achtundsechzig“ bezieht sich am Anfang auf das Ende des nationalsozialistischen Deutschland zurück und wird selbst mit der Gründung des neuen, wieder vereinigten Deutschland „historisch“. Die Radikalisierung dieses Protests, dessen Höhepunkt und Ende durch „Siebenundsiebzig“ bezeichnet sind, bezieht sich ihrerseits auf „Achtundsechzig“ zurück und ist infolge der Ereignisse des Jahres 1989 zu einem abgeschlossenen Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geworden. Es steht mit den Toten von Stammheim nicht nur für das Scheitern des terroristisch radikalisierten Protests, sondern auch für die Wende zur Identifikation der gesellschaftlichen Mehrheit mit dem als „wehrhaft“ erwiesenen Staat. Insofern leitet es von einer Protestgeschichte, die in 1968 ihr Gründungsdatum hat, zu einer Identifikationsgeschichte mit der liberalen staatlich-gesellschaftlichen Ordnung über, für die 1989 (bzw. 1990) zum neuen Gründungsdatum wurde. Als Kristallisationspunkt solcher zwiespältiger Erfahrungen stellt „Siebenundsiebzig“ indes neben „Achtundsechzig“ und „Neunundachtzig“ vielleicht das am meisten emotional aufgeladene Geschichtszeichen in der deutschen Zeitgeschichte nach 1945 dar. Trägt man den Erinnerungsort (Pierre Nora) 6 „1977“ wie vorgeschlagen in die Reihe signifikanter Wende-Daten ein, so ergibt sich daraus, dass auch der linke Terrorismus mittlerweile historisch geworden ist. 7 Nachdem Mauerfall und Wiedervereinigung ein neues Gründungs-Datum in das deutsche Geschichtsgedächtnis eingetragen hatten, konnte mit der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik auch die Phase ihrer größten politischen und rechtsstaatlichen Herausforderung abgeschlossen werden. „[S]pätestens seit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung“ ist die „RAF“ „ein abgeschlossenes Kapitel der Historie der alten Bundesrepublik Deutschland“, schreibt die ehemalige Terroristin Astrid Proll im Vorwort zu ihrem ästhe- 4 Kittsteiner (1999). Vgl. den Begriff zuvor bei Lyotard (1989), S. 251. 5 Bude (2001), S. 122. 6 Nora (1998). 7 Für „Achtundsechzig“ wird diese Historizität durch eine Fülle von Dokumentationen, Anthologien, Aufsatzsammlungen und Erinnerungsbüchern (auch Neuauflagen) belegt, die zum vierzigjährigen „Jubiläum“ des Protestjahres 1968 erschienen sind; vgl. etwa Sievers (2008); Ingrid Gilcher-Holtey (2008a); dies. (2008b); Gogos, Pflitsch (2008); Kurlansky (2008). - Anders als „Siebenundsiebzig“ stellt „Achtundsechzig“ allerdings ein globales Geschichtszeichen dar, da die westdeutschen Studentenproteste Teil einer internationalen Protestbewegung waren. 1977 69 tisch anspruchsvollen fotodokumentarischen Band Hans und Grete (2004). 8 Die Hoffnungen und Bedrohungen, die der Linksterrorismus an sich band oder die er auslöste, verschoben sich tendenziell ins Magazin historischer Erinnerungen, auch wenn es noch bis 1998 dauern sollte, bis die Übriggebliebenen der „zweiten Generation“ der „RAF“ selbst das Ende ihres gewaltsamen Weges mit den Worten erklärten, die „Stadtguerilla in Form der raf“ sei „nun Geschichte“. 9 Mit dieser von den abdankenden Terroristen selbst anerkannten Historisierung eröffnete sich jedoch ein von der politischen Aktualität entlasteter Zugang zur Geschichte des linken Terrorismus, der nicht zuletzt von einer Reihe ästhetischer Texte, Theaterstücke und Filme produktiv umgesetzt worden ist: Leander Scholz’ Roman Rosenfest (2001), Franz-Maria Sonners Die Bibliothek des Attentäters (ebenfalls 2001) oder Ulrich Woelks Die letzte Vorstellung (2002) gehören ebenso dazu wie eine Reihe von Filmen, die von Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuß (2000) über Christian Petzolds Innere Sicherheit (2000), Dennis Gansels Das Phantom (2000), Andreas Veiels Black Box BRD (2001) und Christopher Roths Baader (2002) vorläufig bis hin zu Uli Edels und Bernd Eichingers Baader Meinhof Komplex (2008) reicht. Auch Katrin Hentschels Terroristinnen - Bagdad ’77 (UA 2007), Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. Königinnendrama (UA 2006) oder Johann Kresniks bereits 1990 uraufgeführtes und 2006 an der Bonner Oper neu inszeniertes „Choreografisches Theater“ Ulrike Meinhof sind Teile des Gedenkens an den dreißig Jahre zurückliegenden „Deutschen Herbst“. Mit den Ereignissen des linken Terrorismus, die sich im Zeichen des „Terrorjahrs 1977“ 10 verdichteten, korrespondiert offenbar eine nachträgliche Verdichtung im Doppelsinn von vermehrter Erinnerung und Ästhetisierung. Liegt die Bedingung dieser Konjunktur 11 in der Historisierung der erinnerten Ereignisse, so kann über ihre Motive nur spekuliert werden. Die Erosion der bilateralen Mächtekonfrontation von Ost und West nach 1989 hinterließ offenbar auch ein semantisches Vakuum, das „Geschichte“, kaum dass ihre ideologischen Konfliktlinien überwunden schienen, schon wieder vermissen ließ. Das historische Gedenken verdankt sich insofern einem posthistorischen Bewusstsein, 12 das gleichzeitig das Bedürfnis nach historischer Erinnerung nährt. Nicht zuletzt dürfte der „neue“ islamistische Terrorismus auch den Ereignissen des Deutschen Herbstes neue Aufmerksamkeit zugeführt haben. Ich möchte im Folgenden einige Formen ästhetischer Einlassung auf die Geschichte der „RAF“ und die Ereignisses des Jahres 1977 anhand ausge- 8 Proll (2004), S. 18. 9 Das bei der Nachrichtenagentur Reuters am 20. April 1998 eingegangene Auflösungsschreiben ist zitiert in Knobbe/ Schmitz (2007), S. 203. 10 Knobbe/ Schmitz (2007). 11 Vgl. hierzu auch Eder (2002), S. 19, und Jürgensen (2008), S. 222. 12 Zum Posthistoire vgl. Niethammer (1989). 70 Christoph Deupmann wählter Filme, Erzähltexte und eines Theaterstücks untersuchen: Uli Edels (von Bernd Eichinger produzierte) Verfilmung von Stefan Austs Der Baader Meinhof Komplex, Christopher Roths Spielfilm Baader und Leander Scholz’ Roman Rosenfest sowie Elfriede Jelineks „Königinnendrama“ Ulrike Maria Stuart. Die verschiedenen ästhetischen Zugänge lassen sich unter drei Stichworten zusammenfassen: populäre Geschichtsfiktion (Action), Pop- Ästhetik (‚RAF’ goes Pop) und postdramatisches Diskurstheater. 1. Action: Der Baader Meinhof Komplex Als Edels und Eichingers Verfilmung Der Baader Meinhof Komplex 2008 in die deutschen Kinos kam, hatten die Ereignisse von 1968 sich gerade zum vierzigsten Mal und die des „Deutsche Herbstes“ 13 des Jahres 1977 zum dreißigsten Mal gejährt. Auch die Filmhandlung spannt den Bogen zwischen den zeitgeschichtlichen Umbruchdaten, indem sie mit dem Auslöser der „Achtundsechziger“-Studentenproteste, dem Staatsbesuch des persischen Schahs in West-Berlin und der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, beginnt und ein Jahrzehnt später mit den Toten von Stammheim und der Erschießung Hanns Martin Schleyers im herbstlichen Wald am 18. Oktober 1977 endet. Zwischen diesen Eckdaten drängt der 143-minütige Spielfilm die ganze Geschichte der „RAF“, ihrer durchgeführten und gescheiterten Attentate und ihrer inneren Konflikte zusammen. Daraus ergibt sich eine stark verdichtete, rasante Ereignisabfolge, die kaum Zeit für Erklärungen lässt. Die temporeiche Erzählweise nähert sich den Konventionen des Action-Kinos an, ohne Sympathien mit den „Helden“ der „RAF“, von einzelnen Momenten abgesehen, größeren Raum zu gewähren; trotz eines (mit Moritz Bleibtreu prominent besetzten) aggressiv-charismatischen Baader oder der psychologisch am stärksten differenzierten (von Martina Gedeck verkörperten) Figur der Meinhof. Von den Vorgaben von Stefan Austs 1985 zuerst erschienenem „nüchternem Tatsachen-Reißer“ 14 weicht der Film dennoch aus dramaturgischen Gründen gelegentlich ab: Wenn Ulrike Meinhof etwa bei der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders nach kurzem Zögern als letzte aus dem Fenster des „Instituts für soziale Fragen“ springt, inszeniert der Film auf wirkungsvolle Weise den Entscheidungsmoment des unwiderruflichen Sprungs in die Illegalität (tatsächlich floh Meinhof, wie Aust be- 13 Seinen Namen verdankt der „Deutsche Herbst“ der ästhetisch höchst heterogenen Autorenfilm-Collage Deutschland im Herbst (1978), an der Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, Heinrich Böll und andere mitwirkten und mit der unmittelbar nach der 44-tägigen Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers am 19. Oktober 1977 begonnen worden war. 14 Höbel (1988). 1977 71 richtet, gleich hinter Baader als zweite). 15 Vergleicht man Edels und Eichingers Der Baader Meinhof Komplex mit anderer filmischen Verarbeitungen des bundesdeutschen Linksterrorismus, so lässt sich der Einwand der Kritik, der Film vermittle Geschichte nach den Blockbuster-Konventionen des Actionkinos, 16 durchaus ins Positive wenden: Die rasant „oberflächliche“ Erzählweise führt eine (nicht zuletzt vom terroristischen „Tatmenschen“ Andreas Baader forcierte) Logik des Terrors vor, die mit den politisch-ideologischen Begründungen immer weniger in Übereinstimmung stand. Vor allem aber vermeidet der Film weitgehend die mimetisch einfühlende Annäherung an die Täter 17 - auch wenn der Verzicht auf ausgreifende biografische Erklärungen manche Leerstellen der Handlungs- und Charaktermotivierung produziert. Der Film zeigt die Geschichte der „RAF“ vielmehr als eine lange Geschichte des Tötens; im Abspann rollt die Liste der 34 Toten ab, welche die Terroristen an ihrem Weg hinterlassen haben. In der Figur des Bundeskriminalamt-Chefs Horst Herold (gespielt von Bruno Ganz) stellt der Film jedoch auch einen Hermeneuten bereit, der das Beziehungsgeflecht zwischen Staat, Jugend und Terrorismus analytisch und sensibel zu interpretieren vermag. Anstelle individuell biografischer Erklärungsmodelle inszeniert der Film Ereignisgeschichte im strikten Sinn. Die aber führt er als nicht zuletzt von den zeitgenössischen Informationsmedien, vor allem dem Fernsehen, bestimmte Wirklichkeit vor. Immer wieder zeigt der Film die Terroristen vor den Fernsehapparaten: Über die Fernsehnachrichten erfahren sie von den Festnahmen und Todesfällen ihrer „Genossen“ sowie von den Reaktionen des Staates auf ihre Attentate und Freipressungsversuche. Die Fernsehaufnahmen von der Erschießung eines vermeintlichen Vietcong auf offener Straße durch den Polizeichef von Saigon, 18 die Anfang Februar 1968 um die Welt gingen, oder der vor einem Napalm-Angriff amerikanischer Bomber fliehenden Kinder in My Lai aus dem Jahr 1972 verstärken nicht nur die „authentische“ Glaubwürdigkeit der akribisch ausgestatteten Spielhandlung nach Art eines „Dokudramas“, sondern konkretisieren zugleich die Leerstellen in der Motivierung des massenhaften Protests, der sich im Entschluss einzelner zu den terroristischen Taten zuspitzte. Auch wenn diese eingeschnittenen, dokumentarischen Bilder nur in Erinnerung rufen, was bis heute jeder zeitgeschichtlich interessierte Zuschauer kennt, kontextualisieren sie den Terrorismus doch an diesen Schnittstellen zwischen Dokumentarismus und filmi- 15 Aust (2008), S. 23. 16 Vgl. etwa die Besprechungen von Eckhard Fuhr (2008) in der Welt („Terror als Action“) oder Tobias Kniebe (2008) in der Süddeutschen Zeitung. 17 Die oft kritisierte „Missachtung“ der Opfer durch die Fokussierung auf die Täter hat ein Buch von Anne Siemens zurechtzurücken versucht; Siemens (2007). 18 Zu dieser Sequenz, die auch in den Zeitungen (zuerst in der New York Times vom 2.2.1968) abgedruckt wurde, vgl. auch Johnsons Jahrestage; Johnson (1993), S. 672f. 72 Christoph Deupmann scher Fiktion als gewaltsame Antwort auf eine immer schon medialisierte, von Gewalt gesättigte politische Gegenwart. 2. „RAF“ goes Pop Christopher Roths mit dem Alfred-Bauer-Preis für „neue Perspektiven der Filmkunst“ auf der Berlinale 2002 ausgezeichneter Spielfilm Baader erzählt die Geschichte der so genannten ersten Generation der „RAF“, in deren Mittelpunkt Andreas Baader steht, in einer nicht-chronologischen Ordnung: Der Film setzt mit einer Szene ein, in der Andreas Baader (Frank Giering) am Steuer eines BMW-Coupés die BILD-Zeitung mit der vom BKA lancierten Falschmeldung „Baader will sich stellen“ in Händen hält. Ein Motorradpolizist verlangt die Papiere des Unbekannten, der wieder einmal im gestohlenen Auto unterwegs ist; Baader schießt ihn an, gibt Gas und entkommt. Die Szene spielt 1972, etwa anderthalb Jahre nach der Gründung der „RAF“ (Mai 1970). Die anschließende Rückblende setzt die Chronologie der Ereignisse um fünf Jahre in die Mitte des Jahres 1967 zurück. Der Beginn des terroristischen „Kampfes“ fällt zusammen mit dem Anfang der Liebe zwischen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die als einzige im Film ihre Klar- und Decknamen (Hans und Grete) behalten. Ensslin ist beeindruckt vom theorielosen Aktivismus Baaders, der nach dem tödlichen Schuss des Zivilfahnders Kurras auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 gleich die Berliner Gedächtniskirche in die Luft sprengen 19 und dem Staat und seinen Repräsentanten „eins auf die Fresse“ geben will: „Was gibt’s da zu diskutieren? “ Dass Baader bald darauf den Entschluss „ich geh zur Fatah“ vor dem Pariser Grabmal der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein verkündet, enthält auch einen subtilen, mehrdeutigen Kommentar zur „ersten Generation“ der „RAF“: Lost generation lautet die von Gertude Stein geprägte Bezeichnung für die desillusionierten amerikanischen Kriegsteilnehmer nach dem Ersten Weltkrieg, für die (mit den Worten F. Scott Fitzgeralds) „all gods dead, all wars fought, all faiths in man shaken“ waren. 20 Vor dieser Folie der Desillusionierung treten die Terroristen der „ersten Generation“ der „RAF“ hervor, die einige Jahre darauf - im „Terrorjahr“ 1977 - selbst mit ihrem Leben auch den Glauben ihrer Sympathisanten an die gewaltsame Durchsetzbarkeit ihrer Ideale verloren. Die Stationen der folgenden Filmhandlung verlaufen daraufhin chronologisch bis zu jenem Punkt, an dem der am Filmanfang platzierte Moment wieder erreicht ist. Die gezeigten Taten - Banküberfälle und terroristische Attentate - sind dabei meist von einem „glatten“, rhythmischen Soundtrack 19 Vgl. auch Aust (2008), S. 61. 20 Fitzgerald (1995), S. 260. 1977 73 unterlegt, der die Pop-Ästhetik der Bilder popmusikalisch unterstreicht: Terrorgeschichte als Serie von Momentaufnahmen des schnellen, gefährlichen Lebens, das seine auf Sympathisanten wie auf Zuschauer wirkende Anziehungskraft der Erotik der Gesetzlosigkeit und des entschlossenen Anführers verdankt. Baader wird bei Roth als viriler outlaw inszeniert: Schnelle Autos, schnelles Geld - im „RAF“-Jargon: „M wie Mobilität“, „G wie Geld“ - bestimmen den beschleunigten Rhythmus eines Lebens in der Illegalität, dessen Leichtigkeit freilich mit den gleichzeitigen Situationen prekärer Isoliertheit scharf kontrastiert, in deren unsichersten Momenten (etwa bei den Banküberfällen) der Soundtrack aussetzt und eine wacklige Handkamera übernimmt. Diese Erotik des Terrorismus wird in einer Szene um die Anwerbung einer Soziologiestudentin aus der Sympathisantenumfeld besonders deutlich: Sie zeigt eine junge Frau im Ringel-T-Shirt als eine Art Groupie der „RAF“, das die Nähe des umschwärmten Stars, des erotisch attraktiven Frontmanns einer terroristischen Pop-Band, offenbar gesucht hat und sich von seinem Decknamen „Erwin“ nicht täuschen lässt: „‚Du bist der Baader, stimmt’s? ’ - ‚Ich bin der Baader.’ - ‚Wow.’“ Der terrorist leader in der Illegalität ist wie ein Popstar ebenso präsent wie unerreichbar: Im von den Terroristen ausgerufenen „Krieg“ gegen den Staat ist das normale Glück der Paarbeziehung unmöglich, wie die vergeblichen Annäherungsversuche der jungen Frau belegen. Aber der Terrorismus ist in Roths Film offenbar zum radical chic geworden - eine Faszination, welche die junge Frau später (wie ihr Vorbild, die gerade zwanzigjährige, bei einer Polizeikontrolle unter dem linken Auge tödlich getroffene Friseurin Petra Schelm) mit dem Leben bezahlt. Der Terrorismus als Pop-Phänomen dokumentiert eine Transformation von „Chock“ in „Chic“, in der sich die spätzeitliche - der politischen Aktualität enthobene - ästhetische Rezeption des bundesdeutschen Linksterrorismus besonders deutlich zeigt. „Prada Meinhof“ war der Begleittext zu einer Londoner Kunstausstellung im Jahr 2001 überschrieben. 21 Roths Baader ist nicht das einzige Beispiel für diese ästhetische Transformation: Die Pop- Ästhetik codiert das politische „Drama“ und die Sympathie mit dem Terrorismus in eine private Affäre, eine gefährliche Liebschaft um, die mit den Mythen und Legenden, den Rollen und Attributen aus der Welt des Kinos sowie der konsumistischen Warenwelt ausgestattet ist. 22 Die vielleicht radikalste Transformation des terroristischen Chocks in den pop-ästhetischen Chic hat ein Roman der amerikanischen Performance-Künstlerin Erin Cosgrove vorgenommen, der in der deutschen Ausgabe die Genrebezeichnung „ein romantisches Manifest“ trägt: The Baader-Meinhof-Affair (2002; Die Baader-Meinhof-Affäre, 2005) ist Teil von Cosgroves Trivialromanparodie-Projekt 21 Vgl. Knobbe/ Schmitz (2007), S. 192. 22 Vgl. dazu auch Tacke (2008). 74 Christoph Deupmann Seven Romance Novels und erzählt die Geschichte der „RAF“ als Romanze - wie diese Form des emplotments in der Terminologie Hayden Whites heißt 23 - allerdings nicht zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader, sondern zwischen dem studentischen Liebespaar Mara und Holden. Holden gehört einer Gruppe von „Aficionados“ an, die alljährlich „RAF-Passionsspiele“ auf dem Campus einer elitären amerikanischen Ostküsten-Universität veranstaltet. Das comichafte - von Cosgrove selbst gestaltete - Titelbild der deutschen Ausgabe zeigt bereits mit der leidenschaftlichen Kussszene und der Handgranate den pop-ästhetischen Charakter des Textes an, während die amerikanische Erstausgabe diese Ästhetik zum Trash eines Heftchenroman- Covers steigert: Der schöne männliche Held wird hier von einem Mitglied der Strip-Formation Chippendales verkörpert. Konsequenter kann die Ästhetisierung des zeitgeschichtlichen Stoffes, auf den der Roman rekurriert, nicht vollzogen werden: Cosgroves Roman übersetzt die revolutionäre Ideologie der „RAF“ in Markenlabels der konsumistischen Ökonomie - vom „Baader- Meinhof-Wagen“ BMW 2002 bis zu schusssicheren Westen von Helmut Lang und Skimasken von Gucci. Bei aller koketten Sympathie mit dem gefährlichen Leben bezeugt dieser Chic eine unpolitische, ästhetische Distanz, welche die Historizität des Stoffes zur Voraussetzung hat. Die zuletzt tödlich endende Affäre mit dem Terrorismus der „RAF“ und ihrem umschwärmten Star deutet bereits an, dass Roths Film die Geschichte des Terrorismus ebenfalls in erster Linie als Beziehungsdrama erzählt. Der einverständig-anzügliche Blickwechsel zwischen Andreas Baader und der Journalistin Ulrike Meinhof während des Frankfurter Brandstifter-Prozesses im Oktober 1968 wiederholt den zuvor gezeigten Blickwechsel zwischen Baader und Ensslin während einer Diskussion im linken Berliner Studentenmilieu nach dem Ereignis vom 2. Juni 1967, an das ihre Liebesgeschichte anknüpft. Beleuchtet werden allerdings auch die Geschlechterverhältnisse innerhalb der „RAF“: „Fotzen, Fotzen, Fotzen“ lautet der tourettartige Macho-Jargon Baaders. Die Beziehung jedoch, um die es im letzten Drittel des Films vor allem geht, ist diejenige zwischen Baader und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, der - mit alliterierendem Namen wie Horst Herold, der das Bundeskriminalamt zwischen 1971 und 1981 leitete - im Film Kurt Krone heißt (und von Vadim Glowna gespielt wird). Mit dieser Konstellation modelliert der Film die Beziehung zwischen Staat und Terrorismus zugleich als Generationendrama. Krone erscheint als die komplexeste Figur des Films: ausgestattet mit Sympathien für die rebellierende Generation, überzeugt von der Reformbedürftigkeit des Staates, aber zugleich passionierter Ermittlungs-Technokrat, der auf Rasterfahndung mit Hilfe modernster Computer-Systeme setzt („fast ein Megabite“ beträgt die Rechnerkapazität zum Staunen der Politiker anno 1971). Es gibt eine phantastische Szene 23 Vgl. White (1973). 1977 75 im Film, welche die Beziehung zwischen „Baader“ und „Krone“ auspointiert wie nur noch eine andere, mit der die Handlung schließt und von der noch die Rede sein soll. Nachdem Baader - erneut im schnellen „Baader-Meinhof- Wagen“, einem BMW-Coupé - vor dem angeschossenen Motorradpolizisten fliehen konnte, lässt Krone die Nachricht verbreiten, alle Hauptstraßen rund um Frankfurt seien gesperrt. Auf einer Nebenstraße legt der Leiter des BKA sich daraufhin allein mit einem Nachtsichtgerät auf die Lauer, um den meist gesuchten Terroristen und Staatsfeind Nr. 1 persönlich zu stellen. Das anschließende Gespräch zwischen Krone und Baader bringt weit weniger den Gegensatz zwischen dem Chefermittler und dem „Top-Terroristen“ zum Ausdruck als ihre Angewiesenheit aufeinander; Baader: „Sie brauchen uns, um aufzurüsten.“ Krone: „Und ihr braucht mich, um die bestehenden Widersprüche zu verschärfen.“ Die Unwahrscheinlichkeit der Szene lässt eine Fiktionalisierung deutlich werden, die vom Stoff der Geschichte der „RAF“ ästhetisch freien Gebrauch macht: Verfolger und Verfolgter verständigen sich über die Regeln in einem blutigen Katz-und-Maus-Spiel und philosophieren über die zirkuläre Logik von staatlicher Aufrüstung und terroristischer Herausforderung. Aber die dabei zutage tretende wechselseitige Bedürftigkeit von Staat und Terrorismus wird weiter getrieben in die persönlich intensive Beziehung zwischen Top-Terrorist und Chefermittler. 24 Christian Friedrich Delius hat dem dritten Roman seiner Trilogie zum „Deutschen Herbst’, Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992), ein Motto mit der Zuschreibung „Horst Herold, BKA“ vorangestellt, das diese Beziehung auf das (oft zitierte) Bekenntnis hin zugespitzt: „Ich habe ihn geliebt“. Im grotesk-phantastischen Schlussbild des Romans haben sich der BKA-Chef, der in der Fiktion Schäfer heißt, und der Terrorist Sigurd Nagel in einem wollüstig-schmerzhaften Kuss mit Zungen und Zähnen vereinigt. 25 Diesen freien Gebrauch der Geschichte demonstriert auch die letzte Filmsszene bei Roth. Mit der Festnahme von Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe in einem Garagenhof in Frankfurt am Main hat sich die Prognose des Ermittlers Kurt Krone erfüllt: „Eines Tages werden wir zuerst am Tatort sein.“ Ebenso aber erfüllt sich auch Baaders in der eben analysierten Filmszene geäußertes Diktum, welches die eigene Laufbahn mit einem unaufhaltsam auf den Tod sich zu bewegenden Projektil vergleicht. 26 Ähnlich wie Edels/ Eichingers Der Baader Meinhof Komplex, wenn auch weniger akribisch, rekonstruiert der Film die Falle, in welche die Terroristen am 1. Juni 1972 gerieten - bis auf eine nicht nur für die beteiligten Polizisten, son- 24 Gegen die Unterstellung einer „intensiven Hassliebe“ zwischen ihm und Andreas Baader hat sich Horst Herold häufig gewehrt; vgl. Vollmer (1987). 25 Delius (1992), Motto und S. 362. 26 Vgl. damit den Titel der Autobiographie von Karl-Heinz Dellwo (2007): Das Projektil sind wir. 76 Christoph Deupmann dern auch für die mit dem Wissen um das reale Ereignis ausgestatteten Filmzuschauer unvorhersehbare Wendung: Statt zur erfolgreichen Festnahme kommt es western like zum finalen showdown. Der Film gesteht Baader ein kontrafaktisches „heroisches“ Ende im Kugelhagel der Polizisten zu anstelle des „quälend langatmigen“ 27 Endes in Stammheim. Wenn die Filmfigur Baader, nachdem sie sich - wie in der Realität am Oberschenkel angeschossen - bereits ergeben hat, plötzlich aus dem hinteren Hosenbund zwei Revolver zieht und in auswegloser Situation ein letztes Mal das Feuer eröffnet, bezieht sich die erzählte Geschichte weit stärker auf den spektakulären Schluss der Westernkomödie Butch Cassidy and the Sundance Kid mit Paul Newman und Robert Redford von 1969 als auf die Ereignisgeschichte des Jahres 1972. 28 Aber nicht nur damit kann das Ende des Spielfilms als bildmediales Zitat gelesen werden, das der ästhetischen Fiktion gegenüber dem faktisch überlieferten Stoff den Vorzug gibt. Wenn nämlich in der letzten Einstellung der BKA-Chef Krone den Kopf des am Boden liegenden Baader hält und seitwärts emporblickt, stellt der Film das zur „Ikone“ der protestierenden Linken gewordene Pressefoto des sterbenden Benno Ohnesorg nach - und zitiert damit jenes Bild gewordene Initialereignis der linken Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland vom 2. Juni 1967, das auch der Film als Ursprung der terroristischen Radikalisierung statuiert und zugleich als Ursprung der Beziehung zwischen den Gründungsfiguren der „RAF“, Baader und Ensslin, setzt. Das zitierte Bild aber wiederholt seinerseits - mit Aby Warburgs prominent gewordenem Begriff - eine Pathosformel, 29 die in der christlichen Bildrhetorik vorgebildet ist: die Pietà, Maria mit dem Leichnam Jesu Christi. Abb.1: Sterbeszene aus dem Film Baader (Regie: Christopher Roth (Deutschland 2002)) und das Foto des tödlich verletzten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 (Quelle: Der Spiegel 21. Jg. Nr. 15 vom 12.6.1967, S. 44 (Foto: Jürgen Henschel)). 27 Knobbe/ Schmitz (2007), S. 190. 28 Denselben Film sehen sich die Protagonisten im Übrigen auch in Peter-Jürgen Books RAF-Roman Der Abgang an einem „Herbstabend 1972“ im Kino an; Boock (1988), S. 61. 29 Vgl. Warburg (2000), insbes. Abbildung 42.11, S. 76/ 77. Zum Begriff vgl. Warburgs Einleitung, S. 3a-6b. 1977 77 Dadurch ergibt sich eine Kette ikonografischer Verweisungen, so dass das pathetische Sterbebild auch als ironischer Kommentar zur religiös aufgeladenen Ikonik der westdeutschen Protestbewegung und der bundesdeutschen Zeitgeschichte gelesen werden kann. Eine ähnlich freie Adaption des zeitgeschichtlichen Stoffes hat Leander Scholz in seinem - von der Literaturkritik wenig günstig aufgenommenen - Romandebüt Rosenfest betrieben. „Andreas“ und „Gudrun“ behalten auch hier ihre Klarnamen und konspirativen Decknamen bei, ohne dass diese vermeintliche Authentifizierung der fiktionalen Adaption des Stoffes einen Abbruch tut: „Fiction is not about changing names“ lautet ein dem Roman als Motto vorangestelltes Zitat des amerikanischen Bestseller-Autors und Verfassers politischer Zeitgeschichts-Romane Don DeLillo, der 2007 in Falling Man auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 zum Thema gemacht hat. Scholz erzählt die Geschichte des Terrorismus der „RAF“ ebenfalls als Beziehungsdrama - oder anders gesagt: erneut als Romanze - zwischen ihren Gründungsfiguren „Andreas“ und „Gudrun“. Wie bei Roth wird ihre erste Begegnung mit der Erschießung Benno Ohnesorgs enggeführt. Das Ende des Romans synchronisiert schließlich, ebenfalls auf kontrafaktische Weise, das Attentat auf das Hamburger Haus der Springer-Presse am 19. Mai 1972 mit einem blutigen showdown, bei dem „Andreas“ im Kugelhagel der Polizei niedergeschossen wird, während „Gudrun“ bald darauf, nachdem sie sich „in eine kleine Boutique geflüchtet hat“, 30 festgenommen wird (tatsächlich erfolgte ihre Festnahme in einer Hamburger Boutique erst zweieinhalb Wochen später, am 7. Juni 1972). Auch Scholz’ Roman geht von der primären Realität der technisch bebilderten Geschichte aus. Scholz schreibt in einem Essay mit dem Titel Hyperrealität oder das Traumbild der RAF: „Ein Jahrhundert liegt hinter uns, in dem Geschichte nicht geschrieben, sondern gefilmt worden ist.“ 31 Der Versuch, die Geschichte der „RAF“ oder ihrer Leitfiguren zu erzählen, sieht sich auf einen Primat der Bilder verwiesen, der auch für die Fiktion kaum hintergehbar erscheint: „Es kann nicht oft genug gesagt werden, dass da kein Außen der Repräsentation anzusteuern ist.“ 32 Die „romantische“ Adaption konfiguriert jedoch den umfassend medialisierten Stoff neu, um seinen mythischen Charakter offenzulegen. Mit dem Zitat der Sterbeworte Christi (nach Mt 27, 46) durch Andreas, die in Gudruns Phantasie nachklingen: „Gudrun! Warum verlässt du mich? “ 33 scheint die Hagiografie des Terroristenpaars ihren Gipfel erreicht zu haben; aber die Adaption der heilsgeschichtlichen Folie löst deren Semantik auf und kehrt sie so als ästhetisches Formular hervor. Und wenn es am Ende anlässlich der Festnahme Gudruns mit Bezug auf die Verkäuferin 30 Scholz (2001a). 31 Scholz (2001b), S. 214. 32 Ebd. S. 215. 33 Scholz (2001a), S. 235 und zuvor schon S. 39. 78 Christoph Deupmann in der Boutique heißt: „Sie telefoniert, damit die Geschichte endlich ein Ende hat“, 34 dann gibt das Erzählen das strukturelle Gesetz seiner selbst zu erkennen: seine „Motivation von hinten“, die Clemens Lugowski als Analogon des Mythos beschrieben hat. 35 Auch der Mythos der „RAF“ verdankt sich ikonografischen und narrativen Mustern, die in den filmischen und literarischen Erzählungen Roths und Scholz’ ausgestellt werden. 3. Postdramatisches Diskurstheater: Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart Knapp dreißig Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ hat Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. Königinnendrama (2006) die Protagonistin der ersten Generation der „RAF“, Ulrike Meinhof, in einen dramengeschichtlichen Kontext zwischen den Königsdramen Shakespeares und der Geschichtsdramatik Schillers gestellt. 36 Eine Analyse des Stücks wird freilich dadurch erschwert, dass die Autorin den Text nur für Theateraufführungen zur Verfügung gestellt hat. Jelineks Drama überantwortet sich dem Theater so vollständig, dass die Kategorie der Autorschaft zusammen mit der theaterkritischen Kategorie der „Werktreue“ unanwendbar wird. Die folgenden Überlegungen beziehen sich daher auf die Beiträge und Szenenaufnahmen, die im Kontext von Nicolas Stemanns Aufführung am Hamburger Thalia-Theater am 28. Oktober 2006 veröffentlicht wurden, 37 sowie eine Aufführung am Badischen Staatstheater in Karlsruhe in der Spielzeit 2007/ 08. Jelineks Stück ist ein Musterbeispiel des „postdramatischen Theaters“: Weder gibt es eine rekonstruierbare Handlung, noch legt der Text die Anzahl der Figuren, d.h. differenzierbare Sprecher-Rollen und Zuordnungen (wie etwa zu Ulrike Meinhof, die der Titel mit Schillers Maria Stuart zusammenrückt) fest. Stattdessen gibt es Stimmen, zwischen denen das Textmaterial frei flottiert, und Körper, die in Stemanns Inszenierung mit Hilfe von Perücken ihre Rollen buchstäblich an- oder ablegen. Die Figuren sprechen Textelemente, die nicht ihre eigenen sind: Jelineks Regieanweisung lautet, die Figuren ihres Dramas seien „nicht mit sich ident“, 38 so dass das Prinzip der persönlichen wie der politischen Identifikation schon formal storniert wird. Was die Geschichte der „RAF“ bzw. Ulrike Meinhofs angeht, so un- 34 Scholz (2001a), S. 245. 35 Lugowski (1994). 36 In Katrin Hentschels Terroristinnen - Bagdad ’77 wird ebenfalls eine Parallele zwischen Ulrike Meinhof und Maria Stuart gezogen: „TERRORISTIN III: „Ein Gräuel ereignete sich im Jahre 1976. Die Königinmutter verendete im Tower.“ Hentschel (2009), S. 22. 37 Gutjahr (2007). 38 Vgl. Gallas (2007), S. 97. 1977 79 ternimmt das Stück den Versuch einer „entmythologisierenden Dekonstruktion“, wie der Dramaturg Benjamin von Blomberg die Hamburger Aufführung erläutert hat. 39 Damit schließt es sich auf eigenwillige, ästhetisch ganz andere Weise an die zuvor untersuchten Romane und Filme an. Dass diese Dekonstruktion des „Mythos“ auch fast drei Jahrzehnte nach 1977 keine ganz obsolete Angelegenheit ist, wird etwa an dem Umstand deutlich, dass noch im Jahr 2005 eine Ausstellung über den Mythos RAF aufgrund der Skandalisierung durch Medien und Politik schließlich den neutralen Titel Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF erhielt. 40 Ulrike Maria Stuart ist eine Montage fragmentierter Diskurse, überlieferter Zitate und Fiktionen, ein virtuoses Sprachschauspiel, in dem vor allem ungemein viel geredet wird. Im Jahr vor der Hamburger Erstaufführung hat Elfriede Jelinek im Special-Heft der Zeitschrift Literaturen eine Art Poetik für das Stück entworfen: „Es wird nichts als geredet, und die Redenden warten sofort, kaum haben sie ausgesprochen (nicht: sich ausgesprochen), daß noch mehr Rede ankommt, die sie gleich weitergeben können. Was sollte auch sonst kommen? “ 41 Dennoch stellt sich in der Vielzahl der widerstreitenden Stimmen ein wiederkehrendes Thema heraus: das Beziehungsdrama der „Mutter Meinhof“, die den Rollenkonflikt zwischen Mutter und Revolutionärin zu Ungunsten ihrer Töchter entschied. Wie Gudrun Ensslin verriet Ulrike Meinhof die eigenen Kinder für die revolutionäre Sache, nachdem sie zuvor engagierte Reportagen über Heimkinder schrieb. Statt dessen bringt die Stimme der „Ensslin“ im Stück ihrem „Baby“, das zunächst nur „Fotze“ sagen kann, das Sprechen bei; dieses „Baby“, heißt es im Stück, „hat nur aus ihr gelebt und sie aus ihm.“ Die Terroristen der „RAF“ bilden auch hier offenbar eine Gemeinschaft, die - Stefan Austs kritischer Einschätzung entsprechend - „von Anfang an vor allem um sich selbst“ kreist. 42 Über diese Beziehungs- und Generationenkonflikte aber kommt das Politische wieder ins Spiel: Denn die zitathaft aufgerufenen Fragmente des „Mythos RAF“ kontrastieren scharf mit einer weitgehend entpolitisierten Gegenwart der Post-Achtundsechziger, die vor der Folie des linken Terrorismus als Haltung der Haltungslosigkeit erscheint. Ihr kann die Vergangenheit zur Projektionsfläche romantischer Sehnsüchte werden, die sich auf genau jene Eindeutigkeiten der politischen Positionierung richten, welche das Drama strukturell verweigert oder verneint: „Ach wie gern hätten wir die repressiven ideologischen Apparate noch erlebt“, singen die „jungen Prinzen“ in Stemanns Inszenierung. Weniger geht es im Stück also um die „RAF“ als historische Erscheinung als um die eigene, globalisierte Gegen- 39 Anders, Blomberg (2007), S. 112. 40 Dazu Biesenbach (2005). 41 Elfriede Jelinek: „Sprech-Wut (ein Vorhaben)“. In Literaturen-Special 1/ 2 (2005), zitiert nach Fliedl (2007), S. 61. 42 Vgl. Aust/ Geyer/ Schirrmacher (2007). 80 Christoph Deupmann wart, in der die Macht abstrakt geworden und konkrete Feindbilder weitgehend abhanden gekommen sind. Auch die Sehnsucht nach politischer Übersichtlichkeit und der Möglichkeit kämpferischer Positionierung kann sich offenbar nur artikulieren, indem sie einen schon antiquiert anmutenden, ideologiekritischen Jargon reproduziert („repressive ideologische Apparate“) - so dass das Begehren nach politischem Sinn selbst in den geschlossenen Zirkel der Zitate gerät. Das Theater, das sich als Theater inszeniert, kündigt nicht nur jeden mimetischen Bezug auf die Geschichte auf, sondern gesteht auch der Perspektive der Gegenwart mit ihrer Tendenz zur romantischen Verklärung keine „authentische“ Stimme zu. Jelineks/ Stemanns Theater operiert deshalb, wie die Karlsruher Inszenierung, nicht zuletzt mit den Formen der medialen Unterhaltungsindustrie: mit Fotoprojektionen, in denen das Bild Ulrike Meinhofs in das Porträt Angela Merkels hinübergespielt („gemorpht“) wird, oder mit historischen Fernsehbildern vom Tatort der Ermordung Siegfried Bubacks und seiner Begleiter am 7. April 1977, die auf eine Filmaufnahme der sommerlichen Straßenkreuzung Moltkestraße und Willy Brandt-Allee projiziert werden. Und schließlich bringt Jelineks Stück auch die Möglichkeit populärer Mythisierungen des „RAF“-Terrorismus und der „Nacht von Stammheim“ als Zäsur der deutschen Geschichte ins Spiel, wenn es - ironisch angelehnt an Bernd Eichingers und Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) über die letzten Tage im Berliner „Führerbunker“ - von einem fiktiven Filmprojekt mit dem Titel „Der Untergang 2“ 43 die Rede sein lässt. * In einer Rede im Begleitprogramm zur Karlsruher Inszenierung von Jelineks Stück, das mit dem Gedenkjahrstitel „30 Jahre Deutscher Herbst“ überschrieben war, mahnte der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm, „Einspruch einzulegen: Gegen die ‚Deckel drauf Mentalität’ irregeleiteter ‚Humanisten’, gegen jede Art von Verfälschung des kollektiven Gedächtnisses und nicht zuletzt gegen eine ausschließliche literarische Aufarbeitung der Vergangenheit, die das Ziel verfolgt, mit Geschichten die Geschichtsschreibung zu ersetzen.“ 44 Die untersuchten Beispiele machen indes deutlich, dass die „Geschichten“, die in Literatur, Theater und Film der Gegenwart vom Linksterrorismus der siebziger Jahre erzählt werden, keineswegs mit der „Geschichtsschreibung“ in Konkurrenz treten wollen. Vielmehr geht es um die ästhetische Auseinandersetzung mit einer im „Deutschen Herbst“ 1977 kulminierenden Geschichte, die längst auf dem Wege umfassender 43 Vgl. Klein (2007), S. 76. 44 Nehm (2007), S. 43. 1977 81 Medialisierung und Myth(olog)isierungen ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingetragen wurde. Literaturverzeichnis Anders, S. und B. von Blomberg: „Jelinek-Texte auf dem Weg zum Stück. Über dramaturgische Extrembedingungen“. In: O. Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann. Würzburg 2007, S. 109-119 Aust, S.: Der Baader Meinhof Komplex. München 2008 Aust, S., C. Geyer und F. Schirrmacher: „Wer die RAF verstehen will, muss ‚Moby Dick lesen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.8.2007, S. 31. Biesenbach, K.: „Engel der Geschichte oder Den Schrecken anderer betrachten oder Bilder in Zeiten des Terrors“. In: ders. (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF. 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Für die Bewohner Amerikas hatte die Konfrontation mit den Europäern bekanntlich eine gravierende Erschütterung ihrer politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Systeme zur Folge, an der sie bis heute zu tragen haben. Aber auch für das christliche Europa war die Erkenntnis, dass der bis 1492 bekannte orbis christianus nicht mit der universalen Weltordnung gleichzusetzen sei, ein schwerer Schock. Allerdings ist es den Europäern im Gegensatz zu den Amerikanern rasch gelungen, dieses Schockerlebnis durch Integration der Neuen in die Alte Welt zu überwinden. Nachdem Papst Paul III. sich 1537 in der Bulle Sublimis Deus ausdrücklich veranlasst sah, den Indios den Status von menschlichen und vernunftbegabten Wesen zuzusprechen, war auch die rechtliche Grundlage für ihre Eingliederung in die christliche Heilsordnung gegeben. 1 Die offizielle Zuerkennung des menschlichen Status bedeutete allerdings keineswegs die Anerkennung der Indios als gleichberechtigte Wesen. Das Verhältnis von Alter und Neuer Welt war vielmehr von den Kategorien von Superiorität und Inferiorität geprägt, wobei sich das Überlegenheitsgefühl der Europäer auf alle Bereiche der gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Wirklichkeit bezog. 2 Ethno-, Euro- und Christozentrismus führten zugleich zu einem triumphalistischen Konquista-Diskurs, der die Erfahrung des „Anderen“ negierte, das Fremde notfalls auch gewaltsam in das Eigene überführte und ihm jegliche Autonomie aberkannte. Das europäische Überlegenheitsgefühl verursachte eine geistige Blockade, die ein echtes Verständnis des Fremden verhinderte. 3 Erst mit dem Auseinanderfallen der 1 Hölz (1998). 2 Todorov (1982). 3 Greenblatt (1991). 84 Wilfried Floeck einheitlichen Weltordnung des Abendlandes im Verlauf des 20. Jahrhunderts und seit dem Zerfall universaler religiöser sowie profaner Heilslehren und Theoriemodelle im Zeitalter von Postkolonialismus und Postmoderne haben sich sowohl die Selbsteinschätzung der Neuen Welt als auch der Blick des Zentrums auf die Peripherie verändert. Zunächst in Lateinamerika, aber nur wenig später auch in Europa wurde der triumphalistische Konquista- Diskurs weitgehend in Frage gestellt und durch neue Perspektiven ersetzt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand ein Dialog zwischen den Kulturen und entwickelten sich Formen von Interkulturalität und Hybridisierung, die einen zunehmenden Austausch der unterschiedlichen kulturellen Systeme ermöglichen. 4 Diese Entwicklung, deren erster Höhepunkt in der Zeit um die Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas lag, führte zu einem erneuten Paradigmenwechsel und einer erneuten Zäsur. Diese hatte auch erhebliche Konsequenzen für den Repräsentationsdiskurs der Konquista im europäischen, lateinamerikanischen und nordamerikanischen Theater und Film der letzten Jahrzehnte zur Folge. 5 In den letzten Jahrzehnten ist die Rekonstruktion der Eroberungsgeschichte - in der Literatur ebenso wie im Film - größtenteils geprägt durch eine kritische Überprüfung des offiziellen und triumphalistischen Diskurses, durch eine Vielzahl von Perspektiven, durch die Miteinbeziehung indigener Sichtweisen, durch eine interkulturelle Perspektive und schließlich nicht zuletzt durch eine metafiktionale Reflexion über die Probleme, die die Rekonstruktion der historischen Wahrheit bereitet. Gleichzeitig beschränken sich diese Rekonstruktionsversuche nicht auf die Betrachtung der historischen Wahrheit als Vergangenheit, sondern als Prozess, dessen Folgen und Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Alle erwähnten Aspekte finden sich in den literarischen und filmischen Werken über die Konquista der letzten Jahrzehnte, besonders aber in den meisten Produktionen der achtziger und neunziger Jahre, die anlässlich der Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung 1992 in Spanien und Lateinamerika zustande kamen. Daneben entstehen allerdings gleichzeitig zahlreiche Werke, in denen der idealisierende und heroisierende Repräsentationsdiskurs in Bezug auf die Darstellung der großen Entdecker und Konquistadoren - allen voran Kolumbus und Cortés - weiterlebt. Solche Werke finden sich naturgemäß häufiger in Europa, vornehmlich in Spanien, und zwar in erster Linie in Werken, die mit finanzieller Unterstützung oder in direktem Auftrag staatlicher Institutionen entstanden sind. Dazu gehören vor allem die im Auftrag der „Sociedad Estatal des Quinto Centenario“ produzierte und 1989 in Barcelo- 4 Herlinghaus/ Walter (1997), Waldenfels (1997), Weimann (1997). 5 Meyran (1999), Solloch (2005), Fendler/ Wehrheim (2007), Floeck (2009), S. 9-37, Rings (2010), Sandner (2011). Fünfhundert Jahre später 85 na uraufgeführte Oper Cristóbal Colón mit der Musik von Leonardo Balada und dem Libretto des bekannten Dramatikers Antonio Gala mit José Carreras und Montserrat Caballé in den Hauptrollen sowie die beiden filmischen Blockbuster, in deren Mittelpunkt ebenfalls Kolumbus und seine Entdeckungsreisen stehen: die britische Produktion Christopher Columbus - The Discovery unter der Regie von John Glen, offizieller Film der spanischen „Sociedad Estatal des Quinto Centenario“, und die britisch-französischspanische Koproduktion 1492 - Conquest of Paradise in der Regie von Ridley Scott, mit Gérard Depardieu in der Rolle des Kolumbus, eine Produktion, die vom Spanischen Kulturministerium gesponsert wurde. Beides waren Megaproduktionen im Hollywood-Stil mit Produktionskosten von über 40 Millionen Dollar. Beide lieferten sich einen heißen Wettkampf um die Gunst des Publikums, den der Film Ridley Scotts mit Abstand gewann. Während die Produktion Glens von der Kritik als schlechter Abenteurerfilm verrissen wurde und auch beim Publikum trotz der Mitwirkung von Marlon Brando in der Nebenrolle des Großinquisitors Torquemada nicht ankam, konnte 1492 aufgrund der ästhetischen Fähigkeiten Scotts, der Filmmusik von Vangelis und der überragenden schauspielerischen Leistung Depardieus zumindest einen enormen Publikumserfolg verbuchen. Beide Filme zeigen einen idealisierten, fast mythisch überhöhten Kolumbus, der ganz dem traditionellen triumphalistischen Konquista-Diskurs entsprach, wobei freilich Scott dem positiven Haupthelden mit dem spanischen Adligen Adrián de Móxica einen negativen Antihelden entgegenstellte, an dem Kolumbus’ Vision einer wirklich neuen, positiven Welt letztlich scheiterte. Der vorliegende Beitrag präsentiert zwei Modelle, die zugleich auch die Kontroverse um die Bedeutung des Quinto Centenario für die Neue Welt illustrieren, eine Kontroverse um die Begriffe „Begegnung“ oder „Konfrontation“, die übrigens nicht nur zwischen Spanien und Lateinamerika, sondern auch innerhalb Spaniens und innerhalb einzelner lateinamerikanischer Länder ausgetragen wurde. Zur Illustration des traditionellen Repräsentationsdiskurses dient Scotts Film 1492, zumal er auch die Brüche dokumentiert, die der triumphalistische Diskurs um das Jahr 1992 herum erlebte. Das Gegenmodell bildet der Film des mexikanischen Regisseurs Nicolas Echevarría Cabeza de Vaca, der mit Álvar Núñez Cabeza de Vaca einen gescheiterten Helden der Konquista zur Hauptfigur gewählt hat und der zugleich als Beispiel für die interkulturelle Begegnung von europäischer und indigener Kultur betrachtet werden kann. Da der Film Echevarrías für die postkoloniale Diskussion der Konquista-Problematik interessanter erscheint, sollen aus dem Film von Scott nur einige wenige Aspekte herausgegriffen werden, Aspekte, die vor allem die Idealisierung des Kolumbus sowie den Kontrast zwischen „weißer“ (Kolumbus) und „schwarzer“ (Móxica) Legende illustrieren. 86 Wilfried Floeck 1492 zwischen „weißer“ und „schwarzer“ Legende Ridley Scott ging es in seinem Film um ein Historienepos mit durchaus authentischem Anspruch. Aber Scott ging es sicherlich auch und in erster Linie um die Darstellung des Menschen und Helden Kolumbus. Er zeichnete dabei ein Kolumbusbild, das keineswegs immer der Wirklichkeit entsprach. Während die moderne Historiographie in Kolumbus einen typischen Schwellenmenschen sieht, der mit einem Bein im Mittelalter und mit dem anderen in der Moderne stand, auf der einen Seite traditionsbewusster religiöser Visionär sowie ganz traditioneller europäischer Vorstellung und Sehgewohnheit verhaftet, auf der anderen Seite moderner Nautiker und neugieriger Wissenschaftsgeist, auf der einen Seite überzeugt von seiner religiösen und zivilisatorischen Mission, auf der anderen Seite machtbewusst und auf seinen materiellen Vorteil bedacht, gleichzeitig hervorragender Seemann und schlechter Gouverneur 6 , zeigt Scott ihn als modernen Helden und Gutmenschen, der allein an seiner bornierten, reaktionären spanischen Umgebung scheitert. „Intendiert war eine realistische und zugleich menschliche Darstellung“, heißt es jüngst bei Rowena Sandner, „herausgekommen ist eine heroisierende und z.T. durchaus mythisierende Darstellung des Entdeckers.“ 7 Kolumbus wird als Visionär gezeichnet, aber nicht in erster Linie als religiöser, sondern als moderner, aufgeklärter Visionär im Gegensatz zu spanischem Mittelalter und Aberglauben. „Mit viel Pathos wird hier [zu Beginn des Films] das grundsätzliche Thema des Films aufgebaut“, schreibt Monika Wehrheim in ihrer Analyse des Films, „Kolumbus wird zum gegen Borniertheit und Aberglauben kämpfenden Einzelnen stilisiert, der im Leben scheitert, weil er seiner Zeit voraus ist und den allein die Geschichtsschreibung in seiner wahren Größe rehabilitieren kann“ 8 . Diese Vision durchzieht leitmotivisch den gesamten Film, wobei Kolumbus als Verkörperung des Lichtes und der Aufklärung den ersten und Móxica als Inkarnation von Obskurantismus und Grausamkeit den zweiten Teil des Films prägen. Filmästhetisch wird dies vor allem durch Lichteffekte (Hell-Dunkel- und Weiß-Schwarz-Kontraste) sowie durch einen pathetisch-emotionalen Soundtrack zum Ausdruck gebracht sowie durch Figurenzeichnung und Kommentare etwa im Vorspann unterlegt und verstärkt. 6 Bitterli (1992, Ed. 3), Wawor/ Heydenreich (1995), Kohler (2006), Gewecke (2006). 7 Sandner 2011. 8 Fendler/ Wehrheim (2007), S. 10. Fünfhundert Jahre später 87 Der Film setzt gleich mit zwei Schlüsselszenen ein, die den Kontrast zwischen Kolumbus und seiner spanischen Umgebung demonstrieren. Nach einem Vorspann, in dem in einem kurzen Text das Spanien des späten 15. Jahrhunderts als ein Land charakterisiert wird, in dem Aberglauben und Furcht vor König und Inquisition die Bewohner beherrschten und ein Mann, von der Vorsehung geleitet, diese Macht herausforderte, um seinen Traum und seine Vision zu verwirklichen, zeigt die erste Szene Kolumbus, wie er seinem kleinen Sohn Fernando, seinem späteren ersten Biographen, anhand eines am Horizont verschwindenden Schiffes und einer Orange erläutert, dass die Erde rund ist. Wenig später erlebt er mit Fernando in Palos de la Frontera, dem Ausgangshafen seiner ersten Expedition im Südwesten Spaniens, ein Autodafé, zu dem das Volk neugierig und sensationslüstern in Massen hinströmt, von dem er selbst sich aber angewidert abwendet. Beide Szenen dienen vor allem dazu, den Kontrast zwischen der Lichtgestalt des Kolumbus und der in tiefem Aberglauben gefangenen spanischen Gesellschaft aufzuzeigen. Musik, Licht, Zeitlupe sowie der Wechsel von Totale und Zoom auf die heroische Lichtgestalt rücken Kolumbus in geradezu mythische Überhöhung. Die idealisierte Idylle, die Kolumbus von seiner ersten Begegnung mit der Neuen Welt in seinem Bordbuch geschildert hatte und die Scott im ersten Teil seines Films nachzeichnet, weicht nach der Ankunft der Spanier auf Hispaniola bei der zweiten Expedition einem düsteren Bild. Die zurück gelassenen 39 Seeleute sind allesamt tot. Ein Teil der Spanier unter der Führung des Adligen Adrián de Móxica ruft nach Rache, was Kolumbus zunächst noch zu verhindern weiß. Der Gegensatz zwischen der Lichtgestalt des Kolumbus und dem ganz in Schwarz gekleideten und auf einem arabischen Rappen reitenden Móxica wird immer stärker in Szene gesetzt, am eindrucksvollsten in der Sequenz, in der Kolumbus den Adligen zwingt, sein Pferd zur Verfügung zu stellen, um die schwere Glocke in der neu errichteten Kirche in den Turm zu heben. Das neue bürgerliche Arbeitsethos trägt in dieser Szene noch einen Sieg über den stolzen und parasitären Adelsgeist davon. Kolumbus’ Sieg wird auch hier wieder eindrucksvoll durch die Musik von Vangelis untermalt, die in Deutschland ja vor allem als Einzugshymne Henry Maskes in die Boxarena bekannt geworden ist. Kolumbus’ Sieg währt freilich nicht lange. Móxica demonstriert zunehmend brutaler seine Grausamkeit und Rachegelüste. Er trägt entscheidend dazu bei, dass das Zusammenleben zwischen Spaniern und Eingeborenen scheitert und in einem totalen Chaos versinkt. Am Ende kann Kolumbus den Adligen gar stellen, der sich in auswegloser Situation in theatralischer Pose in den Abgrund stürzt, doch die friedliche Begegnung mit der Neuen Welt ist nicht von Erfolg gekrönt. Kolumbus ist freilich der moralische Sieger und der Visionär, dessen Traum allein an der Borniertheit und primitiven Brutalität seiner spanischen Umgebung scheitert. 88 Wilfried Floeck Soweit das erste Beispiel, der Film Ridley Scotts, der zumindest im Hinblick auf den Helden Kolumbus noch ganz in der Tradition des triumphalistischen Konquista-Diskurses steht. Der „Conquistador conquistado“: Cabeza de Vaca als kultureller Grenzgänger Ganz anders der Film Cabeza de Vaca des mexikanischen Regisseurs Nicolás Echevarría aus dem Jahr 1990, der das Gegenteil einer kommerziellen Produktion darstellt und dem neuen mexikanischen, experimentellen Film zuzurechnen ist. In seinem Mittelpunkt steht auch nicht mehr eine Lichtgestalt der Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte, sondern ein gescheiterter Held, Álvar Núñez Cabeza de Vaca, der Chronist der fehlgeschlagenen Florida-Expedition des Konquistadors Pánfilo de Narváez, der neun Jahre als Gefangener und Wunderheiler unter den Indios lebte und dessen kulturelle Erfahrungen auch erhebliche Konsequenzen für seine eigene Identität zeitigten. Echevarría liefert uns einen Film, in dem die Sicht der Besiegten und die Probleme, die die Interkulturalität aufwirft, sowie die Reflexion über die Problematik authentischer Geschichtsrekonstruktion im Zentrum stehen. Was passierte tatsächlich zwischen dem Eroberer Álvar Núñez Cabeza de Vaca und den Indígenas, mit denen er während seiner achtjährigen Odyssee zusammentraf, die ihn zwischen 1528 und 1536 als Sklaven, Händler und Wunderheiler von Florida an die mexikanische Pazifikküste führte? In seinem Bericht, den er unter dem Titel Naufragios an Kaiser Karl V. schickt, beschreibt Cabeza de Vaca seine Erfahrungen „mit solcher Gewissheit, dass man, obwohl man darin einige höchst neue und für manche Leser kaum glaubhafte Dinge lesen kann, diesen doch ohne Zweifel Glauben schenken kann“. 9 Aber bereits zu seiner Zeit beschuldigten ihn die anderen Überlebenden der Expedition, die Wahrheit nach seinen eigenen Interessen verfälscht zu haben, indem er sich mit der Aura eines Märtyrers und christlichen Messias umgab und vor allem seine wundersamen Fähigkeiten zur Krankenheilung betonte. Er insinuiert dem Leser sogar die Auferweckung eines toten Eingeborenen. Andererseits erlaubten ihm genau diese Interessen nicht, den Akzent auf eine möglicherweise zu enge Beziehung zu den Indios, zu ihrer Kultur und ihrer Religion zu legen. Bei den wundersamen Heilungen bemüht er sich stets, die Hilfe von „Dios nuestro Señor“ zu betonen, obwohl zwischen den Zeilen Techniken eines indigenen Schamanismus zu erkennen sind. Und das Wichtigste ist, dass Cabeza de Vaca nicht über seine Beziehung zu den Indígenas und die Essenz der fremden Identität im 9 „[…] con tanta certinidad, que aunque en ella se lean algunas cosas muy nuevas, y para algunos muy difíciles de creer, pueden sin duda creerlas” (Núñez [1989], S. 76). Fünfhundert Jahre später 89 Vergleich mit der eigenen reflektiert. Der Text der Naufragios von Álvar Núñez ist tatsächlich ein ausgezeichnetes Beispiel für das, was Greenblatt die intellektuelle Blockade der Europäer nannte, zeigt jedoch zugleich eine zunehmende gefühlsmäßige Annäherung des Spaniers an die amerikanische Kulturwelt. Am Ende seiner Odyssee distanziert sich Cabeza de Vaca unmerklich von seinen gerade wiedergefundenen Landsleuten und verwandelt sich in einen Beschützer der Indígenas gegen die Aggressionen der ersteren. 10 Diese zunehmende Sympathie für die Eingeborenen - die Cabeza de Vaca zu einem der ersten Botschafter der Alten in der Neuen Welt macht - ist sicher einer der Gründe, die diverse zeitgenössische Künstler zu einer erneuten Lektüre des Textes der Naufragios inspiriert hat mit der Absicht, seine Lücken zu füllen und unter der diskursiven Darstellung einen Subtext zu finden, der eine latente Akkulturation enthüllt, die jedoch niemals offen ausgesprochen wird. Das Theaterstück Naufragios de Álvar Núñez von José Sanchis Sinisterra von 1991 und der Film von Echevarría von 1990 sind zwei repräsentative Beispiele für diese neue Lektüre unter interkulturellem Vorzeichen. In Sanchis‘ Werk veranlassen die eigenen Kameraden Cabeza de Vaca dazu, auf der Bühne seine eigene Odyssee zu erinnern und erneut zu durchleben. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die Art des Berichts, den er abgibt, sondern auch die Art seiner Auswahl aus der großen Menge der historischen Figuren und Ereignisse. Den historischen Figuren hat Sanchis Sinisterra drei fiktive Charaktere zur Seite gestellt, die ihr Recht auf eine historische Existenz und die Darstellung ihrer Version der Ereignisse einfordern. Unter ihnen sticht die Indígena Shila hervor, die die Sicht des „Anderen“, des Fremden, verkörpert. Die Stimme Shilas erbittet das Wort, um ihr Recht auf Existenz zu einzufordern und den Bericht des Chronisten zu korrigieren. So verbindet sich die Problematik der Rekonstruktion der historischen Gegebenheiten untrennbar mit dem Thema der interkulturellen Begegnung. Diese hat Sanchis erneut als Scheitern dargestellt, da schließlich die Synthese aus dem Eigenen und dem Fremden, die Utopie der „nostredad“, nicht verwirklicht wird. Das Thema des Scheiterns entspricht einer „Struktur des Scheiterns“, die in einer äußerst komplexen experimentellen Ästhetik zum Ausdruck kommt, in der sich die Vergangenheit gleichzeitig in eine Konfrontation mit der Gegenwart verwandelt. Die Ausgegrenzten des 16. Jahrhunderts verwandeln sich zugleich in die Verkörperung und das Symbol der Entwurzelten unserer modernen multikulturellen Gesellschaften. Die Neuinterpretation der Chronik von Álvar Núñez Cabeza de Vaca durch Sanchis Sinisterra ruft nicht nur ein Nachdenken über die Vergangenheit, sondern auch über die gegenwärtige Situation hervor. Trotz des Scheiterns der Begegnung der Kulturen erhalten der indigene Blickwin- 10 Floeck (2003). 90 Wilfried Floeck kel und die Annäherung des Protagonisten an die indigene Welt eine immer größere Bedeutung. Der Protagonist wird schließlich und endlich zum Pilger zwischen zwei Welten und erweist sich gezeichnet durch die „herida del otro”. 11 Nicolás Echevarría geht noch einen Schritt weiter. Der mexikanische Regisseur sieht in Cabeza de Vaca einen kulturellen Grenzgänger, der seine eigene Identität als christlicher Spanier gegen die des indigenen Schamanen vertauscht und sich vollständig an die radikale Andersartigkeit der magischen Welt der amerikanischen Realität angepasst hat. Das Phänomen des kulturellen Überläufers bzw. Grenzgängers ist seit dem Beginn der Eroberung bekannt. Im Allgemeinen passten sich jedoch die Angehörigen indigener Kulturen unter dem situationsbedingten Druck der Kultur der Eroberer an und vollzogen diverse kulturelle Hybridisierungsprozesse. Der Fall der Indígena Malinche, christianisiert als Doña Marina, ist nicht das erste, sicherlich aber das bekannteste Beispiel; sie erwies Cortés, dem sie Geliebte und Dolmetscherin war, während der Eroberung des Reiches Montezumas unzählige Dienste. 12 Im Gegensatz dazu dürfte das Auftreten von kulturellen Deserteuren auf christlicher Seite eher selten oder uns zumindest nicht so bekannt geworden sein. Die Chronisten sprechen manchmal von christlichen Gefangenen bei indigenen Völkern, die Schiffbrüchige oder Angehörige gescheiterter Expeditionen waren. Oft hatten sie viele Jahre hindurch als Sklaven unter den Eingeborenen gelebt und sich an ihre Lebensweise gewöhnt; später dienten sie häufig den Konquistadoren als Dolmetscher. 13 Die bekanntesten Fälle sind die beiden spanischen Soldaten, Jerónimo Aguilar und Gonzalo Guerrero, die von den Indígenas gefangengenommen worden waren und jahrelang als Sklaven auf der Halbinsel von Yucatán gelebt hatten, bis Cortés sie mit seinem Expeditionskorps fand und befreite. Aber während Aguilar zu den Christen zurückkehrte und Cortés als Dolmetscher diente, wies Guerrero, der inzwischen eine Eingeborene geheiratet und sich völlig akkulturiert hatte, seine „Befreiung” zurück. „Guerrero is for Bernal Díaz”, schreibt Greenblatt, „a disastrous instance of the failure of blockage. The self had collapsed into the other”. 14 Der Calvinist Nicolás Barré berichtet in seinen Chroniken vom Fall eines französischen Dolmetschers, der viele Jahre mit einer Indígena, einer „Hure”, wie er sie nannte, gelebt hatte, und schließlich nicht mehr in der Lage war, „wie ein ehrbarer Mann in der christlichen Gemeinschaft zu leben“ 15 ). Auch 11 So Serrano in: Sanchis Sinisterra (1996), S. 31 ff., vgl. dazu auch: Floeck (1998), Hüttmann (2000), S. 209 ff., Rings (2010), S. 136 ff. 12 Cypress (1991), Wurm (1997). 13 Greenblatt (1991), S. 96 ff. u. 140; Bitterli (1992), S. 124 u. 339; Wurm (1996), S. 187; Wicht (1997), S 201. 14 Greenblatt (1991), S. 141. 15 Zitiert nach: Gewecke (1992), S. 164. Fünfhundert Jahre später 91 unter den Teilnehmern der Florida-Expedition des Pánfilo de Narváez tauchen neben Álvar Núñez und seinen drei Gefährten, die den Rückweg in die christliche Welt gefunden hatten, einige auf, die als kulturelle Grenzgänger oder Überläufer unter den Eingeborenen überlebt hatten. Während der folgenden Florida-Expedition unter dem Oberbefehl von Hernando de Soto fanden die Spanier 1539 einen Soldaten mit Namen Juan Ortiz, der in gutem Einvernehmen mit den Indígenas lebte. Cabeza de Vaca schildert ebenfalls in den Naufragios den Fall seines Gefährten Lope de Oviedo, der sich erst nach langen Jahren des Zögerns bereit fand, einen Stamm, mit dem er ohne Probleme lange Jahre hindurch gelebt hatte, wieder zu verlassen und sich mit den Christen auf den Weg nach Westen zu begeben, und der sich angesichts der gefährlichen Bedingungen, unter denen ein anderer Stamm lebte, dessen Gebiet sie durchquerten, plötzlich entschied, wieder zu seinen indigenen Freunden zurückzukehren. 16 Bekannt ist auch die Geschichte des portugiesischen Soldaten Diego Álvares Correia, der 1510 an der brasilianischen Küste Schiffbruch erlitt und unter dem Namen Caramuru sogar zum Häuptling eines indigenen Volkes aufstieg. Todorov betrachtet derartige Fälle als absolute Ausnahmen; Bitterli dagegen vertritt die Meinung, dass es nicht selten vorkam, dass jemand seine Kultur aufgab und völlig in einer anderen aufging („going native”), dass jedoch die christlichen Chronisten nur gelegentlich und mit großer Entrüstung darauf hinwiesen. 17 Für Echevarría ist Cabeza de Vaca zwar kein kultureller Überläufer vom Ausmaß eines Gonzalo Guerrero, aber zumindest ein kultureller Grenzgänger. 18 Der mexikanische Regisseur scheint von der These Greenblatts auszugehen, nach der die Chronisten gezwungenermaßen unter dem Druck der eigenen Interessen und der Umstände, unter denen sie schreiben, zu Lügnern werden. 19 Am Ende seines Films zeigt Echevarría in diesem Zusammenhang eine Schlüsselszene: Kurz vor dem Zusammentreffen mit den Soldaten von Cortés an der Pazifikküste diskutiert Álvar mit seinen beiden Gefährten, Dorantes und Castillo, über seine Erfahrungen als Schamane. Seine Freunde geben ihm inständigst den Rat, den Spaniern nicht die Wahrheit zu erzählen, wenn er nicht in Ketten nach Spanien zurückkehren und als Hexer verurteilt werden wolle. Nur nach einigem Zögern gibt Álvar seinen Freunden Recht und sagt zu sich selbst: „Cierto, tendremos que contar mentiras.” 20 In der Sicht Echevarrías konnte Álvar Núñez in seinem 16 Núñez (1989), S. 136. 17 Bitterli (1992) S. 230. 18 Rings (2010). 19 Greenblatt (1991), S. 7. 20 „Gewiss, wir werden ihnen Lügen erzählen müssen.“ Der Film wurde 1989 bei IMCINE mit Unterstützung von Iguana Producciones, Televisión Española, Sociedad Estatal Quinto Centenario und dem Fondo de Fomento a la Calidad Cinematográfica 92 Wilfried Floeck Bericht an den Kaiser nicht die Wahrheit sagen, sondern musste sie im Subtext verstecken, in den Lücken, aus denen der mexikanische Regisseur sie wieder hervorholen wollte, um ihr in seinem Film neues Leben einzuhauchen. Echevarría schreibt die Geschichte Cabeza de Vacas in unmittelbarer Analogie zu der Gonzalo Guerreros neu. Er bestätigt dies selbst, wenn er berichtet, wie der Film entstand. In seiner Einführung zum Drehbuch, das sein Landsmann Guillermo Sheridan verfasste und 1994 veröffentlichte, erzählt Echevarría, dass er 1982 von der Geschichte Gonzalo Guerreros erfuhr und sogleich davon träumte, einen Film über diese Gestalt zu drehen. Zwei Jahre später bittet ihn Alberto Isaac, leitender Mitarbeiter bei IMCINE, die Geschichte von Gonzalo Guerrero durch die Cabeza de Vacas zu ersetzen. Echevarría ist einverstanden und beauftragt seinen Landsmann Guillermo Sheridan mit dem Drehbuch. „Auf der Grundlage der Porträtskizze von Gonzalo zeichnete er diejenige von Álvar. Die allgemeine Struktur ist die gleiche: „der Mann, der sich von den Seinen trennt, schafft sich ein neues Leben unter ‚Wilden’”. 21 So wird Gonzalo Guerrero zu Cabeza de Vaca und umgekehrt. Die Chronik des Konquistadoren Álvar Núñez Cabeza de Vaca spielt weder bei der Entstehung des Drehbuchs noch bei der des Films eine große Rolle. Schnell sind sich Echevarría und Sheridan darüber einig, die Naufragios nur als Vorlage zu nehmen und sich dabei auf wenige Episoden zu konzentrieren, „und dabei den ungewöhnlichen Vorgang in den Fokus zu nehmen, in dem ein kriegerischer spanischer Konquistador sich in den acht Jahren, in denen er den amerikanischen Kontinent von einer bis zur anderen Seite durchquert, in einen Schamanen, einen Wunderheiler verwandelt, der vielleicht wie kein anderer seiner Herkunft die indigene Welt zu verstehen lernt”. 22 Das 1993 publizierte Drehbuch entspricht nicht dem endgültigen Drehbuch des Films. Es ist die erste Version, der unter Mitarbeit des Regisseurs und je nach den Anforderungen der Proben weitere folgen sollten. Es stellt einen ersten Entwurf, eine Art literarisches Drehbuch dar, das die wirtschaftlichen und ästhetischen Anforderungen des Genres nur wenig berücksichtigt. Dennoch lohnt es sich, einen Blick auf den Text zu werfen, nicht nur, weil laut Sheridan, der Film „einen Großteil der Schemata und Intenti- produziert und in Mexiko 1990 uraufgeführt. Er hatte nicht nur im Land, sondern auch international großen Erfolg. Im Jahr 1991 wurde er auf dem Berliner Filmfestival gezeigt. In Spanien wurde er 1992 bei TVE ausgestrahlt. In den letzten Jahren lief er auch mehrmals im deutschen Fernsehen. Für diese Untersuchung habe ich eine Sendung des deutsch-französischen Senders ARTE vom 14. Februar 2000 verwendet. 21 Sheridan (1993), S. 17. 22 Ebd., S. 22 f. Fünfhundert Jahre später 93 onen” 23 des ersten Drehbuchs bewahrt hat, sondern weil dieses wesentlich deutlicher als der Film das zentrale Thema der interkulturellen Begegnung und die These vom Protagonisten als kulturellem Grenzgänger verbalisiert und hervorhebt. In 37 Sequenzen zeigt der Text das Scheitern der Expedition, die Pánfilo de Narváez 1528 zur Erkundung Floridas unternahm, wobei der Akzent auf den Erfahrungen der wenigen Überlebenden liegt, deren Zahl schließlich auf drei Spanier und einen Schwarzen zusammenschrumpft, bis sie auf ihrem Marsch nach Osten schließlich 1536 auf die Soldaten des Cortés in San Miguel de Culiacán treffen. Die Erfahrungen der Protagonisten sind geprägt von Hunger, Durst, Tod, Krieg und einer überbordenden Natur, die zugleich gefährlich und menschenfeindlich ist. Das Leben besteht aus einem täglichen Kampf ums Überleben. Die Lebenswelt der Eingeborenen erscheint ihnen zuerst als eine fremde, magische, undurchdringliche und feindselige Welt, mit der es keine Kommunikationsmöglichkeit gibt. Aber im Lauf der Jahre und dank des engen Zusammenlebens im gemeinsamen Leid, das beide Seiten verbindet, wachsen langsam Annäherung und Solidarität. Besonders Cabeza de Vaca verliert langsam und ohne es selbst zu merken, die Kenntnisse und die Kultur, die ihm das Abendland vermittelt hatte, um sich der indigenen Kultur immer stärker anzunähern. Aufgrund seines langen Kontaktes mit einem Schamanen dringt er langsam in die Welt der Magie ein, bis er sogar innerlich und äußerlich zu einem echten Schamanen wird. Der zunehmende Solidarisierungsprozess mit der Welt der Indígenas führt gleichzeitig zu einer immer größeren Entfremdung von der Welt der Spanier und dem offiziellen Diskurs der Eroberung. Dieser Prozess wird nicht nur im Verhalten Cabeza de Vacas deutlich, sondern drückt sich auch in zahlreichen Debatten mit seinen Begleitern aus. Cabeza de Vaca wird sich der fundamentalen Gleichheit zwischen ihm und den Indígenas bewußt, auch wenn ihre Bräuche verschieden sind und letztere wildes Heidentum pflegen. Á LVAR : Sehnen sie sich nicht genauso nach dem Leben wie wir? Erdulden sie nicht auch Hunger und Kälte? Erleiden sie etwa keinen Verdruss und genießen sie nicht Freuden wie wir? C ASTILLO : Ja schon, aber sie kleiden sich anders. Sie sind ungläubige Wilde. Á LVAR : Sie sind anders, ja. Aber abgesehen davon, sind sie gleich. 24 23 Ebd., S. 24. 24 Á LVAR : ¿No desean la vida igual que nosotros? ¿No padecen hambre y frío? ¿Acaso no sufren sinsabores y disfrutan placeres como nosotros? C ASTILLO : Sí, pero son otros en hábitos. Son salvajes infieles. Á LVAR : Son otros, pues. Mas, aparte de eso, son iguales. (S. 102) 94 Wilfried Floeck Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass er die langsame Annahme und Assimilierung des Fremden nicht verhindern kann: Aber ich glaube nicht, dass sie Feinde sind. Genau wie wir sind sie Hunger und Kälte ausgesetzt. Die Anzahl der Dinge, die uns verbinden, ist größer als die, die uns trennen. Diese Gegenden hier haben ihre eigenen Gesetze, und wir können uns ihnen nicht entziehen. 25 Für Álvar sind Staat und Kirche diejenigen Institutionen, die Unterdrückung und Ausbeutung repräsentieren. Die Kritik am System der Conquista wird überdeutlich, als Cabeza de Vaca sich den Eroberern Mexikos und ihrer repressiven Politik entgegenstellt. Dem Reiter, der seinen indigenen Freund in die Sklaverei abführen will, entgegnet Álvar mit verzweifelter Wut: ¡Esto es España! ¡Tenéis razón! ¡Ya he visto muestras de vuestra justicia en el camino! ¡Muerte, desolación y miseria, esclavitud y orfandad! ¡Todo en una tierra que era mejor antes de que llegarais! 26 Angesichts seiner wunderbaren Heilerfolge fragt er sich, ob er noch der gleiche wie früher ist oder ob er seine Identität verändert hat. Sein neuer Status als Wunderheiler ruft bei ihm eine Identitätskrise hervor, die ihm nicht mehr gestattet, die Seinen zu erkennen oder zwischen dem Eigenen und dem Fremden klar zu unterscheiden. In der letzten Sequenz, als er schon auf dem Weg nach Mexiko-Tenochtitlán ist, hat er eine Vision von seiner Rückkehr nach Spanien, die noch in der Zukunft liegt, in der man aus dem Off die Stimme Álvars hört, wie er in Träumen über seine Erfahrungen in Amerika meditiert und über seine Identitätsprobleme und seine eigene Schuld reflektiert. Seine Worte resümieren seine Erfahrung als eroberter Eroberer. Und wenn ich schlafe, suchen mich in meinen Träumen die Erinnerungen heim. Wie seltsam sie sind! Als wir die Christen trafen, dachte ich, meine Entrüstung würde daher rühren zu sehen, wie die Mächtigen ihre Gesetze durchsetzen und die Bedingungen schaffen, um ihre Anwendung zu rechtfertigen. Jetzt weiß ich, dass sie davon kommt, dass mir bewusst ist, dass ich vor acht Jahren ein Herr wie unser Hauptmann gewesen bin und dass ich das Gleiche getan hätte, was er tat und was mir abstoßend erschien. Es gibt kaum etwas Schwierigeres als sich den 25 Mas no creo que sean enemigos. Como nosotros, viven expuestos al hambre y al frío. Muchas más cosas nos unen a ellos de las que nos separan. Estas regiones tienen sus leyes y nosotros no podemos evitarlas? (S. 97) 26 Das ist Spanien! Ihr habt Recht! Ich habe bereits unterwegs Anzeichen eurer Gerechtigkeit gesehen! Tod, Verzweiflung und Elend, Versklavung und Verwaisung! Und das alles in einem Land, dem es, bevor ihr kamt, besser ging! (S. 135) Fünfhundert Jahre später 95 Fehlern zu stellen, die wir begangen haben, als wir nicht wussten, dass es Fehler waren. Ich weiß nicht, ob es verzeihlich ist, dass ich heute erneut ein Herr bin. 27 Keiner der zitierten Aussprüche findet sich im Film Nicolás Echevarrías, der dennoch die gleiche These von der Akkulturation Álvar Núñez’ in der indigenen Welt aufstellt, mit dem einzigen Unterschied, dass er es mit den ästhetischen Mitteln des Films tut. Unter den Anforderungen des Genres erfährt das literarische Drehbuch im Laufe der Filmproduktion eine Reduzierung, Entliterarisierung und Visualisierung. Die Stimme verliert gegenüber den Bildern an Bedeutung. Die Botschaft des Werkes drückt sich nicht in Worten, sondern in visuellen Projektionen aus. Außerdem vermeidet Echevarría jeglichen Versuch eines historischen Realismus. Obwohl er aus dem Dokumentarfilmbereich kommt und die indigenen Kulturen sehr gut kennt, entscheidet er sich für die Fiktion und gegen die Rekonstruktion einer indigenen Welt, die schon seit Jahrhunderten verschwunden und in der Gegenwart sehr wenig bekannt ist, und erfindet sie statt dessen. „Tratándose de mi primera película de ficción”, erklärt er in der Einführung im Drehbuch, „preferí inventar en lugar de documentar“. 28 Um die vorrangige Absicht seines Projekts in die Praxis umzusetzen, legt Echevarría bei der Imagination und Visualisierung einer fremden Welt den Akzent auf drei fundamentale Aspekte: die Schaffung einer magischen und zauberhaften Atmosphäre, die Darstellung einer exotischen, von der europäischen Zivilisation verschiedenen Welt und schließlich die Darstellung eines allmählichen Prozesses der Annäherung zwischen der europäischen und der indigenen Welt in der Figur des Protagonisten. Um diese Technik zu illustrieren, möchte ich eine Szene genauer betrachten, die die Initiation Cabeza de Vacas in die magische Welt des Schamanismus zeigt. Es handelt sich um eine lange Sequenz von 16 Minuten, die in mehrere Untersequenzen und 66 Einstellungen unterteilt ist. Die Szene beginnt mit der Detaileinstellung der zentralen Partie eines hieratischen Schamanengesichtes mit bemalten Augen. Nach einigen Sekunden folgt ein harter Schnitt zu mehreren Totalen, die drei Figuren zeigen, die über einen leeren Strand laufen. Es handelt sich um den Schamanen, einen buckligen 27 Y cuando duermo me visitan en los sueños los recuerdos. Qué extraños son. Cuando encontramos a los cristianos pensaba en que mi indignación nacía de ver cómo los poderosos imponen sus leyes y crean las circunstancias para justificar su aplicación. Ahora sé que nacía de saber que, ocho años antes, yo había sido un caballero como el capitán y que hubiera hecho lo mismo que él hacía y que me parecía repugnante. Nada hay tan arduo como enfrentarse a los errores que cometimos cuando no sabíamos que lo eran. No sé si tenga perdón el que hoy, nuevamente, sea yo un caballero. (S. 139) 28 Sheridan (1993), S. 17. 96 Wilfried Floeck Zwerg und Cabeza de Vaca, der schon einige Zeit als Sklave mit diesen beiden Figuren lebt und der in dieser Szene sämtliche Gerätschaften und Utensilien seines Herrn auf dem Rücken trägt. Während dieses “Rennens” hört man nur den keuchenden Atem Álvars. Nach einer halben Minute bleibt der Schamane stehen und beginnt ein magisches Ritual, wobei er mit einem langen Stock die gigantische Silhouette eines Mannes in den Sand zeichnet, dessen Kopf bis ans Wasser reicht. Um die Umrisse besser zu markieren, zieht er sie mit einem weißen Pulver nach. Diese Handlung wird vom rituellen Gesang des Schamanen begleitet. Während der ganzen Szene bereitet Álvar das Essen, wäscht den Zwerg und gibt ihm zu essen. Die Kamera konzentriert sich abwechselnd auf den Schamanen und seine zwei Begleiter. Als der Indio seine Zeichnung beendet hat, stößt er seinen Stock fest in das Auge des Giganten. Auf diese Szene folgt sofort die Halbtotale eines anderen Eingeborenen, der mit einem gellen Schrei aus dem Wasser schießt und dabei das Auge mit der Hand bedeckt. Während er schreiend auf eine Siedlung zuläuft, wo er von den Bewohnern aufgenommen wird, beobachten ihn der Zwerg, Álvar und der Schamane vom Strand aus, wobei sie sich zwischen den Zweigen einer Palme verstecken. Während mehrere Frauen den Verwundeten in einer Hütte versorgen, sieht man in Form eines mehrfachen Schuss-Gegenschuss-Verfahrens, wie der Schamane über einem Feuer ein magisches Gebräu bereitet, von dem er auch Álvar zu trinken gibt, den dieses Benehmen seines Herrn sehr zu überraschen scheint. Die folgende Szene zeigt in der Halbtotalen den Schamanen, gefolgt von Álvar und dem Zwerg und ausgestattet mit seinen zeremoniellen Attributen, als er beim Betreten des Dorfes seine Kürbisrassel schüttelt. Er wird mit großer Ehrerbietung empfangen und tritt in die Hütte ein, wobei er Álvar veranlasst, ihm zu folgen. In der Hütte beginnt der Schamane unter rhythmischem und rituellem Gesang seine Heilbehandlung, indem er den gekrümmten Körper des Verletzten mit Hilfe eines Schilfrohrs anbläst. Plötzlich fordert er Álvar mit einer brüsken Geste auf, ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Der Spanier versinkt langsam in einen völligen Trancezustand, in dem er mit seiner Hand das Auge des Indígena bedeckt, ihm auf diese Weise seine ganze innere Kraft einflößt, seine Verletzung heilt und ihn völlig gesundmacht. Die gesamte Zeremonie wird von den rituellen Klagen der Frauen, dem rhythmischen Gesang der Eingeborenen sowie dem Lärm begleitet, den einige junge Leute auf der inneren Galerie unter dem Dach der Hütte verursachen, indem sie mit ihren Stöcken gegen das Gebälk schlagen. Während Álvar nach seiner Trance ohnmächtig auf dem Boden liegt, tragen die Dorfbewohner den geheilten Mann unter Freudengeschrei im Triumphzug um die Hütte herum. In der Hütte weckt der Schamane Álvar auf, indem er ihm einen Streifen auf die Stirn malt und ihm zu trinken reicht. Danach gibt er ihm das Kreuz zurück, das er ihm bei der Gefangennahme abgenommen hatte, überreicht ihm eine Tasche und entlässt ihn in die Freiheit. Fünfhundert Jahre später 97 Unter den Dankbarkeitsbekundungen der Dorfbewohner sowie den traurigen Blicken des Zwergs entfernt sich der neue Schamane langsam aus dem Dorf. Diese Sequenz ist nicht nur einer der Schlüsselmomente des ganzen Films, sondern zeigt auch die typischen, bereits erläuterten Aspekte und Techniken. Sie zeigt das Ende der Sklaverei für Álvar und seine Initiation in den indianischen Schamanismus an, der durch Magie und eine für die rationalistische Wirklichkeitskonzeption des Spaniers unverständliche Beziehung zwischen dem Schamanen und seiner Umwelt gekennzeichnet ist. Es ist eine Welt, in der die Gesetze des Logozentrismus keine Bedeutung haben. Der Okkultismus und die Magie dieser Realität werden sowohl durch den undurchdringlichen, hieratischen Ausdruck des Heilers zu Beginn der Sequenz als auch durch die äußeren Attribute seiner Kleidung und seiner Gerätschaften dargestellt; sie werden ebenso durch die rhythmischen Gesänge, die rituellen Tänze oder das Klopfen der Stöcke in der Hütte wie durch die seltsame Zeremonie der Zubereitung des magischen Getränks, den Trancezustand des Schamanen und Álvars oder durch die Gesten und das deformierte Gesicht des Verletzten während seiner Heilung zum Ausdruck gebracht. Vor allem aber zeigen sie sich in der Visualisierung der magischen Kräfte während des Heilungsvorgangs und den verborgenen Analogien, die zwischen den verschiedenen Realitätsebenen existieren und die durch die Tatsache ausgedrückt werden, dass eine Verletzung, die nur einer Zeichnung zugefügt wird, gleichzeitig bei einem Menschen auftritt. Um diese magische Welt entstehen zu lassen, bedarf es keines Wortes. Es gibt keine verbale Kommunikation zwischen den Protagonisten, die benutzte Sprache hat nur rituelle und exorzistische Funktionen, die eine Welt beschwören, die der verbalen Kommunikation und der intellektuellen Reflexion unzugänglich sind. Die Visualisierung und der akustische Ausdruck von Álvars Erfahrung sind besonders in der Szene gelungen, in der die Kamera dem Zuschauer den Trancezustand des Protagonisten aus dessen eigener Perspektive nahe bringt, indem sie ihm die Kreisbewegung des Hüttendaches in radikaler Froschperspektive vermittelt, was gemeinsam mit dem rhythmischen Geräusch der Stöcke beim Zuschauer geradezu den Eindruck einer Halluzination erweckt. Die magische Atmosphäre wird verstärkt durch einen Exotismus, der sich vor allem in äußeren Aspekten wie den Gerätschaften des Heilers, der Bemalung der Protagonisten, den in den Zeremonien verwendeten Elementen wie dem Kopf einer Eidechse, der über dem magischen Trank hängt, oder der Schellenrassel, dem reich verzierten Stock und der zeremoniellen Kleidung des Schamanen zum Ausdruck kommt. Dieser Exotismus konzentriert sich besonders in der grotesken Figur des Zwergs, dessen Name, Malacosa, einer mythischen und dämonischen Figur entliehen ist, die Álvar Núñez in seinen Naufragios erwähnt. Aber der Zwerg Echevarrías drückt 98 Wilfried Floeck zusätzlich die gesamte europäische Mythologie der Monsterwesen, die sich von Plinius über Mandeville bis zu den Erzählungen des 16. Jahrhunderts in den Reiseberichten über die Neuen Welten tummeln und das Fehlen von Zivilisation, die kulturelle Unterlegenheit und die Barbarei der Bewohner verkörpern. In Echevarrías Film repräsentiert Malacosa, mehr noch als der Schamane, den Feind des Eroberers, den Herrn, der seinen Sklaven misshandelt, das Monstrum bar jeglicher Menschlichkeit. Dennoch werden in dieser Szene erstmals die Distanz und Kommunikationslosigkeit zwischen den beiden Welten überwunden. Dies zeigt sich in erster Linie im Verhalten des Schamanen gegenüber Álvar. Mit Gesten und Worten, die noch etwas brüsk sind, lädt er ihn ein, von dem Zaubertrank zu trinken und sich in die Rituale der wundersamen Heilungen einweihen zu lassen. Nach seinem ersten Heilerfolg nähert sich ihm der Schamane mit freundlicheren Gesten, hilft ihm, aus der Trance zu erwachen, und schenkt ihm großzügig die Freiheit. In diesem Moment findet die erste verbale Kommunikation zwischen den beiden Männern statt, als der Schamane seine Hände hochhält und zur großen Überraschung Álvars die ersten spanischen Worte spricht: „Manos, mis manos“ („Hände, meine Hände“). Die zunehmende Annäherung zwischen Álvar und dem Schamanen wird in mehrfachen Schuss-Gegenschuss-Einstellungen deutlich, die die jeweiligen Gesichter der zwei Protagonisten, die sich offensichtlich gegenseitig ansehen, in Großaufnahme darstellen. Sogar der Zwerg zeigt zum ersten Mal menschliche Regungen, die er nicht verbal, sondern durch sein Verhalten und sein Mienenspiel ausdrückt. Als der Spanier seine ehemaligen Herren und das Dorf verlässt, fühlt er instinktiv, dass Malacosa ihm folgt. Álvar dreht den Kopf und verabschiedet sich mit einem Lächeln. Die Sequenz endet mit einer Großaufnahme des Zwergengesichts, das einen tieftraurigen Ausdruck annimmt und dessen Augen sich mit Tränen füllen. Auch hinter dem Monstrum versteckt sich ein menschliches Wesen. Dies ist eine Schlüsselszene, die den Übergang der Beziehung zwischen der Welt Cabeza de Vacas und der indigenen Welt markiert und in der sich Distanz, Feindschaft und Unverständnis in Annäherung, Freundschaft und Verständnis verwandeln. Hier liegt der Beginn der Identitätskrise Álvars, die ihn zu einem eroberten Eroberer werden lässt. In anderen Sequenzen des Films kann man dieselben Intentionen und Techniken entdecken. Die Schaffung einer magischen Atmosphäre wird schon zu Beginn angekündigt. Es ist offensichtlich, dass Echevarría darlegen will, dass Magie den Katholizismus im gleichen Maße prägt wie den Kult der Indígenas. Als die Christen bei ihrem Marsch durch den Urwald auf Kisten mit Leichen stoßen, die offensichtlich rituell geopfert wurden, oder als sie Stücke von Menschenfleisch finden, die von den Bäumen hängen, beginnt Pater Suárez ein Exorzismusritual, indem er den Ort der Hexerei mit einem Kreuz in den Händen und unter lateinischen Gebeten umschreitet. Fünfhundert Jahre später 99 Der Schwarze Estebanico reagiert auf dieselbe Weise, indem er das Böse in seinem afrikanischen Dialekt beschwört. In dieser und anderen Szenen hat die Sprache keine kommunikative Funktion, sondern dient vielmehr - wie das Lateinische in der bekannten Szene von Valle-Incláns Divinas palabras - der Teufelsaustreibung. Die Symbole des Katholizismus und des heidnischen Kults ähneln sich ebenfalls sehr. Als der Schamane Álvar als Sklaven mitnimmt, erkennt er sofort die magische Funktion des Kreuzes, das der Spanier auf der Brust trägt, und nimmt es ihm weg, um es seinen heidnischen Amuletten hinzuzufügen. Als er ihn in die Freiheit entlässt, gibt er es Álvar zurück, der es von nun an bei seinen Wunderheilungen zusammen mit heidnischen Objekten verwendet. Álvar heilt die Kranken sowohl, indem er das Kreuz küsst, sich bekreuzigt und zu Gott oder zur Jungfrau Maria betet, als auch indem er einen magischen Stein benützt oder seine Hände über den Körper des Kranken gleiten lässt, um seine magische Kraft auf ihn zu übertragen. In der Szene der Wiedererweckung eines Indianermädchens spricht der Spanier in seinem rituellen Akt eine Mischung aus Latein, Spanisch und einer indigenen Sprache. Der Akkulturationsprozess des Protagonisten führt allmählich zu einem religiösen Synkretismus, der die schamanischen Rituale problemlos mit den katholischen vereint. Während seine beiden Gefährten erschreckt auf das Verhalten Álvars reagieren, nähert sich dieser immer mehr einem Synkretismus an, indem sich auch seine religiöse Identität langsam verliert, bis Katholizismus und Schamanismus sich in einer untrennbaren Mischung vermengen. Magie und Christentum vermischen sich auch in der Sequenz, in der Álvar sich erschöpft nach einem langen Marsch durch eine trockene, kalte und bergige Gegend mit letzter Kraft in eine Höhle schleppt. Dort wird er von Halluzinationen heimgesucht, die ihm das Floß eines Schiffbrüchigen, Pater Suárez mit Kreuz und Fackel sowie seinen Großvater Pedro de Vera, der für die Sünden, die er als Eroberer auf den Kanarischen Inseln begangen hat, bestraft wurde, vor Augen führen und in denen er schließlich selbst auf einem Berg in dichtem Schneegestöber erscheint, wo er dank der Intervention des Schamanen durch das Auftauchen eines brennenden Baumes gerettet wird. Diese letzte Episode wird schon im Text der Naufragios mit Anspielung auf den brennenden Dornbusch des Alten Testaments als Zeichen göttlicher Hilfe in einer fremden und gefährlichen Umwelt erwähnt. Im Film wird diese Episode zu einer magischen und an eine Traumwelt erinnernden Szene, deren Irrealität ebenso durch die phantasmagorische Situation wie durch den Einsatz von entsprechender Musik und Beleuchtung unterstrichen wird. Der Exotismus der Filmrealität zeigt sich nicht nur in ähnlichen phantastischen Szenen, sondern auch und vor allem in Szenen, die die Welt und die Realität der Indígenas beschreiben. Gemeinsam mit Szenen einer Dorfidylle, in der das alltägliche Leben der Eingeborenen in Pfahlhäusern über dem Wasser und im Wald dargestellt wird und in der Frauen und Mädchen das 100 Wilfried Floeck Essen über einem Feuer am Flussufer zubereiten, werden Szenen voll fremdartiger Exotik gezeigt, wie diejenige in einer Art magischem Wald mit der stets drohenden Gefahr von Menschenopfer und Kannibalismus oder diejenige eines rituellen Stammesfestes, in der pittoresk bemalte Eingeborene um an große Pfähle gefesselte Spanier herumtanzen: ein orgiastisches Fest, das mit einem Gemetzel und einem Angriff der Angehörigen eines anderen Stamm endet, die die Spanier befreien; oder schließlich die Szene eines Leichenbegängnisses, das aufgrund der Trauerkleidung seiner Teilnehmer und die Silhouette eines Dorfes voller Scheiterhaufen besonders beeindruckt. Echevarría interessiert sich nicht für einen historischen oder ethnologischen Realismus, sondern sucht den spektakulären Effekt, sei es in der Inszenierung einer großartigen Landschaft, sei es in der Darstellung der indigenen Feste und Rituale. Im Film herrschen außergewöhnliche, seltsame und durch ihre Statur, Kleidung oder ihr Verhalten schockierende Gestalten vor, was ihm den Charakter des Spektakulär-Exotischen und Pittoresken verleiht, der durch visuelle, akustische und musikalische Mittel zum Ausdruck gebracht wird. Auch die zunehmende Identifikation mit der indigenen und die entsprechende Distanzierung von der spanischen Welt drücken sich hauptsächlich durch Bilder aus. Die Verwandlung Cabeza de Vacas in einen berühmten Schamanen spiegelt sich in einer zunehmenden Veränderung seines Aussehens und seiner unmittelbaren Umgebung wider: den gefärbten Haaren, den zeremoniellen Attributen seiner Kleidung oder der Begleitung durch eine wachsende Gruppe von indigenen Anhängern. Seine Freundschaft und Solidarität mit den Eingeborenen drückt sich weniger in Worten als in Taten und Gesten aus. Nach der Operation seines jungen indigenen Freundes, dem er eine Pfeilspitze aus der Brust entfernt, taucht er ihn in einer Art ritueller Waschung unter Wasser, nimmt ihn wie ein Kind in die Arme und streicht ihm über das Gesicht. Als am Ende sein junger Freund durch die Spanier den Tod findet und Álvar seine Leiche von einem Karren nimmt, um ihn auf seinen Armen wegzutragen, wobei er den Zuschauenden ein verzweifeltes „Warum? Warum? “ entgegen schreit, stellt diese „Pietà” eine beeindruckende Anklage gegen die Brutalität seiner Landsleute und die Eroberung im Allgemeinen dar. Die Freundschaft mit dem jungen Indio und mit dem Schwarzen Estebanico, beides Verkörperungen sozialer Randgruppen, ist am Ende inniger als diejenige, die ihn mit seinen beiden spanischen Gefährten Dorantes und Castillo verbindet. Sie sind zudem die einzigen, die ihn in seiner Verzweiflung über die Gewalt der spanischen Eroberer zu trösten vermögen. Die Verzweiflung Álvars und der Trost, den ihm die beiden Freunde spenden, werden gleichfalls vornehmlich durch Handlungen, Gesten und Blicke visualisiert. Zur Vermittlung einer Botschaft ist die visuelle Gestaltung im Film wichtiger als Worte. Interessanterweise lässt sich Echevarría bei der visuellen Fünfhundert Jahre später 101 Gestaltung der Geschichte Cabeza de Vacas nicht nur von seiner eigenen Phantasie, sondern auch von der Kunst inspirieren. Als er in einer Enzyklopädie der Malerei das berühmte Gemälde Das Floß der Medusa des Romantikers Théodore Géricault entdeckt, nimmt er es als Modell für die Sequenz mit dem Floß der schiffbrüchigen Spanier am Filmanfang (Sheridan 1993: 15). Stets sind es in erster Linie Bilder, die Überlegenheit und Gewalt oder Unterlegenheit und Mitleid zum Ausdruck bringen. Als die vier Überlebenden zum ersten Mal auf spanische Konquistadoren stoßen, die sich ihnen zu Pferd und von ihrer in der mexikanischen Sonne blitzenden Rüstung geschützt nähern und sie umzingeln, zeigt die Kamera dies in leichter Untersicht aus der Perspektive der Fußgänger, um so die starke Überlegenheit der Reiter zu betonen. Neben der staatlichen und militärischen Gewalt wird der Fanatismus der christlichen Religion durch visuelle Symbole aufgezeigt, wie z. B. durch die in die Haarschöpfe der indigenen Sklaven einrasierten Kreuze, die gigantischen Mauern der von Sklaven errichteten Kirche oder das monumentale silberfarbene Kreuz auf den Schultern von Dutzenden von Eingeborenen inmitten einer unbewohnten Einöde. Wie so oft in Echevarrías Film unterstützt auch hier die Tonspur - diesmal mit martialischem Trommelwirbel - den Effekt der Bilder. Die Szene mit den riesigen Käfigen voller gefangener Indígenas erinnert an eine ähnliche, in der Álvar und seine Gefährten als Sklaven der Eingeborenen eingesperrt waren. Das wiederholte Auftreten solcher Situationen hilft Álvar, sich über die Gleichheit zwischen ihm und den Eingeborenen klar zu werden, und lässt sein Gefühl von Mitleid und Solidarität wachsen. Gleichzeitig wird dem Zuschauer dadurch bewusst, dass sich die Lage der spanischen Gefangenen am Ende zu ihren Gunsten verändert hat, während die Situation der Indígenas geradezu aussichtslos geworden ist. Zusätzlich verweist das Schlussbild von den eingesperrten Indios auf die Zukunft und vermittelt dem Zuschauer, dass die Lage der indigenen Völker sich bis heute kaum verändert hat und dass Gewalt und Ausbeutung in der außerfilmischen Wirklichkeit noch immer andauern. Der Film von Echevarría präsentiert die Geschichte des spanischen Konquistadoren Álvar Núñez Cabeza de Vaca mit Hilfe der für das Filmgenre üblichen Techniken; er unterstreicht den Schock beim Zusammentreffen zweier verschiedener Kulturen und dessen Auswirkungen auf den Protagonisten, der eine ernste Identitätskrise erleidet, während er sich in einen kulturellen Grenzgänger und einen eroberten Eroberer verwandelt. Gleichzeitig ist der Film ein beeindruckendes Dokument gegen Gewalt, religiösen Fanatismus und Ausbeutung; er plädiert für Solidarität, die Akzeptanz und Gleichwertigkeit des Fremden sowie authentische interkulturelle Begegnung. Álvaro Mutis sieht in ihm „eine der faszinierendsten Geschichten 102 Wilfried Floeck nicht nur der Eroberung Amerikas, sondern der Reaktion des Menschen auf das Unbekannte, dem er im Lauf seines Lebens auf der Erde begegnet. 29 Kehren wir nochmals zur Ausgangsfrage zurück. Was geschah wirklich zwischen dem Eroberer Álvar Núñez Cabeza de Vaca und den Indígenas, auf die er stieß? Hat uns der Film Echevarrías schließlich die Wirklichkeit gezeigt? Mutis gibt eine zustimmende Antwort, wenn er schreibt: „Wenn man das Drehbuch liest und dann den Film sieht, der ihm Leben gab, dann erlebt man jene beunruhigende Gewissheit, dass man uns die Dinge zum ersten Mal so beschrieben hat, wie sie wirklich gewesen sind”. 