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Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext

2011
978-3-7720-5434-1
A. Francke Verlag 
Daniela Finzi
Ingo Lauggas
Wolfgang Müller-Funk
Marijan Bobinac
Oto Luthar
Frank Stern

Der Sammelband beschäftigt sich mit der Anwendung kulturwissenschaftlicher Ansätze im zentral- und südosteuropäischen Kontext. Zu Wort kommen Forscherinnen und Forscher, die sich mit einschlägigen Fragen im Bereich von Kulturanalyse und Kulturwissenschaft beschäftigen. Die film- und literaturwissenschaftlichen Aufsätze verbindet die Bezugnahme auf historische Ereignisse sowie deren kulturellen Hintergrund, den wir ansonsten nur auf der Ebene des Politischen wahrnehmen. Mit Blick auf konkrete Beispiele werden dabei methodische und theoretische Fragen zu Alterität, Raum, Gedächtnis & Erinnerung sowie Identität thematisiert und entfaltet.

K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 4 Daniela Finzi / Ingo Lauggas Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 14 · 2011 Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext herausgegeben von Daniela Finzi, Ingo Lauggas, Wolfgang Müller-Funk, Marijan Bobinac, Oto Luthar und Frank Stern Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8434-8 Umschlagabbildung: Slowakisches Nationalarchiv Bratislava, Fotografie von Hertha Hurnaus Inhalt Vorwort von W OLFGANG M ÜLLER -F UNK 1 I. Andere … D ANIELA F INZI : Einleitung 3 I SABEL C APELOA G IL : Stars vor dem Erschießungskommando Remediationen der Weiblichkeit im Ersten Weltkrieg 9 D ANIEL B ITOUH : Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen/ katakretischen bzw. dezentrierenden Figur ‚des blonden Negers’ aus Joseph Roths Essay Der blonde Neger Guillaume 33 M ARIETTA K ESTING : Bilder der Migration - Europa und die Anderen Strategische visuelle Repräsentationen 45 M ARTA W IMMER : „Egal, wo ich hingehe, bin ich zuhaus. Egal, wo ich ankomme, bin ich ein Gast […].“ Von der Erfahrung des Andersseins im Werk von Dimitré Dinev, Radek Knapp und Vladimir Vertlib 59 II. … Räume D ANIELA F INZI : Einleitung 69 L AURA H EGEDU S : Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben: Semantisierung von Raum, Grenze und Zeit in der Erzählung Der See von Terézia Mora 75 H OLGER P ÖTZSCH : Liminale Räume in Srdjan Dragojevi s Lepa Sela, Lepa Gore und Danis Tanovi s Nic ija Zemlja 89 VI K LAUDIJA S ABO : Das schweigende Sprechen im kroatischen Film - am Beispiel von Dalibor Matani s Blagajnica ho e ic´i na more (dt. Die Kassiererin möchte ans Meer gehen)....................................................... 105 G ERALD L IND : Zentrum der Peripherie. Gerhard Roths Foto-Text-Bände Grenzland und Im tiefen Österreich .................................................................... 113 III. Gedächtnis & Erinnerung I NGO L AUGGAS : Einleitung ............................................................................................................ 123 E LISABETH B LASCH : Bilderzählungen. Fotografien als Elemente narrativer Erinnerungs- und Gedächtniskonstruktion in Texten von Péter Nádas und Dubravka Ugreši ................................................................ 129 M ILKA C AR : Dokument und Roman - Dokumentarroman? Grenzen und Möglichkeiten des Dokumentarischen ................................... 141 U RSULA K NOLL : Den Körper lesen. Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur....................... 155 M IRJAM B ITTER : Interdependenzen. Erinnern und Vergessen im Spannungsfeld vielfacher Identitätskategorien in Doron Rabinovicis Roman Ohnehin ................................................................. 167 IV. Identität I NGO L AUGGAS : Einleitung ............................................................................................................ 181 E RNA S TRNIŠA : Selbstformung des ethischen Subjekts bei Nietzsche und Foucault ........... 189 E MILIJA M AN I : Umbrüche und Identitätskrisen. Zu jugoslawischen narrativen Identitätsbildungen und ihrem deutschsprachigen Kontext ....................... 199 N ICOLE K ANDIOLER : Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno. Narrative der Heterosexualität im tschechischen Spielfilm vor und nach 1989 ................ 211 VII R UTH W ODAK : Multilingualism and the Discursive Construction of Transnational European Identities .................................................................. 221 Autorinnen und Autoren ................................................................................. 244 Vorwort Das vorliegende Buch geht auf eine internationale Graduiertenkonferenz zurück, die in Kooperation zwischen der Universität Wien, AG Kulturwissenschaften/ Cultural Studies, der Universität Zagreb und der Slowenischen Akademie der Wissenschaften/ ZACRU, Ljubljana sowie dem Doktoratskolleg „Kulturen der Differenz“ Ende September 2009 an der Universität Wien stattgefunden hat. Die Texte wurden nach einem Peer Review-Verfahren ausgewählt, modifiziert und erweitert. Daniela Finzi und Ingo Lauggas haben diesen Band maßgeblich gestaltet, den verschiedenen Kapiteln zu Alterität, Raum, Gedächtnis & Identität jeweils eine systematische Einleitung vorangestellt und die Texte jeweils einem dieser methodisch-thematischen Schwerpunkte des Buches zugeordnet. Der Sammelband beschäftigt sich im Anschluss an die oben erwähnte Konferenz und an einschlägige Forschungen mit der Anwendung kulturwissenschaftlicher Ansätze im zentral- und südosteuropäischen Kontext. Im Sinne der heute üblichen Terminologie kann man in diesem Zusammenhang von area studies sprechen. Zu Wort kommen Forscherinnen und Forscher aus Slowenien, Kroatien, Polen, Großbritannien, Portugal, Deutschland, Norwegen, Ungarn und Österreich. Es finden sich film- und literaturwissenschaftliche sowie philosophische, historische und medientheoretisch orientierte Texte, die sich exemplarisch mit einschlägigen Fragen im Bereich von Kulturanalyse und Kulturwissenschaft beschäftigen. Was sie verbindet, ist ihre Bezugnahme auf historische und politische Ereignisse wie die jugoslawischen bzw. postjugoslawischen Kriege, der kulturelle Wandel in den postkommunistischen Ländern und die Frage nach den postnationalen Konstellationen nach 1989. Sie beschäftigen sich mit dem kulturellen Hintergrund all jener politischen Ereignisse, die wir sonst nur auf der Ebene des Politischen wahrnehmen. Insofern werden hier Kulturwissenschaften als eine Kulturanalyse verstanden, die die metapolitischen Hintergründe und Dimensionen der Politik aufspürt und beleuchtet. Im Zentrum des Buches steht die Anwendung neuer kulturwissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweisen, die neuerdings unter dem Begriff der cultural turns (Doris Bachmann-Medick) subsumiert werden. Mit Blick auf konkrete Beispiele werden dabei methodische und theoretische Fragen der Narratologie, Theorien des kulturellen Gedächtnisses, Raumkonzepte, semiotische Fragestellungen, Kulturtransfer und Nationstheorien thematisiert und entfaltet. Das Buch, das auch die Hauptvorträge der Konferenz von Isabel Capeloa Gil und Ruth Wodak enthält, macht deutlich, dass sich insbesondere in der neuen akademischen Generation im Bereich der Kulturwissenschaften ein gemeinsames transnationales Forschungsfeld zu etablieren beginnt. Auch das scheint uns das Ergebnis gesellschaftlicher, politischer und kultureller 2 Transformationen zu sein, die in diesem Sammelband diskutiert und verhandelt werden. Im Namen der Organisatoren der Konferenz und des Herausgeberteams danke ich dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, der Kulturabteilung der Stadt Wien (Prof. Dr. Christian Ehalt), der Universität Wien, dem Initiativkolleg „Kulturen der Differenz“ sowie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung der Konferenz und des Buches. Ein ganz besonderer Dank gilt auch den Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften/ Cultural Studies, die uns bei der Durchführung der Konferenz etwa durch ihre Respondenz mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. W OLFGANG M ÜLLER -F UNK I. Andere … E INLEITUNG VON Daniela Finzi Die politischen Umwälzungen in den ‚Ostblockstaaten’ im Jahr 1989 initiierten nicht allein einen umfassenden Transformationsprozess in Zentral-, Ost- und Südosteuropa, sondern zwangen - mit dem Verlust der Systemkonkurrenz - auch das restliche Europa zu identitären Neu-Konstitutionen. Diese ließen sich nicht nur insbesondere im wiedervereinigten Deutschland und in Österreich beobachten, sondern auch auf supranationaler Ebene. Die im Februar 1992 in Maastricht erfolgte und im Jahr zuvor - im Jahr des Kriegsausbruchs im ehemaligen Jugoslawien - medienwirksam vorbereitete Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Union, der seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft größte Schritt Richtung europäische Integration, kann unter dieser Optik als Reaktion auf den Fall des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung Deutschlands betrachtet werden. Im Rückblick steht die besondere Anziehung, welche die mit dem EU-Gründungsvertrag einhergehenden Entwicklungen auf das restliche Europa ausübten, außer Frage; zum Zeitpunkt des historischen Gipfeltreffens 1991 indes wurden vom westlichen Europa mögliche Rückwirkungen nicht bedacht. Wie sehr eine Kultur sich dadurch definiere, dass sie „etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt“, darauf wies bereits 1961 Michel Foucault in seinem programmatischen Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft hin: „Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. 1 Kulturelle Identität stützt sich diesem Modell zufolge auf die kontrastive Gegenüberstellung eines ‚Anderen’, auf das Bewusstsein von Alterität. Erst die negative ‚Abgrenzung’ des Nicht-Identischen, so Foucault, verleihe einer Kultur „den Ausdruck ihrer Positivität“. 2 Dass - ob auf individueller oder aber kollektiver Ebene - jeglicher Identitätsprozess auf der Abgrenzung von Andersheiten, von Differenzen beruht, stellt mittlerweile einen semiotischen Gemeinplatz dar. Wird dieser ernst genommen, tritt Folgendes zutage: Wie sehr sich das Selbstidentische auch vom vermeintlich Anderen abzugrenzen versucht, immer wird es von diesem Anderen - das „konstitutive Außen“ (Derrida) - kontaminiert. Die Vorstellung einer komplementären Beziehung ließe sich in die westliche Tradition des Denkens einschreiben, Begriffe von ihren Gegensätzen aus zu bestimmen, Alterität also als Gegenseite 1 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/ Main 1995, S. 9. 2 Ebenda. Daniela Finzi 4 der Identität und nicht in der ihr eigenen Bedeutung zu konzeptualisieren. Gerade die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte lehrt auf beredte Art und Weise solche Prozesse und unbewusste Programme einer, wie Doris Bachmann-Medick deren mögliches Resultat auf den Punkt bringt, „Selbstfindung im Licht des Anderen“. 3 Tatsächlich verkennt jedoch eine solche Auffassung, eine auf Gegenbildlichkeit verengte Selbst- und Fremdwahrnehmung, die besondere, beunruhigende Dynamik, welche die Beziehung von Identität und Alterität ausmacht. Die Kulturwissenschaften mit ihrer Vorstellung einer prozessartigen und kontinuierlichen Identitätsbildung, mit ihrem Rekurs auf Begriffe bzw. epistemologische Instrumente wie eben Alterität, Hybridität, Fragmentiertheit oder Überdeterminiertheit haben sicherlich dazu beigetragen, diese binäre Logik aufzubrechen. Sollten, wie von Judith Butler stark bezweifelt, Identitätskategorien ohne normativen und damit ausschließenden Charakter denkbar sein, so sicherlich auch dank der Kulturwissenschaften. 4 Und dennoch: Betrachtet man bloß jene Identitätskonzepte, die im Alltagsverständnis und im massenmedialen Diskurs - ob bei der Diskussion von geschlechtlich oder kulturell ‚Anderen’ - zirkulieren, so scheinen hierbei essentialistische Identitätskonzepte, die einen wesenhaften, unveränderlichen ‚Kern’ postulieren, durchaus noch Relevanz und Gültigkeit zu haben; die kulturwissenschaftliche Erkenntnis (noch) nicht in Alltagswissen und -praktiken überführt worden zu sein. Während im letzten Teil des Sammelbandes mit verschiedenen Fallbeispielen die auf eine Positivität abzielende Dynamik identitärer Verhandlungen aufgezeigt wird, stellen den gemeinsamen Nennen oder, besser: das lose Band der hier versammelten Aufsätze die Momente von Alterität und Exklusion dar. Die synchrone Perspektive, die der Sammelband auf den europäischen Transformationsprozess einnehmen möchte, wird dabei um eine diachrone ergänzt, um auch jene Ereignisse, die am Beginn des „kurzen Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm) stehen, zu berücksichtigen. Nicht zuletzt der kriegerische Zerfall Jugoslawiens, der im zweiten und vierten Teil des Sammelbandes behandelt wird, lenkt den historischen Blick des Kulturanalytikers/ der Kulturanalytikerin zurück auf den Ersten Weltkrieg. Haben wir auch zum historische Geschehen an sich keinen Zugang, so können doch die verschiedenen diskursiven, narrativen und visuellen, sich auf der Darstellungsebene angesiedelten und dabei durch Nachträglichkeit bestimmten Formationen, können die Repräsentationen des Krieges herangezogen werden. 3 Doris Bachmann-Medick: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: Dies. u. James Clifford (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 262-296, hier S. 266. 4 Vgl. Judith Butler: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“. In: Dies. u.a. (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/ Main 1995, S. 31-58, hier S. 49. Einleitung 5 Indem sie, ausgehend von Edgar Allan Poes Erkenntnis, dass der Tod einer Frau das poetisch wirksamste Motiv sei, die Exekution ‚schöner’ Frauen im klassischen Hollywood-Film analysiert, bringt Isabel Capeloa Gil in ihrem Aufsatz „Stars vor dem Erschießungskommando. Remediationen der Weiblichkeit im Ersten Weltkrieg“ das vermeintlich unberechenbare und unheimliche ‚andere’ Geschlecht mit jenem Realereignis, das als das ganz ‚Andere’ des zivilen Normalzustandes gehandhabt wird, zusammen: Krieg. Die Bandbreite an möglichen Rollen, die weiblichen Charakteren im Hollywood-Film zwischen den beiden Weltkriegen zugestanden wurden, lässt sich dabei auf jene (einmal mehr) binäre Formel, von deren Relevanz noch Jahrzehnte später der Filmtitel von Jean Eustache zeugt, reduzieren: La maman et la putain - liebende Mutter oder frivole Hure respektive femme fatale. Gil zeigt anhand ihrer Analysen von drei in der Zwischenkriegszeit gedrehten Filmen, welche zentrale Rolle und Funktion in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung der Repräsentation von feindlichen Grausamkeiten - Exekutionen von Frauen - zukam. Tatsächlich verlangt Krieg wie kein anderes Realereignis den betroffenen Individuen eine Positionierung ab und unterzieht das Handeln und Denken darüber einer Polarisierung. Literarische und filmische Erzählungen partizipieren an dieser auferlegten Dynamik insofern, als sie als Kommunikationsmittel kollektive und individuelle Erinnerungen und Erfahrungen intersubjetiv erfahrbar machen und vermitteln. Erst mittels sprachlicher und visueller Narrationen kann die symbolische Integration von Krieg gelingen, kann er identitätsstiftend wirken, legitimiert oder aber delegitimiert werden. Zur nachweislich geringen Zahl von hingerichteten Frauen - vermeintlichen Spioninnen - im Ersten Weltkrieg verhält sich der erhöhte Ausstellungsgrad dieser Ereignisse antiproportional. In ihren Analysen von Herbert Wilcox’ Film Dawn (1928), dessen Ton-Remake Nurse Edith Cavell (1939) sowie Joseph von Sternbergs Dishonored (1931) gelingt es Gil, die komplexen Verflechtungen von Opfer-Täter-Ordnungen, von Märtyrer- und Heiligtum-Grammatiken zu entflechten, die Anleihen narrativer Pathos-Formeln des Melodramas zu belegen, den ambivalenten enjeu der Gender-Trope zu dekonstruieren, die Motivationen für das Spiel mit Authentizitätssignalen zu ergründen. Edith Cavell, die Vorlage der beiden Wilcox-Filme, war eine britische Krankenschwester, die 1915 von den Deutschen verhaftet und als Spionin zum Tode verurteilt wurde. Während in Wilcox’ Stummfilm die Hauptfigur Cavell als ältere Märtyerin entsexualisiert dargestellt wurde, gelang es der späteren, wesentlich jüngeren Hautdarstellerin Anna Neagle dank ihres symbolischen Kapitals als Star sowie des verführerischen Spiels, eine emotionale Nähe zum Publikum herzustellen, welche diesem eine affektive Identifikation ermöglicht: Bei der Vermittlung von emotionalem Wissen kommt, so die Beobachtung von Gil, dem Gesicht des Stars als bedeutungsgeladene Oberfläche eine besondere Rolle zu. In der Nahaufnahme des Stars „Im-Inbegriff-des-Sterbens“ vermischen sich Formelhaftigkeit und Authentizität, Oberfläche und Wesentlichkeit, was das besondere Potential an Ambivalenz, welches das Gesicht des Stars aufweist, erklärt. Daniela Finzi 6 Gils Ausführungen zu Marlene Dietrich als Agent X-27 belegen auf augenscheinliche Weise die fundamentale Dimension dieser Ambivalenz. Ebenfalls aus der Zwischenkriegszeit stammt Joseph Roths Text „Der blonde Neger Guillaume“, den Daniel Bitouh, auf „Differenz und Interdependenz“ abzielend, einer Mikroanalyse unterzieht. Er zählt zu jenen Essays Roths, die mit Bitouh die ‚imperiale Begegnung’ zwischen Europa und Afrika inszenieren, und Aufschluss über den in der Roth-Forschung bislang wenig beachteten Afrika-Bezug geben. Von Interesse ist das Erscheinungsdatum: der 28. Februar 1923 (im N.B.Z.-12-Uhr-Blatt), 5 also zu einem Zeitpunkt, als das Rheinland und Ruhrgebiet auch von ‚farbigen’ Soldaten besetzt waren. Obgleich die afrikanischen Kolonialsoldaten der französischen Armee seit dem Deutsch- Französischen Krieg von 1870-1871 der deutschen Öffentlichkeit bekannt waren, schlugen ihnen in dieser Stimmung des allgemeinen Verdrusses ob des Versailler Friedenvertrags besonderer Unmut und Ängste entgegen. Bitouh legt im Essay jenes Schriftstellers, der von der Literaturwissenschaft erst seit wenigen Jahren nicht mehr ausschließlich als exemplarischer Beschwörer des „Habsburgischen Mythos“ (Claudio Magris) wahrgenommen wird, und den er selbst als postkolonialen Autor avant la lettre erkennt, die Schichten von Antisemitismus-Kritik und den kolonialen Blick, der den Schwarzen immer als Anderen konstituiert, frei. Die Figur des blonden und blauäugigen, zuweilen Guillaume, zuweilen Wilhem genannten Schwarzen liest Bitouh mit Michael Bachtin, Frantz Fanon, Giorgio Agamben, Homi K. Bhabha, aber auch Franz Kafka und Salman Rushdie. Die Dialogizität seiner dichten Ausführungen sowie die ihnen eingeschriebene Bewegung der Umkehrung, das Aufzeigen der möglichen Lesarten der Figur - ob als verkörpertes Paradoxon, als exemplarische Figur des Migranten, als Agamben’scher ‚homo sacer’ - korrespondieren mit jenen Techniken, die Edward Said als „kontrapunktische Lektüre“ ausgewiesen hat; sie entsprechen weiters der Prämisse, dass Bedeutungen nicht dem Text entnommen, sondern ihm verliehen werden, oder, anders ausgedrückt: dass es nicht länger um dessen Bedeutung, sondern um die Wirkung(en) geht. Diese lassen sich bei Roths an den Schnittmengen von Fiktion und Wissenschaft angesiedeltem Text sicherlich als Momente der Störung, der Unruhe, der Irritation und der Dezentrierung benennen. Das für seine Zeitgenossen vielleicht Unheimlichste der Figur des blonden Negers schließlich sind weniger seine körperlichen ‚Widersprüchlichkeiten’, als vielmehr der Umstand, Lenau-Liebhauer und Goethe-Experte und zu sein: im kulturellen Wissen seiner Zeit, im Kanon ‚zuhause’ zu sein. Wie Isabel Gil kommt auch Marietta Kesting in ihrem Beitrag „Bilder der Migration - Europa und die Anderen“ zu einem Befund der besonderen Bedeutung des Gesichtes bzw. des Antlitzes, freilich mit Hinblick auf den dokumentarischen Film. Tatsächlich basiert ein Großteil unseres Wissens auf visueller Wahrnehmung; um jemanden oder etwas wahrnehmen zu können, 5 Vgl. Katharina Ochse: Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, Würzburg 1999, S. 73, Fn. 169. Einleitung 7 muss dieser, diese oder dieses zuvor sichtbar sein. Die Denkfigur der ‚Sichtbarkeit’, der mithin immer schon die Frage nach Hegemonie eingeschrieben ist, spielt in politischen Debatten um Anerkennung marginalisierter Gruppen eine zentrale Rolle. Auf Lévinas’ Konzept des Antlitzes zurückgreifend, teilt Kesting im Hinblick auf die von ihr analysierten Dokumentarfilme die von Gil akzentuierte Bedeutung des Gesichtes für eine erfolgreiche Vermittlung von Empathie. Doch während Gil das makellose, maskengleiche Star-Gesicht ‚im Visier’ hat, fragt Kesting nach den Regeln und Codes, denen jegliche Sichtbarkeit von illegalisierten MigrantInnen afrikanischer Herkunft in den Massenmedium unterliegen, hinterfragt die Möglichkeiten ihrer Repräsentation im Film und zeigt Strategien auf, Restriktionen zu umgehen. Nicht länger Individualität und Einzigartigkeit sind die bestimmenden Parameter der in den Massenmedien unternommenen Bilderpolitik betreffend MigrantInnen, und auch von Ambivalenz fehlt jede Spur. Die hegemonialen Bilder zeigen die afrikanischen ‚Anderen’ als undifferenzierte Masse: als Eindringlinge, Kriminelle oder aber auf westliche Hilfe angewiesene Opfer. Zementiert wird so die Vorstellung von einem oder einer afrikanischen Anderen als einem primitiven Wesen, das sich sowohl in räumlicher als, da vermeintlich noch nicht in der Moderne angekommen, zeitlicher Entfernung mit ausreichendem Sicherheitsabstand befindet; die postkoloniale Einsicht hingegen, dass der/ die Andere immer ein integrativer Teil des eigenen Selbst ist, wird so negiert. Tatsächlich aber lebt ein Großteil der afrikanischen Bevölkerung mittlerweile in Städten; tatsächlich flieht eine wachsende Zahl von AfrikanerInnen vor kriegerischer Gewalt und wirtschaftlicher Not nach Europa, die viel zitierte ‚Festung’: Führte der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhanges auch zu einer Öffnung von Grenzen, so ging damit auch eine Abschottung Europas einher; AfrikanerInnen wird eine legale Einreise nach Europa kaum ermöglicht. Genau dieser Festungscharakter Europas ist es denn auch, der in den drei von Kesting besprochenen Dokumentarfilmen - Fernand Melgars La Forteresse (2009), Nina Kusturicas Little Alien (2009) und Anja Salomonowitz’ Kurz davor ist es passiert (2006) - manifest wird, wie auch der Alltag der AsylbewerberInnen und MigrantInnen einmal mehr von ‚imperialen Begegnungen’ erzählt. Die maßgebliche Bedeutung, die ästhetischen Strategien bei der Repräsentation von Wirklichkeiten zukommt, tritt im letzten Beispiel besonders deutlich zutage: Indem die Regisseurin jene Geschichten, die ‚reale’ Migrantinnen erlebt haben, von augenscheinlich ‚echten’ ÖsterreicherInnen erzählen lässt, und so eine in Form von Verfremdung auftretende, erweiterte Zeugenschaft schafft, wird der Zuseher und die Zuseherin gezwungen, sich mit dem Erzählten (und nicht Gesehenen) auseinanderzusetzen, statt das Besondere am Gegenstand zu abstrahieren. Vermeintlich Natürliches wird von Salomonowitz - und den ZuseherInnen! - als kulturell Konstruiertes entlarvt. „Von der Erfahrung des Anderssein im Werk von Dimitré Dinev, Radek Knapp und Vladimir Vertlib“, drei deutschsprachigen Autoren mit so genanntem Migrationshintergrund, geben Marta Wimmers Ausführungen Auskunft. Wieder sind es Wander- und Migrationsbewegungen, die den Rahmen des Bei- Daniela Finzi 8 trages ausmachen, dieses Mal freilich werden Wohnsitzwechsel innerhalb des europäischen Kontinents herangezogen. Alle drei Romane (Engelszungen, Herrn Kukas Empfehlungen und Letzter Wunsch) umkreisen Themen wie Flucht, Fremde, Identitätswechsel, Zugehörigkeit, und alle drei Autoren haben einen Kultur- und meist auch Sprachwechsel hinter sich. Der Rückgriff auf biographische Details, wie er von der Literaturkritik, aber auch Literaturwissenschaft in der Auseinandersetzung mit Texten der ‚interkulturellen Literatur’ gerne unternommen wird, ist nicht unproblematisch, läuft man damit doch Gefahr, einen längst überwunden geglaubten Positivismus und Biographismus Vorschub zu leisten, oder aber jene Dimensionen, die nicht mit den besagten Themenkreisen vom Fremd-Sein in der Fremde zu tun haben, zu vernachlässigen und Komplexitäten zu verringern. Umso interessanter daher, dass Wimmer, die diffizile Problematik offensiv aufgreifend, mit Dinev eine auf Kosten der Biographie eines Autors gehende Theoretisierung kritisch erörtert. So ist es auch nur schlüssig, dass sie weiters den Finger auf etwas, was sie ‚innere Identität’ nennt, legt. Dass die konstruktivistischen Identitätskonzepte Vorstellungen von einem stabilen ‚Kern’ ablehnen, wurde bereits erwähnt, wie aber ist mit dem Bedürfnis, dem Wunsch nach einem solchen - und handle es sich dabei um eine Illusion - umzugehen? Mit Julia Kristeva verweist Wimmer auf die Bedeutung einer, weil bereits verloren gegangenen, wiedergefundenen oder, besser: erfundenen Identität, die ihr der/ die Fremde in der Fremde zuspricht. Der Alltag der Migranten bei Knapp und Dinev schließlich - und auch dieser Befund nimmt angesichts der Stoßrichtung Wimmers nicht weiter wunder - wird von der (Beschaffung von) Arbeit, vom täglichen Überlebenskampf definiert; und Identitätswechsel, so bei Dinevs Romanfigur Iskren, können zuweilen durchaus auch auf pragmatische Beweggründe zurückgeführt werden. I SABEL C APELOA G IL (L ISBOA ) Stars vor dem Erschießungskommando Remediationen der Weiblichkeit im Ersten Weltkrieg The death of a beautiful woman is unquestionably the most poetical topic in the world. Edgar Allan Poe, The Philosophy of Composition Diesen berühmten Satz Edgar Allen Poes evozierend, werde ich im Folgenden darstellen, dass die Exekution einer schönen Frau eines der inspirierendsten visuellen Themen des klassischen (Hollywood-)Films darstellt. Feministische Filmkritiker und Kritikerinnen haben ausführlich erörtert, auf welche mitunter widersprüchlichen Weisen das Konstrukt der Frau formuliert, mediatisiert und als Unterstützung eines Diskurses von Tod und Abwesenheit eingesetzt wurde. 1 Traditionsgemäß dienten weibliche Charaktere als Projektionsflächen spezifischer Ängste, Phobien und Verlangen des männlichen Publikums. In der Periode zwischen den beiden Weltkriegen, der Blütezeit des klassischen Hollywood-Films, wurde die Ausstrahlung des weiblichen Stars auf der Leinwand zum außergewöhnlich produktiven Mittel für ein Regime der Sichtbarkeit, das, wie William Faulkner 1932 feststellte, den Tod verehrte. 2 In diesem Regime kamen der Frau zwei stereotypische Rollen zu: Einerseits die der lüsternen und verhängnisvollen Femme Fatale, andererseits die des Opfers, das in der malmenden Maschinerie einer entfremdenden Gesellschaft schicksalhaft dazu bestimmt war, sich für die Erlösung des Mannes und der patriarchalischen Familie zu opfern. In einem weiteren Zusammenhang betrachtet, durchdrang und bestimmte der Todesdiskurs jedoch kein Genre in demselben Ausmaß wie den Kriegsfilm. In der Folgezeit des ersten Weltkrieges produzierte Hollywood eine Reihe einseitiger und chauvinistischer Darstellungen der Ereignisse, in denen die Humanität der Alliierten angesichts der bestialischen Unmenschlichkeit des Feindes hoch gepriesen wurde. D.W. Griffiths Hearts of the World (1918, Regie D. W. Griffith), mit Lilian Gish in 1 Vgl. Mary Anne Doane: Femme Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, London 1991, S. 1-10; Laura Mulvey: Visual and Other Pleasures, London 1989, S. 484; Elisabeth Bronfen: Liebestod und Femme Fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film, Frankfurt/ Main 2004, S. 159. 