30 Wahrscheinlich bezieht sich der kolumbianische Kritiker mit dieser Bemerkung weniger auf die Rekonstruktion realer Begebenheiten und eines wirklichkeitsgetreuen historischen Ambientes als auf die authentische Vermittlung der Erfahrung von Alterität und einer aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturen erwachsenen Identitätskrise. Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass eine objektive Rekonstruktion der historischen Wahrheit nicht möglich ist und dass daher auch die Version von Sheridan und Echevarría ein Repräsentationsdiskurs ist, der von der persönlichen Perspektive der beiden Autoren ebenso bestimmt wird wie von dem lateinamerikanischen Diskurs der letzten Jahrzehnte über Indigenismus, Mestizaje, mexikanische Identität oder die Probleme, die beim Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen entstehen. Der ideologische Hintergrund von Echevarrías Version zeigt sich auch in seinen eigenen Äußerungen, in denen er Cabeza de Vaca bescheinigt, sich „in den Vater der mexikanischen Mestizierung“ verwandelt zu haben, und sich so am Anfang einer Kette zu befinden, „die sich in das Rückgrat unserer Kultur verwandelt hat”. 31 Auch die Interpretation Cabeza de Vacas als eines kulturellen Grenzgängers enthüllt uns wohl kaum die historische Wahrheit. Der Subtext der Naufragios liefert nicht genügend Hinweise für eine solche Interpretation. 32 Doch in Wirklichkeit müssen wir zugeben, dass wir sehr wenig wissen über das, was zwischen Cabeza de Vaca und den Indígenas während seines langen Marsches nach Westen wirklich vorgefallen ist. Außerdem kann das Ziel von Kunst nicht darin bestehen, historische Wahrheiten objektiv zu rekonstruieren - wozu, wie wir heute wissen, nicht einmal die Geschichtsschreibung imstande ist -, sondern darin, mit Hilfe der jeweiligen Techniken des gewählten Genres eine Wahrheit zu konstruieren, die uns vielleicht mehr über die menschlichen und sozialen Probleme der Gegenwart als diejenigen der Vergangenheit verrät. 29 Sheridan (1997), S. 7 f. 30 Ebd., S. 9. 31 In: Sheridan, ebd., S. 13 bzw. 15. 32 Floeck (2003). Fünfhundert Jahre später 103 Literaturverzeichnis Adorno, Rolena und Pautz, Charles Patrick: Álvar Núñez Cabeza de Vaca. 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Zur Zweckbestimmung und Wirkungsabsicht politischer Rhetorik „On croit qu’un prêtre normand, homme de probité, ennemi des factions, et qui avoit été aumônier du Cardinal de Bourbon commença cette Satyre, mais n’ayant pû faire que les premières scènes de cette comédie, un autre travailla sur son plan, et le porta heureusement à la perfection, par les traits d’une plaisanterie aussi naturelle que fine et délicate, en sorte que dans tout le temps de ces guerres, il ne parut rien qui fût plus applaudi et mieux reçu par les beaux esprits des deux partis.“ 1 Die historische Situation: zur Staats- und Legitimationskrise in Frankreich Zur Einordnung des Textes der „Satyre Ménippée“ und des bis weit ins 18. Jahrhundert lebendigen Interesses an ihm kann der Rahmen gelten, den Arlette Jouanna an den Anfang des großen Kompendiums „Histoire et dictionnaire des guerres de religion“ gestellt hat. Sie unterstreicht, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um die Religion im 16. Jahrhundert, auch nach zeitgenössischer Einschätzung, um einen Bürgerkrieg und damit um einen Kampf um die Grundordnung des Staates handelte, der erst mit dem Übertritt von Henri IV zum Katholizismus seine Lösung fand. 2 In der Endphase steht nicht mehr der Gegensatz von Reformation und Orthodoxie im Vordergrund; das Ringen findet zwischen den beiden „ultramontanen“ 1 de Thou, Jacques Auguste: Histoire universelle, depuis 1543 jusqu’en 1607, traduite sur l’éd. lat. de Londres [par P.-F. Guyot-Desfontaines/ N. Leduc etc.], London [i.e. Paris], 1734, t. XI, livre CV, S. 701f. - Das Zitat findet sich auch in der neuen kritischen Ausgabe von Martin, Martial (ed.): La Satyre Ménippée de la vertu du Catholicon d’Espagne et de la tenue des estats de Paris, Paris 2007, S. XLVII. 2 Jouanna, Arlette et al. (ed.): Histoire et dictionnaire des guerres de religion, Paris 1998, S. 5. - Bei den späteren Auseinandersetzungen, die um den Widerruf des Edikts von Nantes einbegriffen, geht es dann nicht mehr um das „principe de la coexistence de deux confessions dans le royaume“, sondern um „la survie des privilèges politiques accordés en 1598 aux protestants.“ (ib., S. 3). 106 Klaus Ley Faktionen der Ligue 3 einerseits und den „gallikanischen“ - so auch den „politischen“ Kräften, denen sich ein Großteil der Reformierten zuordnen lässt - andererseits statt. 4 Schließlich obsiegt das System der „monarchie autoritaire, incarnée par Henri IV“. Die diese Epoche prägenden Ereignisse haben bis heute ihre Gültigkeit für das Selbstverständnis der Franzosen nicht verloren. 5 In der Staatschronik vorhergegangen war nach dem Tode von Charles IX (1574) die bereits schwierige Nachfolge des als polnischer König eingesetzten Henri III, der zudem ohne legitime Erben war, als sein jüngerer Bruder starb. Als Nachfolger, dem der letzte Valois schließlich seine volle Zustimmung gab, stand aus der Nebenlinie der Bourbonen zwar Henri, der König von Navarra, bereit, als Enkel der Marguerite de Navarre, der Schwester von François Ier, sein Vetter zweiten Grades sowie - durch die Ehe mit Marguerite de Valois - sein Schwager. Ursprünglich sollte diese Ehe dem Plan dienen, die Reformierten, als deren Repräsentant Henri de Navarre sich etabliert hatte, an die französische Krone zu binden. Allerdings blieb Henri, dessen Hochzeit Anlass der Bartholomäusnacht gewesen war, trotz kurzfristigen Schwankens noch lange Anhänger der Reformation. Nach der Überzeugung weiter Kreise in Frankreich kam er deshalb für eine Nachfolge in das königliche Amt nicht in Frage. Nach dem Tode des jüngsten Sohnes der Katharina von Medici (1584), als sich das Problem der Sukzession als drängend abzeichnete, kam es zur Stärkung der anfangs aus der Gruppe der „malcontents“ gebildeten „Ligue nobiliaire“. Die Liguisten wandten sich mehr und mehr von den Valois ab; schließlich wollten sie den greisen Kardinal de Bourbon, der jedoch vorzeitig starb, als Übergangskönig Charles X durchsetzen. 6 Das dramatische Dimen- 3 Zur allgemeinen Orientierung ihrer Tendenzen: „’La Ligue est une mosaique juxtaposant des individus aux motivations diverses sinon opposées’. […] le refus prioritaire ‚qui fonde l’unanimisme ligueur’ est ‚non au roi hérétique (refus majeur), non à la diversité religieuse (refus mineur).’“ (Ménager, D.: Dieu et le roi; in: Lestringant, Frank/ Ménager, Daniel (ed.): Etudes sur la Satyre Ménippée, Genève 1987, S. 203; die Zitate aus: Descimon, Robert: Qui étaient les Seize? Mythes et réalités de la Ligue parisienne (1588-1594), Paris 1983, S. 65 f.; cf. auch Barnavi, Elie: Le parti de Dieu. Etude sociale et politique des chefs de la Ligue parisienne 1585-1594, Bruxelles/ Louvain [1980]. 4 In dieser letzten Phase gerieten so die den Staat und die Kirche ordnenden Beziehungen in die Entscheidungssituation: „les catholiques zélés ont affirmé qu’ils devaient être confondus, tandis que les Politiques ont lutté pour faire admettre leur nécessaire distinction.“ (Jouanna, Histoire et dict., S. 5). 5 „La mémoire collective des Français continue d’être hantée par le souvenir de ces conflits sanglants où s’est forgée une partie de leur identité.“ (Jouanna, Histoire et dict., S. 5). 6 Für ihn als jüngeren Bruder von Antoine de Bourbon, dem Vater Henris, galt allerdings die „lex salica“ nicht; daher die Rede von „proximité du sang“; cf. Jouanna, Histoire et dict., S. 601 f. „La Satyre Ménippée“ 107 sionen gewinnende Geschehen erreichte seinen Höhepunkt, als Henri III - nach dem Aufstand der Stadt Paris und deren Belagerung - die Anführer der Ligue, die beiden Guise, töten ließ. 7 [zum Zusammenhang vgl. Anhang Abb. Nr. 4] Nach dem Mord an dem vielfach angefeindeten Henri III im Sommer 1589 prallten die Ansprüche der verschiedenen anderen Prätendenten - der „princes étrangers“ - auf den französischen Thron noch heftiger aufeinander, vor allem aber gegen Henri de Navarre. 8 Auf der katholischen Seite, der Ligue also, waren die Vertreter des Hauses Lothringen (Guise), das bereits über Maria Stuart, die Frau des früh verstorbenen François II, direkter Angehöriger des Königshauses gewesen war, die eine wichtige politische Kraft; 9 nach dem gewaltsamen Tod der älteren Guise lag die Macht dieses Teils der Ligue nun bei Charles de Lorraine, duc de Mayenne, dem „lieutenant de l’État et Couronne de France“, wie es dann auch spöttisch in der „Satyre Ménippée“ heißt. 10 Daneben aber beanspruchte der spanische König Philipp II. das Erbe für seine Tochter Isabella, die aus der Ehe mit der älteren Schwester von Henri III hervorgegangen war. Philipp II. und Mayenne sind also die Hauptgegner des zukünftigen Henri IV, der um die Zeit nach dem Tode von Henri III zunächst nur vage die Konversion zum katholischen Glauben in Aussicht gestellt hatte, die er dann tatsächlich feierlich im Sommer 1593 in Saint-Denis (Juni/ Juli 1593) vollzog. Das war die Bedingung dafür, dass er im folgenden Jahr, am 27.2.1594, in Chartres zum König gekrönt wurde. Damit hatte sich die Staatskrise gelöst, und es ging nun um eine Befriedung des Landes. Diese Aufgabe weitgehend zu erfüllen, gelang dem neuen König binnen kurzem. 11 7 Die Daten: „journée des barricades“ - 12.5.1588; Tötung von Henri de Guise und dem Kardinal Guise - 23.12.1588. - Der historische Rahmen und die ihn besonders markierenden Ereignisse sind bereits ausführlich nachgezeichnet im Vorwort der kritischen Ausgabe des Textes von Frank, Josef (ed.): La satyre Ménippée de la vertu du catholicon d’espagne et de la tenue des estats de Paris, Oppeln 1884, S. V ff. 8 Allein seine Stellung war dynastisch gut begründet: „Les lois fondamentales de royaume et particulièrement la loi salique confère à ce descendant de saint Louis une légitimité juridique. [Mais] son appartenance au parti protestant […] lui interdit de participer au rituel religieux de sacre conférant au roi Très-Chrétien sa distinction de thaumaturge.“ (Encyclopédie du protestantisme, Genève 1995, s.v. „Henri IV“ (Janine Garrisson), S. 661). - Zur Bedeutung des sacre für die streitenden Parteien cf. Ménager: Dieu et le roi; in: Lestringant, Etudes, S. 212 ff. 9 Zur Herleitung des Anspruchs der „maison de Lorraine“ cf. s.v. „Lorraine“ Jouanna: Histoire et dict., S. 72 ff.; 614 f. 10 So trägt absichtsvoll seine Rede in der „Satyre Ménippée“ bereits den Titel „Harangue de Monsieur le Lieutenant“ (Martin, Satyre, S. 28). 11 „Au cours des quatre années précédentes et encore jusqu’en 1598, le premier souverain Bourbon rallie, tant par les armes que par les promesses et l’argent, les provinces, les villes et les gentilshommes adhérant de la Ligue, parti catholique intransigeant.“ 108 Klaus Ley Hinsichtlich der politischen Dimension der Reformierten galt, dass sie zu dieser Zeit als Gegenspieler nur noch von nachrangiger Bedeutung waren, als es bei der Frage nach der Staatsform letztlich nicht um die konfessionelle Orientierung ging. Das Problem der Nachfolge wurde diskutiert als Phänomen der Selbst-, oder - durch Spanien bzw. Lothringen - der Fremdlenkung der Nation. Deshalb kam der kämpferischen Verteidigung der „lex salica“ ihre große Bedeutung zu. Als der grundsätzliche Dissens schließlich gelöst war, schaffte es Henri IV wenige Jahre später, auch für die Glaubensfrage eine Regelung zu finden: „En promulguant le 13 avril 1598 l’Édit de Nantes, Henri IV achève, du moins le croit-il, de consolider cette paix civile. L’édit accorde aux protestants, outre d’importants privilèges […] la liberté de pensée et une relative liberté de culte.“ 12 Die Sympathien für die einzelnen Fraktionen und Parteiungen waren in der französischen Bevölkerung in unterschiedlicher Weise verteilt. Sehr bald hatte sich dabei die Machtfrage auf die Hauptstadt, auf Paris, konzentriert. Dort war es zunächst zu einem Übergewicht der nebeneinander agierenden „Ligue nobiliaire“ und der „Ligue roturière“ gekommen; und ebenda waren - bereits 1588, noch bevor Henri III Opfer des Attentats von Jacques Clément wurde - zur Lösung der Krise und später zur Wahl des neuen Königs die „estats généraux“ einberufen worden. In dieser Zeit hatte sich zudem eine Kraft im Staate wieder fest etabliert, die bereits bei Ausbruch der Religionskämpfe eine gewisse Bedeutung gewonnen hatte, die Partei der „politiques“, die ehemals von dem Kanzler Michel de l’Hospital geführt worden war. Die „politiques“, denen es von Beginn an darum ging, die konfessionellen Gegensätze zugunsten zukunftsfähiger staatlicher Einheit zurückzustellen 13 , wurden nun vollends zu einer führenden und meinungsbildenden Kraft. (Encyclopédie du protestantisme, Genève 1995, s.v. „Henri IV“ (Janine Garrisson), S. 661). 12 Encyclopédie du protestantisme, Genève 1995, s.v. „Henri IV“ (Janine Garrisson), S. 661. - Antipoden des neuen Königs waren somit die beiden stark dem Katholizismus verpflichteten Parteien sowie dann auch die engagierten Protestanten, denen er die Zugehörigkeit formal durch die Konversion aufgekündigt hatte. Die religionspolitische Dimension zeichnet sich wenig später bereits ab, so auch als es um die „Déclaration“ geht, die Henri IV kurz nach seinem Regierungsantritt publiziert hatte. In einer Stellungnahme, den „remonstrances“ der Synode von Saint-Jean-d’Angély, sehen die Hugenotten die Lehre Calvins bereits aufgeweicht: „Ainsi par deux fois, à propos du défunt Henri III, est formulée l'expression ‘Que Dieu l’absolve’; or rien n’est aussi contraire à la foi des réformés, puisque ces mots évoquent ‘la prière pour les trépassés du Purgatoire’ et la croyance ‘en la messe que ceux de l’Église romaine appellent sacrifice pour les vivants et les morts’.“ (zit. nach Garrisson, Janine: L’édit de Nantes, Paris 1998, S. 27). 13 Cf. dazu s.v. „Politiques“ Jouanna, Histoire et dict., S. 1210 -1213. „La Satyre Ménippée“ 109 Sie stehen auch hinter dem Werk, das die Neuordnung des französischen Staates begleitete - die „Satyre Ménippée“. In ihr wird im Augenblick der Entscheidung die politische Krise reflektiert. Literatur erweist sich so als Medium der Öffentlichkeit; sie dient der Meinungssteuerung und bildet zugleich den Schlusspunkt. Die Entstehung des Werks: der politisch-literarische Kontext Hinsichtlich ihrer Entstehungswie auch ihrer Überlieferungs- und Wikungsgeschichte präsentiert die „Satyre Ménippée“ eine Reihe von Problemen. 14 Verwirft man die noch im Umfeld von Sainte-Beuve lancierte These, es habe zunächst eine Reihe von einzelnen Flugschriften gegeben, die später zusammengestellt worden seien, so lassen sich offenbar zwei letztlich voneinander getrennte, aber nur schwer unterscheidbare Phasen erkennen. 15 Dabei ist von einer - so im „Discours de l’imprimeur sur l’explication du mot ‚Higuiero d’infierno’“, vermutlich des ersten Druckers Jamet Mettayer in Tours, mitgeteilten - Planung des Gesamtkonzepts, also der Verfasserschaft eines einzelnen Autors, auszugehen. 16 In seinem frühen Zustand ist das Werk wohl als - inzwischen von einer Gruppe von Autoren immer wieder ergänztes - Manuskript bekannt geworden. 17 Das zieht sich hin bis nach der Konversion von Henri de Navarre im Sommer 1593. Offenbar erst im Anschluss daran kam es zur Druckfassung, über die der Drucker berichtet. Nach dessen Terminierung liegt der Zeitraum des Druckens im Übergang von Tours nach Paris, wohin das Parlament schließlich zurückkehrte. 18 14 Cf. auch die Préface der kritischen Ausgabe von Martin, Martial (ed.): Satyre Ménippée, S. XXVIII ff.. 15 Cf. dazu Armand, A./ M. Driol: Deux états du texte: 1593 et 1594; in: Lestringant/ Ménager: Etudes, S. 19-38. Einen wichtigen Beitrag dazu bilden bereits die Studien von Josef Frank, so auch: Zur Satyre Ménippée. Eine kritische Studie. (Jahresbericht des K.K. Staats-Gymnasiums in Nikolsburg für das Schuljahr 1880), Nikolsburg 1880, S. 9ff.; 17. 16 Cf. Martin, Satyre, S. XXVIII ff. - Der einer zweiten Auflage der „Satyre“ beigegebene Text findet sich am Schluss des Werks (Martin, op. cit., S. 156 ff.). 17 Nach dem Zeugnis de Thous, in der lateinischen Originalfassung: „Scripti primus auctor creditur sacrificus quidam e Neustria terra vir bonus et a factione summe alienus, qui coram Borbonio Cardinali juniore quotidie sacrum celebrabat. Sed cum is tantum prima theatri vestigia delineasset, succedens alius scenam perfecte struxit, in eoque argumento natura et arte perfectam industriam mira felicitate exercuit: adeo ut nihil, toto horum bellorum tempore in publicum emanavit, quod tam avide ab utriusque partis elegantibus ingeniis acceptum, lectum et probatum sit.“ (Historiarum sui temporis […]; zit. nach Frank: Zur Satyre Menippée, S. 30 f.). 18 Kurz wieder die wichtigsten Daten: 6.3.1593 - Paris gibt den Widerstand auf; 22.3.1593 - Henri IV in Paris/ Einzug in Notre-Dame; 8.8.1593 - letzte Sitzung der Etats généraux; 15.9.1593 - die „entrée solennelle“ Henris in die Stadt Paris. 110 Klaus Ley Während dieser zweiten Phase zeigen sich in der „Satyre“ neue Wirkungsabsichten, die aber mit dem früheren Zustand der Schrift und ihrer ursprünglichen Intention durchaus als vereinbar dargestellt wurden. So wird etwa weiterhin das Abschwören des zukünftigen Königs als noch nicht erfolgt behauptet. Allerdings bieten die Druckfassungen aus den ersten Jahren - von den Manuskripten soll hier nicht die Rede sein - zwei unterschiedliche Erscheinungsbilder, mit verschiedenen Titeln: „L’Abbrégé et L’Ame des Etatz convoquez à Paris en l’an 1593, le 10 febvrier“ sowie die dann übliche Benennnung „Satyre Ménippée de la Vertu du Catholicon d’Espagne“. 19 Der einzigartige Text steht mit seiner schillernden Entstehungsgeschichte auf einer Zeitenwende. 20 Er reflektiert zunächst widerständig-kämpferisch, in grotesk-satirischer Form, die Endphase der Krise (Frühjahr 1593) und präsentiert sich dann, ab Sommer 1593 und bis ins Jahr 1594, als virtuos-geistreicher Rückblick auf die dramatischen Zustände und so zugleich als Mahnung vor ähnlichen Krisen in der Zukunft. 21 Damit ist ein wichtiger Aspekt der Perspektive literaturwissenschaftlicher Betrachtung angesprochen: Es handelt sich um Satire und um den Anspruch solcher Rede. Die Frage, wie die von der Wirklichkeit vorgegebene Krise sich im Medium der Literatur spiegelt, geht einher mit der Frage nach der - oder den - Wirkungsabsichten. Daran hängt nach heutiger Theoriebildung die Überlegung, wie der „satirische“ Diskurs einzuordnen sei. Um es vorwegzunehmen: Bachtin und die Karnevalisierung werden in der Forschung zur „Satyre Ménippée“ weitgehend als Maßstab bemüht, so auch von Martial Martin. 22 Mit Daniel Ménager sieht er in dem Text den Versuch, „[de] ruiner la rhétorique ligueuse“ (op. cit., S. LVII), was jedenfalls z. T. durchaus zutrifft. 23 Aber - das scheint nicht zuletzt angesichts des tagespolitischen Anspruchs selbstverständlich - solches Procedere ist im Moment der Entstehung funktional eingesetzt und dient entsprechend Zwecken der Pro- 19 Cf. auch Martin, Satyre, S. XCIV ff. 20 Cf. Zsuppán, C. M.: From ‚Abbrégé des estats’ to ‚Catholicon d’Espagne’: some political transformations of the ‚Satyre Ménippée’; in: Forum for modern language studies 21 (1985), S. 349-361; Barbier-Mueller, Jean-Paul: Pour une chronologie des premières éditions de la ‚Satyre Ménippée’ (1593-1594); in: Bibl. d’Hum. et Ren. 62 (2000), S. 373-393; Cazaux, Y.: Essai de bibliographie des éditions de la Satyre Ménippée, publiées du XVIe siècle au XVIIIe siècle; in: Revue française d’histoire du livre 34 N.S. (1982), S. 3-240. 21 Zu Formen späterer Rezeption cf. Martin, Satyre, S. CXIV. 22 Cf. Martin, op. cit., S. XLII; LIV ff. 23 Hinzuweisen ist dabei auf die spezifische Rolle des Werks im damaligen Kontext: „Il faut savoir aussi lire la Ménippée comme pouvaient la lire les partisans les plus convaincus de la Ligue.“ (Ménager, Daniel: L’image du Prince dans la „Satyre Ménippée“; in: Hepp, Noémi (ed.): L’image du souverain dans les lettres françaises, Paris 1985, S. 210). „La Satyre Ménippée“ 111 blemregelung in der aktuellen Lebenswelt und ihrer politischen Wirklichkeit. 24 Um das herausstellen zu können, bedarf es der treffenden Zuordnung eines klaren Standorts der Argumentation. Dabei dürfte nicht nur herauskommen, dass der Text, gerade weil er auf Gegebenheiten der Zeit eingeht, auch stark an sie gebunden ist. Der „utopische“ Überfluss, die Dimension der Offenheit seiner Aussage, könnte dann, wenn nicht im weitgehend karnevalistisch grundierten Text selbst, in der ihn generierenden Geisteshaltung von Kritik und wachem Selbstbewusstsein liegen. Die Rezeptionszeugnisse aus der Frühzeit helfen bei der Frage nach dem konkret politischen Nutzen der „Satyre“ allerdings wenig weiter. Wenn de Thou festhält, man habe das Werk sehr positiv, „avide ab utriusque partis elegantibus ingeniis acceptum, lectum et probatum“, also auch überaus amüsiert aufgenommen, so stellt der Reformationsanhänger Agrippa d’Aubigné das „Catholicon“ heraus als „la plus grande playe qu’ayent receu les Liguez“. 25 Heißt es also - auch in Laufe der weiteren Rezeptionsgeschichte - einmal, die „Satyre“ sei das beste Mittel zur Unterstützung von Henri IV gewesen, so findet sich als Gegenpol die Ansicht, das Werk sei schließlich von allen goutiert worden. Seit dem späteren 19. Jh. gibt es bis heute diesen Gegensatz im Urteil, mit allerdings anderer Ausrichtung, in Neuauflage. Durch neuere Forschungen wurde aber wieder klargestellt, dass die Problemlage der „Satyre Ménippée“ wenigstens in der Frühphase durchaus so aussah, dass sie in die noch offenen politischen Gegensätze eingriff und auch eingreifen wollte: „C’est un pamphlet contre la Ligue, un ouvrage de propagande où le rire est une nécessité politique.“ 26 Unter dieser Voraussetzung sollte die Frage wichtig sein: Welche Kräfte waren beteiligt, wie reflektieren sie sich in der „Satyre“, welche Mittel werden angewandt? Angesichts anderer Fragestellungen droht solche klare Ausrichtung heute dennoch wieder in den Hintergrund zu geraten. So deuten sich - zur Durchsetzung diskurstheoretischen Interesses, das dazu tendiert, die historischen Vorgaben eher zu vernachlässigen - Vorbehalte an gegen eine „einsei- 24 In diesem Sinne gilt: „le topos du monde renversé ne joue pas seulement un rôle critique: s’il vise à dénoncer l’inversion et à mettre au ban de la nature cette Ligue monstrueuse qui l’a pervertie, il valorise du même coup un ordre préexistant.“ (Boudou, M./ M. Driol/ P. Lambersy: Carnaval et monde renversé; in: Lestringant (ed.): Etudes, S. 105-119 [hier: S. 107]. 25 D’Aubigné: Histoire universelle, VIII, 292; zum Autor bemerkt er: „Un aumosnier du Cardinal de Bourbon, homme de peu d’apparence et de nom, a composé le Catholicon, la plus excellente satyre der notre temps.“ (Hist. I, II, chap. 12 et 21; zit. nach Frank, Zur Satyre Ménippée, S. 31). 26 Poirson, Florence: Les deux avis de l’imprimeur; in: Lestringant/ Ménager, Etudes, S. 39. 112 Klaus Ley tige“ Rezeption im Sinne pointierter Parteinahme. 27 Sie scheinen sich auch auf die Geschichte der Kommentierung des mit Zeitgeschichtlichem angefüllten Textes zu richten, wodurch eine zu starke Festlegung des Bedeutungsanspruchs unterstellt wird. Dazu bieten sich vor allem die Ausgaben ab 1660 an. Seitdem, vor allem seit den mit dem Druckort Ratisbonne versehenen Kerner-Ausgaben ab 1664, seien in den schließlich auf drei Bände anwachsenden Editionen des Textes die Kommentare, die auf die Notizen des damals bereits verstorbenen Pierre Dupuy zurückgingen, eigentlich die maßgeblichen gewesen. 28 Für die Deutung der „Satyre“ heißt das dann zugleich, daß sie im Sinne der „politiques“, also in der damaligen Konstellation als die Monarchie stützend, verstanden werden müsse. Die Problematisierung bzw. Hintanstellung von Pierre Dupuys Kommentaren kann oder soll vor diesem Hintergrund zur Herauslösung des Werks aus dem seit langem geläufigen Interpretationsrahmen führen, wenn gefragt wird: Wie sollte oder könnte es auch anders gewesen sein? Als neue Zielsetzung (im Sinne des offenen Kunstwerks) ließe sich dabei etwa eine an konkreten historischen Begebenheiten bzw. Missständen eher unausgerichtete, stattdessen grundsätzliche Aggressionsaussage des „satirischen Diskurses“ als Interessenschwerpunkt festlegen. Als Variante dieses inzwischen eigentlich überholten, weil zu stereotyp verfahrenden Vorgehens bietet sich im konkreten Fall das Argument an, die „Satyre Ménippée“ sei nach zwei letztlich grundverschiedenen Formen der Rezeption zu begreifen. Das Argument der volksnahen Karnevalisierung verliert nämlich entschieden an Gewicht, weil nach Auskunft Pierre Dupuys das Werk von namentlich benannten Humanisten, zumeist aus dem Juristenstand, verfasst ist. Es werde, so die mehr oder weniger suggerierte Schlussfolgerung, eigentlich zu Unrecht als volksnah und volkstümlich angesehen und sei vielmehr ein Vergnügen gehobener Kreise gewesen. Martial Martin, der Herausgeber der neuen Ausgabe, konstruiert daraus - in seinem vorbereitenden Aufsatz von 1998/ 2002 - die These einer doppelten Lektüre. 29 Dabei habe sich, etwa zur Zeit, als das Werk den Titel wechselte, d.h. als 27 Von der Beobachtung auszunehmen sind die Überlegungen zur Gattungsproblematik, die die „Satyre Ménippée“ als Experimentierfeld für neue Erzählformen begreifen; cf. dazu auch Martin, Satyre, S. LXII ff. et pass. 28 Cf. dazu Martin, Martial: La contribution de Pierre Pithou à la Satyre Menippée, in: Fragonard, M.-M./ Pierre-E. Leroy (ed.): Les Pithou. Les lettres et la paix du royaume, Paris 2003, S. 215-228. Anderes Material steuerte dann Le Duchat bei; zu weiteren - handschriftlichen - Informationen aus einer frühen Ausgabe cf. Lestringant/ Ménager: Avant-propos; in: Etudes, S. 13, Anm. 19. 29 Der Text präsentiere sich „selon deux pactes de lecture antagonistes, à la fois comme la source d’un plaisir esthétique à l’aune duquel l’auteur mesurerait son succès au sein de la République des Lettres et comme le lieu d’une action politique dont la réussite tiendrait à la faculté du texte de s’insinuer dans l’opinion publique, et par là au refus du „La Satyre Ménippée“ 113 der machtpolitische Konflikt im Kern gelöst gewesen sei, das Rezeptionsinteresse ganz auf die humanistisch gebildeten „happy few“ verlagert, die den im Text verborgenen Esprit allein und exklusiv hätten schätzen können. Im Gegenzug ist allerdings daran zu erinnern, dass die „Satyre“, als sie allmählich ihre Form gewann, am Ende einer langen und dramatischen Entwicklung einer Staatskrise stand, die alle Schichten betraf. Ihr Ziel, der Stärkung der Monarchie als der effizientesten Staatsform des frühmodernen Frankreich zu dienen, sollte, wollte und konnte offenbar alle Schichten ansprechen. 30 Sicherlich waren die Verfechter dieser auf die Gruppe der „Gebildeten“ zielenden Vorstellungen als führende Köpfe zu Hause in der Partei der „politiques“, aber sie waren doch existentiell ebenso betroffen wie die übrige Bevölkerung. Die Namen, die Pierre Dupuy nennt, sind die bekannter Pariser Humanisten mit jeweils sehr eigener Geschichte. 31 Als exemplarisch soll hier Pierre Pithou (1539-1596) genannt werden. Er war, nach dem Jurastudium bei Jacques Cujas in Bourges, seit 1560 „avocat au Parlement de Paris“. Zeitweilig bekannte er sich zur Reformation, entkam den Schrecken der Bartholomäusnacht und kehrte ein Jahr später zum Katholizismus zurück. Sein Einsatz, der sich auch in der Mitarbeit an der „Satyre Ménippée“ manifestiert, galt der Monarchie und der Eigenständigkeit der gallikanischen Kirche. Henri IV ernannte ihn später zum „procureur général au Parlement de Paris“. 32 Vor ihm hatte bereits sein jüngerer Bruder François (1543-1621) - er war anhaltend Anhänger der Reformation - um 1585/ 7 politische Pamphle- maintien dans la singularité d’une voix.“ (Martin: La contribution de P. Pithou, in: Les Pithou, S. 215 f.). 30 Wie zerrissen und zerklüftet das politische Feld allein auf der Seite der Ligue um 1590 nach dem Mord an Henri III aussah, hat Robert Descimon in der detaillierten Untersuchung „Qui était les Seize? “ (u.a. S. 65 f.; 133) herausgestellt. 31 An der Abfassung der „Satyre“ waren der Humanist Nicolas Rapin, der „conseiller au Parlement de Paris“ Jacques Gillot und die Dichter Florent Chrestien sowie Gilles Durant und Jean Passerat (1534-1602) beteiligt. Dieser tritt 1569, nach dem Jurastudium als Schüler von Cujas in Bourges, in Kontakt mit Henri de Mesmes und wird Erzieher von dessen Sohn. Nach dem Tode von Petrus Ramus, einem Opfer der Bartholomäusnacht, wird er Professor für Rhetorik am Collège Royal; cf. dazu auch Martin, Satyre, S. XLVI ff. 32 Zu seiner in dieser Funktion übernommenen Rolle zählte dann die Säuberung der Archive von Zeugnissen über die „époque de troubles“, die Henri IV vergessen machen wollte, cf. Marcilly, Ch. (ed.): Satyre Ménippée, Paris 1889, S. X. - Le Duchat stellte in „Remarques sur la Satyre Ménippée“ einen Teil des erhalten gebliebenen Materials zusammen (abgedruckt in den Ausgaben: Ratisbonne (Kerner) 1677 u. 1696; später zusammengeführt mit der Fassung, die Dupuys Anmerkungen enthält (ab 1664); als dreibändige große Ausgaben dann: 1703 ff. [verschiedene Ausgaben im Internet verfügbar]). 114 Klaus Ley te („libelli“) gegen die Ligue herausgebracht, die anonym erschienen und weitgehend namenlos blieben. 33 Reflexe der „Satyre“ in den Zeugnissen von Claude und Pierre Dupuy Angesichts der gegebenen Sachlage erscheint die Überlegung sinnvoll, von der skizzierten Vorstellung der Kommentargeschichte als einen möglichen Ansatz zur Relativierung der Werkintention auch anders, nämlich über die existentiellen Gegebenheiten der Betroffenen, in die Problematik des Textes und seiner Autoren hineinzukommen. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass Pierre Dupuy bereits verstorben war, als die Neuausgabe mit seinen Erläuterungen nach 1660 bei Kerner in Ratisbonne (i.e. Paris) erstmals herauskam. Bei dem genannten Pierre Dupuy handelt es sich um den 1584 geborenen Bruder des später weitaus bekannteren Jacques Dupuy (*24.9.1591), der bis heute namhaft geblieben ist - etwa wegen des Fonds Dupuy in der Bibliothèque Nationale. Diese Büchersammlung, die die Brüder, mit latinisiertem Namen Puteanus, der königlichen Bibliothek vermachten, ging auf die Bestände ihres Onkels Jacques-Auguste de Thou, aber auch ihres Vaters zurück. Pierre, der älteste Sohn, war zur Zeit der Entstehung der „Satyre“ gerade neun Jahre alt, so dass die Frage, ob er a posteriori ein zutreffendes Urteil über die Zustände habe fällen können, eigentlich durchaus berechtigt ist. Allerdings hat er nicht nur später, durch seine Verwandtschaft mit de Thou, in einem Milieu gelebt, das den Verfassern der „Satyre“ ganz nahe war. Zur Erhellung dieses Kontextes gibt es jetzt eine bislang offenbar nicht ausgewertete wichtige Informationsquelle. Pierre Dupuy wuchs nicht nur in einer Umgebung auf, die unmittelbar von der Zuspitzung der Krise um die „Ligue“ betroffen war - sein Vater, Claude Dupuy, war auch ein prominentes Opfer. Darüber hinaus bietet dessen Korrespondenz auf das Geschehen von 1589-1593 einen treffenden Blick a priori. Die Briefe, die er mit dem italienischen Gelehrten Gian Vincenzo Pinelli, einem der großen Büchersamm- 33 So: „Lettres d’un François sur certain discours faict naguères, pour la préséance du roy d’Hespagne“ (s.l., s.ed., s.d., 22 p.); „Traicté de la grandeur, droicts, préeminences et prérogatives des roys et du royaume de France“ (s. l., s.d. [1587]). - Die Zuschreibung ist abgesichert durch das Zeugnis Corbinellis, der am 4.8.1586 an G.V. Pinelli schreibt. Es geht um drei Bücher, deren letztes, von ebendem Bruder Pierre Pithous, als das eigentlich gelungene bezeichnet wird: „Harete visto il primo libro et poi il secondo con-tro alla Bolla: l’uno appassionato et poco decoro, l’altro laborioso nel vero, ma con poco sale. Il terzo che è appena hoggi veduto, del Pithou, per dirlo a V.S. et tribus cartis dice gran cosa con una precedentia de Francia contro Spagna […].“ (Gazzotti, lettre 150, p. 655; zit. nach Raugei, Anna Maria (ed.): Une correspondance entre deux humanistes. G. V. Pinelli et Claude Dupuy, Firenze 2001, S. 626). „La Satyre Ménippée“ 115 ler des späteren Cinquecento, gewechselt hat, liegen (herausgegeben von A.- M. Raugei) seit einigen Jahren vor. 34 Schon Claude Dupuy (1545 - 1.12.1594) vertritt, der mentalen Ausrichtung nach und seiner Karriere entsprechend, früh das Meinungsspektrum der Gruppe, die in Paris die Überzeugungen repräsentiert, die trotz aller Unterschiede unter den „politiques“ verbreitet waren. 35 Sein für einen juristisch gebildeten französischen Humanisten typischer „cursus honorum“ beginnt mit der Einsetzung in das höhere Amt der Staatsverwaltung. Anfang 1576 wird Dupuy, wie er am 7. Februar des Jahres nach Italien berichtet, als „conseiller au Parlement de Paris“ vereidigt. 36 Für seine gelehrten Interessen bleibt ihm nur wenig Zeit; sonntags geht es zu den im „couvent des cordeliers“ stattfindenden „réunions“, wo Christophe de Thou, der Vater des später bedeutsamen Jacques-Auguste, den Ton angibt. 37 Dessen Nichte, Claude Sanguin, heiratet Dupuy in dieser Zeit. Bereits damals, zu Beginn der Religionskriege, beschreibt er, ganz im Sinne der „politiques“, die in seinen Kreisen vertretene geistige Verfassung. 38 34 Cf. auch Delatour, J.: Une bibliothèque humaniste au temps des guerres de religion. Les livres de Claude Dupuy d’après l’inventaire dressé par le libraire Denis Duval (1595), Paris/ Genève 1998. 35 „Sa relation avec les intellectuels les plus ouverts et les plus tolérants du milieu parisien sont autant de facteurs qui expliquent la position de grand équilibre qu’il garde vis-à-vis de la tragédie déchirant la France des derniers Valois: une position éloignée du fanatisme catholique aussi bien que de l’intransigeance réformée. Rangé ainsi dans le parti des ‚politiques’, il vivra avec une absolue cohérence ce choix apparemment neutre, ne glissant dans ses lettres à Pinelli que des allusions rapides et retenues aux événements, souvent sanglants qui se passent après son retour de l’Italie“. (Raugei, op. cit., S. XXXV f.). 36 „Je suis receu en mon estat de Conseiller en ce Parlement dés le mois de Fevrier, après avoir souffert beaucoup de peines et de travaux. Ces offices sont honorables entre ceux de notre robe, au reste pénibles, sujets, et peu propres à mon humeur et naturel. Mais en France on ne peut honnestement demeurer privé, ores que lon le desirast, ‚sic vivitur apud nos’! O que vous etes heureux en Italie, qui pouvez passer vos ans ‚in otio simul et in honore’.“ (Raugei, op. cit., Lettre 74; I, S. 204; cf. auch S. XXIII). 37 Beide de Thou - Christophe (1508-1562), der Vater, und der bereits erwähnte Jacques- Auguste (1553-1615) - vertraten immer die moderate Position der „politiques“ zur Wahrung der Interessen der Monarchie. Christophe verteidigte dabei sogar die Rechtfertigung, die Charles IX für die Bartholomäusnacht gab. Er trat gegen die Ligue auf, bis Henri III sich zu deren Anführer erklärte; dann war er eine Zeit lang deren Anhänger. Dieselbe Linie verfolgte auch der mit Claude Dupuy befreundete Sohn, der sich als Katholik für die Einsetzung von Henri IV stark machte. Wenig später übertrug ihm der neue König die Redaktion des Edikts von Nantes. 38 „Là, catholiques et protestants mêlés, parlementaires et disciples de Cujas pour la plupart, n’aspiroient qu’à la paix et à la défense de l’Estat contre les factieux qui prenoient prétexte de la religion pour ravir le pouvoir à leur souverain légitime.“ (zit. nach Raugei, S. XXXIII). - In dieses Umfeld gehört auch Henri de Mesmes, „seigneur de Roissy et de Malaisse (1539-1596), parlementaire et érudit français, conseiller au Parlement, maître de requêtes au Conseil d’État et plus tard chevalier du roi de 116 Klaus Ley Für ihn endet das geordnete Leben, dessen epistolographische Spiegelung mit dem Brief an Pinelli vom 25. Januar 1588 abbricht, in der persönlichen Katastrophe. Er wird wenig später, wie auch die Parlamentspräsidenten Harley und de Thou, von der Ligue festgenommen, seines Amtes enthoben und von Enteignung bedroht. 39 Monate später befreit, ist er erst im Frühjahr 1591 von Henri de Navarre wieder in sein Amt eingesetzt, kann aber nicht in sein Pariser Haus im Faubourg St Germain des Prés zurückkehren, weil es von den Ligueurs okkupiert ist. Vorübergehend kommt er unter bei Pierre Pithou, dem bereits erwähnten Mitverfasser der dann entstehenden „Satyre Ménippée“. Wenig später, 1593, als sich die Situation für ihn beruhigt hatte, nimmt Claude Dupuy die - allerdings nicht erhaltene - Korrespondenz mit Pinelli wieder auf. Am 1.12. 1594 stirbt er. 40 Dupuys politische Bemerkungen zur Lage finden sich in der gesamten Korrespondenz 41 , so zu Beginn ein Kommentar zur Bartholomäusnacht im Brief vom 2.2.1573. 42 Zuvor, im Brief vom 19.7.1572, bietet er Anmerkungen Navarre“. (Raugei, S. 592). Er betätigte sich als Mäzen, besaß eine große Bibliothek, die seine Freunde, darunter Lambin, Dupuy etc., benutzten. Die Sammlung wurde später von Louis XV gekauft. Seine Memoiren erschienen 1886. 39 L’Estoile beschreibt die Opfer, wie sie geführt wurden: „tout au travers des rues pleines de peuple, qui, épandu par icelles, les armes au poing et les boutiques fermées pour les voir passer, les lardaient de mille brocards et vilainies.“ (zit. nach Jouanna, Histoire et dict., S. 597). - Zur Hinrichtung des Président Brisson und anderer Angehöriger des Parlement durch die „Seize“ und der anschließenden Abtrennung der „Ligue nobiliaire“ von der „Ligue roturière“ durch das über die „politiques“ vermittelte Eingreifen Mayennes cf. Jouanna, S. 605. 40 In der kurzen Zusammenfassung A. M. Raugeis: „La France va alors précipiter dans le chaos: d’abord, à Paris, la journée des barricades, les 12 et 13 mai 1588; puis le triomphe de la Ligue, enfin, le 16 janvier 1689, l’emprisonnement de Claude [Dupuy] à la Bastille en sa qualité de membre du Parlement. Ce jour-là Claude n’est pas au Parlement, mais son nom figurant dans la liste des magistrats qui devaient subir la violence des ligueurs, le capitaine Le Clerc de Bussy va le chercher à son domicile. Libéré le 28 mars suivant, on ne sait si moyennant une certaine somme d’argent comme l’avaient fait d’autres prisonniers, suspendu de sa charge et menacé de la confiscation de tous ses biens, il s’enfuit de Paris avec toute la famille dans la seconde moitié de 1589: il trouve refuge chez son beau-frère Claude Séguier à La Verrière. […] Réintégré au sein du Parlement par lettres patentes d’Henri IV le 29 mai 1591, Claude gagne Tours et rentre au Parlement le 24 juillet avec son ancienne charge.“ (op. cit. S. XXXVII). - Der Erzieher auch seines Sohns war Jean Passerat. 41 Bereits am 10.11.1571 schreibt er an Pinelli: „Nous avons aussi de nouveau un livre intitulé, Commentarii de statu Religionis et Reipublicae in regno Galliae, in 8-o contenant trois parties. L’auteur n’y est point nommé, et est de la nouvelle religion. Il commence a la fin du Regne du Roi Henri et finit a la pacification derniere.“ (Brief Nr. 16; Raugei, S. 30). 42 „J’entens qu’à Romme l’Evesque de Fano a fait un discours sur l’execution que nous appelons de la St. Barthelemi, portant ce titre, Stratagema di Carlo IX. etc. pensant a mon opinion faire un bon office au Roi, lequel toutefois a esté fort mal content et a tousjours donné à entendre que ladite execution n’a esté une chose pourpensée et brassée de „La Satyre Ménippée“ 117 zu einer Anzahl von Schriften, die sich mit der kritischen Lage in Frankreich befassen. 43 Sozusagen unmittelbar zu unserem Gegenstand aber kommt Dupuy anlässlich seiner Bemerkungen zu dem römischen Dichter Varro, dem - vor und neben Seneca mit der „Apocolocyntosis“ - wichtigsten antiken Vertreter der menippeischen Satire. Es geht hier um Scaligers Werkausgabe „Marci Terentii Varronis Opera quae supersunt“, die 1573 in Genf erschienen war. Dazu hatte Marc-Antoine Muret, der berühmt-berüchtigte Humanist, der sich lange in Italien aufhielt, Stellung genommen. Als Dupuy dessen unberechenbare Haltung kritisiert, erwähnt er beiläufig Florent Chrétien (1541-1596), der, wenngleich ein in Genf ausgebildeter Anhänger longue main, mais une deliberation prise soudain et pour prevenir la pretendue conjuration de l’Amiral et ses complices: et de fait s’est mis en peine de le persuader et faire croire aus Princes estrangers Protestans, par Ambassadeurs, lettres, et par livres: desquels je vous ai ja envoie une Epistre apologetique de Vidus Faber Avocat du Roi en ceste Cour de Parlement, qui est un grand homme et disert en Latin & François.“ (Raugei, Corr. I, 67; zu Coligny: S. 476 pass.). - Auch über den Anlass, die Vermählung von Henri de Navarre mit Marguerite de Valois (1553-1615) am 18.8.1572, berichtet Dupuy bereits seinem italienischen Briefpartner. Am 18.6.1571 schreibt er: „Opinio enim est, Principi Navarrae pactam esse Margaritam Regis sororem, maximum concordiae inter partes vinculum.“ (Brief Nr. 13 - Raugei, Corr., S. 21; cf. auch S. 565). 43 „Non est satis percepi cuiusmodi sit illud, quod ex me quaeris de libello quodam, qui est inscriptus, Recueil des choses etc. depuis la mort du Roi Henri II. jusques au commencement des troubles; et pour ce vous m’en escriréz plus clairement. Et a ce propos je vous veux dire en passant quels et combien de livres ont esté faits de ce sujet, et peut estre que ce faisant je vous esclaircirai de votre doute. Commentaires de l’estat de la Religion et Republique etc. in 8-o, qui est une histoire continuée d’un fil depuis l’an 1556. jusqu’au colloque de Poissi 1561. Cinq volumes de Recueil, qui sont rama et farragines de plusieurs livrets, discours, edits, mandemens, lettres, actes judiciaires, protestations, remonstrances, complaintes, requestes, placars et choses semblables, disposéz selon l’ordre des temps. les trois premiers se suivent depuis la mort du Roi Henri jusques a l’an 1565. in 8-o. le IIII.me contient les choses appartenantes aus seconds troubles 1567. in 8-o. le Ve est de la derniere guerre. In 8-o. Memoires de la troisieme guerre civile etc. elle est descrite asséz succinctement, ce que mesmes le mot de Memoires porte, combien que les Edits, lettres, remonstrances, bulles etc. y sont insérez en leur lieus. icelles ne vont que jusques a l’entreprise sur Bourges. in 8-o. Vraie et entiere histoire des dernieres troubles etc. comprises en dix livres. in 8-o. L’auteur de ceste ci veut sembler neutre, et est estimé asséz veritable, mais il desplait a plusieurs pour sa trop grande affectation de langage, la quelle un historien sur tous doit fuir. Commentarii de statu Religionis et Reipublicae in regno Galliae. in 8-o. Genevae. l’oeuvre est asséz gros, et est distingué en trois parties, et chaque partie en trois livres, et est de ce qui s’est passé en France, j’entens qui touche le fait de la Religion, depuis le regne de Henri II. vers la fin d’icelui jusques au dernier Edit de pacification. on n’en fait pas grand cas. or aus susdits livres de Recueil ne sont contenus plusieurs livrets qui furent publiéz secretement d’une part et autre l’an 1565. sur le different qui se meut entre Monsieur le Mar.al de Montmorenci et le Card.al de Lorraine: lesquels n’ont esté inseréz au Recueil, dautant que ce fait n’a rien de commun avec celui de la Religion, estans les deux principales parties notables et rares qui se sont passées en ce Roiaume depuis le Roi François premier.“ (Lettre 25; Raugei, S. 52 f.). 118 Klaus Ley des reformierten Glaubens, damals auch schon zum Kreis um de Thou zählte. 44 Er war zuvor tätig gewesen als Lehrer von Henri de Navarre; später beteiligte er sich dann an der Abfassung der „Satyre Ménippée“. 45 Kurz vor der Drangsalierung durch die Ligue äußerte sich Dupuy schließlich zu Louis d’Orléans (1542-1627/ 9? ). Dieser, gleichfalls Jurist, allerdings politisch auf der anderen Seite, war beteiligt am Ausbau der „ligue roturière“, die sich ab 1584 in Paris unabhängig von der „ligue nobiliaire“ gebildet hatte, aber lange in engem Kontakt mit ihr blieb. 46 Als Verfechter der in der französischen Hauptstadt tonangebenden und in der Ligue einflussreichen „Seize“ war Louis d’Orléans zu dieser Zeit ein wirkungsvoller Verfasser von gleichfalls meist anonym veröffentlichten Pamphleten. 47 Das erste der beiden bekanntesten, die Dupuy denn auch an Pinelli schickte (wobei er dessen Kenntnis bereits voraussetzte), bedachte er mit dem Kommentar: „L’advertissement public sous le nom du Catholique Anglois est assez bien faict, et je vous l’envoierai a la premiere commodité. Quelcun de vos amis m’avoit dit qu’il vous l’avoit faict voir.“ 48 [vgl. Anhang Abb. Nr. 3] Es handelt sich hierbei um „L’Advertissement des catholiques anglois aux François catholiques, en danger où ils sont de perdre leur religion“. 49 Den Bezugsrahmen bildet das Leiden und der Tod der Maria Stuart, vormals Gemahlin des französischen Königs François II, deren unglückliches Schicksal - so die warnende Botschaft der Schrift - nur das der Katholiken in 44 „jeun’ homme de fort gentil esprit et bien versé es livres Grecs, principalement des poetes, et qui fait d’asséz bons vers Grecs, Latins et François; (comme vous en devéz avoir veu) au demeurant fort libre et picquant en ses escrits, partium suarum, quoad steterunt, propugnator, adversarum exagitator acerrimus’ […].“ (Lettre 40, Raugei, op. cit., S. XLVII, I, 96). 45 Das bezeugt neben Pierre Dupuy auch eine handschriftliche Eintragung in einer frühen Druckausgabe der „Satyre“. Die Angaben über die Verfasser differieren dabei leicht; cf. dazu Lestringant/ Ménager: Avant-propos; in: Etudes, S. 13, Anm. 19. 46 Aus ihr ging, etwa zur selben Zeit wie die „Satyre Ménippée“, der anonym erschienene Text „Dialogue d’entre le Maheustre et le Manant“ (1594) hervor. - Jeweils zu den politischen und religiösen Motiven der beiden Teile der Ligue cf. Jouanna, Histoire et dict., S. 316. 47 Nach der Konversion von Henri IV ging er zu ihm über und betätigte sich als Panegyriker; cf. Raugei, S. 608. - Zu den frühen Schriften zählen: „Apologie des catholiques unis contre les impostures des catholiques associés à ceux de la Prétendue Religion“; „Remonstrances aux catholiques de tous les estats de France pour entrer en l’asso-ciation de la Ligue“ (1586). - In der „Satyre Ménippée“ wird er in der „harangue“ des Recteur Roze erwähnt: „Si Monsieur d’Orléans, en qualité d’avocat général, veut faire recherche de ces meschants imprimeurs Politiques, c’est sa charge, et se connoist aux caracteres […]“. (ed. Marcilly, S. 137; cf. auch S. 158 - in der „harangue du Sieur de Rieux“). 48 Raugei: Corr. 351; Pinelli dankt wenig später: S. 365. - Zu den „Libelles“ cf. Jouanna, Histoire et dict., S. 352. 49 s.l., s.ed., [1586],134 p. - Die Fortsetzung ist „La Réplique pour le catholique anglois, contre le catholique associé des huguenots“ (s. l., s. ed., 1587, 20 p.). „La Satyre Ménippée“ 119 England spiegele, vor dem sich die Franzosen wahren Glaubens rechtzeitig schützen sollten. Die Häresien der Reformierten in Frankreich werden entsprechend seitens der Ligisten als auch von der Regierungsführung zu verantwortender Verstoß gegen den göttlichen Plan dargestellt. Das führt wiederum zwangsläufig zur Ablehnung eines Königs, eben des Prätendenten Henri de Navarre, der der anderen Konfession angehört. Die hinter den religiösen stehenden politischen Interessen beziehen sich, um das alte System zu erhalten, letztlich auf die Abwehr des absolutistisch ausgerichteten neuen Nationalstaats, den bereits die Valois vertreten hatten. Damit ist der wesentlich rückwärts gewandte Impuls benannt, der die Ligue auszeichnet - auch auf der Seite Philipps II. mit seiner Vorstellung von der Universalmonarchie. Zwar zählen gerade die genannten Texte von Louis d’Orléans zu den bekanntesten und wirkungsvollsten in der großen Fülle von agitierendem Schrifttum, das auf allen Seiten der Religions- und Parteienkämpfe verbreitet wurde; das bleibend bedeutendste und anhaltend über die Jahrhunderte auch international am meisten beachtete Werk blieb aber die „Satyre Ménippée“. Hier findet Louis d’Orléans’ „L’advertissement des catholiques anglois aux François catholiques“, zumindest thematisch, eine gegenbildliche Anknüpfung im „Catholicon d’Espagne“, so einer der frühen Titel der „Satyre Ménippée“. Wie in dem Pamphlet über die englischen Glaubensbrüder gerät nämlich ein zentrales politisches Thema, der Katholizismus in Verbindung mit den „auswärtigen“ politischen Kräften, hier wieder Spanien und Lothringen, sofort ins Blickfeld. Das „Catholicon“ wird vorgestellt als eine Droge, die gegen falsche Konfessionen ihre Wirkung tut. Ihre Anpreisung durch zwei „Charlatans“ bildet den eigentlichen Auftakt der ersten der drei Hauptteile der „Satyre Ménippée“. Zur Theatralität der „Satyre Ménippée“ Das Werk ist, wie der zweite, erst später fixierte Titel besagt, ein Prosimetron. 50 Die Bezeichnung geht auf den zusammen mit dem damals berühmten Joseph Justus Scaliger erwähnten römischen Satiriker Varro zurück, der die Gattung nach ihrem griechischen Begründer, dem kynischen Philosophen Menippos von Gadara, benannt hatte. 51 Die Nähe der Gattung 50 Die Verseinlagen kommen erst in den späteren Fassungen in den Text; cf. dazu auch Legrand, M. D./ Ménager: Vers et prose; in: Lestringant, Etudes, S. 85-103. 51 Im „Discours de l’Imprimeur“ findet sich die nähere Bestimmung: „Quant à l’adjectif de Menippee, il n’est pas nouveau: car il y a plus de seize cens ans que Varron […] a fait des Satyres aussi de ce nom […] à cause de Menippus, philosophe Cynique, qui en avoit fait de pareilles auparavant luy, toutes pleines de brocards sales et de gausseries 120 Klaus Ley zum Theater als mimisch-gestischer Aufführung ist von vornherein gegeben. 52 Neues Gewicht hatte die Gattung aber nicht allein durch die bereits erwähnte Varro-Edition Scaligers (1573) 53 , sondern auch durch umformende Wiederbelebung, so vor allem in Justus Lipsius’ lange erfolgreich gebliebenem Werk „Somnium, satura menippea“ (1581), gewonnen. 54 In Lipsius’ „Somnium“ ist, wie in der „Apocolocyntosis“ seines Vorbilds Seneca, die Vorstellung vom Spiel als Theater - wie auch in der „Satyre Ménippée“ - konstitutiv. Dabei zielt Senecas „Ludus de morte Claudii“ stärker auf politische Zusammenhänge als Lipsius’ „Lusus in nostri aevi criticos“ - so die Untertitel. Bei Lipsius geht es mehr um humanistisch-philologische Belange, die allerdings bereits so brisant waren, dass das Buch auf der Frankfurter Buchmesse konfisziert und ein Verbot im gesamten Kaiserreich beantragt wurde. 55 Die „Satyre Ménippée“ erweist sich damit als fest in eine Gattungstradition eingelassen, die im humanistischen Denken verankert ist, ohne allerdings die - dringend angestrebte - Wirkung auf ein breites Publikum außer Acht lassen zu wollen. In der Tatsache, dass so mit neu gefassten Mitteln der klassischen Rhetorik eine durchschlagende Resonanz gefunden wird, liegt die Einzigartigkeit dieses Werks. Wesentliches Element der Erfolgsstrategie ist die durch Witz und Geistesgegenwart erzeugte Verwirrung und Verunsicherung, die das Publikum saulpoudrees de bons mots pour rire, et pour mettre aux champs les hommes vitieux de son temps. Et Varron, à son imitation, en fit de mesme en prose, comme depuis fit Petronius Arbiter, et Lucien en la langue Grecque, et apres luy Apulee.“ (Satyre, ed. Martin, S. 161). - Zugleich wird so - wohl von Jean Passerat - die Gattung definiert: „le mot de Satyre ne signifie pas seulement un poème de mesdisance pour reprendre les vices publiques, ou particuliers de quelqu’un: comme celles de Lucilius, Horace, Juvenal et Perse, mais aussi toute sorte d’escrits remplis de diverses choses et de divers arguments, meslez de proses, et de vers entrelardez, comme entremets de langues de boeuf salees.“ (Satyre, ed. Martin, S. 160); cf. auch de Smet, Ingrid A. R.: Menippean satire and the republic of letters, 1581-1655, Genève 1995, S. 43 ff. 52 Zu weiteren Ausformungen, so zum „theatrum memoriae“, cf. Lestringant, Frank: Une topographie satirique - La Satyre Ménippée; in ders./ D. Ménager, Etudes, S. 55-84. 53 In diese frühe Ausgabe hatte J. J. Scaliger allerdings keines der bereits bekannten Satirenfragmente aufgenommen; die späteren Neuausgaben sind erweitert und bieten auch Kommentare von A. Turnèbe, P. Victorius und A. Augustinus, so: Dordrecht 1619. 54 Zu den literarischen Aktivitäten des Vf.s, der zeitweise zwischen den Konfessionen schwankte, cf. Papy, Jan: Justus Lipsius and the German Republic of letters; in: <http./ / www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/ GermLat/ Acta/ Papy.htm>. 55 Cf. Matheeussen C./ C. L. Heesakkers (ed.): Two neo-latin Menippean Satires: J. Lipsius „Somnium“/ P. Cunaeus „Sardi venales“, Leiden 1980, S. 7 f.; zum deutschniederländischen Kontext cf. aber de Smet, Menippean satire, S. 87 ff. - Zum Vergleich der Texte bei M. Martin: Satyre, S. LXX ff.; zuvor, in seiner Studie zu P. Pithou von 2003 (S. 216), konstatiert er, eine solche Annäherung beraube die „Satyre“ ihrer Nähe zum Volk. „La Satyre Ménippée“ 121 in Widerspruch zu etablierten Meinungen und zu sich selbst bringen will, wobei es nicht um eine apodiktisch vorgetragene Kritik geht. Bereits in der ersten gedruckten Ausgabe der „Satyre“, im Vorwort „L’Imprimeur au Lecteur“, gibt es eine Form der Verfremdung oder Distanzierung dadurch, dass zu Anfang mitgeteilt wird, wie das Manuskript als Bericht eines italienischen Herrn, der die Ereignisse in Paris mit eigenen Augen gesehen und niedergeschrieben habe, in fremde Hände geraten, ins Französische übersetzt und dann schließlich gedruckt worden sei. 56 Solche Verschachtelung wird allerdings später fallengelassen. 57 Die hier aufgeworfene, besser verrätselte Frage nach dem Verfasser findet eine erste Antwort in der bereits zu Beginn zitierten Stellungnahme de Thous, des Gewährsmanns von Pierre Dupuy. Bei dem „Erfinder“ soll es sich um Jean Le Roy, Regius, handeln, der als „aumonier“ des Cardinal de Bourbon wirkte. Nach den ersten Anfängen hätten die anderen sein Unternehmen weitergeführt. Auf diese Weise erklärt sich auch - das findet man heute in der diskursanalytischen Forschung neu akzentuiert wieder - das Verschmelzen von verschiedenen Formen des Redens, für das die Satire als „satura lanx“ ein geeignetes Behältnis darstellt. Das Werk besteht in der Gesamtabfolge aus dreizehn Teilen; sein Aufbau wird oft verglichen mit der Komposition eines mittelalterlichen Dramas. 58 Dabei geht man von einer Aufteilung des Gesamttextes in drei Großformen aus, nämlich: Parade, Prozession und Beschreibung der Tapisserien; „les Harangues“, d.h. die Reden als der eigentliche Hauptteil; Beschreibung der allgemeinen Bilder und die abschließenden Gedichte. Im Folgenden soll auf den Auftakt und die Ansprachen eingegangen werden. Zunächst also präsentieren die „deux charlatans“ als Stellvertreter der beiden Gruppierungen der „Ligue“, die der Partei des zukünftigen Königs Henri IV entgegenstehen, im Hof des Louvre ihre Drogen: der Lothringer (Monsieur de Pelvé) seinen „fin galimatias“und der Spanier (le cardinal de Plaisance) das „Catholicon composé“, das wunderbare Wirkungen zeigt. Anlass des Auftritts ist die Ankunft der Deputierten der Etats Généraux, die die Anführer der Ligue im Palast zusammengerufen haben. Das Wundermittel, „higuiero d’infierno [etwa: höllischer Feigensaft] ou catholicon composé“, hat - so die grotesk-ironische Kritik - die sofortige Ausrichtung auf eine aggressive Einstellung gegenüber Glaubensfeinden zur Wirkung, 56 Martin, Satyre, S. 5; cf. auch Poirson, F.: Les deux âvis de l’imprimeur, S. 42 ff. 57 Dieser „avis“, der - so nach J. Kristeva (cf. Martin, S. LXII) - von Bedeutung für die Ausbildung des modernen Romans ist, findet sich nur in der ersten Druckserie (1593- 1594). 58 „D’abord la parade des charlatans. Puis le défilé des acteurs. Enfin, la pièce elle-même, formée par les harangues.“ (Hasselmann, Jules (ed.): La Satyre Ménippée (extraits), Paris 1941, S. 9). 122 Klaus Ley mit der Bereitschaft zu zerstören, zu plündern, zu töten, zu vernichten. 59 Die Eingangsszene findet ihre Fortsetzung in der Prozession der in den Louvre einziehenden „Ligueurs“. Nach der Beschreibung der Tapisserien schließt sich die Sequenz der „harangues“, der Vorträge der Hauptredner des 2. Teils also, an. Diese Ansprachen bieten ein breites Spektrum von Reden, durch die die Vortragenden sich selbst, ihre politische Einstellung und ihre Ziele, der Lächerlichkeit preisgeben. Es wird eine Welt vorgeführt, die aus den Fugen geraten ist. Der gesamte Ablauf ist somit als komisch-groteskes Geschehen angelegt. Thematisch zeigt sich das vor allem am Gegenstand der Königswahl, die ja als die eigentliche Aufgabe der Etats Généraux festgesetzt ist. Zunächst wird diese in den Harangues der Ligueurs wie ein Karnevalsereignis behandelt. 60 Zugleich aber ist augenfällig, dass die Zustände katastrophal sind, in denen unter solchen Bedingungen der Souverän gewählt werden soll. Nicht eigentlich die Wahl also, sondern die ungeeigneten Vertreter, die sie ausführen zu können beanspruchen, fallen der Komik und der Kritik anheim. Daniel Ménager stellt in diesem Zusammenhang die Überlegung an, dass die polemische Vorführung von wenigen Gestalten, so etwa dem „recteur Rose“, denen bei der Regelung von Dingen des öffentlichen Lebens üblicherweise die Entscheidung zugestanden werde, ein wesentliches Anliegen der „politiques“ umschreibt, nämlich daß über die Belange, die alle angehen, eine breitere, allerdings möglichst qualifizierte Öffentlichkeit entscheiden müsse. Festzuhalten bleibt dabei aber auch, dass trotz des Eindrucks, die Schilderung des „Catholicon“ und seiner Auswirkungen sei ein früher Beitrag zur Leyenda negra, eine eindeutig negative Einstellung gegenüber Spanien fehlt. Das Bild, das von Philipp II., dem „roi prudent“, entworfen wird, ist positiv und durchaus auf der Höhe der Darstellung seines Gegenspielers Henri de Navarre. 61 59 Dabei bleibe das Volk, so wird angemerkt, gegenüber den Auswirkungen erstaunlich friedfertig: „le peuple du pays dira ce sont bons Catholiques, ils le font pour la paix et pour nostre mere Saincte Eglise.“ (Martin, Satyre, S. 9). 60 „Il me semble que nous celebrons icy la feste des Innocens ou le jour des Roys. Si vous aviez maintenant un verre de bon vin, et qu’il pleust à la majesté de vostre lieutenance boire à la compagnie, nous crierons tous: le Roy boit! Aussi bien n’y a il gueres que les Roys sont passez.“ (Satyre, ed. Ch. Read, Paris 1876, S. 111; zit. nach Ménager: L’image du Prince; in: Hepp, L’image du souverain, S. 208). 61 Cf. Ménager, Daniel: L’image du prince dans la Satyre Ménippée, S. 207 ff.; auch Reinbold, Markus: Philipp II. von Spanien. Machtpolitik und Glaubenskampf, Zürich 2009. „La Satyre Ménippée“ 123 Textstrategien und besondere Wirkungsmuster Der Auftritt der beiden „charlatans“ zeigt bereits eine für die Form der Satire charakteristische Hybridisierung: Die sonderbaren Gestalten sind Karikaturen realer Personen aus dem öffentlichen Leben, bzw. sie sind als mit deren Namen versehene Figuren erkennbar. Das karikierende Moment kommt durch besondere Mittel der Darstellung zum Zuge. Die „charlatans“ befinden sich im Hof des Louvre auf einer Art Bühne „comme on veoit assez à Venise en la place Saint-Marc“. 62 Dadurch ist die Nähe zur „commedia dell’arte“ gegeben, die noch zusätzlich unterstrichen wird: Das Porträt des „charlatan espagnol“ - des cardinal de Plaisance als Vertreter des spanischen Königs - in der 1. Druckausgabe ist in direkter Anlehnung an die Darstellung eines Zanni gefertigt. 63 [vgl. Anhang Abb. Nr. 1 u. 2] Das weitere sprachlich-stilistische Vorgehen zeigt durchgehend typische Formen satirisch-kritischer Darstellung, die u.a. mit Verzerrungen von Groß/ Klein spielen. Dem entspricht das sprachliche Durcheinander mit den unterschiedlichen, unangemessen verwendeten Stilebenen: So redet der päpstliche Legat italienisch und lateinisch, der Kardinal Pelvé neben französisch ebenfalls lateinisch etc. Das Diskreditieren der Ligueurs bedient sich weiterer literarisch-künstlerischer Mittel - etwa, wenn die komisch-groteske Rolle, die der recteur Rose einnimmt, dadurch unterstrichen wird, dass seine Rede als „coq-à-l’asne“ aufgebaut ist; er erinnert so an Figuren von Rabelais. 64 Als wirkungsintensiver Haupteindruck der Redenden von der Ligue stellt sich heraus, dass sie in „naiver“ Unbefangenheit die eigenen Strategien und damit auch ihre unverfrorenen Absichten und kriminellen Ziele benennen. Die Ansprachen bieten also keine Abfolge von kaschierenden Lügen, sondern präsentieren Selbstoffenbarungen, die dadurch, dass sie in aller Schrecklichkeit ganz unverstellt daherkommen, zum Lachen reizen. 65 So fin- 62 Satyre, ed. Martin, S. 8. 63 Cf. Cazauran, Nicole: Le charlatan espagnol de la „Satyre Ménippée“; in: RHLF 81 (1981), S. 883-891. - Entsprechend hat bereits J. Frank zur Theorie der Entstehung der „Satyre“ die These vertreten, Leroy und seine Mitautoren hätten sie „etwa nach der Art der Dichter der italienischen comedia del arte [! ]“ verfasst. (Zur Satyre Ménippée, S. 29). 64 Zu weiteren literarischen Bezügen cf. Vignes, Jean: Culture et histoire; in: Lestringant / Ménager, Etudes, S. 151-199 [hier: S. 157 f.]. 65 G. Macchia spricht bei seiner Vorstellung des Textes von den „fini vergognosi“ des jeweiligen Redners: „E non avendo coscienza di ciò che dice, la sua confessione non rappresenta un problema morale. Un assemblea che doveva essere ornata di parole di una bugiarda eloquenza, si trasforma in una riunione di criminali che parlano e fanno ridere perché ignorano la gravità di quello che dicono“. (Macchia, Giovanni: La letteratura francese, Milano 1987, Bd. I, S. 424). - Ein Urteil aus dem 19. Jh.: „Nicolas 124 Klaus Ley det sich - als allerdings nur bedingt zutreffende Diagnose - bestätigt, dass die „Satyre“ in ihren Hauptteilen die Absicht verfolgt, „[de] ruiner le discours de la Ligue“. 66 Sechs der sieben Harangues, im zentralen Teil der „Satyre“, sind solche grotesken Verzerrungen öffentlichen Redens. Die Auffächerung ihrer sprachlichen Mittel, der Intention ihrer Komik und der darin erkennbar werdenden weltanschaulich-politischen Stellungnahmen, kurz das Verhältnis von „res et verba“, verlangt ein differenziertes und aufwendiges Vorgehen. 67 Das Verfahren, das eine Strategie verfolgt, die u. a. von Pascal in den „Lettres provinciales“ weitergeführt wurde, 68 findet seine umorientierende Ergänzung in der abschließenden „harangue“. Pierrre Pithou und die Rede des colonel d’Aubray Zu den karikierenden Darstellungsformen, die an die Maskeraden Lukians, Rabelais’ oder Bonaventure des Périers’ erinnern, gibt es als Gegenposition, als für den Moment und die hier behandelte Fragestellung besonders interessanten Aspekt, die Rede Claude d’Aubrays. Erst eigentlich in dessen langem Discours erscheint - vor dem turbulenten Hintergrund - voller Ernst das zentrale Anliegen der „Satyre“, der Appell an das Publikum, die eigene Vernunft zu gebrauchen. Hier wird die „verkehrte“ Welt der „Ligue“ nicht nur entlarvt, sondern auch konterkariert, ohne dass sich aber diese Meinung ihrerseits ideologisch ganz verfestigt. 69 Rapin, qui composa les discours du cardinal de Pellevé et du recteur Roze, leur prête un double rôle. Il les fait tantôt déraisonner gravement, tantôt parler sous l’empire de la conscience. Leur discours devient ainsi une perpétuelle ironie, d’autant plus piquante qu’elle est involontaire, et le bon sens est également vengé par les extravagances que la folie leur suggère, soit par les aveux où elle se trahit.“ (Tivier, H.: Histoire de la littérature dramatique en France, Paris 1889, S. 143). 66 Zu den Implikationen des Einsatzes von Rhetorik auf den verschiedenen Ebenen des Sprechens cf. Ménager, Daniel: La crise de l’éloquence; in: Lestringant/ Ménager, Etudes, S. 121- 149. 67 Zu den Reden Mayennes, d’Epinacs und Roses cf. auch Cazauran, Nicole: Polémique et comique dans trois harangues de la „Satyre Ménippée“; in: Cahiers de l’Ass. Internat. des études françaises 36 (1984), S. 111-128. 68 Diese Beobachtung geht bereits auf Charles Nodier zurück ; cf. dazu auch Demonet, Marie-Luce: Un aspect du discours polémique avant les ‚Provinciales’: du bon sens des mots dans la ‚Satyre Ménippée’; in: Treize études sur Blaise Pascal, Clermont-Ferrand 2004, S. 105-120. 69 Das späte 19. Jh. macht daraus ein Monument nationaler Bewusstwerdung: „Jusqu’ici les auteurs de la ‚Satire’ nous ont fait assister à une comédie, prodiguant le sarcasme dans les harangues bouffonnes et grotesques, et pourtant presque véridiques, qu’ils prêtent à Mayenne et à ses dignes amis. Le ton va changer. Le député du tiers état, M. d’Aubray, dans un discours admirable d’énergie, d’indignation et de bon sens, dépeint les misères du pays déchiré par la guerre civile […]. Ce pamphlet immortel […] fit encore plus pour Henri IV que ses armées.“ (Darmesteter, Arsène/ Hatzfeld, Adolphe: Le „La Satyre Ménippée“ 125 D’Aubray tritt als Vertreter des Tiers Etat bei den Generalständen auf; aus dessen Sicht will er die Wahrheit über die politische Lage aussprechen. Er verweist bei der Rede über die dramatisch schlechten Lebensbedingungen des Volks auf die Droge des Catholicon „qui prend les gens par le nez“. Und er benennt die Verantwortung der Ligue, deren Schuld an der Ermordung des Königs Henri III, wodurch sich die Staatskrise erst dramatisch verschärft hatte. Das Bild, das er von der aktuellen Lage Frankreichs entwirft, ist „realistisch“ im Sinne der „politiques“. Bei dieser Klage fällt der berühmte Satz „Paris n’est plus Paris“. 70 Wenn dann in direkter Ansprache an die Stadt auf die von der Ligue verübten Schrecken eingegangen wird, so trifft das das unmittelbare Umfeld des hinter dem Sprecher stehenden Autors: „[Paris,] tu endures qu’on pille tes maisons, qu’on te rançonne jusques au sang, qu’on emprisonne les Sénateurs, qu’on chasse & banisse tes bons Citoyens & Conseillers: qu’on pende, qu’on massacre tes principaux Magistrats! “ 71 Das Schicksal der hier gemeinten „sénateurs“, also der „membres du Parlement“, die im Januar 1589 von der Ligue in der Bastille gefangengesetzt wurden, hatte auch den bereits erwähnten Claude Dupuy getroffen. Und Pierre Pithou, der Verfasser der Rede D’Aubrays, war es gewesen, der seinem Kollegen Unterschlupf geboten hatte, als er aus dem Gefängnis entlassen worden war. 72 Wenig später wird auf die Funktion hingewiesen, die politische Einrichtungen wie das Parlament im Staat zu erfüllen hätten: „Où est la majesté et gravité du Parlement, jadis tuteur des Rois et médiateur entre le Peuple et le Prince? Vous l’avez mené en triomphe à la Bastille, et traîné l’autorité et la justice captive, plus insolemment et plus honteusement que n’eussent fait les Turcs! “ (Satyre (1709), S. 111). Dann benennt der Redner diejenigen, die als die eigentlichen Feinde der Ligueurs begriffen und bekämpft werden: „vous ne voulez pas souffrir que quatre ou cinq disent ce qu’ils pensent, & les menacez de leur donner un billet [mandat d’arrêt], comme à des Hérétiques ou Politiques! “ (Satyre (1709), S. 111). seizième siècle en France, Paris 1893, S. 32). - Charles Labitte hatte in der Préface seiner Ausgabe der Satyre geschrieben: „La ‚Harangue de d’Aubray’ est presque une date: c’est bien le tiers-état qui s’apprête à s’emparer des affaires, et qui, en attendant, s’essaie à en parler le langage; le voilà, en effet, qui discute merveilleusement les intérêts des classes moyennes, le voilà qui déjoue les intrigues aristocratiques et les passions populaires.“ (Satyre Ménippée, ed. Charles Labitte, repr. Paris 1997, S. XIX f.). 70 J. Frank stellt zu Beginn seiner „kritischen Studie“ (1880) fest, dass das ständig begegnende Zitat sicherlich das bekannteste aus der - seiner Meinung nach allerdings kaum gelesenen - „Satyre“ sei. 71 Satyre, ed. Kerner, Ratisbonne [i.e. Paris] 1709, Bd. I, S. 108. 72 Pithou wird - offenbar zurückgehend auf die Notizen von Pierre Dupuy - seit der Ausgabe von „Ratisbonne“ auch als Autor der Rede Mayennes genannt; cf. Martin, Martial: La contribution de Pierre Pithou, in: Fragonard; M.-M./ Pierre-E. Leroy (ed.): Les Pithou, S. 216 f. 126 Klaus Ley Der „politische“ Hintergrund von D’Aubrays Forderungen ist mit der Position umschrieben, die bereits der Kanzler Michel de l’Hospital vertreten hatte, als er sich Jahrzehnte zuvor nach den Kämpfen um 1562 für Mäßigung eingesetzt hatte. Wie schon im Frieden von Amboise erhofft, so solle jetzt endlich eine Versöhnung erreicht werden, die nicht nur die Konfessionsgegensätze im Staat ausgleichen, sondern vor allem den Fürsten zum Herrscher über freie Geister machen könne: „car la principaulté est sur les hommes libres; donc, en leur accordant ceste liberté, il se constitue vrayement leur prince et protecteur, et eulx se declarent ses subjects, obligez à maintenir son estat.“ 73 Diese Konstruktion bedarf des Königs, dessen Position durch die „lex salica“ abgesichert ist. D’Aubray wirbt so für die Rechte von Henri IV: „En un mot, nous voulons que Monsieur le Lieutenant [Mayenne] sçache que nous reconnoissons pour nostre vray Roy, légitime, naturel, & souverain Seigneur, Henri de Bourbon, ci-devant roi de Navarre.“ 74 Zur Bewertung im politischen Kontext Die Erwartungen der Nation bemühte sich Henri IV großenteils und rasch zu befriedigen. 75 [vgl. Anhang Abb. Nr. 5 u. 7; aber auch Nr. 6] Sie finden als Anspruch explizit Ausdruck im „Discours sur l’interprétation du mot HIGUIE-RO D’INFIERNO, et qui en est l’Autheur“. 76 Dieser zweite, Ende 1594 geschriebene „Advis“ der „Satyre“ ersetzte die frühere Einleitung mit der Fiktion des italienischen Urtextes. Mit der nun gefundenen Lösung, so ist angemerkt worden, sei ein Moment gesamtstaatlichen Selbstbewusst- 73 de l’Hospital, Michel: Mémoires (Le but de la paix et de la guerre (1570)); in: Oeuvres complètes, Paris 1825, Bd. II, S. 199; cf. auch „Discours sur la pacification des troubles de l’an 1567“. 74 Satyre (1709), S. 179. - „Il est certain […] que la légende du roi commence pendant ces années difficiles où il conquiert son royaume à la pointe de l’épée mais aussi grâce à la plume de ses publicistes.“ (Ménager, D.: L’image du prince dans la Ménippée; in: Hepp: L’image du souverain, S. 202). - Cf. auch Yardeni, Myriam: La conscience nationale en France pendant les guerres de religion 1559-1598, Louvain/ Paris 1971. 75 Dennoch gilt: „Les Français gardent pourtant, pour certains d’entre eux, une sourde médisance à l’endroit de ce souverain converti trop opportunément à la religion traditionnelle et majoritaire. Alors qu’il allait porter la guerre chez les ennemis héréditaires du royaume, les Habsbourg catholiques, le 14 mai 1610, Henri IV est assassiné par François Ravaillac, un nostalgique de la Ligue.“ (Encyclopédie du protestantisme, Genève 1995, s.v. „Henri IV“ (Janine Garrisson), S. 662). 76 Cf. Poirson, F.: Les deux avis, S. 47 ff. „La Satyre Ménippée“ 127 seins, eine versteckte Ausrichtung der Gesellschaft auf den Gedanken der Nation, verbunden. 77 Der Entwurf eines geregelten Staatswesens, wie es die Rede D’Aubrays suggeriert, schließt durchaus auch Selbstkritik auf der Seite der „catholiques modérés“ ein: „Nous avons eu parmi nous beaucoup de bons citoyens François & Catholiques comme nous, qui nous ont fait pareille remonstrances & monstré par bonnes raisons, que notre opiniastreté, & nos guerres civiles ruinoient la Religion Catholique, & l’Eglise“. (Satyre (1709), S. 158). Rettung scheint - das bedeutet der Verweis auf Jerusalem - letztlich nur durch göttlichen Eingriff möglich. Unabdingbare Voraussetzung dazu ist aber, dass die Bevölkerung bereit ist, den falschen Einflüsterungen keinen Glauben mehr zu schenken. Von dieser Überlegung her legitimiert sich die Schärfe der Satire. So oder so bleibt die Absicht des Textes der „Satyre“ die Umkehrung der gewohnten, aber als falsch entlarvten Sehweise - auf das beschriebene klare Ziel hin. 78 Die große Publikumswirkung, die die „Satyre Ménippée“ fand, 79 ist sicherlich der Tatsache zu verdanken, dass sie in ihren Hauptteilen erst abgeschlossen und bekannt wurde, als die wichtigsten politischen Entscheidungen gefallen waren. 80 Zwar erweckt sie gerade auch durch die Rede 77 „[Qui] s’impose à côté de l’esprit féodal, pour promouvoir avec Henri de Navarre un centralisme monarchique et national qui s’oppose à l’universalisme catholique périmé que prétendait sauver Philippe II, et qui porte un coup fatal au féodalisme destructeur de l’unité nationale.“ (Barrachina, M.-A./ M.-C. Gomez-Géraud: L’esprit national: pour une monarchie restaurée ou instaurée? ; in: Lestringant, Etudes, S. 274). 78 Ménager erkennt hier zudem eine Neubestimmung der Funktion des „fou du roi“; solche Narren sind die in der „Satyre“ erwähnten Figuren Chicot und Engoulevent (er war Prince des Sots). Weil sie das Richtige aussprechen und sich darüber hinaus durch exemplarischen Einsatz für ihren König einsetzen, zeigen sie sich als die wahren Weisen; cf. Ménager: L’image du prince; in: Hepp (ed.): L’image du souverain, S. 209 ff.; Lever, Maurice: Le sceptre et la marotte, Paris 1983, S. 240. 79 Diese Zielsetzung verkennt etwa F. Brunetière, der meint, dass die tatsächliche Wirkung des Textes der „Satyre“, der von „bourgeois furieux d’être gênés dans leurs plaisirs“ stamme, letztlich unbedeutend und leichtgewichtig gewesen sei: „Le pamphlet; et qu’il n’en faut exagérer ni le mérite, qui est tout à fait secondaire, ni la hardiesse, ni les conséquences. […] mais la ‚Satire Ménippée’ n’en est pas moins à rayer du nombre des ‚grands monuments de l’esprit français’.“ (Manuel de l’histoire de la littérature française, Paris 1898, S. 92). 80 Hier ist allerdings auch der Hinweis auf das Problem der verschiedenen Textfassungen in der Zeit von Manuskript- und Druckzustand fällig. Dazu gehören Bemerkungen wie: „Je vous prie, Messieurs, s’il est permis de jetter encore ces derniers abois en liberté […].“ (Satyre (1709), S. 108). Als Beleg für die zeitbedingte Veränderung des Pamphlets lässt sich eine Stellungnahme anführen, die auf die Problematik verweist. Am 28.6.1593 hält du Vair eine Rede im Pariser Parlement, um es dazu zu bringen, gegen die Ansprüche Spaniens und der anderen Führer der Ligue zu stimmen: „C’est une folle opinion que tant les Espagnols que quelques autres particuliers ont conçue 128 Klaus Ley D’Aubrays den Eindruck, als wolle sie - post festum - die Meinung der Deputierten bei der Königswahl beeinflussen, aber da liegt nicht ihr eigentliches Interesse. Dass die beiden Intentionen, die frühe Attacke im Bemühen um Durchsetzung der als „richtig“ erkannten Politik, der dann - nach der Wende - die Versicherung folgt, alles sei richtig gelaufen, sich ungezwungen ineinander fügen, macht sicher den größeren Teil des literarischen Erfolgs aus. 81 Zutreffend ist, dass die von der Ligue vertretenen Positionen, die durchaus in der „Satyre“ selbst greifbar werden - auch d’Aubray stellt sich ja als deren früherer Anhänger vor 82 -, es nicht zulassen, sie als völlig verirrte oder auf Abwegen befindliche Partei in der französischen Gesellschaft zu begreifen. So hatte ja die Ligue, vornehmlich in Paris, darauf bestanden, dass die Regierung nicht ganz im stark zentralisierten System der sich im Ausbau befindenden Monarchie aufging. 83 Hier zeigt sich ein Ansatz zur Selbständigkeit der Stände, die in der Zeit des Absolutismus als Korrektiv der allmächtigen Monarchie weitgehend fehlen wird. Satirisches Sprechen als „littérature engagée“ Hinter der an der Oberfläche vor allem geistreichen Spielerei der „Satyre“ steht, wie auch das Beispiel von Vater und Sohn Dupuy belegen kann, die aus harten Erfahrungen gewonnene Überzeugung für ein klares politisches Programm, das die Zukunft der französischen Gesellschaft sichern soll. Während Pierre Dupuy, der Sohn, offenbar zeitlebens die Auseinandersetzung mit dem Text und die Erinnerung an die darin aufbewahrte bedrängende Wirklichkeit des Bürgerkriegs wachzuhalten bemüht war, zeigt die Erfahrung des Vaters den Weg, den die französischen Intellektuellen in que cette couronne se pouvait transférer hors de la Maison de France en une étrangère.“ (zit. nach Hasselmann, Satyre, S. 61). 81 Allerdings geht der Erfolg nicht allein in der mehr oder weniger unverbindlichen Wirkung auf, wie von Gustave Lanson behauptet wird: „Cet immortel pamphlet n’eut pas d’action réelle: la Ligue était vaincue quand il parut. Mais il dut son succès précisément à ce qu’il vint à son heure, lorsque tout le monde était disposé à le goûter. […] Les partisans du roi y retrouvaient avec plaisir leurs sentiments : les ligueurs y trouvaient l’apologie de leur conversion ou achetée ou forcée. Le livre profitait du mouvement qui entraîne toujours l’opinion vers le vainqueur au lendemain de la victoire.“ (Histoire de la littérature française, Paris 1912; S. 318). 82 An Mayenne gerichtet sagt er: „[vous] disiez que tout les Huguenots du monde avoient complotté de se saisir du Royaume de France, & en chasser tous les Prestres. Aucuns vous crûrent, & quant à moy qui ne suis pas des plus rusez, j’en eus quelque opinion, & me joignis de ce party, pour la crainte que j’ay tousjours eue de perdre ma Religion.“ (Satyre (1709), S. 127). 83 Cf. dazu auch Lestringant/ Ménager, Avant-propos; in: Etudes, S. 10 ff. „La Satyre Ménippée“ 129 ebendieser Zeit bis zum Regierungsantritt von Henri IV gehen mussten. Verschiedene Mitwirkende an der “Satyre Ménippée“ hatten sich zunächst zu den - mehr oder weniger radikalen - Reformierten gezählt. Andere waren Verfechter einer erneuerten, von absolutistischen Tendenzen Abstand haltenden Monarchie. Sie sahen auch die „lex salica“ als überholt an, in dem Wissen allerdings, dass sie dafür den Zusammenhalt der Nation aufs Spiel setzten. 84 Schließlich ergab sich im Fortgang der Ereignisse für sie alle die Lösung, dass auf der Basis der Tradition die fällige Neuordnung der Gesellschaft doch zu organisieren sei. Henri IV suchte die Durchsetzung dieses Modells in moderierter Form, auch durch den Erlass des Edikts von Nantes. Dass die Offenheit für Problemlösungen und der Wille zur Verwerfung des als falsch Erkannten, die die - im Kontext einer Flut von Pamphleten der unterschiedlichen Richtungen entstandene - „Satyre Ménippée“ anbot, über lange Zeit aktuell blieb, macht die Vielzahl ihrer Neuauflagen und Reaktualisierungen bis zum Ende des Ancien Régime anschaulich. 85 [vgl. Anhang Abb. Nr. 8] 84 Die zeitgenössische Resonanz lässt bereits entsprechend unterschiedliche Verständnisformen erkennen. Villeroy, der sich duch die „Satyre“ angegriffen sah, äußerte Kritik: „[Les auteurs de la Satyre] en veulent encores à quelques-uns qui servent Sa Majesté peult estre plus fidelement qu’eulx, comme s’ils avoient mal au coeur de voir le Roy prest à sortir d’affaire. Et pour ce vouloient de bonne heure lui preparer besogne nouvelle, pour pouvoir continuer à pescher en eau trouble et exercer leurs passions se donnant fort peu de peyne du peril que court la personne de Sa Majesté […], non plus que de la ruine du peuple et des desordres que nourrit la guerre, pourvu qu’ils vivent à leur aise sans participer à de tels dangers, ny contribuer aux frais de la guerre.“ (in der „Lettre à Du Vair“ (1594), zit. nach Hasselmann, J. (ed.): Satyre, 89). - De Thou hebt, wie schon erwähnt, weit mehr auf das poetische Gelingen ab. Treffend zu einer Deutung aus reformatorischer Sicht ist D’Aubignés Hochschätzung der politischen Wirkung des Textes; dagegen zur Haltung von Simon Goulart, der Teile aus der Schrift im „Cinquiesme recueil des mémoires de la Ligue“ (1598) veröffentlichte, aber auch nachträglich veränderte, cf. Smith, Pauline M.: A conflict of interest? Calvinism and the Satyre Menippée; in: Writers in conflict in 16th century France (FS M. Quainton), Durham 2008, S. 193-214 [hier: S. 202 f.). 85 Zu den verschiedenen Ergänzungen und Bearbeitungen, die gleich nach Erscheinen des Werks einsetzten, cf. Smith, Pauline M.: Une édition unique de la Satyre Ménippée et de sa postface ‚La suitte du Catholicon d’Espagne’; in: BHR 62 (2000), S. 363-372; dies.: A pleasant satyre or poesie: wherein is discovered the catholicon of Spayne, and the chiefe leaders of the league (1595). The English translation of the ‚Satyre Menippée’: provenance and purpose; in: BHR 71 (2009), S. 113-127. Noch die nationalen Notstände von 1870/ 1 und 1944 werden als Anlässe dafür angeführt, sich erneut mit dem Werk zu beschäftigen. Die neuerdings wieder begegnende Tendenz der Entkonkretisierung der „Ménippée“ auch mittels forcierter Karnevalisierung dagegen, die in anderer Form ja bereits seit dem späten 19. Jh. begegnet, kann allerdings nicht konterkariert werden durch Urteile, wie sie - laut Voltaire zurückgehend auf den Président Hénault - so gefasst werden: „M. de Buri croit s’appuyer de l’Abrégé chronologique du président Hénault qui dit que la Satyre Ménippée ne fut guère moins utile à Henri IV que la bataile 130 Klaus Ley Um auch deren Begründungszusammenhänge jeweils aufdröseln zu können, bedürfte es eines Zugriffs, der den Interessen- und Wirkungsrahmen des „Urtextes“, der „Satyre Ménippée“, noch weiter klärt, damit ein Ansatz zu ihrer angemessenen Einordnung in die Zeit gefunden wird. Der Text, gerade weil er, wenn auch mit distanzierender Ironie, auf politische Gegebenheiten der Zeit eingeht, ist an sie gebunden und will zugleich auf sie einwirken. Der in ihm angelegte „utopische“ Überschuss, von dem viel geredet wird, dürfte aber weniger im Text selbst, als in der ihn generierenden Geisteshaltung, in dem auf wachem Selbstbewusstsein beruhenden Willen zur Kritik erkennbar sein. Als konkreter Auslöser des Werkes könnte ein politischer Umstand zunächst viel mehr Gewicht haben als bislang angenommen, nämlich die Annäherung Mayennes und der „Ligue nobiliaire“ an die „politiques“, die nach den durch die „Ligue roturière“ verübten Greueln der Terreur von 1589-1591 erfolgte. Das zog eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses gerade in der Herrschaft über Paris nach sich, wo ab Dezember 1591, wie auch das Beispiel Dupuy zeigt, die Magistratsverwaltung und das Parlament zunehmend gestärkt wurden. Erst vor diesem Hintergrund konnten dann die „politiques“ auf geeignete, Erfolg versprechende publizistische Maßnahmen sinnen. 86 Das auf humanistischem Selbstverständnis gegründete frühabsolutistische staatstheoretische Denken jedoch, das auch die „politiques“ teilen, erlaubte als Voraussetzung nicht nur wie selbstverständlich Kritik, sondern forderte sie geradezu. So konnte Regius, der den Anstoß für die „Satyre Ménippée“ gab, sich etwa auf C. de Seyssel berufen, der in der „Grant monarchie de France“ zur Kritik der Gesellschaft und ihren Institutionen geschrieben hatte: „il est loisible à un chacun prélat ou autre homme religieux bien vivant et ayant bon estime envers le peuple, le lui remontrer et l’incréper, et un simple prêcheur le reprendre et arguer publiquement et en sa barbe.“ 87 Nach dieser Maxime war bereits früher Kritik geäußert worden, so von den Pléiade-Dichtern Du Bellay - in seinen Rom-, aber auch Frankreichkritischen „Regrets“ - und Ronsard, in den „Discours des misères de ce temps“ ebenso wie etwa in den „Estreines au Roy Henry III“. 88 Vorrangig geht es dabei zunächst um inhaltliche Aspekte der Kritik, so wie sie auch in der „Satyre“ in der Schlussrede D’Aubrays vorgetragen wer- d’Ivry, mais il ajoute ‚peut-être’ et il fait très bien.“ (Voltaire: Le président de Thou justifié, éd. Beuchot, t. XLII, S. 334; zit. nach Hasselmann, J. (ed.): Satyre, S. 90). 86 Das Gegenbild zur „Satyre“ ist dann der im Dezember 1593 erschienene „Dialogue d’entre le Maheustre et le Manant“; cf. Jouanna, Histoire, S. 615; S. 605 f. 87 Claude de Seyssel: La Monarchie de France, Paris 1961, I, 9, S. 116. 88 Cf. Ley, Klaus: Neuplatonische Poetik und nationale Wirklichkeit. Die Überwindung des Petrarkismus im Werk Du Bellays, Heidelberg 1975, S. 267 ff.; Heitmann, Klaus: Der späte Ronsard als Hofdichter: die „Estreines au Roy Henry III; in: Buck, August (ed.): Höfischer Humanismus, Weinheim 1989, S. 51-91 [hier: S. 72 ff.]. „La Satyre Ménippée“ 131 den. Daneben soll aber zugleich das auf die Gemeinschaft bezogene Denken allgemein noch einer Korrektur unterzogen werden. Im Kern bedeutet das, die für diesen Zweck notwendige rhetorische Formung der gesellschaftlichen Gruppen wird überprüft und zur Diskussion gestellt. Die Erfassung dieses Moments kann, wenn sie trifft, auch noch das Maß an Kritikfähigkeit und Wachheit, das in dem Text steckt, für unsere Zeit erhalten, wie es etwa M. Martin postuliert. Das erweist sich allerdings auch angesichts der vielfachen Verquickung mit den Bedingungen der verflossenen Zeit als nicht gerade einfach. 89 Dennoch bietet sich als Zugang für ein solches Vorgehen der Eingang der Rede des „recteur Roze“, verfasst von Nicolas Rapin, an; der Passus lautet: „Tres-illustre, très-auguste, et très-catholique sinagogue, tout ainsi que la vertu de Themistocles s’echauffoit par la considération des triomphes et trophées de Miltiades. Ainsi me sens-je eschauffer le courage en la contemplation des braves discours de ce torrent d’eloquence, monsieur le Chancelier de la Lieutenance, qui vient de triompher de dire! Et à son exemple, je suis meu d’une indicible ardeur de mettre avant ma rhetohorique, et estaller ma marchandise en ce lieu, où maintefois j’ai faict des predications qui m’ont par le moyen du feu Roy faict de meusnier devenir Evesque, comme par vostre moyen, je suis d’Evesque devenu meusnier.“ 90 Daran exemplifiziert Martin die These, der Sprecher führe das allgemeine, den politischen Wirren zugrunde liegende Prinzip des Umsturzes auf die Rhetorik schlechthin zurück. 91 Das ist allerdings nur bedingt zutreffend, da in einer solchen Zuordnung ein Missverstehen der Grundlagen dieses Sprechens liegt. Dennoch bietet sich hier der Zugriff auf eine tiefer liegende Wirkungsabsicht. Der Eindruck, den die Rede des recteur Roze vermittelt, ist zwar ein entlarvend komischer, aber die darin transportierte Kritik zielt nicht auf die Rhetorik im Allgemeinen. Sehr viel konkreter, eingegrenzt und präzise, geht es um ihren Einsatz als falsch verstandene und missbrauchte Kunst der Rede für Dinge des öffentlichen Lebens, wobei sie per se und selbstverständlich als unverzichtbar begriffen wird. 92 Also nicht die Rhetorik als Ganzes ist für das falsche Denken und damit für die verfehlte Politik in den Bürgerkriegen verantwortlich; so schöpft die 89 Zutreffender Begleitumstand des Postulats der Offenheit ist, dass sich die Analyse des „discours satyrique“ nicht im vordergründigen Aufzählen von einzelnen karikierenden Momenten erschöpfen sollte. Die Frage ist nur, wo zu deren Bestimmung angesetzt werden kann. Jedenfalls erscheint es bereits problematisch, die Offenheit der „Satyre“ so weit zu fassen, dass behauptet wird, es sei „un discours ouvert qui appelle à la continuation du projet qui était le sien par d’autres; la satire ne désigne pas ici un hybride pétrifié, mais plutôt le mouvement de l’engendrement du texte.“ (Martin, La contribution de Pierre Pithou, in: Fragonard, Les Pithou, S. 227 f.). 90 Satyre, ed. Martin, S. 57; zu der Textvariante „ma retohorique“: S. 294, Anm. 425. 91 Cf. Martin, La contribution de Pierre Pithou; in: Les Pithou, S. 222. 92 Zu konsequent wäre deshalb die Feststellung einer „condamnation d’une certaine rhétorique délibérative en tant que telle“. (D. Ménager nach Martin, Pithou, S. 224). 132 Klaus Ley Argumentation weder das komisch-kritische Potential noch die beanspruchte Sinntiefe des Textes aus. Was gemeint ist, liegt etwas anders. Roze räsonniert über die Parallelität von militärischen Auseinandersetzungen und dem Kämpfen mit Worten. Sie beide bedürfen, nach der Hermeneutik der Zeit und der Rhetorik allgemein, durchaus auch der Erregung der jeweils Beteiligten, Redner wie Publikum. Das also ist - dem Modell der Eristik entsprechend - unbestritten richtig. Grotesk falsch und komisch ist hier aber die unangemessene Anwendung dieses rhetorischen Kerntopos. Denn der Redende, er ist Professor an der Sorbonne, begibt sich auf ein Gebiet, über das er eher schweigen sollte. Sein Kampfplatz ist nicht selbstverständlich die ge-samte „res publica“, wenn er als Theologe spricht; und ihm fehlen die Mittel und Kenntnisse, um zu einem schlüssigen und klaren Vortrag zu kommen. Daran schließt sich implizit die Kritik an, auf der Seite der Ligue hätten Leute das Sagen und beanspruchten zu bestimmen, die in der Sache nicht kompetent sind. Aus dieser Einsicht folgt, dass sie die falsche Rhetorik pflegen. 93 93 Die Analyse der „harangues“ nach klaren rhetorischen Regeln würde auf solcher Basis größere Klarheit über die Zielvorstellungen des Werks bringen. „La Satyre Ménippée“ 133 Anhang: Bildmaterial zu „La satyre Ménippée“: „Portraits“ 3. Ein Gegner: Louis d’Orléans, der Verfasser des anonymen „Catholique Anglois“ (in späteren Jahren) 1. „le charlatan espagnol“, wie er im frühen Druck der „Satyre Ménippée“ erscheint. 2. „il Zanni famulus” (1581) 134 Klaus Ley Zu der noch von Henri III herbeigeführten Allianz der Häuser Valois und Navarra. 94 4. „Stammbaum Ludwigs des Heiligen“ Die politischen Auseinandersetzungen, die ihren über die eigene Nation und die Epoche hinausreichenden Ausdruck in der „Satyre Ménippée“ fanden, lassen sich nicht nur an Übersetzungen des Textes beobachten. 95 Daneben gibt es gerade auch aus der Sicht der deutschen Nachbarn Kommentare, die in bildlichen Darstellungen überliefert sind. Die am Boden liegende Königsgestalt ist bezeichnet als „S. Ludwig Konig in Frankereich“ Die Texte von oben nach unten: Überschrift: „Anstandt auf ein Iar zwischen dem König von Franckereich und Navarra gemacht“ Schriftbänder: „Bey meinem Scepter schwör Ich dir“ (links) „Ich auch dergleichen wie du mir.“ (rechts) Inschrift auf dem vom Engel gehaltenen Schild: „IN AEREM CONTRARIA NECTO“ 94 Die 1589 zwischen Henri III und Henri de Navarre erfolgte Annäherung, der hier mit Skepsis begegnet wird, führte, da sie als Stärkung der Hugenotten begriffen wurde, zur Reaktion der katholischen Seite und zum kräftigen Wiederaufleben der Ligue; cf. Marcilly, Charles: Introduction zu: La satyre Ménippée. Paris 1889, S. V f. 95 So z. B. bereits 1594/ 5 die englische Übersetzung [T. W.]: „A pleasant satire or poesie: wherein is discovered the Catholicon of Spayne“ [Online-Ausg., in: EEBO. Document Images]. „La Satyre Ménippée“ 135 Schriftband am Stamm: „coalescunt divisa male sic.“ Texte zu den beiden Szenendarstellungen links und rechts vom Stamm: - „1589: Da wird der Konig ertod durch ein Munch [Jacques Clement] zu S. Cloud den 1. Augusti 1589“ (links) - „Hie wird Gewises [Guise] Erslagen zu Bleß [Blois] den 23. Decembris 1588“ (rechts) Subscript: „Der ist nit weiß so sich mit list, Ein ding das lang zerspalten ist, In ein zubringen understehet, Der Natur wens zuwider gehet Obgleich ein Engel ketten spandt. So klempt man doch alzeit die handt. Darauf entspringt dann hie und dort, Zu beiden seitten grosser mort.“ Der Beginn der Regierung von Henry IV. (zeitgenössische Abbildungen aus dem Umfeld des Stechers/ Verlegers Hogenberg) 5. „L’abjuration de Saint-Denis“ (Sommer 1593) 6. Das Attentat Jean Châtels auf Henri IV (27.12.1594) 136 Klaus Ley 7. Der Papst in Rom hebt die Exkommunikation von Henri IV auf (1595). In seiner Rede in der „Satyre“ geht Mayenne darauf ein, daß bereits 1592 eine Delegation zu Papst Clemens VIII. geschickt worden sei, daß er - im Falle der Konversion Henris - ihn als König anerkenne: „Quoi qu’il en advienne, nous avons envoyé coup sur coup nos agents à Rome comme Monsieur le Cardinal de Pelvé […] vous pourra tesmoigner, pour renverser la negociation du Cardinal de Gondy, qui ne s’y eschaufera pas plus qu’il doit; et rompre les pratiques du Marquis de Pizani, qui est trop bon François pour nous, qui sont allez à Rome chercher un chemin de paix.“ (ed. Marcilly, S. 67). Die Ligueurs stehen dem Unternehmen ablehnend gegenüber. Zur Rezeption der „Satyre Ménippée“ seit Louis XIV : „Procession de la fameuse Ligue contre Henri IV en 1593“ 8. „La Satyre Ménippée“ 137 Die politische Bedeutung des Begriffs „Ligue“ hatte sich zu dieser Zeit verändert. 96 Der Einsatz für Louis XV, wie er sich auf dem Stich, der eine Parallele etwa in einer Bildbeilage der Kerner-Ausgabe (ed. 1709, vor S. I) findet, zeigt die Zweckbindung an den Absolutismus. Der beigegebene Text lautet: Quel tumulte! Quel bruit! Quel bizarre assemblage! Est-ce l’Enfer qui dans sa rage A sur terre vomi tant de Démons froquez, De furieux, de fanatiques, Qui paroissent ici masquez Sous le beau nom de Catholiques? Je vois poignards et pistolets, Breviaires et Chapelets Pendus à la mème Ceinture: Quelle étonannte bigarrure! Seroit-ce toi, Sainte Religion, Qui causerois tant de convulsion? Non, je ne connois point ici ton Caractére, Et cette troupe téméraire N’a déployé ses Etendars, Que pour servir l’injuste envie Et l’ambition infinie Des Princes Lorrains, des Guisards, Et les soutenir dans le crime De priver les François de leur Roy légitime. Mais quoi, j’apperçois des Pasteurs, Qui comme gens Apostoliques, Ne devroient être les auteurs Que de conseils prudents et pacifiques, Soufler dans les esprits un farouche couroux, Et n’être eux mêmes que de loups. O, toi, divin LOUIS, qui du haut de la Gloire Vois d’oeil d’indignation Cette engeance perfide et noire, Réprime sa rebellion, Sois le protecteur de la race, Favorise HENRI LE GRAND, Conserve en ce Héros tout l’honneur de ton sang, Pour qu’en sa respectable place On voye LOUIS QUINZE un jour.< ! ! ! > 96 Gewissermaßen eine Umkehrung der politischen Intention - nicht die „princes etrangers“ beanspruchen die Macht in Frankreich, sondern sie werden vom französischen König dominiert zeigt die anonym erschienene Schrift „Le triomphe de la Ligue ou la France à la veille de souscrire à la paix ou l’on découvre les secrets que la politique italienne a enseignez à Louis le Grand, pour assujettir les Princes de l’Europe“ (Paris 1696, S. 223). 138 Klaus Ley Etre des ses sujets les delices, l’amour. Tu ne peux mieux dédommager la France De tant de maux et de souffrance Literaturverzeichnis: Barbier-Mueller, J. P.: „Pour une chronologie des premières éditions de la ‚Satyre Ménippée’ (1593-1594)“. 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Das mag zunächst daran liegen, dass es (zur Freude der schulischen und universitären Lehre) zeitlich relativ exakt begrenzt werden kann auf einen Zeitraum von etwa 15 Jahren (1827 bis 1843) und mit übersichtlich wenigen aber herausragenden Namen der französischen Literaturgeschichte verbunden ist (Victor Hugo, Alexandre Dumas, Alfred de Musset, Alfred de Vigny). Daneben beruht es auf klaren ästhetischen Forderungen, die Victor Hugo im Vorwort seines Dramas Cromwell 1827 programmatisch festlegte. Da aber das zugehörige Drama mit seinen über 6000 Versen heute allgemein als unlesbar gilt, vertreiben die französischen Schulverlage meist nur noch das Vorwort in kleinen handlichen Ausgaben und umgeben diesen Text mit der Aura der Pflichtlektüre. Den romantischen Dramen selbst eilt in Frankreich der Ruf pompöser Steifheit und gähnender Langeweile voraus. Mit Ausnahme von Mussets Lorenzaccio (1834), dem als ursprünglich explizitem Lesestück eine Sonderrolle zukommt, sind sie an den Bühnen in Ungnade gefallen. An den Universitäten liest man, wenn überhaupt, noch Hugos Hernani, und dies vermutlich wiederum aufgrund seiner Aura: Anlässlich der Premiere des Stückes kam es am 25. Februar 1830 in der Comédie Française zur Auseinandersetzung zwischen Romantikern und konservativen Zuschauern der bataille d’Hernani, die, obwohl bewusst im Vorfeld inszeniert, bis heute einen Erinnerungsort der französischen Literaturgeschichte darstellt. Dem eigentlichen, revolutionären Gehalt des drame romantique wird diese verkürzte Darstellung kaum gerecht. Sie täuscht zunächst über die enormen Hürden hinweg, die den Dramen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den Weg gestellt wurden. Eine erst explizite, später subtilere, implizite Zensur, vernichtende Kritiken einflussreicher konservativer Kräfte, sowie die Nachfrage nach einem ästhetisch wenig anspruchsvollen aber sehr lukrativen populären Theatervergnügen seitens der Bevölkerung und der Theaterleiter führten dazu, dass die Autoren immer wieder scheiterten, zum Teil große Kompromisse eingehen mussten und letztendlich alle der Bühne für Jahre den Rücken kehrten. Des Weiteren erkennt die verklärende literatur- oder theatergeschichtliche Darstellung dem historischen Kontext nicht die erheb- 142 Charlotte Krauss liche Bedeutung zu, die er für das Drama der Romantik spielte: Das drame romantique sieht sich selbst als Revolution gegenüber allen früheren Theaterformen 1 , aber der Begriff „romantisch“ implizierte im Jahr 1830 sowohl eine ästhetische als auch eine damit verbundene, politische Forderung nach Erneuerung, und die Autoren formulierten Thesen, die weit über die Kulturpolitik hinausgingen. Sie stellten etwa die in Zeiten der Restauration durchaus nicht harmlose Frage der politischen Legitimität und beleuchteten unter dem Deckmantel des historischen Stoffes ein als überholt empfundenes Klassenbewusstsein, einen unzeitgemäßen Ehrbegriff, eine befremdlich realitätsferne Exekutive. Das drame romantique stellt, im Gegensatz zur klassischen Tragödie, eine Randfigur der Gesellschaft in den Mittelpunkt, den Bastard, den Banditen, das künstlerische Genie. In diesem Zusammenhang sollte man sich nicht von den Buchdeckeln verleiten lassen, die häufig ein Foto des gealterten Victor Hugo ziert, und vergessen, dass die Dramen der Romantik von jungen Dichtern geschrieben wurden. Victor Hugo, 1802 geboren, war 1830 noch kein verehrter Nationaldichter, und dass der gleichaltrige Alexandre Dumas einst als einer der produktivsten Autoren des drame romantique mehr als nur Achtungserfolge erzielte, ist heute kaum noch im Bewusstsein. Seine berühmten Romane, die Drei Musketiere oder der Graf von Monte Cristo, lassen sich jedoch unmittelbar auf das Scheitern der Theaterkarriere zurückführen. Dieses Scheitern wiederum wird verständlicher, wenn man das drame romantique als Auseinandersetzung mit einer historischen Zäsur versteht und als politisches Theater liest, wie ich dies im Folgenden unternehmen möchte. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Jahr 1830, das - nicht nur aufgrund der bereits erwähnten bataille d’Hernani - einen entscheidenden Wendepunkt für das Drama der Romantik darstellt. Auf politischer Ebene beendete die kurzlebige Pariser Julirevolution von 1830 in einem dreitägigen Barrikadenkampf vom 27. bis 29. Juli, den Trois Glorieuses, die zweite Restauration und damit die repressive Herrschaft von Karl X. Liberale Kräfte gelangten an die Macht und brachten nach mehrtägigem Zögern mit Louis- Philippe eine Seitenlinie der Bourbonen auf den französischen Thron. Die Revolution hatte für kurze Zeit Bürger aller Schichten vereint, und der sogenannte Bürgerkönig, der sich plakativ nicht mehr als Roi de France (König von Frankreich) sondern als Roi des Français (König der Franzosen) bezeichnete, war zunächst Hoffnungsträger, auch der Schriftsteller. Während Karl X. die Stimmung unmittelbar vor der Revolution, am 26. Juli, mit der Abschaffung jeglicher Pressefreiheit und der staatlichen Kontrolle aller Druckerzeugnisse angeheizt hatte, ließ Louis-Philippe die Zensur abschaf- 1 V gl. Anne Ubersfeld Le drame romantique, Paris: Belin, 2008, 17: „Le drame romantique s’affirme donc comme une révolution par rapport à toutes les formes théâtrales qui l’ont précédé...“ 1830 143 fen. Er schien progressive Schriften mit zum Teil politischer Thematik - wie das drame romantique - erst einmal weniger zu fürchten. Zu Beginn der neuen Herrschaft gelangten Stücke zur Aufführung, die vorher verboten worden waren; neue Dramen entstanden. 2 Wenn jedoch der vorläufige Aufstieg des drame romantique in diesem Zusammenhang verständlich wird, so lässt sich auch sein baldiger Abstieg durch politische Umstände erklären. Die Revolution und die folgenden, monatelangen Unruhen trafen die Theaterhäuser hart: das Publikum blieb zunächst einmal lieber zu Hause, die Theater mussten sich auf die Suche nach neuen Mäzenen machen. 3 Außerdem knüpfte die Kulturpolitik (und nicht nur diese) des Bürgerkönigs rasch wieder an die Restauration an: Offiziell war die Zensur fünf Jahre lang aufgehoben, aber der politische Druck auf Autoren und Theaterdirektionen blieb bestehen, und eine gezielte Subventionspolitik, die politisch „unschädliches“ Theater und die Wiederaufnahme von Klassikern überproportional bevorzugte, tat ihr Übriges. Rückblickend nahm die Herrschaft des Bürgerkönigs kaum auf die Französische Revolution Bezug, sondern führte letztendlich zur Revolution von 1848 - mit europaweiten Konsequenzen. Dass die Julirevolution trotzdem auch auf kultureller Ebene eine bedeutsame historische Zäsur darstellte und dass diese Zäsur aufgrund des sensiblen Pariser Theaterbetrieb und der progressiven zeitgenössischen Dramenentwürfen auch als solche abzulesen ist, möchte ich exemplarisch an drei Stücken und ihrem Schicksal zeigen: an Hernani und Marion de Lorme von 2 Vgl. auch André Degaine: Histoire du théâtre dessinée, Saint Genouph: Nizet, 1992, 256): „La plus longue période (1830-1835) de suspension [de la censure] provoque une effervescence théâtrale sans précédent: les grands drames romantiques (Hugo, Dumas), les vaudevilles les plus ‘sacrilèges’ (Le Mariage de Capucine, La Papesse Jeanne), la célébration de l’Empereur (Josephine, Schoenbrunn et Ste Hélène).“ Anne Ubersfeld (2008, 111) schreibt hingegen, die Situation am Theater habe sich durch die Julirevolution nicht verändert. Wie in der Folge zu zeigen sein wird, liegt die Wirklichkeit zwischen diesen beiden eher verallgemeinernden Positionen: Zwar änderten sich die Verhältnisse nicht dauerhaft, aber zumindest zeitweise und in entscheidenden Details - ein Impuls, der tatsächlich kurzzeitig dem drame romantique zugute kam. 3 Maurice Descotes (Le drame romantique et ses grands créateurs, Paris: PUF, 1955, 136-137) macht deutlich, dass das plötzliche Abschaffen der Zensur allgemeine Orientierungslosigkeit zur Folge hatte, die sowohl von den Politiker als auch von den Theaterhäusern als wenig vorteilhaft empfunden wurde: „On était encore en pleine improvisation. […] Avant 1830, le Roi, le Dauphin, la duchesse de Berry, les Gentilshommes de la Cour, le Ministre de l’Intérieur, la Maison du Roi avaient leur mot à dire. En 1831, personne n’était plus compétent.“ (Ebd., 137).Vgl. auch die Darstellung eines Zensurprojekts des neuen Innenministers Montalivet (Januar 1831) bei Anne Ubersfeld (Le Roi et le bouffon. Etude sur le théâtre de Hugo de 1830 à 1839 [1974]. Paris: Corti 2001, 51-52), auf das verschiedene Autoren mit einem Gegenmodell reagierten: sie seien mit einer nicht allzu harten Zensur einverstanden, so die Unterzeichnenden, wenn im Gegenzug die Theatersteuern gesenkt würden. Im Unterschied zu Dumas unterschreibt Hugo, der gegen jede Art von Zensur ist, das Papier allerdings nicht. Sowohl das Regierungsprojekt als auch der Vorschlag der Autoren werden letztlich nicht weiter verfolgt. 144 Charlotte Krauss Victor Hugo und an Antony von Alexandre Dumas. An diesen Dramen lassen sich sowohl der Revolutionsanspruch des drame romantique als auch dessen Grenzen aufzeigen. Des Weiteren sind Entstehung und Zensur, Wahl des Theaters und politischer Druck, Aufführungen und Kritik der drei Stücke in einem Zeitraum von 1829 bis 1831 sehr stark miteinander verwoben. Nur in dieser Interaktion lassen sich die drei Dramen überhaupt erfassen. Schließlich thematisieren zumindest zwei der Dramen auf erstaunlich deutliche Weise die Interdependenz von progressivem Anspruch im Theater und Repression durch Politik und Gesellschaft: Marion de Lorme und noch deutlicher Antony bringen die Diskussion unmittelbar auf die Bühne und bieten dem eingeweihten Zuschauer neben der eigentlichen Handlung einen autoreflexiven Diskurs mit Aktualitätsbezug an. Die drei Dramen und ihr Revolutionsanspruch Das Drama Hernani, dessen Uraufführung zur berühmten bataille führte, behandelt einen historischen Stoff. Die Handlung spielt im Spanien des 16. Jahrhunderts. Der vollständige Titel des Stückes: Hernani ou l’honneur castillan. Tres para una, fasst in verschlüsselter Form den Inhalt zusammen. Im Mittelpunkt stehen einerseits ein als überholt gezeichneter Ehrbegriff, andererseits die schöne Doña Sol de Silva, die von drei Männern geliebt wird: vom Banditen Hernani, dessen Liebe sie erwidert, von ihrem alten Onkel Don Ruy Gomez de Silva, der beabsichtigt sie zu heiraten, und von Don Carlos, dem König von Spanien, der sie zunächst mit Macht und Reichtum zu beeindrucken sucht, sie entführen will, schließlich aber die Macht der Liebe akzeptiert und Doña Sol in einem Akt der Gnade Hernani überlässt. Diese Gnade jedoch, zu der sich Don Carlos erst nach seiner Wahl zum Kaiser vor dem Grab Karls des Großen in Aachen entscheidet, kommt zu spät. Denn Hernani, der eigentlich adeliger Abstammung ist und die Ermordung seines Vaters durch Don Carlos’ Vater rächen will, hat in einer ausweglosen Situation sein Leben seinem Retter Don Ruy Gomez geschenkt. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt kann der alte Mann ihn mit einem Hornstoß zum Selbstmord auffordern. Als die Gnade des Kaisers scheinbar ein glückliches Ende ermöglicht, heiraten Hernani und Doña Sol - am Tag der Hochzeit jedoch erklingt das Horn. Don Ruy Gomez besteht auf dem gegebenen Wort, und das Stück endet mit dem gemeinsamen Tod der beiden Liebenden. Die alten Generationen, die das Stück zunächst als vorbildlich darstellt - der dritte Akt spielt vor der beeindruckenden Ahnengalerie des Don Ruy de Gomez -, sind durch ihr Festhalten an überkommenen Vorstellungen nicht mehr zeitgemäß, und auch der Herrscher hat keine absolute Macht mehr. Die Aussage des Stückes, dass die Rückkehr zu einem alten System 1830 145 unmöglich ist, dass die junge Generation die Fehler der alten begleichen muss, schließlich aber von den Greisen ihrer Zukunftsaussichten beraubt wird, stellt vor dem Hintergrund der französischen Restauration einen deutlichen Bezug zur politischen Aktualität her. 4 „Or, c’est en vain que les pères sont morts, leur haine vit.“ 5 , verkündet Hernani im ersten Akt - der Ausgang des Dramas bestätigt dieses Gefühl der Machtlosigkeit, das sich in ähnlicher Weise bei allen romantischen Dichtern in Frankreich findet: Die Zeiten glorreicher Taten sind vorbei, und doch müssen die Söhne und Enkel die Konsequenzen der Taten ihrer Eltern und Großeltern tragen. Hugos Drama ist zu Zeiten der Zensur entstanden, in denen es unmöglich gewesen wäre, eine aktuelle Diskussion über politische Themen auf der Bühne darzustellen. Die historische und geographische Verfremdung entspricht jedoch auch den ästhetischen Vorstellungen des Autors. So fordert Hugo, dass geschichtliche Höhepunkte nicht nur ausgewählten Bildungsbürgern, sondern dem gesamten Volk auf der Bühne gezeigt werden sollen. Er greift auf verschiedene Theoretiker zurück: Schon Guizot hatte 1821 in seiner Vie de Shakespeare ein Theater für alle Schichten der Bevölkerung gefordert, Stendhal hatte in Racine et Shakespeare (1823-1825) an die zeitgenössischen Dramenautoren appelliert, endlich die großen nationalen Stoffe auf die Bühne zu bringen. 6 Ebenfalls eindeutig ist der Einfluss der historischen Dramen Schillers, die in Frankreich mit nur wenig Verzögerung übersetzt und mit großem Erfolg gespielt worden waren. Mme de Staël fasste die Dramen 1814 in ihrer erfolgreichen Schrift De l’Allemagne (1814) noch einmal zusammen und empfahl sie dem französischen Publikum zur Lektüre. Der geschichtliche Höhepunkt wird jedoch bei Hugo mehr als fataler denn als glorreicher Moment gezeigt. Der Held des romantischen Dramas ist ein Außenseiter („Je suis banni! Je suis proscrit! Je suis funeste! “ 7 warnt Hernani Doña Sol); er führt einen verzweifelten Kampf, den er letztendlich nur verlieren kann. In Hernani wie in allen anderen drames romantiques besiegelt das Dramenende den Tod bzw. den definitiven Absturz eines Helden, der nicht immer heldenhaft handelt und dessen Größe sich weder über seinen sozialen Stand noch über seine Tugend definiert. So inkarnieren, wie dies Gérard Gengembre feststellt, weniger die historischen Themen als vielmehr die Figuren den Revolutionsanspruch des drame romantique. 8 Das indi- 4 Insofern ist die Aussage von Anne Ubersfeld, das Stück enthalte keine politische These, zumindest missverständlich. (Ubersfeld 2008, 105). 5 Hugo: Hernani, in: ders.: Œuvres complètes: Théâtre I, hg. von Anne Ubersfeld, Paris: Robert Laffont, 1985, 552 (I, 2). „Aber die Väter sind umsonst gestorben. Ihr Hass lebt weiter.“ (Hier und in der Folge meine Übersetzung). 6 Vgl. Ubersfeld (2008), 58-59. 7 Hugo: Hernani, 583 (II, 4). „Ich bin verbannt! Ich bin ausgestoßen! Ich bin verflucht! “ 8 Vgl. Gérard Gengembre: „Le théâtre nouveau du XIXe siècle“. In: Alain Viala (Hg.), Le théâtre en France des origines à nos jours, Paris, PUF 1997, 339: „La mort est au bout de leur trajet, sanction de ce conflit avec un monde dont ils contestent les valeurs.“ 146 Charlotte Krauss viduelle Schicksal bewegt sich in einem fehlerhaften politischen und gesellschaftlichen Rahmen, dem es nicht entkommen kann. In einer Situation, in der die Helden nicht mehr perfekt sind, die Gesellschaft an fragwürdigen Moralvorstellungen festhält und die politische Herrschaft anscheinend auch kriminelle Handlungen deckt (die versuchte Entführung durch Don Carlos), wird als Gegenpol die leidenschaftliche Liebe aufgewertet: Doña Sol hält Hernani bedingungslos die Treue und folgt ihm schließlich in den Tod, trinkt gar noch vor ihm das tödliche Gift. Um den historischen Stoff in seinem vollen Umfang zu zeigen, hält sich das Stück nicht mehr an die aristotelischen Einheiten: Die Handlung sprengt den Rahmen der 24 Stunden um ein Vielfaches und wechselt von Spanien nach Aachen und wieder zurück. Dies taten zur gleichen Zeit bereits viele Theatertexte in Frankreich; skandalös war daher vor allem, dass Hernani durch die Versform an den hohen Stil der klassischen Tragödie anknüpfte, gleichzeitig jedoch ihre Regeln außer Kraft setzte. 9 Die Verwendung des Alexandriners war zudem nicht mehr orthodox: Hugo verwendete oft eine familiäre Sprache und verteilte einen Vers auf bis zu sechs Repliken (so gleich am Anfang des Stückes in Don Carlos’ Auseinandersetzung mit der Amme: „Oui./ Cache-moi céans! / Vous! / Moi./ Pourquoi? / Pour rien.“). 10 Trotz dieser ungewohnten Verwendung hielt Hugo die Versform auf der Bühne weiter für erstrebenswert. Kunst sei nicht im Reich der Realität verortet, so schrieb er, sondern im Reich der Wahrheit 11 : Sie muss also mit ihren Mitteln arbeiten. Dumas hingegen blieb nach einem eher unbeholfenen Versuch (Christine, 1830) bei der Prosa, und da er auch in der Wahl seiner Stoffe weniger politisch brisante Themen streifte, griff die polemische Kritik der Zeitungen von allen romantischen Dramenautoren besonders gerne und heftig Victor Hugo an. 12 Das Drama der Romantik setzt sich nicht nur von der klassischen Tragödie ab, es fordert auch explizit die Freiheiten eines - unter Einfluss des deutschen „Sturm und Drang“ - als genial empfundenen shakespeareschen Theaters ein. 13 Wie Shakespeare wollte Hugo, und zunächst auch Dumas, die 9 Für Gérard Noiriel (Histoire, théâtre, politique, Marseille: Argone, 2009, 31) lässt sich gar der subversive Charakter des gesamten Dramas vor allem an der Sprache festmachen: „Le caractère subversif de ce drame se situe essentiellement dans l’usage de la langue, laquelle constitue […] un formidable marqueur des conditions sociales.“ 10 Hugo: Hernani, 547 (I, 1). „Ja./ Versteck mich da drinnen! / Sie! / Mich. / Warum? / Einfach so.“ 11 „Le théâtre n’est pas le pays du réel: il y a des arbres de carton, des palais de toile, un ciel de haillons, des diamants de verre, de l’or de clinquant, du fard sur la pêche, du rouge sur la joue, un soleil qui sort de dessous de terre. C’est le pays du vrai: il y a des cœurs humains sur la scène, des cœurs humains dans la coulisse, des cœurs humains dans la salle.“ Hugo in Le Tas de pierres (1830-1833), zitiert nach Ubersfeld (2008), 149. 12 Vgl. Ubersfeld (2008), 130. 13 Vgl. Gengembre (1997), 331. 1830 147 großen Momente der nationalen Geschichte auf die Bühne bringen 14 , und während Diderot, Mercier oder Beaumarchais im ausgehenden 18. Jahrhunderts bereits der Bourgeoisie Zutritt zu seriösen Sujets ermöglicht hatten, sollten sich nun gar, ganz den Geschichtsfresken entsprechend, auch die Volksmassen auf der Bühne wiederfinden bzw., in Anbetracht der materiellen Grenzen, zumindest in den Zuschauerraum vordringen. Damit stellte sich jedoch ein entscheidendes Problem der politischen Literatur, das auch Benoît Denis als eines der Grundprobleme jeglichen engagierten Schreibens aufzeigt 15 : Victor Hugo musste für das Massenpublikum schreiben, einfach, spannend und amüsant zugleich; er ging dabei jedoch das Risiko ein, dass seine politischen Ideen und Vorstellungen nebensächlich wurden. Denn das neue Theaterpublikum, das in etwa mit der französischen Revolution entstanden war, verlangte nach spektakulären Handlungen, nach Emotionen und leicht verständlichen Stoffen. So ist es nicht verwunderlich, dass das drame romantique sich auch vom zeitgenössischen, populären Theater deutlich inspirieren ließ: In Hernani wie im Melodrama finden sich geheime Türchen, Schränke und Kämmerchen hinter den Bildern der Ahnengalerie oder in der Aachener Gruft. Spione treten auf, eine Verschwörung wird gezeigt, mysteriöse Codewörter und symbolische Objekte orientieren die Handlung, und schließlich wird der gemeinsame Tod der Liebenden auf der Bühne (natürlich durch Gift aus einem geheimnisvollen Glasfläschchen) bis ins letzte Detail ausgelebt. Die bienséance der klassischen Tragödie ist hier weit entfernt. 16 Den ästhetischen Vorstellungen Hugos entsprechend, finden auch groteske Momente Einzug in die Handlung, und auch hier ist der Einfluss des Melodramas spürbar. So streiten sich im ersten Akt Don Carlos und Hernani um einen Platz im Schrank, um sich vor Don Ruy Gomez zu verbergen; im dritten Akt präsentiert eben jener Don Ruy Gomez, anstatt Auskunft über den Verbleib von Hernani zu geben, dem vor Ungeduld kochenden Don Carlos in aller Seelenruhe die einzelnen Gemälde seiner schier unendlichen Ahnengalerie. Und auch die Sprache entspringt oft mehr dem Boulevard-Theater als dem hohen Stil, den die Schauspieler der Comédie Française gewohnt waren: Es bedurfte intensiver Überzeugungsarbeit während der Proben, bis Mlle Mars bereit war, auf der Bühne Hernani als ihren „großartigen und edlen Löwen“ 17 zu bezeichnen. So formuliert das Stück 14 Dies forderte im Übrigen bereits Stendhal in seiner Schrift Racine et Shakespeare (1823), mit der er auf den Besuch der englischen Schauspieltruppe in Paris reagierte. Im Vorwort seines Dramas Lucrèce Borgia (1833) wird Hugo explizit feststellen, dass die Mission des Theaters national, sozial und menschlich ist. 15 Benoît Denis: Littérature et engagement. De Pascal à Sartre, Paris: Seuil, 2000, Kapitel 4 „Le public: l’appel du profane“, 52-62. 16 Vgl. Gengembre (1997), 330 sowie Ubersfeld (2008), 91. 17 Durch Dumas in seinen Mémoires überliefert (Mes Mémoires, Band 5, Paris: Calmann Lévy, 1863, 272-275). 148 Charlotte Krauss zwar, wenn auch historisch verfremdet, einen durchaus politischen Anspruch, ertränkt diesen aber in einer Art von episodischem und ästhetischem Overkill, einer letzten Endes nicht eindeutigen Mischung von Groteske und Sublime. 18 Das zweite Drama von Victor Hugo, das ich kurz darstellen möchte, Marion de Lorme, wurde bereits 1829, also vor Hernani geschrieben, konnte aber erst 1831 nach der Aufhebung der Zensur aufgeführt werden. Auch hier wird ein historischer Stoff behandelt: Die Handlung spielt im Frankreich des beginnenden 17. Jahrhunderts, unter Ludwig XIII. bzw. dem Kardinal Richelieu, der anstelle des Königs regiert. Marion de Lorme stellt die Frage nach der Legitimität staatlicher Macht, und auch dieses Drama bringt Außenseiterfiguren auf die Bühne: Die Titelfigur, einst die Geliebte einer ganzen Reihe von Pariser Adeligen, hat sich in den jungen Didier, den unehelichen Sohn einer hohen Familie, verliebt und ist ihm in die Stadt Blois gefolgt. Dort findet sie ihr ehemaliger Liebhaber Marquis de Saverny, der Marion nichts Böses will, aber durch sein Unverständnis der Handlung immer wieder den denkbar schlechtesten Lauf geben wird. Bei einem Angriff rettet Didier ihm das Leben; als er ihn im zweiten Akt jedoch nicht erkennt, stehen sich Saverny und Didier im Duell gegenüber - ausgerechnet unter dem Anschlag Richelieus, der alle Duelle verbietet und mit dem Tod beider Parteien bestrafen will. So werden beide verhaftet und verurteilt, und das Stück endet, aller Gnadengesuche zum Trotz, mit ihrer Exekution. Das Drama weist auf mehrere politische und gesellschaftliche Probleme hin: Es zeigt zunächst die zwiespältige Situation unehelicher Söhne, die als „Bastarde“ aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Des Weiteren wird auch hier, wie in Hernani, die Frage nach einem absurden Ehrgefühl gestellt: Streitereien über Kleinigkeiten müssen nach dem Adelskodex mit völlig unnötigen Duellen geregelt werden und dezimieren die Zahl der gut ausgebildeten jungen Männer. So fordert im zweiten Akt der Graf von Villac gar seinen Freund, den Chevalier de Montpesat, zum Duell auf, weil Letzterer sich dem Grafen zufolge in einer Diskussion ungebührlich über Pierre Corneille geäußert hat. Die Lösung kommt jedoch auch nicht vom Staat, der schlicht alle Duelle verbieten und bestrafen lässt. Das Drama zeigt die Sinnlosigkeit der Todesstrafe und kritisiert die absolute Macht - zumal unter einem schwachen König, der sich von Richelieu terrorisieren lässt, über Langeweile klagt und mehr Interesse für die Jagd als für seine Untertanen zeigt. Besonders grotesk etwa ist eine Szene im vierten Akt, in der der Hofnarr l’Angély den König nur für das Schicksal der beiden Verurteilten interessieren kann, weil er von den angeblichen Jagdkünsten Didiers berichtet. 18 Vgl. Gengembre (1997), 338, der allerdings den politischen Einfluss nicht berücksichtigt. 1830 149 Dieses Drama Hugos, dessen Aufführung, wie noch zu zeigen sein wird, lange hinausgezögert wurde, stößt sich an einem grundlegenden Problem des engagierten Schreibens: Der politische Gehalt des Dramas wird vor allem dann offenbar, wenn man es vor dem Hintergrund der französischen Restauration liest. Nach der Julirevolution, und in einem Kontext andauernder Unruhen, in dem sich viele Bürger nach einer klaren politischen Führung zurücksehnten, wurden die Attacken gegen Ludwig XIII. (und damit gegen Karl X.) nicht mehr als aktuelles Problem gelesen, sondern wirkten überholt. Auch aus diesem Grund wurde das Stück als lau und zu lang empfunden, wie ein Brief von Sainte Beuve beweist: „On a donné Marion; la première représentation a été lourde, trop longue, cela n’a fini qu’à une heure du matin. Le public nombreux et non malveillant était fatigué et les jugements qui tous s’accordaient sur le talent n’accueillaient pas l’ensemble de l’ouvrage.“ 19 Die Handlung von Antony, mein drittes Beispiel und zugleich das erfolgreichste Drama von Alexandre Dumas, wird als aktueller empfunden, obwohl Dumas sich für den Stoff direkt von Hugo inspirieren ließ: Im Juli 1829 20 hatte er einer Lesung von Marion de Lorme durch Hugo beigewohnt und sich von der Thematik der unehelichen Söhne adeliger Familien angesprochen gefühlt. Das Thema ließ sich bühnenwirksam umsetzen, und es barg sowohl in der Restaurationsgesellschaft, die sich auf vorrevolutionäre adelige Familientraditionen berief, als auch nach der Julirevolution große gesellschaftliche Brisanz. Unmittelbar vor der Premiere von Antony 1831 erkannte Dumas übrigens auch seinen eigenen unehelichen Sohn Alexandre an. 21 Im Gegensatz zu Marion de Lorme konzentriert sich Dumas’ Drama jedoch ausschließlich auf diese Thematik, die hier auch nicht historisch oder geographisch verfremdet wird. Die Handlung spielt in der zeitgenössischen französischen Salongesellschaft, in der sich Antony, ein junger reicher Mann, der aber die Familie, die ihn unterstützt, nicht kennt, wie unter Seinesgleichen bewegt. Eine Heirat mit der adeligen Adèle jedoch war ihm, dem Bastard, nicht erlaubt. Trotz der gegenseitigen Liebe hat er also drei Jahre zuvor Paris verlassen, um Adèle eine standesgemäße Heirat mit dem Colonel d’Hervey zu ermöglichen. Zu Beginn der Handlung kommt Antony jedoch 19 Zitiert nach Ubersfeld (1974), 66. „Es wurde Marion gegeben; die erste Vorstellung war schwer, zu lang, sie war erst um ein Uhr morgens zu Ende. Das Publikum, zahlreich und eher wohlwollend, war müde, und alle waren sich im Hinblick auf das Talent einig, nahmen das Gesamtwerk aber nicht an.“ 20 Dieses Datum gibt Dumas zumindest in seinen Memoiren an (vgl. Fernande Bassan und Sylvie Chevalley: Alexandre Dumas père et la Comédie-Française, Paris: Minard, 1972, 46). Da Antony aufgrund verschiedener Verzögerungen letztendlich vor Marion de Lorme aufgeführt wurde, warf man Hugo vor, er habe bei Dumas abgeschrieben. Dumas musste öffentlich zugeben, dass er sich hatte inspirieren lassen. (Vgl. ibid., 57). 21 Vgl. die „Chronologie“ von Pierre-Louis Rey in Alexandre Dumas: Antony (1831), hg. von Pierre-Louis Rey, Paris: Gallimard, 2002, 160. 150 Charlotte Krauss nach Paris zurück. Obwohl Adèle versucht ihm aus dem Weg zu gehen, um ihren Ruf nicht zu gefährden, führen mehrere Zufälle die beiden zusammen. Die alte Liebe flammt wieder auf, Antony hindert Adèle daran, zu ihrem Gatten nach Straßburg zu fliehen, und wenige Zeit später wird Adèle bewusst, dass die Salongespräche in ganz Paris bereits ihr Verhältnis thematisieren, ihr Ruf also verloren ist. Antony schlägt eine gemeinsame Flucht vor, aber sie zögert - und schließlich eilt der Colonel aus Straßburg herbei. Adèle fleht Antony an, sie zu töten und sie so zu retten. So ersticht Antony die Geliebte und nimmt alle Schuld auf sich: „Sie hat sich gewehrt“, sagt er dem eintretenden Ehemann, „da habe ich sie ermordet.“ 22 Diese überraschenden letzten Worte des Dramas verbreiteten sich in Paris nach der Uraufführung des Dramas 1831 wie ein Lauffeuer. In Antony wie in all seinen Dramen, abgesehen vom Misserfolg Christine (1830), verwendet Dumas keine Verse, sondern Prosa. Antony musste insofern sehr lebendig auf die Zeitgenossen wirken, die Wahl eines zeitgenössischen Stoffes ihre direkte Reaktion herausfordern. Wie Anne Ubersfeld 23 eindrucksvoll an einer Art Presseschau gezeigt hat, entsprach diese Aktualität übrigens durchaus den Forderungen der Zeit bzw. sie war sogar schon Ende des 18. Jahrhunderts von Sébastien Mercier gefordert und im drame bourgeois ansatzweise umgesetzt worden. 24 Für den politischen Anspruch des Dramas hat die allerletzte Replik - „Elle me résistait, je l’ai assassinée! ...“ - eine herausragende, beschwichtigende Bedeutung. Nachdem das Drama über fünf Akte hinweg die gesellschaftlichen Gegebenheiten in Frage gestellt und den Ehebruch geradezu live auf der Bühne gezeigt hat, fügt sich der Held hier den gesellschaftlichen Normen, übernimmt alle Verantwortung und stellt sich der Justiz; ihre „Ermordung“ gibt Adèle die Unschuld zurück. 25 Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser letzten Tat bleibt Antony Sympathieträger und Identifikationsfigur. Ebenso wie Hugos Figuren ist er kein strahlender Held, sondern ein Einzelgänger, der sich verzweifelt gegen das Schicksal stemmt und versucht, sein Recht einzuklagen. Sein eigene Identität verteidigt er mit Vehemenz und erscheint so bis zum letzten Augenblick fast egoistisch: Antony steht in 15 von 31 Szenen im Mittelpunkt; er liebt es Befehle zu geben und spricht deutlich häufiger von sich selbst als von Adèle oder anderen Figuren. 26 22 „Elle me résistait, je l’ai assassinée! ...“ Dumas: Antony, 153 (V, 4). 23 Anne Ubersfeld: „Alexandre Dumas père et l’intégration du héros“. In: dies.: Le théâtre et la cité. De Corneille à Kantor, Bruxelles: AISS-IASPA, 1991, 118. 24 Vgl. Ubersfeld (2008), 14. 25 Vgl. ebd., 116. 26 Vgl. Ubersfeld (1991), 118: „le centrage autour d’un héros ambitieux, violent, passionné, inconfortable; ce personnage central a la même trajectoire: l’ascension, la faute (ou le crime), la chute (expulsion mort ou procès infamant)…“ 1830 151 Nicht umsonst jedoch macht Léon Blum dem Drama den Vorwurf, es habe das romantische Ideal „bourgeoisiert“. 27 Dumas’ Held entstammt einer hochstehenden Familie, selbst wenn er diese nicht kennt. Er verfügt über ausreichend Geld und bewegt sich in höheren gesellschaftlichen Kreisen 28 - hier gelangt nicht das Volk und seine Misere auf die Bühne, sondern die Bourgeoisie beleuchtet sich selbst und entspricht damit ganz dem Ideal der Julimonarchie und ihrem Bürgerkönig. Drei von fünf Akten spielen dann auch im Zentrum der Pariser Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts, einem Salon; ein weiterer Akt zeigt eine Herberge als bürgerliche Begegnungsstätte. Gerade dieser Ort macht jedoch noch einmal deutlich, wie sehr das Drama der Romantik von populären Theaterformen inspiriert wurde: Die beiden einzigen Zimmer der Herberge sind auf wundersame Weise miteinander verbunden, ein Balkon bietet genau an der richtigen Stelle ein Fenster an, durch das Antony in das Zimmer der Geliebten Adèle eintreten kann usw. 29 Antony bringt die Gesellschaft der Julimonarchie auf die Bühne, gibt Auskunft über ihre inneren Widersprüche und Fragen. Aber auch in der Folge wird dieses Drama eine Art Thermometer bleiben und vor allem in gesellschaftlichen Konfliktmomenten erneut gespielt werden. Dumas stellt in seinen Memoiren fest: „Toutes les fois que la société chancelle sur ses bases, on joue Antony, mais toutes les fois que la société est sauvée, que la Bourse monte, que la morale triomphe, on supprime Antony.“ 30 Die Bedeutung der drames romantiques wird in der Tat nur deutlich, wenn man auch die Aufführungen und ihre konkreten Umstände berücksichtigt. 27 Ubersfeld (1991), 116. 28 Ähnliches gilt für die Helden anderer Dramen des Autors, wie Anne Ubersfeld (1991, 120) feststellt: „S’il fallait les définir socialement, on dirait qu’ils sont à la fois marginaux et bourgeois, bourgeois par l’argent, marginaux par leur bâtardise ou par leur métier (le comédien Kean).“ 29 Vgl. Gengembre (1997, 342), der den Einfluss des Melodrams auf das drame romantique im Allgemeinen an folgenden Orten, Situationen und Details festmacht: „Le mélodrame imprègne le drame, lui prêtant l’un de ses lieux de prédilection (la maison secrète, peuplée de Nègres muets), l’arsenal de situations (complots, déguisements, enlèvements, duels, reconnaissances, évasions, quiproquos, pièges, etc.), l’horlogerie dramatique des rencontres, départs, retours, la répartition entre le sublime pathétique et le grotesque picaresque. Surtout, il détermine la psychologie des personnages, construits antithétiquement.“ 30 Dumas: Mes Mémoires, Band 8, Paris: Calmann Lévy, 1884, Kap. CXCIX, 117. „Immer wenn die Gesellschaft auf ihrem Fundament wackelt, wird Antony gespielt, aber wenn die Gesellschaft wieder gerettet ist, die Börsenzahlen steigen, die Moral triumphiert, dann wird Antony wieder abgesetzt.“ 152 Charlotte Krauss Die drei Dramen in der Aufführung Wenn man die Frage stellt, wieso die französischen Bühnen überhaupt zum Ort heftiger Auseinandersetzungen werden konnten, ist zunächst einmal festzuhalten, dass das romantische Drama in Frankreich die letzte Etappe der Romantik ist, die zunächst andere Genres betroffen hatte und einer eher religiös-konservativen Ästhetik verpflichtet war. Die Bühne war im 19. Jahrhundert zweifellos ein privilegierter Ort ästhetischer und ideologischer Auseinandersetzung, in Paris wie anderswo. 31 Für begabte Autoren bot sie neben dem direkten Zugang zum Publikum auch eine hervorragende Einkommensquelle, denn der Verdienst des Autors hing von den Zuschauerzahlen ab, so dass - zumindest vor dem goldenen Zeitalter des Feuilletonromans - ein Kassenerfolg am Theater deutlich lukrativer war als jede Art der Veröffentlichung. Das Theater barg hingegen das Risiko der Zensur (in Frankreich erst 1904 komplett aufgehoben), sowie anderer staatlicher Druckmittel, die an den Theaterhäusern auch eine nicht zu unterschätzende Selbstzensur zur Konsequenz haben. So erstrebenswert also die Bühne für alle jungen Autoren gewesen sein mag, das drame romantique als letzter Höhepunkt der Romantik wurde vor allem durch die Julirevolution ermöglicht; ohne die Aufhebung der Zensur von 1830 bis 1835 wären fast alle Stücke nicht spielbar gewesen. Ein mögliches Vorbild für den gesellschaftlichen Auftrag ihrer Dramen mag für die Romantiker auch das politische Theater der Französischen Revolution gewesen sein. Im Januar 1791 war es in Paris erstmalig zu einer großzügigen Liberalisierung des Theaterbetriebes gekommen, infolge derer die Zahl der Spielstätten sprunghaft angestiegen war. Die Abschaffung der Privilegien, die jedoch begleitet war von staatlicher Kontrolle der aufgeführten Stoffe, diente dem durchaus eigennützigen Zweck der Propaganda revolutionärer Ideen - ein Ziel, das erreicht wurde: das Theater der Französischen Revolution ging als besonders innovativer, wenn auch ephemerer Moment in die französische Theatergeschichte ein. Nachdem jedoch Napoleon mit Rückgriff auf das System des königlichen Privilegs die Pariser Bühnen 1803 wieder auf 17, 1806 gar auf 12 reduziert hatte, gab es 1830 in Paris nur etwa 30 und damit im europäischen Vergleich relativ wenige Bühnen. Es existierte vor allem nur eine offizielle subventionierte Bühne für Sprechtheater, die Comédie Française. Das traditionsreiche Theater in der Rue Richelieu, das mit verhältnismäßig teuren Eintrittspreisen vor allem ein gehobenes Publikum anzog, deckte, dem Wunsch seiner liberalen Geldgeber folgend, das klassische Tragödienrepertoire ab, ohne 31 „C’est que le théâtre est devenu un enjeu et un terrain de luttes privilégié, à la fois dans la stratégie littéraire, pour la promotion de l’écrivain, et dans les manœuvres idéologiques.“ (Gengembre (1997), 300). 1830 153 jedoch damit Kassenerfolge zu erzielen. 32 Zwar war das kleinere Odéon eine zweite subventionierte, durch eine private Leitung sogar etwas freiere Spielstätte, es lag jedoch sehr ungünstig und zog kaum Publikum an. 33 Während der Restauration waren daneben eine ganze Reihe privater Bühnen entstanden, die meist recht klein waren, wegen technischer Mängel immer wieder abbrannten und wegen finanzieller Probleme regelmäßig den Besitzer wechselten. Sie sprachen ein populäres Publikum an und legten den Schwerpunkt ihres Repertoires auf kleine Vaudevilles und spektakuläre, von der Handlungsfolge eher unwahrscheinliche Melodramen. 34 So nannte der Volksmund den am Stadtrand gelegenen Boulevard du Temple, an dem seit 1815 viele Theaterhäuser entstanden waren und der später der Hausmannschen Stadtplanung zum Opfer fiel, schon bald den „Boulevard du Crime“. 35 Das größte private Theater, das für das drame romantique eine entscheidende Rolle spielt lag in der Nähe dieser berüchtigten Straße, an der Porte-Saint- Martin. Trotz einer grundsätzlichen Konkurrenz konnte der Unterschied zwischen der offiziellen Bühne und dem Boulevard du Crime größer kaum sein; er betraf das Publikum wie die Schauspieler, und so konnte unter anderem die Wahl der Bühne über Erfolg oder Misserfolg eines drame romantique entscheiden. Nachdem Hugos Cromwell nie zur Aufführung gelangt war und sein zweites Stück, eine Adaption von Walter Scott mit dem Titel Amy Robsard 1828 am Odéon ein wahres Desaster gewesen war, bot Hugo sein drittes Stück, Marion de Lorme, dem neuen königlichen Verwalter der Comédie Française, Baron Taylor, an. Dieser war den Romantikern gegenüber positiv eingestellt, und Hugos Drama wurde nach einer Lesung akzeptiert und auf das Programm gesetzt. Die Zensur kam von oben: Martigniac, Minister von Karl X., befand, die Darstellung von Ludwig XIII. im Stück sei nicht positiv genug: „Il n’est pas l’heure d’exposer aux rires et aux insultes la personne 32 Anne Ubersfeld (1974, 45) beschreibt treffend die Aura der gediegenen Langeweile, die das Theater umgab: „À la Comédie Française revenait ‘le beau monde’, l’élite; c’était la salle officielle où se jouaient les chefs-d’œuvre classiques, et où il était de bon ton de venir parfois s’ennuyer dignement.“ 33 Vgl. Descotes (1955), 155 und Ubersfeld (2008), 87. 34 Das Melodrama war Ende des 18. Jahrhunderts aus populären Singspielen als eigenes Genre entstanden. Es verlor in Frankreich schnell seine eigentliche Bedeutung des gesungenen Dramas und begeisterte die Zuschauer vor allem mit spektakulären Handlungen und emotionsgeladenen Familiengeschichten. Vgl. Degaine (1992), 259, Ubersfeld (2008), 89. 35 Degaine (1992, 259) zitiert eine besonders treffende Zusammenfassung der auf dem Boulevard du Crime dargestellten Handlungen nach dem Almanach des spectacles von 1823: „En 20 ans, Tantin a été poignardé 16302 fois, Marty a subi 11000 empoisonnements avec variantes. Fresnoy a été immolé de différentes façons 27000 fois. Mlle Dupuis a été 75000 fois ‘innocente’, séduite, enlevée ou noyée…“ 154 Charlotte Krauss royale“. 36 Er ließ das Drama verbieten. Eine angebotene Kompensationszahlung lehnte Hugo ab und schrieb stattdessen in nur 27 Tagen (29. August bis 24. September 1829) ein weiteres Drama, Hernani, das im Oktober von den Schauspielern der Comédie Française begeistert aufgenommen wurde. Der Zensor, Charles Brifaut, hatte Angst sich mit dem Verbot eines weiteren Dramas Hugos lächerlich zu machen, und so ließ er das Stück schließlich mit der Begründung zu, dass das Publikum ruhig einmal sehen solle, zu welchem Unsinn der menschliche Geist fähig sei, wenn die Schranken jeglicher Regeln und jeden Anstandes gebrochen seien: „Il est bon que le public voie jusqu’à quel point d’égarement peut aller l’esprit humain affranchi de toute règle et de toute bienséance.“ 37 Er zögerte auch nicht seine Meinung in allen Pariser Salons zu verkünden und groteske Zusammenfassungen des Dramas zu liefern. Bereits im Vorfeld der Premiere war die Stimmung aufgeheizt; das Drama erhielt jedoch Unterstützung durch die Schauspieler. So wurde die Rolle der Doña Sol vom Star des Theaters gespielt, Mlle de Mars, die, bereits 1779 geboren, schon lange keine jugendliche Schönheit mehr war, jedoch hervorragend Verse deklamieren konnte. Die bataille unmittelbar nach der Aufführung habe ich bereits erwähnt. Nicht nur am Tag der Premiere, sondern über die gesamte Dauer der 39 Aufführungen 38 hinweg wurde Hernani von jungen „Ultraromantikern“ unter der Führung des Schriftstellers Théophile Gautier verteidigt. 39 Manche kamen täglich. Und so erzielte das Drama, allen schlechten Kritiken zum Trotz, einen großen, auch finanziellen Erfolg. 40 Trotzdem reagierte das Traditionshaus im Anschluss an die eindrucksvolle bataille zunächst eher zurückhaltend auf die jungen Romantiker, zumal die Comédie Française im Anschluss an die Julirevolution und bis November 1831 von einer der größten Krisen ihrer langen Geschichte erschüttert wurde: das Publikum blieb aus, die von Karl X. zugesagten Subventionen wurden vom neuen Regime nicht gezahlt, der Verwalter Taylor ging in Ägypten seinem archäologischen Hobby nach und Mlle Mars konnte nur durch ein Gerichtsurteil von der Kündigung abgehal- 36 Zitiert nach Ubersfeld (2008), 102. „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, die königliche Majestät dem Gelächter und der Beschimpfung auszusetzen.“ 37 Zitiert nach Ubersfeld (2008), 105. „Es ist gut, wenn das Publikum einmal sieht, zu welchem Unsinn der menschliche Geist fähig sei, sobald die Schranken aller Regeln und jeglichen Anstandes gebrochen sind.“ 38 Angabe nach Descotes (1955, 135). 39 Vgl. u.a. Gengembre (1997), 334, Ubersfeld (2008), 108. 40 Descotes (1955, 131) zitiert den Courrier des Théâtres vom 27.2.1830, demzufolge bis dato keine Premiere an der Comédie Française so viele Einnahmen eingespielt hatte: „Jamais, jusqu’à ce jour, première représentation n’avait eu lieu devant une si forte recette à la Comédié Française.“ Anne Ubersfeld (2008, 87) gibt für die Uraufführung eine Einnahme von 5134 Francs an, während Phèdre am Vorabend gerade einmal 450 Francs eingespielt hatte. Gleichzeitig weist sie jedoch auch darauf hin (ebd., S. 109), dass alle Zeitungen mit Ausnahme des Globe das Stück kritisieren. 1830 155 ten werden. 41 In dieser Situation schlugen Hugo und Dumas, die befreundet waren, dem Staat vor, das Theater selbst zu übernehmen, wenn dieser ihnen zwar keine Subventionen aber für die Aufführung klassischer Stücke eine Mindesteinnahme garantierte. 42 Das Angebot wurde natürlich nicht angenommen. Als Alexandre Dumas’ historisches Versdrama Christine am Odéon kein großer Erfolg wurde, drohte dem drame romantique die Spielstätte zu fehlen. Die Rettung kam kurioserweise durch die Subventionspolitik der Julirevolution: Als das neue Regime 1831 die Unterstützung für das Odéon strich 43 , wechselte Charles-Jean Harel, seit 1829 Direktor des Odéon, 1832 an das größte private Theater, an die Porte Saint-Martin. 44 Er wollte die jungen Dramenautoren unterstützen und bot ihnen an, ihre Dramen dort zu spielen. Und so wurde die bis dato auf das Melodrama spezialisierte Bühne zu einem der wichtigen Orte für das Drama der Romantik - mit entscheidenden Nebeneffekten, vor allem für Alexandre Dumas. Als dieser wegen ständiger Verzögerungen der Comédie Française den Rücken kehrte 45 und seinen Antony am 3. Mai 1831 an der Porte-Saint-Martin uraufführen ließ, stand bereits fest, dass Harel die Leitung des Hauses übernehmen würde; Teile der Truppe kamen vom Odéon. Das einfachere Publikum reagierte begeistert auf das Prosadrama und auf den zeitgenössischen Stoff - vermutlich auch wegen der Hauptdarsteller, die ihnen aus dem Melodrama bekannt waren, und die sich weniger auf das Deklamieren von getragenen Versen als auf das Theaterspielen mit eindrucksvoller Gestik verstanden. 46 Der Star des Melodramas, Marie Dorval, spielte die weibliche Hauptrolle, und Bocage war als 41 Vgl. Descotes (1955, 142-143). Diese Situation erklärt auch, warum Hugo seine Marion de Lorme nach Aufhebung der Zensur nicht, wie eigentlich geplant, wieder an die Comédie Française gab. 42 Vgl. ebd., 148-149, sowie Bassan und Chevalley (1972, 53). 43 Vgl. Descotes (1955, 210): „Louis Philippe ne tenait pas les promesses de Charles X, et la subvention avait été progressivement réduite. Harel en avait appelé au Conseil d’Etat, protestant contre l‘argumentation du Ministère qui prétendait n’être pas obligé de reconnaître les engagements pris antérieurement. Le 4 avril [1831], la requête de Harel avait été rejetée.“ 44 Descotes zufolge (1955, 169 und 202) spielte die Truppe bis zum 1. April 1832 auf beiden Bühnen. 45 Antony war bereits 1829/ 1830 entstanden und am 16.6.1830 an der Comédie-Française angenommen worden. Ende September wurde das Stück von der Zensur verboten, aber erneut auf den Spielplan gesetzt, als die Zensur unmittelbar danach wieder aufgehoben wurde. Die oben erwähnte Krise in der Rue Richelieu führte letztendlich dazu, dass Dumas das Theater wechselte. (Vgl. Bassan und Chevalley (1972), 48-53). 46 Vgl. auch den begeisterten Bericht von Gautier, zitiert bei Bassan und Chevalley (1972, 55): „Ce que fut la soirée, aucune exagération ne saurait le rendre. La salle était vraiment en délire; on applaudissait, on sanglotait, on priait, on criait. La passion harcelante de la pièce avait incendié tous les cœurs.“ 156 Charlotte Krauss Antony so erfolgreich, dass er in der Folge immer wieder mit seiner Rolle verwechselt wurde. 47 Nachdem die Julirevolution die Zensur aufgehoben hatte, wurde auch Hugos Marion de Lorme endlich aufgeführt - an der Porte-Saint-Martin und wieder mit Marie Dorval in der Titelrolle, mit Bocage als Didier. 48 Die Uraufführung, die Hugo wegen andauernder politischer Unruhen bis auf den 11. August hinausgezögert hatte 49 , war jedoch enttäuschend: die Absolutismuskritik des Stückes erschien überholt 50 und Antony hatte das Problem unehelicher Kinder viel eindrucksvoller dargestellt. Außerdem zeigte es sich, dass die Schauspieler des Melodramas Probleme mit den Versen hatten. Demzufolge versuchte Hugo seine Stücke wieder an der Comédie Française aufführen zu lassen, wo auch das Publikum, so dachte er, seine historischen Stoffe zu schätzen wüsste. Interessanterweise wurde jedoch Le Roi s’amuse 1832 an der Comédie Française ein Misserfolg, während Lucrèce Borgia ein Jahr später noch einmal das Publikum der Porte-Saint-Martin zu begeistern vermochte. 51 Alexandre Dumas hingegen, der 1829 mit Henri III et sa cour den ersten Erfolg des romantischen Dramas an der Comédie française gefeiert hatte 52 , blieb der Weg zurück an das Traditionshaus verwehrt: 1834 wurde die dortige Wiederaufnahme von Antony wegen angeblicher „Unmoralität“ des 47 Descotes (1955, 207) verweist auch auf zahlreiche Parodien von Antony, über deren Bühnenanweisungen man heute noch auf die ausgeprägte - für heutige Theaterverhältnisse deutlich übertriebene - Gestik der Schauspieler, insbesondere Bocages schließen kann: „Grâce aux parodies qui furent données d’Antony, on reconstitue assez bien comment Bocage exprima le caractère ‘fatal’ du héros: dans Bâtardi, on voit le personnage se frapper le front contre le saillant d’une porte, grincer des dents lorsqu’on lui parle des Enfants Trouvés, se tenir sans cesse la tête entre les mains au cours du grand monologue du troisième acte.“ 48 Ubersfeld (1974, 55) weist darauf hin, dass ein wesentlicher Grund für die Wahl der Porte Saint-Martin für Hugo gewesen sein dürfte, dass man ihm dort Widerstand zusichert gegen jede Art von Zensur, die gegen sein Stück gerichtet sein könnte. 49 Vgl. Descotes (1955), 218. 50 Vgl. Ubersfeld (1974), 69-70: „[J]ouée tardivement, deux ans après son écriture, un an après la Révolution de Juillet, [la pièce] est, si l’on peut dire, ‘déphasée’: elle ne peut plus être entendue comme un brûlot contre le régime de Charles X, ni bénéficier de la sympathie due aux persécutés; par un effet d’optique bien explicable, elle apparaît moins tournée contre la Restauration que contre toute monarchie. De sorte que personne n’est politiquement satisfait […].“ Das Problem des auf die unmittelbare Aktualität bezogenen Textes, der per definition schnell „veralten“ kann, benennt Benoît Denis (2000, 38-39) als einen typischen Aspekt des engagierten Schreibens. Er fasst zusammen: „[…] beaucoup de textes engagés sont ainsi marqués par les signes du retard: il suffit pour s’en convaincre de lire les préfaces ou avant-propos qui en accompagnent souvent la publication en volume.“ 51 Vgl. Gengembre (1997), 336-337. 52 Zum Entstehen und zum Erfolg dieses Dramas vgl. u.a. Bassan und Chevalley (1972), 22-45. 1830 157 Stückes verboten, vor allem auf Betreiben der Zeitung Constitutionnel, über deren Kritiken sich das Stück explizit lustig machte. Die Journalisten Etienne, Fulchiron und Viennet, die auch in der staatlichen Theaterkommission saßen, drohten dem Innenminister Thiers, dem Budget der Comédie Française ihre Stimme zu entziehen; Thiers gab nach und untersagte die Aufführung von Antony unmittelbar vor der Premiere. 53 Langsam kehrte die Zensur zurück. In dieselbe Theaterkommission gelangten vermehrt mittelmäßige Schriftsteller, die ihre eigenen Tragödien nach klassischem Muster durchsetzen wollten 54 , und so konnte auch Hugo 1837 die vertraglich zugesicherte Wiederaufnahme von Hernani und Marion de Lorme nur vor Gericht durchsetzen. Aus Protest ließ Dumas seinen Kean 1836 am Théâtre des Variétés uraufführen, und auch Hugo bot der Comédie Française bis 1843 kein Drama mehr an. 55 Ein weiterer Dramenautor, Alfred de Vigny, ging für sein Drama Chatterton 1835 derartig viele Kompromisse ein, dass das Stück von manchen Kritikern nicht mehr als drame romantique gewertet wird. Das französische Drama der Romantik unterlag schließlich dem Druck konservativer Politiker und Kritiker. Zwar konnte 1838 dank der Unterstützung des Herzogs von Orléans, dem Sohn Louis-Philippes, das Théâtre de la Renaissance mit der Premiere von Hugos Ruy Blas eröffnet werden, aber das Theater, das zunächst als eigene Bühne für das Drama geplant war, musste sich mangels Subventionen schnell auf populäre Vaudevilles umstellen, so dass Ruy Blas der letzte Erfolg des drame romantique blieb. 56 Nach den Hoffnungen der Julirevolution war also schnell deutlich geworden, dass die offizielle Vorstellung der Liberalen absolut nicht mit Hugos Ideal eines Dramas für alle Volksschichten übereinstimmte. Vor wie nach 1830 favorisierte das einflussreiche Großbürgertum eine Klassen- Ästhetik: ungefährliches Melodrama für das Volk am Boulevard du Crime, kunstvolle klassische Tragödie für ein gehobenes Publikum an der Comédie Française. 57 Schon allein die klare geographische Aufteilung wird von den Dramatikern der Romantik durchkreuzt, und die ästhetischen Vorstellungen eines Hugo oder Dumas passen auch nicht in das Schema. Die Frage, was Drama sein soll, für wen es gespielt und von wem es kontrolliert wird, wurde heftig diskutiert - und so ist es kein Wunder, dass diese Frage auch in die Texte selbst Einzug hielt. 53 Bassan und Chevalley (1972), 60. 54 Vgl. Ubersfeld (1974), 49. 55 Gengembre (1997), 337. 56 Vgl. Gengembre (1997), 337. 57 Vgl. Ubersfeld (2008), 29. 158 Charlotte Krauss Revolutionsanspruch und Zensur als Thema der Dramen Auch wenn er sich von der klassischen Tragödie absetzt, nimmt Hugo in seinen Stücken wiederholt Bezug auf den klassischen Autor Pierre Corneille. Beide Autoren thematisieren den Begriff der Ehre, und in Hernani muss auch die Gnade des Kaisers den Verschwörern gegenüber jedem französischen Zuschauer als Referenz an Corneilles Cinna erscheinen. Während jedoch in Corneilles klassischer Tragikomödie Augustus’ Gnade ein glückliches Ende einleitet und den Frieden garantiert, ist sie für Hugo nur noch ein Moment der Verzögerung, denn Hernani entkommt dem Wort, dass er Don Ruy Gomez gegeben hat, nicht. Als dieser in der Hochzeitsnacht das Horn bläst, muss Hernani sterben. Einen noch deutlicheren Rückbezug liefert Marion de Lorme. Corneille ist ein Zeitgenosse der dargestellten Handlung, und indem Hugo Bezug nimmt auf den berühmten Vorgänger, liefert er ein Plädoyer für die - ästhetische und politische - Aktualität des romantischen Dramas. Dass jede Zeit die ihr angemessene Theaterform braucht und dass diese immer Thema heftiger Diskussionen sein kann, auch für einen Autor wie Corneille, der im 19. Jahrhundert als Klassiker gilt, zeigen die heftigen Auseinandersetzungen über den Cid im zweiten Akt von Hugos Drama, die wie ein Spiegel die zeitgenössische Diskussion über das neue Drama reflektieren. Hugo zitiert die Querelle du Cid, den Streit zwischen Corneille und seinen Kritikern, die ihm die ungenaue Einhaltung der - Anfang des 17. Jahrhunderts für die Tragikomödie noch nicht fixierten - aristotelischen Einheiten vorwarfen und letztlich den Schiedsspruch der frisch gegründeten Académie Française anforderten. Der Graf Villac fasst die Kritik an Thema, Stil, Inhalt, Handlung des corneilleschen Stückes wie folgt zusammen: Quel style! Ce ne sont que choses singulières, Que façons de parler basses et familières. Il nomme à tout propos les choses par leurs noms Puis le Cid est obscène et blesse les canons. Le Cid n’a pas le droit d’épouser son amante. […] 58 Gegenüber Montpesat, der Corneille als modernen, zeitgemäßen Autor verteidigt - „Moi je suis pour Corneille et les chapeaux de feutre [à la 58 Hugo: Marion de Lorme, in: ders.: Œuvres complètes: Théâtre I, hg. von Anne Ubersfeld, Paris: Robert Laffont, 1985, 710 (II, 1). „Was für ein Stil! Da geht es nur um sonderbare Dinge, / Die Sprache ist niedrig und familiär. / Ständig nennt er die Dinge beim Namen. / Und dann ist der Cid auch noch obszön und beleidigt die Kanonen. / Der Cid hat nicht das Recht, seine Geliebte zu heiraten! “ 1830 159 mode]“ 59 - führt Villac daraufhin ein absurdes Bataillon vermeintlicher „großer“ Namen ins Feld: [Corneille,] croit-il pas égaler messieurs de Boisrobert, Chapelain, Serisay, Mairet, Gombault, Habert, Bautru, Giry, Faret, Desmarets, Malleville, Duryer, Cherisy, Colletet, Gomberville Toute l’académie enfin. 60 Die Tatsache, dass im Publikum des 19. Jahrhunderts niemand mehr auch nur einen dieser Namen kennt, gibt dem Corneille-Verehrer im Stück Recht: Theater muss vor allem seiner Zeit entsprechen. Der Bezug zur Situation von 1830 ist mehr als deutlich, und wird, wenn Marion in einer Theater- Szene im dritten Akt (III, 10) als Chimène ein pathetisches Cid-Zitat liefert, noch einmal in Erinnerung gebracht. Auch in Antony wird die Thematik diskutiert - und dies obwohl Dumas oft vorgeworfen wird, weniger als Hugo für das drame romantique gekämpft zu haben. In den Salonszenen des vierten Aktes tritt der Theaterschriftsteller Eugène d’Hervilly auf und regt eine angeregte Diskussion über die Ziele des Dramas an. Die spitzzüngige Vicomtesse de Lacy wirft ihm vor, der Erfolg seiner Stücke lasse sich ausschließlich auf feurige Liebesszenen zurückführen, nicht auf historische Couleur Locale und moralische Fragen, die Eugène zu behandeln vorgibt. Sein Theater zeige keine unsinnige Liebe, sondern eine ideale Liebe, so Eugène, und diese sei tödlich. Die mise en abyme, der Verweis auf die Liebe zwischen Adèle und Antony, ist eindeutig - Eugène verweist im Übrigen explizit auf Antony. 61 Eugène selbst hat eine Liebschaft mit der Gastgeberin Madame de Camps, aus der er, den anderen Salonbesuchern zufolge, eine romantische Seele gemacht hat. Madame, so erklären sie, lese nur noch Shakespeare, Schiller, Goethe - und Eugène. Auch dieser eher groteske Vergleich spiegelt den ehrgeizigen literarischen Anspruch des drame romantique. Schließlich resümiert die Vicomtesse die Erwartungen, die das Publikum an ein zeitgemäßes Drama stellt. Sie fordert Eugène explizit dazu auf, doch endlich einmal kein mittelalterliches Sujet, sondern ein Drama mit aktuellem 59 Hugo: Marion de Lorme, 711 (II, 1). „Ich bin für Corneille und die [modernen] Filzhüte.“ 60 Hugo: Marion de Lorme, 710-711 (II, 1): „Und glaubt nicht Corneille gar, er könne Boisrobert gleichen, / Und Chapelain, Serisay, Mairet, Gombault, Habert, / Bautru, Giry, Faret, Desmartes, Malleville, / Duryer, Cherisy, Colletet, Gomberville, / Der ganzen Académie eben.“ 61 Dumas: Antony, 116 (IV, 1): „Oh, c’est autre chose; prenez-y garde, madame: un amour comme celui d’Antony vous tuerait, du moment que vous ne le trouveriez pas ridicule.“ („Oh, das ist etwas anderes; nehmen Sie sich in Acht, Madame: eine Liebe wie Antonys Liebe würde sie umbringen, vorausgesetzt, dass Sie sie nicht lächerlich fänden.“) 160 Charlotte Krauss Zeitbezug zu schreiben, Figuren, die so gekleidet sind wie sie und die gleiche Sprache sprechen. Eugène jedoch fürchtet, eine zu große Ähnlichkeit zwischen Publikum und Figuren könnten zum Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit führen; nicht umsonst verweist der Baron de Marsanne auf die vernichtenden Kritiken im Constitutionnel, einer real existierenden Zeitung, die sich 1830 durch ihre besonders heftigen Attacken dem drame romantique gegenüber hervortat. Es ist eindeutig, dass Dumas hier selbst bereits die zu erwartenden Kritiken gegenüber Antony voraussieht und versucht, ihnen bereits im Stück den Wind aus den Segeln zu nehmen: La ressemblance entre le héros et le parterre sera trop grande, l’analogie trop intime; le spectateur qui suivra chez l’acteur le développement de la passion voudra l’arrêter là où elle se serait arrêtée chez lui; si elle dépasse sa faculté de sentir ou d’exprimer à lui, il ne la comprendra plus, il dira: „C’est faux; moi, je n’éprouve pas ainsi; quand la femme que j’aime me trompe, je souffre sans doute… oui… quelque temps… mais je ne la poignarde ni ne meurs, et la preuve, c’est que me voilà.“ 62 In seinen Memoiren wird Dumas später berichten, er habe die Reaktionen des Publikums auf diesen vierten Akt derart gefürchtet, dass er bei der Uraufführung das Theater während dieses Aktes verließ und erst zum fünften und letzten Akt wiederkam. 63 Zeitbezug, ästhetische und gesellschaftliche Forderungen finden sich hier konzentriert. In seinem im Jahr 2000 erschienen Werk Littérature et engagement schlägt Benoît Denis vor, die „engagierte Literatur“, unabhängig von Jean-Paul Sartre, als das Produkt einer bewussten Reflexion von Autoren jeglicher Epoche mit Fragen der Gesellschaft zu verstehen, eine Reflexion, die auch die direkte Konfrontation des Geschriebenen mit den politischen Mächten der jeweiligen Epoche in Kauf nimmt. 64 Auch wenn der Autor für das politische Engagement vor Zolas J’accuse gewisse Einschränkungen macht, lässt sich sein weiter Begriff auf die Texte des drame romantique übertragen: das gesellschaftliche Bewusstsein der Autoren, das Bedürfnis nach gleichermaßen politischer, sozialer und ästhetischer Erneuerung sowie das zielgerichtete Schreiben für ein neues Massenpublikum lässt sich an den Texten deutlich nachweisen. In Zeiten des Umbruchs sollte für die Autoren - hier exempla- 62 Dumas: Antony, 127 (IV, 6). „Die Ähnlichkeit zwischen dem Helden und dem Parkett wäre zu groß; der Zuschauer, der bei dem Schauspieler das Entstehen einer Leidenschaft verfolgte, würde sie da anhalten wollen, wo sie bei ihm aufgehört hätte; wenn sie seine Fähigkeit zu fühlen oder sich auszudrücken überstiege, verstände er sie nicht mehr, er würde sagen: ‚Das ist falsch; ich fühle so nicht; wenn die Frau, die ich liebe, mich betrügt, dann leide ich natürlich… ja… eine Zeit lang… aber ich ersteche sie nicht und sterbe nicht, und der Beweis dafür ist, dass ich hier bin.‘“ 63 Dumas (1884), 111-113. 64 Denis (2000), 17ff. 1830 161 risch für Hugo und Dumas - die Bühne zum Ort der Diskussion werden und damit auch eine politische Rolle spielen. Allerdings standen die Autoren von Anfang an Problemen gegenüber, die sich in der Folge als kaum lösbar erwiesen: zu dem politischen Druck auf die als zu modern empfundene Produktion kamen textimmanente Schwierigkeiten, denn die ambitionierte ästhetische Revolution überforderte die zeitgenössischen Bühnen: Die Schauspieler haben entweder Mühe die Verse richtig zu sprechen (Porte Saint-Martin), oder aber die Gestik voll umzusetzen (Comédie Française). Auch die häufigen Ortswechsel 65 stellen das Illusionstheater des 19. Jahrhunderts von Anfang an vor das Problem der technischen Machbarkeit - konsequenterweise wurde so auch Shakespeare, dessen für die elisabethanische Bühne geschriebenen Dramen auf der Guckkastenbühne das gleiche Problem aufwarfen, in Frankreich lange nur in gekürzten, stark abgeänderten Fassungen gespielt. Die Volksmassen schließlich, denen Hugo so gerne den Zutritt auch auf die Bühne gewähren wollte, überforderten die Kapazitäten der Schauspieltruppen bzw. ließen sich auf begrenztem Platz kaum zeigen. Das drame romantique folgte schließlich einer nicht immer gelungenen Kompromiss-Ästhetik 66 , und während die Autoren weiter nahezu alle politischen Äußerungen der impliziten Zensur opferten, nach der idealen Bühne suchten und sich mit den hartnäckigen konservativen Kritiken in fast allen Zeitungen auseinandersetzen mussten, setzte sich für die breite Masse das anspruchslose Spektakel des Melodramas durch. Die Bildungsbürger bewunderten weiterhin die klassische Tragödie oder ihre fade zeitgenössische Nachahmung - und dies umso mehr, als ab 1838 mit Rachel eine junge, gefeierte Schauspielerin auf die Bühne gelangte, die der Tragödie noch einmal zu einem gewissen Erfolg verhalf. 67 Die Euphorie der Julirevolution hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon lange gelegt, der Anspruch des drame romantique als praktisch nicht realisierbar erwiesen. Zwei Konsequenzen boten sich in dieser Situation für die Autoren; beide sind bereits in den Stücken angelegt: Entweder schrieb man Theaterstücke für eine ideale Bühne der Zukunft, also Dramen, die an zeitgenössischen Pariser Bühnen nicht die geringste Chance auf eine Aufführung hatten. So wurde beispielsweise Mussets Lorenzaccio (1834) explizit für den Lehnstuhl geschrieben und erst durch die Veränderung der Inszenierungspraktiken im 20. Jahrhundert spielbar. Oder aber man baute diese „Lehnstuhlstücke“ und die ohnehin vorhandene romanhafte Ästhetik des drame romantique gleich zu großen historischen, vielleicht auch realistischen Romanen aus, die ebenfalls die Frage der Inszenierung gar nicht erst stellten. Diese Flucht hatte Stend- 65 Ubersfeld (2008), 69 weist darauf hin, dass Hugo in der Préface eben auch keine Lösung hatte: „Ce sont là précisément les difficultés de l’art.“ („Genau das sind die Schwierigkeiten der Kunst.“) 66 Ubersfeld (2008), 23: „une esthétique de compromis.“ 67 Vgl. ebd., 93. 162 Charlotte Krauss hal dem Theater des 19. Jahrhunderts schon vor dem Entstehen des drame romantique vorausgesagt: „La comédie peut-elle survivre à cet état des choses [la censure]? Le roman, qui esquive la censure, ne va-t-il pas hériter de la pauvre défunte ? “ 68 Alexandre Dumas macht aus der Fluchtmöglichkeit eine Tugend: seine Dramen sind heute im Gegensatz zu den großen Romanen zumeist vergessen, und als er viel später noch einmal zum Theater zurückkehrte, schrieb er Bühnenfassungen seiner eigenen Romane - Vorläufer unzähliger Verfilmungen im 20. Jahrhundert. Auch Victor Hugo wird heute oft als Romanautor rezipiert. Wenn man sein Werk mit der Julirevolution in Verbindung bringt, dann vermutlich weniger durch Szenen seiner romantischen Dramen, als vielmehr mit einem Roman. In einer der berühmtesten Szenen der Elenden stirbt auf den Pariser Barrikaden von 1830 der junge Gavroche einen sinnlosen Tod. Literaturverzeichnis: Dumas, A.: Antony (1831). P. L. Rey (Hg.), Paris 2002. --: Mes Mémoires. Bd 5, Paris 1863. --: Mes Mémoires. Bd 8, Paris 1884. Hugo, V.: „Hernani und Marion de Lorme“. In: Ders.: A. Ubersfeld (Hg.), Œuvres complètes: Théâtre I. Paris 1985. Bassan, F. und S. Chevalley: Alexandre Dumas père et la Comédie-Française. Paris 1972. Degaine, A.: Histoire du théâtre dessinée. Saint Genouph 1992. Denis, B.: Littérature et engagement. De Pascal à Sartre. Paris 2000. Descotes, M.: Le drame romantique et ses grands créateurs. Paris 1955. Gengembre, G.: „Le théâtre nouveau du XIXe siècle“. In: A. Viala (Hg.), Le théâtre en France des origines à nos jours. Paris 1997, S. 299-376. Noiriel, G.: Histoire, théâtre, politique. Marseille 2009. Ubersfeld, A.: „Alexandre Dumas père et l’intégration du héros“. In: Dies.: Le théâtre et la cité. De Corneille à Kantor. Bruxelles 1991, S. 115-127. --: Le Roi et le bouffon. Etude sur le théâtre de Hugo de 1830 à 1839 (1974). Paris 2001. --: Le drame romantique. Paris 2008. 68 Racine et Shakespeare (1823), zitiert nach Ubersfeld (2008), 62. „Kann das Drama die bestehende Zensur überleben? Wird nicht der Roman, der der Zensur ausweicht, die arme Verstorbene beerben? “ Mario Willersinn Zeittheater im doppelten Sinn: Alonso de Santos‘ álbum familiar Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der das Leben sich realisiert. (Marcel Proust, À la recherche du temps perdu) Ouvertüre Als sich der Vorhang hebt, ertönt ein immer lauter werdender, langgezogener Orgelakkord begleitet von lärmenden Nebengeräuschen, der unmerklich in ein diminuendo übergeht bis er verstummt. Nach einem kurzen Moment der Stille ertönt ein anderer Akkord, welcher der gleichen Dynamik unterliegt. Dann eine dritte Welle. Es dauert einen Moment, bis die dunkle Bühne schwach beleuchtet wird. Alle Figuren sind reglos im Hintergrund aufgereiht, allein der Protagonist des Werkes, José Luis, steht mit dem Rücken zum Publikum am Bühnenrand, in der linken Hand einen Koffer. Nach und nach gehen einzelne Figuren von der Bühne ab, bis nur noch José Luis‘ Familie zurückbleibt. Von rechts erscheint ein Schaffner in Uniform. Er stellt sich in die Mitte, schaut sich um, dreht sich zur Familie, zum Publikum, zum Protagonisten, auf den er dann zwei Schritte zugeht, hält kurz inne und nickt ihm fast unmerklich zu, bevor er schließlich nach links abgeht. Das Licht ändert sich. Es fällt ein Spot auf José Luis, der Bühnenhintergrund wird verdunkelt. Von oben wird eine weiße Wand zwischen ihm und seiner Familie heruntergelassen. José Luis streckt den rechten Arm aus, als wolle er die Wand aufhalten. Als die Wand gänzlich unten ist, geht er hastig auf sie zu und tastet sie ab. Das Pfeifen eines Zuges ertönt, worauf sich der Protagonist geschwind umdreht und das eigentliche Spiel beginnt. Die Ouvertüre führt uns unmittelbar den Auslöser des Geschehens vor Augen, indem es einen Bogen zum Ende der Aufführung spannt. José Luis wird sich letztlich von seiner Familie trennen und alleine in den Zug steigen, der sich hier durch sein Pfeifen ankündigt. 164 Mario Willersinn (...Miro entonces lo que me ha dado mi padre. Y veo que es un álbum. EI álbum con las fotos de la familia. Lentamente empiezo a pasar sus hojas, y por fin descubro por qué me tengo que ir, por qué me tuve que ir, y el tren avanza. (breve) ¡Avanza! (cuchicheando) Avanza.) 1 (1: 29: 29) 2 Erst am Ende wird die dem Werk zugrunde liegende Rahmenhandlung vollends offenbart: Der im Zug sitzende José Luis versucht beim Betrachten des Familienalbums, das sein Vater ihm als Abschiedsgeschenk übergibt, zu verstehen - oder will er sich gar rechtfertigen? -, warum er seine Familie verlassen muss und musste. Seine Reise ist eine Art Initiations(-Zug)reise in das Erwachsensein, auf welcher ihn seine Ängste und Träume, die er beim Blättern erinnert, begleiten. Diese Erinnerungen sind jene zusammenhanglose Ereignisse, die wie einzelne Bilder aneinandergereiht zuvor auf der Bühne präsentiert wurden. José Luis Alonso de Santos‘ 1982 uraufgeführtes Theaterstück El álbum familiar ist Zeittheater im doppelten Sinn: Zum einen präsentiert es eine historische Zeitspanne, indem es uns in sechs Szenen ein Sammelsurium an Erinnerungsflicken darbietet und so ein inneres Bild der transición zu entwerfen versucht, jener Übergangszeit zwischen Diktatur und Demokratie nach Francos Tod 1975. Zum anderen ist die Zeit selbst Gegenstand, indem das Stück mittels künstlerischer Verfahren das für Erinnerungen charakteristische Ineinanderschieben von zeitlich Entferntem anstrebt. Verbirgt sich dahinter eine versuchte Annäherung an Bergsons Begriff der durée, der Auffassung von Zeit als eine stetige Verwebung von eigentlich nacheinander Erscheinendem in eine lebendige Gegenwart? Prousts Roman À la recherche du temps perdu, der verschiedentlich auch gerne mit Bergsons Theorie in Verbindung gebracht wird, steht bei Alonso de Santos Pate. 3 Allerdings versucht dieser sich nun an einer Spielart im Medium Theater, dessen Zeitstruktur sich durch die Real-Präsenz des Schauspiels von jener der Literatur unterscheidet und für eine solche Zeitkonstruktion geradezu prädestiniert zu sein scheint. Mit welchen künstlerischen Verfahren konstruiert El álbum familiar Zeit als „Existenz des Mannigfaltigen in derselben Zeit“ 4 ? Das Verfahren der 1 (…Ich schaue nach, was mir mein Vater gegeben hat. Und sehe, dass es ein Album ist. Das Album mit den Fotos der Familie. Langsam beginne ich zu blättern und entdecke letztlich, warum ich gehen muss, warum ich gehen musste, und der Zug fährt los. (kurz) Fahr‘ los! (flüsternd) Fahr‘ los.) (Alle Übersetzungen von MW) 2 Die jeweilige Zeitangabe in Klammern hinter einem Zitat bezieht sich auf die Videoaufzeichnung der Uraufführung von El álbum familiar. Sie ist im 1971 gegründeten Centro de Documentación Teatral (CDT) archiviert, dessen Tätigkeit das Sammeln, Erhalten und zur Verfügung stellen von Material rund um das spanische Theater umfasst. 3 Vgl. Cabal/ Alonso de Santos (1985), S. 157: Im Interview mit Fermín Cabal äußert Alonso de Santos, dass er sich zu jener Zeit intensiv mit Proust beschäftigt habe und die grundlegenden Einflüsse für El álbum familiar daher rührten. 4 Kant (1956), S. 260 (B 257). Zeittheater im doppelten Sinn 165 Zeitdarstellung im vorliegenden Werk ist ein vielschichtiges Zusammenspiel verschiedener Ebenen und besitzt eine derartige Tiefendimension, wie sie in Thomas Manns Zauberberg Hofrat Behrens für sein Portrait von Frau Chauchat darlegt: Da sehen Sie nicht bloß die Schleim- und Hornschichten der Oberhaut, sondern darunter ist das Lederhautgewebe gedacht mit seinen Salbendrüsen und Schweißdrüsen und Blutgefäßen und Wärzchen [...] Was aber mitgewusst und mitgedacht ist, das spricht auch mit. Es fließt Ihnen in die Hand und tut seine Wirkung, ist nicht da und irgendwie doch da, und das gibt Anschaulichkeit. 5 Begreift man künstlerische Verfahren wie Zeitdarstellungen als bedeutungstragende Aspekte und Qualitäten, welche wesentlich am Prozess der Sinnstiftung beteiligt sind, indem sie die unmittelbar deskriptive Sprache metaphorisch überlagern und so „Anschaulichkeit geben“, so sind zunächst die einzelnen „Schichten“ der Zeitdarstellung herauszuarbeiten. Damit wären wir bei den zentralen Fragen der diesem Sammelband vorangegangenen Ringvorlesung angelangt, die wir nun an El álbum familiar stellen: Wie wird mit Wendezeiten und Epochenumbrüchen wie der transición im Drama umgegangen und welche dramatischen Verfahren gelangen zur Anwendung? Indes erweitern wir die Fragen insofern, als wir sie nicht nur an das Drama, sondern in erster Linie an die Uraufführung von El álbum familiar unter der Regie von José Luis Alonso de Santos am 26. Oktober 1982 im Teatro Maria Guerrero zu Madrid richten. Es stellen sich uns zwei Aufgaben: − Die analytische Rekonstruktion der Formen und Funktionen theatraler Zeitdarstellung auf der darstellungsästhetischen Ebene des Textes und der Aufführung von El álbum familiar. − Die Refiguration, Deutung und kulturgeschichtliche Verortung theatral inszenierter Zeitdarstellung. Um der Komplexität des Gegenstands der literaturwissenschaftlichen Zeitanalyse gerecht zu werden, ist ein theoretischer Bezugsrahmen notwendig. Einen solchen gewährt uns Paul Ricœurs „Modell der dreifachen Mimesis“, das wir im ersten Teil vorstellen. Teil II und III widmen sich den beiden oben gestellten Aufgaben. Zunächst untersuchen wir das Werk hinsichtlich seiner künstlerischen Verfahren (II). Ihre Analyse ermöglicht uns, Hypothesen sowohl zum präfigurierenden als auch zum refigurierenden Kontext aufzustellen (III). In einem abschließenden Ausblick versuchen wir die spezifische Problematik von Theater und Zeit aufzuzeigen und werfen weiterführende Fragen auf. 5 Mann (1994), S. 358. 166 Mario Willersinn I. Theoretischer Bezugsrahmen: Ricœurs spiralförmiges Modell der dreifachen Mimesis Die scheinbare Vertrautheit mit dem Untersuchungsgegenstand bildet die vielleicht größte Schwierigkeit der Analyse. Zeit ist wie ein durchsichtiger Gegenstand sie ist da und doch sieht man meist durch sie hindurch. Um sie ins Blickfeld zu rücken, bedarf es eines theoretischen Bezugsrahmens. Einen solchen bietet Ricœurs phänomenologisches Modell der dreifachen Mimesis. Es verbindet strukturalistische Fragen nach Form und Funktion literarischer Zeit-Verfahren mit einem hermeneutischen Ansatz zur Interpretation der philosophischen Dimension literarischer Zeitdarstellung. Die Vermittlung zwischen Zeit und Erzählung ist dabei Ricœurs eigentliches Ziel, das er durch eine Aufgliederung der Dynamik der Fabelkomposition in eine dreifache Mimesis erreichen möchte. Das Modell, das wir nun skizzenhaft vorstellen, dient uns als Leitfaden, um im Verlauf unserer Analyse immer wieder unsere Position zu bestimmen. Ausgangspunkt für Ricœurs Modell ist der Mimesis-Begriff von Aristoteles, den er in einem dynamisch-schöpferischen Sinn als „aktiven Prozess des Nachahmens oder Darstellens“ 6 versteht, als neue Bedeutungen schaffende Verwirklichung. Er unterscheidet nun drei verschiedene Ebenen der Mimesis, deren Anordnung wie in einer „endlosen Spirale“ zu denken ist, bei welcher „die Vermittlung mehrmals durch den gleichen Punkt führt, jedoch jeweils in anderer Höhenlage“. 7 Dabei nimmt die literarische Konfiguration (Mimesis II) den Angelpunkt seines Modells ein, der von der Präfiguration der Welt (Mimesis I) und der Refiguration durch den Rezipienten (Mimesis III) umschlossen ist. Mimesis I bezeichnet das „Vorverständnis der Welt des Handelns“ 8 , das Sinnstrukturen, symbolische Ressourcen und einen zeitlichen Charakter erkennen lässt. Mimesis II benennt das „Reich des Als ob“ 9 , den Bereich der Komposition im Sinne des aristotelischen Mythos- Begriffes. Dabei wird die Wirklichkeit nicht kopiert, sondern Sinnstruktur, Symbolik und Zeit werden in einem schöpferischen Akt „ikonisch verdichtet, bereichert“ 10 . Mimesis III schließlich entspricht dem, was „Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik ‘Anwendung‘ nennt“. 11 Hier befinden wir uns im Reich der Rezeption. Was der Rezipient letztlich erfährt, ist „nicht nur der Sinn des Werkes, sondern durch seinen Sinn hindurch auch 6 Ricœur (1988), S. 57. 7 Ricœur (1988), S. 115. 8 Ricœur (1988), S. 90. 9 Ricœur (1988), S. 104. 10 Ricœur (1988), S. 130. 11 Ricœur (1988), S. 113. Zeittheater im doppelten Sinn 167 seine Referenz, also die Erfahrung, die es zur Sprache bringt, und letztlich die Welt und ihre Zeitlichkeit, die es vor sich entfaltet“. 12 Dem Philosophen Ricœur genügt es, die Zeitstruktur hinter einem Geschichtswerk oder einem Roman als fundamentale Referenz zu konstatieren, der literaturwissenschaftlichen Interpretation jedoch ist vielmehr daran gelegen, den Mythos im Sinne Aristoteles' zu beleuchten, der zur Erzeugung dieser Referenz beiträgt. So setzt der erste Teil unserer Analyse auf der Ebene von Mimesis II an und untersucht die künstlerischen Verfahren literarisch-textueller und theatral-performativer Darstellung von Zeit in El álbum familiar. Dabei wollen wir uns auf zwei Aspekte konzentrieren: auf die Regieanweisungen und auf die Zeitmetaphorik des Familienalbums. Das Familienalbum gibt dem Werk nicht nur seinen Titel, sondern ist ein raumzeitliches Element, dessen „spezifische Funktionalisierung bzw. Semantisierung im Hinblick auf das textuelle Wirkungspotential“ 13 es zu beschreiben und zu untersuchen gilt, wobei textuell immer auch den Aufführungstext meint. Die Regieanweisungen fallen zunächst aufgrund ihrer ungewöhnlichen Handhabung auf, die nicht zuletzt auf signifikante Art Zeit hervorruft. II. Zeittheater im künstlerisch-ästhetischen Sinn: Eine analytische Rekonstruktion der Formen und Funktionen theatraler Zeitdarstellung auf der darstellungsästhetischen Ebene des Textes und der Aufführung Bedrohlich wirkt die düstere Musik in der Ouvertüre und greift so musikalisch den Ausgangspunkt der Handlung auf: den bevorstehenden Abriss des elterlichen Hauses. Nicht wissend wohin die Reise geht, packt die Familie wehmütig ihr Hab und Gut und steigt in den Zug. Ohne Fahrkarten werden sie vom Schaffner aber wieder hinausgeworfen. So endet die Fahrt abrupt in einer Wartehalle. Letztlich erlaubt der Schaffner allein José Luis die Weiterfahrt, weil dessen Lehrer ihm ein Stipendium verschafft hat, das zugleich seine Fahrkarte bedeutet. Der Schaffner ist die kontrollierende Machtinstanz. Wie ein Herrscher tritt er in der Ouvertüre auf, geht in die Mitte der Bühne und sieht sich nach allen Richtungen um, als wolle er nach dem Rechten sehen. In der zweiten Szene gibt es einen Moment, als sich der Vater aus der zum Erinnerungsfoto formierten Familie löst und den fotografierenden José Luis zur Seite nimmt. Er erklärt ihm, viele Menschen, die Dinge taten, die man nicht hätte tun dürfen, hätten Schwierigkeiten mit dem Schaffner gehabt (0: 34: 04). Die Metaphorik des Schaffners wird dabei explizit, denn in diesem Moment verstummen wie in einer Art Auszeit alle Hintergrundgeräusche, das Licht wechselt und alle anderen Figuren bleiben wie eingefro- 12 Ricœur (1988), S. 124. 13 Nünning (2002), S. 48. 168 Mario Willersinn ren stehen. Dabei ist der Schaffner selbst nur eine Marionette. Er sei nicht schuld, wird er am Ende fatalistisch sagen, es ist wie es ist, alles andere sei bedeutungslos (1: 23: 29). In der Ouvertüre aber geht er auf José Luis zu und scheint ihm durch ein unscheinbares Kopfnicken zu sagen, dass er weitermachen dürfe, gerade so, als hätte dieser Einfluss auf das Geschehen. In der Tat übt José Luis in besonderer Weise Macht auf das Bühnengeschehen aus, was sich in der ungewöhnlichen Form und Funktion der Regieanweisungen manifestiert. Bipolare Regieanweisungen Im Gegensatz zum beschriebenen Beginn der Uraufführung von El álbum familiar findet sich im dramatischen Text keine Ouvertüre, sondern er beginnt mit einer Überschrift und einer Regieanweisung: ESCENA PRIMERA MI CASA (Suena un tren a lo lejos. Estoy yo solo pisando otra vez las baldosas de mi casa, que no sé por qué es ahora toda ella grande, blanca, silenciosa. A mis pies está mi maleta abierta, vacía aún. Oigo fuera unos tremendos golpes contra las paredes. Están empezando a derribar la casa. Pronto entrará mi padre, nervioso, angustiado, preguntándome si tengo yo los billetes...) MI PADRE.- José Luis, ¿tienes tú los billetes? YO.- No, papá. A mí no me los has dado. MI PADRE.- He mirado por todas las partes. Llegaremos tarde… tarde. (¿Tarde? Y sale buscándose en la cartera, en los bolsillos del panatalón, en la vieja chaqueta. Se cruza con MI MADRE, que entra.) 14 (53) 15 Bereits ein oberflächlicher Blick auf den dramatischen Text irritiert. Er ist von kursiv gedruckten und in Klammern gesetzten Regieanweisungen durchzogen, die nicht nur am Anfang einer Szene und in der Folge verein- 14 ERSTE SZENE. MEIN HAUS. (Ein Zug pfeift in der Ferne. Ich bin allein, betrete noch einmal die Fliesen meines Hauses, das nun, ich weiß nicht warum, ganz groß ist, weiß, still. Zu meinen Füßen liegt mein geöffneter Koffer, noch leer. Ich höre draußen fürchterliche Schläge gegen die Mauern. Sie beginnen das Haus abzureißen. Bald wird mein Vater hereinkommen, nervös, verängstigt, und mich nach den Fahrkarten fragen…) MEIN VATER: José Luis, hast Du die Fahrkarten? ICH: Nein, Papa. Mir hast du sie nicht gegeben. MEIN VATER: Ich habe überall nachgeschaut. Wir werden zu spät kommen… zu spät… (Zu spät? Und er geht hinaus und sucht sie in der Brieftasche, in den Hosentaschen, in der alten Jacke. Er trifft auf MEINE MUTTER, die hereinkommt). 15 Die jeweilge Seitenzahl in Klammern bezieht sich auf die hier verwendete Ausgabe von El álbum familiar. Zeittheater im doppelten Sinn 169 zelt, sondern immer wieder in auffälliger Häufigkeit und Länge zwischen den Dialogen vorkommen. Liest sich der Beginn der ersten Regieanweisung zunächst wie der Anfang eines Romans, überrascht der letzte Satz mit einer von Präsens zu Futur veränderten Tempusform des Verbes und der Ankündigung, dass gleich der Vater hereinkommen und nach den Fahrkarten fragen wird. Tatsächlich tritt nun der Vater auf und fragt nach den Fahrkarten, wodurch das Geschehen eine merkwürdig skurrile Doppelung erfährt, die nicht frei von Komik ist. In der Aufführung setzt mit dem Eintreten des Vaters im Hintergrund Musik ein, wobei der Vater lediglich als Schatten hinter der weißen, heruntergelassenen Wand erscheint. Hier wird bereits theatralisiert, was die letzte Regieanweisung des ersten Aktes andeutet: (Y un ruido ensordecedor apaga la luz de mi pesadilla, desapareciendo todas las sombras en la oscuridad de mi mente.) 16 (63) José Luis scheint einen Alptraum 17 zu haben und die Schatten dieses Traumes sind gegenwärtig. In der Tat ist El álbum familiar nichts anderes als das nach außen gestülpte Innere José Luis‘, der sich beim Blättern im Familienalbum erinnert. Vor der Wand sehen wir José Luis als Erzähler seines Traumes, welcher hinter der Wand als Schattenspiel aufgeführt wird. Die räumliche Trennung suggeriert beide Ebenen. Zugleich jedoch ist auch der Erzähler in Form der Figur YO Teil des Traumes, sodass sich beide Ebenen überschneiden. Während der Leser die Regieanweisungen durch das Schriftbild von den Aussagen der Rolle (YO) gut unterscheiden kann und vor der Aufgabe steht, beides zusammenzudenken, muss der Zuschauer im Theater diese Doppelung gerade umgekehrt begreifen. Denn die Regieanweisungen werden dort keineswegs ausgeklammert, sondern vom gleichen Schauspieler verbalisiert, der auch die Figur YO repräsentiert. Hier hilft die anfängliche räumliche Separation beider Ebenen durch die weiße Wand, die nach 16 (Und ein ohrenbetäubendes Geräusch löscht das Licht meines Alptraumes, alle Schatten verschwinden in der Dunkelheit meines Verstandes.) Da die Aufführung diese Regieanweisung mittels des Schattenspiels hinter der weißen Wand theatralisiert, verzichtet sie wohl bewusst auf ihre Verbalisierung, da sie lediglich eine verbale Doppelung des bereits Dargestellten wäre. Daher hier auch der Verweis allein auf den dramatischen Text. 17 Immer wieder erhalten Leser und Zuschauer explizite Hinweise auf einen träumenden José Luis. So kleben ihm am Ende der dritten Szene die Füße am Boden fest, als er der Aufforderung des Schaffners folgend aus dem Zug aussteigen möchte. „Esto me pasa muchas veces, cuando estoy soñando“ („Das passiert mir oft, wenn ich träume“), kommentiert er und wird sich seines Traumes scheinbar bewusst (0: 49: 15/ 84). Weitere Hinweise an einen Fieber- und Alptraum: Tengo como si tuviera fiebre o algo así („Ich fühle mich, als hätte ich Fieber oder so etwas“) (0: 16: 16/ 54); Entonces YO empiezo a gritar en mitad de mi sueño („Dann beginne ICH mitten in meinem Traum zu schreien“) (0: 20: 26/ 62). 170 Mario Willersinn und nach stärker aufbricht, indem immer mehr „Schatten“ auch vor die Wand treten, bis José Luis am Ende des Aktes die Wand in einem Wutausbruch gänzlich niederreißt. Der Zuschauer ist sensibilisiert und begreift beide Ebenen, die in der Folge auch räumlich miteinander verschmelzen. Der Theater-Zuschauer kann gewöhnlich in gewisser Weise wählen, auf welche Kommunikationsebene er sich einlässt: auf die dramatische (Interaktion der Figuren), die theatralische (Betrachtung des Schauspielers in seiner Rolle) oder die lebensweltliche (Konfrontation des Bühnengeschehens mit eigener Lebenswelt). 18 Allerdings widerfährt dem Zuschauer das Hin- und Herspringen zwischen den Ebenen mehr, als dass es ein bewusster Akt wäre. Definiert als eine auf sich selbst verweisende Form des Theaters, die dem Zuschauer den Illusionsbruch vor Augen führt, indem es das konstituierende „Als ob“ des Theaters selbst thematisiert, führt das Metatheater beim Zuschauer zu einer bewusst gewünschten „Ping-Pong-Wahrnehmung“ der Wirklichkeit der Darstellung (dramatische Ebene) und ihrer gleichzeitigen Fiktionalität (theatralische Ebene). Das Hin- und Herpendeln führt zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Zeit: Auf dramatischer Ebene bezieht der Wahrnehmende die Elemente aufeinander und bringt sie so in eine zeitliche Abfolge. In unserem Fall erleichtert die Zugfahrt bisweilen die zeitliche Verknüpfung der assoziativen Erinnerungsflicken, obgleich Zeit-Angaben in El álbum familiar fast völlig fehlen. Die theatralische Ebene hingegen hebt den Zeitfluss auf, dehnt den Augenblick und führt beim Wahrnehmenden zu einer „Erfahrung der absoluten Gegenwärtigkeit“ 19 , die keine Fragen nach einem Davor und Danach stellt. Analog zu Mahlers Kommunikationsebenen ließe sich also von dramatischer und theatralischer Zeit sprechen. Alonso de Santos benutzt eine Spielart dieses Verfahrens, um eine erinnerte Zeit (Dialoge) und eine Zeit des Erinnerns (Regieanweisungen) zu etablieren. Das ständige Oszillieren zwischen Dialog und Regieanweisung, zwischen dramatischer und theatralischer Zeit, ermöglicht eine „Erfahrung von Liminalität“ 20 , in der Zeit als „statisch oder gefroren, als immer und ohne Ort im Kontinuum, im Falle der Ureinwohner Australiens als Traumzeit“ 21 empfunden wird. Wichtiger Baustein dieses Verfahrens sind die bipolaren Regieanweisungen, in welchen das Pendeln bereits angelegt ist. Sie scheinen einerseits die erwarteten deskriptiven Regieanweisungen im eigentlichen Sinn zu sein, andererseits sind sie narrativ. So stellt der Erzähler José Luis in einer kommentierend-rhetorischen Frage fest, dass es keinen Grund gäbe, wegen des Hausabbruchs zu weinen, und auch nicht wegen der Katze, die sie zurücklassen. Prompt ruft die Großmutter hinter der Wand heraus, die Katze bleibe bei der Nachbarin, worauf 18 Vgl. Mahler (1995), S. 73. 19 Fischer-Lichte (2007), S. 175. 20 Ebd. 21 Roth (1999/ 2000), S. 28. Zeittheater im doppelten Sinn 171 nun José Luis (im dramatischen Text mittels der Figur YO) gleichgültig reagiert. In der unmittelbar darauf folgenden Regieanweisung enthüllt er, dass sich die Katze, das Symbol des Häuslichen, kurz nachdem er und seine Familie das Haus verlassen haben, absurderweise in einem Eimer ertränkt, was sie allerdings erst viel später erfahren (0: 06: 30/ 54f). Hier offenbart sich der zurückschauende, im Familienalbum blätternde Erzähler, der das Geschehen aus zeitlicher Distanz immer wieder kommentiert und dabei den Regisseur in der Regieanweisung beiseite drängt. Umgekehrt zeigt sich letzterer explizit zu Beginn der sechsten Szene: (...Miro a los míos y les veo mucho más envejecidos, cansados, como negándose a revivir los últimos recuerdos. Entonces les coloco en sus lugares y les doy las últimas instrucciones.) YO.- ¡Papá, ven! Tú estabas aquí, y tú, mamá, a su lado. Vosotros todos aquí, todos juntos. Acababamos de salir de la sala de espera, ¿no os acordáis? Y Abuela, Abuela, usted se había quedado allí, en la sala de espera. [...] No, no, no, nuestros fantasmas no entran hasta después. 