2 Vgl. Otto Friedrich: City of Nets. A Portrait of Hollywood in the 1940’s, Los Angeles 1997, S. 237. Isabel Capeloa Gil 10 der Hauptrolle, The Heart of Humanity (1919, Regie Allen Holubar) oder The Great Victory, Wilson or the Kaiser? The Fall of the Hohenzollerns (1919, Regie Charles Miller) bieten Beispiele dafür, wie Kriegselend und Gewalt in Sequenzen repräsentiert wurden, die das Töten an der Front mit der Darstellung ziviler Gräueltaten, wie zum Beispiel Vergewaltigung, Kindermord und Hinrichtungen von Zivilisten, gleichsetzten. Indem sie das Eindringen der rauen Kriegsgewalt in den friedvollen Raum zivilen Lebens inszenierten, Darstellungen von exzessivem Pathos, den Leslie Debauche als „reel patriotism“ 3 [Filmrollenpatriotismus] bezeichnet, sprachen diese Filme ein zeitgenössisches Publikum an, welches an die sensationsgeladenen Theateraufführungen des Melodramas gewöhnt war. Problemlos adaptierte der filmische Kriegsdiskurs grafische Themen des 19. Jahrhunderts wie Vergewaltigung und Mord der naiven ingénue. Auf der Leinwand ersetzte nun der deutsche Soldat den Schurken und die verwüsteten Dörfer an der französischen und belgischen Front die unschuldigen Umgebungen des bürgerlichen Heimes oder der ländlichen Idylle. Diese großzügigen rhetorischen Anleihen von narrativen Tropen des Melodramas erwiesen sich als besonders nützlich im visuellen Hollywood-Diskurs um den Ersten Weltkrieg. Zu einer Zeit, als technische Ressourcen noch beschränkt waren und Kampfszenen auf der Leinwand mehr auf rhetorischer Überzeugungskraft denn auf optischer Glaubwürdigkeit beruhten, bot der sinnbildliche Exzess des melodramatischen Modus einen produktiven, wenn auch unsichtbaren Rahmen für Hollywoods „way of seeing the war“. 4 Obwohl sich nicht alle dieser Filme einwandfrei der kanonisch enger gefassten Definition von Kriegsfilmen als hauptsächlich auf Kampfszenen zentriertes Genre zuschreiben lassen, 5 3 Leslie Midkiff Debauche: The United States’ Film Industry and World War One. In: J. David Slocum (Hg.): Hollywood and War: The Film Reader, New York - London: 2006, S. 109-122. 4 George Roeder Jr.: War as a Way of Seeing, in: ebenda, S. 69-80. 5 Dieser Artikel folgt Russel Shains Annahme, dass ein Kriegsfilm nicht notwendig in einer Kampfzone situiert sein muss, doch dass: „A war film deals with the role of civilians, espionage agents and soldiers in any of the aspects of the war (i.e. preparation, cause, prevention, conduct, daily life and consequences or aftermath)“. (Russel Shain: An Analysis of Motion Pictures about War Released by the American Film Industry 1939-1970, New York 1976, S. 20). Kann man auch Jeanine Basingers Feststellung zustimmen, dass Kriegsfilme kein homogenes Konstrukt bilden und dass unterschiedliche Kriege verschiedene filmische Genres inspirieren, so folgt daraus doch nicht notwendig Basingers begrenzte Annahme, dass die umfassendere Definition des Kriegsfilmgenres zu generisch sei für eine hybride Form, die mit anderen Filmgenres wie film noir, im Falle des Ersten Weltkrieges, oder, wie hier vorgeschlagen, dem frühen Melodrama für den Zweiten Weltkrieg, verflochten ist. Basinger bevorzugt die engere Bezeichnung des ‚ combat film’ und schlägt eine typologische Definition vor, die auf einer kontingenten Analyse einer Filmografie zum zweiten Weltkrieg basiert (Jea- Stars vor dem Erschießungskommando 11 behandeln sie doch Problematiken, die mit dem Kriegsgeschehen zusammenhängen, wie dessen Ursachen, Vorbereitungen, Verlauf, Prävention und Folgezeit. Das strikte Beachten von puristischen Gattungskonventionen scheint an dieser Stelle nicht so wesentlich wie die Tatsache, dass diese Filme am Scheitelpunkt sich wandelnder Politiken der Kriegsführung, Gefechtsdarstellungen und Kriegdiskurse liegen. Als solcherart diskursive Verdichtungen bilden sie ein besonders instruktives Mittel, um die Kriegsrhetorik der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, von ihr reformierte vorherige Modelle und ihren Einfluss auf die Selbstinszenierung der Modernität zu untersuchen. In dieser Visualität des Krieges 6 erlangte die Darstellung feindlicher Grausamkeiten zentrale Bedeutung. Eine unter ihnen stach auf Grund ihres Effekts auf das Publikum sowie ihrer politischen Relevanz für die gegnerischen Parteien hervor: Exekutionen von Zivilisten, insbesondere von Frauen. Eine vorläufige Typologie der Exekutionsstruktur erlaubt die Differenzierung zweier grundlegender Formen: Eine, die man die ‚unvermittelte Vergeltungsexekution’ nennen könnte und die aus einer Entscheidung außerhalb jeglichen legalen Rahmens resultiert, und eine andere, die angemessen als ‚zeremonielle Exekution’ bezeichnet werden könnte, gerahmt durch eine gerichtliche Entscheidung sowie das Privileg des Staates/ der Armee oder der Polizei, die Todesstrafe auszuführen. In diesem letzten Fall stellte der Tod durch ein Exekutionskommando einen notorisch theatralischen Moment dar, zumindest für jene, welche die Hinrichtung vollführten, sowie die Anwesenden, die nach dem Hinscheiden der Verurteilten weiterlebten. Dieses spektakuläre Ereignis folgte der traditionellen Narrationsstruktur: Es verlangte Protagonist und Antagonist, Zeit und Ort folgten einem sehr speziellen Skript, und die Zuschauer waren sorgsam auserwählt. Die Rollen waren strikt verteilt und ließen keinen Raum für Improvisation. Die Charaktere im Stück des Todes entsprachen bestimmten Typen: Der Verurteilte, das Exekutionskommando, die institutionellen Augenzeugen (Priester, Richter, Arzt), die Gäste (Journalisten et alia). Wie Robert Stam im Bezug auf Filmnarrationen in nine Basinger: The World War II Combat Film, Midtown 2003, S. 86-87.). Für einen Überblick der Genrediskussion vgl. Steve Neale: Aspects of Ideology and Narrative Form in the American War Film. In: Screen 32 (1911), H. 1, S. 21, oder Slocum 2006, Anm. 3, S. 23-24. 6 In diesem Artikel wird Visibilität als Machtdiskurs verstanden, der ebenso die Offenbarung von Personen und Ereignissen erlauben kann sowie Obskurität fördern. Es besteht somit kein direkter Zusammenhang zwischen Visibilität und der visuellen Dimension eines Objekts. Visualität hingegen ist sowohl ein semiotisches wie soziales Schlüsselwort, das darauf verweist, inwiefern visuelle Repräsentation Herrschaftskultur durchscheinen lässt und gleichzeitig ein Mittel der Resistenz durch widerständige Aneignung bedeutet. Vgl. Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, London 2009, S. 90; und Daniel Dayan: La terreur spectacle: Terrorisme et télévision, Bruxelles 2006, S. 23. Isabel Capeloa Gil 12 Kriegszeiten hervorgehoben hat, offenbarte dieses Todestheater den heimlichen Pakt zwischen Zuschauer und Darbietung, war es doch deutlich, wem die Sympathien der Zeugen zu gelten hatten, damit sie überhaupt als solche zugelassen wurden. 7 Die Exekution war nicht länger ein öffentliches Ereignis, zu dem jeder eingeladen war, wie zu Zeiten des ancien régime. Vielmehr wurden diese Zeremonien drohenden Todes sorgfältig kontrolliert, denn, wie Barbie Zelizer bezüglich photographischer Darstellungen von solchen „about-to-die“ [im-Inbegriff-des-Sterbens]- Augenblicken gezeigt hat, generiert der Moment der Exekution eine Identifikation zwischen Publikum und Verurteilter/ Veruteiltem: “the aboutto-die image freezes a particular memorable moment in death’s unfolding and thereby generates an emotional identification with the person facing impending death.” 8 Überdies können wir feststellen: Wenn die Abschaffung der öffentlichen Exekution, wie Foucault gezeigt hat, in modernen Gesellschaften durch innerliche Mechanismen der Strafe und Kontrolle substituiert wurde, die eher darauf abzielten, friedfertige Körper im Dienste des Profits auszubilden, als sie zu verletzen, 9 dann bedeuteten Hinrichtungen zu Kriegszeiten ein Aussetzen des modernen Zivilisationsprozesses. Im Gewebe der modernen, aseptischen, anonymen und produktiven Gesellschaft bilden sie anachronistische Interventionen, indem sie die anonymen und prüden Todesmechanismen des Strafvollzugssystems unterbrechen, und den verletzten, zerstörten Körper abermals als den Ort präsentieren, an dem die Ausübung des Gesetzes sichtbar wird. Exekutionen von Frauen während des Ersten Weltkrieges, insbesondere jene nach 1915 und das Erschießen der britischen Krankenschwester Edith Cavell durch deutsche Behörden in Belgien, erlangten in der öffentlichen Meinung und unter Zuschauern der Entente den traurigen Status als eines der grausamsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das von den Zentralmächten verübt worden war. Offizielle Zahlen sind zwar fragwürdig, 10 fest steht jedoch, dass alle Kriegsparteien Exekutionen von 7 Vgl. Robert Stam u. Ella Shohat: The Imperial Imaginary. In: Graeme Turner (Hg.): The Film Cultures Reader, London 2002, S. 366-378. 8 Viviana Zelizer: The Purchase of Intimacy, Princeton 2005, S. 34. 9 Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1985, S. 18. 10 Die Deutschen sollen elf Frauen als Spione hingerichtet haben, die Franzosen zwischen einer und drei, die Belgier eine (vgl. Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. II, Prosa I, Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1987, S. 185). Die Daten können nicht kontrolliert werden. Exekutionen für Spionage wurden durch das Militärstrafrecht der Kriegsteilnehmer reguliert. Deutsches Kriegsrecht basierte noch auf dem Militärstrafgesetzbuch von 1872 sowie auf der Militärstrafprozessordnung von 1892. In Frankreich war es der Code de Justice Militaire von 1857 sowie die Gesetzgebung von 1871 und 1895, während das Vereinigte Königreich im Sinne des Arms Act von 1881, The King’s Regulations von 1912 und des Manual of Military Law von 1914 agierte. Österreich-Ungarn richtete sich nach dem Militärstrafgesetzbuch von 1855 und der Militärstrafprozessordnung von 1912. In Stars vor dem Erschießungskommando 13 Frauen auf Grund von Spionage ausführten. 11 Die außergewöhnliche öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, resultierte aus moralischen Ängsten im Zusammenhang mit der neuen sozialen Krankheit ‚Spionitis’, der herrschenden Furcht angesichts des Kriegsverlaufes und der sentimentalen Grammatik von Gender. Diese Ängste nährten sich abermals aus den patriarchalischen Traditionen und den ambivalenten Repräsentationen der Frau als Retterin (die Krankenschwester) und Teufel (die Spionin). Demzufolge setzte die Propaganda der Kriegszeiten die Heimlichkeit und Geschmacklosigkeit des Spionierens mit unmännlichem Verhalten gleich. Auch die Feminisierung männlicher Agenten trug zu dieser Platzierung der Spionin auf demselben diskursiven Niveau wie dem der gefallenen Frau bei. Repräsentationen aus der Kriegszeit von lustvollen und verführerischen weiblichen Spioninnen stimulierten die viktorianischen Ängste einer Gesellschaft, die furchtsam den Kriegsausgang erwartete. Wie Arthur Zimmermann, Sekretär des deutschen Auswärtigen Amtes 1915, in Bezug auf die Cavell- Exekution in der New York Times vom 25.10.1915 anmerkt: „Women […] are often more clever in such matters [d.i. treason/ spying, I.C.G.] than the cleverest male spy”. 12 Nichtsdestoweniger verkörperte die unrechtmäßig verurteilte und hingerichtete Frau, als die Edith Cavell dargestellt wurde, auch die Rolle der Frau als Ernährende, als Pflegerin und universale Schwester. Gender war eine Trope, die gebraucht wurde, um Zuschauer/ Leser zu einer paradoxen Identifikation zu verleiten: Auf der einen Seite provozierte sie Wachsamkeit, indem sie die Frau-als-Spionin zur Maskerade offensichtlicher Sexualität reduzierte, auf der anderen Seite aktivierte sie den sentimentalen Diskurs affektiver Empathie für die aufgeopferte mütterliche Weiblichkeit. So lässt sich behaupten, dass die mediatisierte Exekution einer schönen Frau, das Genre des Melodramas und ein eindringlicher Diskurs von Gewalt und Krieg zur Simulation eines düsteren Regimes spektakulärer Visibilität konvergierten. den Vereinigten Staaten von Amerika wurden Exekutionen im Rahmen des Kriegsrechts durch die Articles of War von 1776, einer neuen Version von 1806 und einer revidierten von 1916 reguliert. Für weitere Informationen siehe Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumech u. Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn - München 2003, S. 704 sowie Spencer C. Tucker (Reg.): World War I Encyclopedia. Vol III, Santa Barbara 2005, S. 759. 11 Die berühmtesten exekutierten Frauen während Kriegszeiten neben Edith Cavell waren Gabrielle Petit, Louise de Bettigny und Marthe Richer, alle von Deutschen exekutiert. Die Franzosen brachten, wie wohlbekannt, Margaretha Geertruida Zeller (verheiratet Macleod), bekannt als Mata Hari oder Spion H21, vor das Exekutionskommando. Zu weiblicher Spionage während des zweiten Weltkrieges vgl. Gundula Bauendamm: Spionage und Verrat. Konspirative Kriegserzählungen und französische Innenpolitik 1914-1917, Essen 2004; Hirschfeld u.a. 2003, zit. Anm. 10, S. 151. 12 “ German Officer Defends killing of Edith Cavell”. In: New York Times, Oct. 25, 1915, S. 2-3. Isabel Capeloa Gil 14 Anhand der Untersuchung dreier ikonografischer Beispiele des Hollywood-Films aus den 1930ern, die Frauen kurz vor ihrer Exekution porträtieren (George Fitzmaurices Mata Hari, 1931; Josef von Sternbergs Dishonored, 1931; und Herbert Wilcox’ Nurse Edith Cavell, 1939), wird dieser Aufsatz zeigen, dass die Sichtbarkeit des Todes in Exekutionsszenen durch die Ergänzung der melodramatischen Grammatik zu einem modernen Spektakel des Verlangens wird. Ferner ist der Körper Im- Inbegriff-des-Sterbens in der visuellen Ökonomie des Films durch filmische und narrative Mittel gerahmt, die den Diskurs der Kriegsexekution mit der spektakulären Sichtbarkeit des Stars überblenden und zugleich versteckte Formen der traditionellen weiblichen Figuration wieder in Kraft setzen. 13 Exekution und Ausstellung: Formen spektakulärer (Un)Sichtbarkeit und die Cavell-Performanz Wie Walter Benjamin in der dritten Version von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/ 6) argumentiert, offenbarten der Film als technische Kunst und die Kamera als dessen Instrument die private Sphäre des „optischen Unbewussten“ 14 (samt dessen subjektiver Momente, indem sie eine illusorische Projektion auf die Leinwand und von dort ins Bewusstsein der Zuschauer simulierten und auf diese Weise neue Ausstellungsweisen und Formen der Ausstellbarkeit erzeugten). Folglich beeinflusste Film die Struktur der Sichtbarkeit, indem er enthüllte, was zuvor im Verborgenen lag. Er offenbarte, wie das optische Unbewusste die Hegemonie des Sichtbarkeitsregimes infiltrierte und dessen Dissonanzen durch widerständige Aneignung vorführte. Die Darstellung von Exekutionen von Frauen in Filmen der 1930er ist ein Beispiel dieser Strategie. Exekution und Ausstellung wurden unter die betörende Präsenz des Stars subsumiert und verhandelten folglich zwischen der Submission unter das Diktat vom institutionellem Starsystem und populären Vorstellungen von Weiblichkeit sowie der widerständigen Aneignung dieser normierenden Kräfte und dem Diskurs von Gewalt und Krieg. 13 Anat Zanger stellt fest, dass traditionelle weibliche Figurationen durch die filmischen Institutionen durch kontingente Akte figürlicher Wiederholung neu in Kraft gesetzt werden. Diese Akte wollen neuerlich rahmen, was sich nicht rahmen lässt, so wie die wirkkräftige Rolle der Frau. Vgl. Doane 1991, Anm. 1, S. 55ff. und Anat Zanger: Film Remakes as Ritual and Disguise. From Carmen to Ripley, Amsterdam 2006, S. 23-24. 14 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders. : Abhandlungen. Gesammelte Schriften Bd. I, 2, Frankfurt am Main 1991, S. 471-508, hier S. 500. Stars vor dem Erschießungskommando 15 Die nachweisliche Anzahl von Frauen, die während des Ersten Weltkrieges in zeremoniellen Exekutionen hingerichtet wurden, ist eher gering, insbesondere wenn man sie mit der Zahl von Zivilpersonen oder sogar Soldaten vergleicht, die auf Grund von Spionage, Vergeltung, Gehorsamsverweigerung oder Feigheit hingerichtet wurden. 15 Die Deutschen sollen elf, die Franzosen zwischen einer und drei, und die Belgier eine weibliche Spionin erschossen haben. 16 Dennoch lässt der hohe medienübergreifende Ausstellungsgrad, den insbesondere die Hinrichtungen von verdächtigen weiblichen Spionen erlangten, darauf schließen, dass diese Ereignisse einen besonderen Kulturtransfer repräsentieren: Einen Übergang von der Lust an der öffentlichen Schande, wie man sie, mit Burke, in der pädagogischen Grammatik antiker Hinrichtungen feststellen konnte, hin zu einer Privatisierung des Verlangens, der Empathie und der Ablehnung angesichts der in Ungnade gefallenen Frau, übermittelt durch die neuen Künste technischer Reproduzierbarkeit, Fotografie und Film. Nichtsdestoweniger decken sie doch auch eine recht veraltete Revision der von patriarchalischen Genderkonstrukten gekennzeichneten Grammatik des Mitleids und der Sentimentalität auf. Edith Cavell wurde am 11. Oktober 1915 in Belgien von einem deutschen Militärgericht auf Grund des Vorwurfs von Spionage zum Tode verurteilt, nachdem sie zugegeben hatte, französischen und belgischen Soldaten zur Flucht verholfen zu haben. Sie war Oberin der Krankenschwesternschule in Berkendael in Brüssel, wo sie seit einigen Jahren lebte. Das Ausnahmegericht verurteilte sie um sieben Uhr abends am 11. Oktober zum Tode. Bereits um zwei Uhr nachts wurde sie erschossen und in einem anonymen Grab beigesetzt. Das Fehlen jeglicher visueller Dokumentationen dieser Exekution, das regelrechte Regime der Unsichtbarkeit, das diese Erschießung zu verschleiern suchte, wurde durch umfangreiche Veröffentlichungen und exzessive Ausstellungen kompensiert. Memorabilien der Verhandlung und Hinrichtung zirkulierten weiträumig in den Ländern der Alliierten (von Tassen über Postkarten zu Zeitungsillustrationen) und schufen ihre eigenen visuellen Erinnerungen an das Ereignis. 15 In der umfassenden Exekutionsstatistik, die Gründe wie Desertation, Feigkeit, Verrat oder Spionage umfasst, haben während des Ersten Weltkrieges die USA zehn Exekutionen, das UK 346 und Deutschland 48 Todesstrafen durchgeführt, Frankreich 600, Italien 750. Bereits auf dem Schlachtfeld und ohne Gerichtsverhandlung überbot Österreich-Ungarn alle anderen Kriegsteilnehmer mit 737 Todesstrafen. Die Gesamtzahl für die kaiserliche Monarchie ist unbekannt. Vgl. Hirschfeld u.a. 2003, Anm. 10, S. 169. 16 Vgl. ebenda. Isabel Capeloa Gil 16 Abb. 1. Postkarte Laureys - Paris (Frankreich 1915) Worauf es ankam, war nicht so sehr, was sich wahrhaftig ereignet hatte, als die Frage danach, was am ehesten den Geschmack der sympathisierenden Öffentlichkeit treffen konnte. Diese Objekte inszenierten eine performative Authentizität, die sich des sentimentalen melodramatischen Diskurses bediente. So entstanden einige der modernen Legenden, die das Ereignis umgaben, wie etwa die Geschichte, dass die Krankenschwester Cavell die erste Gewehrsalve überlebte und erst durch den Gnadenschuss eines deutschen Offiziers starb. Eine andere Version, die als die Legende vom Gefreiten Rammler bekannt wurde, besagt, dass ein Soldat sich weigerte, auf eine Frau zu schießen und auf der Stelle erschossen wurde. Eine der melodramatischsten Repräsentationen der Exekution war der Film Dawn (1928) von Regisseur Herbert Wilcox, der auf dem Roman von Reginald Berkeley basierte. Diese dramatische Darstellung der Hinrichtung 17 provozierte einen Aufruhr, als der Film im Februar 1928 in die Kinos kam. Das BBFC (British Board of Film Censors) verweigerte die Zertifizierung und die deutsche Botschaft in London übte enormen Druck auf die britische Regierung aus, galt der Film doch als höchst parteiisch und hinderlich für das Gedeihen britisch-deutscher Beziehungen. Der casus belli bezog sich insbesondere auf die letzte Szene und den umstrittenen Gnadenschuss, der dem offiziellen deutschen Report widersprach. In dem späteren Ton-Remake 17 In der Tat wurde dies zu einem wiederkehrenden Thema in Nachkriegsfilmen des ersten Weltkrieges. Einige Beispiele von Refigurationen von Exekutionen von Frauen während Kriegszeiten in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind: John G. Adolfis The Woman the Germans Shot (1918), J. Saerle Dawleys, In the Name of the Prince of Peace (1914), Gabrielle Petit (1928) oder Richard Stantons The Spy (1917). Stars vor dem Erschießungskommando 17 Nurse Edith Cavell von 1939, abermals unter der Regie von Herbert Wilcox, war die Exekutionsszene herausgeschnitten worden. Die Filme weisen noch andere prägnante Unterschiede auf. Die auffälligste Veränderung ist die Neubesetzung und deren Auswirkungen auf die Cavell-Geschichte. Für den ersten Film wählte Wilcox die britische Theaterschauspielerin Sybil Thorndike als Darstellerin einer gutherzigen und heroischen Frau in der Titelrolle. Miss Cavell war 49 Jahre alt, als sie erschossen wurde, und Thorndike überzeugte als sanftmütige ältere Frau, die ihr Leben opferte, um Andere zu retten. Sie hatte jedoch nichts von dem star material und der verführerischen Ausstrahlung, welche die wesentlich jüngere Schauspielerin Anna Neagle der Titelrolle elf Jahre später in der Neuverfilmung verlieh. Tatsächlich brachte Anna Neagle mit ihrer Star-Ausstrahlung unter den Zuschauern jene vier Qualitäten zur Geltung, die Richard Dyer als Komponenten des stardom identifiziert hat. Sie förderte eine emotionale Nähe zwischen den Zuschauern und den dargestellten Ereignissen, ermöglichte Selbst-Identifikation mit dem heiligen Charakter auf der Leinwand und regte Imitation und Projektion an. 18 So lässt sich feststellen, dass die Exekution die richtige Ausstellungsweise, in diesem Fall die durch den richtigen Star-Körper benötigte, um das Ausmaß seiner Ausstellbarkeit zu erhöhen. Diese Zusammenhänge liefern Grund zur Annahme, dass der Film, bekannte Tropen der Cavell-Erzählung aufgreifend, darauf abzielt, Wissen durch Emotion zu vermitteln. Diese melodramatische Strategie veranlasst die Zuschauer dazu, einen in Peter Brooks Worten emotionalen kognitiven Moment zu erleben, 19 einen Augenblick des Wissens wahrzunehmen, der durch affektive sentimentale Identifikation erzeugt wird. Die fiktionale Wiederbelebung der Szene auf der Leinwand zielt viel weniger auf den indexikalischen Wert einer möglichst wahrheitsgetreuen Abbildung ab. Vielmehr projiziert sie ein Todesspektakel, das eine Art fiktionales Paradox im Sinne Noel Carrolls hervorruft: „The mystery of how one can be emotionally moved […] by something you know does not exist”. 20 Tatsächlich weiß der Zuschauer und die Zuschauerin, dass weder der Star, noch das, was er/ sie erblickt, wirklich sind. Zudem ist er/ sie sich ganz offensichtlich der Fiktionalität des Gesehenen bewusst, und entschließt sich dennoch zu einer affektiven Identifikation mit dem Opfer. Auf diese Weise schreibt das fiktionale Paradox dem Ikonischen einen Grad von Erkenntnisgewinn zu, der es den Zuschauern durch das fiktionale Pathos erlaubt, emotionaler und somit überzeugender zu lernen. Tatsächlich wurde das Ereignis von Beginn an in einem theatralischen Kontext präfiguriert und prämediatisiert, der auf Seiten des Publikums tragische Erwartungen weckte und das Juristische mit dem Melodramatischen vermischte. So aktivierte die Entente etwa zeitgenössische Ansichten 18 Richard Dyer: Stars, London 2002, S. 18. 19 Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, New Haven 1975, S. 18. 20 Noël Carroll: The Philosophy of Motion Pictures, Oxford 2008, S. 153. Isabel Capeloa Gil 18 viktorianischer Weiblichkeit in Verbindung mit populären Varianten humanistisch exemplarischer Charaktere und verglich dadurch die falsche Verurteilung einer Frau mit dem Märtyrertum der schönen Seele aus der antiken Tradition. Cavell wurde als Pflegerin refiguriert, deren Taten von einer tieferen Liebe zur Menschheit jenseits politischer Affinitäten motiviert waren. James Beck, früherer Assistent des Attorney General der Vereinigten Staaten, überlagert in einem Artikel, der am 31. Oktober 1915 in the New York Times als Antwort auf Dr. Arthur Zimmermann erschien, die ‚Cavell woman’, wie die Deutschen sie fortdauernd nannten, mit der tragischen griechischen Figur Antigones, wodurch Cavells Taten auf ein moralisch unangreifbares Niveau gehoben wurden: And you women of America? Will you not honor the memory of this martyr of your sex, who for all time will be mourned as was the noblest Greek maiden, Antigone, who also gave her life that her brother might have the rites of sepulture? Will you not carry on in her name and for her memory those sacred ministrations of mercy which were her life work? 21 Die Interpellation des weiblichen Publikums und das Überblenden von Cavells Schicksal mit jenem der Antigone basiert auf einer rhetorischen Strategie des Entleihens und der Kontamination. Es ist jedoch eine Art von großzügiger rhetorischer Anleihe, welche die realen Ereignisse verschleiert. Zielt sie einerseits darauf ab, die Erzählung zu normalisieren und ihre Repräsentation zu kontrollieren, de-realisiert sie das Ereignis andererseits, indem sie es zu einem universalen Sinnbild stilisiert und folglich von dessen historischer Einmaligkeit ablenkt. Gender ist typisiert und Edith Cavell dem vorherrschenden pathetischen Diskurs von moralisch vorbildhafter Weiblichkeit unterjocht. In der Abwesenheit von Bildern wird der Kampf um die Narrative mit einem Kampf um Zeugenschaft vermischt, eine diskursive Entwicklung, zu der die New York Times durch das Zitieren mehrerer, Zeugenstatus beanspruchender, Quellen beitrug. 22 Die deutschen Argumente betonten hingegen die formale Rechtmäßigkeit der Verhandlung, den Nachweis aller Anschuldigungen und die Gleichberechtigung der Geschlechter vor dem Gesetz. Das umstrittene Interview, das Arthur Zimmermann der New York Times am 25. Oktober 1915 gab, ist besonders repräsentativ, sowohl im Hinblick auf Objektivität als rhetorisches Mittel, 23 wie auch für den Einsatz des Geschlechtsarguments als Zeichen deutscher Fortschrittlichkeit in Fragen geschlechtlicher Gleichberechtigung gegenüber der Entente. 21 James M. Beck: „The Case of Edith Cavell. A Response to Dr. Albert Zimermann, Germany’s Undersecretary for Foreign Affairs“. In: The New York Times, Oct. 31, 1915, S. 11. http: / / query.nytimes. com/ mem/ archivefree/ pdf? res=940DE3DF113CE733A25752C3A9669D946496D6CF, 2.1.2009. 22 Vgl. ebenda, S. 7ff. 23 Tatsächlich war das gesamte Argument irreführend. Frauen hatten geringe legale Rechte und das allgemeine Stimmrecht wurde in Deutschland erst 1919 mit dem Weimarer Grundgesetz eingeführt. Stars vor dem Erschießungskommando 19 It was a pity that Miss Cavell had to be executed, but it was necessary. She was judged justly. […] It was undoubtedly a terrible thing that the woman had been executed; but consider what would happen to a State, particularly in war if it left crimes aimed at the safety of its armies to go unpunished because committed by women. No criminal code in the world - least of all the laws of war - makes such a distinction: and the feminine sex has but one preference, according to legal usages, namely, that women in a delicate condition may not be executed. Otherwise man and woman are equal before the law, and only the degree of guilt makes a difference in the sentence for the crime and its consequence. 24 Im Gefecht der Argumente wird die Realität der Exekution dem Spektakel des Diskurses unterworfen. Tatsächlich hängt die Überzeugungskraft der Argumente wesentlich von der Fähigkeit des Publikums ab, sie zu dekodieren. Der Transfer der Geschichte auf die Leinwand lässt alte Wunden neuerlich aufbrechen, erkennen die involvierten Regierungen doch zunehmend die Macht des Filmes als Mittel optischer Überzeugungskraft. 