22 (1: 18: 50) An dieser Stelle tritt die theatralische Zeit deutlich hervor. Die Regieanweisungen sind - so muss man es aufgrund dieser Sequenz verstehen - nicht nur Ausdruck eines zurückblickenden Erzählers, sondern zugleich auch Regieanweisungen für das (Schatten-)Spiel, in dem sich die Erzählung vergegenwärtigt. Der Erzähler kreiert die Details seiner Traumwelt, ist zugleich Regisseur und Autor und darüber hinaus in Form einer Rolle, in der er sich selbst spielt, auch selbst Teil seiner Kreation, wobei sich seine Rolle mitunter auch in die des Regisseurs und Zuschauers seiner eigenen Erinnerungen wandelt, wie der letzte Textauszug zeigt. Eine genaue Abgrenzung zwischen Erzähler und Regisseur ist größtenteils nicht möglich. Zuweilen beginnen die Regieanweisungen mit einem Kommentar - oft in Form von Fragen -, den man eher dem Erzähler zuordnen würde, bevor der Kommentar dann unmerklich in eine Beschreibung übergeht, die als konkrete Regieanweisung in die szenische Darstellung und in den Dialog führt, wie beispielsweise die zweite Regieanweisung im zweiten Textauszug zeigt. Im Grunde jedoch bleiben die Regieanweisungen zwischen beiden Polen in der Schwebe. Die ständige Überlappung von Regisseur und Erzähler, von absoluter Gegenwart und epischer Distanz innerhalb der theatralischen Zeit schiebt 22 (…Ich schaue die Meinen an und sehe, dass sie älter geworden sind, müde, als weigerten sie sich, die letzten Erinnerungen wiederzuerleben. Dann stelle ich sie an ihren Platz und gebe ihnen letzte Instruktionen.) ICH: Papa, komm! Du warst hier, und Du, Mama, an seiner Seite. Ihr alle hier, alle zusammen. Wir kamen gerade aus der Wartehalle, erinnert ihr euch nicht? Und Großmutter, Großmutter, Sie waren dort geblieben, in der Wartehalle. […] Nein, nein, nein, unsere Geister kommen erst später dazu. 172 Mario Willersinn die zeitlichen Dimensionen ineinander. Das Präsens der Regieanweisungen ist somit nicht nur ein gegenwärtiges, sondern auch die Gegenwart der Vergangenheit. Der Erzähler rekonstruiert die Vergangenheit nicht mittels mehrerer Gegenwarten, sondern bettet sich selbst in die Vergangenheit ein, wodurch die Vergangenheit nichts Gewesenes repräsentiert, sondern mit dem Regisseur koexistiert, als wäre sie eine Gegenwart. Diese Entrückung aus der Zeit begünstigt auch der finale Kniff, das Stück mit der eigentlichen Ausgangssituation, nämlich dem Blättern des Protagonisten im Familienalbum, enden zu lassen. Es ist nicht nur ein perfektes Ende, weil es zugleich Rahmenhandlung und Titel des Werkes klärt, sondern auch, weil dramatische und theatralische Zeit ineinanderfallen und in eine Kugelgestalt aufgehen. Das Ende der Aufführung ist zugleich der Anfang des Stückes, wodurch wiederum vom Beginn der Aufführung bis zum Ende des Stückes die theatralische Zeit aufgehoben ist. El álbum familiar nähert sich an eine innere Traumzeit, an eine Zeit der Erinnerung, die Bergsons durée ähnelt, an. Die Zeitmetaphorik des Familienalbums Lautes Pfeifen, Geräusche eines über Schienen bretternden Zuges und die Verdunklung der Bühne, auf der in der Mitte ein drehbares Podest als Zugabteil dient, kündigen in der zweiten Szene die Fahrt durch einen Tunnel an (0: 28: 25). Das Podest ist dem Publikum frontal zugedreht, ganz vorne sitzt José Luis, dahinter in zwei weiteren Reihen die Familie. Die Mutter kommt nach vorne, stellt sich neben José Luis und bittet ihren Sohn, nach der Durchfahrt ein Erinnerungsfoto zu machen, damit sie es in das Familienalbum einkleben könne. Zunächst seien dort Bilder ihrer Großeltern, dann ihrer Eltern, ihrer Geschwister und Verwandten, dann die der Familie ihres Mannes und schließlich die ihrer eigenen Familie zu sehen. Edles Seidenpapier, das die Kostbarkeit des Albums hervorhebt, trennt die einzelnen Familienmitglieder voneinander, damit sie sich nicht berühren. Die physische Trennung ist auch eine zeitliche, grenzt sie doch die Generationen voneinander ab. Ein weiteres Attribut des Papiers ist ebenso ein zeitlicher Aspekt. Indem die Mutter es als welk bezeichnet, deutet sie den Bezug des Albums zum Tod bereits an, den sie kurz darauf wieder aufnimmt, als sie von „Dingen“ spricht, die im Karton gestorben seien. Hierin ist bereits der Grundgedanke vom Transitorischen der Existenz zu erkennen, den Alonso de Santos in der skurrilen Szene, als sich die Familie zum Erinnerungsfoto aufstellt, poetisch auflöst. Diese mit schwarzem Humor gespickte und surrealistisch gefärbte Szene ist nicht nur in komisch-poetischer Hinsicht eklatant, sondern auch die Schlüsselszene für die Analyse der Zeitmetaphorik des Familienalbums. YO.- ¡Mamá! , ¡Mamá, que se ha puesto la abuela. La abuela no se puede poner en esta foto, ¿no? Usted abuela ya estaba muerta en esta foto, no se puede poner. Zeittheater im doppelten Sinn 173 MI ABUELA.- A mí me gusta mucho salir en las fotos. YO.- Sí, pero para salir en las fotos hay que estar vivo, ¿verdad, mamá? MI MADRE.- Claro. YO.- Si no, es un lío luego. MI PADRE.- Pero qué mas da, hombre. Seguramente aunque se ponga no saldrá. YO.- Bueno, si se pone, sale. Por esa misma razón se podría poner el tío santo también, y todos los demás... ¡Mamá! ¡Mamá, que se ha puesto también el tío santo! ¡No, don Demetrio, usted no, que es sólo de la familia! 23 (0: 32: 15) José Luis‘ Versuch, ein kohärentes Foto zu machen, scheitert, obgleich er noch zu korrigieren versucht, indem er der Großmutter sagt, sie könne nicht auf das Bild, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gelebt habe. Die theatralische Zeit überblendet in dieser Szene die dramatische irritierend, was das Publikum mit Gelächter kommentiert, welches in der abstrusen Äußerung des Vaters seinen Höhepunkt findet, als dieser gleichgültig behauptet, dass Großmutter später sicherlich nicht auf dem Foto zu sehen sein wird, auch wenn sie sich dazustelle. Während in der lebensweltlichen Zeit jegliche Gegenwart bereits im nächsten Moment der Vergangenheit angehört, bricht hier die Vergangenheit in die Gegenwart ein. Parallel dazu wird die Theatralität durch die Umkehrung des Verhältnisses von Rolle und Darsteller sichtbar. Da die Großmutter bereits tot ist, kann sie nicht leibhaftig auf der Bühne sein, sondern nimmt in der Schauspielerin Margarita García Ortega eine andere Gestalt an, die unvermeidlich auch ihre Handlungen betreffen. Diese Gestalt ist nicht nur gegenwärtig, sondern auch Zeichenträger ihrer eigenen Gegenwart. Die Schauspielerin ist keine Maske, durch welche die Großmutter zu uns spricht, sondern vielmehr verschmelzen in ihrem Körper Gegenwart und Vergangenheit. Die Theaterbühne wird einmal mehr zum Ort, an dem Tote ins Leben zurückkehren und so die Vergangenheit als Gegenwart wahrnehmbar und erlebbar machen. Gewissermaßen als Gegenstück zur toten Großmutter verlangt die älteste Schwester, dass auch ihr ungeborenes Kind mit auf das Foto kommt, wodurch nun auch die Zukunft in die Gegenwart einfällt (0: 34: 38). Die gleichzeitige Anwesenheit der toten Großmutter und des ungeborenen Urenkels ist nur in der Raumzeit des Familienalbums und deshalb auch in der dramatischen Zeit des Stückes möglich, führt aber bei José Luis in seinem Bestre- 23 ICH: Mama, Großmutter hat sich dazugestellt. Großmutter kann sich auf dieses Foto nicht dazustellen, oder? Großmutter, Sie waren schon gestorben auf diesem Foto, Sie können sich nicht dazustellen. MEINE GROßMUTTER: Ich bin sehr gerne auf Fotos. ICH: Ja, aber um auf einem Foto zu erscheinen, muss man leben, nicht Mutter? MEINE MUTTER: Klar. ICH: Wenn nicht, gerät später alles durcheinander. MEIN VATER: Ist doch egal, Mann. Auch wenn sie sich dazustellt, wird sie sicher nicht auf dem Foto zu sehen sein. ICH: Wenn sie sich dazustellt, wird sie auch zu sehen sein. Dann könnte sich ja auch der heilige Onkel dazustellen, und alle anderen... Mama! Jetzt hat sich auch der heilige Onkel dazugestellt. Nein, don Demetrio, Sie nicht, nur die Familie! 174 Mario Willersinn ben, die Elemente aufeinander zu beziehen und in eine zeitliche Ordnung zu bringen, zu einer „Störung“. Das Sehen der Fotos im Familienalbum evoziert Erinnerungen, die im Rahmen der Aufführung wiedererlebt werden. Diese begeben sich nicht nur auf eine Suche nach einer Zeit, die nicht mehr existiert, sondern auch nach einem Körper, einem Raum, der nicht mehr da ist: „Esto de los recuerdos es como si queremos parar un rio y lo hacemos hielo: ya no es un río.” 24 Sinnbildlich dafür steht das Familienalbum. Die Fotos versuchen eine Zeit festzuhalten und die Realität abzubilden. Sie sind aber nicht die Realität, sondern nur ein Versuch, jene einzufrieren, wodurch sie vielmehr „la muerte de la realidad“ 25 sind. Das Wirklichkeit erzeugende, schöpferische Konstrukt El álbum familiar konfiguriert, ausgehend von einem kulturellen Vorverständnis (Mimesis I), eine kausale und temporale (Un-)Ordnung (Mimesis II), in welcher die Zeit mittels künstlerisch-ästhetischer Verfahren der Zeitevozierung selbst Gegenstand ist. Die Refiguration dieser Ordnung ist nun Gegenstand unserer zweiten Aufgabe, die auf der Ebene der Anwendung (Mimesis III) ansetzt, in der die Erzählung wieder in die „Zeit des Handelns und des Leidens eintritt“ 26 - an Mahlers Kommunikationsebenen angelehnt, ließe sich auch von lebensweltlicher Zeit sprechen -, und einen Bogen über Mimesis II zu Mimesis I schlägt. Ausgangspunkt unserer Frage, inwiefern Alonso de Santos‘ Werk im historischen Sinn Zeittheater ist, ist unsere Behauptung: Das Thema von El álbum familiar ist die transición. III. Zeittheater im historischen Sinn: Die Refiguration, Deutung und kulturgeschichtliche Verortung theatral inszenierter Zeitdarstellung Die sogenannte transición meint die Übergangsphase nach dem Tod von Franco 1975 bis zur Etablierung der Demokratie. Das Ende der Übergangszeit wird gerne mit dem Wahlsieg der während der Diktatur verbotenen PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) am 28. Oktober 1982 datiert, welcher die endgültige Etablierung einer liberal-parlamentarischen Monarchie besiegelt. Die Originalität der spanischen Transition besteht darin, dass sie inhaltlich mit dem Franquismus bricht, äußerlich aber als Reform erfolgt, da sie „verfassungsrechtlich mittels den in den franquistischen ‘Grundgesetzen’ für deren Revision vorgesehene Mechanismen stattfindet, sodass die franquistische Legalität für ihre eigene Ersetzung durch eine neue, demokratische Legalität instrumentalisiert“ 27 wird. Mit diesem heiklen Balanceakt 24 Cabal/ Alonso de Santos (1985), S. 158, dt.: „Das mit den Erinnerungen ist so, als wollte man einen Fluss aufhalten, indem man ihn einfriert: dann ist es kein Fluss mehr.“ 25 Ebd., „der Tod der Realität.“ 26 Ricœur (1988), S. 113. 27 Bernecker (2005), S. 10. Zeittheater im doppelten Sinn 175 zwischen zwei sich eigentlich ausschließenden Positionen - Bruch und Reform - gelingt es den politisch Verantwortlichen, die demokratische Opposition und die Vertreter des alten Regimes erfolgreich zusammenzubringen. Der Preis dafür ist ein „Pakt des Vergessens“ 28 , der 1976 und 1977 in Form zweier Amnestiegesetze verabschiedet wird, welche gegenüber den verworrenen Seiten des Franquismus eine kollektive Amnesie fordern. Gerade wird dem spanischen Untersuchungsrichter Garzón vorgeworfen, mit seiner spektakulären Anklageerhebung gegen Franco im September 2008 gegen diese Gesetze verstoßen zu haben, was in der Zwischenzeit zu seiner Suspendierung führte. Die geforderte Verdrängung des Verlangens nach Gerechtigkeit ist zugleich eine Unzulänglichkeit wie auch ein Erfolgsgarant der von latenten Konflikten und vielfältigen Widerständen begleiteten transición. Auf jeden Fall ist sie im Sinne des Titels dieses Sammelbandes eine Wendezeit und ein Epochenumbruch. Vor einem solchen steht auch das spanische Theater: Zwei Tage vor den Parlamentswahlen wird José Luis Alonso de Santos‘ El álbum familiar im Teatro Maria Guerrero zu Madrid uraufgeführt. Erstmals eröffnet nicht ein Klassiker die Spielzeit des Centro Dramático Nacional 29 , sondern ein junger Vertreter des Teatro Independiente. Als Gegenbewegung zum bürgerlichen Theater während der Diktatur entstanden, besticht das Unabhängige Theater durch seinen kritischen Geist und sein Streben nach einer ästhetischen Erneuerung des Theaters. Mit dem Tod Francos verliert es jedoch seinen Nährboden. Die Uraufführung von El álbum familiar in einem kommerziellen Theater markiert, wenn man so will, nicht nur das Ende des Teatro Independiente, sondern zugleich auch den Beginn des Teatro Español de los 80 30 . Insofern ist die Thematik der transición gleich doppelt vorhanden: Das in jener Zeit geschriebene und uraufgeführte Stück stellt einerseits ein Übergangsstück innerhalb der Theatergeschichte dar, andererseits hat es jene historische Übergangsphase - so unsere These - zum Thema. Die Darstellung der transición in El álbum familiar ist keine „objektive“ Betrachtung von außen, sondern eine „subjektive“ Innenansicht, die beim Blättern des Protagonisten im Familienalbum in Form von Erinnerungen entsteht. Die irgendwo zwischen Traum und Realität einzuordnenden Erin- 28 Bernecker (2005), S. 16. 29 Das 1978 gegründete Centro Dramático Nacional (CDN) unterliegt dem Instituto Nacional de las Artes Escénicas y de la Música (INAEM), das wiederum dem Ministerio de Cultura unterliegt. Es macht sich zur Aufgabe, die verschiedenen zeitgenössischen Theater- Strömungen mit besonderem Augenmerk auf spanische Autoren des 20. Jahrhunderts zu konsolidieren und zu verbreiten, indem seine Ensembles die Werke einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen oder Produktionen eingeladen werden. Das CDN unterhält zwei Theaterhäuser in Madrid: Neben dem genannten Teatro María Guerrero auch das Teatro Valle-Inclán. 30 Unsere hier gewählte Bezeichnung spielt auf den gleichnamigen Titel des 1985 entstandenen Manifests von Cabal und Alonso de Santos an. 176 Mario Willersinn nerungen sind die eines in der Übergangszeit zwischen Franquismus und Demokratie lebenden jungen Mannes, der, die Zukunft vor Augen, ein Gleichgewicht zwischen der von Krieg und Diktatur geprägten Vergangenheit und der von Unsicherheit und Orientierungsbedarf gekennzeichneten Gegenwart herzustellen versucht. Die Initiations(Zug-)reise verbreitet insofern eine Aufbruchstimmung, als dass sie im übertragenen Sinn auch eine „Ausreise“ aus den Wirren der transición darstellt, vor dessen Bewältigung nun eine ganze Nation steht. Das Theaterstück enthält eine Reihe von metaphorischen Elementen, die eine solche Lesart erlauben. So erinnert die Charakterisierung des Hauses als weiß und still an das berühmteste Haus der spanischen Theatergeschichte, an García Lorcas La casa de Bernarda Alba. Dort heißt es gleich in der ersten Regieanweisung Habitación blanquísima del interior de la casa de Bernarda 31 und silencio ist das erste und letzte Wort des Stückes. Bernarda Albas Haus wird von seinen Bewohnern als sala oscura, infierno, convento und casa de guerra 32 bezeichnet. Calixto Bieito hat in seiner poetisch-beklemmenden Inszenierung dieses Stückes am Teatro Maria Guerrero 1998 die Abgeschlossenheit und Enge des Hauses allein mit einer großen, weißen Leinwand im Hintergrund dargestellt, die einer unüberwindbaren Barriere gleichkommt. 33 Die leidenschaftliche Protagonistin Adela, eine rebellierende Unterdrückte, sehnt sich danach, diese Starre zu überwinden und auszubrechen. Auch für José Luis scheint sein Elternhaus nicht unbedingt ein Ort der Geborgenheit zu sein. Bezeichnend ist das Ende der ersten Szene, als die Familie zum Zug gehen möchte, sich jedoch orientierungslos immerzu im Kreis dreht, wie wenn sie in sich selbst gefangen wäre (0: 19: 30). Schließlich endet die Szene mit einem rebellierenden José Luis, der, während im Hintergrund die bereits zu Beginn des Aktes gehörten Schläge gegen das Gemäuer des Hauses dessen Abriss erneut ankündigen, die weiße Wand niederreißt und in seinem Wutausbruch an Adela erinnert 34 : ¡Vámonos! ¡Vámonos de aquí para siempre! ¡Tenemos que poder salir! ¡Tenemos que poder marcharnos de aquí! ¡Marcharnos! ¡Tenemos que poder salir de aquí! ¡Vámonos! ¡Vámonos! ¡Vámonos! ¡Tengo que marcharme! ¡Tengo que marcharme! 35 (0: 20: 29) 31 García Lorca (1991), S. 51; Weißes Zimmer im Innern von Bernardas Haus. 32 García Lorca (1991), S. 60, 73, 81, 102; Dunkler Raum, Hölle, Kloster und Kriegshaus. 33 Vgl. dazu Willersinn (2008), S. 79 ff. 34 Vgl. García Lorca (1991), S.69. 35 Lasst uns gehen! Lasst uns für immer von hier verschwinden! Wir müssen es schaffen, herauszukommen! Wir müssen es schaffen, von hier wegzugehen! Weggehen! Wir müssen es schaffen, hier herauszukommen! Lasst uns gehen! Lasst uns gehen! Lasst uns gehen! Ich muss hier weg! Ich muss hier weg! Zeittheater im doppelten Sinn 177 Wie ein Gefangener, der verzweifelt und wutschnaubend gegen sein Eingeschlossensein protestiert, sucht José Luis einen Ausweg aus der labyrinthischen Gegenwart, um welche die Vergangenheit wie ein Gespenst kreist und ihn verfolgt. Ist José Luis eine Metapher für die Lage seiner Nation? Einerseits hatte sich das Spanien von 1982 bereits sehr verändert, indem es den Franquismus überwand, andererseits ist es mit einer unverarbeiteten Vergangenheit verbunden, die zwar per Gesetz vergessen ist, in Spaniens Familienalben aber weiterhin existiert. Mittels philosophisch-ästhetischer Verfahren wie beispielsweise das der bipolaren Regieanweisungen, Keimzelle des metatheatralen Spiels im Werk, das eine Zeit des Erinnerns (theatralische Zeit) und eine erinnerte Zeit (dramatische Zeit) montiert, erfährt die historische Zeitdarstellung eine poetische Intensität. Das Stück bringt die Orientierungslosigkeit zum Ausdruck, die man jener politischen Übergangsphase zuspricht, indem es unsere vulgäre Zeitvorstellung aus den Angeln hebt und dem Betrachter eine Auffassung von Zeit als eine stetige Verwebung von eigentlich nacheinander Erscheinendem in eine lebendige Gegenwart vor Augen führt, der er sich nicht entziehen kann: eine Zeit des Erinnerns. Insofern ist El álbum familiar auch ein Credo für das Erinnern, zumal sein großer Publikumserfolg auch daher rührt, dass die dargestellten, traumhaften Erinnerungsfragmente eine geradezu ansteckende Wirkung ausübten, indem sie bei den Betrachtern eigene Erinnerungen weckten. Das Theater, dessen zeitliches Wesen die Gegenwart ist, funktioniert hier wie der Schieber im Reißverschluss, der Vergangenheit und Zukunft zusammenführt. Es ist fähig, Zeiterfahrungen, die wir ausweglos philosophisch diskutieren, neu zu gestalten und für den Zuschauer erfahrbar zu machen: „Was durch das In-Handlung-Versetzen letztlich mehr als alles andere refiguriert oder neugestaltet wird, ist die Zeit der Handlung“. 36 Die Zeit, die El álbum familiar neu gestaltet, ist jene der transición. Theater und Zeit: Ein Ausblick Weder schreiben noch lesen ist außerhalb des Zeitmodus der Sukzession möglich. Sprache ist in diesem Sinne ein temporales Medium, Literatur eine Zeit-Kunst. Es bleibt nicht frei von Ironie, wenn ein Text die Sukzession der Zeit poetisch aufzulösen versucht, ist er doch selbst unausweichlich der Zeitenfolge verhaftet. Selbst wenn El álbum familiar einen Restbestand an einer kausal bedingten linearen Zeitvorstellung enthält, so präsentiert es uns ein Sammelsurium an Erinnerungsflicken, die eine Komplexität des jeweils Koexistierenden sowie Parallelisierung und Ineinanderschieben von zeitlich Entferntem charakterisiert. Geht das Theater, auch wenn es - wie in unserem Fall - auf einer Textgrundlage basiert, über narrative Verfahren der 36 Ricœur (1988), S. 130. 178 Mario Willersinn Zeitdarstellung hinaus? Theatral gestaltete Zeit wird selbst als Material zwischen Text und Aufführung, Rolle und Schauspieler, Bühne und Publikum reflektiert. Gibt es demnach eine spezifische „Theater-Zeit“? Inwiefern unterscheidet sie sich von „vertexteter Zeit“? Um Zeitdarstellungen im Theater adäquat einzufangen, erweist sich eine Beschränkung allein auf eine Interpretation des dramatischen Textes als zu enge Perspektive. Die bloße Analyse narrativer Techniken von Zeitdarstellungen in dramatischen Texten berücksichtigt nicht das Präsentieren und Gestalten von Zeit im Theater. In ersten Ansätzen haben wir hier versucht, dem Rechnung zu tragen. Es sind jedoch erweiterte Kategorien notwendig, die das Präsentieren und Gestalten von Zeit im Theater berücksichtigen. Deren Entwicklung wird Aufgabe des Promotionsprojekts 37 zu Theater und Zeit sein. Literaturverzeichnis Alonso de Santos, J.: El álbum familiar - Bajarse al moro. Edición de Andrés Amorós. Madrid 1992. Bernecker, W.: „Demokratisierung und Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien“. In: B. Bannasch, Ch. Holm (Hg.), Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien. Tübingen 2005, S. 9-25. Cabal, F. und J. Alonso de Santos: Teatro Español de los 80. Madrid 1985. Fischer-Lichte, E.: „Die Toten kehren zurück. Über die Wahrnehmung von Zeit im Theater“. In: Ch. Lechtermann (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung. Berlin 2007, S.173-181. García Lorca, F.: La casa de Bernarda Alba. Con cuadros cronológicos, introducción, bibliografía, notas y llamadas de atención, documentos y orientaciones para el estudio. Edición de M. García-Posada. Madrid 1991. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft [1787]. R. Schmidt (Ed.), Hamburg 1956. Mahler, A.: „Aspekte des Dramas“. In: H. Brackert, J. Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hamburg 1995, S.71-85. Mann, T.: Der Zauberberg [1924]. Frankfurt am Main 2004. Nünning, A. und R. Sommer: „Die Vertextung der Zeit. Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen“. In: M. Middeke (Hg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 33-56. Proust, M.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurt am Main 2000. (Anmerkung: Das einleitende Zitat findet sich auf Seite 4172) Ricœur, P.: Zeit und Erzählung. Zeit und historische Erzählung. München 1988. Roth, K.: „Zeit und interkulturelle Kommunikation“. In: Zeit in volkskundlicher Perspektive. Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 33. 1999/ 2000, S.25-36. Willersinn, M.: Federico García Lorcas La casa de Bernarda Alba dramatischer Text und Aufführungspraxis. Eine Analyse. Freiburg i. Br. 2008. 37 Das Projekt wird von Prof. Dr. Walter Bruno Berg an der Universität Freiburg i. Br. betreut und ist in das Internationale Promotionskolleg “Geschichte und Erzählen“ eingebettet. H ANS -H ENRIK K RUMMACHER ZUM 80. G EBURTSTAG Wolfgang Düsing „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ Epochenumbrüche in V. Brauns Dramen Einleitung Der Titel zitiert die Antwort V. Brauns auf die Frage eines Interviewers: „Welche Gefühle haben Sie am 3. Oktober? “ 1 In die gleiche Richtung geht die Bemerkung: „Wir werden arbeiten […], aber unsere arbeitslosen Seelen werden sich der Zukunft erinnern, einer alten gemeinsamen Sache, die keinen Namen mehr hat.“ 2 Beide Zitate belegen ein widersprüchliches Verhältnis des Autors zur Wende oder Wiedervereinigung von 1989. Die Auseinandersetzung mit diesem Ereignis bildet eine Zäsur in seinem Schaffen. In den Dramen Iphigenie in Freiheit und Böhmen am Meer, in der Satire Der Wendehals und anderen Texten werden der Fall der Mauer und die damit verbundenen Folgen für die DDR, aber auch für ihn selbst als Schriftsteller thematisiert. Dabei ist V. Braun niemals ein staatstragender Autor gewesen, seine Stücke erschienen oft in der Bundesrepublik früher als in der DDR. Dennoch warnt er immer wieder vor den Verlusten, mit denen die viel gepriesenen Fortschritte seit 1989 erkauft wurden. Sein wohl bekanntestes Gedicht Das Eigentum (1990) bringt die Folgen, die die Wende für ihn als Autor hatte, prägnant zum Ausdruck. Es ist auch eine Anspielung auf das Gedicht Das Lehen (1980), wie der Autor selbst anmerkt. 3 Dort hatte es noch geheißen: Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten, Mit meinen Sprüchen, die mich den Kragen kosten. (V. 1 f.) 4 1 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 202. 2 Ebd., S. 200. 3 Ebd., S. 59. 4 Ebd., Bd. 8, S. 75. 180 Wolfgang Düsing Nun hat sich die Situation radikal verändert: Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. […] Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text [.] Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. (V. 1; V. 6-10) 5 Während sein Land „in den Westen geht“, kann V. Braun bleiben, „wo der Pfeffer wächst.“ Das Urheberrecht an diesem damals vielzitierten Satz hat Ulrich Greiner, der dekretierte: „Die toten Seelen des Realsozialismus sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ 6 Die eigentliche Tragödie des Autors liegt darin, dass ihm selbst sein früheres Werk fremd wird: Und unverständlich wird mein ganzer Text (V. 7). Die Geschichte hat die Texte umgeschrieben. Was bisher sein Selbstverständnis als Schriftsteller begründete, löst sich auf wie die Welt, zu der diese Texte gehörten. Er sieht sich einer schwierigen Herausforderung gegenüber, einem Verlust seiner künstlerischen Identität, auf den er mit Texten reagiert, die sich durch gesteigerte Komplexität auszeichnen, weil sie oft den Widerspruch, ihre eigene Negation mitformulieren. Braun versteht sich dabei jedoch nach wie vor als Realist, der einer immer mehrdeutiger und absurder werdenden Wirklichkeit nur gerecht werden kann, wenn er seine künstlerischen Mittel den Antagonismen der schwer zu durchdringenden historischen Prozesse anpasst. Schon am 7. Februar 1975 schrieb er in der „ER- KLÄRUNG NACH DEM ABBRUCH DER TINKA-PROBEN“, dass er seine Arbeit als eine Art „soziologisches Experiment“ betrachte. Literatur als Experiment „zeigt die gesellschaftlichen Antagonismen, ohne sie aufzulösen.“ 7 Das führt zu einer Gestaltung von Widerspruchssituationen, die im System, in der historischen Situation oder in den Figuren ihre Ursachen haben und nicht in einer Synthese aufzulösen sind. 8 Mit der Wiedervereinigung wird eine weitere charakteristische Grunderfahrung Brauns, die seine Texte prägt, manifest, nämlich das Existieren in einer Zeitenwende: „Der Verfasser kann endlich sagen wie Brecht: ‚er lebte in zwei Zeitaltern’, die freilich eines waren; aber ‚im Kampf mit den alten gewinnen die neuen Ideen ihre schärfsten Formulierungen’, und umgekehrt. 5 Ebd., Bd. 10, S. 52. 6 Die Zeit vom 22. Juni 1990. Braun, Bd. 10, S. 59. 7 Braun , Bd. 4, S. 200 f. (Die Groß- und Kleinschreibung folgt V. Braun.) 8 Profitlich (1985), S. 9-12 u. ö. analysiert diese „Härtesituationen“ von den Kippern (1965) bis zu Großer Frieden (1976). „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 181 Und umgekehrt.“ 9 In der Verdopplung des „umgekehrt“ kommt Brauns besondere Perspektive zum Ausdruck: der Versuch, in der Vergangenheit zurückgelassene Utopien und Hoffnungen nicht einfach zu begraben, sondern durch literarische Erinnerung zu bewahren. Lenins Tod und Dmitri Das zentrale Thema vieler Dramen V. Brauns sind Revolutionen, Epochenwenden, Krisensituationen von historischem Ausmaß. Neben den frühen Stücken aus dem Alltag der DDR, den „Produktionsstücken“, die auch im Werk Heiner Müllers eine wichtige Rolle spielen, gestaltet V. Braun mit dem schon 1970 entstandenen, erst 1988 uraufgeführten Schauspiel Lenins Tod das Drama der russischen Revolution. Mit diesem Werk zusammenhängende Notizen des Autors tragen den Titel: „ÜBER DIE SCHWIERIGKEIT BEIM SCHREIBEN DER WAHRHEIT DER GESCHICHTE“. Der an Brecht erinnernde Titel bezieht sich eher auf künstlerische als auf politische Probleme. Man kann Geschichte heute „nicht mehr so unverfroren verwischt ins Theater bringen wie in dem herrlichen Stück Wilhelm Tell“, 10 bemerkt V. Braun und nimmt damit gegenüber dem klassischen Geschichtsdrama bei aller Bewunderung Schillers eine ähnlich kritische Haltung ein wie Dürrenmatt, der sich beim Wallenstein über Schillers „Jambensoldaten“ mokiert. 11 In Lenins Tod geht es um historische Personen, der moderne Zuschauer will Fakten, alles andere wird als „Geschichtsklitterung“ abgelehnt. Das künstlerische Problem liegt darin, dass „Authentizität“ „eine ungeheure Fessel für die Dramaturgie eines Stücks ist“ und auch nicht per se schon die „Wahrheit der Geschichte“ garantiert. Die Gestaltung von „Stückidee und Fabel“ kann nicht mehr „auf dem üblichen Weg der Erfindung“ erreicht werden. Für V. Braun müssen sie „im Material (den geschichtlichen Handlungen) gefunden werden.“ Aber das eigentliche Movens der Geschichte, die alles vorantreibenden Kräfte, stehen für V. Braun nicht einfach in den überlieferten Dokumenten. Es ist „das breite, ungestalte Tagesleben des Volks, das uns in den Stücken wichtig wird.“ Dabei verdient die „soziale Lage“ besondere Aufmerksamkeit, ihr „Reflex“ sind die „politischen Kämpfe“ der führenden Gestalten. Der „Fabelverlauf“ muss den Forderungen des Theaters entsprechen, zugleich aber auch die „’Idee’ dieser Geschichte“, das „mächtige (Klassenkampf-) Gesetz“ zum Ausdruck bringen. 12 9 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 219. 10 Ebd., Bd. 3, S. 256. 11 Dürrenmatt (1985), S. 109. 12 Braun (1990-1993), Bd. 3, S. 256 f. 182 Wolfgang Düsing Aus heutiger Sicht ließe sich einwenden, dass der Rekurs auf das „Klassenkampf-Gesetz“ historisch überholt ist. Damit muss aber nicht auch schon das Drama überholt sein, wie die Rezeptionsgeschichte der Dramen Brechts beweist. Lenins Tod kann nicht einfach als Propagandastück abgetan werden. In den Machtkämpfen zwischen den einzelnen Revolutionären und ihren Anhängern - vor allem zwischen Lenin, Stalin und Trotzki - kommen nicht nur verschiedene ideologische Positionen zum Ausdruck, jede dieser Positionen erhebt zugleich einen Alleinvertretungsanspruch für die Umgestaltung Russlands und die Weltrevolution. Es wird nicht der siegreiche Kampf der großen russischen Revolution dargestellt, sondern die erbitterte Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen und das Ringen des todkranken Lenin, der überragenden geistigen Potenz unter den russischen Revolutionären, um die Bewahrung seiner politischen Ideen gegen Trotzki, vor allem aber gegen Stalin. In den leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen wird immer deutlicher, dass sich nicht die umfassenden Konzeptionen Lenins oder Trotzkis durchsetzen, sondern der jovial auftretende, seine Ziele verschleiernde Machtpolitiker Stalin, der zu den großen theoretischen Debatten nur knappe, nichtssagende oder sogar verworrene Beiträge liefert, aber dabei Schritt für Schritt seine Gegner ausmanövriert. Der als Biedermann auftretende, immer zu einem Späßchen bereite, skrupellose Machtpolitiker konterkariert den gesamten, von Lenin initiierten, revolutionären Aufbruch. Neben den beiden Handlungsebenen, deren Zentren einmal Lenin und dann die übrigen Revolutionäre bilden, treten in kurzen Zwischenszenen immer wieder Vertreter des Volks, der Arbeiter auf, die dem Zuschauer den eigentlichen Widerspruch in den dargestellten Vorgängen vor Augen führen. Das Leid der Massen, ihre unvorstellbare Armut, ihre Rechtlosigkeit und die damit mögliche totale Unterdrückung kommen in schockierenden Zwischenszenen zum Ausdruck. Die Existenz dieser Menschen ist ein permanenter Aufruf zur Veränderung der Verhältnisse und eine Kritik an allem, was die Revolutionäre, vor allem Stalin, aus der Revolution gemacht haben. Das Drama enthält mit seinem Titel Lenins Tod einen Hinweis auf Büchners Drama Dantons Tod, auf die Tragödie einer Revolution, die an den Schwächen und Unzulänglichkeiten ihrer Protagonisten scheiterte. Ähnliches gilt für V. Brauns Darstellung der Oktoberrevolution in Lenins Tod. Eine mit großen Hoffnungen begonnene Umgestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse in Russland droht zu scheitern, weil rivalisierende Gruppierungen das große Ziel vergessen und sich gegenseitig ausschalten. Aber damit ist der revolutionäre Impetus nicht widerlegt; der utopische Entwurf eines „freien Menschen“ hat nichts von seiner Gültigkeit verloren, wenn er auf dem Wege seiner Realisierung von einer politischen Kaste zur Durchsetzung eigener Ziele missbraucht wird. Der Glaube an die immer wieder sich „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 183 erneuernde Kraft der unterdrückten Massen und die durch keine Niederlage auszulöschende Hoffnung auf Befreiung bleiben im Hintergrund der Revolutionsdramen lebendig. Die Problematik der Revolutionsdramen, vor allem von Lenins Tod und des Trotzki-Stückes T., liegt für den heutigen Zuschauer darin, dass sehr viel Hintergrundwissen vorausgesetzt wird. Eine Vielzahl historischer Personen, die heute meist vergessen sind, ringt in kontroversen Diskussionen um die Durchsetzung von Zielen, die alle revolutionär genannt werden, aber oft einander diametral entgegengesetzt sind. Der Gefahr, durch allzu große Nähe zur Vergangenheit, durch eine damit verbundene Genauigkeit im Detail an Anschaulichkeit und Überzeugungskraft zu verlieren, ist sich V. Braun bewusst. Ein Gegengewicht gegen ausufernde politische Debatten der Parteiführung bildet einmal die persönliche Tragödie Lenins, der mit dem Tode ringend, immer wieder durch Ohnmachtsanfälle gehindert, die in Vergessenheit geratenen Grundideen der Revolution mit letzten Kräften zu retten versucht. Ähnliches versucht auch Trotzki, der allerdings trotz seines rhetorischen Talents weniger Beachtung findet als Lenin, dessen Führungsrolle von allen respektiert wird. Stalin kann erst nach Lenins Tod seine brutale Machtpolitik durchsetzen. Eine weitere, von allen unabhängige Position kommt in den Volksszenen zum Ausdruck. In kleinen Episoden wird das russische Volk in einer Vielzahl verschiedener Typen dargestellt. Während die Politiker reden und planen, präsentiert sich hier das konkrete Leben in seiner Vielfalt, im täglichen Kampf um das Überleben. An Tiefpunkten gibt es aber auch einen Hoffnungsschimmer, der sich nicht auf die Politik stützt, sondern auf das natürliche Leben des Volkes. Die vorletzte Szene des Dramas endet mit der Bemerkung einer Genossin: „Stalin hat doch recht. Er hat mit allem recht“ und der resignierten Antwort Radeks: „Das ist’s ja.“ 13 Die Antwort darauf bildet die letzte Szene des Dramas mit dem privaten, familiären Ereignis der Geburt eines Kindes. Die Mutter beendet den Streit um den Namen ihres Sohnes mit den Worten, er solle Wolodja heißen. Einer der Anwesenden monologisiert: „Ja, das Leben wird besser.“ Plötzlich kommt ein weiterer Gast namens Markin zur Tür herein und bringt die Nachricht, dass Lenin gestorben sei. Das Drama endet mit folgender Bühnenanweisung: „Sie verstummen. Die Mutter setzt sich nieder. Sie beginnen leise, einer nach dem andern, zu weinen. Markin starrt, halb lächelnd, zu dem Kind hin. Dunkel.“ 14 Markin, der Überbringer der traurigen Nachricht, ist zugleich derjenige, der mit dem Blick auf das Kind an die Zukunft glaubt. Der Todesnachricht steht 13 Ebd., S. 186. 14 Ebd., S. 188. 184 Wolfgang Düsing eine Geburt gegenüber, der Trauer die Hoffnung. 15 Die kritische Darstellung der Revolution ist keine Absage an die Utopie. Dieser Befund wird bestätigt, wenn man andere Revolutionsstücke des Autors wie Guevara oder Der Sonnenstaat (1975) und Großer Frieden (1976) berücksichtigt, oder Dramen, die eine Zeitenwende im weitesten Sinne thematisieren, wie Die Übergangsgesellschaft (1982) oder das Drama zur Nibelungenthematik Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor (1983-1984). So betont V. Braun in Notizen zu dem in früher Vorzeit, noch vor der Zeitrechnung spielenden Stück Großer Frieden, mit der Wahl eines so weit zurückliegenden Stoffes fliehe er nicht aus der Gegenwart: „Es gibt Augenblicke alter Geschichte, die uns mehr zu sagen haben als ganze Strecken neuerer Zeit. Wie unterm Brennglas sehen wir ein Volk, das versucht, am Rad der Geschichte zu drehen“. Eine über 2000 Jahre zurückliegende Revolution „wurde von ungeheurer Hoffnung getragen.“ Die Hoffnungen des Volkes wurden jedoch enttäuscht. Deshalb ist der gescheiterte Bauernaufstand für Braun ein „Modellfall für Aufbruch und Versacken von Geschichte“ und damit geradezu „gegenwärtig“. 16 Um die Ausgangsbasis und die leitenden Perspektiven der Geschichtsdarstellung in den Dramen vor der Wende noch etwas deutlicher herauszuarbeiten, wählen wir Brauns Dmitri, geschrieben 1980, uraufgeführt 1982 im Badischen Staatstheater Karlsruhe. Der Autor setzt sich damit noch einmal mit einem Wendepunkt der russischen Geschichte auseinander, mit den Kämpfen um den Zarenthron im 17. Jahrhundert und dem polnischen Versuch, den Thron mit einem falschen Dmitri zu besetzen. Brauns Behandlung der Thematik ist besonders interessant, weil sie gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem klassischen Geschichtsdrama ist, denn er folgt hier Schritt für Schritt Schillers Demetrius-Fragment. 17 Die wesentlichsten Änderungen, durch die V. Braun sich von Schiller und sein Geschichtsdrama vom klassischen Drama abgrenzt, sind: 1. Die Auflösung des Tragischen. V. Brauns Stück ist keine Tragödie mehr. Groteskes und Komisches mischen sich und zerstören Schillers kunstvolle Tragödienkonstruktion. Damit ändert sich die Gesamtperspektive der Geschichtsdarstellung. 2. Während bei Schiller das psychologische Problem des betrogenen Betrügers ins Zentrum rückt und Demetrius in der entscheidenden Szene erkennen muss, dass er manipuliert und als Werkzeug der polnischen, antirussischen Politik eingesetzt wurde, kommt für V. Braun zu den von Schiller berücksichtigten Ursachen für das Scheitern des Umsturzversuches als wei- 15 Herr F. Göbler (Mainz) machte mich darauf aufmerksam, dass Wolodja der Kosename von Wladimir ist, einem der Vornamen Lenins, dessen Vermächtnis damit an die nächste Generation weitergegeben wird. 16 Braun (1990-1993), Bd. 5, S. 262. 17 Vgl. zum Folgenden: W. Düsing (1998), S. 225-243. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 185 tere Ursache hinzu, dass die Sache des Volkes verraten und die Not der hungernden Bauern von Demetrius und seinem Anhang von Anfang bis Ende übersehen wurde. Die liberaleren Ansätze der von Demetrius geplanten Reformen greifen zu kurz, weil das Hauptproblem nicht erkannt wurde. Zugespitzt bedeutet das, bei Schiller scheitert Demetrius als „betrogener Betrüger“, bei V. Braun eine Pseudo-Revolution. Braun entwickelt damit eine Konzeption, die seiner Auffassung nach bei Schiller schon vorbereitet wurde. Das Demetrius-Fragment des Klassikers interpretiert er als „theatralischen feldzug gegen das legitimitätsprinzip aller klassengesellschaft“. 18 3. Die Auseinandersetzung mit Schiller dient einmal der Abgrenzung vom klassischen Drama, sie führt aber auch zu einer Ironisierung des gesamten Stückes. Wenn Ironie dadurch entsteht, dass eine Botschaft gleichzeitig auf zwei Kanälen gesendet wird, wobei der eine die Botschaft des anderen konterkariert, dann trifft das genau Brauns Schiller-Adaption. Dadurch, dass Schauspieler eilig hin und her laufend Schillerverse rezitieren, wird der klassische Text ironisiert. Der „schöne Schein“ klassischer Kunstautonomie wird zerstört. Dramaturgisch bedeutet dies, dass der „Spielcharakter“ betont wird. Die Schauspieler deklamieren Schillers Text, den sie gleichzeitig kommentieren, wodurch eine amüsante, perspektivenreiche Auseinandersetzung mit dem Klassiker entsteht. Schiller hat zwar in den Briefen Über die ästhetische Erziehung die These vertreten, der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, 19 hat dabei aber nicht daran gedacht, dass seine Dramen einmal zum Medium eines ironischen Spiels werden könnten. Bei all dem darf die besondere Struktur des Stückes nicht außer Acht gelassen werden, denn sie unterscheidet sich wesentlich von der einfacheren Bauform der früheren Stücke und bereitet die komplexe Struktur der Wendedramen vor. Auffällig sind die verschiedenen Bewusstseinsebenen des Stückes. Wenn zunächst Schauspieler Schauspieler spielen, die einen Schillertext einüben und in den vorgegeben Rollen agieren, dann wird die Illusion, dass es um eine Annäherung an Schiller geht, schnell zerstört. Die Zwischenbemerkungen der Schauspieler bringen modernes Bewusstsein als Gegenwelt zur Geltung, eine Antithese zu Schiller, die durch weitere, von Schiller nicht vorgesehene Figuren als zweite Spielebene ausgestaltet wird. Das führt zur Einführung neuer, bei Schiller nicht vorhandener Szenen und zu einem Metadrama als Gegenentwurf zu Schillers Demetrius. In dem hier behandelten Zusammenhang verdient der Wandel der Geschichtskonzeption besondere Aufmerksamkeit. Von Szene zu Szene werden die Unterschiede von Klassik und Moderne deutlicher. Braun kritisiert, dass Geschichte bei Schiller von „’feudalen’ mechanismen“ determiniert sei und „über weite strecken unproduktiv“ verlaufe, „die Talente der völker 18 Braun (1990-1993), Bd. 6, S. 226. 19 Schiller (1960), Bd. 5, S. 618 (15. Brief). 186 Wolfgang Düsing blutig verwurstend“. Ihn interessiert nicht die persönliche Tragödie des falschen Thronfolgers, sondern der Widerspruch, dass Dmitri als Befreier Russlands auftritt, ohne die Unterdrückung der Bauern zur Kenntnis zu nehmen und ohne zu sehen, dass deren Befreiung seine Hauptaufgabe wäre. Die wahre Gesinnung der polnischen Eroberer wird entlarvt, als beim Einzug in Moskau unter den flatternden Mänteln plötzlich Harnische sichtbar werden und der bejubelte Einzug des vermeintlichen Zaren als gut getarnter Überfall entlarvt wird. Dann treten drei Bolschewiki auf und sehen „belustigt / interessiert / tränenlachend“, wie es in der Bühnenanweisung heißt, „dem Schauspiel hinterher“. 20 Der homogene Zeithorizont des traditionellen Geschichtsdramas wird aufgelöst. Spätere Revolutionäre lachen über die Absurdität eines als Wiedereinsetzung der rechtmäßigen Zarendynastie getarnten Versuchs, die Zarenkrone zu erobern. 21 Aber auch die Revolutionäre des 20. Jahrhunderts haben ihr Ziel, die Beendigung der Ausbeutung und die Befreiung der unterdrückten Massen, nicht erreicht. Das wird indirekt angedeutet, als aus revolutionären Manifesten zitiert wird, aber so, dass der Text durch Brüche und Wiederholungen seinen Sinn verliert. V. Braun kritisiert auch die Verschleierung der wahren Verhältnisse durch die Literatur, die auf diese Weise unsere Vorstellung von Geschichte beeinflusst. So wird aus der Vergangenheit „eine großartige Geschichte also, zurechtgemacht von Herrn Sophoklesshakespeareschiller“. Sie bietet immer das gleiche Bild. Die Akteure stehen „im Schlamm“, „weit unter dem Schicksal, der GÖTTLICHEN MACHT, der HÖHEREN GEWALT oder der HISTORISCHEN MISSION“. Wer sich wehrt, kommt nur umso unbarmherziger unter die „Räder der Geschichte“. Wenn Braun die Mitverantwortung der Autoren für unser Bild der Geschichte betont, dann ergibt sich daraus für ihn zugleich die Notwendigkeit, sich von der traditionellen Auffassung der Geschichte als Verhängnis und Tragödie zu distanzieren. In der 16. Szene, aus der hier zitiert wurde, wird Geschichte zum „Trauerspiel“, zum „katalaunischen Feld“, das moderne Zuschauer „verlegen grinsend betrachten mit seinen Pappenheimern, schlesischen Webern und Bolschewiki“. 22 Schillers Demetrius endet mit der Ermordung des Titelhelden als Tragödie. Der Auftritt eines Kosaken, der nach der am Boden liegenden Zarenkrone greift, signalisiert, dass das sinnlose Spiel weitergeht. V. Braun macht daraus eine Groteske. Es sind bei ihm gleich drei „Individuen“, die verkünden, sie wollten „das falsche Spiel wiederholen“. Dann tritt ein vierter auf und erklärt auf Sächsisch, dass er „genuch“ habe und lieber Zuschauer bleiben 20 Braun (1990-1993), Bd. 6, S. 184. 21 Auf eine Rückfrage während einer Lesung in Mainz erläuterte V. Braun, dass er mit den drei Zuschauern beim Einzug in Moskau auf Trotzki, Rosa Luxemburg und Aleksandra Michajlowna Kollontai anspiele (Auskunft von Herrn J. Chwalek, Mainz). 22 Braun (1990-1993), Bd. 6, S. 207 f.; S. 210. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 187 wolle. 23 Es ist ein Stück mit und gegen Schiller, ein historisches Drama gegen die traditionelle Geschichtsauffassung, die für V. Braun „nach ‚feudalen’ mechanismen läuft“. Er sieht „eine dumpfe hoffnung in der tiefe“ der Geschichte, „die nicht tätig wird“. Deshalb fordert er von den Zuschauern eine „haltung […], die sich dem gesehnen produktiv entgegensetzt“. Braun glaubt an eine „neue zeit, die aus der alten gekommen ist.“ Immer wieder bricht im Selbstkommentar Brauns ein utopisches Moment durch, am deutlichsten wohl, wenn er schreibt: „das bild der puren vergangenheit leuchtet, eine furchtbare fackel, uns heim in die Zukunft.“ 24 Im Schein der Fackel kann die Vergangenheit ein Warnbild auf dem Weg in die Zukunft sein. Wendedramen Iphigenie in Freiheit ist ein dramatisches Experiment von radikaler Modernität. Es entstand 1987, wurde aber 1991 überarbeitet und spiegelt V. Brauns Auseinandersetzung mit der Wiedervereinigung. Das Drama besteht nicht mehr aus einer Folge von Akten, die durch Personen und eine sie verbindende Handlung zuammengehalten werden. Der Text ist in vier Szenen gegliedert, die jeweils eigene Titel tragen: 1 Spiegelzelt; 2 Iphigenie in Freiheit; 3 Geländespiel; 4 Antikensaal. Das Gedicht Ausgang der Welt ist die Urfassung der Szene Spiegelzelt, und die Szene Antikensaal stammt aus „Material XIV“. 25 Im Text wechseln Monologe, die nicht immer eindeutig zuzuordnen sind, Dialoge und rhythmisierte Prosa einander ab. Insgesamt wirken Hauptpartien des Textes wie ein „selbstreflexiver Redefluß“ 26 , ein innerer Monolog, ein Bewusstseinsstrom, der vor allem Iphigenies Schicksal beziehungsweise die Problematik einer Frau, die die Wende mit einem Identitätsverlust bezahlen muss, erfasst. Das Schicksal der Protagonistin steht für das der DDR insgesamt. Die Figuren sind nicht streng gegeneinander abgegrenzt, es gibt auch Doppelfiguren wie OrestElektra oder ElektraOrest, was an avantgardistische Porträts erinnert, bei denen ein Gesicht aus perspektivisch verschobenen Gesichtsfragmenten zusammengesetzt ist. Die Einwände gegen die Bewusstseinsstromtechnik auf dem Theater - „Atmosphäre der Verrücktheit“, „Illusion des Widerspruchsvollen, Unartikulierten“ 27 - erinnern an die Reaktionen, die James Joyce’ „stream of consciousness-technique“ seinerzeit bei namhaften Forschern hervorrief. 28 V. Braun experimentiert 23 Ebd., S. 225 f. 24 Ebd., S. 229 f. 25 Ebd., Bd. 9, S. 84 ff. 26 Haas (2004), S. 50. 27 Ebd. 28 Zum Beispiel bei Lukács (1971), S. 467 ff. 188 Wolfgang Düsing hier mit einem Bewusstseinstheater, das an Schauspieler und Zuschauer oder Leser hohe Anforderungen stellt. Die politische Situation der Wende und die damit zusammenhängende „Identitätsdiffusion“ 29 der Figuren bildet nur die eine Ebene des Stückes. Eine zweite entsteht dadurch, dass die aktuelle Situation nicht direkt und unmittelbar, sondern nur in einer Brechung durch klassische Texte reflektiert wird. Durch diese Intertextualität, die jeden Text in einem Gegentext spiegelt und damit eine Fülle von Assoziationen entfesselt, grenzt sich Braun von dem offiziellen Diskurs zur Wiedervereinigung ab. Gleichzeitig ist das Stück eine Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos, vor allem aber mit Goethes Iphigenie. Das klassische Drama bildet für Braun „den anfang einer unaufschiebbaren debatte“, die er mit seinem Stück fortsetzen möchte. Dabei konfrontiert er das Scheitern der sozialistischen Utopie mit der ebenfalls gescheiterten klassischen Utopie des Humanitätsideals, verkörpert in Goethes Iphigenie. Braun bemerkt dazu: „Die Ideale der Klassik uneinholbar in der Vergangenheit, ihr Fehler die Lösung für den kleinen Kundenkreis, das Glück im Weimarer Winkel.“ 30 Goethe selbst sah übrigens später das Drama distanzierter und nannte Iphigenie „ganz verteufelt human.“ 31 Die erste Szene des Kurzdramas mit dem Titel „Spiegelzelt“ bildet der Monolog einer Doppelfigur Orestelektra oder Elektraorest, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, eine „Selbstbegegnung im Spiegel“. Dabei wird die wechselseitige Abhängigkeit der beiden Figuren nach folgendem Modell thematisiert: „WENN DU DER BIST, DANN MUSS ICH DIE SEIN.“ 32 Der Rückzug auf eine eigene Ich-Identität und deren Zerfall als Identitätsdiffusion gehen in einander über. Brauns Assoziationstechnik führt zu einer Sprache, die wie durch Spiegelreflexe verfremdet ist: DU KOMMST GEWISSENHAFT AUF DEINE STUNDE. Gewiß, aus der Haft… Abgesessen Hab ich meine Zeit in meinem Lande Das Land Elektras wird mit Bruchstücken aus DDR-Hymnen ironisch charakterisiert: „DEM ABENDBROT ENTGEGEN SEIT AN SEIT.“ Der Text ist ein dichtes intertextuelles Gewebe mit einer Fülle von Anspielungen auf Dramen der Weltliteratur, von Shakespeare bis Büchner und Brecht, wobei die Hauptlinie jedoch die griechische Tragödie und die Auseinandersetzung mit dem Atriden-Mythos bildet. 29 Begriff von E. H. Erikson (1959), S. 106 ff. 30 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 146. 31 An Schiller, 19. Januar 1802. Goethes Briefe (1964), Bd. 2, S. 428. 32 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 144. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 189 Liest du die Zeitung. MORD AN AGAMEMNON. Hast du gesagt Schwester. Sagte ich das. 33 Ein späterer Abschnitt setzt mit den Versen ein: Vorbei die Langeweile Griechenlands. […] Ich bin nicht mehr allein bin die Komplizin Aller Handlung. Kamera läuft. Die Toten warten wild auf die Entscheidung: Meine, o ihr Götter. Wer bin ich. Du bist mein Bruder, denn ich sehe Mich im Spiegel deines weißen Zorns. Was für eine Familie MÖRDERVATER MÖRDERMUTTER MUTTERMÖRDER. 34 In der Urfassung dieser Passage, dem Prosagedicht AUSGANG DER WELT, heißt es ausführlicher: Auschwitz und Workuta, was für eine Familie. 35 Elektra kommt aus einem System, zu dessen dunkler Vergangenheit der „Archipel GuLag“ gehört und erbt mit der Wende eine Vergangenheit, zu der Auschwitz gehört. Der eiserne Vorhang, der in der ersten Szene noch zu bestehen scheint, verschwindet in der zweiten, deren Protagonistin Iphigenie ist. Die Wende wird in Goethes Iphigenie gespiegelt und umgekehrt, was zu Verdichtungen und Verschiebungen führt, deren Bilder der Erinnerungsarbeit von Träumen gleichen. 36 So verschmelzen psychoanalytische, mythische und politische Aspekte des Geschehens: ZUR SACHE THOAS. Auf der eiserne Vorhang. Orest und Pylades die Fluchthelfer Sind eingereist in Tauris. 37 Thoas ist der Herrscher des Kremls, der Name Gorbatschow fällt. Die Versöhnung mit ihm erlaubt, dass sie „angstlos auf den roten Platz“ treten können. Iphigenie aber lockt der Westen. Sie starrt „NACH GRIECHENLAND. 33 Ebd., S. 127. 34 Ebd., S. 128. 35 Ebd., Bd. 9, S. 50. 36 Haas (2004), sieht in dem Stück die Gestaltung der „psychischen Folgen der Wiedervereinigung“ mit „Parallelen zu der Identitätskrise des Autors“ (S. 49). 37 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 131. 190 Wolfgang Düsing / NACH WESTEN“. Das ist aber nicht mehr die Griechenland-Sehnsucht der Klassik, nicht mehr der „Kinderglaube an die heile Welt“, 38 sondern die Ohnmacht angesichts der Macht des Geldes. Goethes Wort, dass der Mensch zum Handeln bestimmt sei, wird zitiert und ironisch den modernen Verhältnissen angeglichen, wenn Orest betont: Ein Grieche bin ich vom Geschlecht Der Händler. 39 Iphigenie ist allerdings nicht nur das reine Opfer, das Symbol der Humanität. 40 Sie ist auch Täterin im Auftrag von Thoas. Sie hat Menschen geopfert und Schuld auf sich geladen: „Was trag ich für ein blutiges Gewand“ 41 klagt sie. Auch die Schuld Orests wird entmythologisiert: Er hat die Fallsucht seit dem Mord an Mutter Erde, jetzt jagt ihn die Erinnrung. 42 Die Naturzerstörung gewinnt im Spätwerk Brauns ein immer größeres Gewicht. Die Deformation des Menschen ist nur eine Variante der Naturzerstörung. Mensch und Natur werden dem Diktat der Technik und der Profitmaximierung unterworfen. Nicht die versprochenen‚ blühenden Landschaften schafft die Abwicklung durch die Treuhand, sondern eher das Gegenteil: […] Das kennt keine Verwandten Und reißt sich mein Ländchen untern Nagel Für ein Spottgeld. 43 Iphigenie solidarisiert sich mit allen, die keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben bekommen: „AUS DEM HUNGER SPEIST SICH UNSRE MACHT“. 44 Das Humanitätsideal der Klassik und die sozialistische Utopie wandeln sich bei der modernen Iphigenie zu kompromissloser Solidarität mit den Hungernden der dritten Welt. Die 3. und die 4. Szene thematisieren in charakteristischen Episoden weitere Stationen der Wiedervereinigung. Die 3. Szene mit der Überschrift „GELÄNDESPIEL“ bezieht sich auf die alten Bundesländer, auf die makabre Verwendung eines Geländes, auf dem früher das KZ Ravensbrück stand und auf dem dann ein Supermarkt gebaut werden sollte. Aber die Proble- 38 Ebd., S. 131 ff. 39 Ebd., S. 134. 40 Grauert (1995), S. 174. 41 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 132. 42 Ebd., S. 134. 43 Ebd., S. 135. 44 Ebd., S. 138. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 191 matik des Kapitalismus ändert nichts daran, dass der Sozialismus im Buch der Weltgeschichte nur noch „eine ausgerissene Seite“ ist. 45 In der 4. Szene, der Titel „Antikensaal“ ist eine ironische Anspielung auf Schillers Essay Mannheimer Antikensaal, 46 ergeben sich wiederum aus intertextuellen Bezügen verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Im Zentrum steht die Figur des Arbeiters, der, auf seine Schaufel gestützt, sein „eigenes Denkmal“ darstellt. Er steht in einem ohrenbetäubenden Lärm auf einer Rollbahn, umgeben von „Halden, Schrotthaufen“. 47 Der Arbeiter, eine Symbolfigur der frühen Stücke V. Brauns, der Träger der sozialistischen Utopie, hat sich überlebt und gehört in ein Museum, in den Antikensaal. 48 Eine Frau tritt auf, „so daß die Handlung beginnen könnte, falls sie nicht schon geendet hat.“ Sie hat geendet. Eine Rückkehr zum Leben, das die Frau repräsentiert, ist nicht mehr möglich. Er „schreitet über sie weg an sein wahnwitziges Werk.“ Seine Arbeit war und ist der „Wahnsinn zu dem er verurteilt ist.“ Nun ist er der „Gestrafte“. 49 Er ist plötzlich nutzlos geworden und entmannt sich wie Lenz’ Hofmeister. Die blutige Szene hat mythische Konnotationen, die bis zur Entmannung des Uranos durch Kronos zurückreichen. 50 Die Beurteilung der Iphigenie in Freiheit, eines inhaltlich wie formal extremen Textes, ist in der Forschung umstritten und reicht von einer Würdigung der „ästhetischen Kommunikation […] in Brauns Spiel mit Intertexten“ 51 bis zu dessen Kritik als „Zitatenbombardement.“ 52 Das Ende aller Utopien in einer immer absurder werdenden Welt thematisiert auch das in den Jahren 1989 bis 1993 entstandene und in der Erstfassung 1992 in Berlin uraufgeführte Stück Böhmen am Meer. Wir beschränken uns auf die letzte, in Band 10 der Texte in zeitlicher Folge publizierte Fassung. 53 Der seltsame Titel signalisiert, dass auch dieses Stück von der Tendenz zur Verknappung und Verrätselung geprägt ist und die Figuren, eingehüllt in einen anspielungsreichen, intertextuellen Schleier von Zitaten, nicht leicht auf eine feste Ich-Identität festzulegen sind. Die Hauptlinie aber, die Auseinandersetzung mit dem Verlust aller Utopien und die damit verbundene Kritik an Menschen und Verhältnissen, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, wird immer wieder sichtbar. Der Titel bezieht sich auf 45 Ebd., S. 138; 139. 46 Der vollständige Titel lautet: Brief eines reisenden Dänen (Der Antikensaal zu Mann- heim.). In: Schiller (1960), Bd. 5, S. 879. 47 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 141. 48 Grauert (1995), S. 172, Fn. 11 interpretiert den Arbeiter als „Parodie auf Prometheus“. Vgl. auch Preußer (2000), S. 388. 49 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 142. 50 Preußer (2000), S. 384: „Brauns Figur bildet hier Uranos und Chronos in einer Person ab.“ 51 Grauert (1995), S. 193. 52 Preußer (2000), S. 390. 53 Die früheren Fassungen untersucht Wienold (2004), S. 227-237. 192 Wolfgang Düsing Shakespeares The Winter’s Tale und Ingeborg Bachmanns Gedicht Böhmen liegt am Meer. In The Winter’s Tale liegt Böhmen in der Tat am Meer und jeder, der seine Küste erreicht, wird gerettet. 54 Es geht in den Erinnerungen Pavels, eines Tschechen, um den Prager Frühling und den Einmarsch der Truppen der Sowjetunion, die den Versuch in der ČSSR einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, zerstörten. Das Stück ist in neun Szenen gegliedert. Dazu kommt eine nicht nummerierte „ZUGEHÖRIGE SZENE“, die in einem Traum des Autors die Quintessenz des Stückes umschreibt: […] ich kannte doch etwas Wildes, Regelloses in meinen Regungen, das keine Form annehmen wollte, eine Freiheit, die aus einer festen Tiefe kam […], es gab keine Lösung für mich, aber die Ungewissheit, wie es ausgehen würde, hatte nichts Lähmendes, das Licht des Tags [,] die zerbrochenen Türen, und das uns nicht Denkbare, das Gefürchtete, wir könnten es leben. 55 Ein Satz, der in seiner Widersprüchlichkeit, in seiner Tendenz, jede Festlegung wieder in Frage zu stellen, doch Räume öffnet, die in eine Zukunft führen könnten. Aber das Zentrum des Stückes, vor allem die 6. Szene, ist von diesem Hoffnungsschimmer weit entfernt. In einer dramatischen Abrechnung wirft Pavel dem russischen Freund Michail den sowjetischen Einmarsch, die Ermordung von Widerstandskämpfern und die Zerstörung einer großen Hoffnung vor. Pavels Kritik an den Amerikanern, vertreten durch Bardolf, seinen anderen Freund, ist ebenso scharf. Die skrupellose Ausnutzung der Armut anderer Völker, die mit Geld gekauft werden, ist unverzeihlich. Das Geld hat auch die Freundschaft zwischen den beiden Männern zerstört. Bardolf wollte Julia, Pavels Frau, bestechen. Pavel ist nicht der Vater ihres Kindes. Im Chaos der Geschichte gibt es keine Sieger und keiner überlebt ohne Schuld. Michail und Bardolf sind beide gezeichnet. Michail ist ein Alkoholiker und Bardolf, der mit Giftfabriken sein Geld verdient hat, ist unheilbar krank. Das nächtliche Gespräch zwischen Pavel, Bardolf und Michail ist ein resigniertes Sprechen ins Leere von drei Männern, die am Ende angekommen sind und illusionslos feststellen müssen, dass alles umsonst war. Michael und Bardolf haben ihren sicheren Tod vor Augen. Pavel muss zugeben, dass auch er als Opfer nicht ohne Schuld ist. In Anspielung auf den Titel einer Werfel-Novelle bekennt er: „nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“. Dazu kommt eine weitere Schuld, deren Wurzeln tief in die Ge- 54 Neumann (1982), S. 84-91. Ingeborg Bachmanns Gedicht stammt aus dem Jahr 1964, wurde aber erst nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 veröffentlicht. 55 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 95 f. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 193 schichte der abendländischen Kultur und ihr von der Technik beherrschtes Denken hinabreichen. Es geht um die skrupellose Ausbeutung der Natur. Michail bemerkt dazu: „Wenn wir uns gleich versöhnten, die Natur bleibt ausgeschlossen.“ 56 Ein Symptom der Naturzerstörung ist die Algenpest, die den Strand von Böhmen in eine grüne, klebrige Masse verwandelt hat. Der Schluss des Stückes gehört der zerstörten Natur, die mit einem Meeressturm alles hinwegfegt, wobei Brauns Denken in Widersprüchen durchaus die Möglichkeit offen lässt, in dem Sturm auch reinigende und erneuernde Kräfte zu sehen. Braun notiert zu dem Stück in seinem Arbeitsbuch: BÖHMEN AM MEER. die themen sind alle illegitim. michail entschuldigt sich bei pavel für den einmarsch in prag. pavel hat den kommunismus begraben: den ermordeten vater. bardolph verlässt seine giftfabriken. julia sehnt sich in eine freie beziehung […] ihr kind ist nicht pavels kind; wie gehören sie also zusammen? 57 Alle drei sind Schiffbrüchige, gescheitert in den Stürmen der Weltgeschichte, gestrandet in „Böhmen am Meer“, das aber nicht mehr eine rettende Insel ist, wie bei Shakespeare, sondern schwer gezeichnet durch Umweltzerstörung. Immer deutlicher erscheint im Spätwerk V. Brauns neben dem Unheil der Geschichte der problematische Umgang mit der Natur als Wurzel allen Übels. Böhmen am Meer ist Brauns Endspiel. Eine Auseinandersetzung mit verpassten historischen Möglichkeiten. Hierzu sei noch einmal das Arbeitsbuch zitiert: das jahr 68, mit dem pariser mai und dem prager frühling, bedeutete eine wende in unseren biographien; es war eine wendung in den einsamen trotz, in die trauer; von da an datiert der gegentext unserer literatur zum monolog der macht. 58 Die in Brauns Entwicklung sich vollziehende Absage an die Utopie, die noch die früheren Zeitenwende-Dramen bestimmte, hat die Darstellung von Geschichte insgesamt und damit auch die Bauform der Stücke verändert. Eine den Gang der Geschichte ordnende Zielvorstellung, auch wenn sie oft kaum nachzuweisen ist, weicht einem Bild der Geschichte, das nur noch ein zielloses Auf und Ab, ein absurdes Chaos kennt und zu einer avantgardistischen Dramenform führt. Komplizierte intertextuelle Gewebe, Figuren mit unfester Identität, die Austauschbarkeit von Peripherie und Zentrum - all das spiegelt die Krise eines Autors wieder, dem die Geschichte selbst seine Geschichtsdramen in Frage gestellt hat. Als der Autor etwas Abstand gewinnt, wagt er es in einem sehr allgemeinen aber umfassenden Sinn Utopie 56 Ebd., S. 89. 57 Braun (2009), S. 963. 58 Ebd., S. 974. 194 Wolfgang Düsing und Theater dennoch wieder zu verbinden. So schreibt er an das Cottbuser Theater, das seine Iphigenie aufführte: Die Utopie der unschädlichen Arbeit, des Handelns ohne den Teufel, der im Ganzen steckt, wohnt am Horizont, der noch immer die Bühne umschließt, den Spielort des Mehrwissens und Raum des widerständigen Denkens. 59 Zur Typologie der Geschichtsdarstellung im Drama Zeitenwenden, Epochenumbrüche, Krisen, Revolutionen prägen nicht nur viele Stücke Brauns, sie sind seit jeher ein zentrales Thema des Geschichtsdramas. Bei der hier skizzierten Entwicklung in der Darstellung von Geschichte in den Dramen V. Brauns darf jedoch nicht übersehen werden, dass es auch Kontinuitäten gibt, die sein Geschichtsbild und seine Geschichtsdramen von Anfang an prägen und im Verlauf seiner Entwicklung immer deutlicher zutage treten. So grenzt Braun seine materialistische Geschichtsdarstellung und sein Verfahren der „Konstruktion“ unter dem Einfluss Benjamins scharf von der traditionellen, hermeneutisch verfahrenden Darstellung von Geschichte ab: „die ‚rekonstruktion’ in der einfühlung ist einschichtig. die ‚konstruktion’ setzt die ‚destruktion’ voraus.“ Braun leitet seine anti-hermeneutische Ästhetik direkt aus dem historischen Materialismus ab: „der historische materialismus muß das epische element der geschichte preisgeben.“ Daraus ergibt sich eine innere Nähe von Geschichtsdarstellung und Drama. Die Epoche wird „aus der dinghaften ‚kontinuität der geschichte’“ herausgelöst. Das ist ein durchaus gewaltsamer Vorgang, der sich bei der Epochendarstellung fortsetzt: „er sprengt aber auch die homogenität der epoche auf. er durchsetzt sie mit ekrasit, d.i. gegenwart.“ Die Gegenwart ist der Sprengstoff, der in der Vergangenheit Verschüttetes ans Licht holt. Braun notiert dann noch einige historische Grundbegriffe, die geeignet sind, sein Verfahren bei der Darstellung von Geschichte zu erhellen. Unter „katastrophe“ versteht er nicht ein tragisches Unglück, sondern das Versäumnis, „die gelegenheit verpaßt zu haben.“ Der „kritische augenblick“ bedeutet: „der status quo droht erhalten zu bleiben.“ Der „fortschritt“ wird als „erste revolutionäre maßnahme“ bestimmt. 60 Böhmen am Meer ist Pavels Anklage gegen Michail und Bardolf, weil ihr Verhalten in die „Katastrophe“ führte, weil in einem historischen Moment, einem „kritischen Augenblick“ eine Chance von historischer Bedeutung verpasst wurde. Fortschritte, „revolutionäre Maßnahmen“ wurden dadurch verhindert, der „Status quo“ siegte. Hier sich anbietende Interpretationsmöglichkeiten sollen nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen sei abschließend noch der Versuch unternom- 59 Braun (1990-1993), S. 146. 60 Braun (2009), S. 783 f. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 195 men, eine Typologie möglicher Darstellungsweisen von Epochenumbrüchen zu skizzieren, um dadurch Brauns Geschichtsdramen in einen größeren Rahmen einordnen zu können. Mit Nietzsche lassen sich drei Einstellungen zur Geschichte unterscheiden. In seinem Essay Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, der zweiten seiner insgesamt vier Unzeitgemäßen Betrachtungen, geht es um die Frage, wann die Beziehung zur Geschichte das Leben fördert und wann Geschichte lähmend wirken kann. Der Mensch kann sich auf Geschichte erstens als „Tätiger und Strebender“, zweitens als „Bewahrender und Verehrender“ und drittens als „Leidender und der Befreiung Bedürftiger“ beziehen. Der „Dreiheit von Beziehungen“ entsprechen drei verschiedene Geschichtsbilder. Nietzsche nennt sie „antiquarisch“, „kritisch“ und „monumentalisch“. 61 Die drei Möglichkeiten des Verhältnisses zur Geschichte sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern in der Struktur unseres Zeitverständnisses verankert. 62 Bei einem „antiquarischen“ Verhältnis zur Geschichte dominiert die Vergangenheit, bei einer „kritischen“ Distanzierung von der Geschichte dominieren die Anforderungen der Gegenwart. Ein „monumentalisches“ Verhältnis zu historischen Ereignissen sieht in ihnen einen Ansporn für die Zukunft. Im Geschichtsdrama lassen sich ebenfalls drei Varianten der Darstellung von Geschichte unterscheiden. Nietzsche hat selbst zur Übertragung seines Modells auf das Geschichtsdrama angeregt, indem er als Beispiel für die monumentalische Geschichtsdarstellung auf Schiller verwies. 63 Der Don Carlos ist ein Beispiel für eine „monumentalische“ Geschichtsdarstellung. „Das kühne Traumbild eines neuen Staates“ 64 beflügelt Marquis Posa und Don Carlos und führt zu gewagten Unternehmungen. Das Scheitern aller Pläne, noch mehr aber Schillers eigene Interpretation in den Briefen über Don Carlos dokumentieren jedoch, dass der Autor die „monumentalische“ oder heroische Perspektive der Geschichtsdarstellung durch eine „kritische“ ergänzt. Das führt zu einer weiteren Überlegung, die hier wenigstens angedeutet sei, dass nämlich die drei genannten Perspektiven, die sich durch ihr Verhältnis zur Zeit, gegliedert nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden, nicht isoliert gesehen werden dürfen. Wie Zukunft nicht ohne Vergangenheit und Gegenwart gedacht werden kann, so kann man auch im Drama immer nur von einer dominierenden Perspektive sprechen, die beiden anderen bleiben präsent, aber im Hintergrund. 61 Nietzsche ( 1966), S. 219. Zum Folgenden vgl. Düsing (1999), S. 73-91. 62 Den Zusammenhang der von Nietzsche dargestellten Möglichkeiten unseres Verhältnisses zur Geschichte mit unserem Zeitverständnis hat Heidegger (1960), S. 396 f. nachgewiesen. 63 Nietzsche (1966), S. 219. 64 Don Carlos, IV, 21; V. 4278. Schiller (1960), Bd. 2, S. 173. 196 Wolfgang Düsing Ein eindrucksvolles Beispiel für die rückwärtsgewandte, von Nietzsche „antiquarisch“ genannte Haltung ist Goethes Götz von Berlichingen, ein Drama, das für viele das erste moderne Geschichtsdrama der deutschen Literatur darstellt. Die Epoche des Ritters Götz von Berlichingen umfasst die Konflikte zwischen dem mittelalterlichen Lehnswesen des Rittertums auf der einen und den Territorialfürsten und den modernen Städten mit ihrem aufstrebenden Bürgertum auf der anderen Seite. Es ist die Zeitenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit, die auch in den Bauernaufständen lebendig wird. Goethe schreibt dazu in Dichtung und Wahrheit: „Nachdem ich im Götz von Berlichingen das Symbol einer bedeutenden Weltepoche nach meiner Art abgespiegelt hatte, sah ich mich [...]“ - es geht um die Vorbereitungen zum Egmont - „[...] nach einem ähnlichen Wendepunkt der Staatengeschichte sorgfältig um.“ 65 Nicht die Darstellung der Zeitenwende im Götz von Berlichingen wurde kritisiert, sondern die Perspektive, die alle Wertungen bedingt. Marx nannte Götz einen „miserablen Kerl“, 66 dessen Zeit längst abgelaufen sei und der von Goethe zu Unrecht verklärt werde. Die Kritik von Marx und Engels an Goethes Götz macht - gleichgültig, ob berechtigt oder nicht darauf aufmerksam, dass Figuren, die bei einer Zeitenwende eine bedeutende Rolle spielen, mit Blumenberg könnte man sie als „Limesfiguren“ bezeichnen, 67 vom Geschichtsverständnis des Autors in besonderem Maße geprägt sind. Wenn die Epochenwende aus der Perspektive der Vergangenheit gestaltet wird, ist der Blick rückwärts gewandt. Der Protagonist kämpft einen verzweifelten Kampf gegen die neu heraufkommende Epoche, wie Goethes Götz oder noch extremer Grillparzers Kaiser Rudolf im Bruderzwist in Habsburg. Eine rückwärts gewandte Sehnsucht, eine konservative Utopie, die zukünftiges Unheil ahnt und die Zeit anhalten möchte, prägt die Haltung. Die Vergangenheit kann auch aus der Perspektive einer belasteten Gegenwart kritisch dargestellt werden. Büchners Kampf gegen die soziale Misere und alle Formen von Unterdrückung in der Epoche des Vormärz schärft seinen Blick für die verpassten Möglichkeiten der französischen Revolution. Dantons Tod ist so im Sinne Nietzsches ein Beispiel für eine „kritische“ Geschichtsdarstellung. Wenn man abschließend die hier behandelten Stücke Brauns Revue passieren lässt und fragt, wie hier Zeitenwende und Epochenumbrüche gestaltet werden, welche Perspektive dominiert, dann lässt sich eine Entwicklung beobachten, die zu immer komplexeren Darstellungsweisen führt. Da in den früheren Stücken wie Lenins Tod die Utopie einer freien, klassenlosen Gesellschaft als Ziel der Geschichte vorausgesetzt wird, erscheinen Figuren, die im Kampf für dieses Ziel scheitern, in heroischer Perspektive, wobei jedoch 65 Goethe (1960), S. 170. 66 Hinderer (1974) , S. 38. 67 Blumenberg (1982), S. 21. „Endlich ein Deutschland. Wieder, verdammt, ein Staat.“ 197 durch Brauns dialektische Darstellungsweise, die jede Position mit einer Gegenposition, jedes Nein mit einem Ja konfrontiert, die „heroische“ Perspektive durch eine „kritische“ relativiert wird. In den späteren Dramen, wie zum Beispiel in Dmitri, entfaltet das „Rad der Geschichte“ eine bedrohliche Eigendynamik. Die immer stärker werdende kritische Perspektive wird jedoch nach wie vor durch eine auf die Zukunft gerichtete Perspektive durchkreuzt, etwa wenn Beobachter aus dem 20. Jahrhundert auftauchen und über den Einzug des falschen Demetrius in Moskau lachen, weil es sich aus ihrer Sicht um erledigte Vergangenheit handelt. Mit der Wende gehört jede Art von politischer Utopie endgültig der Vergangenheit an. Die sozialistische Utopie gilt nun, wie es in Böhmen am Meer heißt als „größter Witz der Weltgeschichte“. 68 Damit dominiert die kritische, gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es entstehen sehr komplexe Texte, die selten aufgeführt werden, weil sie als vieldeutige Reaktionen auf eine schwierige Situation nicht nur alles hinterfragen, sondern auch die traditionelle dramatische Form in den kritischen Auflösungsprozess einbeziehen und mit ihr radikal experimentieren. V. Braun flüchtet nach dem Ende aller Utopien nicht in eine „antiquarische“, rückwärtsgewandte Haltung, die eine untergegangene DDR verklärt. Nicht übersehen sollte man aber, dass eine Zukunftsperspektive im weitesten Sinne für Braun weiter besteht. Ein utopisches Element gehört, wie schon einmal zitiert, zum „Horizont der Bühne“, die dadurch zu einem „Ort des Mehrwissens“ und des „widerständigen Denkens“ wird, 69 das mit der Kunst, mit der produktiven Phantasie untrennbar verbunden ist. Literaturverzeichnis Blumenberg, H.: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Frankfurt a.M. 1982. Braun, V.: Texte in zeitlicher Folge. Halle, Leipzig 1990-1993. --: Werktage 1. Arbeitsbuch 1977-1989. Frankfurt a. M. 2009. Dürrenmatt, F.: Theater. Essays, Gedichte und Reden. In: T. Bodmer in Zusammenarbeit mit dem Autor (Hg.), Werkausgabe in dreißig Bänden, Bd. 24. Zürich 1985. Düsing, W.: „Klassisches und modernes Geschichtsdrama. Schillers Demetrius und V. Brauns Dmitri“. In: Ders. (Hg.), Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis V. Braun. Tübingen, Basel 1998, S. 225-243. --: „Nietzsches Abhandlung ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben’ und die Poetik des Geschichtsdramas“. In: M. Bobinac (Hg.), Literatur im Wandel. Fest- schrift für V. Žmegač. Zagreb 1999, S. 73-91. Erikson, E.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M. 1973. Goethe, J.W.: Dichtung und Wahrheit. In: L. Blumenthal, W. Loos, E. Trunz (Hgg.), Goethes Werke. Bd. 10: Autobiographische Schriften II. Hamburg 1960. --: Goethes Briefe. Hg. K. R. Mandelkow. Hamburg 1964. 68 Braun (1990-1993), Bd. 10, S. 92 69 Ebd., S. 146. Vgl. Anm. 58. 198 Wolfgang Düsing Grauert, W.: Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Würzburg 1995. Haas, B.: Theater der Wende - Wendetheater. Würzburg 2004. Heidegger, M.: Sein und Zeit. Tübingen 1960. Hinderer, W. (Hg.): Sickingen-Debatte. Darmstadt, Neuwied 1974. Lukács, G.: „Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus“. In: Werke. Bd. 4. Berlin, Neuwied 1971, S. 457-603. Neumann, P. H.: „Ingeborg Bachmanns Böhmisches Manifest“. In: W. Hinck (Hg.), Gedichte und Interpretationen. Bd. 6: Gegenwart. Stuttgart 1982, S. 84-91. Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden. Hg. K. Schlechta. Bd. 1. München 1966. Preußer, H.-P.: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln, Weimar, Wien 2000. Profitlich, U.: Volker Braun. Studien zu seinem dramatischen und erzählerischen Werk. München 1985. Schiller, F.: Sämtliche Werke. 5 Bde. Hg. G. Fricke, H. G. Göpfert. München 1960. Wienold, G.: „V. Braun, Böhmen am Meer: Gedruckte Fassungen und einige Lesarten“. In: R. Jucker (Hg.),Volker Braun in Perspective. Amsterdam, New York 2004, S. 227-237. Henry Thorau Zwischen Euphorie, Repression und Depression - Politisches Theater in Brasilien von den 1950er bis zu den 1970er Jahren Mit „Wendezeiten und Epochenumbrüchen“ verbinden sich im Falle Brasiliens und des brasilianischen Theaters zwei historische Zäsuren: Beginn und Ende der Diktatur. Somit stellt sich die Frage: Wie hat sich das Theater in der links-politischen Aufbruchstimmung Mitte, Ende der 1950er Jahre artikuliert, wie hat es während der Militärherrschaft (1964-1984) Widerstand geleistet? Wie hat das Theater sich mit der jüngsten Vergangenheit nach Ende der Diktatur im Zeitraum von etwa 1978-1984 auseinandergesetzt? Schon daran, dass diese sich überschneiden, wird deutlich, dass die zweite Zäsur, die politische Öffnung (Abertura) nur allmählich und nicht von einem Tag auf den andern erfolgte, so dass man beim politischen Theater in Brasilien nur schwer einen klaren Trennungsstrich ziehen kann zwischen der Zeit der Diktatur und dem Beginn der nach ihrem Ende einsetzenden Redemokratisierung: zwischen „Innerer Emigration“ und Exil, dem Verstummen, dem Verschlüsseln während der Diktatur und der Vergangenheitsbewältigung nach Ende der Diktatur. Um die vielen Facetten der Auseinandersetzung mit den finsteren Zeiten der Diktatur der 1960er und 70er Jahre in Brasilien nachvollziehen zu können, ist daher ein Blick auf die damalige Geschichte und Politik des größten Landes auf dem lateinamerikanischen Kontinent unerlässlich. Wie in den anderen Ländern Lateinamerikas, wie bei anderen Völkern mit kolonialer Vorgeschichte, beginnt ein eigenständiges Theater in Brasilien, das sich nicht mehr an Modellen des Mutterlandes Portugal orientiert, zuallererst im Zeichen der nationalen Identitätssuche, in der Dialektik von Abhängigkeit und Entwicklung, Zentrum und Peripherie, Revolution und Independência, als Ringen um kulturelle Selbstbestimmung. Dass das Nationale einen anderen Stellenwert als in den großen europäischen Kulturen hat, erklärt sich vor allem aus der Geschichte der Befreiung von den Entdeckern und Eroberern der „Ersten Welt“, den descobridores und conquistadores. Galten in der Vergangenheit Portugal, die Niederlande, Spanien und Großbritannien als die imperialistischen Ausbeuter, so waren es später, in marxistischer Diktion, die „US-Monopole“. Dieser vor allem von der brasilianischen Linken damals lautstark vertretene wirtschaftliche Entwicklungs- Nationalismus hatte sein Feindbild in den USA. Von einem stark ausgepräg- 200 Henry Thorau ten linken Nationalismus, „nacionalismo de esquerda“, sprechen daher brasilianische Politikwie Literaturwissenschaftler, auch das ist ein grundlegender Unterschied zu europäischen Kulturen - unserer zum Beispiel, in der Nationalismus mit reaktionärer Gesinnung, dumpfer Rechtslastigkeit assoziiert wird. „Tupi or not tupi, that is the question“ Der Nationalismus als Forderung nach Rückbesinnung auf das Eigene durchzieht die brasilianische Kulturgeschichte, von Oswald de Andrades Menschenfressermanifest, dem Manifesto Antropófago von 1928, bis hin zum Teatro de Arena mit seinem Programm, ausschließlich brasilianische Realität auf die Bühne zu bringen und seiner „Nationalisierung“ der Klassiker, zum Tropicalismo, zur Bossa Nova (Kubitschek, o presidente Bossanova), zum Cinema Novo. Die Semana de Arte Moderna, 1922 zur Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Brasiliens in S-o Paulo veranstaltet, hatte in diesem Sinn das Signal zum Aufbruch gegeben. Die großen Modernisten Mário de Andrade und Oswald de Andrade forderten in Werken und Manifesten die Neu-Entdeckung der eigenen Kultur: „Tupi or not tupi, that is the question“, deklarierte Oswald de Andrade, auf das Tupi, eine Sprache indianischer Ureinwohner Brasiliens anspielend, 1928 in seinem Manifesto Antropófago, und: „A nossa independência ainda n-o foi proclamada“ (Unsere Unabhängigkeit wurde bis heute nicht ausgerufen). 1 So stand das Theater, wie die gesamte Kultur und Politik, von Anfang an im Zeichen der nationalen Selbstbehauptung. Dazu muss man sich den historischen Kontext vergegenwärtigen: 1822 hatte Brasilien die Unabhängigkeit vom Mutterland, der „Metropole“ Portugal, errungen, 1888 war durch die Lei Aurea die Sklaverei abgeschafft, 1889 die Republik ausgerufen worden. Das Jahr 1930 hatte das Ende der República Velha gebracht. 1937 hatte Getúlio Vargas nach dem Vorbild von António de Oliveira Salazar (1929/ 1932) den Estado Novo errichtet. Mit seiner Machtübernahme begann die Entwicklung Brasiliens zur einer staatlich gelenkten Industrialisierung, die auch unter den folgenden Präsidenten mehr oder weniger stark ausgeprägte nationalistische Akzente aufwies. 1945 wurde Vargas gestürzt, kam jedoch als gewählter Präsident 1951 wieder an die Macht. Nun, in seiner zweiten Präsidentschaft (1951-54), praktizierte er einen nationalistischen Linkskurs. 1951 legte er einen Gesetzentwurf vor, mit dem Ziel, das Erdöl unter staatliche Kontrolle zu bringen. Unter der Devise 1 Andrade (1982), S. 47 und 54. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 201 „O petróleo é nosso“ (Das Öl gehört uns) 2 fand landesweit eine Kampagne unter Beteiligung von Nationalisten aller Schattierungen (und auch der Kommunisten) statt, die zum Widerstand gegen die großen ausländischen Konzerne aufrief. Am 3. Oktober 1953 wurde Petrobrás gegründet, damit sicherte sich der Staat das Erdölmonopol. Im April 1954 legte Vargas dem Kongress das Gründungsprojekt der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Eletrobrás vor, um die Stromversorgung der Kontrolle der US-amerikanischen und kanadischen Konzerne zu entziehen. Der Zeitraum, in dem explizit politisches Theater in Brasilien entsteht, das sind die 1950er Jahre, und das sind die Jahre der nationalistischen Aufbruchstimmung der Ära Juscelino Kubitschek. Im Zeichen der brasilidade setzte in den 1950er Jahren, getragen von der nationalbewegten Euphorie, die Bewegung für ein „nationales Theater“ ein, als Gegenentwurf zum damals führenden Teatro Brasileiro de Comédia (TBC), Brasiliens erstem modernen professionellen Theater, dem vor allem sein internationales Repertoire als „Kulturkolonialismus“ vorgehalten wurde. Gefordert wurde eine nationale Bühnenkunst (express-o brasileira), bis hin zu Sprache und Gestik, eine nationale Dramatik (dramaturgia nacional), die sich an der brasilianischen Gegenwartsrealität Brasiliens orientieren sollte. Dieses Theater - teatro empenhado oder comprometido, womit eine Entsprechung zu Sartres théâtre engagé gemeint war -, verstand sich als sozialkritisches Theater, nicht im Zeichen sozialen Mitleids, sondern des Klassenkampfes, und zugleich als antikolonialistisch und antiimperialistisch, für nationale Autonomie, gegen die Unterdrückungs- und Ausbeutungsversuche des übermächtigen Auslands. 3 Am dezidiertesten vertrat diese Forderungen das Teatro de Arena in S-o Paulo mit Augusto Boal, Gianfrancesco Guarnieri und Oduvaldo Vianna Filho, das erste Theater in Brasilien, das seinen politischen Auftrag formulierte. Hier liegt auch für die brasilianische Theaterwissenschaft der Beginn des explizit politischen Theaters. In seinem Bekenntnis zu den Kategorien der realistischen Widerspiegelung, Parteilichkeit, Volkstümlichkeit und Volksverbundenheit verwies das Teatro de Arena auf eine brasilianische Variante des Sozialistischen Realismus, bis hin zur Auffassung vom Theater als Instrument des Klassenkampfes. „Teatro é uma arma! “ - „Theater ist Waffe! “ verkündete Augusto Boal, Friedrich Wolfs Definition von 1927 aufnehmend. Mit der Uraufführung von Eles n-o usam black-tie (dtsch. Sie tragen keinen Smokingschlips), dem zweiten Stück des 23jährigen Gianfrancesco Guarnieri am 22. Februar 1958, stand das junge Theaterkollektiv erstmals im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nie zuvor, darin war sich die Kritik einig, 2 Burns (1993), S. 374. 3 Diese Problematik steht im Mittelpunkt des Heftes 24 Teatro de Arena (1978) der vom Serviço Nacional de Teatro edierten Schriftenreihe Dionysos. 202 Henry Thorau sei das Thema Stadt, Industrialisierung und Ausbeutung so genau gezeichnet worden. Es sei das erste brasilianische Theaterstück über die Welt der Arbeit, mit dem Streik werde zum ersten Mal ein politisches Thema zur Diskussion gestellt, zum ersten Mal stand als Protagonist ein Arbeiter auf der Bühne. Guarnieris Stück, das an die im Brasilien der 1920er und 30er Jahre beliebte Milieustudie anzuknüpfen schien, wobei es, vom italienischen Neorealismus jener Jahre beeinflusst, Sentimentalität und Komik verband, war damals, 1958, gerade durch die bewusst klassenkämpferische Aussage, die klare Parteinahme für die Unterprivilegierten, die über pittoreske Elendsschilderung hinausging, einzigartig: der Durchbruch eines sich als national und zugleich politisch verstehenden Theaters. Die Mitglieder des Theaterkollektivs schrieben gemeinsam Stücke über die brasilianische Alltagswirklichkeit. Die Abwendung vom ausländischen Theater wurde zum Programm erhoben. Für diese erste Phase in der Entwicklung des Teatro de Arena (1958-1961) wurde der Begriff nacionalismo crítico 4 geprägt. Bei seinem Amtsantritt hatte Präsident Juscelino Kubitschek „50 Jahre Fortschritt in 5 Jahren“ (Cinqüenta Anos em Cinco) 5 versprochen, und in der Tat erlebte Brasilien im Zeitraum 1956-1961 durch Kubitscheks Politik des Entwicklungsnationalismus (desenvolvimentismo nacionalista) ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Die Industrialisierungsziele, die er bei Amtsantritt 1956 in seinem Programa de Metas gesetzt hatte, konnten mit Hilfe des Auslandskapitals in hohem Maße erreicht werden. Gegen Ende der Ära Kubitschek zeichnete sich jedoch bereits deutlich eine kritische Wirtschaftslage ab. Eine unausgeglichene Handelsbilanz, hohe Verschuldung (vor allem für den Bau der neuen Hauptstadt Brasília, begonnen 1957, eingeweiht am 21. April 1960), Preissteigerung, Inflation, eine nur geringfügige Anhebung der Löhne im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten führten zu sozialen Spannungen. Durch wachsende Radikalität (die sich Anfang der 60er Jahre noch verstärkte) zeichnete sich die Studentenbewegung aus, vor allem ihr Zentralorgan UNE (Uni-o Nacional dos Estudantes), die neben der Reform des Unterrichtswesens den ‚antiimperialistischen Kampf‘ zum Ziel ihrer Kampagnen machte. US-Vizepräsident Richard Nixon, der im August 1958 Brasilien besuchte, wurde von den Studenten mit Protestkundgebungen empfangen. Am 31. Januar 1961 fand in Brasília die Amtseinführung von Jánio Quadros statt, der mit 44 Jahren der jüngste Präsident Brasiliens wurde. Er war vier Monate und vier Tage älter als John F. Kennedy, der elf Tage zuvor, am 20. Januar 1961, als jüngster Präsident der USA vereidigt worden war. Bereits im Februar 1961 verkündete der neue Präsident Brasiliens eine „un- 4 Alves de Lima (1978), S. 45. 5 Maranh-o (1981), S. 54. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 203 abhängige Außenpolitik“. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges bemühte sich die Regierung Quadros um Wiederherstellung der (1947 abgebrochenen) diplomatischen Beziehungen zur UdSSR und um Anbahnung von diplomatischen Kontakten und Handelsbeziehungen zur Volksrepublik China und zu den europäischen Ostblockstaaten. Darüber hinaus bekundete die Regierung Quadros dem unabhängigen Algerien und den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt ihre Solidarität und eröffnete Botschaften in den neuen afrikanischen Staaten. Damit betrieb Quadros eine weniger USAfreundliche Politik als alle brasilianischen Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach der missglückten Schweinebucht-Invasion vom 17. April 1961, die den Prestigeverlust der USA in Lateinamerika zur Folge hatte, schloss Quadros sich nicht dem US-Boykott gegen Kuba an. Brasilien enthielt sich auch der Stimme, als 1962 Kuba aus der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) ausgeschlossen wurde. Am 19. August 1961 verlieh Quadros dem kubanischen Wirtschaftsminister Che Guevara den höchsten brasilianischen Zivilorden. Mit solchen Aktionen trug Quadros zur großen Verunsicherung in mächtigen, konservativen Kreisen bei, die schließlich der Militärdiktatur den Weg ebnete. Am 25. August 1961 trat Jânio Quadros nach knapp sieben Monaten überraschend zurück, während Vizepräsident Goulart gerade zu Besuch in der Volksrepublik China (! ) weilte. Gegen die verfassungsgemäße Nachfolge des Vizepräsidenten Jo-o („Jango“) Goulart als Präsident der Republik hatten von Anfang an die höheren Offiziere opponiert. Goulart galt, obwohl reicher Großgrundbesitzer, als Kommunistenfreund. Wie alle Präsidenten vor ihm sah Goulart sich zu einer Wirtschaftspolitik gezwungen, die zur Erlangung von Auslandsdarlehen auf Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds angewiesen war, was im Innern jedoch durch notwendig unpopuläre Stabilisierungsmaßnahmen als nationale Selbstentwürdigung ausgelegt wurde. Konzessionen an nationalistische Kräfte des Inlands, populistische, demagogische Beruhigungsmaßnahmen hatten sofort Misstrauen und Kreditstopp vonseiten der USA und des IWF zur Folge. Diese ablehnende Haltung zog wiederum wachsenden Antiimperialismus im Inland nach sich. So kam es immer wieder zur paradoxen Situation, dass ein Präsident von den Konservativen und Rechten als Kommunist verteufelt und zugleich von den Linken des Ausverkaufs des Vaterlands beschuldigt wurde. „Erziehung zur Freiheit“ als Regierungsprogramm Goulart entschied sich ab Mitte 1963 für eine radikalnationalistische Linie, die sich auf Strukturreformen (reformas de base) konzentrierte, vor allem auf die Landfrage. Er versuchte seine Ziele einer „nationalen Befreiung“ - Be- 204 Henry Thorau schränkung der Gewinnabflüsse ins Ausland, Agrarreform, Einführung des aktiven Wahlrechts für Analphabeten, des passiven Wahlrechts auch für Soldaten und Unteroffiziere - durch Mobilisierung der Volksmassen (der Gewerkschafter, linken Studenten und Intellektuellen) zu verwirklichen. Bereits 1962 hatte Goulart zur Koordinierung und Planung der Bodenreform die SUPRA (Superintendência da Reforma Agrária) gegründet, und er hatte Landarbeiterorganisationen legalen Status gewährt, was zu einer breiten Gewerkschaftsbewegung auf dem Land führte. 1964 nahm er ein landesweites Programm zur Erwachsenen-Alphabetisierung in Angriff, den Plano Nacional de Alfabetizaç-o, der auf der von Paulo Freire entwickelten „Bewusstseinsbildenden Alphabetisierung“ (Método de alfabetizaç-o conscientizadora) basierte. Freire, der als Begründer der „Pädagogik der Unterdrückten“ (Pedagogia do Oprimido) weltweit berühmt wurde, hatte seine Ideen erstmals im Rahmen der vom Gouverneur des Bundesstaats Recife, Miguel Arraes, gegründeten Volksbildungsbewegung (Movimento de Cultura Popular) erprobt, dem von Freire mitinitiierten Volkserziehungsprogramm unter dem Motto Educar para a liberdade. Kaum zu glauben: ein Regierungsprogramm mit dem Titel „Erziehung zur Freiheit“! Conscientizaç-o lautete das Schlüsselwort dieses ganzen Zeitraumes, „Bewusstseinsbildung“ war seit Anfang der 1960er Jahre das Ziel einer umfassenden aufklärerisch-emanzipatorischen Volkskulturbewegung. Unter diesem Motto entstanden in ganz Brasilien Centros Populares de Cultura (CPCs), in denen sich junge Intellektuelle für die „politische Alphabetisierung“ des „Volkes“ engagierten. Sie wollten teatro de intervenç-o, „eingreifendes Theater“ praktizieren, thematisierten mit kabarettistischen Mitteln aktuelle Probleme der brasilianischen Wirtschaft und Politik. 6 Die Stücke, Farcen und Satiren, wurden auf Uni-Vollversamlungen und Gewerkschaftsabenden aufgeführt, auf Plätzen und auf Lastwagen. In dem Maße jedoch, wie die Centros Populares de Cultura ihr Theater auf die Straße trugen, gewann es - auch formal - an Radikalität, wobei sich der Schwerpunkt immer stärker auf politische Agitation verlagerte, theatergeschichtlich in der Nachfolge des europäischen Agitprop 6 Selbst über komplizierte Themen wie die Entstehung des Mehrwerts sollte das „Volk“ aufgeklärt und belehrt werden: A mais-valia vai acabar, seu Edgar hieß das Lehr(stück)- Musical über die Marxistische Mehrwerttheorie, mit dem 1961 das erste CPC eröffnet wurde, ein Titel wie bei uns in den 68er Jahren „Revolution ist machbar, Herr Nachbar“. Noch unter dem Eindruck von Tagesereignissen entwickelten die CPC-Theatergruppen kurze Stücke, sogenannte autos, zu Themen internationaler Politik und zur Situation im Inland. Auto do bloqueio furado nahm zu der von Brasilien verweigerten Kuba-Blockade Stellung, Auto do tutu tá no fim (Der schwarze-Bohnenbrei ist alle! ) zur wachsenden Inflation und Lebensmittelteuerung, mit Auto dos cassetetes wurde sofort auf den Schlagstockeinsatz der Polizei bei Aufführungen des Auto do tutu tá no fim reagiert, die satirische Revue Auto dos 99%, gespielt im März 1962, behandelte die Ausbildungssituation an den Universitäten. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 205 der 20er Jahre (Béla Balázs und Asja Lacis). Von der emanzipatorischen Basisarbeit bewegte sich das Engagement der jungen Intellektuellen immer mehr in Richtung auf politisches Eingreifen hin. 7 Wie auch die Vorstellung von der unmittelbaren politischen Wirkung des Theaters ist diese Entwicklung im gesellschaftspolitischen Kontext jener Jahre zu sehen. Die nationalistische Mobilisierung der Bevölkerung entwickelte eine Eigendynamik, nicht zuletzt durch die zunehmende Radikalisierung der Linken, von der ein Teil sich schließlich offen für die Revolution aussprach. Man könnte sogar sagen: Die idealistischen jungen Intellektuellen waren fest entschlossen die Regierung links zu überholen, um sie zu rascherem und härterem Vorgehen zu zwingen! Sie hatten die Rechnung ohne das Militär gemacht. Am 31. März 1964 begannen die Putschistenheere der brasilianischen Bundesstaaten ihren Marsch auf Rio de Janeiro. Noch bevor der brasilianische Präsident Jo-o Goulart am 4. April 1964 nach Uruguay floh, gratulierte Präsident Lyndon B. Johnson dem Interims-Präsidenten (Ranieri Mazzilli) zu den erfolgreichen politischen und militärischen Maßnahmen zur „Rettung der Nation“. 21 lange Jahre (1964-1985) blieben die Militärs an der Macht, von 1964 bis 1985 lösten fünf Vier-Sterne-Generäle einander als Präsidenten ab, entschieden über die Geschicke Brasiliens mit ihrem Wahlspruch „Segurança e desenvolvimento“ (Sicherheit und Entwicklung). Wohlgemerkt: die ‚innere Sicherheit‘ stand an erster Stelle. Das Militär an der Macht Zum neuen Präsidenten wurde am 11. April 1964 der Generalstabschef des Heeres, General Castello Branco, gewählt. Die Herrschaft der Streitkräfte im Staat fand ihren Ausdruck nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, in der Errichtung eines faschistischen Regimes. Die fünf Generäle waren Karrieremilitärs, keine Demagogen, keine charismatischen caudillos. Der Staatsstreich von 1964 beseitigte den Populismus zugunsten eines anonymen, allgegenwärtigen, allmächtigen militarisierten Staatsapparats, des Sistema. Unter autoritärem Vorzeichen regierte von nun an eine militärischtechnokratische Führungsgruppe, ein Bündnis von Militär und zivilen Wirtschafts- und Planungsexperten, die, loyal und effizient, die Zielsetzungen der Regierung unter Ausschaltung von Politikern, Gewerkschaften und Wählerschaft durchführten, abgesichert durch das Militär, das über Polizei 7 Anliegen der Volkskulturzentren war, so erinnert sich der Dichter Ferreira Gullar, Kultur zu einem Instrument gesellschaftlicher Bewusstseinsbildung zu machen und zugleich Präsident Goularts antiimperialistische Basisreformen zu unterstützen. Vgl. Ferreira Gullar (1980), S. 45. 206 Henry Thorau und militärische Sicherheitsdienste für Ruhe und Ordnung sorgte. „Sicherheit“ war für die Militärs Voraussetzung für „Entwicklung“, auf diese Weise setzten sie die Industrialisierungspolitik der 1950er Jahre fort. Das Hauptaugenmerk der Politik aller Militärregierungen galt vor allem der Bekämpfung des „inneren Feindes“, der Subversion im eigenen Land, der systematischen Ausschaltung aller potentiellen politischen Gegner in Brasilien. Die Rechtsgrundlage dafür wurde im Zeitraum 1964 bis 1983 durch 25 Atos institucionais (Institutionelle Akte) und zwei neue Verfassungen (von 1967 und 1969) sowie durch 35 Zusatzakte (Atos complementares) und über 2000 Decretos lei (Gesetzeserlasse) geschaffen. Der Staatsstreich von 1964 hatte die Linke unvorbereitet getroffen. Vor dem Hintergrund des ganz Lateinamerika erfassenden Kampfes gegen den „US-Imperialismus“ - nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 - und der fehlgeschlagenen Schweinebucht-Invasion der USA vom 17. April 1961, die zu einer Solidarisierung lateinamerikanischer Staaten gegen die USA geführt hatte - schien die Revolution in Brasilien in greifbarer Nähe. Das Theater hatte innerhalb der nationalen Reformpolitik eine wichtige Rolle beansprucht: Ensembles aus S-o Paulo, wie das Teatro de Arena, hatten Tourneen ins Landesinnere unternommen, vor Bauern und Arbeitern gespielt. Vor allem das aus der oppositionellen Studentenbewegung vor dem Hintergrund der Kubanischen Revolution geborene brasilianische Protesttheater, das auf die Straße ging, hatte bewusst auf die Vorbereitung einer nationalen Revolution hingearbeitet. „As classes populares v-o chegar ao poder logo, logo“ (Schon morgen kommen die Massen an die Macht) - erinnerte sich ein Studentenführer an die euphorischen Illusionen von damals. 