25 Der Kampf um Dawn zeigt, dass die Auseinandersetzungen sich nicht mehr länger um Fragen nach dem „Warum“ drehten, sondern vielmehr das „Wie“ der Darstellungen. Es ging nicht mehr um die ethisch-rechtliche Frage, warum Miss Cavells Hinrichtung falsch war, sondern die rhetorisch-performative Frage, was bei Miss Cavells Exekution nicht stimmig war. 26 Doch spielte nicht allein Film eine Rolle im Kampf um die Repräsentation des Falls Cavell. In dieser Debatte stand ein deutscher Schriftsteller im Zentrum des Interesses. Der deutsche Autor Gottfried Benn, seit den ersten Tagen der Besatzung als Sanitätsoffizier der deutschen Regierung in Brüssel stationiert, war der Amtsarzt der deutschen Armee bei der Exekution und zertifizierte Edith Cavells Tod. Als Reaktion auf die Welle deutscher Proteste, die die Premiere von Dawn in London 1928 (der Film kam niemals in deutsche Kinos) ausgelöst hatte, schrieb er den Artikel „Wie Miss Cavell erschossen wurde - Bericht eines Augenzeugen über die Hinrichtung der englischen Krankenschwester“, der am 23. Februar 1928 als Beilage des 8-Uhr- Abendblatts der Berliner National-Zeitung erschien. 27 Gottfried Benns Ansich- 24 Vgl. New York Times, Anm. 12, S. 2. 25 Unter jenen, die die Darstellung von 1928 ablehnten, waren Sir Austin Chamberlain und die Gräfin von Oxford und Asquith, von der New York Times wie folgt zitiert: “ When the efforts of every civilized nation are being directed toward peace and good will, it can serve no good purpose to revive the ugly memories of war.” 26 Arthur Zimmermann war sich der Rolle, die die Repräsentationen für die öffentliche Meinung spielten, wohl bewusst: „The weakness of our enemies’ arguments”, sagte er, „is proved by the fact that they do not attempt to combat the justice of the sentence, but cry to influence public opinion against us by false reports of the execution. The official report before me shows that it was carried out according to the prescribed forms and that death resulted instantly from the first volley, as certified by the physician present.” (zit. Anm. 12, S. 3.) 27 Nach der Veröffentlichung durch das 8-Uhr-Abendblatt erschien der Artikel in folgender von Friedrich Felger herausgegebenen nationalistischen Essaysammlung: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen, Berlin - Leipzig 1929, S. 113-117. Die Isabel Capeloa Gil 20 ten des Ersten Weltkrieges sind hochkomplex und vermischen die abstrakte Verdammung des Krieges mit einer Unfähigkeit, das Soldatenethos kritisch zu reflektieren. 28 Der stärker pazifistisch und kritisch geprägte Ton früherer Schriften, wie zum Beispiel Fleisch (1917) oder das Stück Etappe (geschrieben 1915, publiziert 1919, niemals aufgeführt) und die Kurzgeschichte Diesterweg (1917, publiziert 1919) sind in der institutionellen Verteidigung deutscher Führung in „Wie Miss Cavell erschossen wurde“ kaum wieder zu entdecken. 29 Trotz kritischer Auseinandersetzungen mit der Sinnlosigkeit der Kriegsgewalt entledigt sich Benn niemals gänzlich seines Soldatenethos, und seine schwache Kritik an der Kriegsführung bewirkt keine Distanzierung gegenüber dem Urerlebnis des Krieges an sich. Seine Sympathie für den Soldaten und den militärischen Ehrenkode kennzeichnen auch Benns Bericht der Cavell-Exekution. Indem er sich auf seine Autorität als Augenzeuge beruft, 30 versucht Benn Darstellungen melodramatischen Märtyrertums zu entkräften. Benns Anspruch auf Objektivität steht jedoch in Widerspruch zu seiner entlastenden Rhetorik, die den Text zu einer apologetischen Deklaration werden lässt. Konzipiert als Antwort auf einen Film, den er nie gesehen hatte und nie sehen würde, ist Benns Essay eine literarische Performanz, die richtig stellen will, was populäre Darstellungen der Exekution laut Benn offensichtlich verfälschten. Mittels eines Objektivitätskodes und einer Besessenheit für Fakten, ein Trend im damaligen Literaturdiskurs, setzt Benn die Maske des Faktografen auf und wird dadurch zum Repräsentanten einer Beweiskultur, die er noch in früheren Schriften stark kritisiert hatte. Er beginnt mit der Einleitung des Ereignisses und stellt sich, den Erzähler, als vertrauenswürdigen Zeugen vor. Immerhin war er amtierender Offiziersarzt, der mehrmals Sammlung hat drei Editionen und wurde 1938 gekürzt und mit einem Vorwort von Hermann Göring versehen. 28 Zu Benns komplexer Position als teilnehmender Zeuge im Ersten Weltkrieg vgl. Hans Egon Holthusen: Gottfried Benn. Leben, Werk, Widerspruch 1886-1922, Stuttgart 1986, S. 125-129; Thomasf. Schneider: Gottfried Benn (1886-1956). Studien zum Werk, Bielefeld 2006, S. 93ff. und Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006, S. 103. 29 Thea von Sternheim nennt in ihrem Tagebucheintrag vom 12.6.1917 seine Grausamkeit eine Art von Falschmeldung (Gottfried Benn u. Thea von Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen, hg. v. Thomas Ehrsam, Berlin 2004, S. 11). Etappe wiederum war dem pazifistischen Aktivismus des Expressionismus und dessen Kriegskritik sehr nah. Es erschien in der von Franz Pfemfert herausgegeben Serie „Der rote Hahn“. Pfemfert war ebenfalls Herausgeber des radikal pazifistischen Journals Aktion (vgl. Schneider 2006, Anm. 28, S. 88-89 u. 104). 30 Benn präsentiert sich als einzigen glaubwürdigen Zeugen. Dies ist eine Fehldarstellung. Institutionelle Zeugen der Exekution waren überdies auch Pastor Le Seur, der Gefängniskaplan in Brüssel und Reverend Stirling Gahan, jener evangelische Geistliche, der Cavell in ihren letzten Momenten vor der Exekution beistand. Stars vor dem Erschießungskommando 21 mit der Verurteilten gesprochen und ihre Hinrichtung durch das Erschießungskommando „mit eigenen Augen“ 31 gesehen hatte. D er objektive Ton des Augenzeugen wandelt sich gegen Ende des Artikels in eine entschuldigende Wiederholung der offiziellen deutschen Berichterstattung. Benn identifiziert sich mit der institutionellen Ordnung, die Cavells Tod verantwortet hatte und wiederholt sowohl thematisch wie auch rhetorisch den geschlechtlichen Gleichberechtigungsdiskurs, den auch Arthur Zimmermann zur Verteidigung der Exekution vorgebracht hatte: „Wie ist die Erschießung von Miss Cavell zu beurteilen? Formell ist sie zu Recht erfolgt. Sie hatte als Mann gehandelt und wurde von uns als Mann bestraft“. 32 So versucht der Essay eine Leiterzählung und eine Bezeugung der deutschen Sichtweise der Affäre Cavell zu bieten, indem er Beweisführung und Authentizität als rhetorische Mittel einsetzt, um eine Gegenerzählung gegenüber jener pathetischen Rhetorik zu bilden, wie sie die populären visuellen Inszenierungen, allen voran Wilcox‚ Film, darboten. Um gegen die Ikonografie des Märtyrertums und den mythischen Status, den Edith Cavell erlangt hatte, anzugehen, 33 betont Benn den einzigartigen und authentischen Status seiner persönlichen Erfahrung. Er gestaltet seine Rolle anhand seiner medizinischen Profession als vertrauenswürdiger, ehrbarer Zeuge und versucht dadurch den Tropus der universalen Schwesternschaft und Humanität zu entkräften, den die Krankenschwester verkörperte. 34 31 Gottfried Benn: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt/ Main 1997, S. 63. 32 Ebenda, S. 68. 33 Ebenda, S. 63. 34 Eine ähnliche rhetorische Selbstinszenierung lässt sich beinahe zwei Jahrzehnte später in Ernst Jüngers Beschreibung einer Exekution eines Deserteurs beobachten, die er miterlebte, während er im Zweiten Weltkrieg in Frankreich stationiert war. Die in Das erste Pariser Tagebuch beschriebene Erfahrung stellt eine Performanz objektiver Distanzierung auf Jüngers Seite dar. Die Bedrohung, die durch die emotionale Identifikation des Zuschauers mit dem Exekutierten für die institutionellen Mächte, die die Szene choreografierten, ausging, ist auch in seiner Beschreibung des Ereignisses deutlich, die er am 29. Mai 1941 in sein Das erste Pariser Tagebuch einträgt (Ernst Jünger: Das Erste Pariser Tagebuch. Sämtliche Werke 2, Stuttgart 2004, S. 244-245). Jünger präsentiert diesen Moment als eine Art ‚ nobody’s shot’ und platziert sich selbst typischerweise als nicht partizipierenden Augenzeugen, selbst-auslöschend in der ästhetisierenden Beschreibung des Todesmomentes. Der Moment der Gefahr wird zu dem post-mortem Moment verlagert und wird determiniert von der Möglichkeit empathischer Identifikation mit dem Toten und der beispielhaften Stilisierung des erschossenen Mannes. Dennoch wurden, wie Helmut Lethen gezeigt hat, kürzlich neue Beweise entdeckt, die zeigen, dass Jünger nicht allein an der Exekution teilgenommen, sondern diese auch organisiert hatte. Das literarische Moment löscht absichtlich die Teilnahme aus, um sie durch eine kritische Position zu ersetzen. (Lethen 2006, zit. Anm. 28, S. 123-125.) Wie er in Annäherungen schreibt, wusste Jünger von Benns Teilnahme als Zeuge der Exekution von Edith Cavell und bezeichnet sie als „Last“, die Benn während des Er- Isabel Capeloa Gil 22 Benns Augenzeugenerzählung wird von seinen zahlreichen Gesprächen mit Fräulein Cavell und der Tatsache gerahmt, dass er sowohl während der Verhandlung wie auch bei der Erschießung anwesend war. 35 Die Bekanntschaft der Verstorbenen unterstreicht Benns Zeugenschaft, begleitet von der Selbstinszenierung einer vermeintlich distanzierten Haltung, die an die Vogelperspektive einer Kamera erinnert und somit Benns aktiver Rolle bei den Vorgängen widerspricht. Tatsächlich offenbart der Bericht eine Kultur der Kälte, die Helmut Lethen als eine besondere Strömung der Weimarer Kultur ausgemacht hat, 36 und die Thea von Sternheim seiner Rolle als Mann der Wissenschaft zuschrieb. 37 So kann argumentiert werden, dass Benn für die deutschen Leser eine Gegenerzählung zum Kernproblem in Wilcox’ Film - die Exekutionsszene am Ende - erschafft. Im Stil eines Drehbuchautors schreibt er das Ereignis um, auf filmische Weise gerahmt. Der Höhepunkt ist der Augenblick des Todes, präsentiert im letzten Akt des Kriegsspektakels: Letzter Akt. Er dauert kaum eine Minute. Die Kompagnie präsentiert, der Kriegsgerichtsrat liest das Todesurteil vor. Der Belgier und die Engländerin bekommen eine weiße Binde über die Augen und die Hände an ihren Pfahl gebunden. Ein Kommando für beide, Feuer aus wenigen Metern Abstand und zwölf Kugeln, die treffen. Beide sind tot. Der Belgier ist umgesunken. Miss Cavell steht aufrecht am sten Weltkrieges zu tragen hatte. (Jünger 2004, S. 280-81) Für eine vergleichende Diskussion der zwei Erschießungen siehe auch: Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 494-496 und Jörg Döring: „Wie Miss Cavell erschossen wurde“ und der „29. Mai 1941“: Gottfried Benn und Ernst Jünger beschreiben eine Hinrichtung. In: Text + Kritik 44 (2006), S. 149-170. 35 Vgl. den englischen Brief, der von A.E. Clark Kennedy in Edith Cavell, Pioneer and Patriot (1965) erwähnt wird. Wahrscheinlich wurde er von Gottfried Benn anlässlich der Veröffentlichung von Dawn an den Herausgeber einer britischen Zeitung geschickt. Er spricht deutlich die Autorität des Zeugen an und zollt dem Charakter der Verstorbenen gleichzeitig eine Hommage: „As Chief Medical Officer to the Government in Brussels I was ordered to be present at the trial and execution of Miss Cavell. I followed the trial from first to last and frequently spoke with her. I certified her death, closed her eyes, and placed her body in the coffin. She was the bravest woman I ever met, and was in every respect the heroine that her nation has made of her. She went to her death with poise and a bearing which is quite impossible to forget. She had, however, acted as a man towards the Germans and deserved to be punished as a man.“ (zit. n. Holthusen 1986, Anm. 28, S. 233.) 36 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/ Main 1994, S. 129. 37 Sternheim, die schon 1917 (Tagebucheintrag, 3.2.1917) direkt von Benn von dessen Teilnahme an den Ereignissen gehört hatte, war angewidert von der kalten Distanzierung und der gemeinen Akzeptanz des tödlichen Schicksals: „Benn narrates the event with the terrifying objectivity of a doctor dissecting a corpse. He finds everything else correct: the events in Louvain, in Dinant, the mistreatment of strikers. […] He says: ‚Isn’t it right to lock up those who want to harm us? ’ Any kind of understanding is hopeless. It is like hitting your head against a wall.“ (Benn/ Sternheim 2004, Anm. 29, S. 10-11.) Stars vor dem Erschießungskommando 23 Pfahl. Ihre Verletzungen betreffen hauptsächlich den Brustkorb, Herz und Lunge, sie ist vollkommen und absolut momentan tot; ganz verkehrt zu sagen, daß sie angeschossen sich gequält habe und durch einen Fangschuß am Boden getötet worden sei. Sie war vielmehr und während des Rufes Feuer sofort und unbezweifelbar tot. 38 Die Darstellung ist nahezu filmisch, eine schnell geschnittene Sequenz, in der kurze Sätze Fakten wiedergeben, nicht Stimmungen oder Impressionen. Die faktografische Rhetorik möchte ins Herz des emotionalen und empathischen Diskurses zielen, verfehlt dieses Ziel jedoch offensichtlich, vermutlich da Faktografie nicht im Stande ist, Zuschauer in das Paradox der Fiktion einzubeziehen. Sie bemüht sich zu informieren, nicht zu berühren, und lässt folglich den Lesern, die bereits an das exzessive melodramatische Narrativ innerhalb des insgesamt hochemotionalen populären Cavell-Diskurs gewöhnt sind, viel Freiraum, um Benns nüchterner Schilderung die Anerkennung zu verweigern. Die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung wird durch eine kurze, augenblickliche, schmerzlose und unabdingbare Darstellung des Todes betont. Doch diese bereinigte Todesperformanz kann es nicht mit der ikonischen Wirkkraft der filmischen Repräsentation aufnehmen. Wilcox’ Neuverfilmung feierte am 22. September 1939 Premiere. In den 30er Jahren hatte sich die politische Situation zwischen den europäischen Mächten hin zu einer offensichtlichen Konfrontation entwickelt. In Hollywood war bereits der Motion Picture Conduct Code, oder Hays Code nach seinem Begründer Will H. Hays benannt, 39 eingeführt worden, was den Mangel an expliziten Bildern in der letzten Szenen erklärt. Im auf Abschreckung ausgerichteten Klima der 30er Jahre stand das National Council for the Prevention of War dem Film dennoch skeptisch gegenüber. Obwohl die Unterschiede im Vergleich zu der augenscheinlicher propagandistisch geprägten Stummfilmvariante von 1928 deutlich waren, schien doch auch das Remake den Deutschen nicht wohlgesonnen. Nurse Edith Cavell ist abermals durch Reginald Berkeleys Roman inspiriert und bezieht sich darüber hinaus auf eine Vielzahl von Augenzeugenberichten der letzten Momente in Cavells Leben. Dabei erzielt der Film seine Wirkung maßgeblich durch die viktorianische Ausstrahlung der Hauptdarstellerin Anna Neagle. Nurse Edith Cavell ist eindeutig ein Frauenfilm, der auf Frauen und deren emotionale Identifikation mit dem heilig erscheinenden Leitbild von Weiblichkeit abzielt. Tatsächlich sind Frauen die Hauptfiguren in diesem Heimatfronttheater, die heldenhafte Erzählung dort aufnehmend, wo die Männer von der Bildfläche verschwunden waren. Ohne jedwede Art von Komplexität oder Ambivalenz sind alle Frauen, die das Fluchtnetzwerk unterstützen, heilig anmutende Referenzfiguren, Großmütter, starke Aristokratinnen oder kluge Geschäftsfrauen. Angesichts dieser Gruppe scheint Anna Neagle/ Edith Cavell nahezu unscheinbar. 38 Benn 1997, Anm. 31, S. 65. 39 Der Kode wurde 1930 eingeführt, aber erst nach 1934 durchgesetzt. Isabel Capeloa Gil 24 Auf der erzählerischen Ebene folgt der Film den strikt epigonalen Konventionen des Melodramas, wie sie von Christine Gledhill strukturiert werden: In der idyllischen Ausgangssituation befinden sich die Charaktere im Zustand unwissender Unschuld. Dieser wird jedoch bald vom Krieg erschüttert, in dessen Gefolge Opfer und Feinde klar gekennzeichnet werden. Der Film konstruiert eine moralische Struktur des Gefühls, welche die Zuschauer dazu verleitet, sich mit dem Opfer/ Hauptfigur zu identifizieren. Der moralische Unterton wird überdies durch das Pathos der Verhandlungssequenz verstärkt. Sie erlaubt einerseits das Übernehmen klassischer Tropen sowie die an James Becks Artikel für die New York Times erinnernde Überblendung von Cavells Charakter mit dem der Antigone. Die Verhandlungssequenz wie auch Cavells Geständnis ihrer Taten stellen eine weitere Inszenierung des Antigone-Tropus dar, in dem die junge, unschuldige Frau vor einem voreingenommenen und ungerechten Kreon Zeugnis ablegt. Auf der anderen Seite wird die Verhandlung zu einer mise-en-abyme für die Verurteilung des Charakters durch das Publikum, eine Strategie, die kennzeichnend ist für die Form des sogenannten Verhandlungsfilms oder Gerichtsdramas. In diesem filmischen Genre oder Stil 40 sind die Zuschauer keine passiven Rezipienten, wie Carol Clover anmerkt, sondern Akteure mit einem Handlungsauftrag. 41 Tatsächlich inszenieren Verhandlungsfilme eine der repräsentativsten Performanzen populärer Demokratie, indem sie die Macht der Gerichtsbarkeit, laut Alexis de Tocqueville eines der prägnantesten Kennzeichen amerikanischer Demokratie, in den Kinosaal transferieren. Die filmische Verhandlung imitiert den gerichtlichen Rahmen, die filmische Ökonomie als jenes Argument einsetzend, über das das Publikum sein Urteil sprechen wird. In Wilcox’ Film leitet diese doppelte Imitation das Publikum/ die Geschworenen dazu an, die Verhandlungsführung als Farce und den deutschen Gerichtshof als pure Parodie von Gerechtigkeit zu entlarven. Nichtsdestoweniger ist dieses Resultat nicht allein auf eine, von der Geschichte enthüllte, ‚materielle Wahrheit’ zurückzuführen, sondern hängt vielmehr stark von zwei weiteren Faktoren ab: Von der melodramatischen Grammatik und dem institutionellen Reiz des Stars. Die Verhandlungssequenz endet mit einer Nahaufnahme von Neagles engelsgleichem, tiefbewegtem Antlitz. Diese Aufnahme, die in der Exekutionsszene wiederholt wird, beleuchtet das Gesicht auf eine Weise, dass es den Anschein hat, als sei es von einem Heiligenschein umgeben, ein beliebtes Mittel filmischer Hervorhebung des Stars im klassischen Hollywoodkino. Durch den Hays Code daran gehindert, eine plastische Todesszene aufzuführen, kreiert der Film Spannung durch die suggestive Beleuchtung von 40 Carol Clover betrachtet den Gerichtsfilm als anerkannte Kategorie, jedoch nicht als Genre (Carol J. Clover: Judging audiences: the case of the trial movie. In: Christine Gledhill u. Linda Williams (Hg.): Reinventing Film Studies, London 2000, S. 244- 264, S. 246.). Für eine Diskussion der Genderproblematiken im filmischen Gerichtssaal siehe Orit Kamir: Framed. Women in Law and Film, Durham 2006, S. 56. 41 Clover 2000, Anm. 40, S. 246. Stars vor dem Erschießungskommando 25 Neagles Gesicht. Die Wiedergabe der Exekution beginnt mit Cavells (Neagles) Abführung aus dem Gefängnis, in dem sie gefangen gehalten wurde. Die Aufnahme, durch das Erschießungskommando gerahmt, fokussiert das Gesicht der Verurteilten. Dieses scheint regelrecht in Licht auszubrechen nach Art klassischer religiöser Gemälde, in denen die zentralen Heiligenfiguren Licht ausstrahlen (Abb. 2). Die Überbelichtung steht in starkem Kontrast zu der Verdunkelung des Gesichts, wenn die Hauptfigur (Cavell) in die Schusslinie platziert wird. Erst unmittelbar bevor das Erschießungskommando seinen Befehl erhält und Cavell von einem sterblichen in ein transzendentales Märtyrertum transfixiert wird, wird sie wieder beleuchtet. Den eintretenden aber unsichtbaren Tod mit sichtbarer Ausstrahlung überblendend, überdeckt die Sequenz die herzerweichende Darstellung der Märtyrerin mit dem Glamour des Stars. Ich stelle die These auf, dass Nurse Edith Cavell, indem es sich einer beliebten Kriegserzählung bedient und in filmischen Konventionen verhandelt, nicht allein einem umstrittenen Ereignis optische Glaubwürdigkeit verleiht, sondern, wichtiger noch, einen Diskurs und institutionellen Rahmen freilegt, der für eine systematischere Diskussion geopferter Weiblichkeit in Exekutionsfilmen der Zwischenkriegszeit steht. Die Zusammenführung der melodramatischen Grammatik mit der technischen Disposition und dem Ausstellungswert des Stargesichts motivieren das Publikum zu einer Empfindung der Empathie, die Benns faktografische Darstellung keineswegs erreichen konnte. Mary Ann Doane macht das Gesicht des Stars als jenen Körperteil aus, der für die Zuschauer am besten zu entziffern ist, 42 ein leiblicher Ort, an dem sich innere Emotionen und öffentliches Posieren auf komplexe Weise vermischen. Aufgrund dieser Beobachtung komme ich zu der Einschätzung, dass in klassischen Hollywoodfilmen, welche Erschießungen von Frauen in Kriegszeiten thematisieren, das Stargesicht die komplexen Schichten mitunter antagonistischer Diskurse des Sichtbaren offenbart. Auf dieser bedeutungsgeladenen, ablesbaren Oberfläche, dem Gesicht als Ort der Begegnung von individueller Befindlichkeit und gesellschaftlicher Öffentlichkeit, wird institutionelles stardom mit Genrekonventionen, Gendergrammatik und soziopolitischen Praktiken verhandelt. Tatsächlich bieten die Nahaufnahmen des anmutigen Gesichts der Frau Im-Inbegriff-des-Sterbens einen ikonischen Ausstellungswert, der die filmische mise-en-scène des Melodramas an sich unterstützt. Ein verherrlichtes Phantom des Visuellen oder ein Zeichen weiblichen Daseins für den Blick des Anderen, wie Mary Ann Doane und Laura Mulvey argumentiert haben, 43 ist das Gesicht auf der Leinwand eine komplex geschichtete Oberfläche, auf der sich verschiedene Diskurse begegnen: Die sentimentale Grammatik des Melodramas, der Warendiskurs Hollywoods, doch auch ein unsichtbarer 42 Vgl. Mary Anne Doane: The Desire to Desire. The Woman’s Film of the 1940’s, Bloomington 1987, S. 59-60. 43 Vgl. Doane 1991, S. 191 und Mulvey 1985, S. 253, beide Anm. 1. Isabel Capeloa Gil 26 Diskurs des Konflikts und des Krieges. Es ließe sich demnach behaupten, dass der tiefgründigere Wert des Gesichts sich aus der Tatsache ergibt, dass es sich um denjenigen Ort handelt, an welchem der Kampf um die Wahrheit ausgetragen wird, wie Giorgio Agamben in seinem Essay „Das Gesicht“ feststellt. Laut Agamben ist das Gesicht gleichzeitig Raum der Offenbarung und Ort der Ausstellung des Warenwertes des Stars. Es ist jener Raum, in welchem das Bestreben der Politik deutlich wird, Leidenschaft für Offenbarung, das heißt für Bedeutung, zu kontrollieren, die für Agamben einzig in der Sprache zu finden ist. In einem auffallend an Adorno erinnernden Argument bildet das Antlitz eine Domäne des Sichtbaren, in welcher der Kampf um Wahrheit und Simulacrum stattfindet und die Sprache zu unterliegen droht. Politics seeks to constitute itself into an autonomous sphere with […] the separation of the face in the world of spectacle - a world in which human communication is being separated from itself. Exposition thus transforms itself into a value that is accumulated in images and in the media […]. 44 Dennoch ist das Gesicht kein unumstrittener Ort, denn es vermittelt zwischen der Emergenz der Wahrheit in Sprache und deren Repression durch das Bild. Der besondere Wert des Gesichts entspringt eben seiner rein auf Gestik ausgerichteten Medialität, den Prozess der Bedeutungserzeugung an sich verdeutlichend. 45 Im Film offenbart das Gesicht durch seine von Gefühlen motivierte Gestik die doppelte Ausstellung - in Bild und Gebärde - einer Art verborgener Wahrheit: The fact that the actors look into the camera means that they show that they are simulating; nevertheless, they paradoxically appear more real precisely to the extent to which they exhibit this falsification. […] the one who looks is confronted with something that concerns unequivocally the essence of the face, the very structure of truth. 46 In seinen vielen Schichten birgt das Gesicht eine doppelte Kodierung. Auf der einen Seite ist es Antlitz (Visage) - ein Gesicht, das auf dem Niveau der Aussetzung verbleibt, pure Visibilität ohne Kommunikationsfähigkeit -, auf der anderen Seite ist es Gesicht, das sein eigenes Sein zu begreifen versucht, 47 indem es Sichtbarkeit als Bedeutung, als Sprache, als Wahrheit begreift. Obwohl Agambens Feststellung Wahrheit als tiefgründige Struktur unter der Oberfläche des Sichtbaren begreift und sie dadurch auf riskante Weise verherrlicht, schlage ich vor, dass die Theorie über den semiotischen Wert des Gesichts, auch jenseits des Diskurses um den Warenwert von Stardom, dabei helfen kann, jene Ambivalenz zu verstehen, die das Gesichts des Stars Im- Inbegriff-des-Sterbens verkörpert. 44 Giorgio Agamben: The Face. In: ders. : Means Without End. Notes on Politics, Minneapolis 2000, S. 91-101, hier S. 94. 45 Ebenda, S. 97. 46 Ebenda, S. 93. 47 Ebenda, S. 91. Stars vor dem Erschießungskommando 27 Abb. 2 Anna Neagle als Nurse Edith Cavell. Herbert Wilcox, Nurse Edith Cavell, 1939, Imperadio Pictures. Nurse Edith Cavell ist sicherlich ein epigonales Beispiel für den Kampf von Repräsentation um Narration, welcher den Kriegsdiskurs mit der filmischen Melo-Grammatik, Hinrichtung mit Aussetzung überblendet. In seiner Naivität wiederholt und re-kodiert der Film einen bestimmten visuellen Exekutionsdiskurs, der bereits in Filmen wie George Fitzmaurices Mata Hari (1931) und Josef Sternbergs Dishonored (1931) präsent ist. Im Rahmen der Ökonomie dieses Rituals von Verschleierung und Rekodierung 48 evoziert Anne Neagles liebliches Gesicht vor dem Erschießungskommando, so die hier vertretene These, die topischen Diskurse der gerechten Hinrichtung der gefallenen und geläuterten Frau, der femme fatale, wie sie bereits Garbos Mata Hari oder Marlene Dietrichs Agentin X-27 auf die Leinwand brachten. Diesen Diskurs reichert Edith Nurse Cavell mit seiner exemplarischen Grammatik des Märtyrer- und Heiligtums an, wodurch der Film trotz eines vermeintlich typisierten Charaktersets Ambivalenz und Flexibilität aufweist. Man könnte also sagen, dass diese Szenen die Präfigurationen ‚stehlen’ und sie rekodieren. George Fitzmaurices Mata Hari mit Greta Garbo und Roman Novarro in den Hauptrollen ist ein Spionagedrama, welches das Schicksal der berüchtigten (wenn auch leider falsch dargestellten) Möchtegern-Spionin Mata Hari, 48 Vgl. Zanger 2006, Anm. 13, S. 15. Isabel Capeloa Gil 28 a.k.a. Margarethea Gertuida van Zeller, behandelt. Der Plot greift einige historische Fakten auf 49 - die Tatsache, dass sie einen russischen Liebhaber hatte, ihre Festnahme im Krankenhaus in Vittel, während sie diesen besuchte, und sicherlich ihre ungeschickte Karriere als Spionin -, doch diese Episoden bieten lediglich einen günstigen strukturellen Rahmen für die Konstruktion des verführerischen, bösartigen und sexuell aktiven Charakters der Tänzerin-Prostituierten-Spionin. 50 Von seiner recht offensichtlichen politischen Parteilichkeit abgesehen, präsentiert er einen eher transgressiven Diskurs hinsichtlich weiblicher sexueller Aktivität und wurde vom Hays Office aufgrund seiner anschaulichen Aufnahmen zensiert. Die meisten Sorgen bereitete Matas anfängliche Tanzszene und die Szene, in der sie den jungen russischen Offizier Rosanoff (Ramon Novarro) verführt. Die schwach beleuchtete Aufnahme rahmt die Liebhaber in der Umarmung, dann schwenkt die Kamera aufwärts zu einer Madonnenlampe, Matas Befehl folgend, der gefügige Soldat solle sie löschen. Das Gestische der einander konfrontierenden, nahezu aufeinanderprallenden Gesichter in der dynamischen Schuss-Gegenschuss-Perspektive inszeniert die Begegnung als antagonistisches Machtspiel. Mata/ Garbo gewinnt die erotisch aufgeladene Auseinandersetzung. Denn das Erlöschen der letzten Lampe wird gleichzeitig zum Signal der gelungenen Seduktion, wenn der junge Soldat sie zum Bett trägt. MGM 51 verringerte die sexuellen Anzüglichkeit der Szene zwar, schnitt sie jedoch nicht völlig heraus. Obgleich Mata Hari schon zu den Post-code Filmen zählte und sich die normative Unterdrückung von transgressiver Leidenschaft bereits abzeichnete, war der Raum für die Darstellung einer alternativen transgressiven Sexualität noch nicht gänzlich gedrosselt. 52 In der Endszene von Mata Hari trägt Garbo nicht mehr ihre exotischen Kleider, sondern eine dunkle nonnenhafte Robe, die jede Kontur des weiblichen Körpers verhüllt und an das düstere Gewand erinnert, das die echte Mata Hari zu ihrer Hinrichtung trug. Das Gewand verdeutlicht die Wand- 49 Mata Haris Geschichte war extrem ergiebig und motivierte verschiedene Verfilmungen. Neben Fitzmaurices Meisterwerk inspirierte die Tänzerin auch Friedrich Fehers Stummfilm Mata Hari (1927), Jean Aurels Over There 1914-1918 (1965), Mata Hari Agent H-21 von Jean-Louis Trintignant (1967) und John Hustons Casino Royale (1967). 