8 Die Volkskulturzentren CPCs, die sich in den knapp drei Jahren ihres Bestehens über ganz Brasilien verbreitet hatten, wurden zugleich mit der Nationalen Studentenvereinigung, der UNE, verboten. 9 Nach Errichtung der Militärherrschaft wich die Euphorie einer tiefen Unzufriedenheit mit der eigenen Ohnmacht. Galt es vorher den Sieg vorzubereiten, so nun den Widerstand. Das Teatro de Arena in S-o Paulo hatte sich mit Augusto Boal und Gianfrancesco Guarnieri entschieden politische Aufklärungsarbeit zu leisten, indem es „Werke des internationalen Volkstheaters aller Zeiten“ spielte. „Nacionalizaç-o dos clássicos“ lautete nun das Motto des Arena. Der universale Charakter der Klassiker sollte sich daran erweisen, wie sie sich auf konkrete brasilianische Verhältnisse anwenden ließen. Was konnten Shakespeare, Macchiavelli, Lope de Vega, Molière zu den Themen Bodenreform, Gerechtigkeit, Korruption und Heuchelei sagen? Wie hatte doch Er- 8 C.E. Martins (1980), S. 81. 9 Auch Paulo Freire, der Begründer der Pedagogia da Libertaç-o, die der conscientizaç-o- Bewegung der CPCs zugrundelag, kam ins Gefängnis und musste emigrieren. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 207 win Piscator geschrieben: „Unter Umständen kann man an den Stücken auch Veränderungen vornehmen… auf diese Weise kann ein großer Teil der Weltliteratur der revolutionären proletarischen Sache dienstbar gemacht werden, ebenso wie die gesamte Weltgeschichte zur politischen Propagierung des Klassenkampfgedankens benutzt wurde“. 10 Das Teatro de Arena war der festen Überzeugung, englische, französische, italienische und spanische Klassiker seien für die Zensurbehörde tabu. Dies sollte sich als Irrtum herausstellen. Zunächst aber meinten die engagierten Theatermacher, sie könnten so weitermachen wie bisher: ironisch, parodistisch, provozierend, leicht verfremdend, belehrend. Auch das war ein Irrtum. Kurz nach dem Staatsstreich hatten sich Mitglieder der gerade verbotenen Volkskulturzentren CPCs zusammengeschlossen und noch im selben Jahr, im Dezember 1964, in Rio de Janeiro die Show Opini-o präsentiert, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einklagte. Der Refrain „Mas eu n-o mudo de opini-o“ (Ich lasse mir nicht den Mund verbieten - ich bleib’ bei meiner Meinung, egal, was auch passiert) bildete das Leitmotiv der literarisch-musikalischen Collage aus dokumentarischem Material, Konsum- und Elendsstatistiken, personalityshow und zündenden Rhythmen der neuen Música Popular Brasileira (MPB), spanischen und kubanischen Revolutionsgesängen, Folk- und Protestsongs. (Piscators Revue Roter Rummel von 1924 fungierte wohl als Vorbild.) Es war die Geburtsstunde des Theaters Grupo Opini-o. Am 21. April 1965 kam als zweite Produktion des Grupo Opini-o die Show Liberdade, Liberdade auf die Bühne, ebenfalls eine Collage aus Text und Musik. Sie ließ die Menschheitsgeschichte als Geschichte der Unterdrückung und des Widerstands Revue passieren, vom Tod des Sokrates über die Französische Revolution und die Inconfidência Mineira, den ersten, gescheiterten, brasilianischen Befreiungsversuch vom Mutterland Portugal, bis hin zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und zum Spanischen Bürgerkrieg, (unter anderem auch mit Szenenausschnitten aus Georg Büchners Dantons Tod und Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches). Die Gruppe vertraute darauf, dass das Publikum Parallelen zur eigenen Gegenwart unter dem Militärregime ziehen würde. Der Abend endete mit dem von einem Schauspieler auf leerer Bühne in einem Spot gesprochenen Wort: „Resisto“ (Ich leiste Widerstand). Von der Zensurbehörde stark gekürzt, blieb Liberade, Liberdade immerhin ein Jahr auf dem Spielplan und ging auf Tournee durch ganz Brasilien. Ein Akt der Selbstbehauptung, der Partizipations- und Protestkultur in Zeiten wachsenden politischen Drucks - doch Kritiker (nicht nur aus der konservativen Ecke) sahen in den von Intellektuellen bejubelten Shows eine eitle Selbstinszenierung der esquerda festiva, der „intelligentzia“, die ihre integre 10 Piscator (1920-1921), I S. 68. 208 Henry Thorau linke Gesinnung feierte, in der naiven Hoffnung, dass sich ein Regime durch Meinungskundgebungen stürzen ließe. 11 „Ich werde nicht die Aufführung revolutionsfeindlicher 12 Stücke wie Opini-o oder Liberdade, Liberdade gestatten. Ich werde keine umstürzlerische oder kommunistische Propaganda auf der Bühne zulassen.“ 13 Mit diesen Worten übernahm Oberst Jônatas Cárdia im Februar l965 die Leitung der Zensurabteilung im Justizministerium in Rio de Janeiro. Von diesem Zeitpunkt an ist die Geschichte des brasilianischen Theaters nicht mehr zu trennen von der Geschichte der Zensur. So sahen sich die Theatermacher gezwungen, zu noch verdeckteren Formen des Protests zu greifen. Brechtsche List war nun gefragt. Wie schrieb doch Karl Kraus: Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten! Brasilien sei ein unglückliches Land, daher brauche es Helden, sagte Augusto Boal, Brecht-Galileis Spruch abwandelnd: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“. Diesmal versuchten es die Theatermacher mit einer „Meinungsumfrage“ unter Kollegen: „O que você pensa do Brasil de hoje? “ (Was denken Sie über das heutige Brasilien? ) Das Ergebnis - eine Folge von sechs Mini-Dramen mit musikalischen Zwischenspielen u.a. von Caetano Veloso im Stil der in Brasilien sehr beliebten alten Nummernrevue - wurde am 5. Juni 1968 unter dem Titel Primeira Feira Paulista de Opini-o (Erster freier Meinungsmarkt von S-o Paulo) vorgestellt und trotz der von der Zensur verlangten 71 Streichungen ungekürzt gespielt - als „Akt zivilen Ungehorsams“ („ato de desobediência civil“), wie die berühmte Schauspielerin Cacilda Becker, damals Präsidentin der Comiss-o Estadual de Teatro, vor Aufgehen des Vorhangs verkündete. 14 Eines hatten die sechs inhaltlich und formal unterschiedlichen Stücke gemeinsam: harsche Kritik an der aktuellen brasilianischen Realität. Wie in Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches folgten die Szenen scheinbar unverbunden aufeinander: Ein tragikomisches Dokumentarstück um einen Bauern, der als einziger im Dorf lesen und schreiben kann und deshalb von Vertretern der von Präsident Goulart dekretierten Landreform zum Sprecher der Dorfgemeinschaft gemacht wird, kurz darauf, nach Regierungswechsel, von Vertretern des neuen Regimes aus dem gleichen 11 Von einem „ simulacro (! ) de militância, com ruidosas e exaltadas manifestações, de resto um tanto limitadas“, einer Vorspiegelung von Militanz mit lärmenden und exaltierten, wenngleich ein wenig beschränkten Kundgebungen, spricht Heloisa Buarque de Hollanda (1980), S. 31. 12 Zu verstehen als „regierungsfeindlich“. Die Militärs legitimierten ihren Putsch als „Revolution“. 13 „N-o permitirei a apresentaç-o de peças anti-revolucionárias, como Opini-o ou Liberdade, Liberdade. N-o tolerarei propaganda subversiva ou comunista em espetáculos.“ Vgl. Pacheco (1980), S. 76 f. 14 Michalski (1979), S. 38. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 209 Grund als „subversives Element“ verhaftet wird (O Líder von Lauro César Muniz); der Praxisschock eines jungen Landarztes angesichts der dörflichen Realität (A Receita von Jorge Andrade); ein Sketch von Gianfrancesco Guarnieri, in dem ein Hippie als „dekadenter Pazifist“ („pacifista decadente“) verspottet wird (Animália)… Als aber Augusto Boal in seinem „Meinungsmarkt“-Beitrag, einer Collage aus Texten von Fidel Castro und Che Guevara mit dem Titel A lua muito pequena e A caminhada perigosa (Abnehmender Mond und Gefährlicher Marsch), den knapp ein Jahr zuvor (am 8. Oktober 1967) im bolivianischen Urwald getöteten Che „unser Vorbild“ nannte und das Ensemble mit erhobener Faust und Gewehren über die Bühne marschierte, konnte dies nur als Aufruf zum bewaffneten Kampf der Guerilla gelten. Die Show wird von einem Tag auf den anderen abgesetzt. Der erste „Markt der freien Meinung“ war auch der letzte. Die Guerilla war aber inzwischen zur Realität geworden. 1968 begann die Stadtguerilla - 70% der ALN-Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung ALN (Aç-o Libertadora Nacional) waren Studenten in S-o Paulo - mit Anschlägen (auszuüben), besonders im Industriedreieck Rio de Janeiro, S-o Paulo und Belo Horizonte. „Von 1968 bis Mitte 1979 soll die [brasilianische Stadt-]Guerilla 225 Banküberfälle, 71 andere Überfälle und 63 Bombenanschläge verübt haben… Sieben Flugzeugentführungen nach Kuba fanden zwischen 1969 und 1970 statt.“ 15 Am 15. März 1967 hatte General Costa e Silva die Nachfolge des Generals Castello Branco angetreten. Er löste den Kongress auf und unterzeichnete am 13. Dezember 1968 den Institutionellen Akt Nr. 5, die „Revolution in der Revolution“. Der neue Verfassungsakt, in Wirklichkeit ein Ermächtigungsgesetz, stattete den Präsidenten der Republik mit nahezu unbeschränkten Vollmachten aus und verbot praktisch jegliche politische Betätigung. Guerillaterror und Staatsterror schaukelten sich gegenseitig hoch. Der Major der Bundeswehr von Westernhagen und der CIA-Berater Charles Chandler fielen Anschlägen zum Opfer. Am 4. September 1969, während der Semana da Pátria (Woche des Vaterlands) zum Unabhängigkeitstag Brasiliens, entführten Guerilleros der Aç-o Libertadora Nacional (ALN) und des MR- 8 (Revolutionäre Bewegung 8. Oktober, benannt nach dem Todesdatum von Che Guevara), den Botschafter der USA, Charles Burke Elbrick, um die Freilassung politischer Gefangener zu erzwingen. Am 9. September wurden für „revolutionären oder subversiven Kampf und für psychologischen Krieg“ die in Brasilien 1891 abgeschaffte Todesstrafe und lebenslängliche Haft wiedereingeführt. Am 28. September 1969 verkündete die Junta ein „Gesetz der Nationalen Sicherheit“. Am 30. Oktober 1969 wird Emílio Garrastazu Médici Präsident (bis 15. 3. 1974). Unter seiner 15 Zoller (2000), S. 284. 210 Henry Thorau Regierung erreichte die Zahl der Gefolterten und Ermordeten den höchsten Stand. 1970 wurde der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Brasilien, Ehrenfried von Holleben, entführt. Als letzten kidnappte die Guerilla am 8. Dezember 1971 den Schweizer Konsul Enrico Bucher, um ihn gegen 70 politische Gefangene auszutauschen. Der neuerliche wirtschaftliche Boom, die grandiosen Projekte wie die Transamazônica oder das (von Eletrobrás gebaute) Wasserkraftwerk am Oberlauf des Paraná, das größte Wasserkraftwerk der Welt - ein Defekt in diesem Werk führte am 11. 1. 2009 zu einem Stromausfall in 800 brasilianischen Städten -, gigantische Unternehmen wie der staatliche Bergbaukomplex Rio Doce, größter Exporteur von Eisenerz, und nicht zuletzt die Tatsache, dass Brasilien 1970 in Mexiko zum dritten Mal die Fußballweltmeisterschaft gewann, hatten eine nationalistische Euphorie zur Folge, die sich in Slogans äußerte wie „Ninguém segura este País! “ (Keiner bremst dies Land) oder „Brasil, ame-o ou deixe-o! “ (Brasilien, lieb’ es oder verlass es! ) ein Spruch, der bewusst an das US-amerikanische „Love it or leave it“ anknüpfte. Aber obwohl das brasilianische Wirtschaftswunder (milagre brasileiro) im Ausland Bewunderung erregte, hatte Brasilien unter der Regierung Médici ein ähnliches Image wie Spanien unter Franco, Portugal unter Salazar und seinem Nachfolger Marcelo Caetano oder Griechenland unter der Obristenjunta 1967-74. Neben dem „offiziellen“ Polizeiterror agierten die Todesschwadronen - Brasilien war in dieser Hinsicht ein Trendsetter -, erstmals wurde in Brasilien auch das Verschwinden von Personen praktiziert; beides wurde dann von den anderen lateinamerikanischen Diktaturen kopiert! 16 Die Welt protestierte gegen die Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, von Jean-Paul Sartre bis Papst Paul VI. und Edward Kennedy. Doch noch bis in die Anfänge der sogenannten Abertura, der politischen Öffnung, gingen die politischen Verbrechen weiter. Politisches Theater, wie es das Teatro de Arena verstand, als didaktischaufklärerische Mobilisierung der Zuschauer, hörte auf zu existieren. Als letzte Neuinszenierung hatte das Teatro de Arena 1970 Brechts Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (unter dem Titel A resistível ascens-o de Arturo Ui) herausgebracht. Mit Augusto Boals Verhaftung und Emigration 1971, löste sich das Ensemble auf. Das Theater, zwischen 1964 und 1968 exponiertester, wenn nicht gar einziger Ort explizit gesellschaftskritischer Meinungsäußerung, verstummte. Theater galt als Staatsfeind Nr. 1, so Jan Michalski, von dem die Metapher der „geknebelten Bühne“ (O palco amordaçado) stammt. Fast alle Autoren, die seit 1940 das brasilianische Theater prägten, wurden von der Bühne ver- 16 Vgl. Leacock (1990), S. 298. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 211 bannt, von Nelson Rodrigues und Jorge Andrade bis Ariano Suassuna und Alfredo Dias Gomes, aber auch ausländische Dramatiker, von Sophokles bis Gorki, Brecht und Rolf Hochhuth. Untersagt wurden nicht nur Produktionen, denen eine politische, also subversive Aussage unterstellt werden konnte. Ein Verbot für Stücke und Aufführungen wurde ausgesprochen, wann immer die Zensurbehörde eine Infragestellung oder Gefährdung der „nationalen Sicherheit“ und der „christlichen abendländischen Kultur“, also einen Verstoß gegen Anstand und gute Sitten sah, und das galt grundsätzlich für jegliches avantgardistisches Experiment. Die Theater waren sowohl einer Vorzensur der Stücktexte wie einer Aufführungszensur unterworfen. Stück und Aufführung konnten für befristete oder unbefristete Zeit für eine Stadt, einen Bundesstaat oder gar für ganz Brasilien („todo o território nacional“) verboten werden, wobei die Generalproben jeweils von Lokalbehörden abgenommen wurden. Die Begutachtung der Stücke erfolgte ab l965 zentral in Brasília. Das bedeutete, dass eine Aufführung am Tag vor der Premiere, also nach monatelanger Probenarbeit, verboten werden konnte. Somit waren die Aktivitäten vieler brasilianischer Theater bereits über den Behördenweg lahmgelegt worden, und damit indirekt auch die Kreativität der Autoren, denn immer weniger Theater wollten das Risiko eingehen, zweifach zensiert zu werden. Dramatiker, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner gerieten in eine kafkaeske Situation. Zur offiziellen Zensur, die ihre Entscheidungskriterien nicht offenlegte, kam die Bedrohung durch Polizei und paramilitärische Organisationen wie dem „Kommando zur Kommunistenhatz“ CCC (Comando de Caça aos Comunistas). Die Übergriffe und Willkürakte wurden immer zahlreicher. Der Leiter des Departamento da Polícia Federal, General Juvêncio Façanha, warnte Film- und Theaterleute l967 öffentlich: „Ou vocês mudam, ou acabam“, mit anderen Worten: „Entweder Ihr macht Schluß, oder wir machen Schluß mit euch! “ 17 Was damit in einem Land mit Todesschwadronen gemeint war, kann man sich vorstellen. Die Theatermacher veranstalteten wiederholt Protestaktionen gegen die Handhabung der Zensur. Im August 1965 wandten sich 1500 Künstler und Intellektuelle in einem offenen Brief an Präsident Castello Branco, noch im selben Jahr appellierten die Theaterschaffenden von Rio de Janeiro in einem Telegramm an die UN-Menschenrechts-Kommission, in dem sie auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Brasilien aufmerksam machten. Im Januar 1967 und 1968 wurde zu einer landesweiten Protestwoche gegen die Zensur aufgerufen. Es hat nichts genützt. „Keine Kunst wurde dermaßen massakriert wie das Theater“ („Nenhuma arte foi t-o massacrada como o teatro“), sagte mir in einem Interview der Dramatiker Plínio Marcos. 17 Vgl. Pacheco (1980), S. 81. 212 Henry Thorau Das brasilianische Theater habe wie durch ein Wunder überlebt, schreibt Fernando Peixoto in seinem Aufsatz mit dem symbolträchtigen Titel „Wie aus den Flammen Signale aussenden“ („Como transmitir sinais dentro das chamas“) aus dem Jahr 1972. 18 Während des „fünfzehnjährigen Krieges zwischen Theater und Zensur“ von 1964 bis 1979, so der Kritiker Yan Michalski, wurden über 500 Filme, mehrere tausend Kompositionen, selbst reine Instrumentalstücke (Chico Buarque de Hollanda) und über 400 Theaterstücke verboten. 19 Viele dieser Anfang bis Mitte des Jahrzehnts entstandenen Stücke kamen erst mit der allmählichen Redemokratisierung auf die Bühne, zur gleichen Zeit mit neuen Werken, die sich mit der Diktatur auseinanderzusetzen begannen. Während und dank der Abertura entstandene Stücke drangen also gleichzeitig mit über zehn Jahre alten „Schubladenstücken“ ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Trotz der Zensur- und Repressionsmaßnahmen, die während der Regierung Médici ein vorher nie gekanntes Ausmaß erreichten, verließen, anders als in Chile und Argentinien, nur wenige Theatermacher das Land: die bekanntesten sind Augusto Boal und Zé Celso, beide gingen ins Exil, nachdem sie 1971 und 1974 persönlich mit den Foltergefängnissen der Diktatur Bekanntschaft gemacht hatten. Boal wurde aufgrund internationaler Proteste freigelassen, kehrte aber erst 1986 nach Brasilien zurück. So gibt es eigentlich nur zwei brasilianische Exilstücke, beide von Augusto Boal: Torquemada, Uraufführung 1972, und Murro em ponta de faca (dtsch. Mit der Faust ins offene Messer), Uraufführung 1978. Für die im Lande verbliebenen Autoren und Ensembles brach eine Zeit der inneren Emigration an. Eine „Generation der schweigenden Dramatiker“ nannte Oduvaldo Vianna Filho seine Generation. Und, müsste man hinzufügen, eine Generation der schweigenden Regisseure. Die Zensur war nun, vor allem seit 1968, übermächtig. Wer im Lande blieb und den Mut hatte weiter zu schreiben, weiter zu inszenieren, übte sich - auch szenisch - in der Sklavensprache, bemühte, um die Zensur zu umgehen, Metaphern und Symbole, und immer wieder die Geschichte als verfremdetes Spiegelbild der Gegenwart. Oduvaldo Vianna Filhos Stück Papa Highirte z. B., das die brasilianischen Machtkämpfe jener Jahre in ein lateinamerikanisches Phantasieland verlegt, in den Exil-Palast eines gestürzten populistischen Präsidenten, der im Auftrag der neuen Machthaber ermordet werden soll, gewann den ersten Preis des 1968 erstmals vom Nationalen Theaterinstitut Serviço Nacional de 18 Dieser Aufsatz konnte allerdings nur in Frankreich und in den USA veröffentlich werden und wurde erst 1979 in den Sammelband Teatro em pedaços (Theater in Scherben) aufgenommen. 19 Vgl. Michalski (1979), S. 44. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 213 Teatro (SNT) ausgeschriebenen Dramenwettbewerbs und wurde sofort von der (dem Justizministerium unterstellten) Zensurbehörde verboten. Prämiiert und verboten: Eine Sonderkategorie Auch die Zensur lernte dazu, eingereichte Manuskripte, sogar prämiierte Stücke gingen auf dem Behördenweg verloren, waren unauffindbar, Anträge konnten daher nicht bearbeitet werden, Premieren nicht stattfinden. Der Theaterwissenschaftler Yan Michalski erkannte darin eine „categoria paradoxal“: Die „unaufgeführten Preisträger“ (Os premiados inéditos). 20 Prämiiert, verboten und nach der politischen Öffnung kein einziges Mal aufgeführt: À prova de fogo (Feuerprobe) von Consuelo de Castro. Bereits 1968 analysierte die damals neunzehnjährige Soziologiestudentin in ihrem dramatischen Erstling das Scheitern der Studentenbewegung aus der Innensicht einer Beteiligten. Die Handlung des Stücks setzt zu dem Zeitpunkt ein, als das Ultimatum der Polizei abläuft, das seit dreiundzwanzig Tagen besetzte Universitätsgebäude zu räumen, und die ersten Panzerfahrzeuge anrücken. Die Studenten diskutieren immer noch über ihren ideologischen Standort und politische Prioritäten, ob die Erziehungsreform vorrangig sei oder die Agrarreform, wie die wahre Definition des Klassenkampfes laute, ob er gewaltlose Aktionen oder doch eher Militanz erfordere. Studentinnen problematisieren am Frühstückstisch die aus ihren unterschiedlichen Ursprungsfamilien herrührenden Beziehungsprobleme, der demagogische Studentenführer proletarischer Herkunft erobert mit seiner eloquenten Rhetorik bürgerliche Bastionen, also die aus gutbürgerlichem Hause stammenden Freundinnen der verhassten konservativen Kommilitonen. Ein besorgter Industriellen-Vater schickt seinen Chauffeur los, um das aufmüpfige Töchterchen aus dem Schlamassel zu holen, von einer gerechteren Welt träumende Naivlinge stürzen sich in die „Demo“ und damit in den Tod. À prova de fogo spielt mit den Versatzstücken des dialektischen Diskussionsstücks, der Polit-Farce, des Dokumentartheaters und fordert - die Handlung verläuft simultan in allen Räumen der Philosophischen Fakultät - eine an Piscator erinnernde Etagenbühne, mit Einblendungen und Einspielungen von Nachrichtenmeldungen jener Zeit. Das Teatro Oficina wollte das Stück (in der Regie José Celsos) uraufführen, doch noch während der Leseproben wurde es zur Aufführung verboten und durfte auch nicht publiziert werden. Zugleich löste À prova de fogo durch die selbstkritische Sicht bei Studenten 20 Michalski (1983). 214 Henry Thorau heftige Kritik aus, als Verrat an der gemeinsamen Sache. Die Autorin wurde im Grunde also zweimal abgestraft! 21 Schulterror steht als Metapher für das Diktaturtrauma eines ganzen Volkes im Monodrama („monólogo tragicômico“) des damals vierundzwanzigjährigen Roberto Athayde Apareceu a Margarida aus dem Jahr 1973. „Hier sind alle zwangsweise, ob sie wollen oder nicht. […] Ihr habt hier überhaupt keine Rechte. […] Dona Margarida möchte euch helfen, damit ihr nie etwas sagt. Euch helfen, damit ihr nie etwas Eigenes sagt. Und so bereitet euch Dona Margarida auf das Leben vor. Denn im Leben sagt niemand etwas.“ 22 Der allmächtigen psychopathischen Lehrerin Margarida ausgeliefert, werden die Schüler einer regelrechten Persönlichkeitszertrümmerung unterzogen, die Unterrichtsstunde wird zur Gehirnwäsche, vergleichbar der Psychofolter politischer Häftlinge oder Mitglieder bestimmter Sekten, die die völlige Auslöschung und Unterwerfung des Individuums zum Ziel haben. Es verwundert nicht, dass Apareceu a Margarida sofort für ganz Brasilien verboten und erst 1978 freigegeben wurde. 23 Im Vergleich zu diesem Stück erscheine Peter Handkes Publikumsbeschimpfung als „Teekränzchenlektüre“, schrieb Reinhard Stumm 1976 in Theater heute über die deutschsprachige Erstaufführung in Basel. 24 Am Vorabend der Uraufführung, im Mai l975, ereilte das Verbot Plínio Marcos’ Stück O abajur lilás (Der lila Lampenschirm) - die Uraufführung wurde erst 1985 nachgeholt. Als politische Parabel wollte er sein in der gewalttätigen „Müllkippen“-Sprache der Ausgestoßenen geschriebenes, im Bordell spielendes Stück verstanden wissen: Die Auflehnung der Prostituierten gegen ihren Zuhälter, ihre Folterung durch dessen Leibwächter und ihre schließliche Unterwerfung sollte die selbstzerstörerische Gewalt der Unterdrückten, die uneingeschränkte Willkür der Macht und das vergebliche 21 Das Verbot erfolgte noch Ende desselben Jahres, vor Verkündung des AI-5. Unter dem Titel A invas-o dos bárbaros belegte das Stück 1975, nach Vianna Filhos Rasga coraç-o, den zweiten Platz beim Dramenwettbewerb des SNT und wurde erneut verboten. Erst 1977 erschien in S-o Paulo eine Buchausgabe. 22 Zitiert aus dem deutschen Theatertextbuch Auftritt Dona Margarida, in der Übersetzung von Christiane und Curt Meyer-Clason (1974), S. 1, 26, 31. „Porque afinal de contas nenhum de vocês está aqui por livre vontade. […] Vocês aqui n-o tem direito a nada. […] D. Margarida quer ajudar vocês a n-o dizerem nada. Ajudar vocês a n-o terem nada de próprio para dizer. É assim que D. Margarida prepara vocês para a vida. Porque na vida ninguém diz nada.“ Athayde (19773), S. 20, 42, 49. 23 Die Aufführung in Rio de Janeiro sei „em pleno sucesso“ verboten worden, schreibt Michalski in O teatro sob press-o (1985), S. 56. Erst 1978 fand die „remontagem“ statt. Apareceu a Margarida wurde Roberto Athaydes (*1949) bekanntestes Stück, das auch in Europa und den USA zahlreiche Aufführungen erlebte. Bereits 1974 spielte Annie Girardot die Rolle der Margarida am Pariser Théâtre Montparnasse, 1978 fand in der Regie des Autors die New Yorker Premiere mit Estelle Parsons unter dem Titel Miss Margaridas’s Way statt. 24 Theater heute 3 (1976), S. 50. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 215 Aufbegehren gegen den Staat drastisch vor Augen führen. Diese recht klischeehafte Analyse von Unterdrückungsmechanismen wurde natürlich von der Zensur verboten (es war Plínio Marcos’ achtzehntes Verbot! ). Die Regierung Médici wurde nicht, wie die radikale Linke gehofft hatte, Opfer ihrer harten Linie, sondern sie übergab die Macht wieder einem General, den als Vertreter der reformistisch-nationalistischen Fraktion geltenden Chef von Petrobrás, General a. D. Ernesto Geisel (1974-79). Obwohl Präsident Geisel unmittelbar nach seinem Amtsantritt am 15. März 1974 eine Entspannungspolitik (política de distens-o oder decompress-o) angekündigt hatte, unterschied sich seine Amtsführung während der ersten zwei Jahre nicht erheblich von der General Médicis. Zwar wurde die Pressezensur gelockert, der Sieg der offiziellen Oppositionspartei MDB im November 1974 respektiert, doch brach der Präsident den Redemokratisierungsversuch ab, als es infolge der Wirtschaftskrise zu verstärkter Politisierung der öffentlichen Meinung kam. Der AI-5 blieb weiterhin in Kraft, der Entzug der politischen Rechte und die Kassation von Mandaten wurden weiterhin praktiziert. Die 1975 aufgehobene Pressezensur wurde jedoch nicht wieder eingeführt. So konnte die Berichterstattung über die Ermordung des Journalisten Vladimir Herzog in einem Verhörbüro in S-o Paulo, am 25. Oktober 1975, einen Sturm öffentlicher Empörung auslösen. Der achtunddreißigjährige Journalist Vladimir Herzog war am 25. Oktober 1975 zum Verhör bei der Heeres- und Polizeibehörde DOI-CODI (Comando Operacional de Defesa Interna) erschienen, um über seine politischen Aktivitäten auszusagen und wurde noch am selben Tag in seiner Zelle tot aufgefunden. Die amtliche Mitteilung sprach von „Selbstmord“. Dank der Abschaffung der Zensur gelangte ein solch schockierender Fall an die Öffentlichkeit und wurde zum Aufbruchsignal für die politische Öffnung, die „abertura política“. 25 Erstmals seit 1968 fanden Massenproteste gegen die Militärdiktatur statt. An der Trauermesse vom 31. Oktober nahmen 10 000 Personen teil, landesweit kam es zu Protestaktionen gegen die Folter. Der Tod des Journalisten Herzog war kein Einzelfall. Nach der politischen Öffnung erschien eine Reihe von Publikationen, die mit Dokumenten und Zeugenaussagen die hohe Zahl der in den 70er Jahren in brasilianischen Gefängnissen umgekommenen Regimegegner und politisch Verdächtigen belegen. Nach einem weiteren ungeklärten „Selbstmord“ in Haft versetzte Präsident Geisel den Oberbefehlshaber des Heeresbereichs in den Ruhestand. Am 27. Oktober 1978 verkündete ein Bundesrichter in S-o Paulo das Urteil im Fall Herzog, das dem Staat die volle Verantwortung für den Tod des Journalisten zuwies. 25 „Pra muitos analistas, foi o ponto de partida do processo de abertura política“ (Aramis Millarch, „Patético discurso político“, in Estado do Paraná, 24.8.1980). 216 Henry Thorau Die Ermordung Vladimir Herzogs war auch der ‚Ponto de partida‘, der „Ausgangspunkt“ für Gianfrancesco Guarnieris gleichnamiges Stück. Die Uraufführung fand am 23. September l976 in der Regie Fernando Peixotos am TAIB in S-o Paulo statt, mit dem Autor in der Rolle des Hirten Dôdo. Die ‚Fábula em um ato‘ ist im Mittelalter angesiedelt, sie handelt vom ehrbaren Schmied, seinem aufrechten jungen Sohn, dem Dichter und Sänger Birdo - in seinem Namen steckt, als Symbol der Freiheit, das englische Wort bird -, der für die Freiheit sterben muss, und dem bösen reichen Herrn, der die gerichtliche Untersuchung verhindern will, weil er in Birdos Ermordung verstrickt ist. Die Geliebte des Ermordeten, Maíra, die Tochter des reichen Mannes, trägt Birdos Kind in sich, metaphorisch zu verstehen als die Saat der Revolution. Maíra selbst durchläuft einen Bewusstwerdungsprozess, dem der Schmied (das „Volk“) am Anfang noch misstraut. Sie ruft schließlich die Dorfbewohner zum Kampf auf. So versucht Guarnieri, die Problematik dieses mit Anspielungen überfrachteten, teilweise in stilisiertem Altportugiesisch geschriebenen Stückes auf eine höhere, allgemeinere Ebene zu heben. In einer großen Klage wird das jahrhundertealte Elend Brasiliens geschildert, werden die großen Probleme wie Unterentwicklung, Hunger, Kindersterblichkeit benannt, an denen sich von jener Zeit her, in der das Stück angesiedelt ist, bis heute nichts geändert habe. Immer wieder durchbricht der Autor die Parabelrealität, so wenn er seinen Helden als einen der jungen Intellektuellen darstellt, die sich in der Volkskulturbewegung des MCP und der CPCs engagierten, um nach der Methode Paulo Freires die Landarbeiter zu „alphabetisieren“. Deutlich wird hier, wie auch in Maíras Appell an das „Volk“, dass Guarnieri immer noch der (links-paternalistischen) Auffassung von der Avantgarderolle des Intellektuellen anhing, der berufen ist, der schweigenden Mehrheit der Ausgebeuteten seine Stimme zu leihen, mehr noch, sie zum Kampf zu mobilisieren. Auf die Frage des Schmiedes, was wirklich geschehen sei, antwortet der Hirte Dôdo, der, wie sein Name andeutet, geistig behindert ist (und also ungestraft die Wahrheit aussprechen darf), alles sei so, wie „sie“ es wollen, alles unter Kontrolle. Das Stück endet mit der amtlichen Feststellung, Birdo habe Selbstmord begangen. Maíra wird gezwungen, ihr Kind abzutreiben. Mit einem hoffnungslosen Lied des Hirten 26 klingt die Parabel aus. In durchsichtiger Tarnung praktiziert der ehemalige Arena-Autor Guarnieri immer noch die in den 1950er Jahren so erfolgreiche didaktisch holzschnitthafte Manier. 27 26 „Como ponto de partida / Tento só sobreviver …“ Guarnieri (1978), S. 268. („Aufbruch / Das heißt einzig Überleben…“). 27 „The play suffers in the lack of gradations between those who are morally good and bad. In a way, it uses the same simplistic formulae as the ‚Teatro Festivo‘ of the 1960’s, as exemplified by A Primeira Feira de Opini-o.“ Schoenbach (1980), S. 48. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 217 Das überzeugendste aus der Reihe von Stücken zum „Caso Herzog“, Patética, stammte von einem damals völlig unbekannten Autor: Jo-o Ribeiro Chaves Neto. Die Handlung spielt auf mehreren verschränkten Ebenen. Ein vor dem Konkurs stehender Zirkus will in seiner Abschiedsvorstellung weder Akrobatiknoch Dressurnummern präsentieren, sondern ein Theaterstück. Dass Szenen oder ganze Akte aus berühmten Theaterstücken in Zirkusaufführungen deklamiert werden, steht zwar in der brasilianischen Tradition, doch die Zirkustruppe will ihr Publikum nicht mit Shakespeare oder einem anderen Klassiker überraschen, sondern mit einem hochaktuellen Text: A verdadeira história de Glauco Horowitz - „Die wahre Geschichte des Glauco Horowitz“, Untertitel Patética. Was die Artisten in zehn kurzen Szenen, Rückblenden, Überblendungen darstellen, gerät zum gefährlichsten Drahtseilakt ihres Lebens. Es ist die Geschichte einer jüdischen Kaufmannsfamilie vom Dritten Reich bis in das Brasilien der 1970er Jahre, von der Flucht aus Jugoslawien vor den Nationalsozialisten, bis zur Ankunft in Rio de Janeiro und dem Aufbau einer neuen Existenz im Land der Zukunft - die Kinder sollen eine bessere Welt erleben. Szenen der Täuschung, der Enttäuschung und der Trauer lösen einander ab. Der Sohn Glauco, inzwischen politisch engagierter Fernsehjournalist, überhört die Warnung seines Schwagers, eines Theaterautors 28 , der Aufforderung zur Aussage vor der politischen Polizei nicht freiwillig nachzukommen - diese Gutgläubigkeit kostet ihn das Leben. Am Ende zerreißt der Theaterautor sein Stück, das er Glauco gegenüber als Beispiel klugen Umgangs mit der Zensur zur Nachahmung empfohlen hatte. 29 Und die Mutter des Opfers erkennt, dass die Realität der neuen Heimat Brasilien sich nicht von der der Nazizeit unterscheidet: „Vielleicht täusche ich mich. Aber mir scheint, dass eure Welt der Welt, aus der ich komme, recht ähnlich ist“. 30 Patética wurde beim VIII Dramenwettbewerb (Concurso de Dramaturgia) des Nationalen Theaterinstituts (Serviço Nacional do Teatro, SNT) zum Stück des Jahres 1976 gewählt, der erste Preis konnte jedoch nicht offiziell bekanntgegeben werden, da der chiffrierte Umschlag, Nr. 143, am Abend vor der Preisverkündung aus dem Archiv des Serviço Nacional de Teatro 28 Der autobiographische Bezug ist deutlich, denn Chaves Neto selbst war mit Herzog verschwägert. Mit selbstironischer Sachlichkeit betont er - als Theaterautor im Stück - dass er, den Anforderungen der Gegenwart entsprechend, Parabeln, Metaphern, Allegorien verwendet, und er rät dem Journalisten, seinem Beispiel zu folgen: „Sabe o que é isto? Uma peça de teatro. Escrita estritamente conforme os padrões da época. Codificada! Emaranhada! Virtual! Porque é assim que tem que ser“. Chaves Neto (1978), S. 40. (Weißt du, was das ist? Ein Theaterstück. Das sich ganz strikt an die Vorgaben seiner Zeit hält. Verschlüsselt! Subtil! Virtuell! Denn so soll es sein.) 29 Dieser Charakterisierung, es handle sich ja „nur“ um ein Theaterstück, entsprach etwa Guarnieris Stück Ponto de partida: als Fabel, als Parabel, durfte es gespielt werden. 30 „Posso estar enganada até. Mas me parece qe o mundo de vocês é muito parecido com aquele de onde eu vim“. Chaves Neto (1978), S. 89. 218 Henry Thorau „von unbekannt“ entwendet worden war. Erst 1978 wurde der Preis nachträglich verliehen - und gleichzeitig das Stück offiziell verboten, erst l980 konnte Patética in S-o Paulo uraufgeführt werden. Die Buchausgabe durfte immerhin 1978 erscheinen, im Vorwort wurde allerdings der Name Vladimir Herzog vermieden! Doch die Rückkehr Brasiliens zur Demokratie hatte begonnen. Einen wichtigen Schritt zur Einlösung des Redemokratisierungs-Versprechens unternahm Geisel mit dem „Juni-Paket“ (pacote de junho) von 1978. Die im September 1978 vom Kongress verabschiedete Verfassungsreform, die im Januar 1979 in Kraft trat, beinhaltete: Abschaffung des AI-5, Aufhebung der Kassations- und Interventionsgewalt der Exekutive, Einschränkung der Sondervollmachten der Regierung gegenüber dem Kongress, Wiedereinführung der Habeas Corpus-Garantie, Aufhebung der Vorzensur für Presse, Funk und Fernsehen, Reform des Nationalen Sicherheitsgesetzes, Abschaffung der Todesstrafe (Oktober 1978). Am 13. Dezember 1978 lief der AI-5 aus, am 29. Dezember hob Präsident Geisel den Verbannungserlass von 1969 auf und erlaubte rund 130 Verbannten, die 1969-70 im Gegenzug für die Freilassung von entführten ausländischen Diplomaten ausgeflogen worden waren, die Heimkehr. Am 15. März 1979 trat General Jo-o Baptista Figueiredo sein Amt an, Brasiliens 29. Präsident und fünfter Staatschef seit der Machtübernahme durch das Militär, der letzte „Generalpräsident“, der 1985 das Amt endgültig einem Zivilisten übergab. Er setzte Präsident Geisels Politik des ideologischen und politischen Pluralismus fort. Am 19. Januar 1979, als er sein Kabinett vorstellte, erklärte der neue Präsident, er wolle „Brasilien in eine Demokratie verwandeln“. In Fortführung der von Ernesto Geisel initiierten Abertura erließ Präsident Figueiredo am 30. August 1979 eine Amnestie für politische Gefangene (die landesweite Bewegung für die Amnestie hatte 1977 begonnen und erreichte einen Höhepunkt mit dem Congresso pela Anistia im Mai 1978) und verfügte die Wiedereinsetzung der ihrer Ämter enthobenen Beamten. Tausende, die nach 1964 und 1968 Brasilien verlassen hatten, kehrten aus dem Exil zurück. Die politische Zensur in den Medien wurde endgültig aufgehoben. Mit der Abertura begann die Rückkehr der Verbannten, unter ihnen die Exilierten Fernando Gabeira, Paulo Freire und Augusto Boal. Zum Fanal der Redemokratisierung wurde das bereits erwähnte, von Augusto Boal im Exil geschriebene Stück Murro em ponta de faca (dtsch. Mit der Faust ins offene Messer, 1980), das am 4. Oktober 1978 in der Regie von Paulo José in S-o Paulo uraufgeführt wurde, zu dem Zeitpunkt, als die Amnestiebewegung das ganze Land erfasst hatte. Im portugiesischen und französischen Exil entstanden, behandelt Murro em ponta de faca das Thema Verfolgung, Flucht und Exil als Tragikomödie. Es schildert die Irrfahrt von sechs Personen durch Lateinamerika und Europa bis zur Rückkehr nach Zwischen Euphorie, Repression und Depression 219 Brasilien, wobei es sowohl die psychischen Beschädigungen durch Flucht und Entwurzelung andeutet als auch, mit einem an Sartres Stück Huis clos erinnernden mitleidlosen Sarkasmus, die Verletzungen, die Menschen einander zufügen, deren Zusammenbleiben allein durch die Umstände erzwungen ist. 31 Schubladenstücke und gut gemeinte Bewältigungsversuche Mit der Abertura kamen auch endlich die verbotenen Stücke ans Licht, auch die „verbotenen prämiierten“. Im September l979, fünf Jahre nach Oduvaldo Vianna Filhos Tod, konnte sein Stück Rasga coraç-o uraufgeführt werden, nachdem es l975 mit dem l. Preis des Dramenwettbewerbs des Serviço Nacional de Teatro ausgezeichnet und sofort verboten worden war. Die Premiere von José Renatos hochsubventionierter Inszenierung am 2l. September l979 im Teatro Guaíra, Curitiba, war recht konventionell. Als postume Ehrung für den früh verstorbenen Autor erlangte sie vor allem Bedeutung als Zeichen für die wiedergewonnene Freiheit, ähnlich wie ein Jahr zuvor die Uraufführung von Augusto Boals Exilstück Murro em ponta de faca in S-o Paulo. Rasga coraç-o erscheint vordergründig als Generationenkonflikt. Doch eigentliches Thema ist das Scheitern der revolutionären Utopien. Und damit war es auch 1979 noch, oder wieder, aktuell. Die in vielen Rückblenden erzählte „linke Geschichte“ aus vier Jahrzehnten (Vianna Filho nennt sie im Untertitel ‚drama brasileiro‘) - die eigentliche Handlung spielt im Jahr l972 - lässt mit Luca, der Naturheilkunde studieren will, um im Landesinnern für die gesundheitliche Betreuung der im Elend lebenden Landbevölkerung zu arbeiten, und seinem Vater, dem alten Kommunisten Custódio Manh-es, genannt Manguari Pistol-o, der dem Sohn mit Hilfe seiner alten Genossen 31 Mit der Faust ins offene Messer erlebte allein in der deutschen Übersetzung von Henry Thorau und Peter Urban über 30 Inszenierungen, die deutschsprachige Erstaufführung fand 1982 beim Steirischen Herbst in Boals Regie statt. Eine französische Version wurde 1979 unter dem Titel Coup de point sur la pointe du couteau in der Regie Augusto Boals im Pariser Théâtre Publique gespielt. Peter Iden schrieb in der Frankfurter Rundschau vom 28. 1. 1983: „In den Szenen bewegen sich sechs Menschen, drei Männer und drei Frauen, auf den Straßen des Exils, auf der Suche nach dem ‚Land ohne Wind‘, in dem sie bleiben könnten, Flüchtlinge. Sie bleiben dabei nicht die, die sie anfangs sind. Je länger die Flucht dauert, um so mehr verändert und zerstört sie die Identität der Fliehenden. […] Eine der Frauen kann mit dem Mann, den sie lieben will, nicht zusammen sein, weil Bilder des Schreckens, Visionen der Verstümmelung des Geliebten, sie unfähig machen, sich ihm zu nähern. Das ist eine Szene, in der Boal den Tragödien Edward Bonds sehr nahe ist: Zärtlichkeit, Liebe — wie können sie wahr werden, mitten im Entsetzen? So viel muß vergessen werden für einen Moment des Glücks, daß die Frau es nicht aushält und das Leben verläßt. Diese Trennung für immer hat Boal in eine der verzweifeltsten Abschiedsszenen des gegenwärtigen Theaters gefaßt“. 220 Henry Thorau eine mit modernsten Apparaturen ausgestattete Großstadtpraxis einrichten will, zwei Lebensanschauungen aufeinanderprallen. Für Luca, den Studenten, der von Yoga und Makrobiotik schwärmt und der Universität den Rücken kehren will, weil er dort nichts fürs Leben lernt, ist Selbstverwirklichung das Ziel. 32 Für den Vater, der sein eigenes Versagen auf den Sohn projiziert, steht, trotz Enttäuschungen und Niederlagen, immer noch der Glaube an den Sieg der Revolution an oberster Stelle. Er sieht sich selbst als Verkörperung der Revolution: „Die Revolution bin ich! “ - „Revoluç-o sou eu! “ 33 Der aus einem kommunistischen Elternhaus stammende Autor 34 stand auf der Seite des alten Kommunisten. Sein Stück, so betont er im nachgelassenen Vorwort, sei eine Huldigung an die „Alte Garde“, der die politische Bewusstwerdung Brasiliens zu verdanken sei. 35 Kein Wunder, dass das Stück zunächst verboten wurde, dann in der Aufbruchseuphorie zwar gewürdigt, aber nicht nachgespielt wurde. Die postume Uraufführung, an der auch der aus dem Exil heimgekehrte Altkommunist Luís Carlos Preste und Augusto Boal teilnahmen, die, wie die Premiere, mit nostalgischen Ovationen bedacht wurden, war politisch gut gemeint und glich eher einem Staatsakt. Chaves Netos Patética, 1980 in der Regie von Celso Nunes uraufgeführt, stieß trotz der hervorragenden Besetzung beim Publikum auf völliges Desinteresse. 36 Diese „Wiedergutmachung“ war zu spät gekommen. Für Dramatiker und auch für Regisseure hieß die Abertura, sich von der Sklavensprache der Vergangenheit befreien zu können. Nur so konnte endlich die offene, d. h. auch unzensierte Auseinandersetzung und Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit beginnen. Die in fernen Zeiten angesiedelte Parabel war nun nicht mehr nötig, auch nicht das Verstecken hinter der Historie, der Griff zur verfremdeten Geschichte, um von da aus den Blick auf die Gegenwart zu wagen. Es war einer der „Alten“, (Alfredo) Dias Gomes, damals einer der großen Männer des brasilianischen Theaters (1922-1999), der es als einer der ersten unternahm, jüngste brasilianische Geschichte exemplarisch aufzuarbeiten. Sein dramatisches Fresko („mural dramático“) Campeões do mundo (1979) (dt. Weltmeister, 1996) wurde am 4. November 1980 in Rio de Janeiro uraufgeführt. Campeões do mundo gilt als erstes Stück, das sich, so der Theaterkritiker Sábato Magaldi, unverschlüsselt und unzensiert mit jüngster politischer 32 „…quero que a vida começa em mim…n-o é revoluç-o política, é revoluç-o de tudo, é outro ser! “ „Ich will, dass das Leben bei mir beginnt… keine politische Revolution, eine umfassende Revolution, ein anderes Sein.“ Vianna Filho (1980), S. 74. 33 Vianna Filho (1980), S. 75. 34 Carmelinda Guimar-es erwähnt in diesem Zusammenhang, dass im Hause des berühmten Dramatikers Oduvaldo Vianna, Vianna Filhos Vater, als einziges Fest der Geburtstag des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei, Luís Carlos Prestes, gefeiert wurde. Guimar-es (1984), S. 17. 35 Vianna (1980), S. 13. 36 Vgl. Michalski (1985), S. 86. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 221 Vergangenheit auseinandersetzte. Fünfzehn Jahre Diktatur, von 1964 bis 1979, werden in einer Geschichte evoziert, die sich auf Fakten stützt und zugleich exemplarisch sein will - die Geschichte einer Botschafterentführung vor dem Hintergrund der Fußballweltmeisterschaft. 37 Das Stück beginnt mit der Rückkehr der Verbannten im Zuge der Amnestie, 1979, und der Wiederbegegnung der „Terroristen“ Ribamar und Tânia, die in zahlreichen Rückblenden ihre Vergangenheit erforschen: Haben wir nicht das Spiel der Diktatur gespielt, haben wir durch unsere subversiven Aktionen nicht noch mehr Gewalt provoziert? Um retrospektive Selbstkritik, um Analyse von Ursachen und Folgen, um die Ethik politischen Verhaltens geht es denn auch vor allem in diesem Drama, das mit der einem lebenden Klassiker gebührenden Achtung aufgenommen wurde. Dennoch ist ihm deutlich anzumerken, dass hier ein „sachfremder“ Autor, Rolf Hochhuth ähnlich, sich prototypischen Personen eines Tabu-Themas bemächtigt hat, dass an den Ereignissen selbst Beteiligte wie Fernando Gabeira (O que é isso, companheiro? 1979; dt. Die Guerilleros sind müde, 1982), Alfredo Syrkis (Os carbonários, 1980) oder Herbert Daniel (Passagem para o próximo sonho, 1982) in ihren autobiografischen Büchern sowohl hinsichtlich der dokumentarischhistorischen Genauigkeit als auch unter politischem Aspekt authentischer und auch differenzierter reflektierten. Dias Gomes wollte in seiner Fakt-Fiktion exemplarisch politische und ethische Themen abhandeln: die Radikalisierung der Studenten in den 60er Jahren, die conscientizaç-o-Bewegung der jungen Intellektuellen, die mit Alphabetisierungskampagnen und Agit-Prop, mit „Theater fürs Volk“ auf LKW-Rampen das Bewusstsein der Massen erreichen wollten. Vergegenwärtigt wurden in Campeões do mundo auch die Endlosdiskussionen über Fernsehen, Fußball und Folklore als Opium fürs Volk, die verspätete Rezeption von Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Schreckensregime und die damit ausgelöste Spaltung der Linken, die Debatte über die Guevara- Debraysche Guerilla-Fokustheorie und die damit verbundene Legitimität des bewaffneten Kampfes, die Eskalation der Gewalt auf beiden Seiten, und natürlich der Terror der Militärdiktatur mit ihrer „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ zur Bekämpfung der Subversion, die unter Präsident Garrastazu Medici (1969-74) zu beispielloser Terroristenjagd ausartete. 37 Brasilien hatte bis dahin dreimal die Fußballweltmeisterschaft gewonnen: 1958, 1962, 1970. Wie der Titel deutlich macht, geht es im Stück auch um die Fußballweltmeisterschaft. Dabei erlaubte sich der Autor die dichterische Freiheit, die Botschafterentführung und das Endspiel zeitlich zusammenfallen zu lassen — denn Brasilien gewann den WM-Titel erst ein Jahr nach der Entführung Elbricks, im Juni 1970. Der Sieg fiel in Wirklichkeit mit der Entführung des deutschen Botschafters Ehrenfried von Holleben zusammen, gegen den die inzwischen verhafteten Entführer Elbricks freigepresst wurden. 222 Henry Thorau Wichtig für ihn sei vor allem zu zeigen, wie der Mensch mit dem System kollidiere, so erklärte Dias Gomes selbst. Dieses Streben nach Verallgemeinerung und politisch-ethischer Diskussion rückt sein Stück in die Nähe existentialistischer Selbstbefragung wie Sartres Morts sans sépulture (1946), unterscheidet Campeões do mundo von plakativ publikumswirksamen Action- Stücken wie etwa Mário Pratas Fábrica de chocolate (1979). Als erster unter den jüngeren Dramatikern setzte Mário Prata (*1946) sich in Fábrica de chocolate (Die Schokoladenfabrik) mit einem der düstersten Kapitel der Diktatur auseinander, allerdings mit weit grobschlächtigeren Mitteln als Dias Gomes. Wie in den Parabeln über den Tod des Journalisten Vladimir Herzog geht es auch in seinem Stück um den Tod eines Häftlings. Die Handlung spielt jedoch in einem deutlich in der Diktaturzeit lokalisierbaren „Folter-Studio“, das einem Sado-Maso-Club gleicht, wo die Beamten und die lesbische Kommandeuse sich gegenseitig die Schuld am Ableben des Opfers in die Schuhe schieben, um den Mord schließlich als Selbstmord darzustellen. Fábrica de chocolate wurde am 7. Dezember l979 im Teatro Ruth Escobar, S-o Paulo, in der Regie des bekannten Filmemachers und Vertreters des Cinema Novo Ruy Guerra uraufgeführt, in Anwesenheit von prominenten Heimkehrern, die wiederum mit standing ovations begrüßt wurden. Pratas Drama war das erste seiner Art, darin liegt auch die eigentliche Leistung des ansonsten recht konventionell gebauten Stücks. Mit Fábrica de chocolate begann die Welle zahlreicher, in seiner Nachfolge schnell produzierter, „Politthriller“, deren Bedeutung und Funktion sich im Ausmalen der Greuel der Vergangenheit erschöpfte. Sie läßt sich auch im brasilianischen Film jener Jahre beobachten. Zu nennen wäre Roberto Farias’ Film Pra frente, Brasil (1982), dessen Titel den Schlachtruf und Refrain der brasilianischen Fußballhymne zitiert. 38 Sehr bald bereiteten die Stücke, die das Grauen der Diktaturjahre schilderten, nur noch reißerischer Vermarktung der Zeitgeschichte den Weg. Eines der international erfolgreichsten Polit-Melodramen über Schicksale unter lateinamerikanischen Diktaturen war bekanntlich der US-Film Missing von Costas-Gavras (1982). Die ernsthafte Auseinandersetzung des Theaters mit der Zeit der Diktatur, die ausführliche (und auch selbstkritische) Analyse der Ursachen des Scheiterns des bewaffneten Kampfes der Guerilla, des Scheiterns revolutionärer Utopien war nach weniger als einem Jahrzehnt abgehakt. Nunmehr erlaubt, vom Staat sogar gefördert, wurden die Inszenierungen von „Schubladenstücken“, die zehn Jahre zuvor brisante Zeitstücke hätten 38 Die Handlung spielt wie in Dias Gomes’ Campeões do mundo während der Fußballweltmeisterschaft 1970 und bebildert die Verschleppung und Folterung eines unpolitischen Bürgers durch die Polizei. Der Film - er war noch 1982 vom Conselho Superior de Censura verboten worden, als unter der Präsidentschaft von General Figueiredo schon die Abertura verkündet worden war - zog eine Reihe weiterer Filme nach sich, die rasch wieder aus den Kinos verschwanden. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 223 sein können, zur Pflichtübung in Demokratie, zur Gedenkstunde, zum Anlass nationaler Ergriffenheit, sogar zum Staatsakt. Nach der Uraufführung bald vor halbleeren Sälen gespielt, verschwanden sie rasch von den Spielplänen, wurden von der neuen Realität als nicht mehr aktuell in den Hintergrund gedrängt, zur Klassik entrückt oder als Dokument der finsteren Jahre im Archiv „Wiedergutmachungsaufführungen“ abgelegt. Nicht die Schubladen waren leer, sondern die „Guerrilheiros waren müde“, um den deutschen Titel von Fernando Gabeiras Autobiografie zu paraphrasieren: die Jahre des Verstummens, der Verschlüsselung hatten die Widerstandskraft aufgezehrt. Es scheint, als sei man sowohl der linken Militanz von gestern als auch der literarischen Aufarbeitung von Schuld und Leid müde. Im brasilianischen Theater zeichnete sich immer deutlicher eine Entwicklung ab, die im Privaten den Widerschein des Politischen suchte, in einer oft zynischen, zugleich aber melancholischen Subjektivität. Diese Tendenz, dieser Rückzug ins Private hatte sich schon bei der in den (letzten) Jahren der Diktatur auftretenden jungen Dramatiker- und Dramatikerinnengeneration abgezeichnet und setzte sich dann fort bis in die 1980er Jahre. „Das Private ist politisch“ - so könnte das Motto einiger damals debütierender jungen Autorinnen und Autoren wie Leilah Assumpç-o, José Vicente, Consuelo de Castro und Isabel Câmara gelautet haben. Yan Michalski sah in den individualistischen, oft autobiografisch getönten Arbeiten dieser um 1969 auftretenden jüngeren Generation eine „nova dramaturgia brasileira dos tempos do sufoco“, eine neue Dramatik der Jahre des Erstickens. 39 Das Private ist politisch Zunehmend artikulierte die nachwachsende Autorengeneration, vor allem die Autorinnengeneration, ihre Frustration und Wut, in der privates Erleben nicht mehr um der allgemeingültigen Botschaft willen zurückdrängt wird. Bezeichnend sind Titel wie Sprich leise, sonst fang ich an zu schreien - Fala baixo sen-o eu grito (1969) von Leilah Assunç-o 40 , später in ihren Sammelband mit dem ebenso aufschlussreichen Titel Da fala ao grito (1977) (Sprich nicht, schreie) aufgenommen. Die Brechung politisch-gesellschaftlicher Zustände im Individuellen prägt auch Maria Adelaide Amarals Zweipersonenstück De braços abertos (1984, dtsch. Mit offenen Armen 1996), ein Rückblick auf die damals jüngste Vergangenheit, so wie sie sich in den Irrungen und Wirrungen eines Paares spiegelt. 39 Michalski (1985), S. 37 40 Die Schreibweise des Autorinnennamens differiert. Die Stückauswahl publizierte die Autorin unter Assunç-o. 224 Henry Thorau Wie Campeões do mundo von Dias Gomes spielt auch Maria Adelaide Amarals Stück nach dem Ende der Diktatur. In Rückblenden wird derselbe Zeitraum wie bei Dias Gomes —1964 bis 1979 — heraufbeschworen, und wie bei Dias Gomes steht die Wiederbegegnung von Mann und Frau im Vordergrund. Doch verhalten sich Gomes und Amarals Stücke zueinander wie Figur und Grund in der Gestaltpsychologie: Während Dias Gomes Fakten und Fiktion zu einem holzschnitthaften dramatischen Fresko der Zeitgeschichte zusammenfügt, in dem, wie ausgeführt, exemplarische Personen, eher Prototypen agieren, scheint bei Maria Adelaide Amaral das Politische zunächst nur den Hintergrund abzugeben. In beiden Dramen dringt Politik ins Private und vergiftet die Liebe: In Campeões do mundo kommt es sehr spät, fast beiläufig zum Sex, es dominiert die Intimität der gemeinsamen politischen Vergangenheit, denn auch im Bett - davor, danach, während(dessen) reden sie über Politik. In Mit offenen Armen ist die Politik - sie wird nur in Nebensätzen gestreift, heruntergespielt -, scheinbar nebensächlich für Mann und Frau, die sich geliebt, verlassen, aus den Augen verloren und nun wiedergefunden haben. Sérgio und Luísa sind, wie die Autorin sagt, zuallererst Individuen, zwei Menschen in ihrer persönlichen Verstrickung, die erst nach langer Zeit imstande sind, ihre Lebenslüge zu erkennen, für die das Leben unspektakulär weiterging trotz der ständigen Präsenz von Angst, Unterdrückung, Verfolgung, Tod. Spät wird ihnen deutlich, was sie sich und einander angetan haben, spät machen sie einen Erkenntnisprozess durch, bei dem sich nach und nach herausschält, wie sehr Geschichte und Politik auf ihr beider Leben eingewirkt hat, mehr noch, dass das Private immer politisch war und ist. Die offene Zweierbeziehung entpuppt sich als Clinch der ungleichen Liebenden: Luísa hatte für ihren Partner, den Durchschnittsintellektuellen Sérgio, der weder lider (Studentenführer) noch im Exil, sondern „nur“ im Gefängnis war, immer nur eine leicht herablassende Zuneigung empfunden. Der encounter enthüllt sich jenseits des in Strindbergsche Schwärze getauchten Geschlechterkampfs und Konversationstons à la Woody Allen als Klassenkampf zwischen einem Redakteur, der sich emporgearbeitet hat, und der höheren Tochter und künstlerisch ambitionierten Managergattin, die sich den Luxus einer bezahlten Arbeit leistet. Unüberhörbar ist die Situationskomik, der ironische Unterton in den Dialogen. 41 41 Auch Maria Adelaide Amarals erstes Drama, A resistência (1975, Widerstand), eines der vom SNT prämiierten Stücke, die erst zu Beginn der politischen Öffnung uraufgeführt werden konnten, spiegelte im Mikrokosmos einer vor dem Aus stehenden Zeitschriftenredaktion den Makrokosmos menschlicher Existenz- und Beziehungsängste wider. Und schon an diesem Erstling fiel auf, wie es der Autorin gelang, das Ineinander von persönlichen Problemen der Einzelnen und den daraus erwachsenden Problemen der Gruppe, die hochdramatische Situation aller dieser Helden mit und ohne Widerstand komödiantisch zu verknoten und wieder zu entwirren. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 225 Das Private als unaufdringliche aber unübersehbare Umschrift von Politik und Zeitgeschichte, subtil beklemmend aus weiblicher Innenperspektive thematisiert, durchzieht das dramatische Schaffen von Dramatikerinnen dieser Generation wie Maria Adelaide Amaral, Consuelo de Castro und Leilah Assunç-o. 42 Einen Generationsroman, Um romance de geraç-o (1981), nennt Sérgio Sant’Anna (1941 geboren, ein Jahr jünger als Amaral) sein Zweipersonenstück, das desillusionierter als sie das Scheitern ihrer beider Generation, der „Geraç-o de 64“, als „comédia dramática em um ato“ vorführt. Ein ausgebrannter Schriftsteller, der seine Schreibblockade im Whisky zu ertränken sucht, wird von einer (noch) idealistischen jungen Reporterin interviewt. Narzisstische Larmoyanz wechselt mit zynischen Bonmots: „Der Roman, das Drama unsrer Generation - eine Telenovela! Wir agieren nicht mehr, wir sind nur noch Zuschauer! Wir gehen ins Theater, um einem Pseudointellektuellen und einem Pseudoproletarier zuzuschauen, wie sie pseudointellektuelle und pseudoproletarische Sprüche klopfen, während das wahre, das realistische, das spannendste Theater auf der Straße, in der Kneipe stattfindet! “ 43 Was als Party-Small-Talk beginnt, steigert sich allmählich zum großen Rundumschlag gegen die Literatur: „Wissen Sie, was noch schlimmer ist, als ein bourgeoiser Autor, der für bourgeoise Leser schreibt? Ein bourgeoiser Autor, der für das Volk schreibt! Ich habe die großen Worte satt, die anklagende Geste, das Engagement! “ Da schreit einer das Versagen der 64er Literatengeneration heraus, zerrt die großen Worte ins Scheinwerferlicht, entlarvt sie als Phrasen: „Standhalten? Widerstand leisten? Aufklären? Diktatur und Literatur reimen sich doch ganz zwanglos! Die Literaten haben doch in ihrem Schonraum das Spiel mitgespielt, dieselben, die heute in der 42 Wie (Zeit-)Geschichte, Politik, bis in die feinsten Verästelungen des Privatlebens eindringt, das Leben des Einzelnen und der Anderen selbst nach Ende einer Diktatur bestimmt, thematisieren bis weit in die 80er Jahre auch die Stücke von Naum Alves de Souza, No natal a gente vem te buscar (Weihnachten verbringst du bei uns), 1980 in Rio de Janeiro uraufgeführt), Aurora da minha vida (Morgenröte meines Lebens, 1981 in S-o Paulo uraufgeführt), Um Beijo, um abraço, um aperto de m-o (Ein Kuss, eine Umarmung, ein Händedruck), 1984 in S-o Paulo uraufgeführt. 43 „Massa de espectadores. - É isso. […] nos transformáramos numa massa de espectadores passivos.“ E sim os romance de nossas vidas, nossas pequenas dores e triunfos, nosso crimes, paixões, comédias, traições, mas tudo se passando numa tela de televis-o.…O romance de nossa geraç-o seria uma novela de televis-o…E eu me perguntava: para que teatro neste Rio de Janeiro se o melhor espetáculo está nas ruas? …E ali eles representam um intelectual e um operário naquele esquematismo habitual das peças de teatro. O intelectual dizia coisas intelectuais e o operário dizia coisas proletárias.… Enquanto isso, o que faziam os seres sensíveis da cidade, como eu, que queriam aprender algo sobre a vida? Devidamente aconselhados por um crítico, enfiavam-se num teatro em que um falso operário soltava pensamentos embrutecidos e um falso intelectual vestia um capote de inverno para sair.“ Sant’ Anna (1981), S. 24, 25, 28. 226 Henry Thorau Schilderung vergangener Greuel schwelgen. Die Gedenkfeier für Herzog, den Journalisten, der von der Polizei zu Tode gefoltert wurde, sie fand in den mondänen Buchhandlungen von Ipanema statt, mit Cocktails und Salzstangen! Nun, da es keine Diktatur mehr gibt, keinen Sündenbock mehr, dem wir unsere Schuld aufbürden können, sind wir gezwungen, in uns selbst zu blicken. Wir Schriftsteller sind die Waisen der Diktatur! “ 44 Und wie vorauszusehen war, endet das Interview im Bett - denn, wie sagte doch der Schriftsteller, eine Revolution zumindest haben wir erfolgreich durchgeführt, die sexuelle Revolution. Der „Roman einer Generation“, das ist die Romanze einer frustrierten und verbitterten Generation, die nun, nachdem der überschwängliche Optimismus des Aufbruchs, der Redemokratisierung im Zeichen der Abertura verraucht ist, in eine Sinnkrise geraten ist. Sant’Anna geht es weniger um die Auseinandersetzung mit den Ursachen der Diktatur als um die psychischen Deformationen, die sie hinterlassen hat, um das Versagen der Intellektuellen damals, die in eine unverbindliche innere Emigration geflüchtet sind, die sie heute als Widerstand, gar als Märtyrertum stilisieren, vor allem aber um das Versagen seiner eigenen Generation, die sich aus einem Gefühl der Ohnmacht und Ratlosigkeit heraus, der Verantwortung durch Flucht in Alkohol und Drogen entzieht, weil sie die Hohlheit politischer Diskurse durchschaut, ohne ihr etwas entgegensetzen zu können. Abschied von den Vätern der Revolution Nach der kleinen Welle von „Bewältigungsstücken“ begann eine neue Generation, des „linkskonservativen“ politischen Diskurses überdrüssig, mit den 44 „Nós estávamos ali para denunciar isso tudo, ponto. Nós, os quixotes da literatura…Nós, os escoteiros, fazendo a nossa boa aç-o do dia, espumando indignados o nosso ódio impotente, unindo-se aos nossos ‚irm-os‘, entre aspas, trabalhadores, aos sofridos, aos miseráveis, aos perseguidos de todo o país, ponto de exclamaç-o! Tínhamos algo contra que lutar, sem muito risco, e os melhores motivos, ponto.…E essas pessoas que pensam e tentarei dizer que, além da rima, a relaç-o entre a ditadura e a literatura talvez tenha sido como um jogo de gato e rato, ponto. Sem o gato o jogo n-o poderia continuar, para tristeza do rato, ponto.…Nós talvez passemos a ser conhecidos como os ‚Órf-os da Ditadura‘! … O velório de Wladimir Herzog foi realizado nas livrarias de Ipanema, com coquetéis, batidinhas e salgadinhos. E talvez esta ‚Geraç-o de 64‘, entre aspas, no íntimo esteja triste agora que o fim da festa se aproxima, ponto. Porque n-o teremos em quem botar as nossas culpas, teremos de olhar um pouco para nós mesmos, ponto e vírgula; para a nossa BABAQUICE, maiúsculas, ponto de exclamac-o e parágrafo! “ Sant’ Anna (1981), S. 67, 68, 69. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 227 Idolen der Väter und mit den Vätern selbst, auch mit den 64er und 68er Revolutionären, mit den Mythen des Widerstands, abzurechnen. Den „Abschied von der Vätergeneration“ artikuliert vielleicht erst Mauro Rasi (1949-2003), der in seinem 1987 uraufgeführten ersten Stück, A cerimônia do adeus (Abschiedszeremonie), seinen 60er Jahren in einer Provinzstadt nachspürt, seine jüdische und auch homosexuelle Sozialisation nachzeichnet, die Abspaltung von der Familie und die Ablösung von den literarischen, politischen und philosophischen Modellen der Vergangenheit thematisiert. Juli-o, so heißt der Protagonist, begegnet alten Klassenkameraden wieder, Freunden, Genossen, Angehörigen faschistischer Organisationen, und wie auf einer Psychodramabühne treten leibhaftig seine Über-Ich- Figuren Sartre und Simone de Beauvoir auf, mit denen er seine einzige, rein geistig-ideologische Liebesaffäre hatte, und von denen er sich nun endgültig verabschiedet. Wenn aus dem Off, wie vom Autor vorgeschrieben, italienische Widerstandslieder und Hochrufe auf Chruschtschow zu hören sind, Bühnenfiguren aus dem Fenster blickend berichten, dass Demonstranten die amerikanische Flagge verbrennen, so ist dies 1987 nur noch Geschichtsevokation, ohne jegliche Intention mobilisierender politischer Wirkung, wie etwa zur Zeit des Teatro de Arena oder des Grupo Opini-o. Während ein marxistischer Theoretiker wie Fernando Peixoto nach wie vor ein realistisches, kritisches, nationales Volkstheater fordert, ein Exponent des engagierten Theaters der 60er Jahre wie Gianfrancesco Guarnieri das Fehlen eines Theaters beklagt, das seines Auftrags bewusst sei, das imstande sei, zum gesellschaftlichen Fortschritt beizutragen 45 , üben sich jüngere Dramatiker in respektlos-provokativem Umgang mit Geschichte und Gegenwart. Zu Beginn der Abertura entstand vor allem in Rio de Janeiro und S-o Paulo eine Flut von Polit-Revuen, die, an die Revistas der 30er Jahre anknüpfend, in frivoler Manier die „Intimbereiche der Macht“ voyeuristisch ausleuchteten, in einem Versuch, durch Obszönität die Obszönität der Politik sinnfällig zu machen. Autoren dieser politisch-pornografischen Revistas waren oft linke Dramatiker, die die Jahre der Repression als Drehbuchschreiber des Medienkonzerns TV Globo überstanden hatten und nun wieder gesellschaftskritischen Anschluss suchten. Erwähnenswert sind die Publikumserfolge Rio de cabo a rabo (Rio von vorn und hinten) von Gugu Olimecha (1980) und Brasil da censura à abertura (1980), eine kabarettistische Show, zwischen der traditionellen farsa und den ehemaligen Polit-Shows des Grupo Opini-o angesiedelt, die Persönlichkeiten der brasilianischen Politik, von Getúlio Vargas bis zu Jo-o Figueiredo, auf die Schippe nahmen. 45 „O que nos falta é o teatro consciente de sua funç-o, que pode nos ajudar a ir para a frente […] Sinto falta dos espetáculos do Oficina, dos nossos do Teatro do Arena“. Guarnieri in Tempo Livre, Magazin der Zeitschrift Vis-o, 19.10.88. 228 Henry Thorau In der gleichen Tradition traten zu Beginn der 80er Jahre junge Autoren mit einem neuen Genre auf den Plan, das sie als besteirol bezeichneten, frei übersetzt als „Eselei“ bzw. „Viecherei“. Die besteirol-Bewegung begann mit Mitternachtsvorstellungen im kleinen Teatro Cândido Mendes, in Ipanema. Die Sketche, meist von einem Autorenteam geschrieben - am bekanntesten wurden Mauro Rasi, Miguel Falabella und Vicente Pereira -, zitierten die alte comédia de costumes und die chanchadas und ließen den alten Schauspielertyp des canastr-o, den typisch brasilianischen Schmierenkomödianten, wieder aufleben. Die Rollen wurden bestimmten Schauspielern auf den Leib geschrieben, die Sketche waren zeitgebunden und kaum durch Folgeinszenierungen wiederholbar. Besteirol lebte vom Augenblick, auch sprachlich, indem es die jeweils neusten gíria-Wörter und Wendungen aufgriff. Es reagierte auf aktuelle politische Ereignisse, ohne jedoch irgendeinen ideologischen Kompromiss einzugehen, die Autoren schonten nichts und niemand mit ihren bissigen Dialogen. Beliebte Zielscheibe war der ‚Lifestyle‘ der Jeunesse dorée Rio de Janeiros. Besonders Miguel Falabella und Guilherme Karam gefielen sich darin, wie ehemals Nelson Rodrigues in seinen Stücken und vor allem seinen Zeitungsglossen, die gr-finas, Damen der besseren Gesellschaft, zu karikieren, wobei sie auch nicht die Nähe zu den Transvestitenshows der Galeria Alaska in Copacabana scheuten. Besteirol eroberte sehr schnell die großen Theater Rio de Janeiros. Dennoch wurden die Aufführungen vor allem von Insidern frequentiert und goutiert, das Genre selbst drang kaum über Rio de Janeiro hinaus. Miguel Falabella sagte einmal: „Würden wir die Stücke in einem Arbeiterviertel aufführen, würde man uns steinigen“. 46 Zweifellos lässt sich diese brasilianische „Rocky-Horror-Picture-Show“ mit ihren raschen Dialogen, Gags und Nonsense in Comic- und Videoclip- Manier inhaltlich wie formal auch als eine Befreiung vom politischen Theater der 60er und 70er Jahre, vom gut gemeinten und, wie die jungen Satiriker meinten, überholten Engagement der Vätergeneration verstehen, das in seinem Dogmatismus an Humorlosigkeit nicht zu übertreffen sei. Auf die Frage eines Journalisten, was er vom politischen Theater halte, antwortete Mauro Rasi: „Das politische Theater hat die Emotion in unserem Theater liquidiert, es zu einer endlosen Wiederholung von längst bekannten Begriffen gemacht. […] Die Lösung war immer dieselbe: Streik oder Revolution. Man soll dem Theater seine Magie zurückgeben. […] Ich finde Brecht sterbenslangweilig, er hat dem brasilianischen Theater geschadet. Das ist doch lachhaft, wie unsere Provinzlerinnen als Hanna Schygulla kostümiert ’rumlaufen und alle so tun, als wären sie in der Weimarer Republik zur Welt ge- 46 Vgl. Veja 20.1.1988. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 229 kommen…“ 47 Ihre Respektlosigkeit trug den Autoren herbe Kritik ein, es gab heftige Reaktionen, vor allem von den Alt-Linken. Von Guarnieri wurde besteirol in einem Interview gar als „dekadente Äußerung der Rechten“ abqualifiziert. 48 Die Autoren des Bbsteirol sind keine bedeutenden Dramatiker geworden, weder die Texte noch die Inszenierungen können als wegweisend bezeichnet werden. Die einzige Ausnahme bildet Mauro Rasi, der, wie gezeigt, sich vom frechen jungen Anarchisten der Kurzszenen zu einem wehmütigironischen Autobiographen entwickelte. Miguel Falabella hat als Schauspieler und Drehbuchautor beim Fernsehen große Karriere gemacht. Dennoch hat besteirol dem Zeitgeist der frühen 80er Jahre vielleicht am adäquatesten Ausdruck verliehen, in dieser Mischung von politischer Satire, Kabarett, Nummernrevue, Frivolität und Obszönität. Der jeder political correctness spottende besteirol war in seiner befreiten karnevalisierten Art der Vergangenheitsbewältigung und Trauerarbeit, der postmodernen Aufwertung des Trivialen, lebendiger als die Achtungserfolge der Schubladenstücke mit ihrer tragisch-pathetischen Geschichtsaufarbeitung. Ganz nach dem Motto: Solidarität erwünscht! Lachen verboten! Und wie ging es in den 1990er Jahren und im neuen Jahrtausend weiter? Kam es auch in Brasilien, wie wir es ansatzweise bei uns beobachten, zu einer Re-Politisierung des Theaters und damit möglicherweise auch zu einer umfassenderen Aufarbeitung der Vergangenheit, wie wir es in Argentinien und Chile erleben? 49 Befund negativ, muss man feststellen, auch wenn der Abstand zu kurz ist, um endgültige Aussagen zu treffen. Von der Amnestie zur Amnesie? Es scheinen Tendenzen am Werk, die das auf die bleierne Zeit, die „anos de chumbo“ gerichtete historische Bewusstsein verdrängen und eher die violência des Alltags in den Fokus nehmen. Und von all dem unberührt schreitet die Boulevardisierung bzw. Broadwayisierung des Theaters fort. In den Metropolen werden immer neue kommerzielle Theater gebaut, in denen sich 47 „O teatro político acabou com a emoç-o dentro do nosso teatro. Ele virou uma simples repetiç-o de coisas e conceitos já conhecidos. […] Mas a soluç-o era sempre a mesma: ou a greve ou a revoluç-o. […] Pois eu acho que é preciso devolver a magia ao teatro. […] Acho Brecht chato. […] Eu acho que Brecht fez mal ao teatro brasileiro. É ridículo ver essas nossas caipiras travestidas em Hanna Schygulla, todo mundo brincando que nasceu na República de Weimar.“ Jornal do Brasil 3.11.1985. 48 ISTO É 19.3.1986. 49 Im Augenblick (2010) sieht es nicht danach aus. Laut einer Sprachregelung der Regierung dürfen die Termini „Diktatur“ und „repress-o“, bezogen auf diesen Zeitraum, nicht offiziell verwendet werden. 230 Henry Thorau vor ausverkauftem Haus Film- und Fernsehstars als King Lear, Dostojewskis Idiot oder Coco Chanel feiern lassen. Wie kompliziert die Sache mit dem Theater ist, wie differenziert die Problematik betrachtet werden muss - die sich in diesem Beitrag auf die Hochburgen des politischen Theaters S-o Paulo und Rio de Janeiro konzentrierte -, lässt sich stellvertretend an der Causa Augusto Boal aufzeigen. Ende der 1980er Jahre hatte der Heimkehrer Boal an die alte Tradition seines Teatro de Arena anzuknüpfen versucht und war damit gründlich gescheitert. Boal wollte oder konnte nicht verstehen, dass sich Drama und Theater in Brasilien während seiner langjährigen Abwesenheit, trotz Zensur und Repression, weiterentwickelt hatten, dass sein Inszenierungsstil nicht mehr zeitgemäß war und inzwischen zur Avantgarde von vorgestern zählte. Nun widmete er sich fast ausschließlich seinem Theater der Unterdrückten. Sein Centro do Teatro do Oprimido (CTO) leistet zwar seit Jahren wichtige politische und kulturelle Basisarbeit, wurde und wird aber in der brasilianischen Öffentlichkeit viel weniger wahrgenommen als in der Weltöffentlichkeit. Für Boal war es eine bittere Erfahrung, dass die in die „innere Emigration“ Geflüchteten - darunter auch Schauspieler und Regisseure seines Teatro de Arena, die inzwischen als Telenovela-Darsteller und -Regisseure zu Geld und Ruhm gelangt waren - ihm, dem Remigranten, wie er vermutete, die Solidarität, die Wiedergutmachung, die Wiedereingliederung versagten als einem, der nichts dazugelernt habe, weder im politischen noch im ästhetischen Diskurs, so als sei seine szenische Sprache und politische Rhetorik in den 60er Jahren steckengeblieben, obwohl er doch in dem von Brasilianern so sehr bewunderten und kopiertem Theater-Mekka Europa als Regisseur gearbeitet hatte, in Paris, in Deutschland und Österreich. Seine szenische Sprache hatte sich aber zu sehr in dem von ihm in Europa erwarteten politischen Dissidenten-Diskurs festgefahren. Boals Einstieg in die Politik als Abgeordneter der Arbeiterpartei PT im Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro Anfang der 90er Jahre - hatte Piscator vorgeschwebt, das Theater zu einem Parlament zu machen, so wollte Boal nun im Dienste der Partei das Parlament zum Theater umfunktionieren - , wurde, auch von alten Weggefährten, als Ausflug in die Politik belächelt, obwohl dies immerhin zur Erfindung des heute auch weltweit praktizierten Legislativen Theaters führte. Auf die Frage nach dem politischen Theater des 21. Jahrhunderts antwortete ein brasilianischer Kulturkritiker: „Wozu politisches Theater? Die Arbeiter sind doch an der Macht! “ Literaturverzeichnis Alves de Lima, M.A.: „História das idéias“. In: Dionysos 24. Teatro de Arena 1978, S. 31-63. Amaral, M.A.: De braços abertos. Rio de Janeiro 1984. Zwischen Euphorie, Repression und Depression 231 -: „Mit offenen Armen“. In: H. Thorau, S. Magaldi (Hg.), Theaterstücke aus Brasilien. Berlin 1996, S. 185-225. 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Präsidenten - Diktatoren - Erlöser. Das lange 20. Jahrhundert“. In: W. L. Bernecker, H. Pietschmann und R. Zoller: Eine kleine Geschichte Brasiliens. Frankfurt a.M. 2000, S. 215-320. Brigitte Schultze Diktatur als „Zivilisationsbruch“: Die Stücke des Befreiten Theaters von Voskovec und Werich (1932-1938) I Für das tschechische Drama und Theater des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts ist eine erinnernde Auseinandersetzung mit Krisenzeiten und Epochenumbrüchen in der Art der Nazi-Diktatur, der Stalin-Zeit oder auch der Wende von 1989 wenig kennzeichnend. Charakteristisch ist vielmehr die dramatisch-theatrale Sondierung der aktuellen Situation, ebenso ein im Wortsinn zupackendes, sogar hellsichtiges Erfassen der individuellen und gesellschaftlichen Tragweite von Krisen und Katastrophen. 1 Auf die Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem den Totalitarismus der Nazi-Zeit, hat bereits seit 1932 das Prager Befreite Theater (Ozvobozené divadlo) von Jiří Voskovec und Jan Werich ebenso zupackend wie hellsichtig reagiert. Der Name der Bühne ist wahrscheinlich - über die deutsche Übersetzung - von Aleksandr Ja. Tairovs „Befreitem Theater“ (Osvoboždennyj teatr) 2 hergeleitet. Offensichtlich ad hoc und ohne feste Programmatik gewählt, 3 hat dieser Name von Anfang an weit mehr bezeichnet als die avantgardetypische Absage an realistisch-mimetisches und naturalistisches Theater. Wenn dieser Bericht unter die griffige Formel „Diktatur als ‚Zivilisationsbruch‘“ gestellt ist, so darf das selbstverständlich nur metaphorisch verstanden werden: Anders als bei dem eingeführten, auf die Shoa bezogenen Terminus „Zivilisationsbruch“, 4 geht es hier gerade nicht um den Umgang mit Erinnerung, sondern darum, dass eine Theaterbühne die von Prag aus beobachtete und in Prag gespürte Diktatur der Nationalsozialisten als fundamentale Bedrohung jeder Zivilgesellschaft „in Szene setzt“. In der umfangreichen Literatur zum Befreiten Theater, zu der insbesondere dokumenta- 1 Diese Einschätzungen bestätigen Theaterinteressierte in der Tschechischen Republik, wie auch mit dem tschechischen Theater besonders vertraute Forscherinnen und Forscher, etwa Herta Schmid. 2 In Deutschland sind die 1923 herausgekommenen Aufzeichnungen eines Regisseurs (Tairow 1980) vor allem unter dem Begriff „Entfesseltes Theater“ bekannt geworden; vgl. Träger (1963), S. 5; Jankowska (1977), S. 18. 3 Schamschula (2004), S. 113 f. 4 Diner (2003), S. 17-34. 234 Brigitte Schultze rische Texte und Memoiren gehören, wird die dramatisch-theatrale Auseinandersetzung mit Diktatur und Totalitarismus selbstverständlich immer wieder angesprochen. Soweit erkennbar, gibt es jedoch bislang keine Forschungsarbeit, die diese Teilmenge des Deutungsangebots - es gibt auch allgemeine Zivilisationskritik, Spott über Auswüchse des Kapitalismus und fortschreitende Kommerzialisierung, Bloßstellung von Korruption und Vetternwirtschaft - 5 als Spur der Dramen bzw. Theaterprojekte zwischen 1932 und 1938 in den Blick nähme. Das soll hier geschehen. Der gewählte zeitliche Rahmen betrifft die zweite Schaffensphase des 1925 begründeten, jedoch erst 1927 zu einem „Markenzeichen“ gewordenen Befreiten Theaters. 6 Das Datum 1932 ist dadurch gegeben, dass bereits vor Hitlers Machtantritt (Mussolini war als Diktator etabliert), im März 1932, 7 die „Antike Feerie“ Cäsar (Caesar) 8 vor Diktator und Diktatur warnt. Das zweite Datum, 1938, bezeichnet das Ende des Befreiten Theaters: Im April 1938 wurde als letzte Inszenierung die „Begebenheit vom Theater im Theater“, Die Faust aufs Auge, oder Cäsars Finale (Pěst na oko aneb Caesarovo finale) 9 herausgebracht. Von den politischen Ereignissen endgültig in die Enge gedrängt, setzten Voskovec und Werich dieses hoffnungsvoll endende Stück vom Programm ab, verzichteten darauf, die Spielsaison 1938/ 39 zu eröffnen. 10 Der Versuch, die Bühne dann doch noch mit einem politisch unverfänglichen Nestroy- Stück weiterspielen zu lassen, 11 führte zu nichts. Am 10. November 1938 wurde das Theater geschlossen. 12 Mit Lumír Čivrný formuliert, ist das Befreite Theater ohne Frage ein „Unikat“ der tschechischen wie auch der internationalen Theatergeschichte, ein „Unikat“, „das in Prag zur Welt kam, welches gleichermaßen Kafka und Hašek geboren hat […], „wo ein Gefühl von Absurdität existierte“. 13 Von der Traditionsbildung dieser kurzen Bühnengeschichte - in der Zeit des „Realen Sozialismus“ und bis ins 21. Jahrhundert hinein - können hier nur einige Facetten genannt werden. Die Annäherung an die multimediale Auseinandersetzung mit dem Diktator Hitler und mit Totalitarismus überhaupt erfolgt in dieser Weise: Zunächst werden die wesentlichen Akteure dieses Theaters, Voskovec und Werich sowie die wichtigsten Regisseure, Musiker usw. vorgestellt. Sodann ist die Genese des - im Sinne der Avantgarde permanent dynamischen - Projekts eines Theaters außerhalb der etablierten Theaterkul- 5 Schamschula (2004), S. 114, 117; Träger (1963), S. 7 f. 6 Schamschula (2004), S. 113; Träger (1963), S. 5 f. 7 Schonberg (1995), S. 90. 8 Voskovec/ Werich (1963b), S. 153-256. 9 Jankowska (1977), S. 151, 166 f. passim; Schamschula (2004), S. 122. 10 Schonberg (1995), S. 118. 11 Schonberg (1995), S. 118 f. 12 Monmarte (1991), S. 251. 13 Lederer (1990), S. 21 f. Alle Übersetzungen sind, sofern nicht anders angegeben, von mir, B.S. Diktatur als Zivilisationsbruch 235 tur, denn darum ging es, vorzustellen. Neben einer geradezu überwältigenden Fülle von Einflüssen der gesamteuropäischen Avantgarde, einschließlich der Hineinnahme vielfältiger populärer Spielformen, sind Wurzeln ins 19. Jahrhundert und weiter zurück zu bedenken. Dieser Kontext führt zur multimedialen Anlage des Befreiten Theaters - aus Text, Musik, Tanz, Pantomime, Plakat u. a. m. Da die Herausbildung des künstlerischen Profils und der Weg von einer Amateurbühne zu einem anerkannten, professionellen Theater der hier interessierenden zweiten Schaffensphase vorausgeht, sind auch einige Grundzüge der Bühnenarbeit vor 1932 aufzuzeigen. (Abschnitt II) Im Sinne einer „Grammatik“ wird dann das bedeutungsbildende Material in seinen einzelnen Bestandteilen in ihrer medialen Verschiedenheit veranschaulicht. Die Wahl der Beispiele ist dabei weitgehend am thematischen Horizont dieser Forschung, der Warnung vor Totalitarismus, ausgerichtet. (III) Die interbzw. multimediale Bedeutungsbildung dieses oft als Fall „synthetischer“ Kunst 14 gesehenen Theaters wird an einer Aktualisierung der Anekdote vom antiken Abdera, Der Esel und sein Schatten (Osel a stín) 15 veranschaulicht. (IV) Die zeitgenössische Wirkung, d. h. die Mitwirkung des Publikums und das internationale Echo, können nur anhand einiger weniger Details aufgezeigt werden. (V) Ähnlich verkürzend werden Fragen der Nachwirkung bis in die aktuelle tschechische Theaterlandschaft behandelt. (VI) II Zunächst sei knapp umrissen, was die wichtigsten Akteure, vor allem Voskovec und Werich, durch persönliche Anlagen, ihren Schauspielerkörper und ihre schulische Ausbildung in das Befreite Theater einbringen konnten. Beide repräsentierten gleichsam die junge Generation: Die Mitwirkenden dieses Theaters gehörten nämlich zwei Generationen an - den um 1895 und den um 1905 geborenen Vertretern der tschechischen Avantgarde. 1905 waren Jiří Voskovec (eigtl. Wachsmann) 16 und Jan Werich, die eine Kinderfreundschaft verband, 17 geboren. 1906 ist das Geburtsjahr von Jaroslav Ježek, dem Musiker, der an fast allen Projekten des Theaters beteiligt war und dessen Kompositionen in einigen Fällen ähnlich entscheidend für die ästhetische Bedeutungsbildung und den Erfolg einer Inszenierung waren wie die von Voskovec und Werich verfassten Texte. 18 Der Regisseur Jindřich Honzl, 14 Jankowska (1977), S. 16. 15 Voskovec/ Werich (1961a), (1963a). 16 Winter (2009), S. 98; Blahynková/ Blahynka (1990), S. 221. 17 Montmarte (1991), S. 45. 18 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 221; Jankowska (1977), S. 11, 64, 69, 81 passim, auch S. 187. 236 Brigitte Schultze der dank seiner theatertheoretischen Arbeiten bis heute internationales Ansehen genießt 19 , wurde 1894 geboren. Der Choreograph Joe Jenčík, 20 der das gesamte Profil des Befreiten Theaters ebenso mitbestimmte wie der Szenograph, der Kostümbildner und weitere, kontinuierlich oder auch zeitlich begrenzt mitwirkende Theaterleute, hat das Geburtsdatum 1893. Welche Bedeutung dieses Generationenphänomen hat, ließe sich nur gesondert darstellen. Hier soll allein die Tatsache interessieren, dass Voskovec und Werich, wie viele andere Vertreter der tschechischen Avantgarde auch, zeitweilig gemeinsam das Prager Gymnasium an der Křemensová besucht haben. Das dürfte eine der wesentlichen Ursachen dafür sein, dass in den Stücken des Befreiten Theaters immer wieder und auf vielfältige Art auf klassisches Bildungsgut zurückgegriffen wird. 21 Es ist zu bedenken, dass die Schule nicht lange zurücklag, als Voskovec und Werich die intensivste, 11 Jahre währende Phase gemeinsamer Theaterarbeit begannen: 1924 hatten beide ihr Abitur abgelegt, Voskovec in Dijon und Werich in Prag, 22 und im gleichen Jahr schrieben sich beide zu einem Jura-Studium an der Karlsuniversität ein. 23 Als 1927 mit der Vest Pocket Revue die erste gemeinsame Bühnenarbeit herauskam, hatten beide - wohl bei eher sporadischem Besuch des universitären Programms - bereits eigene Erfahrungen mit dem Schreiben von Texten, dem Medium Film usw. 24 Vorausgreifend sei die Arbeit mit dem klassischen Bildungsgut an einigen Beispielen veranschaulicht. Von diesem Verfahren ist wiederholt auch die Warnung vor Diktatur und Totalitarismus berührt: Zweimal steht Cäsar als Diktator im Mittelpunkt eines Stücks - 1932 und 1938 -, bildet somit eine Art Rahmen um die zweite Schaffenszeit des Befreiten Theaters; in der Weiterverarbeitung von Lukians Anekdote über das antike Abdera huldigt das Volk dem Esel (genauer: der von dem Esel übriggebliebenen Eselshaut) mit dem gemeinsamen Ruf „Heilos“. 25 Die avantgardetypische sprachliche Montage von tschechischem, deutschem, auch französischem und lateinischem bzw. griechischem linguistischen Material kann allerdings auch „harmloser“ ausfallen, etwa bei der 19 Táborská (1993), S. 254-257; Schmid (1995), S. 137. 20 Lantová (1993), S. 495 f.; Jankowska (1977), S. 82, 87, 89, 97 passim. 21 In einem Interview mit Pavel Tigrid im Jahre 1963 (Lederer (Hg.) (1990), S. 223) teilt Voskovec mit: „Wir, Werich und ich, hatten von jeher eine Liebe zu, Bewunderung für, lateinische Dinge, wir waren fasziniert davon.“ 22 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 222. 23 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 222. 24 Merhaut (2008), S. 1473-1485, hier S. 1473 f.; ders. (2008), S. 1616-1624, hier S. 1616. 25 Voskovec/ Werich (1963a), S. 147. Diktatur als Zivilisationsbruch 237 Prägung von Rollennamen wie „Sempronius Ruka“ (‚Sempronius Hand‘) 26 und „Synekdocha“ 27 . Neben diesem Reservoir aus der gemeinsamen Schulzeit, breiter Lektüreerfahrung, inspirierenden Theaterbesuchen (z. B. in Paris) brachten Voskovec und Werich ganz unterschiedliche Schauspielerkörper, Temperamente und stimmliche Möglichkeiten in ihre Theaterarbeit ein. Voskovec war schlank, elegant und biegsam in seinen Bewegungen, Werich hingegen immer rundlich bis kompakt, stabil und dabei auf seine Art beweglich. Beide schufen mit ihrer Stimme Inszenierungen eigener Art. Sie hatten völlig verschiedene Baritonstimmen: „Voskovec eine klingende, metallene, Werich eine kehlige und eine näselnde.“ Zu etwas wie personal tags wurden Besonderheiten der Aussprache: „Voskovec tritt durch eine klare Diktion hervor, Werich wurde berühmt durch die Kunst des sprachlichen Prestissimo - deutlich artikulierte schnelle Rede.“ 28 Mit dem Komponisten Ježek und vielen anderen an ihrem Theater mitwirkenden Künstlern teilten sie den „Instinkt fürs Theater“ 29 . Beider offensichtlich rares Talent zur Improvisation kam gerade in politisch schwerer Zeit zur Geltung. In ihrem Aufsatz „Humor auf der Bühne und seine Chemie“ halten Voskovec und Werich fest: „Wir haben viel extempore artikuliert […]. Extempore scheint uns einer der reinsten Strahlen des geheimen Radios zu sein, welches der Humor augenscheinlich ist“. 30 Improvisierend, extemporierend, brachten beide Künstler ihre weltoffene, liberale Haltung in ihr Theater ein. Der Germanist und Komparatist Otokar Fischer spricht auch von „tschechischem Weltbürgertum“. 31 Die Stichwörter zu dem, was Voskovec und Werich an Voraussetzungen, Grundeinstellungen usw. in ihr Theater einbrachten, sind zu ergänzen durch Einflüsse und Anregungen aus der Theatergeschichte wie auch aus dem zeitgenössischem Bühnenleben und „Unterhaltungsbetrieb“ im weiteren Sinne, ebenso aus den bereits vorliegenden Erfahrungen der tschechischen Avantgarde und der Avantgarde anderer Länder. Hier liegen die Wurzeln für die im Wortsinn multimediale Antwort auf die sich immer mehr zuspitzende politische Situation der 1930er Jahre. Als Voskovec und Werich ihr Studium aufnahmen und zunehmend mehr mit dem kulturellen Leben ihrer Zeit in Kontakt traten, hatte die einzige tschechische Avantgarde-Formation, Devětsil (‚Pestwurz‘), ihre Phase verstärkter politisch-sozialer Orientierung 26 Hier geht es um ein Sprachspiel in der „Revue im Westentaschenformat‘ (Vest Pocket Revue): Der Familienname „Hand“ ist eine Übersetzung des Vornamens der französischen Freundin von Voskovec, Main. 27 Voskovec/ Werich (1961a), S. 17. 28 Inov (1992), S. 127; Raszewski (1977), S. 7 f. 29 Träger (Hg.) (1937), S. 82. 30 Kofroň (Hg.) (2001), S. 75. 31 Träger (Hg.) (1937), S. 14. 238 Brigitte Schultze bereits hinter sich. 32 Das ästhetische Profil war nunmehr im Wesentlichen durch Merkmale gekennzeichnet, die mit dem von Karel Teige geprägten Terminus Poetismus 33 verbunden sind. Für die Grundeinstellungen und bevorzugten ästhetischen Verfahren des Befreiten Theaters sind insbesondere diese Momente relevant: eine entschiedene Ablehnung ideologischer Festlegungen und jeder Form von Dogmatismus, entschiedenes Eintreten für die Autonomie aller Künste, freier Zugriff auf Zeicheninventare und Zeichenbedeutungen der hohen wie auch der populären Kunst. Unter den Richtungen und Strömungen der ersten und zweiten historischen Avantgarde wird dem Konstruktivismus, dem Surrealismus und DADA ein gewisser Vorrang eingeräumt. 34 Zu den bevorzugten ästhetischen Verfahren gehören Codemischungen jeder Art, rhythmische Akzente und, bei Versen und Liedern, überraschende Kollokationen und Reimbindungen. Der Ablehnung von psychologischem Realismus, Naturalismus, Stil- Theater und des in der tschechischen Theaterlandschaft besonders langlebigen expressionistischen Codes 35 steht Offenheit für die gerade in den 1920er Jahren beliebten Formen Revue (mit ihren Sketches, Tanznummern und Musikeinlagen), Varieté (mit zunehmend mehr Akrobatik), Zirkus (mit Clownsnummern und Akrobatik), Music-Hall u. a. m. gegenüber. Hier trafen sich die Theatermacher des Befreiten Theaters mit den Vertretern von Devětsil bzw. Poetismus. 36 Der Umgang mit den Verfahren der populären Unterhaltungsgenres, der Unterhaltungsindustrie überhaupt, war durchaus differenziert. Übernahme, eigenständige Weiterverarbeitung und parodistische Zurückweisung standen nebeneinander. Von den Dichtern, bildenden Künstlern usw. des Poetismus wie auch von allen Mitgliedern des Befreiten Theaters geteilt war die Orientierung am neuen Medium des Films - des Stummfilms ebenso wie des frühen Tonfilms. 37 Allseitige Akzeptanz galt auch der zeitgenössischen Musikszene mit Jazz und Blues, Gesellschaftstänzen wie Rumba, Tango und Foxtrott. 38 Zu den von der Forschung immer wieder herausgestellten Einflüssen und Kontexten des Befreiten Theaters, vor allem der Stelle von Voskovec und Werich in diesem Projekt, gehört überdies die Tradition der Commedia 32 Schamschula (2004), S. 14-16, 28-43 passim. 33 Schamschula (2004), S. 16. 34 Jankowska (1977), S. 16; Blahynková/ Blahynka (1990), S. 259 f. 35 Jankowska (1977), S. 18 f. 36 Jankowska (1977), S. 16. 37 Jankowska (1977), S. 16, 28 f. passim. Aus der Erinnerung der Jahre 1961/ 62 weist Josef Träger (Jankowska (1977), S. 29) darauf hin, dass dem Theater mit seiner „Schwerfälligkeit“, „Zurückgebliebenheit“ und „Konventionalität“ sogar „Feindseligkeit“ entgegengebracht worden ist. 38 Kofroň (2001), S. 90-96. In Erinnerung an die Theaterarbeit des Jahres 1929 (ebd., S. 95) stellen Voskovec und Werich fest: „Der Blues hat uns überhaupt mit Ježek [dem Komponisten und Dirigenten der Bühne, B. S.] zusammengebracht.“ Diktatur als Zivilisationsbruch 239 dell’arte. 39 Oft zitiert ist Vsevolod Mejerhol’ds Eintrag ins Gästebuch der Bühne nach einem Besuch im Oktober 1936: „heute habe ich […] in den Gestalten der unvergesslichen Zwillinge V und W wieder den [die] Zanni gesehen und war erneut von den Aktionen bezaubert, die aus den Wurzeln der italienischen Improvisationskomödien hervorgegangen sind.“ 40 Die Tradition der Commedia bildet dabei eine Brücke zu dem Improvisationstalent von Voskovec und Werich, ebenso auch zur Figur des Clowns. In Paris mit den Möglichkeiten dieser Figur vertraut gemacht, 41 haben Voskovec und Werich dann für ihr Theater sowohl singuläre - avantgardetypisch dynamische - Clownsfiguren als auch singuläre Fortsetzungen der italienischen Typentradition geschaffen. Sie traten mit geschminkter weißer Halbmaske, aber auch ohne Maske auf; teilweise war das Theaterzeichen der Frisur in die Halbmaske einbezogen. 42 Danièle Monmarte hebt hervor, dass Voskovec und Werich ganz bewusst die Maske des „weißen Clowns“ gewählt hätten, weil dieser Typus sich auf „Wortspiele“ und immer neue „Bedeutungsgenerierung“ stützt. 43 Monmarte unterstreicht überdies die Möglichkeiten des Clowns in der Auseinandersetzung mit der Diktatur. 44 Die Funktion der „Widerständigkeit durch Improvisation“ sollte in der europäischen Geschichte und Kulturgeschichte allerdings vor der Commedia-Tradition angesetzt werden. Mit Sylvia Sasse ist daran zu erinnern, dass „die Improvisation beginnend mit der antiken Rhetorik […] auch in der Politik und vor Gericht gefordert war und in Krisensituationen als notwendige Tugend galt.“ 45 Voskovec und Werich nutzten ihr Improvisationstalent sowohl als Rollenfiguren bestimmter Stücke als auch, und vor allem, in den gesungenen „Vorträgen“ oder Dialogen (auch Prosagesprächen) vor dem Vorhang. Sie konnten aus den durch die Maske festgelegten Rollen heraustreten und in eigener Person sprechen. 46 Da die Lieder 47 bei den Warnungen vor Diktatur und Totalitarismus in kommunikativer wie auch in performativer Hinsicht besonderes Gewicht hatten, seien sie schon an dieser Stelle etwas mehr in den Blick genommen. Milan Blahynka sieht die „dramatische Dialogizität“ einer großen Menge von Liedern bei Voskovec und Werich als „Merkmal eines Genretypus des Gesprächs, welches die Erfahrungen des Volkslieds nutzt, im Felde der Liebesthematik in die Parodie des sentimentalen Duetts einmündet und das 39 Jankowska (1977), S. 30, 46, 133 passim. 