50 Der Film basiert auf einer manichäischen Dichotomie zwischen den guten Alliierten und den bösen Zentralmächten und bewirkte, so wie Dawn, Proteste des deutschen Generalkonsuls in San Francisco, Otto von Hentig. Er wurde vom Hays Office gebeten, seine Meinung hinsichtlich des Buchs von Major Thomas Coulson, Mata Hari, abzugeben, das als Grundlage des Skripts fungierte. Hentig wird zitiert, das Buch als ‚ one of the most contemptible pieces of warpropaganda’, die er jemals gelesen hatte, bezeichnet zu haben (Mata Hari AFI database). 51 MGM: die US-amerikanische Filmproduktions- und Filmverleihgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer. 52 Ina Rae Hark (Hg.): American Cinema of the 1930’s. Themes and Variations, New Brunswick 2007, S. 2. Stars vor dem Erschießungskommando 29 lung von der Sex-Ikone zur bekehrten Asketin, die würdevoll ihrem nahen Opfertod entgegen sieht. Der Beleuchtungseffekt eines Heiligenscheins macht Garbos Gesicht zum Schauplatz ihres finalen Kampfes um Wahrheit. Die Läuterung der gefallenen Frau und ihre Schicksalsergebenheit werden hier deutlich. Da die Hinrichtung außerhalb des Dargestellten verbleibt, wird das Gesicht zu dem Ort, an dem Tod und Verlangen - welches, wie wir von Lacan wissen, immer schon ein Indikator des Fehlens sprich des Todes ist - endlich vereinigt werden. Jenseits der Figürlichkeit des Sterbens spricht Roland Barthes dem reizenden Stargesichts in „Das Gesicht der Garbo“ (1957) einen formelhaften Essentialismus zu. Diese Interpretation vermag eine weitere Einsicht in die Verhandlungen von Tod und Ausstrahlung in den (un)sichtbaren Exekutionssequenzen zu bieten: Und doch zeichnet sich in diesem vergöttlichten Gesicht etwas Eindringlicheres als eine Maske ab, etwas wie eine willentliche und also menschliche Beziehung zwischen der Krümmung der Nasenflügel und dem Bogen der Augenbrauen, ein seltener individueller Zusammenhang zwischen zwei Bereichen des Gesichts. Die Maske ist nur eine Addition von Linien, das Gesicht dagegen ist vor allem eine thematische Erinnerung der einen an die anderen. Das Gesicht der Garbo steht für jenen flüchtigen Augenblick, in dem der Film eine existentielle Schönheit aus einer essentiellen Schönheit gewinnt, in dem der Archetypus das Faszinierende vergänglicher Gesichter durchscheinen lässt; in dem die Klarheit des Fleisches einer Lyrik der Frau Platz macht. 53 Barthes’ Interpretation des Gesichts betont dessen Schönheit eher als den Tod, Essenz eher als Konvention. Dennoch scheint Garbos Gesicht in seiner transzendentalen Form keine andere Realität zu haben als seine Perfektion. Wie also kann eine semiotische Negotiation mit Agambens Posieren der Wahrheit unter der Oberfläche des Antlitzes behauptet werden? Das maskenhafte Gesicht der Garbo ist für Barthes ein eindrucksvolles Beispiel der Verhandlung von Starausstrahlung und dessen, was er die Faszination sterblicher Gesichter nennt, und die besonders auffällig in den Nahaufnahmen von Stars Im-Inbegriff-des-Sterbens ist. Somit wird das Gesicht zum Ersatz für die Sichtbarkeit des Todes, beziehungsweise der Exekution. Als solches Surrogat ist es einerseits authentisch, denn es spricht die Sterblichkeit menschlicher Gesichter an, andererseits ist es jedoch konsequent formelhaft. Es ist gerade dieses Formelhafte, das der Fiktion erlaubt, die düstere Suche nach Wahrheit im Tod zu regulieren. Die normative Sichtbarkeit des Stargesichts wird demnach im Zusammenspiel mit dem viktorianischen Pathos des sentimentalen Kodes des Ersten Weltkriegs und dessen traditionellem Diskurs der gefallenen Frau, mit der puren Medialität der filmisch vermittelten Emotionen verhandelt. In dieser Weise eröffnet das Stargesicht tatsächlich einen repräsentativen Raum für den Körper unter der Rhetorik (Hans Bel- 53 Roland Barthes: Das Gesicht der Garbo. In: Ders. : Mythen des Alltags, Frankfurt/ Main 1993, S. 73-75, hier S. 74. Isabel Capeloa Gil 30 ting). Oberflächliche Formel und Wesentlichkeit vermischen sich in der Nahaufnahme zu einer erfolgreichen Rhetorik des Stars Im-Inbegriff-des-Sterbens. Das dritte und letzte Beispiel dieser Rhetorik von Tod und Ausstrahlung ist Josef von Sterbergs Dishonored (1931). Marlene Dietrich spielt Agent X-27, eine namenlose Spionin für die österreichische Regierung, die von ihren Gefühlen irregeleitet wird, einen unaufrichtigen, charmanten russischen Spion entkommen lässt und dafür zu Tode verurteilt wird. Sternbergs Drehbuch offenbart die vielschichtige Komplexität des weiblichen Charakters. Im Gegensatz zu konventionellen Repräsentationen der gefallenen Frau ist die Prostituierte X-27 bereits verlockend, als sie vom Geheimdienst engagiert wird und bleibt es auch bis zum Ende des Filmes. Die Endsequenz, in der die verschleierte Marlene erschossen wird, während sie ihre Seidenstrümpfe zurecht zupft und ihren Lippenstift abtupft, ist ikonografisch für den ambivalenten Status der Frau als Mutter und Prostituierte. Die namenlose, verschleierte Frau, Marlene Dietrichs auserwählte Bekleidung in dieser Szene, offenbart Wahrheit - in der Handlung oder in der visuellen Textur des Films - als ein verstecktes rhetorisches Mittel, um dessen Entdeckung der Zuschauer kämpfen muss, unter der mysteriösen Sichtbarkeit des Spiongesichts. Die ikonische Sichtbarkeit von X-27 ist eine besondere mise-en-abyme, die die Frau als Metapher für die diegetische Suche nach Wahrheit zeigt und gleichzeitig den weiblichen Körper als jenen Ort porträtiert, der die Wahrheit der Geschichte sowohl versteckt als auch offenbart. In Dishonoured ist die Frau Im-Inbegriff-des-Sterbens nicht nur im übertragenen Sinne tot, sondern wird auch sichtbar sterben. Es ist der einzige Film, in dem tatsächlich zwei Mal auf den Star geschossen wird. Trotz des Code Mandats zeigt die Hinrichtung von X-27, verkörpert von Marlene Dietrich, die Gewalt des Todes durch das Exekutionskommando. Wenn hier von einer Linderung der filmischen Gewaltsprache gesprochen werden kann, dann nur im Bezug auf die grässlichen Folgen der Hinrichtung, die nicht mehr gezeigt werden. Die Szene ist inszeniert als pazifistischer Akt mit Bezug auf die Geschichte der Cavell: Der unwillige Soldat, der Priester als widerwilliger Zeuge - eine intertextuelle Referenz zu Pastor Le Seur bei der Cavell-Hinrichtung - und die mitfühlenden Soldaten. Die einzige Veränderung im Bezug zu der Cavell-Geschichte ist die effektive Darstellung der Spionin als einer Frau, die sich ebenso ihres Berufs sowie ihrer Sexualität bewusst war und folglich unbedingt normalisiert werden musste. So lässt sich feststellen, dass der Film damalige zeitgenössische populäre Annahmen über hingerichtete Frauen während der Kriegszeit, im Fall der Cavell, versinnbildlicht, remediatisiert und die Sichtbarkeit zukünftiger Darstellungen während der Code Ära, namentlich Mata Hari und Nurse Edith Cavell, präfiguriert. Diese Annahmen werden mit damaligen Ansichten über die tödliche Dimension der sexuell aktiven verlockenden Frau verhandelt. Marlene bezieht sich sogar auf ihre vorherigen Rollen, auf ihren dort etablierten Beinfetisch, den Sternberg so meisterhaft für X-27s letzte Momente einsetzt. Die Nahaufnahme des Stars kurz vor der Hinrichtung präsentiert ihr Gesicht als eines, das, in Agambens Worten, versucht, sein eigenes ausgestelltes Sein zu Stars vor dem Erschießungskommando 31 begreifen (Abb. 3). Es ist eine komplexe ambivalente Ausstellung, welche Verlockung wie auch Neugierde, Objektifizierung und Ermächtigung verhandelt und auf der Leinwand den totalen, absolut (un)sichtbaren Tod sichtbar macht, aber auch die gewalttätige Authentizität des Todes durch das Erschießungskommando verschleiert. Abb. 3. Marlene Dietrich als X-27/ Maria. Joseph von Sternberg, Dishonored, 1931, Paramount. Wir enden demnach mit dem Tod einer schönen Frau als dem (un)sichtbarsten Thema der Welt. Das verlockende Gesicht von hingerichteten Frauen im Film bietet eine gefährlich ambivalente Botschaft, doch eine, die repräsentativ ist für die Rolle, die die Sichtbarkeit des Melodramas im Diskurs der Moderne gespielt hat. Die melodramatische Grammatik baute einerseits auf einer archaischen Pathosformel des Leidens im Angesicht des Todes auf, das Mitleid im Auge des Betrachters provoziert. Andererseits wurde sie jedoch unterstützt durch die Überblendung der Todesszene durch das Gesicht des Stars Im-Inbegriff-des-Sterbens. Somit beinhaltet Melodrama die Feindlichkeit der Exekutionsszene, und anstatt jegliche pazifistische Botschaft zu offenbaren, verwandelte es Tod in ein modernes Spektakel von Verlangen, worin die Aufnahme als Schuss auf den verlockenden Anderen gilt und dadurch die Zerstörung des Krieges unsichtbar macht. (Ü BERSETZUNG E LISA A NTZ . R EVISION DER A UTORIN .) D ANIEL B ITOUH (W IEN ) Differenz und Interdependenz Zur katachretischen/ katakretischen bzw. dezentrierenden Figur ‚des blonden Negers’ aus Joseph Roths Essay Der blonde Neger Guillaume 1 Vorliegender Beitrag ist Teil meines Dissertationsprojektes, in dem es darum geht, den Afrika- oder Dritte-Welt-Bezug von Joseph Roths Texten zu erschließen - ein bisher wenig beachteter Aspekt in der klassischen Roth- Forschung. Die Kernfrage der Arbeit lautet, wie die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika im Roths Werk thematisiert und dargestellt wird. Eine Frage, die sich in folgende Fragen übersetzen lässt: Was ist Marginalität bei Joseph Roth? Wie kommt die Marginalität von Roths Gestalten zum Vorschein? Inwiefern lässt sich diese Marginalität auf einen globalen Zusammenhang übertragen? Verfolgt wird das Ziel, Roths Texte nach ihrem Afrika-Bezug zu befragen und daraus Roths Einstellung zur europäischen imperialen Bewegung zu erschließen. Es geht überhaupt nicht darum, das Afrikanische im Roths Werk aufzuspüren. Es wird - in Anlehnung an Edward Said - vielmehr davon ausgegangen, dass die imperiale Begegnung zwischen Europa und der weiten Welt eine entscheidende Bewegung in der Gestaltung unserer Welt ist. One of imperialism’s achievements was to bring the world closer together, and although in the process the separation between Europeans and natives was an insidious and fundamentally unjust one, most of us should now regard the historical experience of empire as a common one. 2 Im Mittelpunkt der Arbeit stehen nicht nur jene Romane Joseph Roths 3 , wo Afrika als marginale Spur erscheint und Figuren in unheimlichen Situationen 1 Joseph Roth: Der blonde Neger Guillaume. In: Werke Band I. Das journalistische Werk 1915 - 1923. Hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 1092 - 1093. Im Titel dieses Beitrags ist das Wort ‚Katachrese’ mit dem Buchstaben ‚k’ anstatt mit den rechtschreibungsgemäß korrekten Buchstaben ‚ch’ realisiert. Beide Realisierungsformen sind deswegen beibehalten worden, weil eine gewisse lautliche Interdependenz trotz der orthographischen Differenz besteht. Das Spannende dabei ist, dass die eine Realisierungsform die andere zu dezentrieren scheint. 2 Edward Said: Culture and Imperialism, New York 1993, S. XXIf. 3 Unter anderen Die Rebellion (1924), Die Flucht ohne Ende (1927), Hiob, das Leben eines einfachen Mannes (1930) und Die Legende vom heiligen Trinker (1939). Daniel Bitouh 34 dargestellt werden, sondern auch Joseph Roths essayistische Texte, 4 die ganz explizit die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika thematisieren. Dazu gehört auch der in der Zwischenkriegszeit verfasste Text über den ‚blonden Neger’. Die Zeit unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs war eine Zeit großen Unmuts in der deutschen Öffentlichkeit: Unmut wegen des Versailler Friedenvertrags, Unmut wegen der Besatzung des Rheinlandgebietes durch ‚schwarze/ farbige’ Soldaten aus französischen Kolonien und Unmut wegen der so genannten ‚Rassenvermischung’, die eine Folge der durch den Krieg herbeigeführten kulturellen Grenzverwischung war. Dementsprechend nimmt Joseph Roths katachretische, dezentrierende Figur des blonden Negers eine signifikante Stellung in dieser Darstellung ein. Der Beitrag ist ein Versuch, Differenz und Interdependenz am Beispiel von Joseph Roths Figur des ‚blonden Negers’ sichtbar zu machen. Die Schichten des Textes, die in dieser Darstellung besonders zur Sprache kommen werden, sind die der Antisemitismuskritik, der Verortung, der Dezentrierung und des kolonialen Blickes. In die Beweisführung werden andere Texte und Kontexte dialogisch einbezogen. Der Text Der blonde Neger Guillaume erzählt von einer Figur, deren Vorname bald auf Französisch (Guillaume Tiele), bald auf Deutsch (Wilhelm Tiele) auftaucht, und die als ‚blonder Neger’ konstruiert wird. Er sitzt in einem Zug, der von Wiesbaden nach Koblenz fährt. Im Text wird ein impliziter Dialog zwischen diesem ‚blonden Neger’ und den anderen Zuginsassen - die sich „gute Bürger“ 5 nennen - inszeniert. Dieser vermeintliche Dialog vollzieht sich aber vermittels einer dominanten Erzählerfigur, die sich gern urteilend in der ersten Person ins Zentrum der Erzählung setzt und sowohl die Stimme der ‚guten Bürger’ als auch die ‚des blonden Negers’ vereinnahmt. Sie beschreibt die physische Erscheinung ‚des blonden Negers’ aus der Perspektive der anderen Zuginsassen, wechselt dann und wann zur Perspektive des ‚blonden Negers’ über. Diese Erzählerinstanz stilisiert sich folglich als Meistererzählerin, die mehr als die übrigen Figuren aussagen kann oder will. Aber in dem Willen oder Unwillen, ihr Mehr-Wissen zur Schau zu stellen, vermengt sie unterschiedliche diskursive Bereiche - Literatur, Geschichte, Kulturanthropologie und Geographie -, was zur Unreinheit, Uneinheitlichkeit, zur katachretischen Struktur des Textes beiträgt. Joseph Roths Text befindet sich an der Schnittstelle zwischen Fiktion und Sachlichkeit. 4 „Die Rehabilitierung der Schwarzen“, „Die Schwarzen im Ruhrgebiet“, „Der Schrei des Wilden und des Weißen“ und „Der blonde Neger Guillaume“. Diese Texte sind zwischen 1915 und 1923 bzw. im Zeitalter der europäischen kolonialen Expansion nach Afrika verfasst worden. Sie lassen sich in die vom Ersten Weltkrieg geprägte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einbetten und pointieren die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika auf spezifische Weise. Die Essays befinden sich in: Roth 1989, Anm. 1, S. 558 - 1093. 5 Ebenda S. 1092. Differenz und Interdependenz 35 Und der ‚blonde Neger’ aus Joseph Roths Text steht paradigmatisch für diese Figur der Katachrese. Der Mann hatte aufgeworfene Lippen, schöne weiße Zähne, starke Backenknochen, aber veilchenblaue Augen und blondes gekräuseltes Haar. 6 Ein Neger und blond und blauäugig, aus lauter Gegensätzen zusammengesetzt. Ein politisches, ein ethnologisches Paradox, 7 ein französischer blonder deutscher Schwarzer. 8 Es handelt sich um eine Bildvermengung, um einen Verstoß gegen die Einheit eines Bildes oder eines Textes durch Vermischung von Elementen aus unterschiedlichen Lebens- oder [Fach]bereichen. 9 Die Figur der Katachrese 10 , die schon im Titel Der blonde Neger Guillaume sowie in der physischen Erscheinung der gleichnamigen Figur sichtbar ist, kontaminiert/ durchzieht den ganzen Text. Der Text wirkt also instabil und brüchig. 11 Dennoch geht die Figur der Katachrese, wie sie in diesem Beitrag artikuliert wird, über reine rhetorische Betrachtungen hinaus, um das Leben - „the hybrid moment outside the sentence“ 12 , den Raum der Dialogizität - in den Mittelpunkt zu rücken. In Anlehnung an Gayatri Spivak begreift und beschreibt Homi Bhabha den Raum jenseits des logozentrischen Satzes als „a catachrestic space: words or concepts wrested from their proper meaning, ‚a conceptmetaphor without an adequate referent’ that perverts its embedded context.“ 13 Dieser Raum jenseits des logozentrischen Satzes ist nichts anderes als das Leben, der chaotische soziale Text, in den das Subjekt eingebettet ist. In einen solchen Text sahen sich sowohl Subjekte in Europas afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Kolonialherrschaftsgebieten als auch zentraleuropäische Völker verschlagen. 14 6 Ebenda, S. 1093. 7 Ebenda. 8 Ebenda. 9 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel - Frankfurt/ Main 1995, S. 259f. 10 Aufgrund der scheinbar einander ausschließenden Begriffe `blond´ und `Neger´ könnte auch von Oxymoron die Rede sein, das auch eine Spielart der Katachrese bildet. 11 Diese Instabilität des Erzählens kommt auch in anderen Texten Roths vor. Hingewiesen wird u.a. auf die Romane Die Rebellion (1924) sowie Die Flucht ohne Ende (1927). Und solch eine Instabilität bzw. Brüchigkeit der Erzählung könnte m.E. symbolisch als Antwort auf eine brüchig/ instabil gewordene Erste vs. Dritte Welt- Polarität gesehen werden. 12 Homi K. Bhabha: The location of culture. London-New York 1994, S. 184. 13 Ebenda, S. 183. Vgl. dazu Gayatri Chakravorty Spivak: Poststructuralism, Marginality, Post-coloniality and Value. In: Peter Collier u. Helga Geyer-Ryan (Hg.): Literary Theory Today, Cambridge 1992, S. 225. 14 Hingewiesen wird auf den Dualismus von Pangermanismus und Panslawismus im Europa der Zwischenkriegszeit. Der binnen- und außereuropäische Imperialismus waren herrschaftspolitische Phänomene, die parallel verliefen. Vgl. Hannah Daniel Bitouh 36 Antisemitismuskritik? 15 Die Figur des ‚blonden Negers’ kann auch im Hinblick auf Joseph Roths Kritik am nationalsozialistischen Rassenwahn sowie auf eine Kritik am Antisemitismus gelesen werden. Dabei rückt die Bezeichnung ‚blonder Neger’ jene Kinder aus damals so genannten ‚Mischehen’ sowohl zwischen Juden und Deutschen als auch zwischen Schwarzen und Weißen ins Blickfeld. Kinder, die durch die nationalsozialistischen Nürnberger Rassengesetze kriminalisiert wurden. Jede Kreuzung zweier nicht ganz gleich hoher Wesen gibt als Produkt ein Mittelding zwischen der Höhe der beiden Eltern. Das heißt also: das Junge wird wohl höher stehen als die rassisch niedrigere Hälfte des Elternpaares, allein nicht so hoch wie die höhere. 16 Die geschichtliche Erfahrung bietet hierfür zahllose Belege. Sie zeigt in erschreckender Deutlichkeit, dass bei jeder Blutvermischung des Ariers mit niedrigeren Völkern als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam. Nordamerika, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teile aus germanischen Elementen besteht, die sich nur sehr wenig mit niedrigeren farbigen Völkern vermischten, zeigt eine andere Menschheit und Kultur als Zentral- und Südamerika, in dem die hauptsächlich romanischen Einwanderer sich in manchmal großem Umfange mit den Ureinwohnern vermengt hatten. An diesem einen Beispiel schon vermag man die Wirkung der Rassenvermischung klar und deutlich zu erkennen. 17 Rassenpolitische Passagen aus Adolf Hitlers Mein Kampf bezogen sich nicht nur auf die Juden, sondern auch auf die farbigen Besatzungskinder im besetzten Rheinlandgebiet. 18 Durch die Nürnberger Rassengesetze institutionalisierten die Nazis ihre rassistisch-antisemitische Ideologie auf juristischer Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band II. Imperialismus, Frankfurt/ Main et al. 1958, S. 358f. Vgl. Wolfgang Müller-Funk u. Birgit Wagner: Diskurse des Postkolonialen in Europa. In: Deru. dies. (Hg.): Eigene und andere Fremde. ‚Postkoloniale’ Konflikte im europäischen Kontext, Wien 2005, S. 9 - 27, hier S. 13f. Vgl. Clemens Ruthner: k.(u.) k. postkolonial? Für eine neue Leseart der österreichischen (und benachbarter) Literatur/ en. In: Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener u. Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen - Basel 2002, S. 93-103, S. 98. 15 Die Antisemitismuskritik stellt von den Frühbis zu den Spätwerken einen entscheidenden Faden im Roths Schaffen dar. Vgl. u.a. Katharina Ochse: Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Würzburg 1999, Hansotto Ausserhofer: Joseph Roth und das Judentum. Ein Beitrag zum Verständnis der deutsch-jüdischen Symbiose im zwanzigsten Jahrhundert. Unveröff. Dissertation, Bonn 1970. 16 Adolf Hitler: Mein Kampf (1924). Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, München 1938, S. 312. 17 Ebenda, S. 313. 18 Reiner Pommerin: Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937, Düsseldorf 1979, S. 87. Differenz und Interdependenz 37 Basis. Denn sowohl Kinder aus ‚Mischehen’ als auch Juden existierten in der nationalsozialistischen Rechtsordnung in Form des Ausschlusses. Diese Figur des ‚blonden Negers’ könnte parallel zu Giorgio Agambens Figur des ‚Homo sacer’ gesetzt werden, obwohl sich beide Figuren historisch und soziopolitisch in differenten Räumen abspielen. Unter ‚Homo sacer’ versteht Agamben eine rätselhafte Figur aus dem archaischen römischen Recht, die widersprüchliche Züge trägt. Diese Figur wird für heilig erklärt, aber deren Tötung wird nicht als Mord bestraft, obgleich es nicht erlaubt ist, sie zu opfern. 19 Dementsprechend erscheint Agambens Figur des ‚Homo sacer’ als ein Begriff für „einen schlechten und unreinen Menschen“, 20 der durch die Gesetzordnung in der Gestalt des Ausschlusses eingeschlossen wird. Um den Standort der Figur des ‚Homo sacer’ deutlich zu machen, greift Agamben auf Alain Badious politische Begriffe zurück. Alain Badiou übersetzt die Kategorien Zugehörigkeit, Einschließung und Ausschließung - grundlegende Kategorien der Mengenlehre - in politische Begriffe. Badiou unterscheidet drei Typen von Figuren in der Gesellschaft: Erstens ein normales ‚Glied’, ein Individuum, „das zugleich präsentiert und repräsentiert wird (das heißt dazugehört und eingeschlossen ist)“. 21 Zweitens eine Exkreszenz: „ein Glied, das repräsentiert, aber nicht präsentiert wird (also in eine Situation eingeschlossen jedoch nicht dazugehört)“. 22 Drittens, ein singuläres ‚Glied’: Ein Individuum, „das präsentiert, aber nicht repräsentiert wird“ 23 - dazugehört, ohne eingeschlossen zu sein. Demgemäß nimmt die Figur des ‚Homo sacer’ die Stellung eines singulären Wesens ein. Sie ist „eine Form der Zugehörigkeit ohne Einschließung“, 24 eine unrepräsentierbare, nicht eingeschlossene Figur, die nur in der Form der Ausnahme eingeschlossen wird. Im Hinblick auf Agambens Figur des ‚Homo sacer’ übernimmt Joseph Roths Figur des ‚blonden Negers’ die Züge einer soziopolitischen Kategorie, die in der nationalsozialistischen Rechtsordnung in Form des Ausschlusses eingeschlossen war. Aus der Perspektive der Erzählerfigur aus Joseph Roths Text erscheint die Figur des ‚blonden Negers’ als „ein politisches, ein ethnologisches Paradox“. 25 Und in diesem politisch paradoxen Feld des Ein- und Ausschlusses, wo Agambens Figur des Homo sacer und Joseph Roths Figur des ‚blonden Negers’ aufeinander treffen, artikulieren sich Differenz und Interdependenz. Agamben beschäftigt sich auch mit dem Phänomen des Konzentrationslagers. Das KZ erscheint bei ihm als vielschichtiges, biopolitisches Feld, als Moment der Technologien der Subjektivierung. Kann man auch feststellen, dass es zwar Differenzen zwischen dem KZ-Personal und den KZ-Häftlingen 19 Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ Main 2002, S. 81. 20 Ebenda. 21 Ebenda, S. 34. 22 Ebenda. 23 Ebenda. 24 Ebenda. 25 Roth 1989, Anm. 1, S. 1093. Daniel Bitouh 38 gab, so bestanden doch ebenso Interdependenzen zwischen dem unterdrückenden Personal und den Häftlingen. Diese Interdependenz lag nicht so sehr darin, dass das Lagerpersonal durch die leidenden Häftlingen einen ‚fixen Job’ hatte, sondern darin, dass dieses Personal durch die alltäglichen Lagerbilder, deren Architekten sie auch waren, auf vielfältige Weise gezeichnet wurden. Peter Weiss’ Drama Die Ermittlung ist ein Versuch, die Gerichtsverhandlungen über das Lager zu rekonstruieren. Zeugen und Angeklagte treten mit Reden und Gegenreden auf. Auf die Frage des Richters, ob er sich nicht darum bemüht habe, vom Rampendienst entbunden zu werden, antwortet ein Angeklagter wie folgt: Ich war deshalb beim Standortarzt Dr. Wirth vorstellig Ich bekam nur zur Antwort Der Dienst im Lager ist Frontdienst Jede Verweigerung wird als Fahnenflucht bestraft 26 Die Figur des ‚blonden Negers’ wohnt aber sowohl innerhalb als auch außerhalb des Lagers. Die Bewohner des Lagers (das Personal und die Häftlinge) waren, jeder auf seine Weise, in dieser Technologie der Subjektivierung ein-geschrieben und durch sie be-schrieben. Dies könnte auch am Beispiel des strafenden Offiziers aus Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie veranschaulicht werden. Die tödliche Maschine, unter der ein farbiger Gefangener liegt und die dessen Körper tödlich be-schreibt, be-schreibt auch den Körper des exekutierenden Offiziers. Denn wie lässt es sich sonst erklären, dass sich dieser allmächtige Offizier schlussendlich selbst unter die Todesmaschine legt. 27 In Franz Kafkas Erzählung steht vor allem auch das ‚strafkoloniale’ Zentraleuropa im Visier. Die Figur des blonden Negers gehört zur Kategorie von Figuren, die in der nationalsozialistischen Kulturanthropologie als asozial eingestuft wurden und entsprechend in den Konzentrationslagern landeten. Herkunft und Sprache Die Figur Guillaume/ Wilhelm Tiele als ethnologisches und politisches Paradox zu bezeichnen, wirft implizit die Frage nach deren kultureller Verortung auf. Die Antwort auf diese Frage erfordert, die Genealogie dieser Figur gegen den Strich zu lesen. Sein Vater war ein Fremdenlegionär, seine Mutter eine Schwarze. Vom Vater hat er also das blonde Haar, seine Muttersprache ist Deutsch. Seine Mutter lebte eine Zeitlang in München und war Stenotypistin in einem großen Bankgeschäft. Er blieb 26 Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Mit Beiträgen von Walter Jens und Ernst Schumacher, Frankfurt/ Main 1965, S. 27. 27 Vgl. Franz Kafka: In der Strafkolonie. In: Die Erzählungen und ausgewählte Prosa. Hg. v. Roger Hermes, Frankfurt/ Main 2007. S. 164 - 198, hier S. 193f. Differenz und Interdependenz 39 indessen bei seinen Großeltern. Er ist nicht nur ein Deutscher, er ist ein Süddeutscher. Gelegentlich sagte er ‚nit’. […] Dieser Mann [sein Vater] war in Frankreichs Diensten gestorben. 28 Der Akzent wird auf den Assimilationsgrad der Figur gelegt. Besonders auffallend ist die koloniale Besetzung des Begriffs Muttersprache, der sich fast deckungsgleich im selben Feld mit dem Begriff Mutterland/ Metropole bewegt. Deutsch, die Sprache des Vaters beziehungsweise die Sprache des Herrn, wird als Muttersprache, als die Sprache des Mutterlandes bezeichnet. Dabei wird die Sprache der leiblichen Mutter strukturell verdrängt oder unterdrückt. Hervorgehoben wird vielmehr der Beruf (Stenotypistin in einem großen Bankgeschäft), den sie ausübte, um genau das hervorzukehren, was aus dieser Frau in der ‚Ersten Welt’ geworden ist, was sie in der ‚Dritten Welt’ nicht hätte werden können. Aus welchem Land kommt der Vater? Aus welchem Land die Mutter? Wie ist er der französischen Armee beigetreten? Wie kommt es, dass er deutsche Großeltern hat? Wo ist er auf die Welt gekommen? In einer afrikanischen Kolonie oder in Europa? Die ganze genealogische Darstellung verfängt sich in Widersprüchen und bekräftigt die These einer katachretischen Darstellungsweise. Diese Figur ist nicht eindeutig zu verorten, sie bewohnt einen Nicht-Ort, verkörpert dadurch eine Art Spaltung des Subjekts und bringt jede Vorstellung von Kultur und Identität als „ein vergemeinschaftetes Gut […], das einheitlich und starr in uns als unsere Identität ruht“, 29 aus den Fugen. Guillaume/ Wilhelm Tiele lebt mit einer gespaltenen Identität, zwischen „bios“ (nacktem Leben) und „zoé“ 30 (vergesellschaftetem Wesen). Im impliziten Dialog, der in diesem Text inszeniert wird, besitzt die Figur Guillaume/ Wilhelm Tiele eine Art subalterne Position. Er kommt überhaupt nicht ausdrücklich zu Wort, sondern seine Stimme wird von der transzendentalen Stimme der Erzählerfigur vertreten. Die Figur des ‚blonden Negers’ zu verorten, läuft darauf hinaus, auch die Frage der Sprache aufzugreifen. Welche Sprache spricht diese Figur? Verfügt sie über eine Sprache in ihrem durch Diaspora, Krieg, Migration und Exil geprägten Leben? Was heißt hier überhaupt sprechen? Hier gilt es zu bedenken, wie diese Figur dargestellt wird oder sich selbst inszeniert, und zwar als leeres, unbeschriebenes Blatt, als ein textuelles Niemandsland, wo die imperialen Signifikanten als monologische Instanzen vorherrschen. Die Figur selbst versucht nicht, diese Darstellungsweise bewusst zu subvertieren. Guillaume/ Wilhelm Tiele gibt sich als Goethe-Kenner, als Meister der europäischen Literatur aus. „Unter seinen Kameraden halte er Vorträge. Er lese ihnen manchmal aus Goethe vor. Sein 28 Roth 1989, Anm. 1, S. 1093 (Herv. i. O.). 