40 Träger (Hg.) (1937), S. 105. 41 Schonberg (1995), S. 68. 42 Janoušek (1989), S. 162 f.; Jankowska 1977, S. 30, 46 passim. 43 Monmarte (1991), S. 101 f. 44 Monmarte (1991), S. 137-145; vgl. Pešek (2006), S. 231. 45 Sasse (2009), S. 81. 46 Janoušek (1989), S. 162-164, 167. 47 Es ist daran zu erinnern, dass das Lied (píseň) als „Leitwährung“ der tschechischen Literatur, der Kultur überhaupt, gilt. Vgl. Schultze (2005), S. 9. 240 Brigitte Schultze dialogische Prinzip auch in Lieder einbringt, in denen sich zwei oder mehr Sprachen abwechseln, aber auch in die Parabel und die aktuelle Reportage […].“ 48 Solche Wechselgesänge mit Aktualitätsbezug haben selbstverständlich auch historische Wurzeln im Theater des 19. Jahrhunderts, etwa in Johann Nepomuk Nestroys Possen mit Gesang und in den entsprechenden Stücken des tschechischen Dramatikers Josef Kajetan Tyl. In den Produktionen des Befreiten Theaters dienten manche der Lieder auf die Weise der Verständigung zwischen Schauspielern und Publikum, dass man sie gemeinsam sang. 49 Dies galt insbesondere in den Jahren zunehmender Repressalien unter der Nazi-Diktatur - einschließlich der Angriffe auf die Bühne vonseiten der tschechischen „rechten“ Presse- und Parteienlandschaft. 50 Mit Blick auf diese Vielfalt von Einflüssen, Kontexten und Anregungen, auch auf die Fülle beteiligter Medien, liegt es auf der Hand, dass dieses „synthetische Theater“ 51 die Auseinandersetzung mit Diktatur und Totalitarismus mit allen hier zusammengebrachten Formen der Inszenierung - Text, Tanz, Pantomime, Musik usw. - betreibt. Anders als in den vorwiegend textgestützten Historiendramen, gibt es dabei keine kohärente Reflexion über Geschichte und Gegenwart. Hinweise auf die Bedrohung der Zivilgesellschaft, auf Gefahren für ein menschliches Miteinander, werden jeweils in einer Replikenfolge, einer Folge von Versen gebündelt, sind in einer Ballettaufführung oder auch nur in einer einzigen Geste in Szene gesetzt. Dies lässt auch die Vorstellung einer Art „Grammatik“ der verwendeten Medien und ästhetischen Verfahren geboten sein. Ehe die politische Wirklichkeit die Theaterleute dazu zwang, den mühsamen Weg zwischen einer autonom verstandenen und gewollten Kunst und politischer Verantwortung zu gehen, waren dem Befreiten Theater etwa fünf Jahre zu relativ freier Entfaltung gegeben: 1927-1932. Die erste Produktion, Vest Pocket Revue (1927), verspottet als „armes Theater“ die Ausstattungsrevue der 1920er Jahre. 52 In dieser Bilderfolge der Revue gibt es ein Feuerwerk von Sprachspiel, Anspielungen auf die aktuelle Lebenswelt (die private wie die öffentliche), ebenso intertextuelle Bezüge zur hohen und populären, zur tschechischen und nichttschechischen Literatur. 53 Dem übersetzerischen Transfer - und das gilt für die meisten der insgesamt fast 30 Stücke - setzt allein das Tschechische mit seinen Varietäten, d. h. dem Nebeneinander einer Schriftbzw. Normsprache, umgangssprachlichen Regis- 48 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 259. 49 Raszewski (1977), S. 9; Jankowska (1977), S. 166 f. 50 Jankowska (1977), S. 124, 135-138; vgl. auch Pešek (2006), S. 236; Monmarte (1991), S. 137. 51 Jankowska (1977), S. 19, vgl. S. 16. 52 Jankowska (1977), S. 39. 53 Jankowska (1977), S. 30-40; Schamschula (2004), S. 117. Diktatur als Zivilisationsbruch 241 tern unterschiedlicher Stilhöhe und regionalen Varianten usf. deutliche Grenzen. Die Präsentationsform der Revue wird auch in den politischen Satiren der Jahre 1932 bis 1938 beibehalten. Voskovec und Werich geben dafür eine Erklärung: „Die Form der Revue […] ist uns einfach diktiert durch die technischen Möglichkeiten unserer Bühne, des Ensembles, des Orchesters und des gesamten Bühnenapparates überhaupt.“ 54 Hier werden nur vier Beispiele herangezogen und mit unterschiedlicher Ausführlichkeit vorgestellt: die „Antike Feerie in elf Bildern“ Cäsar (Caesar 1932), Der Esel und der Schatten (Osel a stín, 1933), Der Henker und der Narr (Kat a blázen, 1934) und Die schwere Barbara (Těžká Barbora, 1937). Zunächst geht es um das Medium Text, d. h. gesprochene oder gesungene Figurenrede als Ort und Instrument der Warnung vor Diktatur und Totalitarismus. III Die dichteste Behandlung von Diktatur und Totalitarismus gibt es in den Liedern, die von einer einzelnen Figur, im Duett, als Wechselgesang oder auch von allen Schauspielern und dem Publikum gemeinsam gesungen werden. Voskovec und Werich betonen, dass die Texte in der Regel zur Musik geschrieben worden seien. 55 Viele der Lieder geben stichwortartig historische und zeitgeschichtliche Verständnishilfen zu dem, was sich vor den Augen politisch wacher Menschen abspielt - zu materiellen und „mentalen“ Belastungen aus dem Versailler Vertrag, den Folgen der Weltwirtschaftskrise, Unerfahrenheit vieler Bürger im Umgang mit Parlamentarismus und dem Konzept einer Zivilgesellschaft u. v. m. Da die zunächst vorzustellenden Beispiele in erster Linie in die im März 1932 uraufgeführte „Feerie“ Cäsar 56 gehören, seien hier die Kontexte und künstlerischen Verfahren etwas eingehender dargestellt. Auch wenn Mussolinis Diktatur den konkreten Anlass zum Rückgriff auf das „römische“ Thema, die beiden letzten Tage vor Cäsars Ermordung, gegeben haben mag, gilt das Stück der Warnung vor jeder Diktatur. 57 Der Nebentext gibt an, wie hier Gegenwart und Vergangenheit übereinander gelegt sind: „Senatoren, Römer und Römerinnen, gedungene Mörder, Tempelschergen. Spielt in Rom am 13. und 14. März des Jahres 44 v. Chr. sowie ebendort im Jahre 1931.“ (CB, S. 255) 54 Kofroň (2001), S. 126. 55 Kofroň (2001), S. 95 f. 56 Voskovec/ Werich (1956a), S. 185-290. Dieser Text wird unter der Chiffre C zitiert; die deutsche Übersetzung von Erich Bertleff (1963b) wird unter der Chiffre CB zitiert. 57 Jankowska (1977), S. 96-98. 242 Brigitte Schultze Zunächst soll das im Duett vorgetragene Lied „Europa ruft“ („Evropa volá“, C, S. 284-287; CB, S. 250-253) interessieren. Der zu einem Rumba gedichtete Text wird von Voskovec und Werich gemeinsam vorgetragen. Beide sind hier - als Terentius Bulva („Knolle“) und Titus Papullus („Blatter“, „Bläschen“) - Repräsentanten des römischen Volkes. Wie in anderen Liedern auch, wird die Blindheit der Nachbarvölker und die „diplomatische Geduld“ der Politiker angesichts der drohenden Katastrophe beklagt. Die deutsche Übersetzung kann die gedankliche Botschaft recht treffend reproduzieren. Sie versucht auch, mit Mehrfachreim und einem witzigen Spiel mit dem Paradoxon, an die Merkmale des Ausgangstextes, die Ästhetik des Poetismus, anzuschließen. Eine Probe aus dem deutschen Text lautet so: […] Europa, einst prächtig, jetzt mächtig schmächtig, Soll nun der ... - Rumba retten! (CB, S. 251) Die Rettungsversuche der Politiker und Diplomaten haben nämlich nichts erbracht: Und ist es schon halb im Delirium, Beruft es nach Genf ein Konsilium. Es glaubt, die Doktoren der Medizin Könnten’s aus der Patsche ziehn, Doch die Ärzte machen es hin. Nickend und kopfschüttelnd versuchen sie Ihr Glück mit einer Trödeltherapie. Europa, das bleiche, Gleicht bald einer Leiche. (Ebd.; Hervorheb. von mir, B.S.) Im Ausgangstext gibt es ein Sprachspiel, bei dem das Lexem mocin vier Versen fünfmal wiederkehrt: „nemocen“ („krank“) - „mocná“ („mächtig“) - „moc“ (Adv., „sehr“) - „nemocná“ („krank“) - „pomoci“ („helfen“). (C, S. 285) Aus den Substantiven „Kopf“ und „Gesundheit“ sowie den verbalen Ausdrücken „bessern“, „wiederherstellen“ ist in drei Versen das Klangmuster „hlavy“ - „napraví“ - „zdraví“ - „popraví“ geschaffen (ebd.). Die tschechische Sprache ist somit im Dienste der Sinngenerierung, des Rhythmus und auch des ästhetischen Spiels eingesetzt. Während die erste Strophe vor dem Vorhang gesungen wird, öffnet sich der Vorhang zur Präsentation der zweiten Strophe. Auf der Bühne hängt eine „satirische Karte Europas“, die den kranken Kontinent „als Frau darstellt“ (C, S. 286; CB, S. 252). Wenn die Kranke „am rechten Bein jammert, / Dass ihr der Stiefel nicht groß genug ist“, so ist dies selbstverständlich als Diktatur als Zivilisationsbruch 243 Anspielung auf Italien zu sehen. Derartige Anspielungen, die von politisch Interessierten leicht aufgeschlüsselt werden können, sind kennzeichnend für alle Liedtexte. Überaus suggestiv und zum Nachdenken anregend ist der Refrain, mit dem die beiden Römer Bulva und Papullus ihren Auftritt auf der Vorbühne beenden: Denn diese Sachen Sind nicht zum Lachen. […] Denn solche Sachen Dürfen nicht geschehen. (CB, S. 250-253) Jede der „politischen Satiren“ des Befreiten Theaters enthält ähnlich hellsichtige Liedvorträge. Mit Blick auf das Inventar der Bedeutungsbildung haben auch die chiffrehaften Stellungnahmen zur Diktatur, insbesondere zur Nazi- Diktatur, beträchtliche Verweiskraft. Überaus suggestiv sind einige der sowohl im Hauptals auch im Nebentext verwendeten Ortsnamen. In der 1934 uraufgeführten „satirischen Fantasie“ Kat a blázen (Der Henker und der Narr), 58 die in einem „imaginären Mexiko jenseits von Raum und Zeit“ angesiedelt ist (K, S. 295), spielen Voskovec und Werich zwei Nationalhelden. Werich ist ein zum Tode verurteilter Häftling, Melichar Mahuleno, Voskovec dessen ‚unwilliger‘ Henker Gaspar Radůzo (ebd.). Beide haben etwa 20 Jahre, fern von ihrer Heimat, gemeinsam auf einer Insel verbracht. Längst für tot gehalten, kehren sie dann in ihr Heimatland zurück, wo kaum zu überbietende politisch gewollte Lügen und Manipulation, politische und private Intrigen das Dasein beherrschen. 59 Nochmals Opfer einer Manipulation geworden, wünschen sich die Beiden an ihren Verbannungsort zurück. Es ist die „Insel des Heiligen Pankratius [Pankraz]“ („Ostrov sv. Pankráce“, K, S. 301), somit desjenigen, der „über alles herrscht“. Lesern von Kafka, Kisch und anderen Prager Autoren dürfte der Name des Prager Gefängnisses Pankrác einfallen. 60 Das verweisende Potential des Klosters, in welches eine andere Figur, die junge Dolores, verbannt worden ist (auch sie lässt sich nicht manipulieren), ist noch prekärer: „Santa Concentration“ (K, S. 391). Wie Voskovec und Werich bereits 1934 Kunde von solchen Lagern hatten, ließ sich nicht ermitteln. Zufall ist die Wahl eines „düsteren“, nur von einem „flackernden Lichtschein“ erhellten Raumes, dessen „Feuerstätte“ der Zuschauer nicht sehen kann (ebd.), gewiss nicht: Der in dem Schreckensstaat 58 Voskovec/ Werich (1956b), S. 291-412. Dieser Text wird unter der Chiffre K zitiert; die deutsche Übersetzung von Bertleff (1963c, S. 257-380) ist unter der Chiffre KB angeführt. 59 Kofroň (2001), S. 139. 60 Warum der Übersetzer Bertleff hier eine „Insel der Heiligen Elisabeth“ (KB, S. 269) schafft, ist nicht nachzuvollziehen. 244 Brigitte Schultze zum Diktator aufgestiegene Don Baltazar Carriera, der die „Vorsehung“ („Prozřetelnost“, K, S. 385; vgl. KB, S. 353) auf seiner Seite sieht, erhält in einer gespenstischen Begegnung mit seinem eigenen Schatten von jenem die Mitteilung: „Es gibt keine Konzentrationslager für junge Herzen“ (K, S. 400; KB, S. 368). Der von dem sprechenden Schatten verwendete Terminus „koncentrační tábory“ wird nicht weiter erläutert. In der gleichen Sequenz verhängt Carriera über seinen eigenen Schatten die Todesstrafe. Er erblickt den Schatten, der den Dolch gegen sich führt - und sich selbst den Tod gibt (K, S. 401; KB, S. 369). Die Episode im Kloster „Santa Concentration“ ist damit beendet. Sie wird nicht noch einmal direkt angesprochen, doch sind den Zuschauern Verstehenshilfen an die Hand gegeben: Mahuleno und Radůzo treten vor den Vorhang und bewegen sich - zunächst in Prosarede, sodann in Liedern - „Von Märchen zu Märchen“ (K, S. 402-407; vgl. KB, S. 370-375). Dieser Auftritt schließt mit dem Lied „Henker und Narr“ („Kat a blázen“, K, S. 406f.; KB, S. 374f.), von dessen letzten Versen hier einige in der deutschen Übersetzung angeführt seien: Kam da von irgendwoher Der Herr Niemand daher Schrie die Macht sei sein Begehr Ohne Grenzen […] Fortan regierte er als König Henker und Narr Und die Lage wurde bald sehr gespannt und bizarr Narr und Henker die Fusion Beider zu einer Person Bracht den neuen Typ hervor Den Narr Diktator. (KB, S. 375) Die Episode im Kloster „Santa Concentration“, insbesondere das Ende des Diktators, dessen Schatten nicht mehr „mitmachen“ möchte, ebenso dieses von Voskovec und Werich gesungene Lied haben dazu geführt, dass das Stück aus dem Jahre 1934 zum einen direkt als Warnung vor Hitler verstanden wurde, 61 zum anderen noch nicht angenommen werden konnte. 62 Im Weiteren seien Beispiele dafür gegeben, in welcher Weise außer dem Medium Text auch Musik, Tanz und Pantomime in die Warnungen vor der Diktatur einbezogen sind. Die in diesem Sinne bedeutungsbildende Funktion der Musik ist bereits im Cäsar greifbar. Hier singt die Rollenfigur des Cäsar vor dem Vorhang ein Lied über „Krieg und Frieden“ („Vojna i mir“, C, S. 224) - und das zu Marschmusik. Der Marsch, den Voskovec und Werich als ihr „Abrüstungslied“ bezeichnen, ist in diesem Fall zu dem davor entstan- 61 Monmarte (1991), S. 136 f.; Jankowska (1977), S. 125 f. 62 Monmarte (1991), S. 137; Jankowska (1977), S. 126 f. Diktatur als Zivilisationsbruch 245 denen Text hinzukomponiert worden. 63 Die Marschmusik ist dabei gleichsam eindeutiger und ehrlicher als der Text des ‚Beinahe-Diktators‘ Cäsar. Jener kennt den Mehrheitswunsch nach Frieden, laviert sprachlich zwischen „Krieg und Frieden“ hin und her und setzt dann zynisch seine Vorstellungen durch. Im Refrain klingt das so: Alles ist kriegsmüde, Alles haßt die Rüstung, Ich führ weiter Kriege Namens der Abrüstung. (CB, S. 192; vgl. C, S. 225) In Cäsar ist auch das Ballett in die „politische Satire“ einbezogen. An die Ballett-Aufführungen in der Ausstattungsrevue und anderen Unterhaltungsformen anknüpfend, treten hier „Girls“ in „Gasmasken und Felduniformen“ auf. Die Ballettvorführung, die „aus Elementen von Exerzierübungen gebildet“ ist, wird von der Titelfigur geleitet (C, S. 226; CB, S. 194). Dadurch, dass das „Abrüstungslied“ und dieses Ballett aneinander anschließen, sind die Rezipienten mit der Unausweichlichkeit des Weges dieses Diktators konfrontiert. Die Gasmasken, die vielleicht aus dem Ersten Weltkrieg erinnerlich sind, werden zum Menetekel für einen weiteren Krieg. Neben einer Reihe sehr kurzer pantomimischer Einlagen gibt es in Cäsar auch eine Pantomime, die etwas länger ausgespielt wird und damit auch von weniger geübten Theaterbesuchern als Strukturelement identifiziert werden kann. Während die Folge von Marschlied und Ballett mit Gasmasken eine Zukunft im Zeichen der Katastrophe ins Bewusstsein ruft, endet die Pantomime mit etwas wie einer Tröstung. Wie das Ballett, schließt auch die Pantomime an einen Liedvortrag an. In diesem Fall sind es die Vertreter des römischen Volkes, Bulva und Papullus, die ein Lied zum Rhythmus des Foxtrott singen: „Im Hause spukt ein Geist“ (C, S. 278f.) bzw. „Ein Gespenst geht um im Haus“ (CB, S. 244f.). Die letzten Verse des Refrains lauten: Alle Uhren gehn zurück, Alles ist verwaist, Auch die Luft ist verbraucht und dick, Hier spukt ein böser Geist. (CB, S. 245; vgl. C, S. 278) Bulva und Papullus „fangen den unsichtbaren Geist mit einem Netz ein“ und lassen als „Zauberer“ eine weiße Taube aufflattern (C, S. 279; CB, S. 245). Diese „Tröstung“, mit der die Poesie des Poetismus in Erinnerung gebracht wird, gibt es, soweit erkennbar, nur in diesem Diktatoren-Stück des Jahres 1932. Beispielhaft sei auch der sinnstiftende Einsatz von Theaterzei- 63 Kofroň (2001), S. 95 f. 246 Brigitte Schultze chen wie Gestik, Proxemik, Kostüm, Dekoration und Requisit aufgezeigt. Als Beispiel für die Gestik können die zum Hitlergruß erhobenen Hände des Volkes von Abdera in der Revue Osel a stín (Der Esel und der Schatten) dienen. Diese Geste begleitet die Grußformel „Heilos! “ 64 Als implizite Regieanweisung sind gestische und proxemische Zeichen gegeben, wenn in dem gleichen Stück ein Lautsprecher verkündet: „Aaaachtung! Der Führer kommt! […] Das Volk küßt seine Spuren! “ (OB, S. 146; O, S. 139). Die Nutzung des Zeichensystems Kostüm wäre sicher eine eigenständige Untersuchung wert. Barbara Teresa Jankowska gibt für die Feerie Cäsar diesen Hinweis: „Das antike Kostüm ermöglichte den Autoren Signalsetzungen zahlreicher Erscheinungen der Gegenwart, wie: Nationalismus, Arbeitslosigkeit, Korruption, Bedrohung der Bürgerrechte und der Demokratie.“ 65 Für die Zeichensysteme Dekoration und Requisit, und gewiss auch für das gemeinsam mit dem Film zunehmend wichtiger gewordene Medium des Plakats, ist die „satirische Karte Europas“, die während des Liedvortrags von „Europa ruft“ vorgeführt wird, ein markantes Beispiel. 66 Soweit das Bildmaterial erkennen lässt, haben Voskovec und Werich diese Karte bisweilen im Kostüm der schlichten Römer Bulva und Papullus, dann aber auch als „elegante“ Clowns vorgeführt. Damit wird die für das Befreite Theater so charakteristische Durchlässigkeit zwischen Bühne und Vorbühne besonders augenfällig. Mit Blick auf Szenenbild und Dekoration wäre auch die Stelle des Gefängnisses und anderer Orte der Verbannung eine eigene Untersuchung wert. Bulva und Papullus werden z. B. in einem „Römischen Gefängnis“ eingeführt (C, S. 227; CB, S. 195). Aus dem Jahre 1933 stammt auch ein mit Adolf Hoffmeister gemeinsam verfasstes Repertoirestück der Bühne: Die Welt hinter Gittern (Svět za mřízemi). 67 Auch in den 1937 uraufgeführten „Elf Bildern über das Zur-Vernunft-Kommen der Bürger von Edam“, Těžká Barbora (Die schwere Barbara), 68 gibt es ein Gefängnis. Es ist ein Turmgefängnis, in dem sich zwei Soldaten befinden, welche die „schwere Barbara“, eine Kanone, von Yberland (T, S. 391f.) 69 nach Edam geschafft haben. Als Diebe verdienen beide, schon gar in den Bedingungen des Mittelalters oder auch der frühen Neuzeit, gewiss das Gefängnis. Mit Blick darauf, dass das titelgebende Requisit, die Kanone (sie erinnert an die „dicke Berta“ des Ersten 64 Voskovec/ Werich (1961a), S. 140; (1963a), S. 147. Der tschechische Text wird unter der Chiffre O, die Übersetzung von Bertleff unter der Chiffre OB zitiert. - Ein Szenenfoto dieser Geste findet sich z. B. in Träger (1937), S. 149. 65 Jankowska (1977), S. 96. 66 Monmarte (1991), S. 126 f.; Inov (1992), S. 6. 67 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 232 f.; Fesselungen und vergitterte Gefängnistüren sind auch Gegenstand eines Interviews mit Voskovec (Schonberg (1995), S. 82). 68 Voskovec/ Werich (1961b), S. 387-525. Dieser Text wird unter T zitiert. 69 Zu Anspielungen an das „III. Reich“ und sein „Übermenschentum“ s. Jankowska (1977), S. 164-167. Diktatur als Zivilisationsbruch 247 Weltkriegs), dem kleinen Edam Schutz gegen das mächtige, konspirative Yberland bietet, sind die Soldaten zugleich Helden. In diesem Falle geht es um ein Requisit, das die relativ kleine Bühne des Befreiten Theaters fast überfordert und somit ein Herausstellen der Bedingungen des Theaters gefordert haben dürfte. Am Beispiel von Der Esel und sein Schatten seien im Folgenden die Formen und Verfahren dieser Bühne etwas mehr im Zusammenhang dargestellt. IV Zunächst sollen die antike Vorlage, d. h. die Anekdote Lukians, die Rollenfiguren und die Segmentierung der „Revue“ vom Esel und seinem Schatten interessieren. Danach werden - integriert in eine Vorgangsskizze und auch darüber hinaus - die sprachlichen, visuellen und akustischen Signalsetzungen zu Diktatur und Totalitarismus in den Blick genommen. Die von Lukian erzählte Anekdote 70 wird von Voskovec und Werich in einer „Einleitung“ zum Stück (O, S. 9; OB, S. 17) in Erinnerung gebracht. Der Vorgangskern sieht so aus: Ein Zahnarzt, der bei den Krämern von Abdera seine Honorare einsammeln will, mietet sich für die Fahrt dorthin einen Esel. Dafür, dass er sich im Schatten des Esels ausgeruht hat, soll er dem Eseltreiber eine Extragebühr zahlen. Der Fall gelangt vor einen Richter ohne wirkliche richterliche Unabhängigkeit. Der Rechtsstreit verselbständigt sich vor allem deshalb, weil die Advokaten des Eseltreibers und des Zahnarztes ein Intrigennetz spinnen. Es kommt jedoch nicht zum Prozess, da der Esel aus Versehen verspeist worden ist. Voskovec und Werich geben in ihrer „Einleitung“ auch Fingerzeige zum Verständnis der Bühnenbearbeitung: „Wenn der vornehmliche Zielpunkt der Angriffe unseres Stückes der Faschismus im weitesten Sinne des Wortes ist, so hat das seinen Grund darin, dass wir diese Pest (wie übrigens jeder halbwegs denkende Mensch) für die akuteste Gefahr des Lebens überhaupt halten.“ (OB, S. 19; vgl. O, S. 10; Hervorhebung von den Autoren) Außer der „Einleitung“ ist dem eigentlichen Dramentext auch eine Verständnishilfe zu den wichtigsten Rollenfiguren vorangeschickt. (O, S. 12-15; OB, S. 20-23) Von den insgesamt 19 einzelnen Gestalten und fünf Rollenkollektiven werden hier auch nur diejenigen vorgestellt, die zum Verständnis des Vorgangskerns nötig sind. Die Kurzporträts stützen sich auf das Personenverzeichnis (O, S. 17; OB, S. 24) und die Figurencharakteristik der Autoren, nehmen überdies auch einige Details aus dem dargestellten Vorgang vorweg: Die Hauptfigur ist der G OTT D IONYSOS in der Variante des „heiteren 70 Im deutschsprachigen Raum ist die Anekdote u. a. von Christoph Martin Wieland verbreitet worden. Vgl. Jankowska (1977), S. 111, Anm. 40. 248 Brigitte Schultze Dickwanst“ (O, S. 12; OB, S. 20). 71 Dionysos ist, wie er im „Prolog“ mitteilt, der Verfasser dieses Stückes (O, S. 20; OB, S. 20). So gesehen, haben Voskovec und Werich sich die Maske des antiken Gottes geliehen. Dionysos übernimmt überdies zwei Nebenrollen - diejenige eines untalentierten, „femininen“ Künstlers (O, S. 12; OB, S. 24) und diejenige eines pflichtvergessenen, „gestriegelten Internisten“ (OB, S. 20; O, S. 12). (Hier werden also auch die Arbeitsbedingungen an der kleinen Bühne - die Notwendigkeit von Mehrfachbesetzungen - offengelegt.) Das Interesse an Führerschaft und an der Errichtung totalitärer Verhältnisse im Namen der „Zivilisation“ (O, S. 13; OB, S. 21) geht von dem gebildeten Industriellen K ONTOKORENTOS , „Fortunas Liebling“ (OB, S. 24; O, S. 17), aus; er ist ein Meister der Konspiration, dem zur Durchsetzung seiner Wünsche kein Preis zu hoch ist. Sein politischer Gegenspieler - und späterer „Mitspieler“ - ist der aus bescheidenen Verhältnissen aufgestiegene Sozialdemokrat H IPPODROMOS , ein Mann mit großer Rednergabe; seine Minderwertigkeitskomplexe können ihn zum „rücksichtslosen Halunken“ (B, S. 21; O, S. 13) werden lassen. Vertreter einer altersschwachen, in bürokratischen Regelungen erstarrten Justiz ist der ängstliche, dümmliche Richter P APRIKIDES (O, S. 13; OB, S. 21f.). Die beiden Zentralfiguren der Anekdote sind von Voskovec und Werich besetzt, wobei Voskovec als S KOČDOPOLIS („Spring-zur-Polis“) 72 Betreiber des ‚Eseltaxis‘ (O, S. 57; OB, S. 64) ist, Werich als N EJEZCHLEBOS („Iss-kein-Brotos“) 73 den mittellosen Zahnarzt darstellt (O, S. 14f.). Beide sind „dumm und klug“ zugleich. Sie sind das „Kristallisationsprodukt“ eines Volkes (OB, S. 23; O, S. 14), bei welchem Streit mit Pragmatismus und common sense überwunden wird. Ein Nebenstrang des Geschehens, in dem vor allem dekadentes Gesellschaftsleben und völliges politisches Desinteresse vorgeführt sind, ist insbesondere durch die beiden Frauen der „Postenträger“ - S YNEKDOCHA als Frau des Kontokorentos und H EKATOMBA als Frau des Hippodromos (O, S. 14; OB, S. 22) - vertreten. Beide Frauen haben Techtelmechtel mit dem Gigolo und Sportchampion R EKORDIKLES (O, S. 13, 17; OB, S. 22, 24), der - obwohl politischer Konspiration entschieden abgeneigt - durch seinen Lebenswandel erpressbar ist. In der Anlage des Stückes sind die Traditionen der Revue, überhaupt des Nummerntheaters, sehr deutlich. Das Stück enthält zwei Akte, von denen der erste einen Prolog und fünf Bilder, der zweite nochmals fünf Bilder umfasst. Die meisten Bilder sind ihrerseits in Szenen (zwei bis achtzehn) unterteilt. Das Dritte Bild besteht allein aus einem kurzen Prosagespräch und ei- 71 Aghion/ Barbillon/ Lissarrague (1994), S. 108. 72 In der deutschen Übersetzung wird das tschechische Wort pole, „Feld“, gewählt; so lautet der Rollenname S PRINGINSFELDES (OB, S. 23 f.). Den tschechischen und griechischen Bestandteil des Namens übersetzend, schlägt Herta Schmid ((1990), S. 123, Anm. 11) „Spring-in-die-Stadt“ vor. 73 In der deutschen Übersetzung lautet der Rollenname I SSKEINBROTES (OB, S. 23 f.). Diktatur als Zivilisationsbruch 249 nem mehrstrophigen Liedvortrag. Das Vierte Bild ist durch ein Ballett von „drei koketten Eseln mit Mädchenbeinen“ gegeben, wobei die Musik dem Refrain der „vorangegangenen Melodie“ (OB, S. 83; O, S. 76) entnommen ist. Die kürzeren Bilder bieten teilweise besonders markante Aussagen zum zentralen Anliegen des Stückes, leisten aber auch comic relief. Zur dargestellten Zeit ist dies gesagt: „Die Handlung spielt in Abdera in Nachkriegs- und Krisenzeiten“ (OB, S. 24; O, S. 17). Außer Bühne und Vorbühne, die beide als theatrale Räume akustisch und visuell ausgestaltet sein können, gibt es folgende Handlungsorte: Eine Halle im Hause des Hippodromos, den Markt in Abdera, einen Gerichtssaal, die Wohnung des Rekordikles mit Balkon und weiteren Ausgängen für ein Türenstück bzw. für konspirative Vorhaben, sowie einen Rathaussaal. Neben dem spannungsreichen Wechsel langer und kurzer Spielsequenzen wird besonderer „Bauwillen“ der Theaterleute erkennbar: Das Fünfte sowie das Zehnte und letzte Bild spielen im Gerichtssaal. Der dargestellte Vorgang, in den - wie erwähnt - bereits Grundzüge der Bedeutungsbildung hineingenommen sind, sieht so aus: Das Stück beginnt mit einem „Prolog“ vor dem Vorhang, in welchem Dionysos Hauptdarsteller und Regisseur ist. Im „elegischen Distichon“ lässt er zu Musikbegleitung ein antikes Fries aus Tänzerinnen lebendig werden, beschreibt als Presenter- Conferencier die in Masken auftretenden zentralen Figuren des Stücks. Dionysos verspricht ein Spiel, das den Menschen in der „Krise“ „die Augen auftut“ (OB, S. 26; O, S. 20). Die beiden ersten Bilder führen zunächst in das soziale Oben, in dem die Weltwirtschaftskrise mehr im Munde geführt als erlitten wird (Erstes Bild), und sodann (Zweites Bild) zur Bevölkerung auf dem Markt - vom Krämer bis zum Bettler - die unter Armut leidet, sich dabei dennoch solidarisch verhält. Anlässlich der Feier des ersten Hochzeitstages im Hause des Sozialdemokraten Hippodromos trägt vor allem der Industrielle, Kontokorentos, seine politische Gesinnung vor. Es ist die Rede vom „arischen Typ“ (OB, S. 48; O, S. 42), von „Menschenmaterial“ („lidský materiál“, OB, S. 49; O, S. 43) und immer wieder von Rationalisierungsprozessen (O, S. 44; OB, S. 50). Der Rechtsstreit, den Kontokorentos umgehend zu nutzen weiß, nimmt auf dem Marktplatz von Abdera (Zweites Bild) seinen Anfang: Der Zahnarzt hat sich vom Eseltreiber auf den Markt bringen lassen, um von dort aus seine Honorare einzutreiben. Als er sich im Schatten des Esels ausruhen will, fordert der Eseltreiber eine zusätzliche Drachme. Die „Unantastbarkeit des Eigentums“ (OB, S. 74; O, S. 67) verteidigend, tritt Kontokorentos für den Eseltreiber ein; Hippodromos verteidigt den „ausgebeuteten“ (OB, S. 75; O, S. 68) Zahnarzt. Das Volk lässt Hippodromos als „Führer“ hochleben (OB, S. 75; O, S. 67). Der Richter Paprikides macht dann aus dem Eseltreiber als Kläger, dem Zahnarzt als Beklagten, den beiden ‚Parteivertretern‘ als Advokaten und dem Esel als corpus delicti einen Rechtsfall. Der Esel wird konfisziert. Im Namen der „Zivilisation“ ist eine Sache 250 Brigitte Schultze „des öffentlichen Interesses“ (OB, S. 78; O, S. 71) entstanden. Wie der Eseltreiber und der Zahnarzt einmütig beklagen, sind sie „Nicht mehr Menschenkinder“, sondern „nur Parteiobjekt“ („jenom partaje“; Drittes Bild, OB, S. 81; O, S. 75). Als sich vor Gericht (Viertes Bild) zeigt, dass beide die Kosten für den ersehnten Vergleich nicht tragen könnten, will Dionysos als Bürge eintreten, wird jedoch ausgelacht. Der Eseltreiber und der Zahnarzt werden inhaftiert. In der Wohnung von Rekordikles (Sechstes Bild) müssen die Frauengeschichten, banale Konspirationen also, und die von Kontokorentos eingefädelte politische Konspiration gleichzeitig bewältigt werden: Der heimlich aus dem Gefängnis geholte Zahnarzt soll nach einer Nacht bei Rekordikles ins Rathaus geschafft und dort als „Brandstifter“ (OB, S. 94; O, S. 87) ertappt werden. Alle wären somit „Zeugen“ „einer neuen, großen Epoche in der Geschichte Abderas“ (OB, S. 95; O, S. 88). Es läuft jedoch alles schief. Der Zahnarzt wird zu früh befreit; Dionysos holt den Eseltreiber aus dem Gefängnis. Bei Rekordikles treffen alle zusammen. Dem Zahnarzt „riecht“ „die Sache nach einem Attentat“ (OB, S. 111; O, S. 104). Er lässt den Richter tätig werden. Vom Richter im Rathaus (Achtes Bild) mit dem Vorwurf des „Staatsstreichs“ konfrontiert, weiß Kontokorentos die Situation zu seinen Zwecken zu nutzen: Es komme nun allein darauf an, der „Zersetzung“ durch die „Horden“ des Zahnarztes entgegenzuwirken. Die „Nation“ brauche „die Hand eines starken Mannes“, das „Regime einer eisernen Faust“. Jeder könne mit ihm „marschieren“ oder aber gegen ihn (OB, S. 124; O, S. 117). Um dem Spuk ein Ende zu machen, einigen der Eseltreiber und der Zahnarzt sich darauf, den Esel umzubringen. Ärzte können dem Tier nicht mehr helfen. Hippodromos ist entsetzt: Wie solle man „dem Volk sagen, dass der Schatten“, hinter dem es habe „marschieren“ müssen, verschwunden sei? (OB, S. 135; O, S. 128). Kontokorentos weiß Rat: Man werde sich verbünden, dem Esel die Haut abziehen und einen „neuen Esel und einen neuen Schatten“ herstellen - ein „Ideal“, mit dem „Geschichte gemacht“ werde (OB, S. 137; O, S. 129f.). Der Eseltreiber und der Zahnarzt wollen ehrliche Verhältnisse. Sie verkünden dem Volk auf dem Markt, den Esel gäbe es nicht mehr; es sei ohne Grund genarrt worden. Da treten Kontokorentos und Hippodromos in der Eselshaut auf und verkünden ein Reich, in dem nur die „Rasse“ der Abderiten leben werde. Die Ansprache endet mit einem Aufruf in deutscher Sprache („Mein Volk“). Die letzten Worte sind: „Nieder mit der Menschheit, nieder mit der Welt! “ (O, S. 133; OB, S. 140). Der Eseltreiber und der Zahnarzt erörtern auf der Vorbühne (Neuntes Bild) die Situation des Nachrichtenwesens in einer Diktatur und die politische Landschaft seit dem Ersten Weltkrieg. Das letzte Bild zeigt den Gerichtssaal in der „Beleuchtung“ eines „apokalyptischen Unwetters“ (O, S. 139; OB, S. 146). Das Volk ist noch elender geworden, der Eseltreiber und der Zahnarzt sind gefesselt; unter Fanfarenklängen lassen sich Kontokorentos und Hippodromos - in der Eselshaut - huldigen. Dionysos beendet Diktatur als Zivilisationsbruch 251 als Gott des Theaters (im Wortsinn als deus ex machina) die apokalyptische Situation. In einem Schlusslied freuen sich alle ihres Menschseins: „budeme lidi“ („wir werden Menschen sein“, O, S. 142). Diese Vorgangsskizze hat das Anliegen der Theatermacher, die singuläre Bedrohung aus Hitlers Diktatur ins Bewusstsein zu bringen, deutlich werden lassen. Im Folgenden sollen neben einigen weiteren textgestützten vor allem visuelle und akustische Signalsetzungen interessieren. Die Vorgangsskizze kann keinen angemessenen Eindruck davon geben, wie bei diesem - mit Danièle Monmarte - „Direktangriff gegen Hitler“ 74 buchstäblich alle medialen Ordnungen des Befreiten Theaters, alle theatralen Zeichensysteme aufgeboten sind. Auch lässt sich allenfalls ahnen, wie umsichtig die Situationsanalyse ist: die stichpunktartige Zusammenstellung von Ursachen für Hitlers Aufstieg - in der Person, in politisch-sozialen Rahmenbedingungen, in Gegebenheiten und Reaktionen der Nachbarländer. Der von Kontokorentos eingefädelte Rathausbrand bezieht sich selbstverständlich auf den Reichstagsbrand. 75 Die gedruckten Textfassungen können den performativen Aspekt jedoch nicht zeigen: dass, wie Igor Inov ausführt, „das Theaterspiel jeden Abend mit parodistischem Kommentar zum Prozess der Faschisten gegen G. Dimitrov […] in Leipzig“ „ergänzt wurde“. 76 Es lässt sich weder das Maß an Improvisation noch die Intensität des Kontakts mit dem Publikum ermessen. 77 Einzelne Kontexte der erhaltenen Lieder dürften Rezipienten des 21. Jahrhunderts kaum unmittelbar zugänglich sein. So ist das Lied vom „Goldenen Mittelweg“ („Zlatá střední cesta“, OB, S. 121f.; O, S. 114f.), das der Eseltreiber und der Zahnarzt im Siebenten Bild vor dem Vorhang singen, nicht etwa auf den zum tschechischen Selbst- und Fremdbild gehörenden common sense und Pragmatismus zu beziehen, sondern auf das Verhalten der Parteien, die - statt herumzulavieren - die Kraft zu Allianzen aufbringen müssten. 78 Ein besonders dicht mit Anspielungen und deutschsprachigen Einlagerungen ausgestattetes Textelement ist das von Voskovec und Werich vor dem Vorhang ausagierte Neunte Bild mit dem suggestiven Titel „Gott weiß“ 74 Monmarte (1979), S. 369. Soweit erkennbar, hat Danièle Monmarte (ebd., S. 367-388) bislang die umfassendste theaterwissenschaftliche Darstellung des Inszenierungsvorhabens Der Esel und sein Schatten vorgelegt. Herta Schmid ((1995), S. 125 f.) erörtert einige theatersemiotische Aspekte dieses Stücks. 75 Schamschula (2004), S. 120 f.; Jankowska (1977), S. 114. 76 Inov (1992), S. 89. 77 Ein Neffe von Egon Erwin Kisch, der in den 1930er Jahren als Jurastudent der Karlsuniversität - zugleich mit vielen anderen Kommilitonen - das Befreite Theater frequentiert hatte, erzählte mir in den 1980er Jahren: „Wir haben manche Aufführungen drei- oder viermal angesehen, schon nicht mehr wegen des eigentlichen Stückes, sondern wegen der Kommentare zum aktuellen politischen Geschehen.“ 78 Monmarte (1979), S. 373; Jankowska (1977), S. 114. 252 Brigitte Schultze („Bůh sud‘! “, O, S. 134-138). Im zweiten Teil dieses Auftritts, der in manchen Textausgaben wie ein Rollengedicht mit Dollfuß, Mussolini und Hitler als Sprechern ausgebracht ist, 79 weiß selbst Zeus nicht weiter: „Ich bin nur ein Gott, kein doctorjuris,/ Mit euerm Zensor will ich nichts zu tun haben.“ („Jsem jen bohem, ne jurisdoktorem,/ Nechci nic míti s vaším cenzorem“, O, S. 138). In der deutschen Übersetzung lautet der letzte Vers: „Hier ist selbst Zeusens Griechisch am Ende! “ (OB, S. 145) 80 In diesem Lied wären u. a. die Reimstellen als Ort der Bedeutungsbildung eine Untersuchung wert. Es reimen „herink“ und „Göring“, „hrdinny frajtr“ („heroischer Gefreiter“) und „So geht es nicht weiter“ (O, S. 137). Zu dem Feuerwerk verweisender Details gehört im Esel z. B. auch der Stabreim, in dem Dionysos - an Bolerorhythmen angepasst - 81 zu seinen Tänzerinnen spricht: „Hej, holky, hejbejte se, rejděte redivý rej.“ (Etwa: „He [Holla], Mädchen, bewegt euch geschmeidig, formt einen reihigen Reigen“, O, S. 19). Für diesen Vers, der im Sinne des Poetismus - neben lexikalisiertem Wortmaterial - ad hoc-Prägungen bzw. DADA-Nonsense enthält, hat der deutsche Übersetzer diese Lösung gefunden: „Hei, Mädchen, rührt euch jetzt, rekelt im Reigen euch rank“ (OB, S. 25). Zu den stärksten akustischen Signalsetzungen gehört gewiss, dass aus der Eselshaut mit Hitlers Stimme gesprochen wurde. 82 In der 10. Szene des Achten Bildes befiehlt die Stimme aus der Eselshaut einen Kniefall: „Fallt auf die Knie“ (OB, S. 139; O, S. 132) und den gleichzeitigen Hitlergruß: „und grüßt mit erhobener Rechten“. Diese gymnastische Leistung muss tatsächlich von den Schauspielern erbracht werden: „Das Volk gehorcht“ (ebd.). Eine auf andere Art „zwingende“ Rezeptionssteuerung liegt sicher in der apokalyptischen Finsternis gegen Stückende. Hier wird - im Jahre 1933 - ein Bild des Weltendes aufgerufen. Derartige Vorausdeutungen finden sich in allen politischen Satiren des Befreiten Theaters. Es ließe sich jedoch auch zeigen, dass in den späteren Stücken, gerade in der Schweren Barbara (1937), die Anspielungen vorsichtiger ausfallen. Das dürfte mit der - unabdingbaren - Rücksichtnahme auf die zunehmend strengere Zensur zu tun haben: Die von Voskovec und Werich gewagte Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur hat nicht nur ein interessiertes, dankbares Publikum in ihren Bann gezogen, sondern auch Reaktionen der Politik, der rechtsgerichteten Presse, 79 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 60-62. 80 Angesichts der Ratlosigkeit von Zeus ist die deutsche Wiedergabe der in diesem Stück „reaktivierten“ sekundären Interjektion bůhsud, „Gott weiß“, als „Gott weiß warum“ (OB, S. 141) irreführend. 81 Auf die gelungene Zusammenführung des von Ježek komponierten spanischen Bolero mit den elegischen Distichen weist u. a. Träger ((1937), S. 83) hin; vgl. Jankowska (1977), S. 120. 82 Schonberg (1995), S. 99; Pešek (2006), S. 237. Diktatur als Zivilisationsbruch 253 hervorgerufen. So seien im Folgenden einige Facetten der zeitgenössischen Rezeption aufgezeigt. V Seit der Inszenierung von Der Esel und sein Schatten waren die Künstler des Befreiten Theaters offensichtlich ständig mit Forderungen der Zensur bzw. der Notwendigkeit zur Selbstzensur konfrontiert. 83 Gegen die Aufführung dieses Stücks protestierte der deutsche Botschafter in Prag: Damit werde der „Herr Reichskanzler Adolf Hitler, wie das Deutsche Reich überhaupt in verhöhnender und beleidigender Weise karikiert“. 84 Obwohl Edvard Beneš, dem die Aufführung gefiel, den „diplomatischen Frieden“ wieder herzustellen suchte, 85 und obwohl der Name Hitler durch „Kohos“ (von kohosi, ‚jemandes‘) ersetzt 86 sowie das ganze Bild mit dem Titel „Gott weiß“ fortgelassen wurde, 87 folgten weitere Proteste von deutscher Seite. 88 Wie nicht anders zu erwarten, wurde diese Inszenierung - einschließlich aller Begleitumstände - ein Thema der internationalen Presse; 89 ein Gastspiel der Bühne in Bratislava wurde von Wien aus besucht. 90 Piscator, der das Stück 1934 in Prag gesehen hatte, bemühte sich um eine Inszenierung in Zürich, die jedoch nicht zustande kam. 91 Auch wenn die Zahl der gestatteten Gastspiele an weiteren tschechischen Bühnen begrenzt blieb 92 und manche Prager, ebenso die Emigranten aus Russland und Deutschland, das Stück mehrfach sahen, hat diese Warnung vor der NS-Diktatur recht viele Menschen erreicht. Allein in Prag wurde das Stück 187 Mal aufgeführt. 93 Eine ähnliche Aufführungsfrequenz gibt es auch bei den meisten anderen Inszenierungsvorhaben gegen Diktatur und Totalitarismus: Der Cäsar ist an 192 Spielabenden, die Schwere Barbara 179 Mal gezeigt worden. 94 Während die Inszenierungen von Cäsar (1932) und Der Esel und sein Schatten (1933) als besonders frühe „Weckrufe“ angesichts der Menschheitskatastrophe gelten können, stehen die Stücke ab 1934 mehr und mehr im Kontext des Schaffens weiterer Autoren von z. B. Bühnenwerken in der Art 83 Heftrich (2006), S. 217, Anm. 25 84 Jankowska (1977), S. 115, vgl. 116 f. 85 Inov (1992), S. 89; Schonberg (1995), S. 99. 86 Inov (1992), S. 89; Monmarte (1979), S. 375. 87 Jankowska (1977), S. 116. 88 Schamschula (2004), S. 121; Jankowska (1977), S. 116. 89 Inov (1992), S. 89; Jankowska (1977), S. 117f. 90 Inov (1992), S. 89. 91 Jankowska (1977), S. 117. 92 Jankowska (1977), S. 117. 93 Král (1993), S. 89. 94 Král (1993), S. 89; Monmarte (1991), S. 252 f. 254 Brigitte Schultze von Karel Čapeks Bílá nemoc (Die weiße Krankheit, 1937) 95 und Prosatexten wie Čapeks Válka s mloky (Der Krieg mit den Molchen, 1936). 96 Das Wirken des Befreiten Theaters während der Jahre 1932-38 wird bzw. wurde nicht nur als ein Geschehen erinnert, bei dem sich ein Theaterensemble und das Publikum oftmals in der Ahnung vom Weg in die Katastrophe verbunden sahen, ondern auch als ein Ort der Freude und Genugtuung über die Möglichkeiten des Theaters. 97 Ein weiterer außerordentlicher Aspekt des Befreiten Theaters ist selbstverständlich der Beitrag zur europäischen Theateravantgarde wie auch zur Theoriebildung, u. a. im Felde der Theatersemiotik. Stellvertretend für andere seien die Namen Jindřich Honzl, Jan Mukařovský und Miroslav Procházka genannt. 98 Noch umfassender, und wiederum einem tschechischen und einem internationalen Publikum erinnerlich, ist der Einfluss des Theaters von Voskovec und Werich auf das tschechische Theaterleben in der Zeit der nachfolgenden, der kommunistischen Diktatur bzw. der Zeit des ‚Realen Sozialismus‘. Auch hier mögen Stichworte genügen. VI Obwohl dem nach Emigration (im Winter 1938/ 39) und Krieg im Frühjahr 1947 wiedereröffneten Befreiten Theater nur ein kurzes Bühnenleben möglich war, 99 lässt sich die anhaltende Wirkung dieses Avantgarde-Theaters kaum ermessen. Die Lieder von Voskovec und Werich „gehören“ z. B. - „mindestens […] bis zum Prager Frühling“ - „zum Gemeingut mehrerer Generationen der tschechischen Bildungsbürger“. 100 Gerade seit den 1960er Jahren haben tschechische Kleinbühnen, teilweise geradezu Kultbühnen wie das Prager Ampel-Theater von Jiří Suchý 101 und das Theater am Geländer, an dem Václav Havel tätig war, 102 Formen und Verfahren des Befreiten Theaters aufgegriffen und als tschechischen Beitrag zum Theater des Absurden weiterentwickelt. (Dabei ging es selbstverständlich mehr um analoge Ausdrucksformen denn um ähnliche weltanschauliche Aussagen.) Die künstlerischen Verfahren in der Art von Liedeinlagen und verbalen „Kabinettstückchen“ - mit Wortspielen, in denen Homonymien, Neologismen, phraseologische Wendungen, die Varietäten des Tschechischen ausgereizt werden - 95 Schamschula (2004), S. 244 f. 96 Schamschula (2004), S. 237-239. 97 Das geht aus den persönlichen Zeugnissen in den hier aufgenommenen Quellentexten, ebenso aus meinen Gesprächen mit Zeitzeugen hervor. 98 Schmid (1995), S. 115-138; dies. (1990), S. 95-124. 99 Blahynková/ Blahynka (1990), S. 244; Merhaut (2008), S. 1476, 1618. 100 Pešek (2006), S. 238. 101 Pešek (2006), S. 238, vgl. S. 239-242. 102 Schamschula (2004), S. 485-487. Diktatur als Zivilisationsbruch 255 gehen in die Stücke von Havel, Ivan Klíma, Ivan Vyskočil u. a. ein. 103 Wiederum zeigt sich die Widerständigkeit der Theaterkunst gegen die Diktatur. 104 Selbst in einem Teil der nach 1989 entstandenen Bühnenwerke ist die Tradition des Befreiten Theaters noch zu erkennen. 105 Eine nachträgliche Aufarbeitung von Krisenzeiten und Zäsuren wie dem Zweiten Weltkrieg, der Shoah und dem Ende des Prager Frühlings im Medium des Bühnenstücks ist allerdings, im Unterschied zu anderen europäischen Theaterkulturen, kaum zu finden. 106 Den Ursachen für diese Lücke wäre eigens nachzugehen. Literatur Aghion, I., C. Barbillon und F. Lissarrague: Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen. Stuttgart 1994. Blahynková, K. Und M. Blahynka: Jiří Voskovec, Jan Werich. Máme za to. (Písňové texty). Praha 1990. Diner, D.: „Den Zivilisationsbruch erinnern. Über Entstehung und Geltung eines Begriffs“. In: H. Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. 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Janoušek, P.: Rozměry dramatu. Autorský subjekt a vývojové proměny poetyky českého meziválečného dramatu. Praha 1989. 103 Winter (2009), S. 99. 104 Anlässlich der 20jährigen Wiederkehr der Samtenen Revolution vom November 1989 erinnert Michael Frank ((2009), S. 7) daran, dass am 24. November 1989 das Ypsilon- Theater, ein „Stehgreiftheater“, eine „historische Weltbühne“ geworden sei, indem es „blitzartig“ zu der Frage Stellung genommen hätte, was mit „totalitären Übeltätern“ zu geschehen habe. In ähnlicher Weise habe sich am gleichen Abend die Laterna Magica, der Standort der Protagonisten eines „friedfertigen Umsturzes“, an der „Revolution der Kinder und Clowns“ beteiligt. 105 Schmid (2007), S. 173 f. 106 Dazu die Inhaltsangaben von Stücken aus den Jahren 1989-2004 in: Musilov’a (2008). Anlässlich einer Inszenierung von Büchners Woyzeck im September 2009 erklärte der Regisseur Daniel Špinar (17.09.2009, S. 27) kategorisch: „Meine Generation interessiert das Thema des Kommunismus nicht“. 256 Brigitte Schultze Kofroň, Václav (Hg.) (2001): Voskovec, Jiří/ Werich, Jan. Nikdy nic nikdo nemá… 1929-38. II. Praha. Král, P.: Voskovec & Werich čili Hvězdy klobouky. Praha 1993. Lantová, L.: Joe Jenčík. In: V. Rorst (Hg.), Lexikon České Literatury. Osobnosti, díla, instituce. Praha 1993, S. 495f. Lederer, J.: Když se řekne Werich a když se řekne Voskovec. Praha 1990. Machalická, J.: „Moji generaci téma komunismu nezajímá”. In: Lidové Noviny. 19.9.2009, S. 27. Merhaut, L.: „Jiří Voskovec“. In: L. Merhaut (Hg.), Lexikon České Literatury. Osobnosti, díla, instituce. Praha 2008, S. 1473-1485. --: „Jan Werich”. In: L. Merhaut (Hg.), Lexikon České Literatury. Osobnosti, díla, instituce. Praha 2008, S. 1616-1624. Monmarte, D.: „L’Ane et son Ombre. 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Różewicz und Klata Für meinen Vater „Am Anfang war der Krieg“, schreibt der Literaturwissenschaftler Jan Błoński in einem seiner Aufsätze über den zeitgenössischen Dichter in Polen 1 und bezeichnet damit den Zweiten Weltkrieg als Beginn einer neuen Epoche, als eine Zeit, in der nicht zum ersten Mal die polnische Literatur auf historisch-politische Ereignisse im Lande direkt reagiert. Seit der Zeit der Romantik, die in Polen ungefähr mit der Zeit der Teilungen beginnt, fällt der Literatur eine besondere Rolle zu. Das Verschwinden des Landes für 123 Jahre von der Landkarte Europas bedeutet für sie eine besondere Herausforderung, denn nur noch sie ist im Stande, die Nation als Kulturnation zu bewahren. Die Dichter werden schnell zu Dichter- Propheten erhoben, auch deswegen, weil die Nation sich selbst als „Christus der Völker“ sieht. Meist in der Emigration entstehen in dieser Zeit Werke, die das nationale Bewusstsein stärken sollen und nicht zuletzt zum Kampf gegen die Besatzer ermuntern wollen. Ohne Aussicht auf Inszenierungen und damit ohne Rücksicht auf darstellerische Mittel entstehen dabei Dramen von höchstem Schöpfertum und größter Aussagekraft, die noch lange, wenn nicht gar bis heute, Einfluss auf die Dichtung haben. Diese besondere Aufgabe der Literatur, auch wenn mit anderen Mitteln, erlischt auch nicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Polen, Europa folgend, sich einem gewissen technischen Fortschritt öffnet und dabei die revolutionäre Kraft der Romantik aufgibt. Es ist die Zeit einer erzieherischen und moralisierenden Prosa. Die Jahrhundertwende und damit den Beginn der Moderne erlebt die polnische Literatur aber immer noch ohne einen eigenen Staat. Die Gründung des neuen Staates im Jahre 1918 begrüßt die polnische Dichtung mit großem Enthusiasmus und Optimismus, der aber nach kurzer Zeit auch in Pessimismus umschlägt, womit man sich der katastrophischen Stimmung im Sinne des untergehenden Abendlandes hingibt. Das in der Geschichtsschreibung sog. „kurze polnische 20. Jahrhundert“ wird beendet mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, einer „moralischen Katastrophe“, einem „physiologischen Alptraum“, 2 so Błoński weiter. 1 Błoński, Jan. Wszystko, co literackie. Pisma wybrane. Kraków 2001, S. 7. (Die Übersetzung aller polnischer Texte stammt von Makarczyk-Schuster). 2 ebd. 260 Ewa Makarczyk-Schuster Auch auf diese Zeit reagiert die polnische Literatur in besonderer Weise. Czesław Miłosz teilt die ersten Jahre der Nachkriegsliteratur in drei Perioden ein: die erste von 1945 bis 1949, in der es die neue Rolle der Literatur in einem den Sozialismus aufbauenden Staat zu finden galt, die zweite nach 1949 mit der Erhebung des sozialistischen Realismus zur Kunstdoktrin und die dritte nach 1956, die sich von den unmittelbaren Neuerungen nach der Kriegszeit weitgehend löste und damit die Tauwetterperiode einleitete. 3 Nicht unerwähnt bleiben sollte auch das Jahr 1968, eine Zeit erneuter Unruhen und einer neuen Zäsur in der Kultur. Der polnische Literaturbetrieb stand also erneut, aufgrund der historischpolitischen Veränderungen im Lande, vor mehreren Problemen: vor der Auffindung neuer Richtlinien, neuer Konzepte im stalinistischen System, aber auch vor der Frage, ob Literatur oder Kunst nach Auschwitz, nach der unmittelbar erlebten bzw. überlebten Kriegszeit überhaupt möglich sind und der immer wieder genannten „Ratlosigkeit“ der Literatur angesichts dieser menschlichen und moralischen Katastrophe. Ohne an dieser Stelle die Debatte über die unterschiedliche künstlerische Umsetzung des Themas Krieg, der Problematik der Erinnerung bzw. der Zeugenschaft, der darstellerischen Sichtweise oder auch der Dokumentation der Ereignisse zu eröffnen, lässt sich insgesamt doch festhalten, dass die polnische Literatur eine sehr große Zahl an Werken zu diesem Thema hervorgebracht hat, die mit den Begriffen „Kriegsbzw. Lagerliteratur“ oder „Dokumentarliteratur“ zu bezeichnen wären und in den ersten zehn Jahren unmittelbar nach dem Krieg am häufigsten erschienen. Auch andere Medien, wie z.B. Film oder Presse, besonders der 60-er und 70-er Jahre, werden genutzt, um dieses Thema immer wieder aufzugreifen. Angesichts der Flut von Kriegsliteratur in Polen scheint es fast unmöglich zu sein, eine Systematisierung vorzunehmen. Zu berücksichtigen sind dabei nämlich alle Gattungen, in denen die thematische Spannweite und die unmittelbaren Erlebnisse in den deutschen und sowjetischen Lagern, Vertreibung und Flucht aus den Ostgebieten, Krieg und Emigration, Juden und Antisemitismus, Holocaust, Getto, der Warschauer Aufstand, der Widerstandskampf und die kriegerischen Verbrechen im Sinne einer menschlichen und moralischen Katastrophe eine Rolle spielen. Der gesamten Kriegsbzw. Lagerliteratur mit allen dazugehörenden Veröffentlichungen in Tagebuchform bzw. Erinnerungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht vollständig genannt werden können, kann ihre Glaubwürdigkeit nicht abgesprochen werden, doch ist sie nicht imstande all das, was passiert ist, zu erklären bzw. es nachvollziehbar zu machen. 4 Sie hat Dokumentarcharakter, schreibt Stanisław Burkot in seiner Untersuchung 3 Miłosz, Czesław. Geschichte der polnischen Literatur. Köln 1981, S. 361. 4 Burkot, Stanisław. Literatura polska po 1939 roku. Warszawa 2005, vgl. S. 107. ÜberLeben 261 über die polnische Literatur seit 1939. Aber nur dann, wenn sie die Grenzen einer einfachen Niederschrift überschreitet, wenn sie über den Sinn und den Charakter der Ereignisse, über die tragischen Gemeinschaftserfahrungen im 20. Jahrhundert reflektiert, wird sie bedeutsam, wobei immer die Gefahr einer Vereinfachung der Tatsachen besteht. 5 Diese Erfahrungen kommen auf zweierlei Weise zu Wort: Es sind einerseits Tausende von Tagebüchern der Soldaten, deren Notizen, Erinnerungen aus den Gefängnissen, aus der Konspiration, aus dem Getto, mit anderen Worten: persönliche Aufzeichnungen normaler Menschen. 6 Andererseits aber kommen eben diese Erfahrungen in verschiedenen literarischen Formen zum Ausdruck, dabei oft die Konventionen sprengend. Mit einer gewissen Liberalisierung des Literaturbetriebes nach 1956, mit Tadeusz Różewicz gesprochen mit der Zeit „unserer kleinen Stabilisierung“, vor allem aber nach 1968 und dem Aufkommen einer neuen Dichtergeneration, der Neuen Welle, wird es ein wenig still um das Thema Krieg in der Literatur. Der Krieg ist nun eine Epoche geworden, die man aus Schulbüchern kennt. Die Realität hieß nun für die neue Generation „Volksrepublik Polen“. Die neue Dichtergeneration macht nicht mehr den Krieg zum Thema ihres Schaffens. Auch seitens der Politik wird die Auseinandersetzung mit der Kriegsthematik scharf kritisiert. Schriftstellern wie Borowski oder Rudnicki wird Ignoranz gegenüber der neuen Realität vorgeworfen und ihre Verpflichtung gegenüber der Gegenwart angemahnt. 7 Die gewisse Freiheit dieser Zeit machte auch eine Öffnung für neue Richtungen und Tendenzen, vor allem aus dem Westen möglich. Hier hatte die Literatur einiges nachzuholen. Dennoch wurde das Thema des Zweiten Weltkriegs immer wieder vereinzelt neu aufgegriffen, wie z.B. 1957 in dem Roman „Kolumbowie . Rocznik 1920“ (dt. „Die Kolumbus, Jahrgang 1920“) von Roman Bratny über die Kämpfer der Heimatarmee beim Warschauer Aufstand. In den siebziger Jahren kommt die sog. „Literatura faktu“ (Literatur des Faktes) auf und setzt sich erneut mit dieser Thematik auseinander. Zur Entstehung neuer Werke werden Dokumente aus den Archiven der Kommission zur Untersuchung der Verbrechen herangeholt. Hier wäre vor allem Hanna Krall mit dem Titel „Zdążyć przed Panem Bogiem“ (dt. „Vor dem Herrn Gott schaffen“) von 1977 mit einem darin enthaltenem Interview mit einem Befehlshaber des Warschauer Aufstandes zu nennen. 1986 erscheint Andrzej Szczypiorskis Roman „Początek“ (dt. eigentlich „Der Anfang“, veröffentlicht u.d.T. „Die schöne Frau Seidenmann“), in dem zwar die Schicksale von Opfern und Tätern im besetzten Warschau beschrieben werden, dies allerdings ohne alle Schuldzuweisungen, wodurch eine Brücke in die Gegenwart geschlagen wird. In all diesen verschiedenen Bearbeitungen der 5 ebd., vgl. S. 106. 6 Drewnowski, Tadeusz. Literatura polska 1944-1989. Próba scalenia. Obiegi - wzorce - style. Kraków 2004, vgl. S. 53f. 7 ebd., vgl. 83. 262 Ewa Makarczyk-Schuster Kriegsproblematik bleibt Różewicz allerdings bis heute der Sprecher der Überlebenden. Das Thema Krieg nahm in jüngster Zeit, auf jeden Fall nach dem Umbruch von 1989 eine neuerliche Wende, die vielleicht schon Szczypiorski eingeleitet hat. Die neue Epoche, die man aus literaturhistorischer Sicht noch schwer beschreiben kann und die sich in die Bezeichnung „Postmodernismus“ flüchtet, bringt eine neue Generation von Dichtern und Dramatikern hervor, die sich auf die Suche nach einem neuen Realismus begibt, 8 um die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen im Lande zu beschreiben. Es wird versucht, den Zweiten Weltkrieg in dieser nun offenen, liberalen Situation als eine gemeinsame deutsch-polnische Vergangenheit zu sehen. Hier sollen die Namen von Stefan Chwin und Paweł Huelle genannt werden. Auch die Auseinandersetzung mit bisherigen Tabuthemen stellt eine neue Linie im Umgang mit der Vergangenheit dar. Andrzej Wajdas Film „Katyń“ (dt. „Katyn“) von 2007 beschäftigt sich mit dem Verbrechen von Katyn. Der gemeinsamen deutsch-polnischen Vergangenheit, speziell des Themas Flucht und Vertreibung nimmt sich das Theaterprojekt „TRANSFER! “ von dem jungen Dramatiker und Regisseur Jan Klata an. Der Umgang mit dem Thema Krieg soll nun an zwei Beispielen, und zwar an Tadeusz Różewiczs Bühnenstück „Kartoteka“ von 1959 (dt. „Die Kartothek“, „Die Kartei“) und eben Jan Klatas „TRANSFER! “ von 2006 verdeutlicht werden. Dabei interessieren die Darstellungsmittel eines unmittelbaren Zeitzeugen des Krieges und die Mittel eines jungen Autors und Regisseurs, der in seinem Theaterprojekt deutsche und polnische Zeitzeugen auf die Bühne holt und sie über den Krieg erzählen lässt. Tadeusz Różewicz ist der bekannteste Vertreter der polnischen Literatur, der sich in seinem ganzen Schaffen mit dem Thema Krieg, sowohl in der Lyrik als auch in der Dramatik immer wieder auseinandersetzt. Geboren wurde er 1921 in Radomsko, in der Nähe von Łódź als zweiter von drei Söhnen eines Kleinstadtbeamten. Zusammen mit seinem älteren Bruder, einem Literaturliebhaber, entdeckte Różewicz schon in der Kindheit seine Vorliebe für die Dichtung. Gemeinsam studierten sie, interpretierten und parodierten z.T. zu Hause nicht nur Werke der polnischen Literatur. Aber auch selbst schrieben sie erste Gedichte. Różewicz erlangte das sog. kleine Abitur, fällt jedoch im Fach Musik durch die Aufnahmeprüfung für ein Pädagogisches Lyzeum. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht war Różewicz 18 Jahre alt. Er nahm in verschiedenen Positionen als Bote bzw. unter dem Pseudonym „Satyr“ als Mitglied der Heimatarmee (poln. Armia Krajowa, AK) im Untergrund aktiv am Krieg gegen die deutsche Besatzung teil. Sein 8 Sugiera, Małgorzata. W poszukiwaniu realizmu. Polski dramat ostatniego piętnastolecia w europejskim kontekście. In: G. Matuszek (Hg.), Literatura wobec nowej rzeczywistości. Kraków 2005, vgl. S. 221. ÜberLeben 263 älterer Bruder kam in diesem Kampf um. Nach dem Krieg studierte Różewicz Kunstgeschichte, um, wie Dietrich Scholze zitiert, „Ziegel für Ziegel“ 9 die Welt wieder zu errichten. Seit 1968 lebt er in Breslau. Und er schreibt weiter, Gedichte und Dramen, die in vielen Bänden erschienen sind und in sehr viele Sprachen übersetzt wurden, wie z.B die Lyrikbände „Niepokój“, 1947 (dt. „Unruhe“), oder „Czerwona rękawicza“ (dt. „Der rote Handschuh“), 1948 oder auch Dramen wie „Kartoteka“, 1959 (dt. „Die Kartothek“, „Die Kartei“), „Świadkowie albo Nasza mała stabilizacja“, 1964 (dt. „Die Zeugen oder unsere kleine Stabilisierung“), „Stara kobieta wysiaduje“, 1969 (dt. „Die alte Frau brütet“), „Na czworakach“, 1972 (dt. „Auf allen vieren“) und viele mehr. Dabei hat für ihn die Literatur an sich, im Sinne der Frage, „ob Kunst nach 45 überhaupt möglich ist“, nur dann eine „Existenzberechtigung, wenn sie alle literarischen Konventionen zerstören will.“ 10 Różewicz lehnt also jegliches Versmaß und Reim ab und schafft damit eine Lyrik, die zur Aufgabe hat, den Sinn, die ursprüngliche Bedeutung jedes Wortes wiederzufinden. Er erlernt nach seinen Kriegserfahrungen, nach der Zeit also, die ihm gewaltsam die Jugend nahm, die Sprache neu. „Różewicz will nackt dastehen, bar jeder religiösen oder philosophischen Gewissheit, und von vorne anfangen wie ein Kind.“ 11 In seinem Gedicht „W środku życia“ (dt. „In der Mitte des Lebens“) schreibt er: Nach dem ende der welt nach dem tode fand ich mich in der mitte des lebens ich schuf mich neu (…) 12 Er spielt mit den Wörtern wie mit Bausteinen, entwirft dabei jedoch das Bild eines nach den Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges, nach Massenmord, Brutalität und moralischer Gleichgültigkeit in der neuen Zivilisation verlorenen Individuums. Seine Lyrik ist eine Antilyrik, die bewusst die bisherigen Normen verwischt und sich immer wieder auf die Suche nach dem Bösen im Menschen begibt, nach der Stellung des Menschen im Kosmos fragt, dabei das normale Leben ironisiert, aber auch stark bejaht. Seine Lyrik wendet sich bewusst vom „Schönen“ ab, ihre Sprache ist Prosa. Różewicz gelangt im Verlauf seines Schaffens zu der Erkenntnis, durch das Theater mehr Rezipienten seines dichterischen Anliegens zu erreichen als durch die Lyrik. Sein Theater ist ebenso keinen Konventionen verpflichtet und weist deutlich Merkmale des absurden Theaters auf. Die Thematik 9 Scholze, Dietrich. Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert. Berlin 1989, S. 180. 10 Miłosz (1981), S. 367. 11 ebd., S. 368. 12 Różewicz, Tadeusz. Niepokój. Wiersze z lat 1945-1946. Wrocław 1980, S. 262. 264 Ewa Makarczyk-Schuster bleibt dabei jedoch dieselbe wie bei der Lyrik. So entsteht 1959 das Schlüsselwerk seiner Dramatik, das Stück „Die Kartothek“, das 1960 in Warschau uraufgeführt wird. Das Stück ist ein Paradebeispiel sowohl für die offene Form als auch für die Montagetechnik eines Dramas. Thematisch gesehen stellt „Die Kartothek“ den Zustand der um 1920 Geborenen nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Auch wenn dieses Stück das „am meisten autobiographische“ ist, so unterzieht Różewicz gleich eine ganze Generation einer moralischen Prüfung. Das Stück ist allerdings gleichzeitig auch ein Heilungs- und Rettungsversuch nicht nur einer Generation, die sich inzwischen auf dem besten Wege befindet, sich mit einer geistig leeren „kleinen Stabilisierung“ zufrieden zu geben, sondern auch der Versuch der Rekonstruktion eines durch die historischen Geschehnisse in eine bestimmte Welt „geworfenen“ Menschen. Das Geschehen, wenn man von einem solchen bei diesem Stück überhaupt sprechen kann, ist nur schwer wiederzugeben. Die Bühne stellt eine Art Zimmer dar, in dem es keine Fenster gibt, dafür aber zwei Türen, durch die ständig Personen ein- und ausgehen, als ob durch das Zimmer eine Straße verliefe. Sie bleiben stehen, geben einige Worte von sich, lesen Zeitungen. Während des ganzen Stückes brennt starkes Tageslicht. Das Stück, so im einführenden Nebentext, ist realistisch und gegenwärtig. 13 Daher befinden sich auf der Bühne des Weiteren ein Stuhl, ein Tisch und andere „reale“ Möbelstücke bzw. Einrichtungsgegenstände, die im Verlauf des Stückes nicht bewegt oder verändert werden. Es reicht, wenn ein Stuhl bewegt wird, so der Autor selbst. 14 An der Wand steht ein Bett, das im Stück selbst das Zentrum des Geschehens bildet und in das sich die Hauptfigur, der Held, häufig zurückzieht. Ein im klassischen Sinne verstandenes Personenverzeichnis gibt es nicht. Viele Personen, die an der „Geschichte“ teilnehmen werden, spielen keine „größere Rolle“. 15 Alle treten in ihrer normalen Alltagskleidung auf. Aber es gibt einen „Helden“ des Stückes, ohne besonderes Aussehen, Alter und Beschäftigung. Er hat keinen Namen und heißt einfach „Der Held“. 16 Das Geschehen beginnt damit, dass der Held in seinem Bett liegt und seine Hand betrachtet. (Mit eben dieser Passivität, der Held ist grade vierzig, beginnt „Die Kartothek“ und verfolgt dieses Thema durch die im Stück dominierende liegende Haltung des Helden. Auf der Suche nach dem verlorenen Ich vertraut Różewicz in erster Linie der Physis.) „Das ist meine Hand, Ich bewege die Hand. Meine Hand. Bewegt die Finger. Meine Finger. Meine lebendige Hand ist so folgsam. Macht alles, was ich denke.“ 17 Im weiteren 13 Różewicz, Tadeusz. Kartoteka. Kraków, Wrocław 1986, vgl. S. 5. 14 ebd. 15 ebd. 16 ebd. 17 ebd., S. 6. ÜberLeben 265 Verlauf wird der Held von verschiedenen Figuren aufgesucht, von seinen Eltern, seinem Onkel, von einer Frau namens Olga, von einem fetten Weib, einem Polizisten, einem Lehrer, einem jungen Mädchen aus Deutschland, von einem Herrn mit Scheitel, von einem Journalisten und einigen mehr. Sie sprechen den Helden mit unterschiedlichen Vornamen an und schaffen somit einen Gruppenhelden; insgesamt sind es dreizehn Namen, alle aus dem Umfeld der Familie und der Freunde Różewiczs. Die Figuren unterhalten sich mit dem Helden über vergangene Zeiten und über die Gegenwart und schaffen somit Karteikarte für Karteikarte immer neue Informationen aus dem Leben des Helden herbei: aus seiner Kindheit, aus der Schule, vom Krieg usw. Dabei wird keine Chronologie beachtet. Die Eltern z.B. erkennen in dem Helden ihren siebenaber auch ihren vierzigjährigen Sohn, der inzwischen organisatorischer Leiter einer Operette sein soll. Über das ganze Geschehen wacht quasi ein Chor von Greisen, der in einem Akt von Selbstironie des Autors immer wieder an die Konventionen des Theaters und seine Haupthelden erinnert: „Wo sind die alten Helden geblieben, Orpheus, Kämpfer, Propheten.“ 18 Das Ende des Stückes bildet das Interview mit einem Journalisten, der über hervorragende Persönlichkeiten berichten will, hier aber erfahren muss, dass er zu spät gekommen ist. Ohne sich von ihm zu verabschieden, bleibt der Held schweigend zurück. Sowohl die Dramenform als auch das Montageprinzip dienen Różewicz dazu, nicht nur auf der makrostrukturellen Ebene, sondern auch in der Mikrostruktur des Stückes seine zentrale Aussage zu situieren: die Situation eines Menschen darzustellen, dem durch den Krieg, aber auch durch die Lebensumstände danach nicht nur ein Teil seines Lebens geraubt wurde, sondern der die Vergangenheit noch nicht verarbeitet hat, der nach Wertorientierung suchen muss. Es gilt die Kartei eines Lebens Karte für Karte neu zu erstellen und Leitlinien zu finden, um mit derart ausgestatteten, neubzw. wiederrekonstruierten Menschen eine neue Welt zu schaffen, die zerrissenen Teile seines Lebens zusammenzufügen. An dieser Stelle werden Różewiczs Erfahrungen während des Kunststudiums offensichtlich: Elemente der kubistischen Malerei, das Zusammensetzten einzelner Bestandteile eines Ganzen. Den mehrschichtigen Bedeutungsaufbau bezeichnet Różewicz selbst als „realistisch und poetisch“. 19 Das Montageverfahren und die offene Form umfassen in dem Stück fast alle Ebenen des Aufbaus: der Verzicht auf ein Handlungskontinuum, das Fehlen raum-zeitlicher Kohärenz, die Destabilisierung der einheitlichen Perspektive und das Öffnen des Stückes für Verfahren anders codierten Materials, wie z.B. Zeitungsausschnitte und Lexikonbeiträge. 20 So entspricht die 18 ebd., S. 12. 19 Schultze, Brigitte. Facetten der Montage in Kartoteka von Tadeusz Różewicz. In: H. Fritz (Hg.), Montage in Theater und Film. Tübingen 1993, S. 141-167. Hier S. 143. 20 ebd., S. 142. 266 Ewa Makarczyk-Schuster offene, aus allen klassischen Konventionen herausgehobene Form des Stückes der „aus den Fugen“ geratenen Situation eines Kriegsüberlebenden, dem die ganze Lebenswelt ausgelöscht wurde, der nahestehende Menschen und gewachsene Bindungen verloren hat. 21 Dem Autor und seiner Generation wurde die Möglichkeit genommen, auf normalem Wege in das Erwachsenenleben heranzureifen. Stattdessen wurden sie von Tod und Zerstörung umgeben. „Statt Reifung und Integration folgte auf die Adoleszenz das Schicksal eines isolierten, orientierungslosen Ichs“. 22 Auch die neue Zeit, die des Sozialismus, brachte keine Chance, sich in moralischer oder werteorientierter Hinsicht zu reintegrieren. Es war nämlich nur eine „(...) weitere kollektive Erfahrung mit den verheerenden, zersetzenden Folgen der Stalinzeit (...) und die des „langsam wachsenden Wohlergehens in der zweiten Hälfte der 50er Jahre“ 23 Alle genannten Schicksalserfahrungen begründen Różewiczs Wahl der Montage in seinen Stücken. Er selbst äußert sich zu seinem Theater folgendermaßen: „Mein Theater ist ein lebender Organismus, einem Menschen, einem Invaliden vergleichbar, der im Kampf sein linkes Bein verlor, aber in diesem Bein noch dauernd Schmerzen hat. Denn diesem Theater ist die dramatische Handlung verlorengegangen (...), aber das verlorengegangene, wichtige Glied bereitet mir noch immer Schmerzen“. 24 Nun aber zurück zum Stück selbst und dessen Themen aus Vergangenheit und Gegenwart. Die Bühne stellt zwar ein Zimmer dar, doch durch die Öffnung des Raumes für vorbeieilende Passanten verliert es jegliche Privatheit. Er wird, abhängig von den ihn zeichnenden Figuren, zu einem Büro, einem Klassenzimmer oder auch einem Café umgewandelt. Auch Różewicz und seine ganze Generation, bzw. alle unter dem Krieg Leidenden haben ihren privaten Raum in jeglicher Hinsicht verloren. Die besondere Stellung eines qualitativen bzw. klassifizierenden Adjektivs im Polnischen wird in diesem Stück sogar dazu benutzt, die Privatheit der Wohnung in Frage zu stellen. Der grell beleuchtete Raum erinnert an einen solchen, in dem Verhöre stattfinden. Tatsächlich wird der Held im ganzen Stück Rede und Antwort zu seinem ganzen Leben stehen müssen. Dabei prallen regelrecht die vergangenen Jahre und die Gegenwart aufeinander. Das Montageprinzip überprüft geradezu das Schicksal der Generation in mehreren historischen Phasen, wobei im Einzelnen auf Schuld und Sühne, auf Passivität und Sorglosigkeit eingegangen wird. Vom zeitlichen Ablauf her muss der Held also etwa um 1920 herum, fast wie Różewicz selbst, geboren worden sein. Auf der Suche nach der eigenen Identität beginnt der Held, im Bett liegend, seine Hand und seine Finger zu betrachten. Auch die Physis muss also neu wiedergefunden werden, denn 21 ebd., vgl. S. 146. 22 ebd. 23 ebd., S. 146f. 24 ebd., S. 149. ÜberLeben 267 diese Hände können auch töten, wie es später in dem Stück heißt. Auf ihnen können noch Blutflecken des Krieges oder aber auch schwarze Flecken der Sünde haften. Różewicz beginnt also sein Stück in einer Gegenwart, in der jeder einzelne zur Passivität durch das Regime gezwungen wurde. Im Gespräch des Helden mit seinem Onkel gestehen beide, immer wieder nur geklatscht und damit ohne jegliche eigene Meinungsäußerung allem zugestimmt zu haben. Der Prozess der Wiederselbstfindung durch die Physis wird jedoch unterbrochen durch das Erscheinen der Eltern und deren „Zurredestellen“ des Sohnes wegen gestohlenen Zuckers oder einer Geldmünze. Wie in Trance reagiert der Held auf Ziehen am Ohr durch den Vater mit den Worten: „Stehen bleiben! Stehen bleiben! Wer ist da? Stehen bleiben, sonst schieße ich! Halt! “ 25 Das letzte Wort sagt er auf deutsch. Die autoritäre Erziehung des Vaters bringt den Sohn dazu, eine Beichte über die Sünden der Kindheit abzulegen. Der Vorgang des Beichtens verselbständigt sich und wird in einer Art Automatismus abgespult. Die groteske Situation spielt auf die Repressalien der Stalinzeit an. Das Verlangen nach Aufklärung, und damit nach Abrechnung mit der seiner Kriegsvergangenheit, kommt aber auch vom Helden selbst. In einem seiner Monologe ist dies deutlich spürbar: „Meine Brüder, meine Generation. Zu Euch spreche ich. Die Jungen und die Alten können uns nicht verstehen. (…) Man braucht nicht die Augen zu verschließen! (…) Ich will bis zum Ende sehen.“ 26 Różewicz startet diesen Versuch einer Aufklärung in dem Dialog zwischen dem Helden und einem Mädchen aus Deutschland, das neben seiner Tasche und einem Buch u.a. auch einen Apfel bei sich trägt. Sie ist eine derjenigen „Karteikarten“, die keine Information über den Helden mitbringen, sondern ihn unbeabsichtigt dazu bewegt, über sich selbst zu reden. Der Held ist sich dabei nicht sicher, ob sich die Jugend tatsächlich keine Gedanken macht oder ob dies in den Medien nur so dargestellt wird. Er jedoch, nachdem er erfahren hat, dass sie aus Deutschland kommt, fühlt sich verpflichtet, ihr etwas zu erklären, und mahnt sie, ihn anzuhören. Er freut sich, dass es sie gibt und sie mit ihren 18 Jahren lächeln kann, denn so muss es im Leben sein. Ihre Augen „(…) haben nicht gesehen, nicht gesehen.“ 27 Schmerzhaft erinnert Różewicz an dieser Stelle an seine verlorene Jugend und die Möglichkeit zu lächeln, auch noch lange nach dem Krieg. Der Held erklärt dem Mädchen, dass er keinen Hass gegen sie hege und ihr Glück wünsche. Er wünscht der Jugend auf beiden Seiten Glück, sie sind nämlich die ganze Hoffnung und die Freude der Welt. Er selbst ist immer noch mit Schlamm und Blut beschmiert, denn er hat mit ihrem Vater im Wald gejagt. Sie haben sich mit Gewehren gegenseitig gejagt. Diese Passage endet in ge- 25 Różewicz (1986), S. 7. 26 ebd., S. 26. 27 Różewicz (1986), S. 27. 268 Ewa Makarczyk-Schuster wisser Hinsicht resignierend mit den Worten „Kann man einem anderen Menschen nichts sagen, etwas erklären. Kann man nicht das weitergeben, was das Wichtigste ist… o Gott! “ 28 Diese relativ lange Stelle des Bekenntnisses, der Hoffnung und zugleich der Resignation wird beendet durch deutliche Worte auf Deutsch aus dem Megafon: „Aufstehen! Aufstehen! Der Held steht auf. Bleibt an dem Stuhl „stillgestanden“ (…) Raus! Alles raus! Maul halten, Klappe zu, Schnabel halten! Willst du noch quatschen? Du hast aber Mist gemacht! Du Arschloch, Schweinehund, du Drecksack! “ 29 Das Mädchen entfernt sich und lässt den Apfel auf dem Tisch liegen, nach dem der Held noch einmal nachfragt. Die symbolisch dargestellte Chance zur Erlösung wird an dieser Stelle nicht genutzt. Dafür erzählt der Held von seinem Vater und wünscht sich, er wäre jemand anderes als nur ein kleiner Beamter in einer Kleinstadt. Er gehört damit, so der Held, wie er selber zu den grauen Menschen, die nach ihrem Tod schnell vergessen werden. Den Begriff des „grauen Menschen“ prägte Różewicz zunächst in seiner Lyrik nach dem Schulverweis seines Bruders. Dieses Motiv taucht aber in seinem ganzen Schaffen immer wieder auf. Auf das Kommando aus dem Megafon hin bleibt der Held mit dem Gesicht zur Wand stehen, wie bei einem Erschießungskommando. Alle Erinnerungen und Erlebnisse sind wieder da. Ist es zu früh oder gar zu spät für eine Abrechnung mit der Vergangenheit oder ist einfach der Mensch noch nicht soweit bzw. nicht imstande, Klarheit in sein Leben zu bringen? Denn in der nächsten Szene muss der Held noch seine um zwanzig Jahre verspätete Reifeprüfung bestehen. Er erfährt dabei von dem Lehrer, dass die jungen Leute nur das Leben genießen wollen, aber: „Wer soll auf dieser Welt eigentlich leiden? “ 30 Die Reifeprüfung, die der Held nicht einmal selbst ablegt, weil er von einem der Chorgreise ins Bett gebracht wird, ist eine Farce auf das historische Wissen. Ebenso eine Farce ist die Aufklärungsarbeit des Vaters, der ihn auf das Erwachsenenleben vorbereiten will. Die gewaltsam durch den Krieg verlorenen Etappen einer Initiierung in das Leben der Erwachsenen lassen sich offensichtlich nicht mehr nachholen. Der Held erzählt der Sekretärin von seinen Kindheitsträumen, die jedoch nicht in Erfüllung gegangen sind. Er ist lange gewandert, um sich selbst wieder zu finden. 28 ebd., S. 28. 29 ebd. 30 ebd., S. 31. ÜberLeben 269 Held: „Jetzt bin ich immer ich selbst. Ich bin so lange gewandert, bis ich zu mir gefunden habe. Sekretärin: Zu sich selbst? Wie sieht es dort aus? Was ist da? Held: Nichts. Alles ist außen. Und dort gibt es irgendwelche Gesichter, Bäume, Wolken, Gestorbene… aber das alles fließt nur durch mich durch. Der Horizont wird immer kleiner. Ich sehe am besten, wenn ich die Augen schließe. Mit geschlossenen Augen sehe ich Liebe, Glauben, Wahrheit… 31 Eine erschütternde Erkenntnis, die der Held hier äußert. Die Selbstfindung bezieht sich nur auf Äußerlichkeiten, die Seele bleibt leer. Die Erinnerung verblasst. Liebe, Glaube und Wahrheit sind nur noch Träume, die man mit geschlossenen Augen sehen kann. Die Sekretärin unternimmt es daraufhin, den Helden mit dem Apfel zu versuchen. Er schläft aber wieder ein, worauf sie eine Anklage gegen die Männer vorträgt: „Sie sind ständig in Eile nach einem Ziel, sie morden, sie könnten nie eine Frucht austragen. Sie sind die geborenen Abstraktionisten. Darin ist der Tod.“ 32 Sie beißt selbst in den Apfel und nimmt damit dem Helden die Chance auf einen Neuanfang als Mensch. Eine weitere wichtige Stelle in dem Stück beginnt - wie schon gesagt - mit dem Erscheinen eines Journalisten, der ein Interview mit dem Helden führen will. Er erfährt nicht viel, wie er am Ende selbst feststellt, doch der Held selber legt wieder eine neue Karte an. Seine Antworten auf die Fragen nach dem Lebensziel bzw. der Zufriedenheit, am Leben zu sein, sind nicht präzise, sondern ausweichend und widersprüchlich. Das kann aber auch daran liegen, das der Held dem Journalisten gegenüber sehr misstrauisch ist: „Ihr bringt auch andere Sachen fertig…“ 33 Auf die Frage nach seinen politischen Ansichten antwortet der Held zunächst: „Wer hat um 5 Uhr früh politische Ansichten? “ 34 Doch dann fängt er sich wieder und sagt: „Man muss sich waschen, anziehen, aufs Klo gehen, die Zähne putzen, das Hemd wechseln, die Krawatte anlegen, die Hose anziehen und dann erst die Ansichten …“ 35 , dabei auf Engels Rede am Grab von Karl Marx anspielend, in der es heißt, dass die Menschen sich kleiden und vor allem essen und trinken müssen, bevor sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. verfolgen. 36 31 ebd., S. 36. 32 ebd. 33 ebd., S. 38. 34 ebd., S. 39. 35 ebd. 36 Friedrich Engels’ Rede am Grab von Karl Marx am 17 März 1883. S. http: / / www.manager-dj-lothar.de/ HTMLPDF/ eigene/ - Sehr_geehrte_Anwesende.htm. 270 Ewa Makarczyk-Schuster Die facettenreiche Darstellung des Helden mag die Bilanz einer Gesellschaft verdeutlicht haben, die durch die historischen Umbrüche des Krieges und den Stalinismus um Wertorientierung, um Reintegration und Lebenssinn ringt. Der makro- und der mikrostrukturelle Aufbau des Stückes wird genutzt, um die Zerrissenheit der Gesellschaft darzustellen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Montagetechnik, die „nahezu alle redegestützten und nichtverbalen theatralen Zeichen“ 37 umfasst und somit erlaubt, das Einheitsprinzip aufzulösen. Dabei muss beachtet werden, dass das Deutungsangebot in dem Stück sowohl den Zustand der Gesellschaft als unmittelbare Folge des Krieges als auch die Befindlichkeit in dem neuen System umfasst. Die Gestaltung des Bühnenraumes und die Proxemik unterstützen diese Aussage zusätzlich. Es entsteht am Beispiel des Helden das Bild einer tragikomischen Figur, wobei anzumerken ist, dass Passagen, die den Krieg betreffen, deutlich tragischer ausfallen als diejenigen der Gegenwart. Nur die Figur des Helden bedient beide historischen Zäsuren. Die Gegenwart, repräsentiert durch die Eltern, die Frauen u.a.m., zeigt meist bürgerliche, wenn nicht sogar spießige Denkansätze. Auch auf der verbalen Ebene ist die Montagetechnik deutlich sichtbar. Von Pathos, Parodie und sachlicher Aussage bis hin zu nüchternen Zitaten aus Lexika ist hier fast alles vorhanden, wobei die Kommunikation zwischen den Figuren oftmals als gestört anzusehen ist. Schultze sieht in der Abfolge von Situationen und Sequenzen, im Fehlen von Handlungs- und Raumkontinuen ein „umgekehrtes Stationendrama [...]: Während der Held in seinem Bett verharrt, kommen die Lebenssituationen mit den dazugehörenden Personen zu ihm.“ 38 In der„Karthotek“ ist also nicht nur die Befindlichkeit einer ganzen Generation, sondern auch die dramatische? Struktur „aus den Fugen“ geraten. Die einzige Stabilität besteht hier in der Instabilität. Dabei gibt es keine bedeutungslosen Sequenzen, nicht einmal dann, wenn sie absurd erscheinen. Wenn am Anfang gesagt wurde, dass Różewicz in dem Stück eine ganze Generation auf den Prüfstand stellt, so muss man festhalten, dass das Fazit sehr negativ ausfällt. Zur Passivität verdammt sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat und alles andere zu vergessen, ist das erschreckende Mal, das Różewicz seiner Generation aufdrückt. Der Held versucht zwar, noch die Reste seiner Erlebnisse zusammenzukratzen, doch auch er ist zwischen der Zufriedenheit im Schlaf und der Suche nach dem Ich hin und her gerissen. Die Frage des Onkels an den Helden, ob er nicht doch von der Welt nach Hause zurückkehren kann, wird eindeutig verneint. 39 Doch bringt das Handeln des Helden etwas voran? Nicht einmal der Selbstmord gelingt ihm. Ist aber der Selbstmord in einer solchen Situation noch sinnvoll, in einer Ge- 37 Schultze (1993), vgl. S. 141. 38 ebd., S. 157. 39 Różewicz (1986), vgl. S. 16. ÜberLeben 271 sellschaft, die ihren Blinddarm mehr liebt als die ganze Menschheit? Sollen sie sich doch selber erhängen, so der Held selbst. 40 Der Rettungsbzw. Heilungsversuch in diesem Stück misslingt. Kazimierz Wyka beschreibt den Zustand der Gesellschaft nach dem Besuch einer Inszenierung „Der Kartothek“ in Warschau 1960 in einem Brief an Różewicz: „Eben, der menschliche Brei, zu dem wir alle in unserer «Epoche» geworden sind. Wenn man aus unseren Körpern Massenfleisch gemacht hat, dann entstand auch aus sog. Seelen Kaviar, Brei, Viehfutter. Die Namen des Helden ändern sich, die Jahre vergehen, mehr wissenschaftlich ausgedrückt, ist eine allgemeine Desintegration des Ichs eingetreten. Alles ist in einem Mülleimer, von dort holt man uns heraus, dort wird man uns hineinwerfen.“ 41 „Die Kartothek“ ist in Polen inzwischen ein Klassiker und zur Schullektüre geworden. Anfangs interessierte das Stück vor allem inhaltlich. Erst nach dem Erscheinen der anderen Dramen von Różewicz konnte man seine Verfahrenstechniken im gesamten Schaffen einschätzen. Der nimmermüde Różewicz unterzieht allerdings sein Stück 1992 einer Prüfung. In einer Art offener Proben lässt er das auf der Basis des alten Textes und um u.a. Zeitungsberichte der letzten Zeit ergänzte, neuentstandene Stück „Kartoteka rozrzucona“ (dt. „Die verstreute Kartothek“) aufführen. Dabei gibt es keine Regie im klassischen Sinne. In einer Art Performance haben die Schauspieler die Freiheit zu agieren. Różewicz ist bei diesen Proben immer anwesend. Er lässt das Thema Krieg nicht fallen. Einen erneuten Umbruch in der polnischen Geschichte stellt das Jahr 1989 dar, eine Wendezeit, in die die Menschen wieder einmal regelrecht hineinkatapultiert worden sind. Wieder einmal waren sie auf diese Situation nicht vorbereitet, wieder einmal befanden sie sich in einem Zustand der Orientierungslosigkeit. Natürlich reagiert auch die Literatur auf diese politisch-gesellschaftliche Veränderung. Es erscheinen vornehmlich Dramenanthologien, die man - wie bereits gesagt - der Richtung eines „neuen Realismus“ zuordnen kann. 42 So auch das Theaterprojekt „TRANSFER! “ (dt. „TRANSFER! “) von Jan Klata, eine Auftragsarbeit für das Breslauer Theater. Im klassischen Sinne haben wir hier keinen Text, kein Bühnenstück vorlie- 40 ebd., vgl. S. 20. 41 Różewicz, Tadeusz. Dramat 2. Wrocław 2005, S. 142. 42 Brigitte Schultze und Ewa Makarczyk-Schuster. Radikale Konfrontationen und Reaktionen in einer veränderten Lebenswelt. Das polnische Drama und Theater am Anfang des 21. Jahrhunderts. In: F. Kreuder, S. Sörgel (Hg.), Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Tübingen 2008, S. 236-262. Hier vgl. S. 236f. 272 Ewa Makarczyk-Schuster gen. Das Konzept dieses Projektes ist nur als Manuskript des Regisseurs vorhanden und nicht jedermann zugänglich. Jan Klata wurde 1973, also als Różewicz 52 wurde, in Warschau geboren. Seine Eltern waren in der Solidarność-Bewegung tätig. Sein erstes Drama „Słoń zielony“ (dt. „Der grüne Elefant“) schrieb Klata, vor den Eltern verheimlicht, bereits mit 13. Er gewann mit dem Stück einen Wettbewerb in Breslau, und das Drama wurde ein Jahr später in der Zeitschrift „Dialog“ gedruckt und danach in Zakopane uraufgeführt. Klata war 16 Jahre alt, als der Umbruch 1989 auch ihn, ähnlich wie Różewicz mit 18, in eine neue Welt warf. Die Umstände und die Folgen waren allerdings völlig andere. Klata studierte in Warschau und Krakau Regie und wurde als Regisseur, insbesondere wegen seiner Klassikerinszenierungen bereits mit mehreren Auszeichnungen geehrt. Es folgten weitere Stücke. Der in den Medien sehr präsente Autor und Regisseur mit seiner Irokesenfrisur entstammte der polnischen Punkszene und gilt heute als der größte Provokateur des polnischen Theaters. 43 Mit dem Thema des Zweiten Weltkriegs hat er sich nicht sonderlich auseinandergesetzt. Wie er selbst bei einem Gespräch am Rande der Biennale 2008 in Wiesbaden sagte, kenne er den Krieg lediglich aus den polnischen Kriegsfilmen. Dazu kenne er das Wort „poniemieckie“: gemeint damit ist alles, was die Deutschen an Gegenständen nach dem Krieg zurückgelassen haben, in dem Sinne: was aus deutscher Zeit stammt, also sehr gut ist. Die Idee, ein szenisches Projekt zu dem inzwischen sehr empfindlich gewordenen Thema Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Bühne umzusetzen, stammt von der Intendantin des Teatr Współczesny in Breslau. 44 Die Herausforderung, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, mit historischem Material zu arbeiten und sowohl professionelle Schauspieler als auch deutsche und polnische Zeitzeugen auf die Bühne zu stellen, nahm Klata an. 45 Dabei steht Breslau exemplarisch für Polen als Beispiel für Flucht und Vertreibung. Dreiviertel der Stadtbevölkerung musste fliehen, 170 Tausend Zivilisten sind umgekommen. Breslau wurde als „Festung Breslau“ von Februar bis Mai 1945 stark umkämpft, zerstört und einem vollständigen Bevölkerungsaustausch unterworfen. Gerade dort also sollte das Thema der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte 43 www.zeit.de/ 2007/ 03/ transfer-neu 44 Das Projekt wurde vom „Büro Kopernikus. Deutsch-Polnische Kulturprojekte“ gefördert und ist eine Zusammenarbeit vom Teatr Współczesny in Wrocław, dem HAU, Nationaltheater Weimar, in Kooperation mit dem Adam Mickiewicz Institut Warschau, mit Unterstützung des polnischen Institutes Berlin und der Stiftung für deutschpolnische Zusammenarbeit. Gefördert aus den Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. www.de-pl.info7de/ event.php/ event/ 867. 45 Connert, Julia, Monika Hirschfeld. Steinschweiger? Steinwald? Steinbaum? - Egal! Ein Interview mit Jan Klata. Unter: www.novinki.de/ html/ zurueckgefragt/ Interview_Klata.html. ÜberLeben 273 in Szene gesetzt werden. Maria Dąbrowska schrieb bereits 1947 nachdem sie mehrmals in Breslau war, dass in dieser Stadt die Nostalgie nach den Ostgebieten, genauer gesagt nach Lemberg, regelrecht physisch zu spüren sei. In Breslau lebten nämlich die meisten Vertriebenen aus der Gegend von Lemberg. 46 Sie wollte darüber einen Roman schreiben, doch war sie sich sicher, dass dies die damalige Zensur aufgrund der nicht tolerierten Ostnostalgie nicht zulassen würde. 47 Fast sechzig Jahre später wird ihr Vorhaben in anderer Form dann doch noch realisiert. Von Anfang an war den Theatermachern klar, dass das Projekt „TRANS- FER! “ in vielerlei Hinsicht ein riskantes Unterfangen war. Tatsächlich ergaben sich während der Arbeit Probleme mit einigen polnischen Politikern der damals regierenden Partei PiS (dt. Recht und Gerechtigkeit). Die Senatorin aus Gdingen z.B. hat immer wieder die Einsicht in das Manuskript gefordert, wurde aber von der Breslauer Theaterintendantin darauf hingewiesen, dass es in Polen keine Zensur mehr gibt. Darüberhinaus wussten Klata und sein Team nicht, wie das geplante Vorhaben ablaufen und theaterästhetisch aussehen würde, denn die Zeitzeugen hatten keinerlei Bühnenerfahrung. 48 Zudem bestand zwischen ihnen die Sprachbarriere. Das Projekt war bereits am Anfang, so Klata selbst, nicht auf Versöhnungsarbeit angelegt. Man hat mit den einzelnen Personen gearbeitet. Es ging vielmehr darum, Menschen zusammenzubringen, die sich ohne „TRANSFER! “ nie getroffen hätten. 49 „Endlich. Endlich redet mal einer drüber“ sagt eine Zeitzeugin weinend nach der letzten Vorstellung in Breslau. 50 Geplant als ein polnisches Projekt zum Thema der Vertreibung der Deutschen und Polen wurde es Klata im Verlauf der Vorbereitungen immer wichtiger, den Bruch zwischen dem heutigen Wrocław und dem damaligen Breslau aufzuzeigen. 51 So entstand eine Co-Produktion mit der deutschen Dramaturgin Dunja Funke, dem polnischen Dramaturgen Sebastian Majewski und Klata als Regisseur. Die intensive Recherchearbeit bestand darin, Zeitzeugen zu suchen, die wie Klata sagt „(…) eine interessante Geschichte zu erzählen hatten.“ 52 Als zweites Kriterium wurde die Präsenz der Laien auf der Bühne überprüft. Hier war „Geduld“ das Schlüsselwort der Arbeits- 46 Drewnowski (2004), vgl. S. 356f. 47 ebd. 48 Connert, Julia, Monika Hirschfeld. Steinschweiger? Steinwald? Steinbaum? - Egal! Ein Interview mit Jan Klata. Unter: www.novinki.de/ html/ zurueckgefragt/ Interview_Klata.html. 49 ebd. 50 Pilz, Dirk. Operation am offenen Herzen eines Tabus. Unter: http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view=article- &id=39%3Atransfer-jan-klatas-projekt-ueber-vertreibung-in-wroclaw-und-imhau&catid=55&Itemid=1. 51 Connert, Hirschfeld. 52 ebd. 274 Ewa Makarczyk-Schuster vorbereitungen. 53 Insgesamt wurden über siebzig Personen angehört und deren Geschichten aufgeschrieben bei einem Arbeitspensum von 16 Stunden pro Tag. Darüber hinaus mussten noch die Szenen für die professionellen Schauspieler geschrieben werden. Diese Aufgabe übernahm Klata selbst. Drei Wochen vor der Premiere entstand so etwas wie ein Manuskript. 54 Das Geschehen vollzieht sich auf einer Bühne, deren Boden mit schwarzer Erde bedeckt ist. Im vorderen Raum steht ein Metallträger, auf dessen höchster Stufe sich eine Art Podest befindet. Es ist der Raum für die Darsteller von Churchill, Roosevelt und Stalin. Im hinteren Teil der Bühne, z.T. von dem Träger verdeckt, sitzen auf einfachen Stühlen zehn Zeitzeugen, meistens aus der Ukraine vertriebene Polen um die 70-80 Jahre alt und die etwas jüngeren Deutschen, die aus Breslau fliehen mussten. Für die Polen beginnen die Geschichten der Vertreibung bereits 1939, für die Deutschen 1944/ 45. Auf dem elften Stuhl nimmt ein junger Mann, der Sohn eines Überlebenden, Platz. Er wird gespielt von dem jungen in Frankfurt lebenden deutschen Schriftsteller Matthias Goeritz, der mit einem Rollenkoffer auf die Bühne kommt. Die Besetzung mit den Laien variiert von Inszenierung zu Inszenierung, da sich die Zeitzeugen inzwischen in einem fortgeschrittenen Alter befinden und die Aufführungen für sie eine Anstrengung bedeuten. Die Auftretenden sprechen jeweils in ihrer Muttersprache. Der Zuschauer ist also meistens auf eine Übersetzung über Kopfhörer angewiesen. Die Handlung ist vom Ablauf her sehr einfach. Oben auf einer neonbeleuchteten Hebebühne findet die Jalta-Konferenz statt. Churchill spielt an der Elektrogitarre, Roosevelt an der Hammondorgel und Stalin am Bass. Sie trinken Wodka und in der Art wie man sonst politische Witze erzählt, werden von den dreien die neuen Grenzen in Europa gezogen. Während dieser ironisch-zynischen Situation treten unten die Zeitzeugen auf und reden zunächst alle wild durcheinander bis Stalin sie mit den Worten „Haut ab“ anbrüllt und sie auf ihren Stühlen Platz nehmen, nach ihrer eigenen Kriegsgeschichte, nach Erinnerungen suchend. Die Agierenden treten nacheinander auf und erzählen in kurzen Sequenzen ihre Erlebnisse, wie es zunächst scheint: zusammenhanglos. Doch zum Schluss entstehen zehn vollständige Schicksale von Menschen, die den Krieg überlebt haben. „Ich war groß, schlank, braun gebrannt - Hitlers Zukunft wurde mir gesagt... Und dann war alles vorbei“ 55 erzählt eine Deutsche und schildert damit aus ihrer Sicht, als Zehnjährige, den Krieg und die Flucht. Eine andere, heute 61 Jahre alt, erzählt, wie Breslau 1945 in Flammen stand und sie nächtelang im Bunker gesessen hat. Dabei hält sie sich auf der Bühne die Arme über den Kopf. „Es geht alles vorbei, nach jedem Dezember kommt ein Mai“, singt sie. 56 Wäh- 53 ebd. 54 ebd. 55 www.de-pl.info7de/ event.php/ event/ 867. 56 Pilz, Dirk. Operation am offenen Herzen eines Tabus. ÜberLeben 275 rend eine andere ihre Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus schildert, schneidet sie mit der Schere aus einer Fahne den weißen Kreis mit dem Hakenkreuz heraus und zieht sich den Stoff als Poncho an und unterstreicht damit die Absurdität derartiger Symbole. Es gibt aber auch Erinnerungen an alltägliche Dinge, an den Duft schlesischer Birnen, an Gegenstände, die man zurücklassen musste. Es werden Briefe eines Vaters von der Front vorgelesen, aber auch die Vergewaltigung der eigenen Mutter von den russischen Soldaten geschildert. Die Geschichten zwischen Schmerz und Sehnsucht, aber auch zwischen Brutalität und Mord prallen hierbei aufeinander. Die Polen berichten über Ermordungen von Ukrainern und Juden, vom Untergrundkampf gegen die Deutschen, vom Einmarsch der Russen, von dem Anblick Gehängter, von der Verwunderung darüber „wie viele Gedärme ein Mensch hat, wenn die Panzer über ihn rollen“; davon, „wie eine aus der Ukraine vertriebene polnische Familie in Schlesien zwei Jahre lang mit einer deutschen Familie in deren Haus zusammenlebte, mit ihr Schnaps brannte, Weihnachten feierte - und mit ihr weinte, als die Deutschen vertrieben wurden“ 57 und von den Prügeleien um das Geschirr und die Bettwäsche aus den verlassenen jüdischen, 58 aber auch deutschen Häusern. Juden treten in Klatas Projekt nicht auf, doch wird das Thema Judenvernichtung in den einzelnen Erinnerungen thematisiert. Die über die Bühne fliegenden Federn eines zerrissenen Kissens aus einem geplünderten jüdischen Haus lassen die Anwesenheit der Juden während der Vorstellung und lange danach spürbar werden. 59 „Der Milizionär sagte, dass ich diese Wohnung bekäme und die Deutschen ausquartiert würden. Ich zog ein. Eines Tages kam ich nach Hause, die deutschen Frauen waren weg. Ich zog zu den Möbeln, dem Sofa, den Stühlen, dem Harmonium, der Gitarre, der Geige, der Trompete, den Noten. Ich weiß nicht unter welchen Bedingungen die Deutschen abgeholt wurden. Ich weiß nicht einmal wann.“ 60 Den Höhepunkt der polnischen Erinnerungen und wohl auch den der Vorstellung überhaupt liefert eine Achtzigjährige, als sie aus einem Schülerheft die Namen von Vertriebenen, Umgekommenen aus ihrem Heimatdorf wie eine Litanei aus einer längst verlorenen Welt vorliest. Die Szene dauert an die 15 Minuten und steigert sich für den Zuschauer ins Unerträgliche. Eine Viertelstunde für das Schicksal von Millionen, welche die meisten Zuschauer zum Weinen bringt. Die allerletzte Szene endet mit einer deutschen Zeitzeugin, die sich an einen Namen nicht erinnern kann und laut nach ihm sucht und schließlich nur noch „Egal“ sagt. Nicht in allen Vorstellungen endet die Inszenierung mit 57 www.zeit.de/ 2007/ 03/ transfer-neu. 58 ebd. 59 Pawłowski, Roman. Die Tote Klasse des 21. Jahrhunderts. In: „Gazeta Wyborcza“, 21.11.2006. 