29 Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin: 2004, S. 16. 30 In Ahnlehnung an die griechische politische Philosophie macht Agamben von den Begriffen ‚bios’ und ‚zoé’ Gebrauch, um die gespaltene Identität der Figur des Homo sacer - zwischen nacktem Leben und vergesellschaftetem Wesen - sichtbar zu machen. Vgl. Agamben 2002, Anm. 19, S. 11-15. Daniel Bitouh 40 Lieblingsdichter ist Lenau.“ 31 Er inszeniert sich als literarischer Lehrmeister und konstruiert dadurch unbewusst Afrika als textuelles Niemandsland. Afrika stellt dennoch auch eine Dimension seines Selbst. Interessant wäre zu fragen, was Deutsch sprechen oder lesen können diesem ‚blonden Neger’ bedeutet. Frantz Fanon - in seinem Schlüsselwerk Schwarze Haut weiße Masken und genauer in dem „Le Noir et le langage“ (Der Schwarze und die Sprache) betitelten Kapitel - spricht Erfahrungen solcher Figuren an. Fanon geht dem Verhältnis des Schwarzen zu der Sprache des Kolonialherrn mit dem erklärten Ziel auf den Grund, die Entfremdung des schwarzen Subjektes aufzudecken 32 . Was heißt für einen Menschen sprechen? Was heißt für einen kolonisierten Schwarzen sprechen? Fanons Antwort lautet: [S]prechen heißt, absolut für den anderen existieren. […] Sprechen heißt imstande sein, sich einer bestimmten Syntax zu bedienen, über die Morphologie dieser oder jener Sprache zu verfügen, vor allem aber, eine Kultur auf sich zu nehmen, die Last einer Zivilisation zu tragen. 33 Fanon verdeutlicht die intersubjektive Dimension der Sprache: Die Sprache verbindet mich mit dem Anderen. Eine Sprache beherrschen bedeutet nicht nur, die Morphologie und die Syntax dieser Sprache zu kennen oder können, sondern vor allem auch, die mit dieser Sprache implizierte Weltanschauung zu besitzen: „Ein Mensch, der die Sprache besitzt, besitzt auch die Welt, die diese Sprache ausdrückt und impliziert.“ 34 Für einen Kolonisierten würde dies bedeuten, die Art und Weise zu internalisieren und hinzunehmen, wie sein Dasein in dieser Sprache artikuliert und konstruiert wird. Am Ausmaß der Beherrschung der Sprache des Kolonialherrn misst der Schwarze (aus den Antillen oder aus Afrika) den Grad seiner Verwandlung in einen ‚Weißen’, in einen „wahren Menschen“ 35 . Trotz der Masken, die sich Guillaume/ Wilhelm Tiele freiwillig oder strukturell aufsetzt, bleibt er in der Schusslinie des kolonialen Blickes. Kolonialer Blick Dieser Blick lässt im Zug eine Art ‚koloniale Geographie’ herrschen. „Es saßen viele gute Bürger im Zug, und in der Ecke am Fenster saß der Neger.“ 36 Auf der einen Seite die ‚guten Bürger’, auf der anderen der ‚blonde Neger’, der in dieser Konstellation als ‚schlechter Bürger´ konstruiert wird. 31 Roth 1989, Anm. 1, S. 1093. Nikolaus Lenau (1802-1850), österreichisch-ungarischer Lyriker der Biedermeier-Epoche, ist als Lyriker des Weltschmerzes in die Weltliteratur eingegangen. 32 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/ Main 1985, S. 30. 33 Ebenda, S. 14. 34 Ebenda. 35 Ebenda, S. 10 oder 15. 36 Roth 1989, Anm. 1, S. 1093. Differenz und Interdependenz 41 Es handelt sich um einen überwachenden und strafenden Blick, der den Körper des Kolonisierten aufbricht, auseinandernimmt: „Der Mann hatte aufgeworfene Lippen, schöne weiße Zähne, starke Backenknochen aber veilchenblaue Augen und blondes gekräuseltes Haar.“ 37 Dieser Blick kann mit einem kollektiven Akt der Entblößung oder der Enteignung gleichgesetzt werden. Frantz Fanon beschreibt diesen Blick in Anlehnung an Jean Paul Sartres Phänomenologie des Angeblicktwerdens. Er schildert u.a. ein Erlebnis, das er selbst gehabt hatte: In der Eisenbahn überließ man mir nicht einen, sondern zwei, drei Plätze. Schon amüsierte ich mich nicht mehr. Ich entdeckte keine fiebernden Koordinaten der Welt. Ich existiere dreifach: ich nahm Platz ein. Ich ging auf den anderen zu …, und der andere verflüchtigte sich, feindselig, aber nicht greifbar, durchsichtig, abwesend. Der Ekel… 38 Eingeschlossen in dieser erdrückenden Objektivität, wandte ich mich flehend an meinen Nächsten. Sein befreiender Blick, an meinem Körper entlanggleitend, der plötzlich keine Unebenheiten mehr hat, gibt mir eine Leichtigkeit zurück, die ich verloren glaubte, gibt mich, indem er mich der Welt entfernt, der Welt zurück. Aber da unten, direkt am Steilhang, strauchle ich, und der andere fixiert mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. Ich wurde zornig, verlangte eine Erklärung … Nichts half. Ich explodierte. Hier die Scherben, von einem anderen Ich aufgelesen. 39 Laut Fanon zählt der koloniale Blick zu den Mechanismen der Entpersönlichung und Degradierung, die das ‚schwarze Objekt/ Subjekt’ um sein psycho-affektives Gleichgewicht bringen. Ein gewaltvoller Blick, der erdrückt und einsperrt, schlägt, peitscht, foltert, desorientiert, ausbootet. Er kann das Subjekt dazu führen, sich selbst zu sabotieren, zu zerstören, zu verachten. Fanon, auf Sartre bezugnehmend, sieht den Schwarzen und den Juden als Leidensgenossen an. „Ich traf mich mit den Juden, Brüdern im Unglück! “ 40 In Übereinstimmung mit Fanons Betrachtungen sieht Homi Bhabha im jüdischen und schwarzen Subjekt Mitglieder der weltweit historisch differierenden ‚Mannschaft der Marginalisierten’: „To be amongst those whose very presence is both ‚overlooked’ - in the double sense of social surveillance and psychic disavowal - and, at the same time, overdetermined - psychically projected, made stereotypical and symptomatic.” 41 Fanon macht aber den grundlegenden Unterschied zwischen dem Juden und dem Schwarzen deutlich. Der Jude kann unbemerkt bleiben. Der Schwarze hingegen ist von vorn herein „von außen determiniert“ 42 . 37 Ebenda. 38 Fanon 1985, Anm. 32, S. 81. 39 Ebenda, S. 79. 40 Ebenda, S. 88. 41 Homi K. Bhabha: The location of culture, London - New York 1994, S. 236. 42 Fanon 1985, Anm. 32, S. 84. Daniel Bitouh 42 Spuren im Joseph Roths Text Der blonde Neger Guillaume verdeutlichen aber die Ambivalenz eines solchen Blickes. Im Text steht folgendes zu lesen: „Er trug eine französische Uniform und las ein Buch. Es war ein deutsches Buch.“ 43 Daraus lässt sich die Spaltung dieses Blickes ablesen: eine Spaltung zwischen Angst, Unruhe und Tod einerseits, Geburt, Freude und Erneuerung andererseits. Der symbolische Tod der Autorität, von dem hier die Rede ist, ist kein vernichtender, sondern ein gebärender Tod. Er kündigt die Geburt einer anderen Weltordnung, einer chronotopischen Ordnung an. Michael Bachtins Denken über den Karneval ist hier heranzuziehen, als ein historisch wichtiges volkstümliches Element europäischer sowie außereuropäischer Kulturen. In seinem Buch Rabelais und seine Welt entwickelt Bachtin u.a. die Vorstellung einer chronotopischen Begegnung mit Bezug auf den Karneval. 44 Chronotopische Begegnung bezeichnet jenen Moment im Karneval, in dem die kulturell konstruierten Grenzen zwischen oben und unten, Zentrum und Peripherie, sakraler und profaner Welt, Erster und Dritter Welt schwammig werden. Das Zugabteil in Joseph Roths Text könnte auch als so ein Raum chronotopischer Begegnungen vorgestellt werden, in dem die Anblickenden (die Erzählerfigur und die anderen Zuginsassen) und der Angeblickte (Guillaume/ Wilhelm Tiele) in einem vielschichtigen, ambivalenten Machtfeld verschlagen sind, wo die scharf gezogenen Grenzen brüchig werden und das koloniale Machtdispositiv (im Zug) symbolisch unterlaufen wird. Bezugnehmend auf diese Gedanken wird in der Folge versucht, die Figur des `blonden Negers´ in einen neuen Zusammenhang zu rücken, in dem sie als Verkörperung einer dezentrierenden Andersheit postuliert wird. Der Migrant Wilhelm Tiele als Verkörperung einer provozierenden / dezentrierenden Andersheit Es ist an dieser Stelle notwendig anzumerken, dass die Figur Wilhelm Tiele mit der Figur des Migranten an sich gleichgesetzt werden könnte. Aber in Abgrenzung von jedem Kult der Figur des Migranten und zwar von jener klassischen, vereinseitigenden Darstellung einer Migrantenfigur, die immer die so genannte Peripherie, die so genannte Dritte Welt zu verlassen hat, um das Zentrum, die so genannte Erste Welt zu bedrohen, ist es sinnvoll (im Sinne eines Um- und Überdenkens) die umgekehrte Bewegung dialogisch zu beleuchten. Dabei schließe ich mich einer der Thesen von Marietta Kesting in diesem Band an, aus der sich dieses Umdenken deutlich herauslesen, heraushören lässt. Aufgrund soziopolitischer Verhältnisse sehen sich Menschen dazu gezwungen, sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen, um nach neuen Perspektiven zu suchen, um Kontakte zu knüpfen usw. In Joseph Roths Roman Die Rebellion z.B. wollen sowohl unversehrte 43 Roth 1989, Anm. 1, S. 1092. 44 Vgl. Michael Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt/ Main 1987, S. 55. Differenz und Interdependenz 43 als auch durch den Krieg invalid gemachte Menschen das als ‚Strafkolonie’ wahrgenommene Europa verlassen. Der einbeinige Kriegsinvalide Andreas Kartak, 45 der inhaftierte Ingenieur Lang, 46 der neue Reiche Willi, 47 alle hegen Auswanderungspläne. Der Roman endet mit dem Tod der Hauptfigur Andreas Pum. Aber man könnte sich durchaus eine Fortsetzung der Handlung des Romans vorstellen, in der diese Figuren in den jeweiligen Empfangsländern beschrieben werden, konfrontiert mit den dortigen Politiken des Ein- und Ausschlusses. Die Spuren einer kolonialen Unruhe sind schon im Titel des Textes Der blonde Neger Guillaume enthalten. Der blonde Neger Guillaume bewegt sich in dem Raum des „almost the same but not quite“, 48 wie er in Homi Bhabhas Mimikry-Konzept als globale Kulturgeschichte des Ein- und Ausschlusses artikuliert wird. Guillaume/ Wilhelm Tiele fällt nicht nur durch seine körperliche Zusammensetzung, sondern vor allem auch durch sein literarisches Wissen auf. Durch seine auffälligen, sprachlichen und literarischen Fähigkeiten erkauft er sich eine Art Bürgerbrief, besser: er lässt sich eine Art Bürgerbrief erteilen. Dies lässt sich aus folgender Aussage der Erzählerfigur schließen, die eine Dimension der Stimme der ‚guten Bürger’ darstellt: Und nach einer Viertelstunde sah ich, daß dieser Neger nicht nur weit mehr wußte als Hitler aus dem Negerstamm der Oberösterreicher, sondern sogar, daß er eine intuitiv tiefere Verbundenheit mit dem deutschen Wesen besaß als zum Beispiel ein Professor von Freytag-Loringhofen oder Röthe; daß dieser Neger Guillaume in der Reinheit seiner Seele weit über der angeblichen Rassenreinheit Dinters stand und daß er der blauen Augen und der blonden Haare gar nicht bedurft hätte, um ein Deutscher zu sein. 49 Bemerkenswert ist der ironisch-kritische Ton der Aussage. Die Beherrschung der deutschen Sprache verleiht diesem ‚blonden Neger’ symbolisches Kapital und symbolische Macht: „[D]er Besitz der Sprache bedeutet ungewöhnliche Macht“ 50 und „Nichts Sensationelles als ein Schwarzer, der sich korrekt ausdrückt, den er nimmt wirklich die weiße Welt auf sich“, 51 beteuert Fanon. Er unterstreicht aber auch, dass ein Schwarzer, der in bestimmten Kreisen oder Konstellationen z.B. Montesquieu zitiert, genauso verdächtig wirke 52 wie ein Jude, der Geld mit vollen Händen ausgebe. Guillaume/ Wilhelm Tiele wird als verdächtige feindliche Figur konstruiert und hingestellt, zumal er der Okkupationsarmee angehört. Und diese Okkupation ist nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Die dezentrierende, irritierende Dimension dieser Fi- 45 Vgl. Joseph Roth: Die Rebellion (1924). In: Werke. Band I. Hg. v. Hermann Kesten, Amsterdam, S. 225 - 313, hier S. 295. 46 Vgl. ebenda, S. 230. 47 Vgl. ebenda. 48 Bhabha 1994, Anm. 41, S. 89. 49 Roth 1989, Anm. 1, S. 1093. 50 Fanon 1985, Anm. 32, S. 15. 51 Ebenda, S. 28. 52 Vgl. ebenda. Daniel Bitouh 44 gur zeigt sich in dem Maße, wie sie die kolonialistisch festgefügten, rassischen Werte und Normen ins Ungleichgewicht bringt. Joseph Roths Text beleuchtet aber nicht nur die Spaltung eines Individuums, sondern vielmehr auch die Differenz- und Interdependenzerfahrung, die Hybridität eines Kollektivums. Schlussbemerkung Der blonde Neger gehört zu jenen Figuren aus Roths Texten, die die Erfahrung des Unheimlichen, die Erfahrung der Spaltung des Selbst (verstanden als die Erfahrung des ‚Dritten Raumes’) durchmachen. Der ‚Dritte Raum’, von dem bei Homi Bhabha leitmotivisch die Rede ist, ist „the experience of a deep crisis within the self. The self caught between to be and not to be, to want and not to want, identity and hybridity.” 53 An der katachretischen Struktur dieses Textes sowie der Figur des blonden Negers lässt sich auch eine der wichtigsten Schichten der Theorie der Hybridität ablesen, nämlich Differenz und Interdependenz. Was sich aus dem komplexen und vielschichtigen Hybriditätskonzept heraushören lässt, ist nicht nur der leitmotivische Hinweis auf kulturelle Differenzen, sondern auch auf die unumgänglichen Interdependenzen. Und diese Interdependenzen zeigen sich nicht nur in dem, was die Menschen teilen oder an dem, woran sie gemeinsam teilhaben, sondern eben in dialogisch-konfliktuellen Momenten, in Momenten der Irritation des Selbst: wenn sich das Subjekt als wesentlich in Abgrenzung vom Anderen konstruiert, dieser hingegen als unwesentlich hingestellt wird; wenn sich das Subjekt setzt, indem es sich entgegensetzt. Diese erwähnten Momente der Irritation des Selbst, die auch produktive Dimensionen beinhalten, stellen Momente dar, in denen der Mensch feststellen und gleichzeitig nicht feststellen kann, dass er auf den Anderen angewiesen, in den Anderen nolens volens deswegen verwoben ist, weil er ohne diesen Anderen nichts über sich selbst aussagen kann, nichts mit sich selbst anfangen kann. 53 Homi K. Bhabha: On cultural Hybridity - Tradition and Translation. Vortrag an der Universität Wien, November 2007. M ARIETTA K ESTING (W IEN / B ERLIN ) Bilder der Migration - Europa und die Anderen Strategische visuelle Repräsentationen Bilder spielen eine entscheidende Rolle dabei, ob und wie wir das komplexe Phänomen Migration wahrnehmen, welches viele ungleiche miteinander verschränkte Prozesse charakterisiert, die sowohl historische, geographische als auch kulturelle Differenzierungen beinhalten und sich in einer Multiplizität von Lebenspraktiken, Gruppenzugehörigkeiten und Alltagsbedingungen äußern. Dieser Beitrag möchte sich aus verschiedenen dokumentarischen Perspektiven dem Spannungsfeld aus photographischen und filmischen Bildern, den darin implizierten Blicken und damit auch den jeweiligen (Kamera-) Einstellungen der BilderproduzentInnen annähern. 1 Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch brachte diesen Zusammenhang auf die griffige Formel „die Einstellung ist die Einstellung“ - das heißt, in der spezifischen Ästhetik eines Bildes wird auch die intentionale Einstellung seiner ProduzentInnen sichtbar. Es geht sowohl um die ‚Einstellung von etwas’, also das Bild, das von jemandem gemacht wird, als auch die ‚Einstellung zu etwas’, also die Haltung, die einem bestimmten Thema gegenüber eingenommen wird. 2 Die meisten Menschen benutzen heutzutage Fotographie bzw. Video, um sich selbst zu betrachten, inszenieren, oder zu dokumentieren. „[W]e grow increasingly reliant on photographs for information about histories and realities that we do not experience directly. But we also create and use photography to see ourselves.“ 3 Die öffentlichen Bilder bestimmter Gruppenzugehörigkeiten werden dabei jedoch ebenso durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse mit konstruiert. Laut Johanna Schaffer naturalisiert die hegemoniale Repräsentationsordnung generell Sichtbarkeit, Evidenz und Wahrheit. 4 Dadurch wird negiert, dass jede Sichtbarkeit Produkt diskursiver 1 Hier werden vornehmlich Blicke und Bilder zwischen Europa und Afrika thematisiert, die sich häufig jedoch auch auf andere Kontexte übertragen lassen. 2 Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt/ Main 1992, S. 9. 3 Coco Fusco: Racial Time, Racial Marks, Racial Metaphers. In: Ders. / Brian Wallis (Hg.): Only Skin Deep. Changing Visions of the American Self, New York 2003, S. 13. 4 Für diesen Begriff vgl. Johanna Schaffer: Die Ambivalenz der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008, S. 53. Marietta Kesting 46 Prozesse ist, es also keineswegs ‚natürlich’ ist, wer gerade in der Öffentlichkeit auf eine bestimmte Art und Weise ‚gesehen’ wird. Judith Butler analysiert im Hinblick auf die Repräsentation von Minderheiten, dass die „Kritik der Gewalt mit der Frage nach der Repräsentierbarkeit des Lebens selbst beginnen muss,“ und sie fragt: „Was lässt ein Leben in seiner Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit sichtbar werden, und was hindert uns daran, andere Leben auf diese Weise zu sehen? “ 5 Butler etabliert die Verbindung zwischen der visuellen Repräsentation einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe und der Art und Weise, wie sie behandelt wird. Noch genauer ließe sich festhalten, dass es immer eine Verbindung zwischen visueller Kultur und Sicherheits- und Überwachungsfragen gibt, da die Anderen immer zuerst über den Sehsinn wahrgenommen werden. Auffallend ist, wie viele dokumentarische Medien sowohl in filmischen Arbeiten als auch im photographischen Bereich in jüngster Zeit Überwachungskamerabilder einsetzen und damit die Zunahme hoch technisierter Videoüberwachungssysteme thematisieren. 6 Das Thema ‚Migration’ wird oft in spezifischen nationalen Medienkontexten verhandelt, vornehmlich in Zeitung, Fernsehen und Onlinepresse. 7 „Eines der zentralen Probleme der Migration ist die ungeheure Diskrepanz zwischen der Diversität und Dynamik ihrer Wirklichkeiten und der simplifizierenden Darstellung.“ 8 Wird die Perspektive der Nation, oder wie im Falle des neuen Europas die Perspektive der ‚Supra-Nation’ eingenommen, werden Menschen, die über die Grenzen kommen, zu MigrantInnen und damit zu Anderen - zu Fremden - und oft zu unerwünschten AusländerInnen, besonders wenn es sich um ‚sichtbar’ Fremde handelt, die durch die sozial konstruierte Kategorie ‚Race’ markiert sind. 9 Häufig werden MigrantInnen sowohl durch juristische Praktiken als auch durch mediale Berichterstattung illegalisiert. 10 In der nationalen Logik gilt es diese fremden 5 Judith Butler: Krieg und Affekt, Zürich - Berlin 2009, S. 36. 6 Diese Entwicklung der zunehmenden Videoüberwachung zeitigt jedoch nicht nur repressive Effekte, sondern ist ein zutiefst ambivalentes Phänomen, siehe z. B. Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. Frankfurt/ Main 2008. Siehe auch die Abbildung aus Little Alien im Abbildungsteil. 7 Aus der Perspektive der MigrantInnen selbst gibt es nur wenige Bilder. 8 Christian Kravagna: News from Elsewhere. Räume der Migration. In: Zeitschrift der Initiative für Minderheiten, Winter 2009, S. 15. 9 Zu meinem Sprachgebrauch möchte ich folgendes anmerken: ich benutze das Wort ‚Race’ immer in Anführungszeichen, um die soziale Konstruktion dieser Kategorie anzuzeigen. Außerdem versuche ich, der Verwendung des scheinbar „generischen Maskulinums“ mit einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch zu begegnen, daher verwende ich Doppelformen, um Personen beiderlei Geschlechts zu berücksichtigen. 10 Hier wird von ‚illegalisierten’ MigrantInnen gesprochen, da der rechtliche Status legal/ illegal niemandem körperlich anhaftet, sondern durch politische Entscheidungen und juristische Akte über Menschen verhängt wird. Vgl. Markus Euskir- Bilder der Migration - Europa und die Anderen 47 Anderen abzuwehren, zu kontrollieren, zu nutzen oder zu integrieren. Egal ob dies „mit emphatischer Zuwendung, ökonomischem Pragmatismus oder rassistischer Ausgrenzung“ 11 einhergeht, eine jede Gemeinschaft braucht den ausgegrenzten Anderen, um sich selbst als Zentrum zu konstruieren und als Einheit zu verstehen. Die Anderen sind damit konstitutiv für einen Begriff vom ‚Eigenen’. 12 Wie Sandro Mezzadra hervorhebt: Seit das Bild Europas und seiner ‚Zivilisation’ ab dem 16. Jahrhundert dadurch Gestalt annahm, dass man ständig Bilder der ‚Barbarei’(und zugleich der ‚Freiheit’) der ‚Wilden’, der Menschen also, die den Raum der europäischen Eroberungen bevölkerten, beschwor, waren diese Bevölkerungen nicht einfach auf ein Außerhalb Europas verwiesen. Sie waren im Gegenteil von Anfang an einbezogen in die theoretische Arbeit und in die praktischen Anstrengungen, den einheitlichen europäischen Raum hervorzubringen […]. 13 In der aktuellen Migrationsdiskussion nimmt laut Thomas Lemke das Bild der Nation als ‚Körper’ mit einem ‚Immunsystem’ eine strategische Stellung ein. Die Metapher des ‚nationalen Körpers’ legt nahe, dass dieser sich gegen ‚Fremdkörper’ wehren müsse: „Während im letzten Jahrzehnt die nationalstaatlichen, geschlechtlichen und ethnischen Grenzen immer ‚offener’ werden, wird die Definition von ‚Toleranzschwellen’, ‚Aufnahmekapazitäten’ und ‚Einwanderungskontrollen’ zunehmend rigider. Scheinbar paradox mündet die Flexibilisierungsforderung in einen wohl vertrauten Reflex: die routinierte Abwehr aller ‚Fremdkörper.’“ 14 Europa hat sich nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und seit der Öffnung nach Osten, die zu der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten 1995, 2004 und 2007 führte, gegen den Rest der Welt, insbesondere gegen Afrika verstärkt abgeschottet. Es ließe sich dennoch annehmen, dass in der heutigen Zeit der globalisierten Arbeits- und Handelsverbindungen Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Religion, Hautfarbe und Geschlecht abnehmen. Christina von Braun weist jedoch darauf hin, dass im „20. Jahrhundert - wo das Schlagwort der ‚Globalisierung’ unterstellt, dass es den ‚Anderen’ außerhalb der eigenen Gemeinschaft gar nicht mehr gibt - sich die[se] internen Ein- und Ausschlusssysteme erweitern.“ 15 Differenzierungen innerhalb von Gesellschaften nehmen folglich zu und erreichen eine neue Qualität. Vielerorts entstehen Bemühungen, nationale chen u. a.: Wie Illegale gemacht werden. Das neue EU Grenzregime. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/ 2009, S. 72 - 80. 11 Marion von Osten u.a. (Hg.): Projekt Migration, Köln 2005. 12 Laut Giorgio Agamben gilt dies auch für westliche Demokratien, vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer, Frankfurt/ Main 2002, S. 20. Vgl. hierzu Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/ Main 1990. 13 Sandro Mezzadra: Bürger und Untertanen. Die postkoloniale Herausforderung der Migration in Europa. In: Sabine Hess u.a. (Hg.): No integration? ! Bielefeld 2009, S. 209-210. 14 Thomas Lemke: Flexibilität. In: Ulrich Bröckling u. a. (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/ Main 2004, S. 87. 15 Christina von Braun: Zum Begriff der Reinheit. In: metis 6/ 1997, S. 24. Marietta Kesting 48 Bevölkerungen zu homogenisieren. Während die innereuropäischen Grenzen also seit 1989 durchlässiger sind, wurden die Außengrenzen verstärkt gesichert, und sogar nach außen projiziert - die EU finanziert u. a. Auffanglanger und Zäune in Marokko und Libyen, oder ein Abschiebegefängnis in der Ukraine. Die aktuelle fremdenfeindliche Grundstimmung innerhalb Deutschlands, Österreichs, Frankreichs, Spaniens und Italiens zeugt ebenso von diesen Abgrenzungsphänomenen. 16 Étienne Balibar spricht von einer „grundlegenden Kluft zwischen solchen Bevölkerungsgruppen, die als ‚Einheimische’ gelten, und solchen, die als ‚Ausländer’ gelten, die andersartig sind, die ‚rassisch’und kulturell stigmatisiert werden.“ 17 Darin erkennt er eine neue Form der ‚Apartheid’, die sich gleichzeitig mit der europäischen Staatsbürgerschaft entwickelt - „[d]iese kaum verhüllte Apartheid betrifft die Bevölkerungsgruppen ‚des Südens’ ebenso wie die ‚aus dem Osten’.“ 18 Konflikte um Sichtbarkeit und Bilderpolitiken verdeutlichen diese Ungleichheiten. Ich möchte einige Fotos in Erinnerung rufen, die bewusst hier nicht abgebildet werden, weil sie längt im kollektiven (Un-)Bewusstsein zirkulieren, und die zeigen, auf welche verschiedenen Arten ‚Migration’ und ‚MigrantInnen’ in Europa visualisiert werden. Diese hegemonialen Bilder bilden den Hintergrund, von dem sich die von mir ausgewählten Dokumentarfilme absetzen, die sich bemühen, differenziertere Bilder zu zeigen, und die im letzten Abschnitt des Beitrags diskutiert werden. Die erste Kategorie sind Pressephotographien: ein ikonisches Foto, das immer wieder erscheint, zeigt Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Immer sind es hauptsächlich ‚schwarze’ Männer und unter Umständen auch einige Frauen, die auf einem viel zu kleinen Boot als gefährliche und gleichzeitig gefährdete, gesichtslose Masse auftauchen. Das überladene Schiff ist ein archaisches, ikonisches Bild und erinnert einerseits an die christliche ‚Arche Noah’, andererseits an eine gespenstische Todesfähre. Das Foto scheint zum Handeln aufzurufen, im Sinne eines Appells zur Rettung Schiffbrüchiger. Vor dem historischen kolonialen Kontext könnte man mit dem Bild ebenso Sklavenschiffe assoziieren, die von Afrika in Richtung neue Welt unterwegs waren und jetzt umgekehrt auf Europa Kurs genommen zu haben scheinen. Gleichzeitig scheint das Bild auf unheimliche Art den Slogan rechter Parteien zu illustrieren, „Das Boot ist voll! “, die damit gegen Zuwanderung Stimmung machen. Es gibt immer nur Fotos dieser Bootsflüchtlinge. Aussagen von ihnen werden in der Zeitung nicht wiedergegeben, noch im Fernsehen live gesendet, somit prägt sich das Bild einer schweigenden, lethargischen Masse ein. Neben diesen photographischen Bildern tauchen Aufnahmen von der heimlichen Landung undokumentierter MigrantInnen auf: zu sehen ist das Meer auf der einen, der Strand auf der anderen Seite, und die MigrantIn- 16 Vgl. u. a. Étienne Balibar: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg 2003. 17 Ebenda, S. 28. 18 Ebenda. Diese neue Ausprägung von ‚Apartheid’ muss freilich von der historischen Form des südafrikanischen Apartheidsystem streng unterschieden werden. Bilder der Migration - Europa und die Anderen 49 nen als verschwommene Figuren im Prozess des an Landgehens. 19 Durch die nicht identifizierbaren Gestalten hat dieses Bild zusätzlich eine Konnotation des Kriminellen. Außerdem weckt es Assoziationen der ‚Welle’, der ‚Flut’ und ähnlichem. Damit scheint es gut zu den sprachlichen Metaphern zu passen, mit denen Migrationsbewegungen nach Europa häufig beschrieben werden: Von ‚Flüchtlingsströmen’ ist da die Rede, die Europa überfallen. Tatsächlich kommen die meisten Flüchtlinge jedoch auf dem Landweg nach Europa, aber solche Bilder scheinen sich medial nicht so gut vermarkten zu lassen. Die zweite Kategorie von Bildern ist die der Kunstphotographien. Bei Bildern professioneller Reportagebzw. KunstphotographInnen steht eindeutig die ästhetische Erfahrung im Vordergrund. Seit den späten 1990er Jahren erscheinen Fotostorys, die eine wahre Odyssee der subsaharischen Migrationsrouten konstruieren. „So geraten die Migranten auf ihrer langen Wanderung nach Europa nicht nur ins Visier von Wärmekameras und Nachtsichtgeräten, sondern werden gleichzeitig zu Objekten eines ästhetisierenden Blicks.