60 www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/ archiv/ .bin/ dump.fcgi/ 2006/ 1129/ feuilleton. 276 Ewa Makarczyk-Schuster diesem in der Kritik umstrittenem Ende und der Einblendung des Wortes „Egal“ aber: Wir sind eine „Egal-Generation“ geworden, so die Dramaturgin Dunja Funke selbst, 61 die das Wort aber auch ironisch zu verstehen vorgibt. Nicht egal für die Überlebenden, wie für den polnischen Zeitzeugen, der sich auf Krücken stützend langsam und mühevoll auf den Weg zur Vorderbühne macht, um seine Geschichte gegen das Vergessen, gegen einen erneuten Transfer von Menschen zu erzählen. Das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist in Deutschland inmitten der Debatten über Gedächtniskultur und historische Erinnerung in Form von Publikationen, Dokumentarfilmen und anderen Produktionen inzwischen zu einem Politikum in den deutsch-polnischen Beziehungen geworden. Als „Operation am offenen Herzen eines Tabus“ 62 bezeichnet Dirk Pilz in seiner Kritik das Projekt von Jan Klata, dem auf der persönlichen Ebene etwas gelingt, womit Politiker bis heute ringen. „Endlich führen nicht nur Politiker den deutsch-polnischen Dialog, schreibt „Die Zeit“ in ihrem Feuilleton. 63 Die zwischenmenschliche Verständigung über die Schrecken des Zweiten Weltkrieges auf beiden Seiten scheint auf der Bühne zu funktionieren. Wieder einmal ist das Theater das Medium, welches die Leistung zu vollbringen vermag. „Die Montage aus absurden Spielszenen, historischem Film- und Tonmaterial, die Einbindung von Zeitzeugen und Jan Klatas Prägung durch die Punk-Kultur ermöglichen einen neuen Blick auf ein Stück unbewältigter Geschichte.“ 64 In einer Art Montage, ähnlich wie Różewicz in der„Kartothek“ verbindet Klata in „TRANSFER! “ verschiedene Stilmittel der Darstellung. Die drei großen Politmacher als Mitglieder einer Band sollen in karikaturistischer Weise auf die historischen Fakten der Jalta-Konferenz anspielen. Wie die antiken Götter auf dem Olymp thronen sie auf einem Metallträger, weit weg von der Realität der Zeugen auf der Bühne, die sie übrigens von dort oben gar nicht sehen können. Die aus den Lautsprechern ertönende Stimme Goebbels - bei Różewicz sind es meist militärische Befehle und Beschimpfungen auf deutsch - die zum totalen Krieg aufruft, beruht ebenfalls auf historischen Fakten. Doch Klata ging es nicht um historische Details. Als sarkastische Karikaturen bzw. als politische Farce erscheinen diese Tatsachen angesichts der Anklagen der zehn Zeitzeugen. Über ebenfalls historischauthentische Fakten erzählen die Protagonisten unten auf der Bühne, doch deren Geschichten wurden nie aufgeschrieben. Sie sind Erinnerungen geblieben. In der Bühnenausstattung zielt Klata auf einige Symbolbedeutungen: Die zehn Stühle z.B. erinnern an die Geschworenen in einem Gericht, die rote Fahne mit dem Hakenkreuz ist das Zeichen für Hitlers Politik und 61 Connert, Hirschfeld. 62 Pilz, Dirk. Operation am offenen Herzen eines Tabus. 63 www.zeit.de/ 2007/ 03/ transfer-neu. 64 www.de-pl.info7de/ event.php/ event/ 867. ÜberLeben 277 nicht zuletzt die schwarze Erde, mit welcher die Bühne vollständig bedeckt ist: „Die Erde war für meinen Vater ein Heiligtum“ sagt einer der polnischen Protagonisten. 65 Genau diese Erde, diese Heimat, haben die Zeitzeugen verloren. Die Ausstattung und die Symbolik werden sparsam eingesetzt und ermöglichen dem Zuschauer dadurch, sich vollständig auf die Reden, auf die Geschichten der Vertriebenen zu konzentrieren. Der Kontrast zwischen den Agitationsräumen, zwischen den Bühnenbrettern und dem Podest, wird deutlich herausgearbeitet und lässt zwei einander völlig fremde Bereiche entstehen, die aber aus historischer Sicht doch eng miteinander verbunden waren. Die wenigen Ausstattungsgegenstände lassen den Zeitzeugen außerdem einen freien Agitationsraum und machen diese zu einzelnen subjektiven Raumzeichen, verstärkt durch die eigenen Erinnerungen. Die nicht bühnenerfahrenen Protagonisten würden in jeder anderen Ausstattung verloren wirken. Dem Team von Klata war von Anfang an klar, dass sie Laien auf die Bühne stellen. Und gerade deswegen waren kleine Bewegungen, Gesten, kleine Handlungen der Erzählenden erlaubt. Sie taten dies nämlich auf eine Art und Weise, die immer wieder deren Nichtprofessionalität betonte. Genau darum aber ging es bei diesem Projekt, um die Authentizität der Protagonisten und deren Geschichten. Roman Pawłowski nennt in diesem Zusammenhang Klatas Projekt in Anlehnung an Kantor „Die tote Klasse des 21. Jahrhunderts“. 66 Bei „TRANSFER! “ ginge es nämlich - so die Dramaturgin - nicht darum, das Publikum zu rühren, sondern um die Anregung, den Geschichten zuzuhören. 67 Klata wollte keine Illusion und keine Fiktion schaffen. Er wollte in erster Linie die Wahrheit zeigen. Für ihn war es eine Reise in die Vergangenheit und Rückbesinnung auf die Herkunft des Theaters, auf das Erzählen und Zuhören von Geschichten. Diese Geschichten nämlich sind, wie bei Różewicz im Falle des Helden, einzelne Karteikarten, die zusammengetragen das Bild des Schicksals von Vertriebenen darstellen sollen. Doch die Differenzen zwischen den deutschen und den polnischen Erinnerungen bleiben. 68 Wie bereits gesagt liegen zwischen den einzelnen Geschichten auf beiden Seiten etwa fünf Jahre. Zu Recht fragt Dirk Pilz nach der Berechtigung, diese unterschiedlichen Vertreibungserfahrungen gleichberechtigt nebeneinander stellen zu dürfen. „Die Rekonstruktion historischer Tatsachen darf das nicht. (...)“ Klata „stellt die Diskrepanz zwischen Gedächtnis und Geschichte aus. Seine Laien sind damit (…) keine Statthalter des Echten: sie sind die Seismographen für mentale Transformationen.“ 69 Das Ordnen der Karteikarten lässt allerdings, wie bei Różewiczs Helden, die Zerrissenheit jedes einzelnen Schicksals und die 65 www.zeit.de/ 2007/ 03/ transfer-neu. 66 Pawłowski (2006). 67 Connert, Hirschfeld. 68 Pilz, Dirk. Operation am offenen Herzen eines Tabus. 69 Pilz, Dirk. Operation am offenen Herzen eines Tabus. 278 Ewa Makarczyk-Schuster durch die historischen Umstände erzwungene Neuorientierung und Reintegration nachvollziehen. Ähnlich wie Różewicz findet auch Klata inmitten der auseinander gefallenen Kartei ein Zeichen, ein Signal für einen Neuanfang. Bei Różewicz ist es das junge deutsche Mädchen, das sich die Kriegsgeschichte des Helden anhört. Bei Klata ist es der junge Mann mit dem Rollkoffer, dessen Eltern ebenfalls vertrieben wurden. Er hat allerdings die Freiheit zu reisen, seinen Aufenthaltsort zu wechseln, sich selber zu transferieren. Und doch ist dieser Protagonist ein Signal für die junge Generation, „(...) dass Entwurzelung auch ihr Problem ist“ 70 und ein Signal für die „(...) Verantwortung, die wir alle aus der Geschichte übernehmen müssen, damit sich der Transfer in Zukunft nicht wiederholt.“ 71 Różewiczs Drama und Klatas Projekt bleibt gemeinsam die Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg, basierend auf Erinnerungen. Bei einigen Ähnlichkeiten in der Darstellungsweise unterschieden sich beide Vorhaben in dem wohl wichtigsten Punkt: der Zeugenschaft. Während Różewicz eigene Erfahrung und die seiner Generation künstlerisch umsetzt, bringt Klata die „nackte“ Wahrheit auf die Bühne. Nur wenige theatralische Mittel werden genutzt, um die Vergangenheit auf die Bühne zu holen. Beide Autoren suchen die Lösung in der Kunst, die vielen anderen Überlebenden, wie auch meinem eigenen Vater etwa, verwehrt blieb oder bleibt. Seine Geschichten, seine Erinnerungen waren Jahrzehnte lang nach dem Krieg lebendig, ständig auf der Suche nach dem „Warum“, bis er müde wurde und nichts mehr erzählen wollte. Bei allen hier besprochenen Geschichten über das Leben und über das Überleben stand „am Anfang der Krieg“. Literaturverzeichnis Błoński, J.: Wszystko, co literackie. Pisma wybrane. Kraków 2001. Burkot, S.: Literatura polska po 1939 roku. Warszawa 2005. Connert, J. und M. Hirschfeld: Steinschweiger? Steinwald? Steinbaum? - Egal! Ein In- terview mit Jan Klata. Unter: www.novinki.de/ html/ zurueckgefragt/ Interview_Kla ta.html. Drewnowski, T.: Literatura polska 1944-1989. Próba scalenia. Obiegi - wzorce - style. Kraków 2004. Engels, Friedrich: Rede am Grab von Karl Marx am 17 März 1883. S. http: / / www.manager-dj-lothar.de/ HTMLPDF/ eigene/ - Sehr_geehrte_Anwesende.htm, 13.05.2011. Miłosz, C.: Geschichte der polnischen Literatur. Köln 1981. Pawłowski, R.: „Die Tote Klasse des 21. Jahrhunderts“. In: Gazeta Wyborcza, 21.11.2006. 70 Pawłowski (2006). 71 Pawłowski (2006). ÜberLeben 279 Pilz, D.: Operation am offenen Herzen eines Tabus. Unter: http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view=article&id=39%3 Atransfer-jan-klatas-projekt-ueber-vertreibung-in-wroclaw-und-im-hau&catid=55&Itemid=1, 13.05.2011. Różewicz, T.: Dramat 2. Wrocław 2005. --: Kartoteka. Kraków. Wrocław 1986. --: Niepokój. Wiersze z lat 1945-1946. Wrocław 1980. Scholze, D.: Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert. Berlin 1989. Schultze, B.: „Facetten der Montage in Kartoteka von Tadeusz Różewicz“. In: H. Fritz (Hg.), Montage in Theater und Film. Tübingen 1993, S. 141-167. Schultze, B. und E. Makarczyk-Schuster. „Radikale Konfrontationen und Reaktionen in einer veränderten Lebenswelt. Das polnische Drama und Theater am Anfang des 21. Jahrhunderts“. In: F. Kreuder, S. Sörgel (Hg.), Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Tübingen 2008, S. 236-262. Sugiera, M.: „W poszukiwaniu realizmu. Polski dramat ostatniego piętnastolecia w europejskim kontekście“. In: G. Matuszek (Hg.), Literatura wobec nowej rzeczywistości. Kraków 2005. www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/ archiv/ .bin/ dump.fcgi/ 2006/ 1129/ feuilleton, 10.12.2009 www.de-pl.info7de/ event.php/ event/ 867, 10.12.2009. www.zeit.de/ 2007/ 03/ transfer-neu, 10.12.2009 Mark Berninger Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit - Der Zweite Weltkrieg im neuen britischen Geschichtsdrama Obwohl es fast schon einem Klischee gleichkommt erscheint es mir durchaus sinnvoll diesen Artikel mit einem ganz kurzen, aber dennoch sehr bedeutsamen und überaus bekannten Zitat zu beginnen. Es stammt von Sir Walter Scott und ist der Untertitel seines 1814 erschienen Romans Waverley: „’Tis Sixty Years Since“ (Es war vor 60 Jahren). Wie Scott in dem einleitenden ersten Kapitel dieses Romans erklärt, stellt der Zeitabstand von 60 Jahren für seinen Roman ein ganz wesentliches, konstitutives Element dar. Da Waverley das Genre des historischen Romans begründet hat (und daher zu Recht vermutlich nicht als der beste Roman des 19. Jahrhunderts, möglicherweise aber als einer der bedeutendsten gelten kann 1 ), haben die „60 Jahre“ durchaus programmatischen Charakter. Für Scott symbolisieren sie die sinnvolle Mitte zwischen einer fernen Vergangenheit und einer unmittelbaren, nahen Gegenwart. Diese beiden Extrempole waren für ihn in zwei narrativen Genres seiner Zeit verkörpert, die er mit seinem Roman bewusst zu umgehen versuchte: Auf der einen Seite der in einer fantastisch überhöhten und in einem nicht klar definierten „Mittelalter“ angesiedelte Schauerroman, auf der anderen Seite der Sittenroman (novel of manners), der die Oberfläche der gesellschaftlichen Konventionen der Gegenwart in den Blick nahm und dabei gerne auch eine voyeuristische Schlüsselloch-Perspektive auf die Sitten der höheren Schichten einnahm. Das „’Tis Sixty Years Since“ in Waverley garantierte für Scott somit genügenden zeitlichen Abstand, um sich von unmittelbar erregenden Skandalgeschichten der Gegenwart zu lösen (und natürlich auch von der Gefahr rechtlicher und politischer Konsequenzen befreit zu sein). Gleichzeitig war ein Geschehen im Abstand von 60 Jahren aber noch nah genug, um durch direkte Erinnerung für historische Korrektheit zu bürgen. Scott konnte so das in der Zeit des Jakobiten-Aufstands von 1745 angesiedelte Geschehen am Anfang des 19. Jahrhunderts „aus sicherer Distanz“, gleichzeitig aber auch noch mit der Genauigkeit der noch an lebendige Erinnerung geknüpften historischen Rekonstruktion schildern. 1 Vgl. Hook (1985), S. 9. 282 Mark Berninger Der von Scott gewählte Zeitabstand von 60 Jahren ist natürlich keine unverrückbare Größe, denn es lässt sich in der Vergangenheit keine sinnvolle feste Grenze ziehen, an der unmittelbare „Vergangenheit“ zu lediglich vermittelter „Geschichte“ wird. Schon das Gestern kann Geschichte sein oder auch der gerade vergangene Augenblick. Umgekehrt kann, wie etwa die „Orange Walks“ in Nordirland belegen, ein jahrhundertealtes Geschehen unmittelbar spürbare Vergangenheit und wirksame Gegenwart sein. Trotzdem hat die von Scott mit „’Tis Sixty Years Since“ umschriebene Dimension eine Bedeutung. In der Geschichtswissenschaft entspricht sie in etwa dem Unterschied zwischen „Geschichte“ und „Zeitgeschichte“, also der von lebenden Menschen noch unmittelbar erlebten Vergangenheit im Vergleich zur rein medial erfahrenen und akademisch rekonstruierten Geschichte. Mit dem Abstand von „zwei Generationen“ und dem allmählichen Versterben der Zeitzeugen erscheint die Vergangenheit entrückt, aber noch nicht völlig entschwunden. Die Möglichkeit ein neues, eventuell neutraleres und abgeklärtes oder auch gleichgültigeres Verhältnis zu den 60 Jahre zurückliegenden Ereignissen zu definieren bietet sich an. Gleichzeitig bleiben die Ereignisse aber noch so drängend nahe, dass sich ein vergleichsweise beliebiger Umgang mit ihnen verbietet. Wenn man die letzten beiden Jahrzehnte, also die 90er Jahre und den Anfang des 21. Jahrhunderts betrachtet, dann kommt man vor diesem Hintergrund natürlich zu dem Schluss, dass in ihnen im Abstand von 60 Jahren exakt die Zeit des Zweiten Weltkrieges durchlaufen wurde. Viele Erinnerungsveranstaltungen und mediale Großereignisse der letzten Jahre haben erst den 50. Jahrestag der Schlüsseldaten zwischen 1939 und 1945 und dann deren 60. Jahrestag markiert. Gleichzeitig mehren sich die Zeichen, dass um die Jahrtausendwende definitiv eine neue Epoche der Geschichte eingeläutet wurde, zunächst mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung und dem Fall der Berliner Mauer, dann mit dem 11. September 2001 und der Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt und schließlich mit dem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Indiens. Diese Entwicklungen deuten an, dass nicht nur die Epoche des Zweiten Weltkriegs, sondern auch die vom Krieg unmittelbar geprägte Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Im Sinne der von Scott definierten Spannung von Distanz und Nähe wäre somit die Möglichkeit einer veränderten literarisch-historischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Auswirkungen dies für das Theaterschaffen in Großbritannien hatte, d.h. in welcher Form die mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpften Ereignisse in den letzten zwei Jahrzehnten auf der Bühne thematisiert wurden. Dies soll anhand der Analyse von drei Stücken geschehen: We Happy Few (2004) von Imogen Stubbs, David Harrowers Presence (2001) und Ronald Harwoods Taking Sides (1995). Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 283 Viele weitere Stücke hätten sich zur Untersuchung ebenfalls angeboten 2 und die hier gewählten Stücke können nur einen Ausschnitt der intensiven Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg im britischen Drama der letzten zwei Jahrzehnte geben. Trotzdem umreißen sie in ihrer Unterschiedlichkeit, ebenso wie in ihren Gemeinsamkeiten, das Gesamtfeld eben dieser Auseinandersetzung sehr gut. Bevor jedoch auf die Einzelanalyse der drei genannten Stücke eingegangen wird, lohnt sich eine kurze Rekapitulation der spezifisch britischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg sowie eine überblickartige Darstellung der Gesamtentwicklung des britischen Geschichtsdramas in den letzten Jahrzehnten. Die britische Sicht auf den Zweiten Weltkrieg Ein historisches Ereignis wird immer aus einer unendlichen Vielzahl von Perspektiven wahrgenommen, aus individueller und kommunaler Sicht, vom Blickwinkel einer der unmittelbar beteiligten Parteien aus und durch eher unbeteiligte Beobachter. Des Weiteren kommt es bei der Umformung des historischen Ereignisses und der damit verknüpften unterschiedlichen Perspektiven in ein Geschichtsbild immer zu einer Ausprägung sehr unterschiedlicher Versionen, insbesondere wenn das historische Ereignis von gruppenidentitätsstiftender Bedeutung ist. Am Beispiel des Zweiten Weltkriegs und der hiermit verbundenen unterschiedlichen nationalen Geschichtsbilder lässt sich dies besonders gut ablesen. Dabei unterscheiden sich nicht nur die Sichtweisen der verschiedenen Antagonisten (z.B. Deutsche und Juden, Japan und die USA), sondern auch diejenigen der „Verbündeten“ erheblich (z.B. Frankreich und die USA, Deutschland und Italien). Der Blick Großbritanniens auf den Zweiten Weltkrieg unterscheidet sich wiederum erheblich von demjenigen aller anderen beteiligten Nationen, 2 Als Beispiele seien hier nur die folgenden Stücke genannt: Howard Barker Found in the Ground (2001), Stephen Churchett Tom and Clem (1997), David Edgar Albert Speer (2000), Ronald Harwood The Handyman (1996) und Collaboration (2008), Richard Norton-Taylor Nuremberg (1997), Julia Pascal Theresa (1990) und A Dead Woman on Holiday (1991), Diane Samuels Kindertransport (1995). Zur Einordnung einiger dieser Dramen siehe unter anderem Houswitschka (2002), Berninger (2002) und Reitz/ Behlau (2004). Im Großen und Ganzen hinkt die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Darstellung des Zweiten Weltkrieges im britischen Drama jedoch noch erheblich hinter der Fülle der Dramen her, die diesen Zeitabschnitt thematisieren. Im Gegensatz dazu ist die Diskussion der Beschäftigung britischer Dramatiker mit dem Ersten Weltkrieg bereits weiter gediehen, was auch daran liegen mag, dass der Erste Weltkrieg insbesondere in den 60er und 70er Jahren verstärkt in britischen Dramen thematisiert wurde. Auch hier schien die Regel „’Tis Sixty Years Since“ zu wirken. 284 Mark Berninger denn im britischen Geschichtsbild der Jahre 1939 bis 1945 kollidieren extrem gegenläufige Tendenzen. Zum einen wird der militärische Erfolg bis heute als ein Symbol britischer Selbstbehauptung, ja sogar als die bedeutendste Großtat der britischen Streitkräfte gesehen. Gleichzeitig schwingt jedoch im militärischen Triumph auch der Gedanke der Entmachtung mit. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wird in Großbritannien meist in einer Linie mit dem Verlust des Empire und der Schrumpfung vom Weltmachtstatus auf die Bedeutung einer europäischen Mittelmacht gesehen. Sein nationales Überleben im Krieg hatte sich Großbritannien um den Preis des Aufzehrens der eigenen Ressourcen erkauft, was den schon vor dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Verfall des Empires beschleunigte. Nur zu bewusst ist den Briten darüber hinaus, dass die Westfront des Zweiten Weltkrieges über lange Strecken ein militärisches Patt darstellte. Zwar konnte Großbritannien von Hitlerdeutschland nicht besiegt werden, aber es konnte auch nur durch das Eingreifen der USA den Krieg für sich entschieden. Während der Zweite Weltkrieg den Abstieg Großbritanniens als Weltmacht beschleunigte, stärkte er die Weltmachtstellung der USA. In den Stolz über den militärischen Sieg mischt sich somit in Großbritannien ein Gefühl des „Überkommen-Seins“, der politischen, sozialen und ökonomischen Rückständigkeit. An das Ende des Krieges knüpften sich deshalb große Hoffnungen auf soziale und wirtschaftliche Veränderung und Erneuerung, Hoffnungen die sich angesichts schwieriger ökonomischer Verhältnisse nur unzureichend umsetzen ließen. Dass die unterlegenen Nationen Deutschland und Japan in der Nachkriegszeit einen Wirtschaftsboom erlebten, während Großbritannien über Jahrzehnte von Rezession heimgesucht wurde, erscheint in Großbritannien bis heute als besondere Ironie des Schicksals. Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs ist deshalb für Großbritannien sehr zwiespältig. Auf der einen Seite markiert der Krieg einen nationalen Mythos, „their finest hour“ wie von Winston Churchill beschworen, doch lässt sich auch ein deutliches Ausweichen vor uneingeschränkter nationaler Überhöhung der Epoche beobachten. Wesentlich für die Perspektive, die in Großbritannien vorherrscht, ist auch die Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg dort kein so traumatisches Ereignis war wie der Erste Weltkrieg. Im Vergleich zu 1914/ 19 musste Großbritannien nur etwa halb so viele Tote beklagen und hatte nach den frühen Luftangriffen am Anfang des Krieges und der danach gewonnen Luftschlacht zwischen der Royal Air Force und der deutschen Luftwaffe kaum noch direkte Kriegsschäden zu verzeichnen. Wesentlichste Ausnahme war der Beschuss durch die V1 und V2-Raketen am Ende des Krieges, der aber nicht die befürchtete verheerende Wirkung zeigte. Angesichts der riesigen Zerstörungen im Rest Europas und der Atombombenabwürfe in Japan hatte man in Großbritannien zu Recht den Eindruck sehr glimpflich davongekommen zu sein. Zu dieser eher beklommenen Erleichterung gesellte sich Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 285 ein gewisses Unbehagen über eigene politische Versäumnisse und verheerende Entscheidungen, wie die Appeasement-Politik Neville Chamberlains, die zögerliche Haltung gegenüber der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge und das Flächenbombardement deutscher Städte. All dies relativierte das Grundgefühl, einen gerechten Krieg erfolgreich geführt zu haben. Hieraus lässt sich ein oberflächlich positives, unterschwellig jedoch durchaus gebrochenes Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg ableiten, dass sich beispielsweise scharf von der selbstbewussten Perspektive der USA unterscheidet und sich auch in den britischen Theaterstücken niederschlägt, die sich mit dieser Epoche auseinandersetzen. Eine erste Folge dieses gebrochenen Verhältnisses war das fast vollständige Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg im Drama der 50er, 60er und 70er Jahre. Im bis zur Mitte der 50er Jahre beinahe unangefochten vorherrschenden well-made play wurden vor allem Formen und Inhalte des Vorkriegsdramas weiter gepflegt. Das realistische kitchen-sink drama der Angry Young Men in der zweiten Hälfte der 50er Jahre konzentrierte sich vornehmlich auf die Spannungen der Gegenwart und deutete die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs nur indirekt über die sozialen Auswirkungen auf Großbritannien an. Ähnlich liegt der Fall beim absurden Drama, das sich ja durch einen essentiell anti-historischen Ansatz auszeichnet. Auch im politischen Drama der 60er und 70er Jahre spielte, ganz im Gegensatz zu ähnlichen Strömungen in Deutschland, die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg nur eine Nebenrolle. 3 Erst ab den 1980er Jahren treten verstärkt Stücke auf, die den Zweiten Weltkrieg direkt thematisieren. Diese Entwicklung verläuft parallel zur Herausbildung des „neuen Geschichtsdramas“ in Großbritannien. Das neue Geschichtsdrama in Großbritannien Die Definition eines „neuen“ Geschichtsdramas setzt die Abgrenzung gegenüber einer bereits etablierten Genrekonvention voraus. Das innovative Geschichtsdrama der letzten Jahrzehnte lässt sich genau in diesem Sinne vom konventionellen Geschichtsdrama unterscheiden, dessen wesentliche inhaltliche und formale Grundbedingungen fest in den Konzepten des 19. Jahrhunderts verankert sind. Um den Unterschied zum neuen Geschichtsdrama schlaglichtartig aufzuzeichnen, ist es sinnvoll, sich diese Grundbedingungen in Erinnerung zu rufen. 3 Ein Beispiel hierfür ist etwa Howard Brentons The Chruchill Play (1974), das in seiner dystopischen Vision eines faschistischen Englands zwar den historischen Mythos „Winston Churchill“ demontiert, dabei aber vornehmlich auf die politische Auseinandersetzung der Gegenwart gerichtet ist. 286 Mark Berninger Das klassische oder konventionelle Geschichtsdrama ist von dramatischem Realismus geprägt, der sich durch weitgehend lineare Chronologie, klare räumliche Zuordnungen, stabile und psychologisch erschließbare Charaktere und grundsätzliche Kausallogik auszeichnet. Inhaltlich werden vor allem die traditionellen Geschichtsbilder des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt. Herrscherfiguren, zumeist Männer, stehen im Mittelpunkt und es herrscht allgemein ein nationaler Fokus und Eurozentrismus vor. Eine eindeutige Wertung des historischen Geschehens im Sinne traditioneller Geschichtsbilder ist üblich. Zentrales Handlungselement ist meist die „Haupt- und Staatsaktion“, d.h. die große Politik, kriegerische Auseinandersetzungen sowie die weniger offen ausgetragenen Intrigen der Macht. Der Fokus liegt üblicherweise auf einem „Helden“, der als Identifikationsfigur dient und gerade deshalb auch eher ein Nebenakteur der großen politischen Handlung sein kann. 4 Während diese Zentralfigur oftmals fiktiv in das historische Geschehen eingefügt wird, um diese Vermittlerfunktion uneingeschränkt von historischen Vorgaben erfüllen zu können, achtet das konventionelle Geschichtsdrama sonst auf möglichst hohe Authentizität im historiographischen Sinne, was sich insbesondere auch in dem typischen Ausstattungsrealismus des „Kostümdramas“ niederschlägt. Wo fiktionale Ausschmückung zu den historisch belegten Ereignissen hinzugefügt wird achtet das konventionelle Geschichtsdrama darauf, möglichst nicht in Widerspruch zu den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft zu geraten. Eine Abgrenzung von diesem Modell des Geschichtsdramas lässt sich in Europa im Zusammenhang mit dem Innovationsbestreben der Moderne schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten. So lässt sich beispielsweise das anti-illusionistisch ausgerichtete Konzept des epischen Dramas auch auf das Geschichtsdrama übertragen, wofür die teilweise als Geschichtsdramen angelegten Stücke Bertolt Brechts Beispiele liefern. In Großbritannien setzte die methodische Umwälzung der Dramatik durch die fortbestehende Dominanz des well-made play erst mit recht großer zeitlicher Verzögerung ein. In den 1960er Jahren traten zunächst vereinzelt innovative Geschichtsdramen auf (z.B. von Joan Littlewood, John Arden und Edward Bond) und erst mit den 1970er Jahren setzte verstärkt die Entwicklung des „neuen“ Geschichtsdramas ein. Die danach stetig wachsende Zahl neuer Geschichtsdramen in Großbritannien lässt sich in drei große Gruppen einteilen: In revisionistisches und reflexives Geschichtsdrama, sowie in posthistorisches Drama. Im Einzelnen zeichnen sich diese Typen durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen 4 Die Konzeption eines derartigen „Mittel- und Vermittlungscharakters“ geht letztendlich ebenfalls auf Sir Walter Scott zurück, der mit dem Titelcharakter von Waverley das entsprechende Rollenmodell schuf. Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 287 bei der Brechung der Genrekonventionen, vor allem jedoch auch durch die Radikalität ihrer Innovation aus. Das revisionistische Geschichtsdrama beruht auf einer lediglich partiellen Revision des konventionellen Geschichtsdramas, d.h. auf der Übernahme einiger Charakteristika bei gleichzeitiger Änderung bestimmter Aspekte. Vor allem der Authentizitätsgedanke wird aufrecht erhalten. Geschichte erscheint auch im revisionistischen Geschichtsdrama als eindeutig versteh- und darstellbar. Auch der Gedanke der eindeutigen Wertung von Geschichte bleibt bestehen, ebenso wie die Grundprinzipien der weitgehend linearen Chronologie, der psychologischen Nachvollziehbarkeit und der Kausallogik. Vielfach sind somit die Grundlagen des Bühnenrealismus noch vorhanden, allerdings werden im revisionistischen Geschichtsdrama verstärkt experimentelle Darstellungen, etwa des epischen Dramas, eingesetzt. Vor allem aber zeichnet sich das revisionistische Geschichtsdrama durch eine alternative Geschichtssicht aus, die sich deutlich von den Geschichtsbildern des konventionellen Geschichtsdramas abgrenzt. An die Stelle des klassischen Helden treten Figuren aus vorher marginalisierten Gruppen (Arbeiter, Frauen, Nichteuropäer, Homosexuelle etc.). Oft wird auch das Schicksal einer Gruppe statt eines individuellen Helden thematisiert Zudem wird bisweilen der Fokus weg von der „großen Politik“ zum Alltagsgeschehen verschoben. Im Gegensatz zu dieser partiellen und primär inhaltlichen Revision des Geschichtsdramas zeichnet sich das reflexive Geschichtsdrama durch eine weiterreichende Hinterfragung der Grundlagen des konventionellen Geschichtsdramas aus. Vor allem wird die Möglichkeit einer eindeutigen Darstellbarkeit von Geschichte in Zweifel gezogen. Der Gedanke historiographischer Authentizität weicht der Ambiguität konkurrierender Geschichtsbilder, zwischen denen nicht mit der für das revisionistische Geschichtsdrama typischen Parteinahme entschieden wird. Stattdessen tritt die abwägende Reflexion über Geschichte und die beschränkten Möglichkeiten eindeutiger Parteinahmen und eindeutiger Darstellbarkeit in den Vordergrund. Bezüglich der Darstellungstechniken ist das reflexive Geschichtsdrama scheinbar konventioneller als das stärker durch die Avantgarde der Moderne geprägte revisionistische Geschichtsdrama. Die Aufrechterhaltung des Bühnenrealismus ist jedoch stets doppelbödig, was sich z.B. in der Verknüpfung und Überlappung verschiedener Zeitebenen zeigt. Allgemein zeichnet sich das reflexive Geschichtsdrama durch einen spielerischen Charakter aus, z.B. im Umgang mit Kausallogik und Chronologie, sowie mit wechselnden Identitäten und Perspektiven. Dies steht in klarem Gegensatz zur ernsten und überzeugungsgeladenen Geschichtsdarstellung im revisionistischen Geschichtsdrama. Das posthistorische Drama schließlich radikalisiert die Positionen der beiden anderen Typen des neuen Geschichtsdramas und nutzt dabei be- 288 Mark Berninger wusst das Mittel der Provokation. Die Fiktionalität und Subjektivität der Darstellung wird betont und die „poetische Wahrheit“ des Kunstwerkes über den Gedanken der Authentizität gestellt. Historiographie als verbindlicher Bezugspunkt der Geschichtsdarstellung im Drama wird abgelehnt, oftmals sogar bewusst und offen konterkariert. Aufgerufene Gesichtsbilder und historische Anklänge ersetzen die direkte Vergangenheitsdarstellung. Die für den dramatischen Realismus typischen festen Referenzen bezüglich Ort, Zeit und Charakterzuordnung verschwimmen und werden durch stark experimentelle Darstellungstechniken (z.B. durch die Auflösung der festen Zuordnung Rolle - Schauspieler) gebrochen. Eine eindeutige Sinnkonstruktion findet nicht statt. Geschichte bleibt enigmatisch. Wie bereits erwähnt, traten innovative Formen des Geschichtsdramas in Großbritannien vor 1970 nur vereinzelt auf. Erst im Nachklang der politischen Umbrüche der späten 1960er Jahre erwuchs ein breites Interesse an revisionistischer Geschichtsdarstellung, die sich zunächst auf eine Neubewertung der Rolle der Arbeiterklasse und dann zunehmend der Frauen konzentrierte. Neben das „sozialistische“ und das „feministische“ Geschichtsdrama traten dann noch eine „postkoloniale“ und schließlich ab den 1990er Jahren eine „homosexuelle“ Variante, die eine Umwertung von Geschichte aus der Sicht weiterer marginalisierter Gruppen anstrebten. Ab ca. 1980 setzte parallel dazu einerseits eine Radikalisierung des Ansatzes des revisionistischen Geschichtsdramas ein, die in das posthistorische Drama mündete. 5 Andererseits breitete sich, spätestens mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/ 90 und der hierdurch deutlich markierten „Krise der Ideologien“, die reflexive Ausprägung des Geschichtsdramas aus und wurde am Ende des 20. Jahrhunderts zur dominierenden Form der Geschichtsdarstellung im Drama. Dies liegt auch darin begründet, dass die Geschichtsreflexion sukzessive immer weitere inhaltliche Felder (so z.B. neben der Historiographie auch die Geschichtsphilosophie, neben der Literatur auch Kunst und Musik, sowie zunehmend auch Naturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte) einbezog und dabei aus verschiedenen Blickwinkeln die Grundfragen der geschichtlichen Erkenntnis- und Darstellungsprobleme beleuchtete. Keinesfalls unberührt blieben dabei die eigenen Methoden der Darstellung im Drama, die in metadramatischen Exkursen reflektiert wurden. Auch wenn sich so drei Hauptgruppen des innovativen Geschichtsdramas ausmachen lassen, so bleiben die Übergänge zwischen den einzelnen Typen doch fließend. Einerseits sind alle Typen des Geschichtsdramas, auch das konventionelle, bis heute auf den Bühnen Großbritanniens präsent, so 5 Typisch hierfür ist die Entwicklung Howard Barkers, der sich in den 1980er Jahren vom revisionistischen Drama abwandte und zunehmend radikalere, fiktionale Geschichtsentwürfe zur Grundlage seiner Stücke machte. Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 289 dass man nicht davon ausgehen kann, dass eine bestimmte Form des Geschichtsdramas die anderen verdrängt hätte. Vielmehr steht den Dramatikern am Beginn des 21. Jahrhunderts eine breite Palette möglicher Darstellungsweisen von Geschichte zur Verfügung und in den letzten 10 Jahren konnte man beobachten, dass es zunehmend zu Vermischungen der verschiedenen Typen gekommen ist, so dass sich einzelne Werke nicht mehr eindeutig zuordnen lassen, sondern vielmehr Aspekte verschiedener Typen vereinen. Dies lässt sich beispielsweise an den Techniken der Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit in den Stücken aufzeigen. Zum einen ist eine „Presence of the Past“ über den Darstellungsmodus des memory play, also über die subjektive Erinnerung eines Individuums erreichbar. Handelt es sich hierbei um einen Vertreter oder eine Vertreterin einer marginalisierten Gruppe (oder um die kollektiven Erinnerungen einer solchen Gruppe), dann liegt eine Umwertung von Geschichte im Sinne des revisionistischen Geschichtsdramas nahe. Gleichzeitig betont die Form des memory play neben der durch die Glaubwürdigkeit des Individuums gestärkten Authentizität jedoch auch die Fiktionalität des Gezeigten, denn Erinnerungen sind bekanntlich notorisch unvollständig, verzerrt oder gar fiktiv. An die Stelle einer klar gesicherten „Zeugenschaft“ kann auch der unklare, von subjektiven Empfindungen gefärbte „Anklang eines Ereignisses“ treten, womit ein Schritt in Richtung des posthistorischen Dramas gemacht ist. In der Vergangenheit angesiedelte Erinnerungsszenen können parallel neben die Gegenwartsebene der Erinnernden treten, wodurch eine typisch reflexive Gegenüberstellung erreicht wird. Im Extremfall überbrücken Verkörperungen der Erinnerungen sogar als Geister die Zeitdifferenz und interagieren direkt mit der Gegenwart. Die Rolle des Zuschauers schwankt dabei zwischen (möglicherweise wechselnder) Identifikation und reflexivem Knüpfen von Querverbindungen und dem quasi-detektivischen Ergänzen von Bezügen. Der Grad historischer Sinnstiftung kann dabei durchaus variieren und der Zuschauer am Ende des Stückes ratlos oder gemäßigt überzeugt von einer bestimmten Geschichtssicht sein, oder permanent schwankend zwischen verschiedenen Sichtweisen zurückbleiben. Die hier angedeuteten Vemischungsprozesse der verschiedenen Arten des innovativen Geschichtsdramas sollen im Folgenden bei der Analyse der drei Beispieltexte einen besonderen Fokus bilden. Imogen Stubbs: We Happy Few (2004) Dieses Erstlingswerk der erfolgreichen Schauspielerin Imogen Stubbs folgt einem für das Gegenwartsdrama beinahe schon klassischen, metadramati- 290 Mark Berninger schen Muster. Es begleitet den Weg einer bunt zusammengewürfelten Theatergruppe vom Moment der Gründung, über das Vorsprechen der verschiedenen Schauspieler und die Proben, bis hin zur Aufführung, bzw. den Aufführungen. 6 Im Fall von We Happy Few handelt es sich um eine reine Frauengruppe, die “Artemis Players“, die als Tourneetheater während der Jahre des Zweiten Weltkriegs durch die Turnhallen und Schulen der britischen Provinz zieht, um als Teil des „War Effort“ der Bevölkerung in abgelegenen Gebieten Unterhaltung und Kultur, und mit der Kultur ein Element nationaler Selbstvergewisserung zu bringen. Inspiriert ist das Stück, wie Stubbs im Vorwort deutlich und ausführlich anmerkt, durch das reale Vorbild der „Osiris Players“, einer Truppe von sieben Schauspielerinnen, die zwischen 1939 und 1945 ca. 1500 Vorstellungen eines Repertoires von über 35 Stücken an Hunderten, über die britischen Inseln verstreuten, Aufführungsorten gaben. Die Galionsfigur dieser theatralen Selbstvergewisserung und Aufmunterung in Kriegs- und Krisenzeiten war natürlich Shakespeare, und seine Stücke bilden auch den Hauptfokus von We Happy Few. Bereits der Titel von Stubbs’ Stück macht den Shakespeare-Bezug deutlich, handelt es sich hierbei doch um ein in Großbritannien sattsam bekanntes, geradezu sprichwörtliches Zitat aus Henry V, das zudem im kollektiven Bewusstsein der Briten auf das Engste mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist. Es stammt aus der flammenden Ansprache, die König Heinrich seinen erschöpften und dezimierten Truppen vor der Schlacht von Agincourt hält: KING HENRY V: This story shall the good man teach his son; And Crispin Crispian shall ne'er go by, From this day to the ending of the world, But we in it shall be remember'd; We few, we happy few, we band of brothers; For he to-day that sheds his blood with me Shall be my brother; be he ne'er so vile, This day shall gentle his condition: And gentlemen in England now a-bed Shall think themselves accursed they were not here, And hold their manhoods cheap whiles any speaks That fought with us upon Saint Crispin's day. (4.3.56-67) 6 Typische Beispiele hierfür sind etwa William Shakespeares A Midsummer Night’s Dream (ca. 1594/ 96) oder Alan Ayckbourns A Chorus of Disapproval (1984). Auch in einer Reihe von neueren Filmen mit historischem Sujet, z.B. Shakespeare in Love (1998) oder Comedian Harmonists (1997), wird dieses narrative Muster gewählt. Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 291 Für Briten stellt sich bei dieser Textpassage beinahe unvermeidlich der Bezug auf die Verfilmung des Stückes durch Laurence Olivier (Regie und Hauptrolle) von 1944 ein, die explizit den Landungstruppen in der Normandie gewidmet war und in die Kinos kam, während die Invasion in Frankreich noch in vollem Gange war. In ganz offensichtlicher Analogie brachte Olivier die Schlacht von Agincourt im Jahre 1415 mit der Invasion in der Normandie in Verbindung und berief sich mit Shakespeares Text auf den Mythos des Sieges des britischen „David“ gegenüber einem übermächtigen Feind von den Dimensionen eines „Goliath“. Es kam ihm dabei zugute, dass Shakespeare selbst bereits ähnlich verfahren war und das elisabethanische Publikum das fast zweihundert Jahre zurückliegende Geschehen leicht auf die jüngste Vergangenheit, so z.B. auf die Abwehr der spanischen Armada (1588) beziehen konnte. Shakespeare kommentiert solche historischen Analogien im Stück sogar indirekt selbst, indem er König Heinrich wiederum auf die ähnlich erfolgreiche Schlacht von Crécy (1346) rekurrieren lässt. Die Selbstbehauptung der Briten wird durch diese historischtheatralische Spiegelung zu einem wiederkehrenden Ereignis, dessen erneut erfolgreicher Ausgang durch den Bezug auf die Geschichte beschworen wird. Die stets wiederkehrende, scheinbare Unterlegenheit der britischen „underdogs“ machte Shakespeares „We happy few“ zum Schlagwort. In Stubbs Stück wird auf diesen Sachverhalt in der Schlussszene explizit Bezug genommen. Die inzwischen weitgereisten Artemis Players befinden sich am 8. Mai 1945, dem durch die Kapitulation Deutschlands markierten „VE Day“, weitab von London in Schottland auf der Isle of Skye. In ganz Großbritannien wird zur Feier des Sieges Oliviers Film gezeigt, nur gibt es auf der Insel kein Kino und deshalb wurde die Theatergruppe mit ihrer Version von Henry V als zweitbeste Lösung gebucht. Ein Mitglied der Truppe, die alternde Theaterdiva Helen, ahnt, dass mit dem Ende des Krieges die Blütezeit der Artemis Players zu Ende geht, weil ihr Erfolg an ihre Funktion im Krieg und an die Abwesenheit männlicher Schauspieler geknüpft war: HELEN: We owe it to them and to ourselves to go for this final push … Richardson, Gielgud … all our great actors are back in the West End … bastards … our time is coming to a close … But … But … in our own small way as the Queen so rightly said, 'We have inscribed our names indelibly on the national role of honour.' That's the end of my speech … feel free to applaud … (97) Unglücklicherweise sind die Kostüme und Requisiten der Truppe bei der Überfahrt auf die Insel verloren gegangen, so dass sie, wie schon so oft in den wirren Kriegszeiten, vor Ort improvisieren müssen. Kricket-Kleidung symbolisiert die englischen Truppen, übergroße Gummistiefel der Fischer dienen als Soldatenstiefel und, da am regnerischen Strand gespielt wird, markieren Regenschirme das Lager der französischen Truppen. Die junge Darstellerin Charlie lässt sich angesichts dieser Umstände zu einer empha- 292 Mark Berninger tisch-ironischen Rede animieren: „We shall act upon the beaches ... we shall act upon the seas ... These wellies are bloomin’ ginormous.“ (97). Die Anspielung auf die berühmte Rede Winston Churchills vom 4. Juni 1940 (“We shall fight on the beaches ...“) ist deutlich und der aktuelle Bezug damit, im Gegensatz zu dem Film Laurence Oliviers, sogar explizit. Gleichzeitig ist jedoch auch die Nähe zu Shakespeare bei Stubbs größer als bei Olivier, denn wo der Film von 1944 die vollständige Ausstattung eines klassischen Kostümdramas einsetzt, einschließlich hunderter Komparsen und Pferde, bezieht sich die Theatertruppe in Stubbs Stück auf die in Shakespeares Stück thematisierte Notwendigkeit zur Improvisation im Theater und der Unmöglichkeit die historische Realität einer Schlacht auf der Bühne direkt abzubilden. „Can this cockpit hold / The vasty fields of France? “ (Prologue, Zeile 11-12), fragt der Chorus in Henry V und beantwortet diese rhetorische Frage gleich indirekt selbst mit dem Aufruf zur imaginativen Mitarbeit an die Zuschauer: „On your imaginary forces work” (Prologue, Zeile 18). Stubbs unterstreicht dies zusätzlich, indem sie eben dieses letztere Zitat als Motto der stets auf Improvisation angewiesenen Artemis Players benennt. 7 Ein weiterer Bezug zu Shakespeare, der das Netz der intertextuellen Referenzen in We Happy Few weiter verdichtet, besteht in dem Element des „cross-gender dressings“. Bekanntlich kommentierte Shakespeare indirekt die elisabethanische Aufführungspraxis, Frauen durch „boy actors“ darstellen zu lassen, mit dem wiederholten Einsatz von Hosenrollen für die Heldinnen seiner Komödien. Dieser doppelten Travestie fügt Stubbs eine dritte Ebene hinzu, indem in We Happy Few alle Rollen der Stücke Shakespeares durch Frauen dargestellt werden. Zu dieser zunächst vor allem spielerischen, metadramatischen Spiegelung und Brechung kommt ein konkretfeministisches Element, das durch die Schauspielerinnen der Artemis Players klar ausgesprochen wird. Die Möglichkeit „in die Rollen (bzw. Gummistiefel) der Männer zu schlüpfen“, ist zwar vor allem dem besonderen historischen Moment geschuldet, sie stellt jedoch auch ein „female empowerment“ dar. Durch die Einwürfe der Schauspielerinnen während der feierlichen Schlussansprache der Leiterin der Truppe, Hetty, wird dies deutlich: HETTY: Well, then I think this would be a good moment for a VE Day toast … Here's … to all those extraordinarily brave men who fought so that evil should not prevail. [...] 7 Auch die verregnete Kulisse auf der Isle of Skye entspricht eher dem historischen Geschehen der (Schlamm-)Schlacht von Agincourt, als die sonnengetränkte Landschaft in Oliviers Version. Indirekt ruft Stubbs hiermit auch die alternative Verfilmung von Henry V (1989, Regie und Hauptrolle Kenneth Brannagh) auf, in welcher das heroische Geschehen der Schlacht in einem Sumpf aus schlammverschmierten Leibern und Pferden verwischt. Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 293 REGGIE: And here's to all women who stepped into the men's shoes … CHARLIE: Wellies … And proved that women are capable of doing exactly the same work as men … (98) Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Typen des Geschichtsdramas lässt sich We Happy Few folgendermaßen beschreiben: Es handelt sich im Kern um ein konventionelles Geschichtsdrama, was an dem überwiegenden Realismus der Darstellung, an der durch die Erwähnung der realen Vorlage hervorgehobenen Authentizität des Dargestellten (bei einem gleichzeitig erkennbaren fiktiven Anteil, der aber nicht illusionsstörend ist) und an dem konventionellen, teilweise sogar melodramatischen Handlungsgerüst deutlich wird. Die deutliche historische Sinnstiftung im Rahmen eines durchaus konventionellen Geschichtsbildes, das klar von britischem Nationalismus und einem kulturellen Überlegenheitsgefühl beeinflusst ist, tut sein Übriges. In dieses primär konventionelle Geschichtsdrama mischen sich jedoch unübersehbar revisionistische Einsprengsel. Es handelt sich um eine Gruppenbiographie, die sich bewusst vom „großen Geschehen“ an der Front abwendet und den Blick auf eine Gruppe von Frauen richtet. Weitere revisionistische Elemente finden sich in der Thematisierung einer homosexuellen Beziehung (zwischen den beiden Schauspielerinnen Charlie und Rosalind) und in einigen gemäßigt anti-realistischen Stilmitteln. So ist das Stück beispielsweise von fließenden Szenenübergängen geprägt, die an filmische Überblendungen erinnern. Stubbs betont darüber hinaus die quasi dem epischen Drama entsprechende Aufführungsmöglichkeit „with twelve chairs, three costume rails, some home-made costumes and a hefty reliance on the willing suspension of disbelief” („Production Note” 105). An dem Bezug auf die „willing suspension of disbelief” zeigt sich jedoch, dass Stubbs keinen illusionsbrechenden Verfremdungseffekt im Sinn hat, sondern lediglich eine Spiegelung der beschränkten Aufführungsverhältnisse der Artemis Players. Der Anti-Realismus wird somit indirekt wieder zu einem Zeichen von Authentizität. Über diese konventionellen und teilweise revisionistischen Elemente hinaus kann man jedoch auch Aspekte des reflexiven Geschichtsdramas erkennen. Hier wäre natürlich vor allem der intensive Einsatz von Metadrama zu nennen. Die hieraus erwachsende Reflexion über den Status des Dramas innerhalb der Geschichtsbildung ist ja oben bereits an der Verschachtelung der historischen Referenzen zu Shakespeares Henry V aufgezeigt worden. Des Weiteren bezieht Stubbs eine weitere Reflexionsebene ein, indem sie das Stück mit einer in der Gegenwart angesiedelten Rahmengeschichte umschließt. Die Utensilien der Artemis Players befinden sich mittlerweile in einem Kostümverleih, wo die Geister der Schauspieler von dem Besuch eines jungen Regisseurs aufgescheucht werden, der nach Ausstattungsstücken für eine Neuinszenierung von Titus Andronicus im Stil der 1940er Jahre 294 Mark Berninger sucht. Im Gegensatz zu anderen reflexiven Geschichtsdramen bleibt die Gegenwartsebene in We Happy Few jedoch ein Fragment, doch erinnert die Markierung der Haupthandlung als „Geisterspiel“ z.B. an Michael Frayns Copenhagen (1998). Ähnlich wie in Frayns geradezu prototypischem reflexiven Geschichtsdrama dient diese Verschiebung ins Geisterhafte einer Distanzierung vom Zwang zum Faktischen. Gleichzeitig werden jedoch auch die Schwierigkeiten der historischen Rekonstruktion in einem memory play thematisiert, das durch die unklare Erinnerung der Geister bestimmt wird und beispielsweise zur Wiederholung und Korrektur mehrerer Szenen durch die verschiedenen Figuren innerhalb des Stückes führt. Auch der für das reflexive Geschichtsdrama oft kennzeichnende Humor, der im stärker ideologisch gebundenen, revisionistischen Geschichtsdrama meist vollständig ausbleibt, ist in We Happy Few spürbar, ebenso wie die Lust an der spielerischen Dehnung von Chronologie, Bühnenillusion und Zuschauererwartung. Es zeigt sich somit, dass sich an We Happy Few die oben angedeutete Vermischung der unterschiedlichen Typen des Geschichtsdramas beobachten lässt. Elemente des revisionistischen und des reflexiven Geschichtsdramas werden in das konventionelle Geschichtsdrama reintegriert, wo sie das klassische Repertoire der Darstellungstechniken ergänzen, ohne eine formale, inhaltliche, oder geschichtstheoretische Brechung herbeizuführen. David Harrower: Presence (2001) Einen ähnlichen Grad der Vermischung unterschiedlicher Techniken des Geschichtsdramas wie in We Happy Few finden sich auch in Presence, einem Stück des jungen schottischen Autors David Harrower, der mit seinem Erstlingswerk Knives in Hens (1995) große Aufmerksamkeit erregte. Meist wird er der Generation der In-Yer-Face-Dramatiker um Sarah Kane und Mark Ravenhill zugerechnet. Als Geschichtsdramatiker ist Harrower bisher kaum wahrgenommen worden und Presence ist ein wenig besprochenes, ja beinahe völlig übersehenes Stück. Zumindest in einer Betrachtung der Auseinandersetzung des britischen Gegenwartsdramas mit dem Zweiten Weltkrieg verdient es jedoch Beachtung. Die Handlung des Stückes ist im Jahre 1960 in Hamburg angesiedelt und kreist um die inzwischen legendäre Frühzeit der Beatles auf der Hamburger Reeperbahn. Es dauert jedoch vermutlich eine Weile, bis die Zuschauer dies entschlüsseln können, denn auf der Bühne sind nur zwei der „Fab Four“ zu sehen (Paul und George). Hinzu kommt der Schlagzeuger Pete (Best), dessen Platz in der Band nach der Hamburger Zeit von Ringo Starr eingenommen wurde. Die beiden anderen Hamburger Beatles, John und Stu(art Sutcliff), bleiben stets im Off. Die Allerweltsnamen der Protagonisten Paul, Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 295 George und Pete deuten an, dass wir hier zunächst nur eine Gruppe normaler junger Rockmusiker aus England sehen, die versuchen, sich in Hamburg einen Namen zu machen. Erst nach und nach setzen die Zuschauer bekannte Details zueinander in Verbindung und beginnen so in den Figuren die jungen Beatles zu erkennen. Hierdurch bekommt das raue Ambiente des Stückes, das in schäbigen Kellerräumen und Untergrundkneipen spielt, eine herausgehobene Bedeutung. Noch sind die Beatles nicht die späteren Weltstars und statt mit den Auswüchsen der „Beatlemania“ müssen sie sich damit herumschlagen, dass kaum jemand zu ihren Konzerten im Indira Club oder Kaiserkeller kommt. Die historische Verankerung des Stückes geschieht jedoch nicht nur über die Vorausprojektion auf die glorreiche Zukunft der Beatles, sondern durch eine Betonung der Hamburger Szenerie am Anfang der 1960er Jahre. Harrower nutzt dabei bewusst die Spannung zwischen der vibrierenden, jugendlichen Lebendigkeit der Großstadt und deren erst 15 Jahre zurückliegender NS-Vergangenheit. Einen besonderen Kristallisationspunkt bildet dabei die beinahe vollständige Zerstörung Hamburgs im Feuersturm des Jahres 1943. Die Verschränkung der Ebene der jungen Rockmusiker mit der noch stark präsenten Vergangenheit durchdringt alle Dialoge, etwa wenn George sich kurz nach der Ankunft der Gruppe in Deutschland für das erste Konzert Mut macht: GEORGE: […] Who'd think the five of us were going to tear this city apart tomorrow and leave it begging for more? They are out there waiting for us. They've been waiting all their lives. Well, I'm not going to disappoint them. (He walks out.) Pause. PAUL: This is a tomb. They've put us in a tomb. We won't be seen again for a thousand years. They'll carry us out into the sunlight and the rays'll turn us into ash. Never identified. (13f) Die Ebenen Rockmusik, Sex, Tod und Bombenkrieg bilden bereits an diesem frühen Punkt im Stück eine Einheit, in der sich die Bedeutungen der Metaphern wie „tear apart“ oder „thousand years“ überlagern. Als zusätzliche historische Ebene nimmt Harrower noch den Großbrand von Hamburg aus dem Jahre 1842 hinzu. George liest Paul z.B. die Legende einer Postkarte vor, die er an seine Eltern schreiben will: „The historic port of Hamburg sits on the banks of the majestic River Elbe. The whole area pictured was destroyed in the Great Fire of 1842. Maybe that's why our women are so redhot ...“ (20). Durch diese dritte Zeitebene werden die Zuordnungen der Anspielungen für die Zuschauer immer verschwommener, so dass schließlich mit dem Feuersturm in Hamburg verknüpfte Bilder an unerwarteten Stellen auftauchen, etwa wenn der erst 17-jährige George von einem Erlebnis zu Hause in Liverpool berichtet: 296 Mark Berninger Saw a charred body once. Went with me brothers - they're both electricians - to a house that'd burnt down. This bloke was sitting on the floor grinning. I wasn't supposed to see him. Looked like he'd enjoyed it happening to him. That was the best thing I ever saw, I think. He was there but he was gone. No eyes, no ears, no insides - they all liquify. His lips had burnt off. He was sitting there, grinning. Petrified ... Petrified forest. That's what the house looked like. (23f) Das hier verbal aufgerufene Bild ist das der in den Kellern Hamburgs, durch den von den Brandbomben verursachten Sauerstoffmangel, mumifizierten Leichen. Die üblichen Frontstellungen verschwimmen. Statt „hier Nazis und dort aufrechte Tommies“ oder „hier unschuldige deutsche Zivilisten und dort britische Bomberpiloten“ überlagern sich die Bilder und Schicksale. Diese Überlagerung spielt auch in das konkrete Handeln der Bühnenfiguren hinein. So entspinnt sich zwischen dem schüchternen Drummer Pete und Marian, der etwas älteren deutschen Managerin der Gruppe, eine Art Liebesbeziehung. Auch hierbei spielen die historischen Anklänge eine Rolle: PETE: […] I read something on a postcard. 1842, the whole city was burnt to the ground. Is that right? MARIAN: The Great Fire of Hamburg. There was nothing left. It was truly terrible. The heat. I have never felt such heat. (He looks at her.) I joke with you. All of you think I am so old. (43) Die hier von Marian schmerzhaft-scherzhaft angedeutete Präsenz der Vergangenheit weist auf den vieldeutigen Titel des Stückes hin. Zum einen bezieht er sich auf die Anbzw. Abwesenheit der Charaktere auf der Bühne. Neben den „sichtbaren“ Beatles Paul und George sind die „unsichtbaren“ John und Stu vom Publikum zu ergänzen, während wiederum der sichtbare Pete 8 und der unsichtbare Stu abzuziehen sind und durch Ringo ersetzt werden müssen, um das gewohnte Bild der Beatles zu erhalten. Die physische Präsenz der Beatles in Hamburg fließt im Stücktitel mit der Vorstellung ihrer besonderen Bühnenpräsenz (inklusive der „Pilzköpfe“) zusammen, die sich gemäß der Beatles-Historiographie in ihrer Zeit auf der Reeperbahn herausbildete. Die Bühnenpräsenz der Beatles wiederum überlagert sich mit historischen Anklängen, z.B. als sich Paul zu einem provokativen Auftritt mit Hitlergruß hinreißen lässt. Ähnlich vieldeutig ist auch das Schlussbild des Stückes. Da George noch nicht volljährig ist und bei einer Polizeikontrolle erwischt wurde, muss die 8 Die Sichtbarkeit Petes als „the odd one out“ wird im Stück auch durch die dunkle Farbe seines Bühnenjacketts, das sich vom hellen Outfit der anderen abhebt, herausgehoben. Harrower bezieht sich dabei übrigens direkt auf Fotos der Beatles von 1960. Siehe z.B. http: / / www.reeperbahn-hamburg.com/ indra.htm (30.5.2010). Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 297 gesamte Band Deutschland verlassen. Sie räumen ihr Kellerquartier und nur Petes dunkles Bühnenjackett bleibt hängen. Marian nimmt eine Kerze und schreibt mit deren Rauch den Namen „Pete Best“ an die Decke des Kellers. Dann stellt sie die Kerze unter die Jacke und geht. Das Jackett beginnt zu qualmen und fängt schließlich Feuer. Aus dem Plot des Stückes heraus lässt sich dies als Liebeserklärung Marians an Pete deuten. Es ist jedoch gleichzeitig auch eine Verewigung des „vergessenen Beatles“ Pete. Konkret spielt das Bild auf eine Anekdote aus der Hamburger Zeit der Beatles an. Angeblich hatte jemand aus der Band ein Kondom an die Wand ihres Kellerquartiers genagelt und angezündet. Der Vorwurf vorsätzlicher Brandstiftung soll ein weiterer Grund für die Ausweisung der Gruppe gewesen sein. Am wichtigsten ist jedoch, dass in dem Schlusstableau die verschiedenen Feuerbilder des Stückes zusammenlaufen. Die Krematorien von Auschwitz, der Brand Hamburgs im Jahre 1842, der Feuersturm von 1943, der feurige Auftritt der Beatles 1960, das Umschmieden ihres Images von schwarzledernen Rockern zu den Pilzköpfen sowie ihr emotionales und sexuelles Erwachen fließen im Bild des brennenden Jacketts zusammen. Gerade hieran kann man erkennen, wie nahe Presence dem posthistorischen Drama steht, für das anachronistische Überschneidungen, evokative Bilder und eine stark individualisierte Geschichtssicht typisch sind. Die Desorientierung des Zuschauers wird bewusst angestrebt und die Geschichtsdarstellung in rätselhafter Schwebe gehalten. In vielen Details der Bandgeschichte der Beatles ist Presence jedoch beinahe dokumentarisch genau, etwa wenn das Stück immer wieder bekannte Fotos dieser Zeit nachstellt. Vor allem ist Presence jedoch ein reflexives Geschichtsdrama, das aus einer Position der Gegenwart heraus die Vergangenheit aufschlüsselt und dabei sowohl die Relativität gewohnter Sichtweisen wie die Problematik des Rekonstruktionsvorgangs thematisiert. Auch in Harrowers Presence zeigen sich somit Vermischungstendenzen in der Geschichtsdarstellung, hier durch Einbeziehung posthistorischer und dokumentarischer Techniken in den Rahmen eines im Wesentlichen reflexiv ausgerichteten Geschichtsdramas. Ronald Harwood: Taking Sides (1995) Eine ähnliche Auflösung der gewohnten klaren, moralischen Zuordnungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg (wie in Presence) lässt sich auch in Ronald Harwoods Taking Sides beobachten. Das Stück, das 2001 von István Szábo verfilmt wurde, beleuchtet die Rolle des Dirigenten Wilhelm Furtwänglers im Dritten Reich. Anders als andere Kulturschaffende war Furtwängler nach 1933 in Deutschland geblieben und war so, trotz seines Bemühens sich von der Politik weitgehend fernzuhalten, zunehmend vom 298 Mark Berninger Naziregime als kulturelle Galionsfigur vereinnahmt worden. Nach 1945 musste sich Furtwängler einem Entnazifizierungsprozess stellen und traf dabei, im Gegensatz zu dem eigentlich viel enger mit den Nazis verbundenen Herbert von Karajan, auf Schwierigkeiten, die unter anderem dazu führten, dass er nie mehr in den USA auftreten durfte. In Harwoods Stück ist Furtwängler seinem Ankläger, dem amerikanischen Major Steve Arnold, gegenübergestellt. Arnold ist als Raubein, ja als überzeugter Kulturbanause gezeichnet, der in Furtwängler nur den „Bandleader des Teufels“ sieht und ihn unbedingt verurteilt sehen möchte. Einen gemäßigteren Standpunkt vertritt der ebenfalls bei der Untersuchung anwesende junge Leutnant David Wills (eigentlich David Weill), und das obwohl er als Kind jüdischer Eltern vor dem Krieg in die USA fliehen musste. Er sieht in Furtwängler nicht den Nazi-Kollaborateur sondern vor allem den großen Dirigenten, den er als Kind im Vorkriegsdeutschland erlebt und bewundert hat. 9 Hierin ist er sich einig mit Emmi Straube, der deutschen Sekretärin von Major Arnold, die ihre Anstellung ihrem toten Vater zu verdanken hat, der als Teil des militärischen Widerstandes gegen Hitler nach einem Attentatsversuch hingerichtet wurde. Das um Furtwängler gruppierte Bühnenpersonal (Major Arnold, David Wills und Emmi Straube) ist fiktiv und ganz offensichtlich der dramatischen Notwendigkeit geschuldet, verschiedene Positionen einer moralischen Verhandlung durch unterschiedliche Personen zu besetzen. In den Details hält sich Harwood jedoch geradezu akribisch an die Vorgaben der Protokolle des Entnazifizierungsprozesses Furtwänglers. 10 Diese Detailgenauigkeit, ebenso wie der handlungstechnische Rahmen eines Verhörs, erinnert stark an das dokumentarische Drama der 1970er Jahre, das wegen seiner meist festen ideologischen Verankerung und seinem Ansatz der „Richtigstellung von Geschichte“ dem revisionistischen Geschichtsdrama zuzuordnen ist. Taking Sides ist inhaltlich jedoch weit von der Vorgehensweise entfernt, Fakten akribisch vor dem Publikum auszubreiten, es gewissermaßen dokumentarisch „aufzuklären“ und damit zu einer eindeutigen und unvermeidlichen Wer- 9 Natürlich grenzt sich Harwood durch die klischeehafte Zeichnung Arnolds als vulgärer und brutaler Amerikaner von dessen Standpunkt ab und bietet dem Publikum den von europäischer Bildung geprägten Wills als Identifikationsfigur an. Die später im Stück vorgenommene inhaltliche Relativierung von Arnolds Vorgehen (siehe unten) wird so bereits angedeutet und trifft sich vermutlich problemlos mit der Sichtweise eines primär englischen, und dem Bildungsbürgertum angehörenden Publikums. Allerdings wird dieses kulturelle Selbstverständnis im Lauf des Stückes ebenfalls unterminiert (siehe ebenfalls unten). 10 Stern hat darauf hingewiesen, dass die im Stück genannte Liste der von Furtwängler geretteten Juden ebenso korrekt ist wie die Beispiele seiner verbalen Ausfälle in Richtung Antisemitismus. Sogar der Name des Orchesterwartes der Berliner Philharmoniker ist akkurat wiedergegeben. Siehe Stern (1999), S. 58f und Houswitschka (2002), S. 197. Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 299 tung von Geschichte zu bringen. In seinen Kommentaren zu dem Stück hat Harwood gerade die Tendenz zur klaren Verurteilung abgelehnt und die Unsicherheit von Wertungen als den Kern des Stückes benannt: „This is the heart of the matter to me ... the impossibility of judging. Also, the arrogance of judging.“ (Harwood zitiert nach Stern 57). Am deutlichsten lässt sich dieser Ansatz an der Schlusskonfrontation zwischen Major Arnold und Furtwängler (Seite 158-167) aufzeigen, in der die jeweiligen Positionen natürlich besonders akzentuiert werden, in der aber auch das moralische Schwanken zwischen den Positionen sichtbar wird. Zunächst konfrontiert Arnold den Dirigenten mit dessen antisemitischen Aussagen über Vittorio de Sabata und Arnold Schönberg. Furtwänglers Erklärungsversuch wirkt lahm und wie ein Abbild des Standardreflexes der deutschen Öffentlichkeit nach dem Krieg: „But it depends on the circumstances, to whom one was speaking - these attitudes simply don’t exist in me, I used their language, of course I did, everyone did.“ (160). Die fehlende Einsicht Furtwänglers in diesem Moment kann die Zuschauer nur gegen ihn einnehmen, aber David Wills kommt dem Dirigenten argumentativ zur Hilfe. Er fordert Arnold auf, auch die entgegengesetzte Sichtweise zur Kenntnis zu nehmen („Major, you have to balance those things“ 160). Wills legt das Protokoll eines Verhörs im Rahmen der Nürnberg Prozesse vor, dass Furtwänglers Einsatz für seinen jüdischen Konzertmeister Szymon Goldberg belegt. Dann fordert er Emmi in einer an Verteidigungsreden in amerikanischen Gerichtsfilmen erinnernde Geste auf, einen beliebigen Brief aus dem dicken Packen der Stellungnahmen für Furtwängler vorzulesen. 11 Während Arnold sich ungerührt zeigt, kann der Effekt auf das Publikum, das nun gewissermaßen als Geschworenengremium fungiert, kaum ausbleiben. Doch auch Arnold greift nun zu den Mitteln der psychologischen Kriegsführung, indem er eine von Furtwängler dirigierte Aufnahme des Adagios aus der 7. Symphonie Bruckners abspielt und darauf hinweist, dass exakt diese Aufnahme im deutschen Rundfunk nach der Meldung von Hitlers Selbstmord gesendet wurde: „When the Devil died they wanted his band leader to play the funeral march. […] You were everything to them.” (162). Wieder wird an diesem Punkt die Einschätzung des Publikums kippen und sich eher der Sichtweise Arnolds zuwenden. Das Aufeinanderprallen der zwei konkurrierenden Darstellungen Furtwänglers wirft jedoch zunehmend die Frage auf, ob es in diesem Fall überhaupt eine einzige und eindeutige Wahrheit geben kann. 11 Arnold kommentiert die Rolle von Wills als „Anwalt der Verteidigung“ gleich zu Beginn von dessen Plädoyer ironisch: „Okay, Counsellor, here we go, it’s your day in court“ (160). Im Laufe des Stückes hat er Wills bereits dessen fehlendes Rückgrat angesichts seiner jüdischen Abstammung vorgeworfen. Am Ende bezeichnet er ihn im Duktus amerikanischer Wertkonservativer als „liberal piece of shit“ (166). 300 Mark Berninger Mit der Entgegnung Furtwänglers erweitert Harwood die Auseinandersetzung danach auch noch auf die Frage, welche Rolle Musik (und damit implizit alle Kultur, einschließlich des Dramas) angesichts der Verbrechen der Nationalsozialisten einnehmen kann. Furtwängler versteigt sich schließlich zu der Aussage „a single performance of a great masterpiece was a stronger and more vital negation of the spirit of Buchenwald and Auschwitz than words“ (163). Auch wenn die an die Macht der Kultur glaubenden Zuschauer die Emphase dieses Satz vielleicht teilen möchten, werden sie doch durch die Entgegnung Arnolds brutal aus der Verklärung der Kunst gerissen: „Have you ever smelled burning flesh? I smelt it four miles away. […] You talk to me about culture and art and music? You putting that in the scales, Wilhelm? You setting culture and art and music against the millions put to death by your pals? ” (163). Dieser Angriff gilt möglichen mentalen „Abweichbewegungen“ des Publikums ebenso wie Furtwängler selbst und an diesem Punkt mag man vermutlich die Meinung teilen, dass vor dem Hintergrund von Auschwitz die positive Aussagekraft der Kultur versagt. Doch Harwood belässt es nicht bei diesem Stand der Erörterung und relativiert auch diese Überzeugung sogleich, denn unmittelbar danach überspannt Arnold den Bogen, wenn er allein den aktiven Widerstand als moralisch aufrechte Handlungsoption preist und auf die Hinrichtung von Emmis Vater verweist. Emmi entwertet diese Aussage mit einem knappen Satz: „My father only joined the plot when he realised we could not win the war“ (164). Die selbstgerechte Haltung derjenigen, die sich in der Position moralischer Überlegenheit wähnen, wird damit außer Kraft gesetzt und das Stück endet mit einem Schuldeingeständnis Furtwänglers und den Fragen David Wills’: „I wonder how I would have behaved in his position? I’m not certain I’d have ‚acted courageously’. And what about you Major? I have a feeling we might just have followed orders.” (165). Dies sind Fragen, die den Finger in die Wunde der selbstgerechten moralischen Sicherheit der Unbeteiligten legt und die Zweifel an einer allzu positiven Sichtweise der Rolle Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg nährt. 12 Es ist klar, dass das Stück die Zuschauer auffordert, Stellung zu beziehen, was ja auch der Titel „Taking Sides“ andeutet. Mehrmals werden dem Publikum entgegengesetzte Positionen nahegelegt, letztendlich zielt Harwood jedoch dahin, die Unmöglichkeit einer bequemen, gesicherten und völlig überzeugten Sichtweise aufzuzeigen. Die im Titel angedeutete Parteinahme wird somit unterminiert. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust kam dies für manche Kritiker einer Relativierung 12 In ähnlicher Weise hat auch Julia Pascal mit ihrem Stück Theresa (1990) die weitverbreitete Überzeugung ausgehöhlt, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus in England unmöglich gewesen wären. In Theresa wird die Auslieferung und Deportation einer auf die Kanalinseln geflohenen Jüdin durch die lokalen britischen Behörden nachgezeichnet. Vergegenwärtigung des Krieges am Ende der Nachkriegszeit 301 der Schuldfrage gleich. Ähnlich wie Michael Frayn, der in Copenhagen mit seiner ähnlich ambivalenten Darstellung des rätselhaften Treffens zwischen Nils Bohr und Werner Heisenberg im Jahre 1941 unangenehme Fragen zur Rechtfertigung des amerikanischen Atombombenprogramms aufwarf, wurde Harwood verschiedentlich vorgeworfen, zu viel Mitleid für Kollaborateure des Naziregimes zu erzeugen. An Harwoods Darstellung, die Techniken des dokumentarischen Geschichtsdramas paradoxerweise dafür einsetzt, die Gewissheit von Beweisen und Beweisführungen zu relativieren, und an dem Unbehagen, das dieses Vorgehen erzeugt, zeigt sich das Ausloten der mit „’Tis Sixty Years Since“ definierten Scheidelinie. In seinem Geschichtsdrama behandelt Harwood das Epochenereignis des Zweiten Weltkriegs, tatsächlich lotet er jedoch auch den Epochenumbruch des Endes der Nachkriegszeit und den Abschied von vertrauten Gewissheiten über die Geschichte aus. Literaturverzeichnis Berninger, M.: „Variations of a Genre. The British History Play in the Nineties“. In: B. Reitz, M. Berninger (Hg.), British Drama of the 1990s. Heidelberg 2002, S. 37-64. Harrower, D.: Presence. London 2001. Harwood, R.: „Taking Sides“. In: Ders.: Collaboration & Taking Sides. London 2008 [1996]. Hook, A.: „Introduction“. In: Sir W. Scott: Waverley. London 1985, S. 9-27. Houswitschka, C.: „(Dis)Continuities in Recent British Holocaust Drama“. In: M. Rubik, E. Mettinger-Schartmann (Hg.), (Dis)Continuities: Trends and Traditions in Contemporary Theatre and Drama in English. Trier 2002, S. 193-209. Reitz, B. und U. Behlau: Jewish Women's Writing of the 1990s and Beyond in Great Britain and the United States. Trier 2004. Rokem, F.: „’Performing History’: Theater und Geschichte. Die Französische Revolution im Theater nach dem Zweiten Weltkrieg“. In: E. Fischer-Lichte, F. Kreuder, I. Pflug (Hg.), Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgrde. Tübingen,Basel 2010, S. 316- 374. Shakespeare, W.: Henry V. London 1996. Stern, G.: „Furtwängler - the Testing of Art: Ronald Harwood's Drama Taking Sides“. In: B. Reitz (Hg.), Race and Religion in Contemporary Theatre and Drama in English. Trier 1999, 55-64. Stubbs, I.: We Happy Few. London 2004. Gunther Nickel Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? Zum Umgang mit der NS-Zeit in den Werken Bertolt Brechts, Carl Zuckmayers und Peter Hacks’ Die Debatten um die Bewältigung dessen, was der Nationalsozialismus an Leid und Opfern hervorgebracht hat, begannen zu einer Zeit, in der das, was 1945 Vergangenheit wurde, noch Gegenwart war. Die deutsche Emigration spaltete diese Auseinandersetzungen schon in den 1930er Jahren allmählich in zwei konträre Lager: In jenes, das von einer Kollektivschuld aller Deutschen überzeugt war, und jenes, das diese Überzeugung nicht teilte. Leopold Schwarzschild etwa gestand 1939 in einem Leitartikel der Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“ unter der Überschrift „Der Tag danach“, er habe Zweifel, ob es genügen werde, in Deutschland nur Hitler zu stürzen und eine neue Regierung einzusetzen. Beim Nachdenken stoße man […] auf die Möglichkeit, dass für eine sehr geraume Weile die Sieger, mit ihrer Verwaltung und ihren Truppen, eine Mentoren- und Kuratoren-Rolle übernehmen. […] Ihnen wäre es möglich […], eine langsame und allmähliche Pädagogik des demokratischen Regierens und Regiertwerdens spielen zu lassen. Ihnen wäre es möglich, den Prozess der systematischen und stufenweisen Aberziehung dessen zu sichern, was dem Deutschen an Abnormitäten, an zerstörenden und selbstzerstörenden Eigenschaften im Laufe der Jahrhunderte anerzogen worden ist. 1 Darauf antwortete der sozialdemokratische Publizist Konrad Heiden nicht ohne Sarkasmus: Es ist soweit gekommen, daß in den Reihen der deutschen Opposition Deutschland gegen Deutsche in Schutz genommen werden muss. Es gibt deutsche Antifascisten, die der fascistischen Propaganda so weit erlegen sind, daß sie in wörtlicher Befolgung der von ihr ausgegebenen Schlagworte Deutschland völlig mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen und nicht mehr in diesem, sondern in Deutschland schlechthin den Feind sehen. 2 Ganz ähnlich wie Heiden argumentierte Bertolt Brecht, nachdem Thomas Mann 1943 seine Unterschrift unter eine Resolution zurückgezogen hatte, in der die Gründung eines „Nationalkomitees Freies Deutschland“ im Juli 1943 1 Das Neue Tage-Buch, Jg. 7, Nr. 29 vom 15. Juli 1939, S. 682-686, hier: S. 685. 2 Das Neue Tage-Buch, Jg. 7, Nr. 33 vom 12. August 1939, S. 781. 304 Gunther Nickel in Moskau von namhaften Vertretern der deutschen Emigration in den USA begrüßt werden sollte: Er könne es, so Mann in einem Telefonat mit Lion Feuchtwanger, nicht unbillig finden, wenn „die Alliierten Deutschland zehn oder zwanzig Jahre lang züchtigen“. 3 Brecht reagierte, als er davon erfuhr, äußerst empört. „Die entschlossene Jämmerlichkeit dieser ‚Kulturträger’“, kommentierte er das Verhalten Manns, „lähmte selbst mich wieder für einen Augenblick […]. Mit Goebbels’ Behauptung, Hitler und Deutschland sei eins, stimmen sie überein, wenn Hearst 4 sie übernimmt. […] Wie gesagt, für einen Augenblick erwog sogar ich, wie „das deutsche Volk“ sich rechtfertigen könnte, daß es nicht nur die Untaten des Hitlerregimes, sondern auch die Romane des Herrn Mann geduldet hat, die letzteren ohne 20 bis 30 SS- Divisionen über sich.“ 5 Noch eine Woche später war Brecht über Thomas Manns Reaktion derart aufgebracht, daß er in seinem „Journal“ festhielt: Als Thomas Mann vorigen Sonntag, die Hände im Schoß, zurückgelehnt sagte: „Ja, eine halbe Million muß getötet werden in Deutschland“, klang das ganz und gar bestialisch. Der Stehkragen sprach. Kein Kampf war erwähnt, noch in Anspruch genommen für diese Tötung, es handelte sich um kalte Züchtigung, und wo schon Hygiene als Grund viehisch wäre, was ist da Rache (denn das war Ressentiment von dem Tier). 6 Die hier von Brecht und Mann eingenommenen Positionen markieren Endpunkte eines Spektrums von Haltungen zu einem Thema, das im Abstand von nunmehr über sechzig Jahren die Öffentlichkeit immer noch bewegt, ja „die Beschäftigung mit der NS-Zeit [...]“, so stellen die Autoren eines Sammelbands zum „Umgang mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 1995 einleitend fest, „[...] hat in den letzten zwanzig Jahren zugenommen“. 7 Auch heute, fünfzehn Jahre später, ist diese Entwicklung anhaltend, wie sich an der Konjunktur belletristischer Bemühungen um die Vergangenheitsbewältigung exemplarisch ablesen läßt. 8 Von diesen Beobachtungen ausgehend, möchte ich im folgenden zunächst rekonstruieren, wie nach Brechts Ansicht mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umzugehen sei, sobald der NS-Staat zerschlagen ist. Anschließend sollen Parallelen und Differenzen zur Haltung von Carl Zuckmayer rekapituliert werden. Danach umreiße ich, was Brecht tatsäch- 3 Brecht (1988 ff.), Bd. 27, S. 163. 4 Der amerikanische Medienmagnat William Randolph Hearst (1863-1951), ein entschiedener Gegner des New Deal. 5 Brecht (1988 ff.), Bd. 27, S. 163. 6 Ebd., S. 164. Vgl. auch Lehnert 1976, S. 62-88. 7 Bergmann/ Erb/ Lichtblau (1995), S. 11. 8 Vgl. dazu Nickel (2004). Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 305 lich unternommen hat, nachdem er 1948 nach Deutschland zurückgekommen war. Im darauf folgenden Abschnitt wird erörtert, warum Peter Hacks, der in seinen Anfängen an Brecht anknüpfte und mit dessen Hilfe 1955 von Dachau nach Ost-Berlin übersiedelte, nach 1961 eine fortwährende Bewältigung der Vergangenheit in der DDR für unnötig hielt. Ein Resümee beschließt diese Untersuchung. Brecht im Exil Geht man der Frage nach, welche Maßnahmen dem erklärten Antifaschisten Bertolt Brecht während seines Exils vorschwebten, damit ein antifaschistisches Deutschland nach einer Beseitigung der NS-Herrschaft errichtet werden könne, ergibt sich ein überraschendes Resultat. Offenkundig sah Brecht keine Notwendigkeit zu einer tiefgreifenden Umerziehung und einer daran anschließenden beständigen mahnenden Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Ihm galt auch die deutsche Bevölkerung als ein Opfer des nationalsozialistischen Regimes, das sich nur mit Gewalt und Terror an der Macht halten könne. Beseitige man dieses Regime, ließe sich ein in seinem Sinne demokratisches Gemeinwesen relativ umstandslos errichten. Ein dieser Vorstellung entsprechendes Deutschlandbild zeichnete er in seiner Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, die von 1937/ 38 an entstanden war und von ihm in den nächsten Jahren sukzessive um weitere Szenen ergänzt wurde. Dem Regisseur Slatan Dudow erläuterte er im April 1938, welche Überlegungen der Arbeit an diesem Stück zugrunde lagen: Er wolle, so Brecht, „die ganze Brüchigkeit des Dritten Reiches in all seinen Einzelteilen sichtbar werden“ lassen […] und daß nur Gewalt es zusammenhält. […] Der Widerstand, und zwar der wachsende Widerstand, wird deutlich gezeigt und das in allen Schichten und allen Graden. […] Wir brauchen nicht zum Kampf aufzurufen, wir zeigen den Kampf! […] Es kommt dabei allzu sehr heraus, eine wie brüchige Basis eben Furcht und Elend für ein Reich bedeuten, auf wie wenige Anhänger die Nazis ernstlich rechnen können, wie wirkungslos ihr Terror bleiben muß, ja wie er unfehlbar den Widerstand erzeugen muß, selbst in Schichten, die ihm anfänglich entgegenjubelten. 9 Was Brecht hier als Deutschlandbild der Hitlerzeit skizzierte, ist das diametrale Gegenteil dessen, was sich Götz Aly unlängst in seinem Buch als „Hitlers Volksstaat“ ausgemalt hat. 10 In Alys Augen lebte das gesamte deutsche 9 Brecht (1988 ff.), Bd. 29, S. 84-86. 10 Aly (2005). 306 Gunther Nickel Volk auf Kosten des enteigneten Judentums und nach Beginn des Zweiten Weltkriegs auch der geplünderten Völker in den besetzten Gebieten. Während des Krieges sei es ihm besser gegangen als je zuvor und er habe den Nationalsozialismus trotz Raub, Rassenkrieg und Mord als die Lebensform der Zukunft betrachtet. Aly knüpfte damit mehr oder weniger deutlich an die Kollektivschuldthese an, brachte 80 Millionen Menschen auf den Generalnenner „das Volk“ und unterstellte diesem Kollektivsingular eine Intention. Im publizistischen Geschäft ist eine derartige Zuspitzung ein erfolgversprechender Schachzug, wissenschaftlichen Maßstäben genügt diese Argumentationsweise indes nicht. Nur bei wenigen Menschen, die in der NS-Zeit gelebt haben, sind wir in der Lage, ihre Meinungen, Haltungen und Ziele anhand von Stellungnahmen, Briefen oder Tagebuchaufzeichnungen verlässlich einer Prüfung unterziehen zu können. Beim Gros der damaligen Bevölkerung war dies mangels überlieferter Quellen unmöglich. Wir können bestenfalls noch Handlungsfolgen rekonstruieren. Die mit ihnen verbundenen affektiven und kognitiven Einstellungen bleiben für immer verborgen. Selbst eine Mitgliedschaft in die NSDAP ist für sich genommen nicht aussagekräftig, denn sie kann rein strategische Ursachen gehabt haben oder unter Gruppendruck erfolgt sein. Davon ganz abgesehen ist es unzulässig, wie Aly die Differenz zwischen Mittäterschaft und Opportunismus einzuebnen. Opportunismus ist immer das Recht der Schwachen, die nicht die Kraft oder die Möglichkeiten haben, sich gegen eine gesellschaftliche Übermacht zu wehren, und bedeutet noch keine Billigung von Unrecht, geschweige denn ein Mittun. Das in der Systemtheorie beschriebene Problem, dass jedes System, also auch ein System wie das des NS-Staates, nur in seinen Äußerungsformen wahrgenommen werden kann, nicht dagegen die mit ihnen verbundenen Intentionen, war auch das Problem Brechts und aller anderen Emigranten. Brecht gelangte zwar auf der Basis einer Faschismustheorie, von der umstritten ist, wie weit sie an die mit jener Dimitroffs konform geht, 11 zu der Überzeugung, der NS-Staat sei nur ein Phänomen eines sich verschärfenden Klassenantagonismus, aber es wurde auch für ihn zunehmend erklärungsbedürftig, dass die Nachrichten von Widerstandshandlungen äußerst spärlich blieben und Deutschland nach Kriegsbeginn jedem externen Beobachter als ein homogenes, effizientes und militärisch erfolgreiches Gemeinwesen erscheinen musste. Am 15. Mai 1942 notierte er dazu in sein Journal: Die Unterscheidung zwischen Hitlerdeutschland und Deutschland („Hitler ist nicht Deutschland! “) ist naturgemäß, je länger der totale Krieg tobt, desto schwerer einleuchtend vorzutragen. Die Lesebuchfabel, daß das deutsche Volk oder zumindest die deutsche Arbeiterschaft gegen diesen Krieg ist, kann immer weniger den ungeheuren Furor der deutschen Riesenarmee, die gewaltigen Leistungen 11 Vgl. Wagner (1989), S. 39-43 und 59. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 307 der Industrie und die Stabilität der inneren Ordnung in Deutschland erklären. Der Widerstand der Hitlerarmee gegen die Sowjetoffensive in diesem Winter deutet nicht gerade auf brüchige „Moral“ hin. 12 Brecht versuchte das Verhalten der deutschen Bevölkerung nun nicht mehr nur damit zu erklären, dass sie enorme Repressionen zu erdulden habe, sondern auch damit, dass es der deutschen Bourgeoisie gelungen sei, […] das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft zu betäuben […]. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, gewisse pseudosozialistische Institutionen, vielleicht auch die Erfassung der Jugend in „volksgemeinschaftlichen“ Verbänden, dazu der politische und ökonomische Terror ergaben ein Feld des sozialen Seins, das erst durch einen zerstörenden Krieg erschüttert werden muß, damit es die klassische Formation zurückbekommt. 13 Tatsächlich agierte der NS-Staat von Beginn an keineswegs nur repressiv, sondern hielt die Bevölkerung beispielsweise durch die 1933 gegründete Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) bei der Stange, die sich mit ihrem „Amt für Reisen, Wandern und Urlaub“ binnen kürzester Zeit zum größten Reiseveranstalter der Welt entwickelte. 14 Zwischen Februar 1934 und August 1939 beförderte die KdF nicht weniger als sieben Millionen Touristen. Dazu unterhielt sie unter anderem eine eigene Kreuzfahrtflotte und begann auf Rügen ein Seebad für 20.000 Urlauber zu errichten, das jedoch nach Kriegsbeginn nicht mehr fertiggestellt werden konnte. Darüber hinaus gelang es der Regierung unter Hitler, die Arbeitslosigkeit unter anderem durch eine konsequente militärische Aufrüstung massiv zu drosseln. Durch Auswanderung, Vertreibung und Internierung politisch oder „rassisch“ Missliebiger ergaben sich weitere Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten. In der Wahrnehmung fast aller Bevölkerungsschichten in Deutschland wurde diese Prosperität natürlich als positiv und in schärfstem Kontrast zur desolaten wirtschaftlichen Situation der Jahre 1929 bis 1933 empfunden. Richard Grunberger stellte in einer Studie über den Alltag im „Dritten Reich“ fest, von der Forschung sei lange ignoriert worden, dass „die meisten Deutschen zu keinem Zeitpunkt die ständige Furcht vor dem Klopfen an der Tür in den frühen Morgenstunden“ kannten und „bis zum Ausbruch des Krieges […] immer noch den Eindruck hatten, dass innerhalb ihrer vier Wände das Leben im wesentlichen unverändert blieb“. 15 Brecht hingegen legte bei seinen Überlegungen und dramatischen Versuchsanordnungen den Akzent vor allem auf die Mechanismen und Effekte einer erzwungenen oder durch Manipulation herbeigeführten Anpassung, die er 1926 schon in sei- 12 Brecht (1988 ff.), Bd. 29, S. 95. 13 Ebd. 14 Vgl. Buchholz (1976), Spode (1982), Frommann (1992). 15 Zit. nach Schäfer (1982), S. 114. 308 Gunther Nickel nem Stück „Mann ist Mann“ demonstriert hatte, das die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kilkoa zu einer „menschlichen Kampfmaschine“ vorführte. Wie Brecht selbst 1936 bemerkte, könne „Mann ist Mann“ „ohne große Mühe“ dahingehend konkretisiert werden, dass die Handlung „statt in Indien in Deutschland“ spiele und die „Armee zu Kilkoa in den Parteitag zu Nürnberg verwandelt“ werde. 16 In „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ dominierte völlig das Moment der Unterdrückung als Mittel nationalsozialistischer Innenpolitik. Nimmt man, ausgehend von dieser Szenenfolge, die dramatischen Konstellationen der danach von Brecht verfassten Dramen in den Blick, so zeigt sich, dass er in ihnen entweder die Mechanismen von Herrschaft bloßlegte oder aber Konfliktsituationen gestaltete, in denen der Einzelne zur Anpassung gezwungen ist, will er sich nicht massive Nachteile einhandeln oder gar in Lebensgefahr bringen. Zur ersten Gruppe zählt die Komödie „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, die von einem Dualismus bestimmt ist: Wenn Puntila betrunken ist, ist er ein hilfsbereiter Mensch, ausgenüchtert ist er indes unausstehlich. Für die von Puntilas Verhalten Betroffenen laufen die extremen Stimmungs- und Haltungsschwankungen letztlich jedoch auf das gleiche hinaus, denn auch der betrunkene Puntila beutet sie zu seinen Zwecken aus, er tut es nur anders und nur vordergründig auf sympathischere Weise. Eine dichotomische Unterscheidung zwischen Tätern und Opfer findet sich noch weiter zugespitzt in anderen Stücken Brechts, etwa in „Das Verhör des Lukullus“. Dort wird ebenfalls auf die Anatomie von Herrschaft und Herrschaftsmitteln abgehoben, nicht auf die Korrumpierbarkeit auch der Beherrschten. In der zweiten Gruppe von Stücken werden dagegen Werturteile, die nur auf der Unterscheidung von gut und böse oder Tätern und Opfern basieren, als eindimensional und undialektisch vorgeführt und damit zurückgewiesen. So handelt Galileo Galilei zwar aus einer menschheitsgeschichtlichen Perspektive betrachtet falsch, wenn er dem Druck der Inquisition nachgibt. Aber es fällt schwer, ihm das zu verdenken, weil er einen hohen Preis dafür zahlen müsste, wenn er sich zur Standhaftigkeit gegenüber einem Unterdrückungsapparat entschlossen hätte, in dem Brecht wiederum Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus ausgemacht hat. 17 In „Mutter Courage und ihre Kinder“ zeigte er dann, wie die Marketenderin Anna Fierling sich und ihre Kinder im Dreißigjährigen Krieg durchzubringen versucht. Sie befindet sich dabei in einem ständigen Konflikt zwischen ihrer Rolle als Mutter und ihrer Rolle als Händlerin. Dieser Konflikt führt schließlich dazu, dass sie alle drei Kinder verliert. Und sie verliert sie nur deshalb, weil sie als Mutter just in den Situationen ihren Kindern nicht helfen kann, in denen sie gerade eine 16 Vgl. Brecht (1988 ff.), Bd. 2, S. 410. 17 White (1966), S. 11 f. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 309 Handelsgelegenheit nutzt, die das weitere Überleben der Familie sichern soll. Der ambivalente Charakter der Courage entsteht dadurch, dass sie divergierenden Ansprüchen gehorchen muss, die ihr völlig entgegengesetzte Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Kaltherzigkeit abverlangen. Eine derartige Figurenanlage war auch das Ziel bei der Arbeit an „Der gute Mensch von Sezuan“: Der eigentlich menschenfreundlichen Shen Te ist es gar nicht möglich, immer moralisch gut zu handeln, weil sie sonst nicht überleben könnte, und sie muss sich aus diesem Grund immer wieder in den erbarmungslosen Shui Ta verwandeln. Die bei dieser Konstellation offenkundige Gefahr einer plakativen Schwarz-Weiß-Malerei stellte für Brecht eine der Hauptschwierigkeiten bei der Arbeit an diesem Stück dar: „Vor allem“, notierte er am 20. Juni 1940 in sein Journal, „musste dem Schematischen ausgewichen werden. Li Gung [die spätere Shen Te] musste ein Mensch sein, damit sie ein guter Mensch sein konnte. Sie ist also nicht stereotyp gut, ganz gut, in jedem Augenblick gut, auch als Li Gung [respektive Shen te] nicht. Und Lao Go [der spätere Shui Ta] ist nicht stereotyp böse usw.“ 18 Die Struktur der Konflikte, die Brecht in „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, „Galileo Galilei“, „Mutter Courage“ usw. vorführt, lässt die Mutmaßung zu, dass die dramatis personae in anderen gesellschaftlichen Kontexten anders handeln könnten. Daher stellt sich die Frage, wieviel moralischer Verantwortung jemandem für Handlungen aufgebürdet werden kann, die er unter widrigen Umständen tun musste. Leider hat Brecht die Gegenprobe aufs Exempel niemals durchzuspielen versucht und dramatisch ausgelotet, welche Auswirkungen solche veränderte Rahmenbedingungen haben könnten. In „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ erschien ihm gegen Kriegsende die Ursache, die den NS-Staat hervorgebracht hat, nicht ausreichend deutlich zu werden, weshalb er Anfang 1945 darüber nachdachte, ob eine Aufführung vor einem amerikanischen Publikum „jetzt wirklich richtig“ sei. „Die Aufzeigung des ‚guten Kerns’ im deutschen Volk“, heißt es in einem Brief an Berthold Viertel, […] das ja immer noch eine recht raue Schale aufweist, bekommt in den USA eine ganz spezielle Bedeutung. Es ist ja nicht so, daß da lediglich ein Nazikrebs zu entfernen ist, damit das Gesunde, Wertvolle, „Eigentliche“ wieder auflebt (ein Mensch ist auch nicht „gesund, außer daß er einen Krebs hat“). Die Theorie vom gesunden Kern würde praktisch darauf hinauslaufen, daß die westlichen Demokratien in Deutschland einen „gesunden“, anständigen, nicht-aggressiven, krisenfreien und beschaulichen Kapitalismus etablieren sollen (mit Lesezirkeln, Uniformverbot, viel Aufenthalt im Freien usw.). In Wahrheit ist, immer von hier aus, 18 Brecht (1988 ff.), Bd. 26, S. 392. 310 Gunther Nickel das Nazitum nur zu unterdrücken durch Unterdrückung der deutschen Bourgeoisie […]. 19 Da Brecht fürchtete, sich nicht klar genug ausgedrückt zu haben, versuchte er in einem weiteren Brief an Viertel seinen Standpunkt zu präzisieren: Der Unterschied liegt darin, ob man formuliert „Hitler und Deutschland sind nicht dasselbe, entfernt den Nazismus und es bleibt das deutsche Volk“ oder „Der Nazismus stellt ein Prinzip und einen Apparat der Unterdrückung nach außen und innen dar und hat tiefe Wurzeln in der wirtschaftlichen Struktur D.[eutschland]s.“ Die erste Formulierung läßt aus, daß D. vor Hitler einen unversöhnlichen, kein politisches Gleichgewicht mehr zeigenden Kampf verschiedener Schichten führte und unter industriell-junkerlicher Herrschaft eine unheilbare Verelendung des Kleinbürgertums, Bauerntums und Proletariats hervorgebracht hatte. Die Reduktion der deutschen Industrie, die etwa Morgenthau vorschwebt, war in D.[eutschland] im tiefsten Frieden erfolgt, als 7 000 000 Arbeiter auf der Straße lagen. Es war dadurch kein Agrarstaat geworden, sondern die Bauern waren vielmehr bankrott. Usw. Usw. […] Das wichtigste psychologische Fakt ist, daß die vereinigten Nationen nicht zur Rettung des deutschen Volkes ausgezogen sind, sondern zur Vernichtung der imperialistischen Nazis. Das letztere in das erstere umzuwandeln - also die vereinigten Nationen von der Rettung des deutschen Volkes zu überzeugen! - ist genau unsere Aufgabe. 20 In der soeben zitierten Bemerkung Brechts gegenüber Berthold Viertel wird etwas artikuliert, was dem weithin verbreiteten Brecht-Bild zuwiderläuft. Auch nachdem die Ermordung von Millionen Menschen aus rassistischen Gründen in deutschen Konzentrationslagern bekannt geworden war und weltweites Entsetzen hervorgerufen hatte, sah Brecht keinen Anlass für jenen Antigermanismus, der in der amerikanischen Öffentlichkeit, aber auch unter vielen Emigranten längst dominierte. Zum Teil war seine Argumentation von taktischen Erwägungen bestimmt, denn mit Antikapitalismus anstelle von Antigermanismus werde man, wie er in seinem Brief an Viertel ebenfalls festhielt, in den USA „vermutlich keinen Staat machen können, auch keinen deutschen“. 21 Als Alternative blieb für ihn daher nur, dem Antigermanismus in einer Weise entgegenzutreten, die am Ende gestattete, die eigenen politischen Vorstellungen zu realisieren. Dazu bedürfe es einer weiteren taktischen Konzession: Der Hintergedanke „laßt uns nur machen“ darf uns nicht hindern, die Bekämpfung des Nazismus als eine ungeheuer schwere Aufgabe darzustellen, die ohne Gewalt so wenig zu lösen ist wie bloß durch Gewalt. 22 19 Brecht (1988 ff.), Bd. 29, S. 345. 20 Brecht (1988 ff.), Bd. 29, S. 346 f. 21 Brecht (1988 ff.), Bd. 29, S. 347. 22 Ebd. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 311 Das heißt aber im Klartext, es komme nur darauf an, eine politische Handlungsautonomie in Deutschland zu erringen, und damit sei der entscheidende Schritt schon getan. Von einer tiefgreifenden Mentalitätsveränderung in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft scheint Brecht nicht ausgegangen zu sein, während etwa Herbert Marcuse während des Zweiten Weltkriegs davon überzeugt war, dass die „nationalsozialistische Erziehung zu Rationalität und Effizienz […] die Denk- und Verhaltensmuster der Menschen in allen Bevölkerungsschichten viel grundlegender verändert [habe] als der so laut verkündete Bruch mit den überkommenen Tabus. ‚Innerlichkeit’ und ‚Romantizismus’“, so glaubte Marcuse, der nicht ahnte, wie sehr gerade diese Haltungen etwa in den deutschen Nachkriegsfilmproduktionen wieder zum Ausdruck kommen sollten, „sind vom Nationalsozialismus durch die politische Mobilisierung zerstört worden.“ 23 Marcuse plädierte daher für ausgiebige Umerziehungsmaßnahmen. Carl Zuckmayer Unabhängig von Brecht, aber ähnlich wie er, lehnte auch Carl Zuckmayer eine kollektive Verurteilung aller Deutschen ab. Als Erika Mann in einem Beitrag für die deutsch-amerikanischen Exilzeitung „Aufbau“ Zweifel an der Existenz eines „Anderen Deutschlands“ äußerte, sah sich Zuckmayer veranlasst, ihr mit einem „Offenen Brief“ zu antworten, in dem er die „generelle Diskriminierung des deutschen Volkes“ als „ebenso absurd, zelotisch, kurzsichtig, - wirklichkeitsfremd und wahrheitsfern“ verurteilte „wie jedes moralische Gesamturteil über ein Volk oder eine ‚Rasse’“. „Völker“, so Zuckmayer, […] sind aus Menschen zusammen gesetzt, und Menschen sind Geschöpfe, die beide Wesenspole, den des Guten, den des Bösen, in sich tragen. Eine prinzipielle Einteilung in ‚gute’ und ‚böse’ Völker, oder auch in die ‚Guten’ und die ‚Bösen’ innerhalb der Völker, ist sinnlos. […] Wir haben keinen Grund, anzunehmen, dass nicht gerade dort, wo Terror und Gewalttat ihr schändlichstes Gesicht gezeigt haben, eine tiefgehende und ehrliche Katharsis möglich ist. Die Reinigung Deutschlands muss tiefgehend und gründlich sein, aber sie kann der Welt nichts nützen, wenn sie nur eine Zwangsmassnahme ist, wenn sie nicht von Innen kommt, und wenn ihr die Hilfe und das Vertrauen versagt bleibt […]. 24 Wie Brecht glaubte Zuckmayer nicht daran, dass zwölf Jahre dazu ausgereicht haben könnten, in der gesamten Bevölkerung eine nachhaltige Cha- 23 Marcuse (1998), S. 59. 24 Aufbau, Jg. 10, Nr. 19 vom 12. Mai 1944, S. 7 f. 312 Gunther Nickel rakterwäsche zugunsten der NS-Ideologie zu bewerkstelligen. Er war allerdings davon überzeugt, der NS-Staat könne nur militärisch zerschlagen werden. Anschließend ließe sich ein demokratisches Gemeinwesen errichten, was aber nicht von den Siegermächten, sondern von den Deutschen selbst zu leisten sei: „Erziehung aber muss, wie in jedem Fall, Selbsterziehung sein. Es gibt keine andere, die vorhält. Bestraft werden müssen die deutschen Nazis, rücksichtslos […].“ Das deutsche Volk dagegen zu bestrafen, wäre „ein Verrat am ‚gemeinen Mann’“. 25 Um einem solchen „Verrat“ entgegenzuwirken, verfasste er im Winter 1943/ 44 für den ersten USamerikanischen Auslandsgeheimdienst „Office of Strategic Services“ ein Dossier mit 150 Charakterporträts von Schriftstellern, Publizisten, Verlegern, Schauspielern, Regisseuren und Musikern, die im „Dritten Reich“ herausragende Positionen bekleidet haben. 26 1947 schrieb er nach einer fünfmonatigen Inspektionsreise durch Westdeutschland und Österreich als ziviler Kulturbeauftragter des War Departments einen „Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika“, in dem er eine Reihe von besatzungspolitischen Maßnahmen scharf kritisierte, weil sie nur zu einer Refaschisierung einer des Nationalsozialismus überwiegend überdrüssigen deutschen Bevölkerung führen würden, und machte konkrete Gegenvorschläge. 27 Die Übereinstimmung mit Brechts Haltung im Exil ist offenkundig. Es wundert daher nicht, dass Zuckmayer, der sich selbst gelegentlich als „deutschnationales Rübenschwein“ 28 titulierte, „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ wertschätzte. Mit „Ausnahme von ein paar Szenen von Brecht“, schrieb er am 26. Oktober 1945 aus Vermont an seinen Freund Josef Halperin in Zürich, sei „hier über Deutschland […] nur Kindisches und Ahnungsloses produziert worden“. 29 Man darf gleichwohl eine grundlegende Differenz nicht übersehen, denn für Zuckmayer war anders als für Brecht der Klassenantagonismus nicht der Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs der Nationalsozialisten. In einer Mischung aus Faszination und Abscheu stellt er dazu in einem Brief an seinen Freund Albrecht Joseph vom 7. November 1941 vielmehr folgende Überlegungen an: Der Nationalsozialismus war und ist vielleicht noch für viele guten Kräfte, sogar wirklich gute und junge […] faszinierend, nicht wegen der Viecherei oder der Niedertracht womit er Neid und Rachgier organisierte, sondern weil er sich echter Ideale und Ideen, die teils als Traumwunsch schlummerten, teils bewusst überliefert und gepflegt waren, (zum Beispiel auch solcher die in der 48er Bewe- 25 Zit. nach Zuckmayer (2002), S. 472. 26 Zuckmayer (2002). 27 Zuckmayer (2004). 28 Brief an Friedrich Torberg vom 1. Februar 1939, zit. nach Nickel/ Weiß (1996), S. 267. 29 Zuckmayer/ Halperin (2010), S. 61. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 313 gung lebten) bemächtigte und bediente. Wie kann der ungeheure Missbrauch zustand kommen? Ist es etwa so, dass es nur an den Leuten liegt, die etwas ausführen - dass guter Stoff in schlechte Hände geraten kann, dass es einfach die Falschen waren und die Fälscher, statt der Richtigen, dass mit andren Worten, der Grundzug des Nationalsozialismus richtig wäre wenn nicht der Hitler, nicht die „Nazis“, sondern andere, bessere Leute ihn „gemacht“ und geführt hätten? (Wobei ich ausser acht lasse ob der Antisemitismus eine rein demagogisch-propagandistische oder eine pathologisch apokalyptische Nebenerscheinung ist. Denn die Scheusslichkeit der Sache geht ja viel weiter und wäre auch ohne Pogrom vorhanden, oder aber das Pogrom ist ein Ausdruck der allgemeinen, tieferen Scheusslichkeit.) Du kannst nicht nur aus der „Ideologie“ sondern aus der Praxis des Nationalsozialismus und des Dritten Reichs mühelos eine ganze Menge an sich Richtiges und sogar brillant Gemachtes heraus klauben. Kann es auf der Welt sein dass richtige Ideen von den falschen Leuten repräsentiert, vergewaltigt, verunreinigt, und dadurch zu falschen Wirkungen getrieben werden? (Wobei die „falschen Leute“ nicht nur Adolf, Hermann, Julius usw. heissen - denn es ist ja Unsinn dass das einfach eine Gangstergruppe kann - sondern eine Schicht sind die von der Gangstergruppe erfasst wurde. Worin aber besteht die Schicht, die Menschensorte? Es ist ja ebenso Unsinn und oberflächlich das einfach „middle class“ zu nennen und diese en bloc verstunkener Grässlichkeit zu zeihen, nicht die gesunden und kräftigen Materialien zu sehen die gerade in middle class vorhanden sind.) Ja, ich bin kein Hegelianer und glaub nicht an die „absolute Idee“, aber ebensowenig dass es nur an den Leuten liegt und eine wirkliche Idee keine reinigende und absorbierende Eigenkraft, Wachskraft besitzen soll. Also muss es doch daran liegen dass eine epochale Idee die den Rohstoff unserer Zeit gestalten könnte, noch nicht geboren ist. Sodass Ideen-Ansätze und -keime in das grässliche Substitut und Viehfutter des Nationalsozialismus verwurstet werden konnten. 30 In diesen Überlegungen stecken schon wesentliche Motive von Zuckmayers Erfolgsstück „Des Teufels General“, das er wenig später zu schreiben begonnen hat, um sich selbst die Frage zu beantworten: „[W]as geschieht mit einem Menschen, der gegen seine Überzeugung, gegen sein besseres Wissen lebt und handelt? Dieser Gewissenskonflikt ist der Kernpunkt des Dramas.“ 31 Max Frisch attestierte ihm nach der Züricher Uraufführung, es habe „soviele Menschen erleichtert“, und lobte demgegenüber Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reichs“ mit der Bemerkung: „Brecht gibt diese Erleichterung nicht.“ 32 Frisch konstruiert auf diese Weise einen Gegensatz zwischen den beiden Dramatikern, der in dieser Form zur Entstehungszeit der Stücke nicht bestand, der aber von den 1960er an für mehr als dreißig Jahre ein Gemeinplatz in der Forschungsliteratur und im Feuilleton werden sollte. Peter Hacks urteilte, als er noch ganz unter dem Einfluss Brechts stand, si- 30 Zuckmayer/ Joseph (2007), S. 327-329. 31 Brief vom 15. Februar 1948, zit. nach: Nickel (2001), S. 586. 32 Schweizer Annalen, Jg. 3, 1946/ 47, Nr. 8, S. 479-481, hier: S. 480. 314 Gunther Nickel cherer als Frisch in einem undatierten Brief an seinen Freund Hansgeorg Michaelis: „Des Teufels General hat mich nicht erschüttert; für ein Zeitstück ist es gut.“ 33 Entsprechend antwortete er dem Dramaturgen des Schauspielhauses Bochum am 28. Januar 1955 auf eine Rundfrage, welche Stücke für eine „Woche zeitgenössischer deutschsprachiger Dramatik“ in Frage kämen: Ich kenne überhaupt keine erträglichen deutschen Nachkriegsstücke außer allenfalls dem [! ] Militär-Reißer von Zuckmayer und dem [! ] Dimitroff-Stück von der Zinner. Eine Woche deutscher Dramatik bringe ich also nicht zusammen. Aber wenn Sie ein Jahrhundert deutscher Dramatik wollen, müssen Sie mal einen Brecht spielen. 34 Brecht in der SBZ / DDR Angesichts der Zuversicht, mit der Brecht im Hinblick auf eine Neugestaltung der Verhältnisse in Deutschland in seine Heimat zurückkehrte, stellt sich unweigerlich die Frage, warum er dort dann noch Stücke wie „Galileo Galilei“ und „Mutter Courage“ auf die Bühne brachte oder bringen ließ, die Konfliktsituationen einer zurückliegenden Epoche zeigten. Zur mahnenden Erinnerung an schlechte, aber doch überwundene Zeiten? Solche Fragen bilden - neben der Auseinandersetzung um den etwa von Fritz Erpenbeck, dem Chefredakteur der Zeitschriften „Theater der Zeit“ und „Theaterdienst“, als Formalismus abgestempelten Modernismus in der Kunst - einen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzungen zwischen Brecht und Kulturfunktionären der DDR: Statt den „neuen Menschen“ zu zeigen, thematisiere Brecht - lautete einer der Einwände - immer noch Antagonismen, obwohl doch der für ihn wesentliche Antagonismus - der mit der kapitalistischen Eigentumsordnung einhergehende von Kapital und Arbeit - beseitigt worden sei, und in der Tat hat Brecht in der Dramatik nur noch eigene ältere oder von anderen stammende Stücke bearbeitet. Man mag das damit erklären, dass es für einen Schriftsteller, der zeitlebens mit den Grundfragen seiner Epoche beschäftigt war, Schwierigkeiten bereitet, im Alter noch einmal auf eine Epochenzäsur mit ganz neuen Fragen produktiv zu reagieren. Überdies stellte sich Brecht, als er 1948 erstmals in die sowjetisch besetzte Zone Berlins kam, die Situation anders dar, als er sie sich im Exil ausgemalt hatte. Er gewann zunehmend den Eindruck, dass es noch weithin der Einsicht in die Notwendigkeit des Sozialismus ermangle: 33 Deutsches Literaturarchiv, Nachlaß Peter Hacks. 34 Ebd. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 315 Die Deutschen rebellieren gegen den Befehl, gegen den Nazismus zu rebellieren; nur wenige stehen auf dem Standpunkt, daß ein befohlener Sozialismus besser ist als gar keiner. 35 Es war für ihn mithin Überzeugungs-, man könnte auch sagen: Erziehungsarbeit notwendig. Brecht gestand zu, eine psychologische Schwierigkeit erwachse aus den zahllosen Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten und auch dadurch, dass die sowjetische Militärregierung in großem Umfang eine Demontage von Fabriken betrieb, um sie als Reparationsleistungen für die Kriegsschäden in die UdSSR zu transportieren. Aber, notierte er in seinem „Journal“, die […] Arbeiter bedenken nicht eben, daß der Zerstörungskrieg gegen die Sowjetunion zwar ohne ihre Billigung, aber nicht ohne ihre Mithilfe gemacht wurde; und die Arbeit gebende Vorbereitung des Kriegs unter dem Beifall eines sehr großen Teils von ihnen. 36 Angesichts der fehlenden Einsicht von Arbeitern in die Ursache der eigenen Lage erschien es ihm sinnvoll, seine in der Zeit des Exils entstandenen Stücke aufzuführen. Er verstand sie als „Leitfaden für eine neue Klasse, ermöglichend, dem Klassenfeind erfolgreicher entgegenzutreten“. 37 Die Vergangenheit bedurfte für ihn trotz der Zerschlagung des NS-Regimes also noch der Auseinandersetzung, denn sie erschien ihm in der Gegenwart nicht restlos überwunden. Peter Hacks In Brechts Nachfolge zeigten zunächst auch Heiner Müller und Peter Hacks in Stücken wie „Der Lohndrücker“ und „Die Sorgen und die Macht“, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel allein noch keine widerspruchsfreie Welt zutage förderte. So schildert Hacks in „Die Sorgen und die Macht“ die Schwierigkeiten, die entstehen, weil die Qualität von Briketts nicht den Anforderungen genügt, die für den Betrieb einer Glasfabrik nötig sind. Dennoch wird die Brikettfabrik ausgezeichnet, denn sie übertrifft das Plansoll immens. Das gelingt ihr aber nur deshalb, weil sie minderwertige Briketts produziert. Solange jedoch dafür Belohnung winkt, hat niemand einen Anreiz, die Lage zu verändern. Diesen Zustand kommentiert die Arbeiterin Holdefleiss: 35 Brecht (1988 ff.), Bd. 27, S. 285. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 299. 316 Gunther Nickel Kollegen, Kommunismus, wenn ihr euch Den vorstellen wollt, dann richtet eure Augen Auf, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil. 38 Das Stück, das Derartiges zur Sprache brachte, erregte in der DDR nicht nur kulturpolitisches Missfallen und wurde schließlich verboten, 39 auch Hacks selbst erschien es bald problematisch, dass es sich in seinen Mitteln und Formen nicht im geringsten von der Dramatik unterschied, die zur Freilegung des Klassenantagonismus im Kapitalismus nötig und von Brecht auf hohem Niveau entwickelt worden waren. Statt nun aber immer wieder aufs neue „die Klassengesellschaft zu widerlegen“, 40 hielt Hacks es für notwendig, deutlich zu machen, dass Kunst im Sozialismus nicht mehr zum Ziel haben könne, einen Beitrag zur Abschaffung des Bestehenden zu leisten. Daraus resultierte in seinen Augen ein neues Verhältnis der Kunst zur Realität. Hacks bestimmte es zu Beginn der 1960er Jahre nunmehr dahingehend, das Verhältnis der Wirklichkeit zu seiner utopischen Möglichkeit darzustellen - und nahm konsequenterweise Abschied von der brechtschen Theaterästhetik. In einem kurzen, im Januar 1961 entstandenen Text mit der Überschrift „Die Ästhetik Brechts“ heißt es programmatisch: Brechts Wirklichkeit war die der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert. Unsere Wirklichkeit ist schon anders; unsere Methoden müssen anders aussehen als die Brechts, wenn sie brechtsche Methoden sein wollen. Wie jede Leistung des menschlichen Geistes bleibt die Leistung Brechts historisch. Sie ist vergänglich und ewig. Ihre Fortsetzung kann nur auf dem Weg der Negation erfolgen, nicht auf dem des Verlängerns. 41 Eines der ersten Stücke, die Hacks’ Vorstellungen von einer von ihm „postrevolutionär“ genannten Dramatik 42 entsprachen, trug den Titel „Der Frieden“ und war eine Aristophanes-Bearbeitung. Es wurde 1962 am Deutschen Theater Berlin unter der Regie von Benno Besson uraufgeführt, stand mehr als zwölf Jahre auf dem Spielplan und wurde in dieser Zeit 250 Mal aufgeführt. 43 Mehr als 30 Theater im deutschsprachigen Raum spielten es nach. 44 Die Entstehung und Aufführung dieses Stücks fällt in die Zeit nach der Errichtung der Deutschland auch physisch teilenden Mauer und der damit 38 Hacks (2003a), Bd. 3, S. 61. 39 Vgl. Weigel (2010). 40 Hacks (2003a), Bd. 13, S. 78. 41 Ebd., S. 38. 42 „Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie“ lautete der Untertitel der Aufsatzsammlung „Das Poetische“, die 1972 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. 43 Weigel (1999), S. 381. 44 Trilse (1981), S. 155. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 317 einhergehenden Konsolidierung der DDR. Schon 1958, zwei Jahre nach Brechts Tod, hatte die SED auf ihrem V. Parteitag die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus für abgeschlossen erklärt und damit die Voraussetzung für diesen politischen Kurs Walter Ulbrichts geschaffen, der von Hacks voll und ganz gebilligt wurde. Entsprechend geht es, wie Friedrich Dieckmann hervorgehoben hat, in Hacks’ Bearbeitung von Aristophanes’ „Der Frieden“ […] um Frieden als das Hinter-sich-Lassen widerstreitender Ambitionen. Alles, was den gewonnenen Frieden stören kann: Die Waffenproduktion, die Haßpredigt, die militärische Erziehung, wird […] der Unzeitgemäßheit verwiesen. 45 Wie das geschieht ist äußerst amüsant und es ist nicht zuletzt deshalb so amüsant, weil sich Hacks keineswegs aktueller kulturpolitischer Seitenhiebe enthält. So beginnt die folgende Szene, in der der Weinbauer Trygaios einem seiner Sklaven erklärt, er habe ihm von einem Ausflug zum Olymp eine Frau mitgebracht, mit Anzüglichkeiten - und endet in einer Kritik an der Zensur: TRYGAIOS: Diese habe ich für dich mitgebracht. SKLAVE: betastet Herbstfleiß Wirklich, Herr, sie ist gut im Fleisch und entspricht meinem einfachen Geschmack. Zu Herbstfleiß Wie heißt du? HERBSTFLEISS: Herbstfleiß, und ich kam zur Erde, um dich schuften zu lehren. SKLAVE: Unnötig, Süße; ich bin schon ein gelernter Schuft. HERBSTFLEISS: Du mußt den Weinberg pflegen. SKLAVE: Ja, ich will den Venusberg pflegen. HERBSTFLEISS: Ich meine, du mußt den Acker aufgraben. SKLAVE: Eine Elle tief; keinen Zoll weniger, daß der Same warm zu liegen kommt. HERBSTFLEISS: Ich glaube, du bist von der Zensurbehörde, mein Lieber, daß du alles zweideutig verstehst, was ich eindeutig ausspreche. Zu den Zuschauern Außer Leuten, die Abscheuliches reden, gibt es nämlich auch solche, die Abscheuliches hören; in den Ohren dieses Burschen zum Beispiel haftet so viel Schmutz, daß auf dem Weg in seinen Kopf zu meinen Worten immer noch etwas, was ich nicht gesagt habe, hinzukommt. 46 Rekapitulieren wir kurz den Gang der gesamten Handlung: Das Stück hebt an mit einem Prolog, der das Publikum darüber informiert, es herrsche Krieg aus ökonomischen Gründen. Im ersten Akt lässt dann der Weinbauer Trygaios von seinen Sklaven einen Mistkäfer in einem Saukoben großfüttern. Dieser soll ihm, wie sich alsbald herausstellt, dazu dienen zum Olymp zu fliegen und den dort in einem Brunnenloch gefangengehaltenen Frieden zu befreien. Der Coup gelingt, denn die Götter erweisen sich als restlos korrupt, das macht sie leicht korrumpierbar. Trygaios kann daher schließlich 45 Dieckmann (2006), S. 20. 46 Hacks (2003a), Bd. 3, S. 240. 318 Gunther Nickel zusammen mit dem allegorisch personifizierten Frieden sowie mit den Damen Lenzwonne und Herbstfleiß wieder den Weg nach Hause antreten. Der zweite Teil des Stückes zeigt, wie Trygaios sich des Friedens erfreuen und Lenzwonne erst in sein Bett bekommen und dann heiraten will. Dem stehen jedoch ein paar kleinere und größere Hindernisse entgegen, die erst noch auszuräumen sind. Zunächst muss Herbstfleiß nach Athen begleitet werden, dann gilt es Waffenhändlern und Kriegshetzern unmissverständlich deutlich zu machen, dass ihre Konjunktur vorbei ist, und schließlich bedarf noch ein Athener Knabe der Unterweisung darüber, dass man den Frieden unmöglich mit einem Kriegslied feiern kann. Mit dieser Fabel widersprach Hacks zwar nicht den politischen Zielen des V. Parteitags der SED, wohl aber verhält sie sich kritisch gegenüber jener Fraktion im DDR-Machtapparat, die Ulbrichts Politik nicht in vollem Umfang billigte und von 1963 an dessen „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung“ ablehnte, das den Betrieben in der DDR mit dem Ziel der Effizienzsteigerung größere Autonomie gewährte. 47 Hacks’ Kritik zielte vor allem auf eine Generation von antifaschistischen Widerstandskämpfern, die angesichts der Ost-West-Konfrontation weiterhin in Klassenkampf- Kategorien dachten, statt nach der Errichtung der als „antifaschistischer Schutzwall“ titulierten Mauer endlich die Errungenschaften zu genießen und das Erfreuliche zu vermehren. Dass es die Notwendigkeit klassenkämpferischer Kunst einmal gegeben und sie für ihre Epoche daher auch Gültiges zutage gebracht habe, stellte Hacks nicht in Abrede. So lobte er den Bildhauer, Grafiker und Zeichner Fritz Cremer, weil von ihm mit den Mitteln des Steindrucks seine Art von „Kampf gegen den Nazismus, gegen die Gegenrevolution, gegen unser altes Elend und unsere neuen Narrheiten“ geführt worden sei. Daran anschließend bemerkte er allerdings: Aber die Tugend hat keinen Zweck in sich. Wie das Ziel einer Gesellschaft sich im Kampf gegen die Unmenschlichkeit nicht erschöpfen darf, sondern darin liegen muß, selbst eine menschliche Gesellschaft zu sein, ist das höchste und schwerste Ziel der Kunst, auf bejahende, ungebrochene, nicht an einem Feind sich stützende Art den Inhalt eines erstrebenswerten und hochherzigen Lebens herzuzeigen. 48 Vergegenwärtigt man sich mit Wissen um Hacks’ Stück „Jona“, in dem er drei Jahre vor dem Mauerfall das Ende der DDR prognostizierte, worin in seinen Augen der entscheidende Fehler der DDR-Politik nach Ulbrichts Entmachtung durch Erich Honecker bestanden hat, so ist es ihre beinahe völlige Fixierung auf die Außenpolitik, der sie innenpolitische Ziele weitgehend unterordnete. Außenpolitik aber, befand Hacks im Anhang zu „Jona“, sei „an der Politik das Geistlose“: 47 Vgl. dazu: Bartels (2010), S. 84 ff. 48 Hacks (2003a), Bd. 13, S. 157. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 319 Die äußere Politik ist die äußerliche, und ich frage mich, ob sie überhaupt Politik ist. Sie kennt keine Gründe als den Grund zur Macht. Wenn es einen Unterschied zwischen Politik und bloßem Machtvergleich gibt, dann ist Außenpolitik nicht Politik. Ihr fehlt zur Vernunft nicht lediglich der Inhalt; ihr fehlt sogar die Form der Vernunft, die Folgerichtigkeit: ein Zusammenhang, der Schlüsse zuläßt. 49 Die außenpolitische Fixierung der DDR-Politik auf den Systemvergleich und die daraus resultierende Remilitarisierung wurden von Hacks deshalb nicht gebilligt, weil sie der Konzentration auf eine Gestaltung der Zukunft entgegenstanden. So ergibt sich, dass die Abwendung von Brechts Theaterästhetik bei Hacks mit der Hinwendung zu deutschlandpolitischen Ansichten einherging, die Brecht in seinen Exiljahren vertreten hatte. „Ich bin“, erklärte Hacks am 14. März 1976 in einem Brief an Stephan Hermlin, mit dem er wahrscheinlich auf dessen Rede „Mein Friede“ auf dem Kongress des Internationalen PEN-Kongresses in Wien am 19.11.1975 reagierte, 50 […] mit größter Selbstverständlichkeit als Deutschenfresser aufgewachsen; meinethalben hätte man sie bei Kriegsende - alle miteinander und mich eingeschlossen - an den nächsten langen Ast hängen können; es ist mir folglich gar nicht schwer geworden, im Lauf meines Klügerwerdens einzusehen, daß ich mich in dem Punkt geirrt hatte, und ich habe die Leute inzwischen ausgesprochen gern. Wenn wir Goethe, Marx und Heine nicht übermäßig gut behandelt haben, aber wir haben sie hervorgebracht, und das ist mir natürlich lieber, als hätten wir Voltaire, Robespierre und Hugo hervorgebracht und gut behandelt (welches letztere die Franzosen, wie ich höre, ja eben auch nicht mit besonderer Sorgfalt taten). Ich glaube wirklich, Ihre ganze Schwierigkeit kommt daher, daß man seine Meinung 49 Ebd., S. 256 f. 50 Hermlin (1976). Dort heißt es u.a.: „Ich entsinne mich, wie ich einige Jahre nach dem Krieg einigen französischen Freunden zu erklären suchte, was mich so tief von ihnen schied. Es sei, so etwa sagte ich, der Umstand, daß sie seit jeher gesichert in ihrem Land, in ihrer Zugehörigkeit zu ihm ruhten, was natürlich nicht bedeute, daß dieses Land selbst ein Hort der Ruhe sei, wie jeder wüßte, sondern vielmehr ausgesetzt zu jeder Zeit den furchtbarsten Umwälzungen und Veränderungen, aber kein Franzose habe je gezweifelt an Frankreich als dem Mittelpunkt seiner Existenz, so lebe auch mit Selbstverständlichkeit jeder Engländer, jeder Russe, jeder Spanier in dem kleinen Universum Englands, Rußlands, Spaniens, und das alles hätte natürlich gar nichts zu tun mit dem jeweiligen Wohnsitz des Betreffenden. Mit den Deutschen sei es anders, zumindest mit den Deutschen, die über ihr Land und ihre Beziehung zu ihm nachdächten. Es habe immer etwas Unbestimmbares, Problematisches gehabt, und damit seien nicht die von der Reaktion stets in Frage gestellten Landesgrenzen gemeint, sondern der Umstand, daß jeder ernstzunehmende Deutsche sein Land immer im furchtbaren Widerstreit zwischen politischer Realität und dem moralisch-geistig Möglichen oder Wünschenswerten erblickt hätte -¸daß der Patriotismus hier stets in inneres oder äußeres Exil geraten sei […].“ 320 Gunther Nickel über einen Gegenstand einmal im Leben ändern kann und aber nicht ohne ein gewisses Zögern zweimal. 51 Hacks hat seinen Meinungswandel in der Frage des Antigermanismus nicht terminiert. Es gibt jedoch einen guten Grund, ihn für eben jene Zeit anzunehmen, in der er sich vom Einfluss Brechts löste und sich eine sozialistische Klassik zu begründen anschickte. Denn sobald er die Überzeugung gewonnen hatte, es sei gelungen auf deutschem Boden eine Gesellschaft zu errichten, die nicht von Klassengegensätzen bestimmt werde, entfiel nicht nur die Notwendigkeit einer Ästhetik, die Antagonismen thematisiert. Die deutsche Gesellschaft hatte damit in seinen Augen auch - diese Prämisse teilte er mit Brecht - die Basis für die Verbrechen des NS-Staates beseitigt. Aus dieser Perspektive war eine fortwährende „Bewältigung der Vergangenheit“ nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv. Diese Einschätzung kann man seiner Anekdote über Konrad Wolf entnehmen, in der es zum Thema „Antifaschismus“ lapidar heißt: „Hacks verabscheute den Gegenstand“. 52 Nicht minder deutlich äußerte er sich in einem „Brief an eine Dame in Paris über einen Ort namens Deutschland“ vom Dezember 1988. Er lautet: Sehr verehrte gnädige Frau, der beste Patriotismus ist der, den man niemals erwähnt, weil man nicht darauf käme, ihn zu erwähnen. Wollte ich mich nach Ihrem Verhältnis zu Frankreich erkundigen, würden Sie sich wundern und dann sagen: Ich bin Französin. Patriotismus versteht sich von selbst, das ist im Osten nicht anders. Was mir zu „Deutschland“ einfällt? Ich wundere mich und sage: Goethe und die DDR. Die Nation der DDR ist, wie die französische, durch eine Revolution entstanden. Unser Staatsbegriff ist durchaus der jakobinische, mit Entschiedenheit nicht der der Gironde. Der Staat und die Nation fallen hier zusammen. Der Vorschlag, die DDR mit dem zurückgebliebenen Teil der ehemaligen deutschen Nation „wiederzuvereinigen“, muß alle nationalen Instinkte eines DDR-Bürgers befremden. Gewiß, es gibt einige Länder, zu denen die Beziehungen enger als nur geschäftsmäßig sind. Sie sind gleichsam mit Herzensfäden verflochten. Der Unterschied zwischen innerer und äußerer Politik wird unscharf; es bestehen Grenzen, aber die verschwimmen auf eine Weise. So ein Land ist, für die DDR, die Sowjetunion. Die Bundesrepublik Deutschland ist einfach ein benachbartes westliches Ausland. Man kann sich vergleichsweise leicht mit ihr verständigen, weil die Einwohner dort deutsch reden und weil manche von ihnen sich noch an Goethe und Hegel 51 Zit. nach Nickel (2010), S. 121 f. 52 Hacks (2003b), S. 84. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 321 erinnern. Aber mit Franzosen, die sich noch an Corneille und Voltaire erinnern, oder mit Engländern, die Shakespeare und Adam Smith nicht vergessen haben, redet es sich auch gut. Der gesellschaftliche Raum meiner ästhetischen Entwürfe ist die DDR. Ich bin schnell zu langweilen; mich hat immer gelangweilt, über den Imperialismus zu schreiben. Auch über den Faschismus habe ich mir nie ein Wort abgemüßigt. Ich finde diese Gegenstände muffig und verbraucht. Ich käme mir, müßte ich mich mit ihnen bescheiden, provinziell vor. Jeder schuldet seinem Vaterland etwas Dank. Mein Vaterland hat mir erspart, meine Mühe an Fragen zu verlieren, die geklärt. Als Schriftsteller danke ich der DDR mein Dasein. 53 Resümee 1. Der häufig erhobene Vorwurf, in der Bundesrepublik sei die NS- Vergangenheit bis in die 1960er Jahre hinein nicht ausreichend aufgearbeitet worden, man habe gar eine „zweite Schuld“ auf sich geladen, 54 lässt sich ganz genauso gegen die DDR richten. Pikant daran ist nur, dass es dort erklärte Antifaschisten waren, die einen permanenten Schulddiskurs ablehnten, und zwar aus folgenden vier Gründen: a) die Bevölkerung trug in ihren Augen keine Schuld am Aufkommen und den Verbrechen des Nationalsozialismus; b) die politischen Funktionäre kamen mehrheitlich aus dem Widerstand oder dem Exil und sahen biographisch keinen Grund, sich selbst mittelbar eine Schuld am Erfolg des Nationalsozialismus zu geben, indem sie der Kollektivschuldthese das Wort redeten; c) als primäre Ursache des Nationalsozialismus galt ihnen der Kapitalismus. Mit dessen Beseitigung wurde für sie jede weitere Ursachenforschung obsolet; d) wie Adenauer, versuchte auch Ulbricht politische Gräben zu schließen, zumal auch er nicht auf Spitzenkräfte mit NS-Vergangenheit verzichten konnte, die in der DDR jedoch - anderes als in der Bundesrepublik - nicht in herausragende politische Führungspositionen aufzusteigen vermochten. 53 Hacks (1990), S. 29 f. 54 Giordano (1987). 322 Gunther Nickel 2. Brechts Dramatik bleibt da von aktuellem Interesse, wo sie die Frage aufwirft, wie verständlich es ist, wenn man auf Systemzwänge mit Opportunismus reagiert. Diese Frage lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass man generell nach der Funktion und Wirkungsweise von Normierungs- und Anpassungszwängen fragt, zum Beispiel nach den Normierungen und Anpassungen, die ein ins Unabsehbare prolongierter Schulddiskurs zu erzwingen versucht. 3. Die Überlegungen von Zuckmayer sahen vor, dass nach dem Zweiten Weltkrieg positive Leitfiguren zu etablieren seien. Er schlug etwa - vergeblich - vor, einen Film über den deutschen Widerstand gegen Hitler zu produzieren. Auch sein Plan zu einem Film über die Geschichte der deutschen Revolution von 1848/ 49, den er im Jahr 1948 mit der Geschichte eines amerikanischen Soldaten in Deutschland beginnen lassen wollte, dessen Großvater einer der demokratischen Revolutionäre von 1848 war, konnte nicht realisiert werden. 55 Solche Vorstellungen finden ihren höchst aktuellen Konterpart in den Vorschlägen der Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, der Genozid an den europäischen Juden während des „Dritten Reichs“ solle künftig als Fluchtpunkt nicht nur des deutschen Geschichtsbilds dienen, sondern sogar eine europäische Identität stiften helfen. Dazu weist sie auf zwei Ziele hin, die im Januar 2000 bei einer Holocaust- Konferenz in Stockholm formuliert wurden. Es gelte a) die Erinnerung an den Holocaust über die Schwelle des neuen Millenniums zu tragen und in ein Langzeitgedächtnis zu verwandeln, das die zeitliche Begrenzung des lebendigen Zeitzeugengedächtnisses überwindet und b) die Erinnerung an den Holocaust über die nationalen Grenzen zu tragen und eine transnational-europäische Erinnerungsgemeinschaft zu gründen mit einer ausgedehnten Infrastruktur von Institutionen, Finanzen und Netzwerken. 56 Einer derartigen Erinnerungspolitik, die auf die Zementierung eine negativen anstelle einer positiven Bezugsgröße als Basis einer kollektiven Identitätsbildung aus ist, hätte nicht nur Zuckmayer widersprochen, der von nationalsozialistischer Verfolgung aus rassistischen Gründen betroffenen war, sondern mit unterschiedlichen Akzentuierungen auch Brecht und Hacks. 4. Peter Hacks sah mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in der DDR einen Gesellschaftszustand erreicht, in dem es 55 Vgl. Zuckmayer (2004), S. 193 f. 56 Assmann (2009), S. 9. Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? 323 für ihn nicht mehr reaktionär war, nicht revolutionär zu sein. Den Klassenkampf und alles, was er - einschließlich des Faschismus - hervorgebracht hatte, meinte er innerhalb der DDR getrost hinter sich lassen zu können. Die Aufgabe der Kunst im Sozialismus bestimmte er dahingehend, dass in ihr „die genauste Widerspiegelung der statthabenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Möglichkeiten sowie deren fortdauernde Hochrechnung auf die Wirklichkeiten und Möglichkeiten einer billigenswerteren Menschheit hin“ unternommen werde. 57 Zu bewältigen war für ihn folglich nicht die Vergangenheit, sondern ausschließlich die Zukunft. Literatur Aly, G.: Hitlers Volksstaat. Frankfurt am Main 2005. Assmann, A.: „Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur“. In: Recherche. Zeitung für Wissenschaft, Nr. 2/ 2009, S. 1 und 8-11. Bartels, F.: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks. Mainz 2010. Bergmann, W., R. Erb und A. Lichtblau: Schwieriges Erbe. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main/ New York 1995. Brecht, B.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Frankfurt am Main 1988 ff. Buchholz, W.: Die nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“. Freizeitgestaltung und Arbeiterschaft im Dritten Reich. München 1976. Dieckmann, F.: „Auf Käferflügeln zum Olymp“. In: P. Hacks, Aristophanes, Der Frieden. Dokumentation der Inszenierung Benno Bessons am Deutschen Theater Berlin, 1962. 2006, Beiheft S. 8-31. Frommann, B.: Reisen im Dienste politischer Zielsetzungen. Arbeiterreisen und „Kraft durch Freude“-Fahrten. Stuttgart 1982. Giordano, R.: „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg 1987. Hacks, Peter: Brief an eine Dame in Paris über einen Ort namens Deutschland“. In: F. Barthélemy, L. Winckler (Hg.), Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Frankfurt am Main 1990, S. 29 f. Hacks, P.: Werke. Berlin 2003 (a). --: Pasiphae [d. i. P. Hacks] (Hg.): Was ist das hier? 130 Anekdoten über Peter Hacks und dreizehn anderweitige. Berlin 2003 (b). Hermlin, S.: „Mein Friede“. In: Neue deutsche Literatur. Jg. 24, H. 2. 1976, S. 3-9. Lehnert, H.: „Bert Brecht und Thomas Mann im Streit über Deutschland“. In: J. M. Spalek, J. Strelka (Hg.), Deutsche Exilliteratur seit 1933. Kalifornien, München, Bern 1976. Marcuse, H.: Feindanalysen. Über die Deutschen. Lüneburg 1998. Nickel, G.: „Des Teufels General und die Historisierung des Nationalsozialismus“. In: Ders.: Carl Zuckmayer und die Medien. Beiträge zu einem internationalen Symposion. St. Ingbert 2001. 57 Hacks (2003a), Bd. 13, S. 237. 324 Gunther Nickel --: „Bevor er Rabbi wurde, war er Antisemit. 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Er beginnt mit einem Zitat von Hannah Arendt, die - gefragt nach der ersten Reaktion auf Berichte über die Massenvernichtung - antwortet, dass sie es nicht geglaubt habe, „weil es gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war“. Noch im gleichen Jahr, 1943, habe sie aber erkennen müssen, dass die Berichte tatsächlich der Wahrheit entsprachen. „Das ist der eigentliche Schock gewesen“, so Arendt: Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist ganz anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal wieder gut gemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gut gemacht werden kann. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. 1 Wie Diner kommentiert, zeigt sich in Arendts Antwort nicht nur „moralische Fassungslosigkeit“, sondern vor allem die schockartige Erkenntnis eines tiefgehenden zivilisatorischen Bruchs: die Widerlegung des „utilitaristisch geprägte[n] Vertrauen[s], das eine gleichsam grundlose Massentötung [...] schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung der Täter ausschließt.“ 2 Diese Erkenntnis stellt die Frage, wie mit ihr umzugehen sei. Sie führt zum paradoxen Ineinander der Erfordernis, sein Denken und Handeln so auszurichten, dass dergleichen nicht mehr geschieht, mit der Gefahr, dass gerade auf diese Weise der Zivilisationsbruch als solcher letztlich geleugnet wird. Es handelt sich um die Problematik einer Politik (nicht nur) der Erinnerung, die gleichsam außerhalb der Politik stehen muss, da Politik, nach 1 Arendt (1982), S. 24; vgl. auch Diner (1988), S. 7. Arendts Bemerkung stammt aus einem Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus, das am 28. Oktober 1964 in der ZDF-Reihe Zur Person erstgesendet wurde. 2 Diner (1988), S. 7. 326 Michael Bachmann Arendts Wort, das Versprechen trägt, dass „alles einmal wieder gut gemacht werden kann“. Zugleich lässt sich jedoch bereits die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden als eine „a-politische Politik“ beschreiben, wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard argumentiert: sie wurde nicht in der Öffentlichkeit ausgehandelt und blieb für diese ohne „Schau-Platz“. 3 Von Anfang an habe die Shoah einer solchen a-politischen „Politik des Vergessens“ entsprochen, insofern es dem Nationalsozialismus um die Vernichtung der Juden und um die Vernichtung aller Spuren dieser Vernichtung ging. Damit ist die (Erinnerungs-)Politik nach Auschwitz vor eine doppelte Aufgabe gestellt: Zum einen muss sie das, was geschehen ist, jener „Politik des Vergessens“ entreißen und zur Darstellung bringen. Zum anderen muss sie, aus der Perspektive Arendts und Lyotards, gewissermaßen selbst jenseits der Politik stehen: Damit die „Politik des Vergessens“ nicht gerade dadurch fortdauert, dass das zu Erinnernde zum Bestandteil einer - den Zivilisationsbruch vergessenden - „Wiedergutmachung“ durch Darstellung wird. Für Lyotard „verpasst“ jede Darstellung das Geschehene. „Représenter ‘Auschwitz’ en images, en mots“, schreibt er, „c’est une façon de faire oublier cela“. 4 Trotzdem gäbe es die Notwendigkeit zur Darstellung: „Il faut assurément, il faut inscrire, en mots, en images. Pas question d’échapper à la nécessité de représenter“. 5 Ähnlich äußert sich bereits Adorno in seinem berühmten „Diktum“ zur Kunst und Kultur nach Auschwitz, auf das Lyotard sich unter anderem bezieht. Für Adorno birgt jede Darstellung des Holocaust die Gefahr, dass sie dem Zivilisationsbruch Sinn abringt oder ihn in ästhetischer Differenz entwirklicht. So habe noch die „künstlerische Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten“ das „Potential, Genuss herauszupressen“. 6 Zugleich aber begreift Adorno Kunst als den einzigen Ort, „an dem das Leiden noch seine eigene Stimme“ findet und „den Trost, der es nicht sogleich verriete“. 7 Die Frage nach einer „eigenen Stimme“ des Leids zwischen der Notwendigkeit von Darstellung und der Gefahr, durch Darstellung vergessen zu machen, berührt sich - wenngleich Adorno diesen Begriff nicht selbst verwendet - mit der Frage nach künstlerischer Zeugenschaft. Auf welche Weise können künstlerische Darstellungen, die als Re-Präsentationen immer schon von dem Ereignis getrennt sind, auf das sie sich beziehen, jenes Ereignis bezeugen und dem Leid eine „eigene Stimme“ geben? Für Adorno liegt die Antwort in Kunstformen, die sich einer direkten Figuration des Schreckens verweigern, etwa dem Theater Samuel Becketts. Dessen Fin de Partie (1957) 3 Lyotard (1988), S. 51. 4 Lyotard (1988), S. 50. 5 Lyotard (1988), S. 52. Zu den Aporien der Politik nach Auschwitz vgl. aus sprachphilosophischer Sicht auch Lyotard (1983). 6 Adorno (2003), S. 423. 7 Adorno (2003), S. 423. Inszenierte Zeugenschaft 327 würde zu einem Zeugnis für Auschwitz und Hiroshima in dem Sinn, dass sich in ihm der historische Augenblick, ohne direkt dargestellt zu werden, „entfaltet“. 8 Ein solches Zeugnis ist nicht losgelöst von seiner formalen Gestaltung: Im Gegenteil kann Fin de Partie gerade durch die Zerrüttung der dramatischen Form auf die „Explosion des metaphysischen Sinnes“ verweisen. 9 Trotzdem folgt das Stück keiner Dramaturgie der Zeugenschaft: Sieht man davon ab, dass die einzige Verbindung der Protagonisten zu ihrer ungewissen (innerszenischen) Außenwelt im Blick aus dem Fenster besteht, spielen testimoniale Strukturen weder inhaltlich noch formal eine große Rolle. 10 Im Gegensatz dazu betrachte ich im Folgenden Holocaust-Darstellungen auf Bühne und Leinwand, in deren Zentrum die explizite Inszenierung von Zeugenschaft steht. Die Untersuchung geht von der These aus, dass Zeugenschaft angesichts des Zivilisationsbruchs auch außerhalb des juristischen Rahmens an Gewicht gewinnt, als wichtige Form des Zugriffs auf jene Wirklichkeit, deren Widerspruch zu der vermeintlich rationalen Grundkonstitution des Menschen sie „unfassbar“ macht (Arendt). Nach Auschwitz wird, wenngleich mit einer zeitlichen Verzögerung von ca. 15-20 Jahren, die inszenierte bzw. dargestellte Zeugenschaft zu einem wichtigen Element in vielen Theaterinszenierungen und Filmen, die sich auf die Shoah beziehen. An paradigmatischen Beispielen möchte ich verschiedene Formen dieses Umgangs mit Zeugenschaft - und die mit ihnen verbundenen Denkfiguren - vorstellen sowie hinsichtlich ihrer ethischen Implikationen untersuchen. Dabei geht es auch um die Frage ihrer eigenen Geschichtlichkeit, insbesondere angesichts der nachhaltigen Verschiebung der Erinnerungskultur vom „kommunikativen“ zum „kulturellen“ Gedächtnis, die mit dem Sterben der Zeitzeugen noch einmal beschleunigt wird. 11 Beginnen möchte ich jedoch mit grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Inszenierung und Zeugenschaft in Theater und Film ebenso wie zur historischen Situation der Zeugenschaft nach Auschwitz. Inszenierung und Zeugenschaft Auf den ersten Blick scheint sich die Frage nach der Inszenierung von Zeugenschaft, gerade in Bezug auf den Holocaust, zu verbieten. Suggeriert sie nicht, dass das Zeugnis etwas künstlich Hergestelltes sei oder sein könnte, und muss diese „artifizielle“ - theatrale oder literarische - Dimension des 8 Vgl. Adorno (2003), S. 284-285. 9 Vgl. Adorno (2003), S. 282. 10 Vgl. Beckett (1979). 11 Zum kommunikativen und kulturellen Gedächtnis vgl. Assmann (2002), S. 48-66. 328 Michael Bachmann Zeugnisses nicht dessen Wahrheitsgehalt angreifen? Beschränkt man, um diesem Problem zu entgehen, den Inszenierungsbegriff auf künstlerische Formen des Zeugnisses, etwa die Darstellung von Zeugenfiguren in Theater und Spielfilm, ist es notwendig, eine „Rhetorik der Zeugenschaft“ (das Zeugnis als Fiktion oder Metapher) von der „eigentlichen“ Zeugenschaft als der besonderen Beziehung zwischen einem Zeugnis - z.B. der Aussage vor Gericht - und der Wirklichkeit, auf die es verweist, zu unterscheiden. Dann stellt sich jedoch die Frage, ob man in Bezug auf Kunst überhaupt sinnvoll von Zeugenschaft sprechen kann, oder ob der Begriff eine „bloße“ Metapher wird, die - bisweilen jenseits aller historischen Spezifizitäten - eine Wahrheitsbeziehung zwischen (bestimmten Formen von) Kunst und der Wirklichkeit behauptet. Dies ist etwa der Fall, wenn die Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva das, was sie das „dekorative und spektakuläre Schicksal“ des bürgerlichen Theaters nennt, gegen die „Garantie- und Zeugenfunktion“ stellt, die Theater ursprünglich für das „Leben der Psyche“ gehabt habe. 12 Für eine solche Auffassung von Theater und Zeugenschaft ist nicht von Bedeutung, ob das Theater selbst einer „Rhetorik der Zeugenschaft“ folgt: Wie auch für Becketts Fin de Partie skizziert, kann es seine Zeugenfunktion bei Kristeva zwar nicht unabhängig von der Form ausüben, aber jene Form muss nicht notwendigerweise die eines dargestellten oder inszenierten Zeugnisses sein. In Theater und Spielfilm scheint die Differenz zwischen „Rhetorik der Zeugenschaft“ und „eigentlicher“ Zeugenschaft besonders auffällig, weil meist Schauspieler für die Zeugen einstehen. „The staging of a theatrical text“, schreibt der Theaterwissenschaftler Claude Schumacher, „requires the physical presence of the actor, that ‘other,’ that ‘impostor’ who was not in Auschwitz.“ 13 Schumacher argumentiert, dass die Darstellung bzw. „Performance“ von Zeugenschaft und der „eigentliche“ Akt des Bezeugens streng zu unterscheiden sind: „To bear witness is one thing, but to ‘perform’ the testimony is another.“ 14 Zugleich jedoch besteht er darauf, dass im Theater beide Ebenen verknüpft sein können, gerade weil die leibliche Präsenz der Schauspieler, die während des historischen Ereignisses nicht dabei waren, die Abwesenheit der echten Zeugen unterstreiche: […] dealing with plays about the Shoah, the actor on stage clearly presents the absence, from the here-and-now, of the character he is presenting. His being there proclaims the absence of the ‘other’ and the spectator must, in order to make 12 Vgl. Kristeva (1998), S. 23. 13 Schumacher (1998), S. 4. 14 Schumacher (1998), S. 4. Inszenierte Zeugenschaft 329 sense of what is presented, reconstruct in his mind the missing reality and lend his own being, thoughts and emotions, to the character evoked by the actor. 15 Der Theaterhistoriker Freddie Rokem geht ebenfalls davon aus, dass das Theater - jenseits einer bloßen „Rhetorik der Zeugenschaft“ - einen testimonialen Bezug zur Vergangenheit herstellen könne. Wie bei Schumacher werden die Schauspieler zum Dreh- und Angelpunkt dieses Verhältnisses zwischen dem Hier und Jetzt der Aufführung und der zu bezeugenden Geschichte. Während aber bei jenem Zeugenschaft aus der Abwesenheit entsteht, die durch die leibliche Anwesenheit der Schauspieler evident wird, werden die Schauspieler bei Rokem zu Zeugen, indem sie das Abwesende mit der Hilfe „performativer Energien“ an ihre Körper binden. Da Schauspieler zugleich (eine Rolle) spielen und (selbst) handeln, können an ihnen die Grenzen zwischen ontologischen Sphären - dem Ästhetischen und dem Sozialen, der Geschichte und der Gegenwart, etc. - zusammenbrechen, so Rokem: [One] of the constituent features of theatrical performances, an important aspect of their so-called theatricality, is such a constant mingling of ontological spheres, which as a rule do not coexist to the same extent in other contexts. […] It is finally [the] bringing together of different ontological spheres which creates the unique energies of theatre and performance. This is the point where history becomes fully integrated within a performance. 16 Trotzdem ist Abwesenheit auch bei Rokem konstitutiv für die (theatrale) Zeugenschaft der Shoah. Nicht nur gilt, dass alle Aufführungen von Geschichte, vielleicht unbewusst, dem spezifischen sozialen und kulturellen Kontext ihrer Gegenwart ebenso verpflichtet sind wie einer bestimmten Erinnerungskonstruktion aus vielen möglichen. 17 Für Theaterinszenierungen, die sich auf den Holocaust beziehen, gilt in besonderem Maße, dass sie mit einer Abwesenheit im Zentrum der Zeugenschaft umgehen müssen. Rokem spricht von einer „muteness of the ‘complete witnesses’ that the theatre, when it is performing history, constantly tries to rescue.“ 18 Mit seiner Rede vom Schweigen der „vollständigen“ Zeugen, welches das Theater bewahren wolle, weist Rokem auf die prekäre Situation der Holocaust-Zeugenschaft hin, die Primo Levi in I Sommersi e i Salvati (1986) beschreibt. Durch die Doppelstruktur von Untergegangenen und Geretteten, 15 Schumacher (1998), S. 5. 16 Rokem (2000), S. 191. 17 Vgl. Rokem (2000), S. 24. Siehe auch Kreuder (2002), der u.a. in Bezug auf die Debatten um das Berliner Holocaust-Mahnmal feststellt, dass die Vergangenheit „in Gestalt von rivalisierenden Ansprüchen und Verpflichtungen [...] auf die Gegenwart“ wirken kann (S. 9). 18 Rokem (2000), S. xiii. 330 Michael Bachmann die dem Buch den Titel gibt, bindet der Auschwitz-Überlebende das „wahre“ Zeugnis der Shoah an jene, die niemals Zeugnis ablegen konnten, da sie den Holocaust bis zum tiefsten Punkt des Abgrunds durchlitten haben. „Wer das getan hat“, so Levi, wer die Gorgo gesehen hat, ist nicht zurückgekehrt um zu berichten, oder er ist stumm zurückgekehrt; sie aber sind [...] die vollständigen Zeugen [testimoni integrali], deren Aussage eine allgemeine Bedeutung gehabt hätte. 19 Im Gegensatz dazu seien die Geretteten (salvati) als Überlebende, die zum Zeugnis fähig sind, die Ausnahme von der Regel. Deshalb müssen sie, um die Geschichte der Lager - wesentlich eine Geschichte von Tod und Vernichtung - nicht schon dadurch zu verfälschen, dass sie überhaupt Zeugnis ablegen können, auch für all jene Dinge Zeugnis ablegen, die „unbezeugbar“ sind. 20 „Über die zu Ende geführte Zerstörung, das abgeschlossene Werk hat niemand berichtet“, schreibt Levi, „so wie niemand je zurückgekehrt ist, um über seinen eigenen Tod zu berichten“. 21 Mehr noch: Die traumatische Struktur des Holocaust-Erlebnisses hatte zur Folge, dass sich seine Realität dem Bewusstsein immer mehr entzog, je näher man ihr kam. Deshalb hätten die Untergegangenen, so Levi, auch wenn sie Papier und Stift gehabt hätten, kein Zeugnis abgelegt [...]. Wochen und Monate vor dem Dahinsiechen hatten sie bereits die Fähigkeit der Beobachtung, der Erinnerung, des Abwägens und des Ausdrucks verloren. 22 Insofern bezeichnet das „Unbezeugbare“ eine Erfahrung, auf die sich nur diejenigen beziehen können, denen sie fehlt, und eine Erfahrung, die notwendig abwesend ist, selbst wenn sie gemacht wurde. 23 In diesem Sinn haben Shoshana Felman und Dori Laub den Holocaust ein „Ereignis ohne Zeugen“ genannt: „that what precisely made a Holocaust out of the event is the unique way in which, during its historical occurrence, the event produced no witnesses“. 24 In dem Maße, wie die überlebenden Opfer traumatisiert wurden, sind auch sie als Zeugen abwesend. Erst nachträglich, wenn sie das 19 Levi (2003), S. 64: „Chi lo ha fatto, chi ha visto la Gorgone, non è tornato per raccontare o è tornato muto; ma sono loro […] i testimoni integrali, coloro la cui deposizione avrebbe avuto significato generale.“ Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. 20 Vgl. Levi (2003), S. 62-66. Ausführlich dazu siehe Bachmann (2010), S. 56-61. 21 Levi (2003), S. 65: „La demolizione condotta a termine, l’opera compiuta, non l’ha raccontata nessuno, come nessuno è mai tornato a raccontare la sua morte.“ 22 Levi (2003), S. 65: „I sommersi, anche se avessero avuto carta e penna non avrebbero testimoniato […] Settimane e mesi prima di spegnersi, avevano già perduto la virtù di osservare, ricordare, commisurare ed esprimersi.“ 23 Zum Begriff des Unbezeugbaren (intestimoniabile) vgl. Agamben (1998), S. 31-34. 24 Felman/ Laub (1992), S. 80. Inszenierte Zeugenschaft 331 ursprünglich „verpasste“ Ereignis erzählen, gewinnen sie die Zeugen-Rolle zurück. 25 Daraus, dass Levi die wahren Zeugen der Shoah als notwendig abwesend definiert und dass Felman/ Laub von einem „Ereignis ohne Zeugen“ sprechen, folgt nicht, dass Holocaust-Zeugenschaft unmöglich sei. Wohl aber weist dieses testimoniale Paradox darauf hin, dass Inszenierung und Zeugenschaft, gerade in Bezug auf den Holocaust, in keiner einfachen Beziehung zueinander stehen, auf die sich die kategoriale Trennung in „dargestellte“ und „eigentliche“ Zeugenschaft berufen könnte. Wie wohl diese Ebenen zu unterscheiden sind, wirken sie in komplexer Weise aufeinander ein. Anders als Schauspieler, die Zeugen spielen, waren die überlebenden Opfer bei dem Ereignis dabei, über das sie berichten. Dennoch beziehen auch sie sich auf eine Abwesenheit im Zentrum der Zeugenschaft. Damit ihr Zeugnis Bestand hat, müssen sie - wie Levi schreibt - an Stelle der Untergegangenen (in loro vece) sprechen, und damit „über Dinge, die aus nächster Nähe gesehen, aber nicht selbst erfahren wurden“. 26 Von den Schauspielern, die Zeugen spielen, ist die Subjektposition der Überlebenden durch diese Nähe zum Ereignis unterschieden. Doch wie jene stehen sie zugleich für Andere ein, die im Moment des Zeugnisses nicht mehr da sind. Zu diesem historisch spezifischen Paradox der Zeugenschaft tritt ein weiteres auf struktureller Ebene, das die kategoriale Trennung in „dargestellte“ und „eigentliche“ Zeugenschaft weiter schwächt. Jacques Derrida hat in seinen Überlegungen zu Literatur und Zeugenschaft, die ebenfalls von der Situation nach 1945 ausgehen, betont, dass jedes Zeugnis von der Möglichkeit der Fiktion heimgesucht werde. 27 Die Wahrheitsbedingung des Zeugnisses besteht laut Derrida in dem Versprechen, dass jeder, der zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle gewesen wäre, das Gleiche wie der Zeuge oder die Zeugin gehört bzw. gesehen hätte, und die Wahrheit des Zeugnisses exemplarisch, universell wiederholen könnte. 28 Doch die singuläre Zeugenaussage lässt sich niemals ohne Bruch universalisieren, wie Derrida schreibt: Da ist zum einen die Leibgebundenheit der Erfahrung, die sich bei Derrida in dem Satz ausdrückt, dass jeder nur seinen eigenen Tod sterben kann 29 ; zum anderen lässt sich der Augenblick, in dem der Zeuge das zu Bezeugende wahrgenommen hat, bloß mit Hilfe einer Technik - z.B. der Sprache - wiederholen. Auf diese Re-Präsentierbarkeit des Augenblicks ist das Zeugnis schon deshalb angewiesen, da zwischen Wahrnehmung und Aussage ein zeitlicher Abstand waltet. Mit anderen Worten lässt sich der Augenblick nur um den 25 Vgl. Felman/ Laub (1992), S. 57-61. 26 Levi (2003), S. 65: „[...] di cose viste da vicino, non sperimentate in proprio.“ 27 Vgl. Derrida (1998). Derrida entwickelt seine Überlegungen an einer autobiographischen Erzählung Maurice Blanchots, L’instant de ma mort (1994). 28 Vgl. Derrida (1998), S. 48. 29 Vgl. Derrida (1998), S. 28. 332 Michael Bachmann Preis seiner virtuellen Wiederholbarkeit bezeugen, die das Singuläre des Augenblicks - im Sinne von Derridas Konzept der Iterabilität als dekonstruierender Wiederholung - von Anfang an spaltet. 30 Durch die Iterabilität als Voraussetzung für die universelle Wahrnehmbarkeit des singulären Ereignisses gerät unter anderem die Beziehung zwischen Ereignis und Darstellung ins Schwanken: Once it is iterable, to be sure, a mark marked with a supposedly ‘positive’ value (‘serious’, ‘literal’, etc.) can be mimed, cited, transformed into an ‘exercise’ or into ‘literature,’ even into a ‘lie’ - that is, it can be made to carry its other, its ‘negative’ double. 31 Gegen diese Spaltung und Heimsuchung durch die Fiktion, ohne sie letztlich ausschließen zu können, setzt Zeugenschaft einen performativen Akt der Bürgschaft: Zeugen stellen ein Ereignis nicht einfach dar; sie beglaubigen die abwesende Wirklichkeit, die sie - wegen der Trennung von Darstellung und Ereignis - nicht beweisen können. 32 Mit Hilfe von Autorisierungsstrategien verbürgen sie sich dafür, dass jeder an ihrer Stelle bestätigen würde, was sie berichten. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Autorisierungsstrategie ist der Eid des Zeugen vor Gericht, die „Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit“. Die Wahrheitsbeziehung zwischen der Zeugenaussage und der abwesenden Wirklichkeit auf die sie sich bezieht, liegt demnach weniger, zumindest aber nicht exklusiv, auf der Ebene der Darstellung als auf einer körperlich-performativen Ebene, insofern sie über die Autorisierung der Zeugen läuft. Aufgrund der traumatischen „Unfassbarkeit“ des Ereignisses hat das eine besondere Bedeutung für die Zeugenschaft nach Auschwitz, wenn die wahren Zeugen abwesend sind und Darstellung die Gefahr des Vergessens birgt. Damit ist das Feld umrissen, in dem sich auch die filmische und theatrale Inszenierung von Zeugenschaft nach Auschwitz bewegt. Wie Rokem und Schumacher, bei unterschiedlichen Dominantsetzungen zeigen, lässt sich die körperlich-performative Beglaubigung einer abwesenden Wirklichkeit durch Zeugen mit der durch Schauspieler vergleichen. Die Chancen und Risiken, die damit verbunden sind, sollen im Folgenden herausgearbeitet werden - an Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung (1965), an Claude Lanzmanns Film Shoah (1985) und an der ersten Broadwayfassung des Tagebuchs der Anne Frank (1955). Dabei geht es um keine umfassende Interpretation, sondern um die kritische Darstellung dreier einflussreicher Modelle der Zeugenschaft in Theater und Film, wie sie in diesen Texten paradigmatisch zum Ausdruck kommen: der reflektierten Zeugenschaft bei Peter 30 Vgl. Derrida (1998), S. 36-37 u. 48-49. 31 Derrida (1988), S. 70. 32 Vgl. Derrida (1998), S. 60. Inszenierte Zeugenschaft 333 Weiss, der körperlichen Zeugenschaft bei Claude Lanzmann und der „überlebenden“ Zeugenschaft bei Anne Frank. Modelle der Zeugenschaft in Theater und Film Die dokumentarische Haltung: Peter Weiss Was die Frage nach Zeugenschaft im bzw. von Theater betrifft, lassen sich zwei grundsätzliche Ebenen unterscheiden. Wie in Kristevas Überlegungen zum „Theater der Psyche“ kann das Theater selbst, oder eine spezifische Form von Theater, als privilegierter Ort der Zeugenschaft erscheinen, ohne dass damit eine Inszenierung von Zeugenschaft z.B. als testimoniale Dramaturgie verbunden sein muss. Es ist jedoch auch möglich Zeugenschaft auf dem Theater genau im Sinne solcher testimonialer Dramaturgien zu verstehen, etwa in Bezug auf Teichoskopie und Botenbericht. 33 Eine künstlerische Praxis, die beide Ebenen verbindet, findet sich in Peter Weiss’ Spielart des Dokumentartheaters. Sein Auschwitz-Stück Die Ermittlung, 1965 in 14 ost- und westdeutschen Städten sowie am Londoner Aldwych Theatre parallel uraufgeführt, folgt einer testimonialen Dramaturgie: Anders als der umstrittene fünfte Akt aus Rolf Hochhuths Dokumentardrama Der Stellvertreter (1963) versucht Weiss’ Ermittlung keine szenische Darstellung von Auschwitz. 34 Stattdessen wird eine abstrahierte Gerichtsverhandlung mit neun namenlosen Zeugen inszeniert. Diese Art der Umsetzung ist weniger dem Material geschuldet, das der Dramatiker bearbeitet - dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) - als bewussten Überlegungen zur Darstellbarkeit der Shoah und zu den Aufgaben dokumentarischen Theaters. Was die Darstellbarkeit der Shoah betrifft, schreibt der Autor in einer Anmerkung zur Ermittlung, dass Aufführungen nicht versuchen sollten, den Frankfurter Gerichtshof nachzubilden: „Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.“ 35 Die Behauptung, dass schon der Ort der Verhandlung nicht darstellbar sei, unterstreicht zunächst die Unmöglichkeit einer szenischen Darstellung von Auschwitz, mit welcher der Fokus auf die sprachliche Ebene - als Montage von Zeugenaussagen - begründet wird. Über die Frage des Bühnenbilds hinausgehend, betrifft er aber auch das Verhältnis von Zeugen und Schauspielern. Mit der Distanzierung vom Gerichtsverfahren soll eine Bewegung einhergehen, die von den „emotionalen Kräften“ vor Gericht zu „Fakten“ auf der Bühne führt, zu einem „Konzent- 33 Vgl. hierzu die Überlegungen in Rokem (2002). 34 Vgl. Hochhuth (2006); Weiss (1991). 35 Weiss (1991), S. 9. 334 Michael Bachmann rat der Aussage“, das keine „persönlichen Erlebnisse und Konfrontationen“ mehr enthalte. 36 Die Schauspieler als Zeugen auf der Bühne „referieren nur, was hunderte ausdrückten“. 37 Die Worte „referieren“ und „ausdrücken“ sind in diesem Kontext keineswegs synonym zu verstehen, wie ein Seitenblick auf den Eichmann- Prozess in Jerusalem 1961 verdeutlichen mag. 38 Einer der denkwürdigsten Augenblicke jenes Gerichtsverfahrens war die Aussage des Auschwitz- Überlebenden und Schriftstellers Yehiel Dinur alias Katzetnik, der nach wenigen Minuten im Zeugenstand bewusstlos zusammenbrach. Die Szene, die bis heute im israelischen Fernsehen wiederholt wird, hat für nicht wenige Kommentatoren höchste Symbolkraft erreicht: Dinurs unterbrochenes Zeugnis werde zu einer stummen, aber wirkmächtigen Botschaft, schreibt z.B. Shoshana Felman: [T]he witness testifies through his unconscious body. Suddenly, the testimony is invaded by the body. The speaking body has become a dying body. The dying body testifies dramatically and wordlessly beyond the cognitive and the discursive limits of the witness’s speech. 39 In dieser Interpretation wird die Zeugenschaft der Shoah aus dem Versuch einer diskursiven Darstellung des Undarstellbaren herausgelöst und auf die körperlich-performative Ebene des Zeugnisses verpflichtet. Die Unterbrechung von Dinurs Aussage wird als körperliches Einbrechen der Vergangenheit in die Gegenwart begriffen, das dem Zeugen besondere Autorität verleiht: Hier scheint kein Umweg über die Sprache nötig, um die abwesende Wirklichkeit mit Hilfe einer Technik zu wiederholen. Ganz im Gegenteil wird Dinurs Ohnmacht im Sinne einer körperlichen Anwesenheit des Abwesenden verstanden, die die Grenzen der Sprache hinter sich lässt. Felmans Interpretation verweist auf einen Funktionswandel der Holocaust-Zeugenschaft: weg von einem Zeugnis, das primär informieren soll, hin zu einem Zeugnis, bei dem die affektive Übertragung von Erfahrung im Vordergrund steht. 40 In seinen Aufzeichnungen zum Eichmann-Prozess bestimmt der israelische Generalstaatsanwalt Gideon Hausner eine solche Affizierung als eine der wichtigsten Aufgaben von Zeugenschaft: Hausner meint, dass zur Verurteilung Eichmanns das vorhandene Archivmaterial genügt hätte. Deshalb habe er die (über hundert) Zeugen vor allem geladen, um ein unfassbares Ereignis für die breitere Öffentlichkeit fassbar zu machen: „The story of a particular set of events, told by a single witness, is still 36 Weiss (1991), S. 9. 37 Weiss (1991), S. 9. Meine Hervorhebung. 38 Vgl. dazu Bachmann (2010), S. 100-119. 39 Felman (2002), S. 163. 40 Zu diesem Funktionswandel vgl. Wieviorka (1998). Inszenierte Zeugenschaft 335 tangible enough to be visualized. [...] In this way I hoped to superimpose on a phantom a dimension of reality“. 41 Durch den testimonialen „Realitätseffekt“ habe der Eichmann-Prozess, anders als etwa Statistiken und Dokumente, die Herzen der Menschen erreichen können, so Hausner. 42 Vor diesem Hintergrund zielt der Begriff „referieren“ auf ein testimoniales Konzept, in dem Information und ihre anschließende Beurteilung an erster Stelle steht. Im Gegensatz dazu gehört das Wort „ausdrücken“ zu einem Verständnis von Zeugenschaft, das ihre körperlich-performative Dimension - im Sinne einer Affizierung der Rezipienten - betont. Wenn Weiss von den Schauspielern der Ermittlung verlangt, als Zeugen nur zu „referieren“, lässt sich dies mitunter als Versuch verstehen, jenes Paradox zu lösen, dass statt der Zeugen bloß Schauspieler auf der Bühne stehen. In Kritiken zu den verschiedenen Uraufführungen wird das Verhältnis von Zeuge und Schauspieler häufig zum Thema. Über Erwin Piscators Inszenierung an der Freien Volksbühne schreibt etwa Walter Jens, „dass einige [Schauspieler als] Zeugen ins Chargieren gerieten“ und schiebt die Schuld daran dem Stück zu: „die Uniformität der Syntax zwingt den Schauspieler, der sich behaupten will, zu naturalistischen Extravaganzen, zu langen Pausen und Dramolett-Mimik“. 43 Ähnlich äußert sich Jürgen Beckelmann zur Rostocker Aufführung; er lobt jene Stellen, an denen sich die Schauspieler „stärker zurück [hielten] [...] - und wo sie ganz sachlich wurden, fast kalt“. 44 Im Eichmann- Prozess sollen die Zeugen das Geschehen näher bringen als es Dokumente könnten, durch ihre körperliche Anwesenheit, die als direkte Spur aus der Vergangenheit verstanden wird. Demgegenüber geht es bei der Ermittlung um Distanzierung: Wenn die Schauspieler das Berichtete mit ihrer eigenen Körperlichkeit emotional aufladen - und vom „Referat“ zum „Ausdruck“ schreiten -, dann sehen die Rezensenten um 1965 vor allem die Distanz zwischen Schauspieler und Rolle. Auf dieser Ebene soll gerade die Distanzierung im Spiel verhindern, dass die Distanz des (dokumentarischen) Theaters zur Wirklichkeit so groß wird, dass seine testimoniale Funktion verloren geht. Welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, lässt sich an den Kritiken ablesen, die das theatralische „Chagieren“ der Schauspieler beklagen. Für nicht wenige Rezensenten der Uraufführung steht deshalb, oft schon vor Besuch der Premiere, fest, dass jede Aufführung der Ermittlung zunächst das Scheitern des Stücks in Szene setzt. 45 41 Hausner (1967), S. 292. 42 Vgl. Hausner (1967), S. 291-292. Eine scharfe Kritik an Hausners Umgang mit Zeugenschaft findet sich in Hannah Arendts Prozessbericht Eichmann in Jerusalem (1963, rev. 1965). Vgl. Arendt (1994). 43 Jens (1991), S. 208. 44 Beckelmann (2000), S. 470. 45 Vgl. die Kritiken, die Christoph Weiß im zweiten Band seiner grundlegenden Studie zur Ermittlung versammelt (Weiß 2000). 336 Michael Bachmann Es wäre jedoch falsch, die Frage der Distanzierung auf das Verhältnis von Schauspieler und Zeuge - d.h. auf die Darstellungsproblematik - zu reduzieren. Weiss’ Plädoyer für das „Referieren“ findet seine Berechtigung auch in der Funktion, die er dem Dokumentartheater zuschreibt, und dem Modell von Zeugenschaft, das damit verbunden ist. In seinen „Notizen zum Dokumentarischen Theater" (1968) definiert Weiss dieses als „Theater der Berichterstattung“ auf Grundlage von „Zeugnisse[n] der Gegenwart“. 46 Darunter versteht der Dramatiker gerade das, was Staatsanwalt Hausner „geisterhaft“ erscheint: Protokolle, Akten, Briefe, statistische Tabellen etc. 47 Durch den Einsatz von Zeugen will Hausner das Dokumentarmaterial körperlich „fassbar“ machen. Weiss hingegen will die (gespielten) Zeugen auf Dokumente reduzieren, um zu einem „Konzentrat der Aussage“ zu kommen. Das hat seinen Grund nun nicht primär darin, dass auf der Bühne Schauspieler statt Zeugen stehen. Vielmehr erlangt das Zeugnis bei Weiss seine „Fassbarkeit“ gerade dadurch, dass es den realen Zeugen entzogen ist. Seine kritische Funktion entfaltet das dokumentarische Theater für den Dramatiker, weil es nicht mehr „augenblickliche Wirklichkeit“ zeigt, sondern stattdessen „das Abbild von einem Stück Wirklichkeit, herausgerissen aus der lebendigen Kontinuität“. 48 So verstanden ist Zeugenschaft auf dem Theater eine bestimmte Beziehung zwischen den Materialien einer undurchsichtigen Welt und ihrer Offenlegung in der theatralen Darstellung. Die Möglichkeit dieser testimonialen Beziehung beruht auf zwei Grundannahmen: Erstens, dass Form und Inhalt klar trennbar seien - laut Weiss gibt Dokumentartheater „authentisches Material [...] im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder“. 49 Zweitens, dass Theater einen privilegierten Ort für Zeugenschaft bietet: weil sein ästhetischer Raum zugleich ein sozialer ist, d.h. weil Theater als Institution zwar vom Leben getrennt ist, aber in der Öffentlichkeit stattfindet, kann das Dokumentartheater zugleich Reflexion und Parteinahme bieten. Laut Weiss übt es seine „sondierende, kontrollierende, kritisierende Tätigkeit“ umso besser aus, da es vom Wirklichkeitsgehalt der „authentischen politischen Manifestation“ befreit ist. 50 Auf Zeugenschaft übertragen heißt das, dass erst die „Entkörperlichung“ der Aussagen in ihrer Verlagerung auf distanziert „referierende“ Schauspieler eine reflektierte Zeugenschaft bietet. 46 Weiss (1971), S. 91. 47 Weiss (1971), S. 91. 48 Weiss (1971), S. 95. 49 Vgl. Weiss (1971), S. 92. 50 Vgl. Weiss (1971), S. 96. Inszenierte Zeugenschaft 337 Der verkörperte Blick: Claude Lanzmann Peter Weiss’ Modell einer reflektierten Zeugenschaft baut auf Distanzierung und, damit verbunden, auf eine vermeintliche Reduktion der Zeugen zu Fakten, die im ästhetischen Rahmen des Theaters - aufgrund seiner sozialen Funktion - nicht entwertet, sondern erst dort fassbar und intellektuell beurteilbar würden. Dagegen verweist die Symbolkraft des stummen Zeugnisses, das in der Ohnmacht Yehiel Dinurs sein Sinnbild findet, auf ein Modell von Zeugenschaft, das deren körperlich-performative Dimension vor die Vermittlung von Fakten stellt. Einem solchen Modell von Zeugenschaft entspricht der neunstündige Dokumentarbzw. Essayfilm Shoah (1985) des französischen Regisseurs Claude Lanzmann. Wie Weiss’ Ermittlung baut der Film, dessen Einfluss auf das Verständnis künstlerischer Zeugenschaft schwer zu überschätzen ist, den Bezug zu seinem Thema komplett über Zeugenaussagen auf. Ein entscheidender Unterschied liegt aber darin, dass es sich bei den Zeugen, die von Lanzmann gefilmt werden, um Menschen handelt, die bei den Ereignissen dabei waren: meist überlebende Opfer, aber auch weitere Zeitzeugen und Täter. Gegen ein Geschichtsverständnis, das vor allem die Mitteilung von Fakten und ihre erklärende Gewichtung versucht (wie im Fall der Ermittlung), hat Lanzmann sich mehrfach ausgesprochen. Er argumentiert, dass die Frage nach dem Warum im Kontext der Massenvernichtung nicht gestellt werden könne. Zwischen jeder möglichen Erklärung und dem tatsächlichen Ereignis herrsche ein Bruch, der alle Erklärungsmuster „falsch“ mache: Between all these conditions - which were necessary conditions maybe, but they were not sufficient - […] and the gassing of three thousand persons, men, women, children, in a gas chamber, all together, there is an unbreachable discrepancy. It is simply not possible to engender one out of the other. There is no solution of continuity between the two; there is rather a gap, an abyss, and this abyss will never be bridged. 51 Bezüglich der Darstellung des Holocaust ergibt sich daraus, dass es für Lanzmann, anders als für Weiss, nicht um die kritische Sondierung von Fakten gehen kann. Die Erinnerungspolitik, die der Film betreibt, liegt auf einer anderen Ebene: „Shoah n’est pas fait pour communiquer des informations, mais apprend tout. […] Parce que Shoah est une incarnation.“ 52 Der Unterschied zwischen Informationsvergabe bzw. der Mitteilung von Fakten (communiquer des informations) und dem, was Lanzmann „Verkörperung“ (incarnation) nennt, lässt sich an vielen Szenen des Films verdeutli- 51 Lanzmann (1991), S. 481. Vgl. auch den - im Original deutsch betitelten - Text „Hier ist kein Warum“ (1988) in Lanzmann (1990), S. 279. 52 Lanzmann (2001), S. 276. 338 Michael Bachmann chen. In einer der bekanntesten Sequenzen von Shoah spricht der deutschpolnische Jude Abraham Bomba über die Zeit seiner Gefangenschaft im Vernichtungslager Treblinka. Dort wurde der gelernte Friseur gezwungen, die Haare der Frauen und Kinder abzuschneiden, die in die Gaskammern geführt wurden. Der Regisseur interviewt Bomba nicht einfach, wie es für die reine Ermittlung von Fakten genügen würde. Er lässt das Gespräch in einem Friseursalon stattfinden. Lanzmann filmt Bomba beim Schneiden von Haaren und bittet ihn vor laufender Kamera, genau die Bewegungen nachzuahmen, die er in Treblinka machen musste. Obwohl Shoah überlebende Zeugen zeigt, lässt der Film sie auf diese Weise zu Schauspielern werden. „Il a fallu transformer ces gens en acteurs“, sagt Lanzmann dazu. „C’est leur propre histoire qu’ils racontent. Mais la raconter ne suffisait pas“. 53 Aus Lanzmanns Perspektive genügt das Erzählen nicht, weil noch die eigene Geschichte - aufgrund der Traumatisierung der Überlebenden, wegen der Abwesenheit der „vollständigen Zeugen“ (im Sinne Levis) sowie durch die strukturelle Distanz zwischen Wahrnehmung und Aussage - von dem Ereignis getrennt ist, das jene berichtet. Diese Abständigkeit soll Lanzmanns testimoniales Modell überwinden, indem es auf die körperlich-performative Dimension von Zeugenschaft baut. Dafür genügt es nicht, dass die Zeugen einfach „da“ sind, zumal der Film ihre Körper in Bilder verwandelt. Es sind bewusste Inszenierungen, mit deren Hilfe Shoah die Zeugenschaft als körperliche hervorruft: als eine Zeugenschaft, die die Grenzen des Schauspiels sprengt, aus dem sie entsteht. Wenn Bomba, nach Lanzmanns Worten, zum Schauspieler wird, weil er Bewegungen nachahmt, werden die Grenzen des Spiels und der Repräsentation dadurch überschritten, dass es der gleiche Körper ist, Bombas Körper, der noch einmal die gleichen Bewegungen vollzieht wie im Vernichtungslager. Die Nachahmung wird zu einer Wieder-Holung, die jene Gesten zurück in die Gegenwart holt. So gewinnt eine körperliche Erinnerung die Oberhand. Sie verändert die Erzählweise des überlebenden Opfers. Bomba, der das Gespräch mit fester Stimme - sozusagen im Modus der Informationsvergabe - begonnen hat, gerät immer mehr ins Stocken, bis er dann minutenlang schweigt und die Haare weinend schneidet. Er durchlebt eine traumatische Erinnerung, die ihn körperlich überwältigt. Diese durchbricht die Inszenierung und beglaubigt die Rede des Überlebenden durch deren Unterbrechung. Lanzmann lässt die Kamera weiterlaufen. Sie folgt Bomba auch dann, wenn er zur Seite tritt, um nicht mehr reden zu müssen. „You have to do it, I know it’s very hard“, insistiert Lanzmann aus dem Off, „I know, and I apologize [...] Please, we must continue.“ Es geht um die Frage, was mit den abgeschnittenen Haaren geschehen sei. Bomba wird leiser, wenn er nach 53 Lanzmann (1990), S. 101. Inszenierte Zeugenschaft 339 langer Zeit - zunächst auf Englisch - antwortet, dass diese nach Deutschland geschickt wurden. Dann wiederholt er den Satz zwei Mal, wie für sich selbst, murmelnd, auf Jiddisch: Es ist das einzige Mal, dass er diese Sprache im Verlauf des Interviews spricht. Die Zuschauer können den Satz kaum verstehen, weil er viel zu leise gesprochen und weder untertitelt noch übersetzt wird. Auch hier steht die Körperlichkeit im Vordergrund: die Stimme eines Zeugen, der in sich versinkt - in einer Erfahrung, die er in die Gegenwart holt und damit beglaubigt. Die Stimme der Toten: Anne Frank Geht es bei Lanzmann, anders als bei Weiss, um keine distanziert reflektierte, sondern um körperliche Zeugenschaft, so kreist diese trotzdem um eine unhintergehbare Abwesenheit. Erstens arbeitet Lanzmann nicht mit Archivmaterial oder vermeintlich rekonstruierenden Spielszenen, um das Geschehene zu bebildern. Die körperliche Wieder-Holung der testimonialen Gesten ist in eine Szenerie distanzierender Re-Präsentation eingebunden: Bomba schneidet die Haare in einem heutigen Friseursalon mit viel Kundschaft. Diese Verlagerung macht den Abstand zum Konzentrationslager deutlich. Zweitens interviewt Lanzmann, ganz im Sinne Levis, fast ausschließlich jene Überlebende, die den Tod aus nächster Nähe gesehen haben. Bomba etwa musste - noch in der Gaskammer - die Haare der Menschen schneiden, die unmittelbar danach ermordet wurden. Durch die Auswahl der Zeugen wird so verhindert, dass die Überlebenden eine Geschichte des Überlebens erzählen, obwohl im Konzentrationslager der Tod die Regel war. 54 Paradoxerweise ist es ausgerechnet das Werk einer Untergegangenen, das oft dafür kritisiert wird, den Tod als Wesen der Lager zu verdrängen: Die Rezeptionsgeschichte von Anne Franks Tagebuch, 1942 bis 1944 im Versteck geschrieben, zeigt eine starke Tendenz, den Text der jugendlichen Autorin - trotz ihres grausamen Endes in Bergen-Belsen - als optimistische Geschichte eines (metaphorischen) Überlebens zu lesen. 55 Die erste, von Anne Franks Vater Otto autorisierte Bühnenfassung des Tagebuchs, geschrieben von Frances Goodrich und Albert Hackett, folgt dieser Lesart, die auch durch den weltweiten Erfolg des Theaterstücks großen Einfluss gewinnen konnte. 56 Am 5. Oktober 1955 hatte das Theaterstück in der Regie von Garson Kanin am New Yorker Cort Theater Premiere. Das überaus erfolgreiche Stück, das zwischen 1955 und 1957 allein am Broadway über 700 Mal gespielt und zwei Jahre später von George Stevens verfilmt wurde, inszeniert eine Rück- 54 Vgl. weiter dazu Bachmann (2010), S. 212-221. 55 Zur Kritik daran vgl. etwa Ozick (1997). 56 Vgl. Goodrich/ Hackett (1964). 340 Michael Bachmann kehr der Toten. Es steht für ein Modell von Zeugenschaft, in dem der medialen Re-Präsentation einer abwesenden Zeugin - der in Bergen-Belsen zu Tode gebrachten Anne Frank - die Kraft zugeschrieben wird, das Zeugnis der Abwesenden authentisch zu bewahren und die Zeugin selbst quasi „überleben“ zu lassen. Der Glaube an ein Überleben in der Re-Präsentation bezieht sich zunächst auf Anne Franks Tagebuch, 1947 postum veröffentlicht, und - in Erweiterung - auf die Darstellung des berühmten Holocaust-Opfers durch Schauspielerinnen wie Susan Strasberg (im Cort Theater) oder Millie Perkins (in Stevens’ Film). 57 Goodrich und Hackett verleihen ihrer Bühnenfassung des Tagebuchs eine Rahmenhandlung, die jenes Modell der „überlebenden“ Zeugenschaft regelrecht in Szene setzt: Nach dem Krieg kehrt Otto Frank in das Hinterhaus zurück, das ihm und seiner Familie als Versteck gedient hatte. Dort trifft er auf zwei Freunde, die ihm u.a. das Tagebuch seiner Tochter Anne überreichen. Otto Frank, der weiß, dass er den Krieg als Einziger aus dem Hinterhaus überlebt hat, beginnt - zunächst widerwillig - zu lesen. Was folgt, ist eine Auferstehung im Leseakt: Nach kurzer Zeit klingt Annes Stimme im Kopf des Vaters, und die Ereignisse, die sie beschreibt, nehmen wieder Gestalt an. Anne selbst nimmt wieder Gestalt an, wie sie das Hinterhaus zum ersten Mal betritt. Die Autorin scheint in ihrem Tagebuch bewahrt, so dass der Leser - zumindest dieser Leser an diesem Ort - ihr durch die Lektüre neues Leben verleihen kann. In Stevens’ Film dient eine Überblendung als kinematographisches Mittel der Auferstehung: als Otto Frank liest der Schauspieler Joseph Schildkraut ein paar Zeilen aus dem Tagebuch. Dann verliert sich seine Stimme im Voiceover eines jungen Mädchens. Die 19jährige Millie Perkins spricht den Anne Frank-Text weiter, während der Film von der aktuellen Lesesituation in die Gegenwart des Geschriebenen blendet. Auf der Bühne des Cort Theaters wird die „Re-Inkarnation“ der Autorin durch einen Lichtwechsel und den Fall des Vorhangs eingeleitet. Wie Perkins im Film spricht Susan Strasberg ihre erste Replik aus dem Off, zunächst gemeinsam mit dem lesenden Vater, und dann allein. Wenn sich der Vorhang erneut öffnet, wird die erste Ankunft der Franks im Versteck gezeigt. In Film und Theater lässt sich diese Rückblende als Auferstehung im Leseakt begreifen, weil sie einer Logik der Verkörperung folgt, die im Prozess des Lesens ihren Ausgang nimmt. Zunächst leiht (der gespielte) Otto Frank den Sätzen des Tagebuchs seine Stimme, d.h. die Worte Annes haben sich von ihr gelöst. Es ist diese Abwesenheit der Autorin in Bezug auf ihr Werk, die Theaterinszenierung und Filmfassung als erstes zurückneh- 57 An anderer Stelle habe ich ausführlich untersucht, wie bereits Anne Franks Tagebuch eine Illusion des „Überlebens“ im Text stützen kann und verschiedene Lesarten bzw. Erinnerungsfiguren der Anne Frank in ihrem historischen Kontext dargestellt. Vgl. Bachmann (2010), S. 137-183. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Bühnenfassung von Goodrich/ Hackett und ihre Uraufführung durch Kanin. Inszenierte Zeugenschaft 341 men. Sie lassen das Tagebuch von jener Stimme lesen, die innerhalb des ästhetischen Rahmens die „wahre Stimme“ der Autorin ist: der Vater wird auf der Tonspur ergänzt und abgelöst durch Susan Strasberg bzw. Millie Perkins. Danach wird das Geschehen dialogisch szenisch aufgelöst und der Körper der Schauspielerin tritt als Körper von Anne Frank zur Stimme hinzu. Am Ende von Film- und Broadwayfassung ist es wieder eine Überblendung bzw. ein Lichtwechsel, der zur Rahmenhandlung zurückführt. Otto Frank schließt das Tagebuch und erzählt seinen Freunden (und damit dem Publikum), wenngleich nur andeutungsweise, von Annes Tod. Trotz dieses Tods bleibt die Stimme der Zeugin - ihre „wahre Stimme“ innerhalb des ästhetischen Rahmens - erhalten. Es ist nicht der Darsteller des Vaters, sondern die Darstellerin Anne Franks, die aus dem Off noch einmal einen Satz aus dem Tagebuch spricht: „In spite of everything, I still believe that people are really good at heart“. 58 Spätestens hier greift das Modell der „überlebenden“ Zeugenschaft. Was die reale Autorin Anne Frank vor ihrer Entdeckung, Deportation und Ermordung in ihr Tagebuch geschrieben hat, wiederholt die Stimme der gespielten Zeugin nachdem der Vater von ihrem Tod erfahren hat. Wegen dieser Nachträglichkeit wirkt es, als ob der Satz für die ermordete Anne unverändert Gültigkeit hätte. Sowohl in Kanins Inszenierung als auch in Stevens’ Film spricht ihn die gleiche Schauspielerin, die das Holocaust-Opfer während der Rückblende darstellt. Auf diese Weise wird ein testimoniales Modell inszeniert, bei dem die abwesende Zeugin ihre „authentische“ Stimme im Rezeptionsakt zurückerhält, als ob zwischen der Toten und der medialen Darstellung unverbrüchliche Kontinuität herrsche. Der inszenierte Leseakt lässt die Autorin selbst sprechen; nicht den Leser, der ihren Text als einziger vortragen könnte. Ungeachtet der Tatsache, dass sie in Wirklichkeit „zum Schweigen gebracht wurde“, spricht Anne Frank quasi aus dem Jenseits und beglaubigt einen Satz des Tagebuchs als ihr Credo. Die Stimme der Toten, wie sie bei Kanin und Stevens erklingt, klammert den Tod der Sprecherin aus: Anne Franks Credo - und in gewisser Weise sie selbst - scheinen das Morden im Konzentrationslager überlebt zu haben. Die gespielte Anne Frank verzeiht noch ihren Mördern, wenn sie „trotz allem“ (in spite of everything), was ihr nach Verfassen des Tagebuchs angetan wurde, an das Gute im Menschen glaubt. Bereits 1960 hat der Psychologe Bruno Bettelheim dieses Ende des Theaterstücks als Kennzeichen einer Verdrängung von Geschichte interpretiert. „There is good reason“, schreibt er, why the enormously successful play [The Diary of Anne Frank] ends with Anne stating her belief in the good in all men. What is evaded is the importance of accepting the gas chambers as real so that never again they will be allowed to exist. 58 Goodrich/ Hackett (1964), S. 87. 342 Michael Bachmann If all men are basically good […] then indeed we can all go on with life as usual and forget about Auschwitz. 59 Bettelheim zufolge ist Anne Franks Geschichte deshalb erfolgreich - nicht nur als Theaterstück und Film, sondern auch in Bezug auf das Tagebuch selbst - da sie implizit verleugne, „that Auschwitz ever existed. If all men are good, there never was an Auschwitz“. 60 Gerade der Satz vom Guten im Menschen erlaube eine Beschäftigung mit der Shoah, die sie zugleich ignoriere. Wenn die Güte des Menschen - verkörpert durch Anne Frank und ihre humanistische Botschaft - über den Tod im Lager triumphiert, d.h. „metaphorisch“ überlebt, wird impliziert, dass es den Holocaust und damit auch Anne Franks Tod „in Wirklichkeit“ nie gegeben habe. So neigt das Modell der „überlebenden“ Zeugenschaft dazu, ein metaphorisch gemeintes Überleben letztlich aus seinem metaphorischen Sinnzusammenhang zu lösen. Dieser Wandel von einem metaphorischen Triumph über den Tod hin zur Illusion des tatsächlichen Weiterlebens manifestiert sich in Kanins Broadway-Inszenierung bzw. in den Rezensionen zur Aufführung. „Anne is not going to her death she is going to leave a dent on life, and let death take what’s left“, schreibt zum Beispiel der Theaterkritiker Walter Kerr in seiner Besprechung für die New York Herald Tribune (23. Oktober 1955). 61 In einer Rezension vom 8. Oktober hatte sein Kollege Richard Watts bei der New York Post die Inszenierung bereits als eine Auferstehung der Toten gefeiert: „[The play] brought about the reincarnation of Anne Frank - as though she’d never been dead“. 62 Die Rede vom Überleben ist auch in diesen Kritiken metaphorisch, doch sie behaupten das Theater als einen Bereich, der die Metapher in „Wirklichkeit“ überführt. Sie klammern das „als ob“ aus, wenn sie das Überleben bzw. die Auferstehung Anne Franks behaupten. Im Gebrauch dieser Metapher unterdrücken diese Beschreibungen den Unterschied, der zwischen der Schauspielerin und dem Opfer, zwischen deren Stimme und der Stimme Anne Franks herrscht. Gerade der New York Post-Artikel verschiebt das „als ob“ von der Inszenierung auf den realen Tod des Mädchens. In Watts’ Beschreibung wirkt nicht das Schauspiel, „als ob“ Anne zum Leben erweckt würde - das Schauspiel bringt die Auferstehung des Mädchens mit sich, aufgrund derer dessen Tod so wirkt, „als ob“ er nie eingetreten sei. Eine solche Beschreibung unterdrückt die historische Wirklichkeit zugunsten der szenischen Realität. Die Anwesenheit der Schauspielerin verdrängt die Abwesenheit der toten Zeugin. Kanins Inszenierung macht die Schauspielerin zur Trägerin eines Gegen-Zeugnisses. Durch die Kontinuität, die zwischen Anne Frank, ihrem Tagebuch und seiner Darstellung auf Büh- 59 Bettelheim (1960), S. 46. 60 Bettelheim (1960), S. 46. 61 Zit. nach Rosenfeld (1996), S. 252. 62 Zit. nach Rosenfeld (1996), S. 252. Inszenierte Zeugenschaft 343 ne und Leinwand behauptet wird, bezeugt die lebendige Stimme der Schauspielerin die anhaltende Gültigkeit des Satzes vom Guten im Menschen und damit eines Blicks auf den Holocaust, der die Realität der Vernichtung ausklammert. Einerseits steht diese verdrängende Zeugenschaft für eine historisch spezifische Marginalisierung der Shoah in den 1950er Jahren. 63 Andererseits ist die Frage, wie Zeugenschaft nach dem Tod auch der überlebenden Zeugen „überleben“ kann - bezogen etwa auf das Verhältnis von Schauspielern und Zeugen - heute besonders virulent. Filme wie Steven Spielbergs Schindler’s List (1993) behaupten durch ihre Inszenierungsstrategien, dass es möglich sei, das Zeugnis „authentisch“ zu bewahren und in seiner vollen Wahrheit von den echten Zeugen auf eine fiktionale Darstellung übergehen zu lassen. Symptomatisch dafür ist die Schlussszene des Films: Sie zeigt die überlebenden „Schindler-Juden“, die gemeinsam mit den Schauspielern, die ihre Rollen für den Hauptteil des Films übernommen haben, Hand in Hand zu Oskar Schindlers Grab laufen. Das Nebeneinander von Schauspielern und Holocaust-Überlebenden führt eine Differenz zwischen Spiel und Realität, Darstellern und Dargestellten ein, doch nur um diese zu überwinden. Durch ihre Anwesenheit vor der Kamera bürgen die überlebenden Opfer für die „Echtheit“ des inszenierten Spiels. Problematisch daran ist nicht der Versuch, Zeugenschaft in fiktionalen Formen aufrecht zu halten, sondern der Authentizitätsanspruch, der damit verbunden ist. Die testimoniale Autorität der Überlebenden wird bei Schindler’s List nicht genutzt, um ihr eigenes Zeugnis zu autorisieren: sie bleiben in der Schlussszene stumm. Ihre Autorität dient als Bürgschaft für eine mediale Auseinandersetzung mit der Shoah, die auf das Bildarsenal der Nachgeborenen zurückgreift. So begründet der 1947 geborene Spielberg die Wahl von Schwarzweiß für den Hauptteil von Schindler’s List damit, dass er die Shoah - die er nicht erlebt hat - nur schwarzweiß „erinnere“: I’ve been indoctrinated with documentaries and they’re all black-and-white. [...] I think black-and-white is almost the synonymous form for World War II and the Holocaust. 64 In einer Rezension von Roberto Benignis Film La Vita è Bella (1997) zitiert der Holocaust-Überlebende und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész Spielbergs Schindler’s List als Beispiel für einen Film, der den Holocaust „aus dem Erfahrungsbereich des Menschen“ hinausdränge. Das sei u.a. deshalb der Fall, weil Spielberg - wie Goodrich/ Hackett für Anne Frank - eine Geschichte des Überlebens erzähle, „derzufolge der mit Großbuchstaben geschriebene MENSCH [...] heil und unbeschädigt aus Auschwitz hervor- 63 Vgl. Novick (1999). 64 Spielberg (2000), S. 156. 344 Michael Bachmann geht“. 65 Diese Verdrängung der Shoah werde auch dadurch besiegelt, dass Schindler’s List versuche, die „ihm unbekannte Welt [der Konzentrationslager] so auf die Leinwand zu bringen, dass sie in jedem Detail authentisch erscheine“. 66 Im Gegenzug lobt Kertész La Vita è Bella für die Märchenhaftigkeit der Darstellung, die den deutlichen Abstand zwischen Wirklichkeit und Fiktion markiert. Als Schlüsselszene des Films kann jener Moment im Konzentrationslager gelten, in der Guido - gespielt von Benigni - seinem kleinen Sohn Giosuè (Giorgio Cantarini) vorlügt, dass Konzentrationslager sei nur ein Spiel, bei dem es darum ginge, einen Panzer zu gewinnen. In der Fiktion des Films gelingt Guido diese, in Wirklichkeit unvorstellbare List, weil ihm die Deutschen erlauben, als Übersetzer für die italienischen Häftlinge zu fungieren - ohne ihn selbst zu verstehen. Für Kertész hat diese Fiktion „eine ganz wesentliche Entsprechung in der erlebten Wirklichkeit“. Er schreibt: Man roch den Gestank des verbrannten Fleisches und wollte doch nicht glauben, dass alles wahr sein könnte. Lieber suchte man Überlegungen, die zum Überleben verlockten, und ein ‚echter Panzer’ ist für ein Kind genau solch ein verführerisches Versprechen. 67 Die Gegenüberstellung von Spielbergs und Benignis Film ist ein Plädoyer für ein Modell von Zeugenschaft durch offene Fiktionalisierung, auf das sich auch der überlebende Zeuge Kertész beruft. 68 Während La Vita è Bella seine Abständigkeit, d.h. die uneinholbare, durch historischen Abstand und mediale Umsetzung notwendig gegebene Distanz zur Realität der Shoah offenlegt, versucht Schindler’s List eben diese Distanz zu verschleiern. Wie bei Anne Frank auf dem Broadway wird Schauspiel als authentische Wieder- Holung des Geschehenen behauptet, die sich - anders als bei Lanzmann - vom Körper der Zeugen löst. In der vermeintlich authentischen Übertragung auf den Schauspieler wird eine bestimmte Auffassung des Holocaust - in der das Menschliche gegen den Zivilisationsbruch triumphiert - als „Wahrheit“ absolut gesetzt: im Überleben der Schindler-Juden wie im „trotz allem“ der (gespielten) Anne Frank. Dagegen, so hofft Kertész, kann das Spiel mit der Zeugenschaft die Erinnerung an die Shoah lebendig und offen halten - ohne sie in einer Fiktion des Überlebens zu verdrängen und zu verschließen. 65 Kertész (2002), S. 150. 66 Kertész (2002), S. 150. 67 Kertész (2002), S. 153. 68 Vgl. Bachmann (2010), S. 253-265. Inszenierte Zeugenschaft 345 Literaturverzeichnis Adorno, T.W.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M. 2003. Agamben, G.: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone. Torino 1998. Arendt, H.: „Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache. Ein Gespräch mit Gunter Gaus“. In: A. Reif (Hg.), Gespräche mit Hannah Arendt. München 1982, S. 9-40. --: Eichmann in Jerusalem. 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Jahrhunderts 2010, 175 Seiten, €[D] 39,90/ SFr 56,90 ISBN 978-3-7720-8345-7 Die Studie zielt, ausgehend von den Theaterarbeiten des Wiener Bernardon-Darstellers Joseph Felix von Kurz, auf die Erforschung der Poetik und Ästhetik anderen Theaters im deutschsprachigen Raum, das in der Theaterhistoriographie weitgehend unterrepräsentiert geblieben und unter dieser Fragestellung noch nicht untersucht worden ist, vorwiegend unter dem Aspekt seiner Gleichzeitigkeit mit dem bürgerlichen Theater. Es geht hier um Spannungen „anderen“ Theaters zum bürgerlichen Modell in erster Linie im Sinne von künstlerisch produktiven Interdependenzen. Die traditionellen Verfahrensweisen commedia dell’arte-inspirierter Theaterformen unterlagen im neuen Kontext des bürgerlichen Zeitalters einem Bedeutungswandel, ihnen eignete das Potential der Thematisierung alternativer Modelle von bürgerlicher Identität mit theatralen Mitteln. 085410 Auslieferung Oktober 2010.indd 2 23.09.10 14: 13 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG JETZT BESTELLEN! Klaus Ley (Hg.) Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 43 2010, 256 Seiten + CD-ROM, €[D] 58,00/ SFr 81,90 ISBN 978-3-7720-8377-8 Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur kunstarten- und gattungsübergreifenden Rezeption der Divina Commedia. Dass Dantes Werk bis in die Gegenwart hinein eine besondere Anziehungskraft ausübt, belegen zahlreiche Bearbeitungen für die Bühne. Doch auch im Bereich des Comics und der Buchillustration zeigt sich eine breit gestreute Auseinandersetzung unterschiedlicher Künstler mit der Divina Commedia. Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bilden die Beiträge zu früheren Rezeptionsphasen, wobei der (Musik-)Dramatik besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Daneben wird der Faszination nachgegangen, die Dante auf herausragende Vertreter der neueren europäischen Literatur ausübte. Weitere Studien befassen sich mit bedeutenden Prätexten aus der Antike. Dem Band ist eine DVD mit ergänzenden Materialien beigelegt. Sie enthält neben Videoausschnitten zu dem Beitrag „Dante, ‚Francesca da Rimini’ und das Erinnern im italienischen Melodramma“ eine umfangreiche Bibliographie zur musikalischen Rezeption von Dante und seinem Werk. Der Thematik der Bildrezeption widmet sich der Beitrag, „Mainzer Drucker in Italien und die frühen Ausgaben der Divina Commedia“, aus dem sich weitere Perspektiven auf die Kanonbildung und die „questione della lingua“ an der Wende zum Cinquecento ergeben. 085410 Auslieferung Oktober 2010.indd 6 23.09.10 14: 13