“ 20 StarphotographInnen wie Raymond Depardon, Sebastiao Salgado und Sarah Caron veröffentlichten Bücher mit hervorragenden Schwarzweißbildern von den ProtagonistInnen der neuen Süd-Nord- Migration. 21 Das Format entwickelte sich zu Abbildungen des Spektakels der ‚epischen’ Migration, die kaum politische Bedeutung mehr hat, sondern in westlichen Galerieräumen zur Schau gestellt wird. Die MigrantInnen werden hier zu zeitlosen Objekten zwischen Heroisierung und Viktimisierung. Das Phänomen Migration erscheint wie eine Naturkatastrophe, die ohne jegliche politische und historische Zusammenhänge auf einmal hereinbricht. Eine dritte Kategorie der öffentlich sichtbaren Bilder der Anderen stellen die überlebensgroßen Plakate mit Spendenaufrufen dar, sei es für ‚Hilfe in Afrika’, ‚Patenschaften für afrikanische Kinder’ oder ‚Gegen den Hunger’. In dieser Kategorie sind die Bilder von Fremden als Opfer vorherrschend, die sich nicht selber helfen können und dringend der Hilfe eines ‚überlegenen’ westlichen Subjekts bedürfen. Giorgio Agamben sprach in diesem Zusammenhang von einer „Phase der Entfernung zwischen den Menschenrechten und den Bürgerrechten.“ 22 Auf Plakaten beispielsweise der Caritas, von ‚Brot für die Welt’ und ähnlichen Organisa- 19 Vgl. u. a. Stuart Franklin: Spanien, Tarifa. ‚Illegale’ Migranten aus Afrika verlassen ihre Boote. www.magnumphotos. com, 1.8.2009. Dieser Effekt entsteht durch die langen Belichtungszeitungen, freilich ließen sich mit technischen Mitteln auch in der Dämmerung gestochen scharfe Bilder herstellen, so scheint es doch eine ästhetische Wahl des/ r FotografIn zu sein. 20 Tom Holert u. Mark Terkessidis: Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen, Köln 2006, S. 246. 21 Vgl. für Raymond Depardon: http: / / www.magnumphotos. com, 1.8.2009; Sebastiao Salgado: Migrations: Humanity in Transition, New York 2000; Sarah Caron: Odyssée moderne, Paris 2004. 22 Agamben 2002, Anm. 12, S. 20. Marietta Kesting 50 tionen werden Leben präsentiert, die kurz vor dem Tod zu stehen scheinen. 23 Wie Agamben schreibt: „Die ‚flehenden Augen’ des ruandischen Kindes, mit dessen Fotographie man Geld sammeln möchte, das man aber jetzt ‚schwerlich noch lebend antreffen wird’, sind die vielleicht prägnanteste Chiffre des nackten Lebens in unserer Zeit“ 24 . Unabhängig davon, dass Agamben einen klischeebeladenen Bildtypus aufgreift, möchte ich darauf hinweisen, dass dieses „nackte Leben“ häufig als außerhalb der Moderne stehend visualisiert wird. Der Hintergrund der meisten dieser Spendenplakate zeigt diese Kinder fast immer irgendwo ‚im Busch’ in der - vermeintlich primitiven - Natur. Damit wird ein Bild der hilflosen Anderen zementiert und negiert, dass auch Afrika in der Moderne angekommen ist, und längst die meisten Menschen in Städten wohnen. Die Kategorie des Agamben’schen „nackten Lebens“ der Anderen im Gegensatz zu dem ‚normalen’ Leben von ‚uns allen’ in Europa scheint auf den ersten Blick durch diese Bilder bewiesen zu werden. Ich möchte mich jedoch von Agambens Definition des „nackten Lebens“ distanzieren, da ich die Bezeichnung für unzureichend halte. Das Leben vieler Afrikaner- Innen ist zwar gefährdet, aber nicht untätig, sondern dynamisch an den Veränderungen innerhalb ihrer Biographien beteiligt, die immer auch einen Möglichkeitsraum darstellen. Das stereotype, westlich geprägte Bild der „armen AfrikanerInnen“, die in ihrem Elend verharren, muss in Frage gestellt werden, sowohl in der Bilderproduktion als auch in deren Rezeption. Auch wenn ich hier keine umfassende Analyse aller Medienbilder leisten kann, lässt sich feststellen, dass die hegemonialen Bilder die Anderen häufig undifferenziert und stereotyp als Eindringlinge, Opfer oder Kriminelle zeigen. Es fällt ebenso auf, dass in der Berichterstattung und den öffentlichen Bildern nicht zwischen verschiedenen MigrantInnengruppen unterschieden wird, also zwischen Flüchtlingen, politisch Verfolgten und ArbeitsmigrantInnen erster, zweiter oder dritter Generation mit europäischem Pass. 25 Die Anderen werden medial als eine bedrohliche Masse konstruiert, die scheinbar geeint und feindlich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft auftritt. Diese Konstruktion negiert die heterogenen Ansichten und Lebensentwürfe von MigrantInnen. Die Angst vor oder Annahme einer schon erfolgten ‚Überfremdung’ führt immer wieder zu konkreten politischen Interventionen, wie härteren Asylgesetzen und geringerer Aufnahme von Flüchtlingen. 26 23 Vgl. z. B. Abbildungen unter www.caritas. de, 1.10.2009. 24 Agamben 2002, Anm. 12, S. 143. 25 Letztere sind de iure Teil der Mehrheitsbevölkerung, werden de facto aber oft weiterhin auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und anderswo diskriminiert. 26 Siehe u.a. Viele Pflichten, kaum Rechte: Grundwissen für Migranten. In: Der Standard, Wien, 20.1.2010, S. 3. Bilder der Migration - Europa und die Anderen 51 Migration und Tourismus Die Vielfältigkeit von Migrationsbewegungen zwischen Afrika und Europa der letzten zwei Jahrhunderte - oft unter kolonialen Vorzeichen wie die der europäischen SiedlerInnen nach Afrika - wird in der heutigen Migrationsdebatte negiert oder ignoriert. Tatsächlich sind die Staaten der EU seit jeher nicht nur Länder, die Menschen aufnehmen, sondern genauso Länder, deren BewohnerInnen selbst - sei es wegen Katastrophen, Krieg, Arbeit, Liebe oder Abenteuerlust - emigrieren. Diese Tatsache wird im hegemonialen Diskurs selten erwähnt. Aus Deutschland wandern beispielsweise jedes Jahr mindestens 160.000 Personen ins außereuropäische Ausland aus. 27 Von EuropäerInnen wird erwartet, dass sie bei Arbeitslosigkeit EU-weit nach einer neuen Arbeitsstelle suchen und folglich zu ArbeitsmigrantInnen werden: ‚Mobilität’ und ‚Kreativität’ sind zentrale Schlagworte unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Die Anforderungen schwanken somit einerseits zwischen großer Flexibilität für die EuropäerInnen und andererseits dem räumlichen Verbot sich zu bewegen für die Nicht- EuropäerInnen. Bezeichnenderweise gibt es im deutschen Fernsehen bereits mehrere Vorabend-Serien der Genre Reality TV bzw. Doku-Soap, wie zum Beispiel Goodbye Deutschland! Die Auswanderer, Mein neues Leben und Auf und davon. 28 Die einen sehnen sich nach Sonne und Meer, andere sehen in Deutschland keine berufliche Perspektive mehr. ‚Goodbye Deutschland! Die Auswanderer’ begleitet Paare und Familien auf ihrem großen Schritt in ein fremdes Land, das viele nur aus unbeschwerten Urlaubstagen kennen. Die Euphorie ist jedes Mal groß, doch viele der Auswanderer stellen erst vor Ort fest, dass es überall bürokratische Hürden gibt und dass weder Jobs noch Wohnungen nur auf sie warten. Doch unterkriegen lassen kommt nicht in Frage! 29 Die deutschen Auswanderer haben folglich ihr ‚neues Heimatland’ zuerst im Urlaub als TouristInnen kennen gelernt. Die tatsächliche Migration deutscher Familien ins Ausland wird im Fernsehen dann semi-dokumentarisch verfolgt und als Erfolgsgeschichte gefeiert. In der Serie werden sie beispielsweise prominent mit der Flagge der neuen Heimat gezeigt, sie scheinen sie dadurch symbolisch ‚in Besitz zu nehmen’. Man stößt hier auf das Selbstbild der EuropäerInnen als ErobererInnen, fast schon in neo-kolonialer Manier. Umgekehrt ist die Einwanderung von Nicht-EuropäerInnen in die EU noch nicht oder nur sehr selten als Erfolgsgeschichte im Fernsehen vermarktet worden. Selbstverständlich existieren z.B. türkische TV-Sender, wie Düzgün TV oder Kanal Avrupa in Deutschland, die über das Leben der türkischen Community berichten, nur werden diese überhaupt nicht von der deutschen 27 Vgl. Holert/ Terkessidis 2006, Anm. 20. 28 Goodbye Deutschland! Die Auswanderer, TV-Serie Deutschland 2006 VOX; Mein neues Leben,TV-Serie Deutschland, Kabel 1; Auf und davon. Mein Auslandstagebuch TV- Serie, Deutschland 2007. 29 http: / / www.fernsehserien.de/ index.php? serie=10399&seite=9, 12.3.2010. Marietta Kesting 52 Mehrheitsgesellschaft rezipiert. 30 Wie der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor bemerkte: „Politische Fragen werden in der Öffentlichkeit, in Funk, Fernsehen und Presse weiterhin so diskutiert, als gehörten die MigrantInnen nicht selbst zu dieser Öffentlichkeit, als wären nicht auch sie Diskussionspartner. ‚Wir’ sprechen nicht mit ihnen als Unseresgleichen, sondern von ihnen als ‚sie.’“ 31 Außereuropäische ZuwandererInnen lassen sich ihre Bewegung jedoch nicht einfach verbieten. Viele kommen mit einem Touristenvisum nach Europa. An vielen Orten kann es zum Aufeinandertreffen von TouristInnen und MigrantInnen kommen: auf Lampedusa etwa begegnen westliche StrandurlauberInnen entkräfteten Bootsflüchtlingen aus Afrika, die einen sind erwünschte Gäste, die anderen unwillkommene Neuankömmlinge. In Griechenlands Bergen können sich die Pfade von illegalen Grenzüberquerern aus Afghanistan oder dem Irak und westlichen IndividualtouristInnen kreuzen. Diese Begegnungen können flüchtig, humanistisch codiert oder konfliktreich sein. Holert und Terkessidis argumentieren, dass die soziale Rolle ‚TouristIn’ und ‚MigrantIn’ getrennt gehalten werden soll, weil es zu beunruhigend sei, sich einzugestehen, dass die sozialen Räume sich überlappen und ähneln können. 32 Daher gibt es auch selten tatsächliche Solidarität mit den Flüchtlingen bzw. MigrantInnen. Im Gegenteil kam es 2008 und 2009 auf Lampedusa zu Protesten der EinwohnerInnen gegen die afrikanischen Bootsflüchtlinge, woraufhin diese ebenfalls Demonstrationen gegen die Bedingungen in den Auffanglagern veranstalteten. 33 Screening Migration im Dokumentarfilm In mehreren aktuellen Dokumentarfilmen wird die Frage nach den ‚Anderen’ in Europa aufgenommen. Meine Beispiele kommen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, aus Ländern also, die seit der Unterzeichung des Schengen Abkommens nicht an den Grenzen Europas liegen, an Orten also, wo seit der Drittstaatenregelung kaum noch Flüchtlinge Asyl beantragen können, in denen aber dennoch ständig Verschärfungen der Asylgesetze diskutiert werden. 34 Die Filme - Fernand Melgars La Forteresse (CH 2009), Nina Kusturicas Little Alien (A 2009) und Anja Salomonowitz’ Kurz davor ist es passiert (A 2006) - thematisieren einerseits den zunehmenden Festungscharakter Europas und andererseits die prekäre Lebenssituation der migrantischen Subjek- 30 http: / / www.wdr.de/ themen/ politik/ nrw02/ integration/ tuerkische_fernsehsender/ index.jhtml, 12.3.2010. 31 Zit. n. von Osten 2005, Anm. 11, S. 539. 32 Holert/ Terkessidis 2006, Anm. 20, S. 2. 33 Vgl. http: / / de.euronews. net/ 2009/ 01/ 23/ italian-migrant-policy-sparks-protests, 1.8.2010. 34 Vgl. Standard 2010, Anm. 26. Bilder der Migration - Europa und die Anderen 53 te. Die Filme führen dabei notwendigerweise eine ästhetische Dimension ein und laufen immer Gefahr, die Betroffenen - also die illegalisierten MigrantInnen - dem voyeuristischen Blick der Kamera und damit dem der ZuschauerInnen auszusetzen. Im dokumentarischen Film, der immer auch eine politische Agenda hat, stellt sich als zentrale Frage, ob illegalisierte MigrantInnen im Film sichtbar sein können - konkret ihr Gesicht zeigen können, und ob ihre Stimmen gehört werden. In diesem Zusammenhang könnte Emmanuel Lévinas‚ Konzept des ‚Antlitzes’ fruchtbar sein, welches ein schwerwiegendes Verbot gegen den Verfolger kommuniziert: „Ein Gesicht sehen heißt bereits hören: ‚Du sollst nicht töten.’ Und wer ‚Du sollst nicht töten’ hört, der hört: ‚Soziale Gerechtigkeit.’“ 35 Diese hier sehr verkürzt dargestellte Verbindung von ‚Sehen’ und ethischer ‚Einstellung’ erscheint mir für die Analyse der Filme von großer Bedeutung. Es ließe sich daraus für die praktische Filmästhetik der dokumentarischen Arbeit ableiten, dass Empathie effektiv durch die möglichst großformatige Abbildung des Gesichtes zu wecken ist. Wie an den medialen Fotobeispielen problematisiert wurde, besitzen MigrantInnen jedoch oft keine individuelle Sichtbarkeit, und damit häufig einhergehend auch keine Lobby. 36 Sie werden in der Menge oder von hinten gezeigt, ohne Gesicht. Es ist generell schwierig, in Asyllagern Fotographie- oder Drehgenehmigungen zu erhalten, und ich möchte besonders hervorheben, dass zwei der vorgestellten Filme es schafften, Bilder aus den Lagern zu zeigen. Melgars La Forteresse wurde in einem „Asyl-Empfangs-und Verfahrenszentrum“ in Vallorbe in der Schweiz gedreht. Der Regisseur arbeitete zusammen mit seinem Rechtsanwalt über sechs Monate daran, eine Dreherlaubnis zu erhalten und die Drehbedingungen zu klären. Die erste Auflage für den Film war, dass Melgar keine Gesichter der Asylsuchenden zeigen sollte. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, unter diesen Umständen zu filmen, weil es ihm gerade darum ging, diese zu personalisieren und zu humanisieren. Schwarze Balken über den Augen oder verpixelte Gesichter wollte er nicht verwenden, weil das in unserer Repräsentationstradition immer als „das ist ein Krimineller“ gelesen wird. Darüber hinaus scheint die Art und Weise, wie AsylbewerberInnen behandelt werden - in Lager eingesperrt, reglementiert, mehrmals täglich durchsucht - schon nahe zu legen, dass sie ‚kriminell’ seien, das zeigt Melgars Film deutlich, indem er ihren Alltag begleitet. Der Film La Forteresse steht damit in der klassischen Tradition des Autorenkinos und des Cinéma Vérité. Eine heraus stechende Szene von La Forteresse ist der Gottesdienst, den die Asylsuchenden abhalten, und an dem auch der Leiter des Zentrums teilnimmt. In dieser Szene kippt die Machtsituation: die Machtlosen beten nicht für sich selber und ihr eigenes 35 Emmanuel Lévinas: Ethik und Geist. In: Ders. : Schwierige Freiheit: Versuch über das Judentum, Frankfurt/ Main 1992, S. 18. 36 Eine Ausnahme bildet in Frankreich die Bewegung der Sans Papiers, die mitten in Paris jahrelang Demonstrationen abhielt. Marietta Kesting 54 Schicksal, sondern dafür, dass Gott sich des Unrechts in den Schweizer Behörden annimmt. Dem Leiter ist sein Befremden und Nicht-Verstehen der Gottesdienstsituation am Gesicht abzulesen. Er verliert seine Contenance und Überlegenheit, die er während der restlichen Zeit innehat. An anderen Szenen, in denen weinende Flüchtlinge traumatische Erlebnisse berichten und Beamte ihnen ausdruckslos zuhören, ließe sich jedoch kritisieren, dass der Film Stereotype perpetuiert, und die hier präsentierte Aufklärungsintention - im Stil des Cinéma Vérité - an ihre Grenzen gerät. Die Dokumentarfilmregisseurin Nina Kusturica erhielt bei den Dreharbeiten zu Little Alien in dem Asyllager Traiskirchen in Österreich ebenso die Auflage, keine Menschen zu zeigen. Es wurde argumentiert, dass AsylbewerberInnen die Filmaufnahmen, die sie selbst in Traiskirchen zeigen, als Beweismittel verwenden könnten, dass sie schon mal in Österreich waren. 37 Sie umging dieses Verbot, indem sie in Traiskirchen einen leeren Raum filmte, und die AsylbewerberInnen im Blue-Screen-Verfahren nachträglich in diesen Hintergrund hineinsetzte. 38 Little Alien wurde jedoch nicht nur in Traiskirchen und Umgebung gedreht, sondern an vielen Orten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der neuen europäischen Grenzen. Es gibt Szenen in Tangier, der Ukraine, am Mittelmeer sowie in Griechenland. Der Fokus liegt jedoch auf dem Großraum Wien und den Unterkünften der minderjährigen Flüchtlinge, die geduldet sind, aber noch keine Aufenthaltserlaubnis haben. Die Kamera bleibt nah an den ProtagonistInnen, ebenso wie in La Forteresse dominieren Großeinstellungen der Gesichter viele Szenen und wecken Empathie. Positiv ist dabei, dass der Film dennoch nicht ins ‚Betroffenheitskino’ abgleitet. Die Jugendlichen behalten ihre Würde und geben außer in Andeutungen: „Was ist das? “ „Eine Schussnarbe.“ 39 ihre persönlichen Geschichten - anders als in La Forteresse - nicht preis und werden nicht als Opfer gezeigt. Stattdessen werden die Strukturen und das Procedere des Asylverfahrens detailliert porträtiert und oftmals das Versagen der Behörden aufgezeigt. Dass in Little Alien ausschließlich jugendliche Flüchtlinge gezeigt werden, mag es möglicherweise den ZuschauerInnen generell leichter machen, mit 37 Hier stößt man wieder auf die polizeiliche Funktion photographischer Bilder als Beweismittel. Für eine genauere Diskussion dieses Aspekts, vgl. u.a. Tom Holert: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 245ff. und Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung, Frankfurt/ Main 2008. 38 Das Blue Screen Verfahren ist eine farbbasierte Bildfreistellung in der Filmbzw. Fernsehtechnik, die es ermöglicht, Gegenstände oder Personen nachträglich vor einen Hintergrund zu setzen, welcher entweder eine reale Filmaufnahme (z.B. Landschaft) oder eine Computergraphik enthalten kann. Was es für die dokumentarische Praxis und das mit ihr verbundene ‚Authentizitätsversprechen’ bedeutet, wenn die Realität nicht ‚einfach’ gezeigt werden kann, sondern nachgestellt werden muss, eröffnet eine spannende Diskussion, die hier aus Platzgründen nicht erörtert werden kann. 39 Dialog zwischen Nura und ihrer Bekannten in Little Alien. Bilder der Migration - Europa und die Anderen 55 ihnen zu sympathisieren, sich mit ProtagonistInnen zu identifizieren. Problematisch ist jedoch, dass zu viele verschiedene Schicksale kurz angedeutet werden, die alle bis auf wenige Ausnahmen positiv für die minderjährigen Flüchtlinge auszugehen scheinen. Dies entspricht nicht der Realität der Asylrechtsprechung in Österreich. Insbesondere wenn die Flüchtlinge volljährig geworden sind, verlieren viele ihren Aufenthaltsstatus wieder und werden schnellstmöglich und gegen ihren Willen abgeschoben. 40 Das letzte Dokumentarfilmbeispiel ist Anja Salomonowitz’ Kurz davor ist es passiert. Dieser Film stellt sowohl ein formales als auch stilistisches Experiment dar, es ist keine ‚klassische’ Dokumentation sondern eine neue Art von hybrider Doku-Konstruktion. In dem Film werden Texte, die reale Erlebnisse mit Entrechtung, Gewalt, Prostitution und Unterdrückung von migrantischen Frauen erzählen, von ÖsterreicherInnen gesprochen, die selber wiederum keine SchauspielerInnen sind, sondern reale Personen, die etwas mit den erzählten Geschichten zu tun haben könnten, wie z.B. ein Zöllner, eine Nachbarin, ein Puffkellner, eine Honorarkonsulin und ein Taxifahrer. Alle Personen kommen aus der österreichischen Mehrheitsgesellschaft und sind nicht durch ihre Stimme und den Akzent sofort als ‚AusländerIn’ stigmatisiert. Es entsteht damit eine Art avanciertes Re-Enactement, eine erweiterte Zeugenschaft. Dadurch entfällt der voyeuristische Blick der ZuschauerInnen, man kann sich kein Bild von der Person machen, sondern muss sich ganz mit dem Ereignis, mit der Erzählung auseinandersetzen. In der Anfangsszene wird die Grenze zu Österreich visualisiert, und gleichzeitig zeigt schon der Titel des Films, dass man nicht genau weiß, wo die Grenze verläuft und wo genau die Unterdrückung der Frauen ihren Anfang genommen haben mag. Anja Salomonowitz beschrieb ihre Absicht folgendermaßen: Der Clou, den wir gerne schaffen wollten, war, dass man/ frau das Gefühl hat, zwei Filme gleichzeitig zu sehen. Da gibt es den Film auf der Leinwand, das Leben einer Person, die real und in ihrem Alltag ist, und vor der Leinwand oder in deinem Kopf ist dann eine andere Geschichte, die du dir nur vorstellst […]. Miteinander ergibt das natürlich auch etwas Drittes. Und was ich noch sagen möchte, ist, dass es ganz stark auch um ‚Unsichtbarkeit’geht, die dadurch entsteht, dass ihnen das Recht auf Legalisierung verweigert wird, also dadurch, dass sie keine Rechte haben und sich überhaupt nicht wehren können und damit erst erpressbar sind. 41 Dieser im Film gleichzeitig ablaufende Meta-Diskurs ist eine erfolgreiche Strategie, den Blick nach ‚innen’ zu richten und Zuschreibungen zu vermeiden. Wie Hito Steyerl analysiert hat, können sich ZuschauerInnen zumeist als überlegen gegenüber den abgebildeten Personen wahrnehmen. 42 Dieser Akt der Selbstermächtigung wird in Salomonowitz’ Film erfolgreich unter- 40 Information der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung Wien. http: / / www.deserteursberatung.at, 1.10.2010. 41 http: / / www.anjasalomonowitz.com, 1.3.2010, zitiert aus: Interview mit Andreas Filipovic, Unique Wien. 42 Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008, S. 17-24. Marietta Kesting 56 bunden. Ebenso werden die Geschlechterordnung und die damit einhergehenden Machtverhältnisse markiert und teilweise umgekehrt. In einer der eindringlichsten Szenen erzählt der Zöllner eine Vergewaltigungsszene aus der Perspektive der Frau in Ich-Form. Indem er das Authentische auslagert und ins ‚innere’ Kino führt, wendet dieser Film durch den Grad der Abstraktion eine sehr innovative Strategie der Ethik des Dokumentarischen bezüglich der Repräsentation Anderer an. Ausblick „No imagination helps avert destitution in reality, none can oppose oppressions or sustain those who ‚withstand’ in body or spirit. But imagination changes mentalities, however slowly it may go about this.“ 43 Édouard Glissant beschreibt treffend die ambivalente Rolle der Imagination, die ich mit der Praxis des „ins Bild Setzens“ verbinden möchte. 44 Während einerseits die Wichtigkeit der Produktion ‚counter-hegemonialer’ Bilder der Anderen weiterhin bedeutsam erscheint, bleibt die Frage bestehen, ob es in der direkten visuellen Wiedergabe besonders in der Fotographie etwas jenseits des Voyeurismus und der Viktimisierung gibt. Die hier diskutierten Filme eröffnen jedoch - mal mehr, mal weniger erfolgreich - neue Perspektiven der Anderen. „Das spezifische Potential künstlerischer Äußerungen besteht vor allem in der Differenzierung, Vervielfältigung und Verkomplizierung von Bildern der Migration, die in den Darstellungen, die der vorherrschende Kulturbegriff (und selbst manche Politkunst) produziert, einer extremen Verengung unterliegen.“ 45 Ein bedeutsamer Prozess ist die Öffnung des visuellen Feldes. Ebenso sollte erinnert werden, dass es dort auch noch andere Strategien gibt, gegen stereotype Darstellungen zu kämpfen, wie die Kunst der ironischen Übertreibung oder Überaffirmation, wie sie etwa im Melodrama eingesetzt wurde, die teilweise für ein spezifisches Empowerment durch die Neubesetzung von Bildern standen. 46 Gerade die avancierten experimentellen Formate des dokumentarischen Arbeitens zeichnen sich aktuell wiederum durch die Tendenz zur Konstruktion und den Einsatz auch nicht-dokumentarischer Mittel aus. 43 Édouard Glissant: Poetics of Relation, Ann Arbor 1997, S. 183. 44 Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/ Main 1984. 45 Kravagna 2009, Anm. 8, S. 15. 46 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004. Bilder der Migration - Europa und die Anderen 57 Abbildungen: La Forteresse Alle Rechte: Look Now Filmverleih Zürich Little Alien Bildnachweis Little Alien: Alle Rechte: Mobilefilm Filmproduktion. http: / / www.littlealien.at/ downloads01.html, 1.3.2010 Marietta Kesting 58 Kurz davor ist es passiert Bildnachweis Kurz davor ist es passiert: Alle Rechte: Amour Fou und Lukas Beck. http: / / www.amourfou.at, 1.3.2010. M ARTA W IMMER (P OZNAN / W IEN ) „Egal, wo ich hingehe, bin ich zuhaus. Egal, wo ich ankomme, bin ich ein Gast […].“ Von der Erfahrung des Andersseins im Werk von Dimitré Dinev, Radek Knapp und Vladimir Vertlib Was ist zum Beispiel ein Fremder? […] Ein Fremder wird hier durch Gesetze gemacht. Es gibt Fremdengesetze. Ob ich mich fremd fühle, fragt mich keiner. An der Grenze fragt mich keiner: Fühlst du dich in Österreich zuhause. Die Zöllner wollen meinen Pass sehen. Dimitré Dinev Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben anhaltende Migrationsbewegungen in den Aufnahmeländern Westeuropas eine sprachlich-kulturelle Heterogenität nach sich gezogen. 1 Jedoch erst der Fall des Eisernen Vorhangs und der damit einhergehende Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus hatten zur Folge, dass die frühen 1990er Jahre als der Beginn einer neuen historischen Ära verstanden wurden. Die Öffnung geographischer Grenzen ging aber nicht notgedrungen mit der Auflösung der Barrieren in den menschlichen Köpfen einher. Jeder Wechsel des Wohnsitzes, sei er permanent oder nur semipermanent, zieht einen Wechsel der Gruppenzugehörigkeit nach sich. Es mag zwar banal klingen, ist aber eine immer wieder außer Acht gelassene Wahrheit, dass sich Menschen und Gesellschaften durch Migration verändern. Wanderungen bedeuten gravierende soziale Einschnitte, sowohl für das betroffene Individuum, dessen Orientierungen, Verhaltensweisen und soziale Kontexte sich ändern, sowie für die betroffene Gruppe, auf die der Wandernde bei der Ankunft stößt. Angesichts der globalen Migrationserfahrungen haben sich auch die gängigen Vorstellungen von nationalen Literaturen verändert und werden sich noch weiter verändern. Seit einigen Jahren wird die österreichische Literatur durch neue Autoren mit Migrationshintergrund verschiedenster Länder bereichert, für die der Begriff Heimat schwer zu definieren ist. Im Gefolge der kulturellen Wende und der crosskulturellen Begegnungen wird Literatur als ein Medium begriffen, in dem sich symbolische Formen einer Gesellschaft, einer Kultur zu erkennen geben. Zieht man die traditionelle Begrifflichkeit heran, geraten Autoren wie Dimitré Dinev, Radek Knapp und 1 Vgl. Ruth Wodak, Rudolf de Cillia u. Martin Reisigl: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt/ Main 1998, S. 19. Marta Wimmer 60 Vladimir Vertlib, deren Texte in diesem Beitrag anvisiert werden, an den Rand der österreichischen Literatur. Im Hinblick darauf scheint die herkömmliche Kategorisierung der Literatur in Weltbzw. Nationalliteraturen problematisch, wenn nicht obsolet zu sein. Der in diesem Kontext meist verwendete Begriff der Migrantenbzw. Migrationsliteratur bleibt nicht unumstritten, da er Ausgrenzung oder Ausschließung impliziert. Viele Autoren wehren sich gegen die Schublade ‚Migrationsliteratur’ und wollen als Autoren der österreichischen Literaturlandschaft anerkannt werden. Diese Art von Literatur bedeutet schließlich nicht nur eine Bereicherung für den deutschsprachigen Literaturbetrieb, sondern sie stellt einen Normalzustand her, da sich in ihr auch die aktuelle gesellschaftliche Lage widerspiegelt. Bei der Thematisierung der interkulturellen Literatur, ist es ausgesprochen schwierig, sie der political correctness entsprechend zu behandeln: die Gefahr der Stereotypisierung beginnt nämlich bereits dann, wenn man die Werke dieser Autoren als etwas Einzigartiges oder Besonderes hinstellt. Zwar gehört die Literatur ausländischer Autoren zu keiner der bereits bestehenden Nationalliteraturen im deutschsprachigen Raum, da sie auf einem Territorium entsteht, das ihr nicht gehört. Die Kategorie der Nationalliteratur scheint aber bereits in sich problematisch zu sein, wenn man bedenkt, dass in der Konstruktion homogener Kulturen crosskulturelle Begegnungen gar nicht möglich sind. Den Schwerpunkt meiner Überlegungen bildet die Problematik des Ausländers als des Anderen, allerdings aus der Perspektive von Autoren heteronationaler Herkunft, die selbst, aus der Perspektive der Inländer gedacht, die Anderen sind, weil sie einer anderen Kultur angehören. Die Definition des Wandernden, des Fremden, des Anderen ist dabei nicht ganz unproblematisch. Im Wandernden treffen zwei Gesellschaften aufeinander, einerseits die Herkunfts-, andererseits die Aufnahmegesellschaft. Sogar die Redewendung vom Wanderer zwischen den Welten 2 deutet auf die Unsicherheit hin, die bei der Zuordnung des Wandernden entsteht - und zwar nicht nur bei der Zuordnung durch den Wandernden selbst, sondern auch durch seine neue Umgebung. Auch die Terminologie bereitet Schwierigkeiten, da der Fremde und der Andere nicht unbedingt zusammenfallen. Julia Kristeva verwendet in ihrem von der Lacanschen Psychoanalyse beeinflussten Werk den Begriff des „Fremden“, denkt aber ganz klar an den Ausländer, an jemanden, der aus einer fremden Kultur kommt und definiert ihn folgendermaßen: Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt. Er ist weder die kommende Offenbarung noch der direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden. Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite 2 Diese Redewendung geht auf das 1917 erschienene Buch von Walter Flex - Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis - zurück. 1939 betrug die Auflage mehr als eine halbe Million. Von der Erfahrung des Andersseins 61 unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen. 3 Die ständig präsente Frage nach der Gruppenzugehörigkeit hat sowohl bei der Selbstals auch bei der Fremdeinschätzung von Zugewanderten einen hohen Stellenwert. Relevant in diesem Zusammenhang erscheint die Frage, was über die Zugehörigkeit beziehungsweise das Ausgeschlossensein des Zugewanderten entscheidet. Unterscheiden sich die Selbst- und Fremdeinschätzung, die Selbst- und Fremdzuordnung? Das Problem der Zugehörigkeit umfasst dabei ganz unterschiedliche Aspekte: das subjektive Gefühl des Deplatziert- und Dissoziiertseins sowie die Reflexion der eigenen (Doppel-)Identität und deren Wahrnehmung. Die Krise der Identität, die als eines der zentralen Themen der Migrationsliteratur gilt, soll als Teil eines umfassenden Wandlungsprozesses gesehen werden, „der die zentralen Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften verschiebt und Netzwerke unterminiert, die den Individuen in der sozialen Welt eine stabile Verankerung gaben.“ 4 So betrachtet, wird das Subjekt zum „aktiven Gestalter seiner Biographie“ 5 und die Identität zu einem Projekt. Es wird davon ausgegangen, dass das Subjekt um Kohärenz und Kontinuität bemüht ist, beides aber keine Selbstverständlichkeit mehr ist, weder bei der Selbstnoch bei der Fremdwahrnehmung. 6 Durch die Transformationsprozesse, die in den modernen Gesellschaften im späten zwanzigsten Jahrhundert stattgefunden haben, wurde auch die kulturelle Landschaft von Nationalität, Ethnizität, Klasse, Rasse, Geschlecht und Sexualität, in der jeder als gesellschaftliches Individuum verortet ist, fragmentiert. Diese Transformationen trugen auch zur Zerstreuung des Subjekts, oder anders gesagt zum Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung und zur Spaltung unserer persönlichen Identität bei. 7 Die Problematik des Anderen kommt in den einzelnen hier untersuchten Texten - in dem Roman Engelszungen von Dimitré Dinev, Herrn Kukas Empfehlungen von Radek Knapp und Letzter Wunsch von Vladimir Vertlib - in verschieden Varianten vor. Den gemeinsamen Nenner bildet die Tatsache, dass es Texte sind, deren Autoren einen einschneidenden Kultur- und meistens auch Sprachwechsel hinter sich haben. Es bestehen große Vorbehalte gegen biographisch orientierte Kategorisierungen der Autoren mit Migrationshintergrund, trotzdem beharrt Dimitré Dinev „auf den elementaren lebensgeschichtlichen Bedingungen des ‚Schreibens in der Fremde’ und wendet sich gegen „eine die Biographie der Autoren 3 Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/ Main 1990, S. 11. 4 Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 180. 5 Petra Thore: „wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt“. Die Identitätsbalance on der Fremde in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur, Uppsala 2004, S. 68. 6 Ebenda. 7 Vgl. Hall 1994, Anm. 4, S. 180f. Marta Wimmer 62 Fremde’ und wendet sich gegen „eine die Biographie der Autoren wegwischende Theoretisierung“: 8 Was bedeutet es, in der Fremde zu schreiben? […] Also, um in der Fremde schreiben zu können, muss man in der Fremde leben. Eine logische, für den Verstand sehr einfache Bedingung. Um in der Fremde leben zu können, muss man allerdings zuerst in die Fremde gelangen. Eine genau so logische, aber für den Körper sehr anstrengende Bedingung. […] Um in der Fremde zu schreiben, muss man über Grenzzäune springen, oder darunter durchkriechen, egal ob es schneit oder regnet, man muss schneller als die Grenzpolizisten zweier Länder sein, in manchen Fällen ist auch Schwimmpraxis erforderlich; […] Ist man nun endlich in der Fremde, muss man den kürzesten Weg zu einem Lager finden, denn es mag sein, dass es nicht einfach ist, in die Fremde zu gelangen, aber noch schwieriger ist es, in der Fremde zu bleiben. Weil die Fremde eine Eigenschaft hat, die seltsamerweise von den meisten Fremde-Analytikern kaum beachtet, gar übersehen wird. Dabei ist sie ihre grundlegende Eigenschaft überhaupt. Die Fremde kann dich abschieben. 9 Wenn Grenzen überschritten werden, geschieht das nicht nur im geographischen Sinn. Es kann ganz wörtlich geschehen, indem der Protagonist an unterschiedlichen Orten agieren und sich bewegen muss, oder im übertragenen Sinn, indem Welten konstruiert werden, zwischen denen sich die Figur bewegt. Den eigenen Kulturkreis verlassen und in einem anderen Fuß fassen zu müssen, bedeutet sowohl den Verlust eines konkreten als auch eines abstrakt gedachten „Zuhause“. Konkret ist dieses Zuhause insofern, als es die gewohnte Sprache, das vertraute soziale Umfeld und alltägliche Rituale umfasst. Abstrakt ist es im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses, einer geteilten Tradition von Mythen und Werten (deren Gültigkeit das Individuum natürlich teilen oder in Frage stellen kann). Dieser Verlust ist mit Sicherheit als existentiell zu bezeichnen. In jenen Texten, die sich mit den Erfahrungen des Auswanderns oder der Flucht, mit der ersten Zeit in einem neuen Land, dem Erlernen der Sprache, kurz, mit der Erfahrung der Migration befassen, ist dieser (unvergleichliche) biographische Bruch sehr präsent. 10 Dimitré Dinev, seit 1990 in Wien lebender Bulgare, erzählt in seinem 2003 erschienenen Erstlingsroman Engelszungen die Familiengeschichten von Iskren und Svetljo, die am 30. Dezember 2001 am Grab des Serben Miro auf dem Wiener Zentralfriedhof aufeinander treffen. Dinev schildert vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse sehr detailliert die Familiengeschichten der beiden Hauptprotagonisten, die eng miteinander verwoben 8 Günther Stocker: Osteuropäische Migrationsliteratur in Österreich. In: http: / / www.lebensspuren.net/ medien/ pdf/ Guenther_Stocker.pdf, 20.3.2010. 9 Dimitré Dinev: In der Fremde schreiben. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text+Kritik. IX/ 2006, Sonderband 37: Literatur und Migration, München 2006, S. 209. 10 Nicola Mitterer: Vor dem Gesetz. Über den Begriff Migrationsliteratur und andere Fragen des Fremdseins. In: Nicola Mitterer u. Werner Wintersteiner (Hg.): Und (k)ein Wort Deutsch… Literaturen der Minderheiten und MigrantInnen in Österreich, Innsbruck - Wien 2009, S. 21. Von der Erfahrung des Andersseins 63 sind, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind und feststellen, dass sie zwar beide aus Plovdiv kommen, aber gar keine gemeinsamen Bekannten haben. Die doppelte Perspektive des Umherziehenden, die Dinev vorführt und das damit zusammenhängende gesellschaftliche Potential einer Position des gleichzeitigen Hier und Dort ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite wird auch die prekäre Situation der Flüchtlinge und Ausgewanderten, die von Identitätsverunsicherung und einem Gefühl des Verlusts geprägt ist, erkennbar. Am Beispiel von Iskrens Lebenslauf wird die Instabilität und Performativität von Identität vor Augen geführt, aus der er immer wieder finanziellen Gewinn schlägt. Seine Identitätswechsel haben zunächst einen pragmatischen Grund, da er mehrmals gezwungen ist, vor der Polizei zu flüchten, die aufgrund seiner illegalen Geschäfte nach ihm fahndet. Das Überschreiten der Grenze zur Illegalität hatte zur Folge, dass er auch mehrmals die Landesgrenzen überschreiten musste. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verlässt Iskren Bulgarien und fängt ein nomadisches Leben an. Zunächst lebt er als griechischer Schafskäseexporteur mit dem Namen Stavros Papaxenos in Berlin, dann kauft er sich in München einen italienischen Reisepass und wird damit zum Italiener Vito Berti. Er wechselt häufig seinen Wohnsitz, nirgendwo aber kommt er zur Ruhe und letztendlich wird er nach Wien getrieben. Iskrens Fortbewegungsmittel ist das Flugzeug, da er dieses Gefühl liebt, alles hinter sich gelassen zu haben und neu anzufangen: Irgendwann waren nur noch Wolken zu sehen. Noch ein Land, in dem er etwas verloren und etwas gewonnen hatte, war darunter verschwunden. Er liebte sie, diese Wolken, denn nirgendwo auf der Welt, außer über ihnen, war es leichter, ein neues Leben anzufangen. 11 Äußere Merkmale, wie der Bartwuchs oder der Besitz eines Reisepasses, bestimmen nach außen hin Iskrens Identität. Jedoch die käufliche Identität, die durch den Pass oder durch äußere Erscheinungsmerkmale festgelegt scheint, hat nichts mit dem Gefühl der Zugehörigkeit, einer Verbundenheit mit einem bestimmten Ort, oder anders ausgedrückt: einer inneren Identität zu tun, denn egal, wie er zur Zeit heißt, immer pocht in ihm das Herz von Iskren Mladenov. 12 Mit Kristevas Worten „[flammt] der erloschene Glaube an die Herkunft im Ankunftsland jäh wieder auf und schafft eine frei erfundene Identität, die um so exklusiver ist, als sie schon einmal verloren war“ 13 . Im Falle von Iskren gilt es zwischen einer äußeren Identität, die manipulierbar, käuflich und veränderbar ist und einer Befindlichkeit, einem Gefühl der Zugehörigkeit, einer inneren Identität zu unterscheiden. Das Gefühl von 11 Dimitré Dinev: Engelszungen, München 2006, S. 484. In der Folge als EZ mit einfacher Seitenzahl zitiert. 12 Vgl. Hannes Schweiger: Entgrenzungen. Der bulgarisch-österreichische Autor Dimitré Dinev im Kontext der MigrantenInnenliteratur. In: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften (Nr.15/ Mai 2004), http: / / www.inst.at/ trans/ 15Nr/ 03_1/ schweiger15.htm, 20.3.2010. 13 Kristeva 1990, Anm. 3, S. 33. Marta Wimmer 64 Sicherheit entsteht allerdings erst dann, wenn man auf eine sichere äußere Identität bauen kann, was auch folgendes Zitat veranschaulicht: Aber wen auf dieser Welt interessieren schon die Herzen der Menschen. Vor dem Gesetz sind die Papiere viel wichtiger. Es ist egal, was für ein Herz du hast, aber nicht, was für einen Paß. Iskren hatte den richtigen und sein Herz pochte so ruhig, wie nur Herzen von Menschen, die kein Visum für die meisten Orte der Welt brauchten, pochen konnten. (EZ 488) Miro, der für viele Ausländer der letzte Hoffnungsschimmer ist, führt schon in frühen Jahren ein nomadenhaftes Leben, das Leben eines Heimatlosen, der sich überall zuhause fühlt, gleichzeitig aber immer nur ein Gast ist. Er bringt diesen identitären Schwebezustand in folgendem Satz zum Ausdruck: „Egal, wo ich hingehe, bin ich zuhaus. Egal, wo ich ankomme, bin ich ein Gast […].“ (EZ 10) Er hat keine feste Heimat, wechselt ständig seinen Wohnort, hält sich nirgendwo länger auf. Auch bei Georg Simmel findet man die These, dass Fremdheit an Freiheit gekoppelt ist. Durch seine Beweglichkeit hat der Fremde auch perspektivische Vorteile, er verfügt über eine objektive Sicht der Dinge, weil er nicht einem normativen Schema verhaftet ist. 14 Als Geschäftsmann hat sich Miro beachtlichen Reichtum erwirtschaftet, allerdings ist er dazu nicht immer mit legalen Methoden gekommen. [Er] besaß einige Gästehäuser, Autowerkstätten und Immobilien […]. Genauso war er an mehreren Wettbüros und Spielhallen, Videokabinen und Sexshops beteiligt. Außerdem hatten sich in all den Jahren so viele Leute von den höheren Schichten auf verschiedene Weise bei ihm verschuldet, daß sie gerne bereit waren, ihm einige Gefälligkeiten zu erweisen. (EZ 576) Der in Jugoslawien geborene Miro macht eine wundersame Wandlung durch, vom brutalen und skrupellosen Geschäftsmann, der Frauen zur Ware degradiert und ihre Körper gegen Geld anbietet, zum Engel der Flüchtlinge und Einwanderer, der allen, die zu ihm kommen, hilft, eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung zu erhalten. Nach seinem Tod wird er auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben: „Umgeben von Künstlern, Offizieren und hohen Beamten, von Leuten, die die österreichische Geschichte stumm, doch verläßlicher als jedes Lehrbuch widerspiegelten.“ (EZ 8) Nun die Gestalt eines Engels annehmend, ist Miro immer noch ein Ortsloser, einer, der zwischen Himmel und Erde hin- und herschwebt, während er früher zwischen Wien und dem Balkan, zwischen Legalität und dunklen Geschäften pendelte. Die Figur von Miro ist nicht eindeutig in dem sonst realistischen Erzählraum verortet, dennoch ist seine Geschichte mit der realen Situation der Flüchtlinge verwachsen, die oft ihr Leben als Schattenexistenzen führen. Der Flüchtling Svetljo dagegen ist ein Paradebeispiel für eine solche Schattenexistenz. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems 14 Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe XI, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt/ Main 1995, S. 766. Von der Erfahrung des Andersseins 65 flüchtet er ohne Visum aus Bulgarien. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember schafft er den Grenzüberschritt nach Österreich, wo er sich in den nächsten elf Jahren mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält oder illegale Arbeiten annimmt, die ihm auf dem Arbeitsstrich angeboten werden. Er setzt sich somit immer wieder der Gefahr aus, von den zuständigen Behörden ausgewiesen und dann abgeschoben zu werden. Dinev schildert am Svetjlos Beispiel all die Gefahren und die damit einhergehende Trostlosigkeit der Existenz in der Fremde. Dem Protagonisten erscheint es unmöglich Beziehungen einzugehen, er findet auch nicht die richtige Sprache, um die Österreicherin Nathalie in seine Situation einzuweihen. Er hatte das Gefühl, daß er statt Worte Steine mit sich schleppte, Steine, die jemand ihn, so wie damals in der Armee, gezwungen hatte einzunähen. Hart waren sie, grau waren sie, und würde er seinen Mund aufmachen, würden sie hinausrollen und erschlagen und drücken und wehtun. (EZ 555) Schließlich kommen sich Nathalie und Svetjlo näher, er überwindet gar seine Angst und Sprachkomplexe und erzählt ihr nach dem Besuch bei Miro auf dem Zentralfriedhof von seiner Familie. Die Frage jedoch, was er in den elf Jahren in Wien gemacht habe, kann er nicht beantworten. Damit wird deutlich, dass seine Flüchtlingsexistenz nicht erzählt werden kann, weil sie eine entleerte Existenz ist. Sie kann auf drei Spielkarten reduziert werden, die sein Dasein als Flüchtling zusammenfassen und auf denen zu lesen steht: die Anweisung, wie er in das Flüchtlingslager Traiskirchen gelangen sollte, die Adresse des bulgarischen Kulturinstituts in Prag und der Satz: „Ich suche Arbeit.“ 15 Sowohl bei Dinev als auch bei Radek Knapp wird die Situation der Migranten über die Arbeit definiert. Die Suche nach einer legalen Arbeit wird zu einer der größten Herausforderungen und bestimmt die ganze Existenz. Es wird augenscheinlich, dass die Marginalisierung der Migranten durch das Gesetz erfolgt. Wenngleich die Grenzen nicht so sehr zwischen den Menschen bestehen, sondern als Konstruktionen, als Ergebnis politischer Handlungen gesehen werden können, führen sie letztendlich doch dazu, dass der Migrant als der Fremde, der Andere betrachtet wird und somit eine imaginäre Bedrohung darstellt. So denn auch in Herrn Kukas Empfehlungen (1999) von Radek Knapp, einem echten Schelmenroman der Migrationsliteratur. Der 1964 geborene, aus Polen stammende Autor, der die ersten zwölf Jahre seines Lebens in Warschau verbracht hat, seit 1976 aber in Wien lebt, schickt die Figur eines jungen Polen und somit sein Alter Ego auf die Reise in die Alpenrepublik. Schließlich soll Österreich eine gemäßigte Variante der Bundesrepublik Deutschland sein. Waldemar, der ein Paradebeispiel des temporären Wanderers 16 darstellt, begibt sich auf die Reise nach Wien in Gesellschaft 15 Vgl. Schweiger 2004, Anm.12. 16 Einteilung nach Ernst Ravenstein, siehe dazu: Anette Treibel: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, Weinheim - München 2008, S. 27. Marta Wimmer 66 einer dubiosen Reisegruppe und das mit einem Reisebus, der „einem der Länge nach umgestürzten Kühlschrank, dem man auf die Schnelle vier Räder anmontiert hatte“, 17 ähnelt. Den ersehnten „goldenen Westen“ erlebt er nicht ganz so golden. Der ahnungslose Waldemar ist nämlich vom Kleinganoven Kuka in geheimer Mission nach Wien geschickt worden. Sein Abenteuer beginnt schon an der Grenze, wo er Schmuggelorgien erlebt und, ohne es zu ahnen, selbst an diesem unehrlichen Gewerbe teilnimmt. Der schüchterne junge Mann hat zum ersten Mal sein Elternhaus verlassen und erhofft sich von der Reise, das westliche Paradies kennenzulernen. Er sucht ein temporäres Exil, das in seinem Fall als Trotz gegen die elterliche Prägung gesehen werden kann. Von Neugierde getrieben, mit ein paar guten Ratschlägen von Herrn Kuka und dreißig Dosen Thunfisch ausgerüstet, tritt er seine Erkundigungstour an. Sehr schnell wird ihm jedoch klar, dass er sich deutlich von den Einwohnern Wiens abhebt und dass die dritte Lektion, die ihm von Herrn Kuka erteilt worden ist, eine bittere und zugleich lehrreiche Lektion ist. Diese lautet folgendermaßen: „Sogar wenn sie dich foltern, sag, du bist aus England oder meinetwegen China. Beim Wort Polen kannst du gleich wieder nach Hause gehen.“ (HKE 12) Um nicht als Pole mit dem negativen Heterostereotyp Dieb abgestempelt zu werden, verschweigt Waldemar später immer seine Herkunft. Anhand des stereotypen Denkens, ein immer wiederkehrendes Thema in Knapps Werk, wird demonstriert, dass nationale Klischeevorstellungen als Barriere zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten treten können. Wieder und wieder wird dem jungen Polen zu spüren gegeben, dass er nicht dazugehört. Sei es bei der Arbeitssuche, sei es beim Einkaufen, immer wieder verraten seine Turnschuhe, dass er aus dem sogenannten Ostblock kommt. Am Ende seiner Reise angelangt, muss Waldemar feststellen: „Ich sehe hier längst nicht mehr das, was ich beim ersten Mal gesehen habe. Ich sehe nicht mehr den Westen und das Paradies, auf das ich immer neugierig war.“ (HKE 239) Seine Träume bezüglich des „goldenen Westens“ zerplatzen wie Seifenblasen und schließlich stellt sich heraus, dass Herr Kuka auch mit seiner zweiten Lektion recht hatte: „Westliche Kacke und östliche Kacke sind identisch.“ (HKE 10) Die Raummetaphorik, die als ein wichtiges Charakteristikum der interkulturellen Literatur gilt, ist auch in diesem Text stark präsent. Das von Herrn Kuka empfohlene Hotel Vier Jahreszeiten entpuppt sich als eine Parkbank in der hintersten Ecke des Belvederes. Bisher aber hat sich Waldemar nie so frei gefühlt wie unter dem Sternenhimmel Österreichs. Er berauscht sich an seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit. Obwohl Waldemar während seines Aufenthalts in Wien einiges durchmacht, fällt er immer wieder auf die Butterseite und man könnte sogar meinen, dass ihm das gelungen ist, was für viele Ausländer eine unüberwindbare Barriere zu sein scheint - die Assimilation an seine Umgebung. 17 Radek Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen, München 2008, S. 17. In der Folge als HKE mit einfacher Seitenzahl zitiert. Von der Erfahrung des Andersseins 67 Komplikationen rund um eine Beerdigung sind Gegenstand des 2003 erschienenen Romans Letzter Wunsch von Vladimir Vertlib. Obwohl das Thema ernst ist, ist es dem Autor gelungen, ihm durch die für ihn typische leichte Ironie ein wenig von seiner Schwere zu nehmen. Vertlib stellt die prekäre Frage nach der jüdischen Identität: Wer ist ein Jude und wer entscheidet, wer ein Jude ist? Mit diesem Problem wird der Hauptprotagonist Gabriel Salzinger konfrontiert, als sein Vater stirbt und er versucht, dessen letzten Wunsch, auf einem jüdischen Friedhof und nach jüdischem Ritus beerdigt zu werden, gerecht zu werden. 18 Plötzlich treten nämlich unerwartete Komplikationen auf, das Begräbnis wird von maßgeblichen Persönlichkeiten der Kultusgemeinde unterbrochen, da David Salzinger als Enkel einer christlichen Großmutter nach orthodox jüdischem Verständnis kein Jude gewesen sei. Vertlib lässt Gabriel Salzinger in einem „Präsens der Unmittelbarkeit“ 19 dessen Versuch erzählen, dem Vater die erwünschte Grabstätte zu verschaffen. Der letzte Wunsch des Vaters wird von einer engen Interpretation der Religionsgesetze durchkreuzt. Da die Kultusgemeinde und ihr Rabbiner der Überzeugung sind, dass die seinerzeitige Reformbewegung die Verantwortung für die Schoah zu tragen habe und dass die gefährlichsten Feinde die russischen Zuwanderer seien, deren jüdischer Herkunft man sich nicht einmal sicher sein könne, fühlen sie sich umso mehr der strikten Orthodoxie verpflichtet. Absurderweise ist die Bezugsperson Gabriel Salzingers in der erfundenen deutschen Kleinstadt Gigricht gerade eine aus Russland emigrierte alte Frau, namens Rosa Masur. 20 Mit ihr kann er offen über seine Gefühle sprechen. Die Frage der Zugehörigkeit und der Religionsgemeinschaft hängt eng mit der Identitätszuschreibung und der Vergangenheit zusammen. Vertlib stellt Fragen nach der identitären Zugehörigkeit: Wo gehört der Mensch hin, im Leben und im Tod? Können die existenzielle Situation und die administrative Ordnung jemals in Einklang zueinander gebracht werden? Obwohl David Salzinger viele Jahre in Gigricht gelebt hat, wird er immer noch als ein Fremdkörper betrachtet, der nirgendwohin passt. Von der Religionsgemeinde wird er ausgestoßen, weil er angeblich kein Jude ist, für die Deutschen aber ist er nach wie vor einer. Sein Sohn Gabriel, der in Wien studiert hat, beherrscht virtuos ein identitäres Doppelspiel: „Es gibt kein Land, in dem es von größerem Vorteil wäre, Jude und gleichzeitig Deutscher zu sein. Sehen sie in dir den Piefke, erinnerst du sie daran, daß du Jude bist. Kommen sie dir mit antijüdischen Vorurteilen, kehrst du den Preußen hervor.“ 21 18 Vgl. Daniela Strigl: Vladimir Vertlib: Letzter Wunsch. In: http: / / www.literaturhaus. at/ buch/ buch/ rez/ vertlib_letzterwunsch/ , 20.8.2010. 19 Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken, Innsbruck 2008, S. 456. 20 Vgl. Vladimir Vertlib: Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. Roman, Wien 2001. 21 Vladimir Vertlib: Letzter Wunsch, Wien - Frankfurt/ Main 2003, S. 282. Marta Wimmer 68 Wer ist also der Fremde und welche Rolle hat er inne? Er kann sowohl ein „Enthüller der verborgenen Bedeutungen“ 22 sein, als auch ein „Eindringling, der den Konsensus zerstört“ 23 . Derjenige, der sich von seiner Familie, seiner Sprache, seinem Land losreißt, um sich anderswo niederzulassen, nimmt ein großes Wagnis auf sich. In allen hier besprochenen literarischen Texten wird sichtbar, dass Grenzen gleichzeitig trennen und verbinden. Sie versprechen Sicherheit und geben das Gefühl, zu Hause zu sein, erzwingen aber zugleich Ausschlüsse und untermauern das Gefühl fremd zu sein. Das Gefühl der Fremdheit ist symptomatisch für die hier untersuchten literarischen Texte. Die Fremdheit ist jedoch nicht fest, sie wird konstruiert. Wesentlich für ihre Definition scheinen zwei Begriffe zu sein: Vertrautheit und Grenze. Lässt man die Heimat, die als Garant der Herkunft gesehen wird, hinter sich, kommen auch Zweifel hoch, die die eigene Identität betreffen, und sie muss oftmals neu konstruiert werden: Die Identität des Menschen bedeutet nicht nur, daß er in Vergangenheit und Zukunft denken kann oder sich in einer sozialen Dimension verwirklicht, sondern auch, daß er sich aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet und sich in ihm „einrichtet - das heißt zur Heimat macht“. 24 In den Konstruktionen von Vertrautheit und Fremdheit spielt die „Nationalität“ nur insofern eine Rolle, als der Andere dadurch zum „Fremden“ wird. Die Fremdheit wird zur Projektionsfläche des eigenen Alter Ego. 25 Die Literatur ausländischer Autoren bildet ein Gerüst, das die herkömmliche Kategorisierung der Literatur in Frage stellt. Einheitsdiskurse sind Konstrukte, die vor dem Unbekannten schützen sollen. Die Modelle der Hybridität und des Nomaden sind dagegen bemüht, einen Gegentyp zum historischen Menschenbild zu umreißen. Die Problematik, die im Fokus der hier berücksichtigten literarischen Texte steht, ist keineswegs ausschließlich in der Literatur von Minderheiten präsent, sondern vielmehr ein Merkmal modernen Erzählens. 26 22 Julia Kristeva 1990, Anm. 5, S. 161. 23 Ebenda. 24 Ina Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat, München 1974, S. 28. 25 Vgl. Sandra Kersten u. Manfred Frank Schenke (Hg.): Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität, Berlin 2005, S. 13. 26 Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Wohin denn heim? Zur Logik und Bedeutung von Herkunftsphantasien. In: Wespennest 141 (2005), S. 81. II. … Räume E INLEITUNG VON Daniela Finzi Mit dem Wissen um die geopolitischen Veränderungen nach 1989 kann es im Rückblick keinen Zufall darstellen, dass Frederic Jamesons Aufruf ‚always spatialise! ’ Ende der 1980er Jahre erfolgte, 1 sich der Begriff ‚spatial turn’ in das Jahr 1989 zurückverfolgen lässt. 2 Tatsächlich jedoch hatte bereits Michel Foucault 1967 in seinem stark rezipierten Text „Des espaces autres“ (‚Andere Räume’) eine den ‚Raum’ betreffende „Unruhe“ diagnostiziert und seine Zeit - im Unterschied zur Obsession, die im 19. Jahrhundert für die Geschichte, für die ‚Zeit’ zu beobachten war - als eine „Epoche des Raumes“ erkannt; 3 tatsächlich hatte bereits der marxistische Soziologe Henri Lefebvre 1974 mit seinem Werk Production de l’espace neue Modelle des Raumdenkens erprobt. Dass Raumstrukturen als soziale konzipiert werden, geht aber noch weiter, auf Gründerfiguren der Soziologie wie Emile Durkheim und Georg Simmel, 4 zurück, womit das entscheidende Moment des kulturwissenschaftlichen Raum-Verständnis denn auch schon genannt ist: Die in den Kulturwissenschaften dominierende Auffassung erkennt Raum nicht länger als Territorialität, als ‚Behälter’, sondern als soziales Produkt, das folglich konstruiert wird 1 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284. 2 Vgl. dazu die Zwischenüberschrift „Uncovering Western Marxism’s spatial turn“ des Humangeographen Edward W. Soja in seinem Buch Postmodern Geographies (London - New York 1989, S. 39), zit. n. Jörg Döring u. Tristan Thielmann: Was lesen wir im Raume? Der spatial turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Dies. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 7-45, hier S. 7. Döring und Thielmann weisen auch auf das Moment des Labelartigen hin, das dem ‚spatial turn’ angehängt wird, und dass es mittlerweile nahezu zum guten Ton gehöre, sich darüber zu amüsieren. Aus Platzgründen möchten wir an dieser Stelle lediglich auf die inflationäre ‚turns’-Ausrufungen der Kulturwissenschaften hinweisen, und dass der Begriff des so genannten ‚topographical turns’ auf einen Aufsatz von Sigrid Weigel zurückgeht (Zum „topographical turn“. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2,2 (2002), S. 151-165). 3 Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 - 46, hier S. 37 u. 34. 4 So schrieb Simmel in seiner Schrift Soziologie des Raumes (1903): „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“ Vgl. dazu die Ausführungen von Laura Hegedu s in diesem Band. Daniela Finzi 70 und veränderbar ist. Es schien also, um die eingangs erwähnte koinzidentielle Lesart zu präzisieren, gerade jener nachhaltigen, durch den Systemwechsel 1989 ausgelösten Neukartierungen der Welt, die der Systemwechsel 1989 auslöste, als signifikanter „breaks“ (Stuart Hall 5 ) zu bedürfen, um traditionelle philosophische und physikalische Raum-Auffassungen zu überwinden. Die vier Beiträge des zweiten Teils setzen sich in ihren Literaturbzw. Filmanalysen allesamt - ob auf manifeste oder latente Art und Weise - mit Fragen der Repräsentation und Konstitution räumlicher Gegebenheiten auseinander. So bringt Laura Hegedu s in ihrem Beitrag „Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben“ den Rückgriff auf einen zentralen Schlüsselbegriff der kulturwissenschaftlichen (Raum-)Forschung gleich im Titel zum Ausdruck. Ihr Augenmerk auf die Relation von Grenze und Raum legend, führt sie diese in ihrer Zusammenführung als Grenz-Raum, ob in geographischer, politischer, kultureller, sprachlicher, konfessioneller oder ethnischer Hinsicht, vor. Als solcher fungiert er nicht nur als Transitraum, sondern als Kontaktzone, die freilich gerade nicht von Abgrenzung, sondern von Überschneidung, Vermengung und Verflechtung gekennzeichnet ist. Dass ‚Grenze’ und ‚Grenzziehungen’ zu zentralen Forschungsfeldern in den Kulturwissenschaften avancierten, lässt sich nicht nur mit der geopolitischen oder der auch von Hegedu s akzentuierten lebensweltlichen Relevanz, sondern auch mit seiner epistemologischen Polyvalenz erklären: So belegt auch der vorliegende Sammelband, wie sehr, bei aller Heterogenität der Perspektiven, das Thema der Grenze - und der Ausgrenzung - eng an die Forschung zu Identitätsprozessen und Alterität gekoppelt bleibt. Hegedu s indes konzentriert sich in ihren Ausführungen auf das Ineinandergreifen von physischem und erzähltem Raum. Das kulturwissenschaftliche Verständnis von Raum als „gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung“ 6 schließlich ist von Beginn an eng mit der Frage nach der symbolischen Repräsentation und symbolischen Ordnungen verknüpft; Konzepte aus der Literaturwissenschaft waren maßgeblich an der Herausbildung des spatial turn beteiligt. Und dennoch muss mit den Gießener NarratologInnen moniert werden, dass die besondere Rolle, die der Literatur für die Verhandlungsprozesse von Raum(praktiken) zukommt, bislang auffallend unreflektiert geblieben ist, 7 und in der Erzähltheorie wiederum die 5 In seinem bekannten Aufsatz „Die zwei Paradigmen der Cultural Studies“ zieht Hall den Auffassungen von „absoluten Anfänge[n]“ und „ununterbrochene[n] Kontinuitäten“ die Zentrierung auf die „signifikanten Einschnitte [breaks] - die Unterbrechung etablierter Gedankengänge, die Ersetzung älterer Konstellationen und die Neugruppierung von sowohl alten als auch neuen Elementen um andere Prämissen und Themen herum“, vor. In: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Hg. v. Karl H. Hörning u. Rainer Winter, Frankfurt/ Main 1999, S. 13-42, hier S. 13. 6 Bachmann-Medick 2006, Anm. 1, S. 292. 7 Vgl. Birgit Neumann: Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur: Raumkonzepte der (Post-)Kolonialismusforschung. In: Wolfgang Hallet Einleitung 71 Analyse von Raumdarstellungen ein Forschungsdesiderat darstellt: Welche Formen der narrativen Vermittlung fiktionaler Räume kommen zur Anwendung? Welche Funktionen hat der Raum in seiner Semantisierung als kultureller Sinnträger? 8 Was unterscheidet erzählte Räume von den außerliterarischen, ‚wirklichen’, kann doch für beide das konstruktivistische Moment in Anschlag gebracht werden? So führt denn auch Hegedu s’ auf einer Operationalisierung sozialwissenschaftlicher und kultursemiotischer Ansätze aufbauendes close reading der Erzählung Der See von Terézia Mora vor, wie sehr sich der literarische Raum immer erst im Leseprozess konkretisiert bzw. konstituiert. Indem sie gleichzeitig jener außerliterarischen (An)Ordnung nachgeht, die dem erzählten Raum vorausgeht - im konkreten Fall der Neusiedlersee -, und indirekte Hinweise zu entschlüsseln vermag, gelingt es Hegedu s, die Region und Handlungsorte der Erzählung zu lokalisieren; diese Identifizierung freilich determiniert die Semantisierung des erzählten Raumes, was wiederum die heuristisch sinnvolle Trennung in ‚wirklichen’ und ‚erzählten’ Raum irrelevant zu machen scheint. Ihr Beitrag verweist so auf ein zentrales Moment des Spannungsfeldes von literarischem Werk und außerliterarischer Wirklichkeit, welches auch die konstruktivistische Literaturwissenschaft in Anschlag bringt: Im konkreten Rezeptionsakt ist nicht entscheidend, ob der Anspruch der Referenzialisierbarkeit eingeklagt werden darf, sondern einzig, ob dieser eingeklagt wird. Mit dem in Moras Erzählung und Hegedu s’ Ausführungen zentralen Phänomen der Grenzüberschreitung kündigt sich bereits jenes Moment an, welches Holger Pötzsch in seinem Beitrag als epistemologisches Instrument einsetzt: Liminalität. Im Zentrum seines Aufsatzes „Liminale Räume in Srdjan Dragojevi s Lepa Sela, Lepa Gore und Danis Tanovi s Nic ija Zemlja“ stehen zwei Kriegsfilme, in denen liminale Räume (wie Tunnel, Brücken, Niemandsländer) als Zentrum der Handlung fungieren; beide Filme spielen während des Krieges in Bosnien-Herzegowina. Während der erste die aus Serbien und Montenegro bestehende ‚Bundesrepublik Jugoslawien’ als Produktionsland ausweist, stellt der zweite mit den (Ko)Produktionsländern Bosnien-Herzegowina, Frankreich, Belgien, Italien, Großbritannien und der multinationalen Besetzung einen so genannten Europudding dar. Pötzsch führt unter Berufung auf Beiträge aus Filmkritik und -wissenschaft Dragojevi s Film als von einer serbischen Erzählperspektive dominiert an, jenen von Tanovi s wiederum als multiperspektivisch erzählten, der sich nicht auf eine einzigen nationalen Blickwinkel festlege. Bereits diese besondere Hervorhebung veranschaulicht das Dilemma, mit dem jegliche wissenschaftliche Auseinandersetzung, die Fragen von Identität und Alterität anspricht, doch eigentlich überwinden möchte, zu kämpfen hat. Der erwünschten Dezentrierung u. Dies. (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 115-138, hier S. 116. 8 Vgl. Ansgar Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Hallet u. Neumann 2009, Anm. 7, S. 33-52, hier S. 34. Daniela Finzi 72 oder Aufhebung scheint immer die Zentrierung vorauszugehen, so ließe sich die von Pötzsch vorgenommene Benennung - und Konstitution - der verschiedenen ProtagonistInnen in ihren nationalen Zuschreibungen deuten. Wie kann die Frage nach dem Verhältnis zum ‚balkanischen’ Anderen gestellt werden, ohne jene Formatierungsvorlagen diskursiver und narrativer Art zu perpetuieren, die Maria Todorova als ‚Balkanismen’ erkannt hat, ohne der Auffassung einer kulturspezifischen Determiniertheit von Feindschaft Vorschub zu leisten? 9 Angesichts dieser Bedenken erscheint es umso zwingender, dass Pötzsch zur Beantwortung dieser (ungestellten) Frage das Konzept der Liminalität einsetzt, und so einen Raum (vor)findet, in dem alle Antagonismen und binären Teilungen nicht länger funktionieren. Während nun bei Victor Turner, auf den der Begriff zurückgeht, Liminalität die Schwellenzeit eines Übergangrituals bezeichnet, die außerhalb jeglicher Hierarchie des sozialen Lebens anzusiedeln ist, wird von Pötzsch mit seinem Rekurs auf Homi K. Bhabha Liminalität als Aussetzung binärer Ordnungen, welche topographischen und epistemologischen Barrieren und Zuschreibungen die Grundlage entzieht, konzeptionalisiert, mittels seiner Aufnahme der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe als diskursiver (Ver)Handlungsraum. Die von Pötzsch unternommenen Filmanalysen führen unter besonderer Fokussierung der Liminalitätsformen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen; dank der durchgängigen Berücksichtigung der Filmästhetik sowie der vom Film suggerierten Positionierung des Publikums bleibt der von ihm eingeschlagene Forschungsweg, nicht zuletzt auch dank der Offenlegung der theoretischen Anleihen, im hohen Ausmaß nachvollziehbar. Auch Klaudija Sabo untersucht in ihrem Text einen Beitrag der siebten Kunst, den im Jahr 2000 mit kroatischen Fördermitteln produzierten Film Blagajnica hoc´e ic´i na more (dt. Die Kassiererin möchte ans Meer gehen) von Dalibor Matani . Bei Sabo stehen mit dem Mikrokosmos Supermarkt und dem am Meer gelegenen Urlaubsort ganz konkrete Orte, die von den gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozessen im Kroatien der Nachkriegszeit erzählen, im Zentrum. Das Begehren der JugoslawInnen und sodann KroatInnen nach dem Meer erweist sich als gegen die Auflösung eines Staates, der bereits im Namen das Wort ‚Süden’ (jug) in sich trug, resistente Konstante: „Das Mittelmeer, die Sonne sind der Traum von Freiheit in jeder Hinsicht. Das Aussteigen, der Verlust des historischen Gedächtnisses.“ 10 Von den, wie der Titel in der deutschen Übersetzung lautet, Leiden einer jungen Kassiererin hat das deutschsprachige (Lese-)Publikum unlängst von Anna Sam erfahren; 11 die Bestseller-Autorin und ‚Servicemitarbeiterin Kasse’ 9 Vgl. dazu Miranda Jakiša u. Sylvia Sasse: Kontingente Feindschaft? Die Jugoslawienkriege bei David Albahari und Miljenko Jergovi . In: Natalia Borissova, Susi K. Frank u. Andreas Kraft (Hg.): Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Zwischen Apokalypse und Alltag, Bielefeld 2009, S. 221-236. 10 Rada Ivekovi : Die Sehnsucht nach der Latinität, der Traum vom Süden. In: Dies. : Autopsie des Balkans. Ein psychopolitischer Essay, Graz 2001, S. 135-139, S. 136. 11 Anna Sam: Die Leiden einer jungen Kassiererin. München 2009. Einleitung 73 wird in Frankreich mittlerweile als Sprachrohr der Supermarkt-Angestellten wahrgenommen, die humorvoll, doch unpolemisch vom Alltag hinter Laufband und Kasse erzählen. Ganz anders der in Kroatien als Publikumserfolg geltende, im deutschsprachigen Raum jedoch mangels Verleih unbekannte Film von Matani , der durch Wortlosigkeit besticht. Auf filmgeschichtlicher Ebene erinnert die Wortkargheit der Figuren an die Tradition des Stummfilms, auf diskursgeschichtlicher, wie Sabo erläutert, an das Syntagma des „Kroatischen Schweigens“ (1971 bis 1989). Auf semiotischer Ebene indes lässt sich das Schweigen als intendiertes Nicht-Reden deuten, welches Sabo als Ohnmacht gegenüber einem repressiven System interpretiert. In der Tat handelt es sich bei den Figuren um in mehrfacher Hinsicht Marginalisierte: als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, als Angestellte ohne Schutz und Rechte, als alleinerziehende Mütter oder auch RentnerInnen ohne ausreichende Sozialleistungen. Sie sind die ersten Leidtragenden der mangelhaften sozialen Sicherung in der Phase der Implementierung einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Der Transformationsprozess machte dabei, wie Sabo aufzeigt, auch vor der Filmindustrie nicht Halt: Rückschläge und Krisen charakterisieren die kroatische Filmproduktion in den 1990er Jahren, in denen pro Jahr nicht mehr als fünf bis acht Spielfilme entstanden. Im Jahr 2009 waren es 13 Filme 12 - im Filmbereich ist der EU-Beitrittskandidat Kroatien bereits seit einigen Jahren Mitglied europäischer und EU-Filmförderprogramme (wie Eurimages und Mediea 2007) und erfüllt mit den erzielten Fortschritten die Erwartungen der EU-Kommission, 13 die notwendigen, auch von Matani s Film via erzwungenem Nicht-Reden eingeklagten Reformen im sozialen Bereich hingegen sind noch nicht abgeschlossen. Mit dem letzten Beitrag wird der nächste große Block über Gedächtnis & Erinnerung schon vorweggenommen, beschäftigt sich doch Gerald Lind in seinem Aufsatz über Gerhard Roths Foto-Text-Bände Grenzland (1981) und Im tiefen Österreich (1994) sowie dem als Leseanleitung für letzteren rezipierten Aufsatz „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ nicht nur mit den Denkfiguren von Zentrum und Peripherie, sondern gleichfalls mit (meta)ethnographischen und gedächtnistheoretischen Aspekten. Als binäre Opposition, so wäre zu monieren, schreiben sich ‚Zentrum und Peripherie’ asymmetrischen und hierarchischen Beziehungen ein, was, wie der Aufsatz von Pötzsch zeigt, zur Entwicklung neuer epistemologischer Ansätze geführt hat. Lind indes bringt insofern die theoretische Fruchtbarkeit des Begriffspaars zu Tage, als er dessen dynamische Dimensionen fokussiert: stets hängt es vom jeweiligen Standort ab, was als Zentrum, was als Peripherie erscheint (Relativität); auch innerhalb einer Peripherie kann peripherisiert werden (‚nesting’ Peripherien). 12 Vgl. http: / / europa-cinemas. org/ fr/ pays/ Fiches/ HR.php, 9.11.2010. 13 Vgl. den jährlichen Bericht 2008: http: / / europa.eu/ legislation_summaries/ enlargement/ ongoing_enlargement/ co mmunity_acquis_croatia/ e20114_de.htm, 10.11.2010. Daniela Finzi 74 Beide Bücher Roths fixieren die Südsteiermark, Grenzland zu Jugoslawien und später Slowenien. Heute ist die Südsteiermark Teil der 2001 ins Leben gerufenen Euregio Graz-Maribor, welche sich der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit verpflichtet fühlt. Indem Lind nun die Parallelen, doch auch Differenzen, zwischen dem Schriftsteller Gerhard Roth und dem Sozialanthropologen und ‚Vater der Feldforschung’ Bronislaw Malinowski aufzeigt, wird jener unweigerlich aus einer steirischen bzw. österreichischen Dimensionalität entlassen. 14 Mit dem Rekurs auf James Cliffords wiederum ruft Lind jenen Namen ins Gedächtnis, der wie kein anderer für die bedeutsame Rolle steht, welche der (amerikanischen) Kulturanthropologie bzw. Ethnologie an der ‚kulturellen Wende’ zukam, und an der Einsicht in die unerlässliche (Selbst-)Reflexion des wissenschaftlichen Schreibens. Noch in den verdichteten Formeln von ‚Krise der Repräsentation’ und ‚Writing Culture-Debatte’ schwingt jene radikale Hinterfragung der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozial- und Kulturwissenschaften mit, welche sie ab Ende der 1970er Jahre ausgelöst hatten. Die Fragen schließlich, wie über fremde und eigene Kulturen angemessen zu schreiben sei, wie sehr dieses Schreiben über den Anderen mit fiktionaler Selbststilisierung einher geht, haben, wie dieser Sammelband belegt, nicht an Brisanz verloren. 14 Wie Lind hervorhebt, adressiert Roths zweisprachiger Band Grenzland (Deutsch und Englisch) eine größere, nicht auf den österreichischen oder deutschsprachigen Raum beschränkte Leserschaft. L AURA H EGEDU S (L EIPZIG ) Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben Semantisierung von Raum, Grenze und Zeit in der Erzählung Der See von Terézia Mora 1 „Alles ist [hier] Grenze…“ 2 heißt es in einer Erzählung von Terézia Mora. Würde man im Satz das Adverb auslassen, käme er einem Postulat gleich, das die Existenz und alltägliche Präsenz von Grenzen beschreibt und zugleich die Frage evoziert, ob es überhaupt einen Lebensbereich gibt, in dem das Phänomen der Grenze keine Rolle spielt. Wir sind von Grenzen umgeben und fortwährend damit beschäftigt, uns an sie zu halten oder sie zu überwinden, sie zu setzen oder zu ziehen, jemanden in seine Grenzen zu verweisen, auch wenn er seine Grenzen kennt. Sie spielen sowohl im metaphorischen Sinn, wie sie in Kollokationen und Redewendungen Eingang gefunden haben, als auch in geographisch-politischer Hinsicht eine wichtige Rolle. Während das Wort ‚Grenze’ im Deutschen verschiedene Bedeutungsvarianten umfasst, werden beispielsweise im Englischen die jeweiligen Konnotationen durch ‚boundary’, ‚frontier’, ‚border’, ‚limit’ oder ‚margin’ weitaus exakter zum Ausdruck gebracht. Diese ambivalente Bedeutung des Wortes korrespondiert mit unterschiedlichen Funktionen: Grenzen können etwas abgrenzen und zugleich trennen, aber auch etwas eingrenzen und umschließen. Indem sie einerseits Brücken bilden, andererseits Schranken setzen, sind sie beides: Symbol für Zusammengehörigkeit und Identität, aber auch für Differenz und Alterität. 3 Vor allem aber sind Grenzen nicht als natürliche Gegebenheiten zu betrachten, sondern als von Menschen geschaffene Trennlinien, als soziale Relationen, die sich materialisiert haben. Grenzen werden immer hergestellt, 1 Für Kritik und Hinweise sei vor allem Alfrun Kliems (Leipzig), Wynfrid Kriegleder (Wien), Gerald Lind (Wien), Wolfgang Müller-Funk (Wien) und Ute Raßloff (Leipzig) gedankt. 2 Terézia Mora: Der See. In: Seltsame Materie, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 53-71, hier S. 58. Im Folgenden im Text mit einfacher Seitenzahl zitiert. 3 Vgl. Claudio Magris: Grenzen: tödlich oder sterblich? Betrachtungen eines Triestiners. In: Der Tagesspiegel, 3.9. 1991, S. 16-17; Karl Schlögel: Grenzen, Razorlike und Andere. In: Ders. : Im Raume lesen wir die Zeit, Wien 2003, S. 137-147; Bernhard Waldenfels: Schwellenerfahrung und Grenzziehung. In: Monika Fludernik u. Hans-Joachim Gehrke (Hg.): Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999, S. 137-154. Laura Heged s 76 der Mensch projiziert sie konkret oder metaphorisch in den Raum. Und erst da, wo Menschen auf der anderen Seite stehen, macht Grenze und deren Überschreitung Sinn. 4 Dieses Verständnis von Grenze als ein sozial definiertes Bezugssystem formulierte bereits Georg Simmel. In seiner 1903 erschienenen Abhandlung Soziologie des Raumes heißt es: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“ 5 Demnach sind Räume formale Bedingung für Grenzen, aber ohne Grenzen existieren Räume nicht. Räume und Grenzen stehen folglich in einer wechselseitigen Beziehung und müssen deshalb stets zusammengedacht werden. Mein Interesse gilt eben diesem Verhältnis von Raum und Grenze sowie der Art und Weise, wie diese Relation in literarischen Texten dargestellt wird. Im Mittelpunkt meiner Ausführung steht eine Erzählung, deren Handlung in der Grenzregion Burgenland/ Westungarn angesiedelt ist. Sie reflektiert auf unterschiedliche Weise sowohl über die geographisch-konkrete Grenze als auch über metaphorischsymbolische Grenzen und verarbeitet literarisch diesen Raum zugleich als einen kulturellen Erinnerungsort 6 . Diese Perspektive leitet sich von einer kulturwissenschaftlich orientierten Fragestellung ab. Um die Konstruktion des realen Grenzraumes und dessen mediale Repräsentation zu erklären, ist eine geographische und historische Kontextualisierung des literarischen Textes erforderlich. Hierzu sind nicht nur historische Prozesse sowie soziale Raumwahrnehmungen und -erfahrungen im Text zu identifizieren, sondern es wird gleichzeitig nach der symbolisch-metaphorischen Modellierung des Raumes mittels narrativer Verfahren gefragt. Dass diese Analyse des erzählten Raumes selbst schon ein konstruktiver Vorgang ist, soll in der Darstellung mitreflektiert werden. Vor diesem Hintergrund werden sozialwissenschaftliche und kultursemiotische Ansätze als theoretische Zugänge genutzt, da sie sich für die Beschreibung des Ineinandergreifens von physischem und erzähltem Raum bzw. von sozial-kulturellem Kontext und fiktiver Realität als fruchtbar erweisen. Zudem korrespondieren beide Ansätze miteinander, weil sie von einem „bedeutungs- und wissensorientierte[n] Kulturbegriff“ 7 ausgehen und ein relationales Konzept von Raum und dessen Grenze(n) entwerfen. So versteht die Soziologie die Herstellung von Räumen und Grenzen als Prozess, der auf einem raumkonstitutiven Handeln und dem Ordnungsaspekt 4 Vgl. Walter Pohl: Soziale Grenzen und Spielräume der Macht. In: Ders. / Helmut Reimitz (Hg.): Grenzen und Differenzen im frühen Mittelalter, Wien 2000, S. 11-18, hier S. 13. 5 Georg Simmel: Soziologie des Raumes. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901- 1908. Band 7, hg. v. Rüdiger Kramme u. a., Frankfurt/ Main 1995, S. 132-183, hier S. 141. 6 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 298-339, hier S. 298f. 7 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, S. 84-90, hier S. 84. Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben 77 räumlicher Strukturen beruht. Martina Löw betont in ihrer Raumsoziologie, dass Räume nicht natürlich vorhanden sind, sondern erst durch die „relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind“, 8 hergestellt werden. Die Konstitution von Raum ist ein Prozess, der durch „das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen“ 9 erfolgt. Weiterhin bedarf es einer „Syntheseleistung, das heißt über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst.“ 10 Innerhalb der Kultursemiotik bezieht Jurij M. Lotman sein Raumkonzept auf erzählte Räume. Lotman beschreibt in seinen Arbeiten zum einen kulturelle Systeme und entwickelt zum anderen eine Erzähltheorie, in der er zeigt, wie Handlungen in Texten nach räumlichen Relationen zu einem Kulturmodell organisiert werden und erst auf diese Weise ein Sinnsystem erzeugen. Er begreift semantisierte Räume in fiktionalen Texten als Reflex einer spezifischen und kulturhistorisch geprägten Deutung von Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund gewinnen die in literarischen Texten konstruierten Raummodelle, die einem spezifischen Kulturtyp eigentümlich sind, ihre Bedeutung. 11 Der erzählte Raum wird dabei durch räumliche und nichträumliche Anordnungen semantisiert und von handelnden Figuren und deren Grenzüberschreitungen strukturiert. Die Grenze bildet somit ein elementares Strukturmerkmal von Raummodellen. Ausgehend vom Konzept der Grenze entfaltet Lotman seinen Ereignisbegriff, der dem Sujetaufbau dient. Demnach tritt ein Ereignis, das immer die „Verletzung irgendeines Verbotes“ 12 bedeutet, ein, wenn „die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“, 13 also eine konkrete Handlung vollzogen wird. Sofern aber ein von Handelnden erzeugter Raum gemeint ist, seien diese nun soziale Akteure, literarische Figuren oder die Stimme des Erzählers, kommen Bedeutungszuschreibungen ins Spiel - eine Konstellation, die das Ineinandergreifen von Realem und Imaginärem verdeutlicht. Dieses Zusammenspiel von faktualen und fiktionalen Darstellungen soll an der erwähnten Grenzerzählung aus dem österreichisch-ungarischen Grenzraum gezeigt werden. Für die Analyse von narrativ modellierten Räumen gilt es jedoch neben der Referenz auf sozial hergestellte Räume ebenso zu berücksichtigen, was der Raum selbst vorgibt. Denn jede (An)Ordnung setzt einen Ort voraus, an dem Elemente platziert werden können. 14 An dieser Stelle seien assoziativ nur einige Aspekte des Raumes und seiner gesellschaftlichen Aneignung und Transformation genannt: Der physische Raum, der im Fokus meiner Ausführung steht, ist der Grenzraum zwi- 8 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/ Main 2001, S. 131. 9 Ebenda, S. 158. 10 Ebenda, S. 159. 11 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1993, S. 300-347, hier S. 312f. 12 Ebenda, S. 336. 13 Ebenda, S. 332. 14 Vgl. Löw 2001, Anm. 8, S. 224f. Laura Heged s 78 schen den Flüssen Leitha und Lafnitz, der in mehrfacher Hinsicht ein Grenzraum ist. Geographisch betrachtet liegt der Neusiedler See an der Schnittstelle zweier europäischer Großlandschaften: im Westen reichen die Alpen in Gestalt des Leitha-Gebirges bis zum See und östlich das Flachland der Großen Ungarischen Tiefebene. Folglich treffen unterschiedliche Klimafaktoren aufeinander: atlantische Einflüsse überlagern kontinentale und mediterrane Klimafaktoren. Diese Umweltbedingungen bewirken die Entstehung einer seltenen geographischen Grenzsituation, die letztlich auch zu einer spezifischen Raumwahrnehmung und symbolischen Aneignung der Landschaft führten und zur Verklärung und Mystifizierung des Neusiedler Sees beitrugen. 15 Auch in ethnisch-sprachlicher und konfessioneller Hinsicht stellt die Grenzregion eine Kontaktzone dar, die durch mannigfaltige kulturelle Verflechtungen geprägt ist. 16 Diese historisch gewachsenen „kleinräumigen Vermischungen“ 17 schlossen die Genese homogener Siedlungsgebiete und die Herausbildung von ‚exakten’ Sprachgrenzen aus. Stattdessen führten sie vielmehr zur Entstehung unterschiedlicher lokal geprägter Identitäten - einer spezifischen „village ethnicity“ 18 . Überlagert werden diese naturräumlichen Grenzen und die Sprachgrenzen durch geographisch-politische Trennlinien. Historisch gesehen handelt es sich hier um ein altes Grenzland, eine alte Trennmarke, deren mehrfache Verschiebung meist auf „historisch-rechtlicher Argumentation“ 19 basierte. Das Grenzland, dessen Anfänge bis in die Antike zurückreichen, diente einst dem römischen Imperium als Provinz Pannonien zur Absicherung Italiens. 20 Auf diese, einst von den Magyaren ausgebaute mittelalterliche Grenzzone, dem Gyepu (Gürtel), geht die heutige Gestalt der politisch-administrativen Grenze zurück. Sie beruht auf dem in den Friedensverträgen von St. Germain und Trianon (1920) festgelegten Grenzverlauf, dessen endgültige Festschreibung in den Jahren 1922/ 23 erfolgte. Seither bestehen das Burgenland und Westungarn als administrative Einheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird entlang dieser alten Trennmarke die stabilste Grenze zwischen zwei politischen Systemen errichtet. Und eben diese Grenze gilt seit dem 11. September 15 Vgl. Sándor Békési: Verklärt und Verachtet. Wahrnehmungsgeschichte einer Landschaft: Der Neusiedler See, Frankfurt/ Main 2007, S. 40-52. 16 Vgl. Károly Kocsis u. Doris Wastl-Walter: Ungarische und österreichische Volksgruppen im westpannonischen Grenzraum. In: Martin Seger u. Pal Beluszky (Hg.): Bruchlinie Eiserner Vorhang, Wien et al. 1993, S. 167-223. 17 Hans Lemberg: Grenzen und Minderheiten im östlichen Mitteleuropa - Genese und Wechselwirkungen. In: Ders. : Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Marburg 2000, S. 159-181, hier S. 161. 18 Gerhard Baumgartner/ Eva Müllner/ Rainer Münz: Vielfalt als Erbe - multikulturelle Gesellschaft als Ziel. In: Dies. (Hg.): Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland, Eisenstadt 1989, S. 1-5, hier S. 3. 19 Vgl. Lemberg 2000, Anm. 16, S. 188. 20 Vgl. August Ernst: Geschichte des Burgenlandes, Wien 1991, S. 15-33. Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben 79 1989 als Symbol für die Überwindung des Eisernen Vorhangs. 21 All diese Spielarten von Grenze werden in der untersuchten ‚Grenzerzählung’ in geographisch-konkretem, im metaphorischen und erzählerischen Sinn modelliert und dabei miteinander verknüpft. Unter ‚Grenzerzählungen’ verstehe ich literarische Texte, deren zentrales Thema Grenzphänomene sind, die sich zugleich in deren narrativen Strategien widerspiegeln. Das Analysebeispiel ist die Erzählung Der See aus dem Band Seltsame Materie von Terézia Mora. 22 Es ist naheliegend, dass mit dem zentralen Thema Grenze die Motive der Flucht als einer Form von ‚Grenz(ver)handlung’ und des Schmuggels als einer Form des Grenzübergangs eng verknüpft sind. In der Erzählung wird beides in unterschiedlicher Weise thematisiert: Zum einen geht es um die Überwindung einer konkreten geographischen Grenze, zum anderen um das Überschreiten persönlicher Grenzen. Ebenso verhält es sich mit der Darstellung von Flucht. Einerseits ist die Handlung, also die konkret vollzogene Flucht im erzählten Raum, 23 andererseits aber auch die imaginierte Flucht, bei der Bewusstseinsgrenzen des „Denkbaren und Undenkbaren“ 24 im Traum durchschritten werden, gemeint. Diesbezüglich können für die Analyse folgende Fragen abgeleitet werden: Wer ist auf der Flucht vor wem und weshalb? Oder aus der anderen Perspektive besehen: Wer schmuggelt unter welchen formalen Bedingungen wen und warum? Wie werden die Landschaft und die Atmosphäre des Grenzraumes dargestellt und beschrieben? Ferner, welche Wirkung haben die räumlichen Bedingungen auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein der literarischen Figuren? Des Weiteren: Inwiefern wird Mehrfachidentität dargestellt, und werden dabei überhaupt soziale Differenzen bzw. Konflikte thematisiert? Und schließlich ist auch zu fragen, wie die Figuren mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen umgehen und ob sich hieraus Rückschlüsse auf das kulturelle Gedächtnis des Grenzraumes ableiten lassen. Die Erzählung Der See wird aus der Perspektive eines jungen Mädchens erzählt. Schauplatz der Handlung ist ein Bauernhaus in einem Grenzdorf, das unmittelbar an einem See liegt. Die Geschichte ereignet sich zu Weihnachten und berichtet vom plötzlichen Eintreffen eines Fremden, eines mit- 21 Vgl. Jörg K. Hoensch: Geschichte Ungarns 1867-1983, Stuttgart et al. 1984, S. 26-28; Christiane Gruber: Von Deutschwestungarn zum Burgenland. In: Elisabeth Deinhofer u. Traude Horvath (Hg.): Grenzfall Burgenland 1921-1991, Eisenstadt 1991, S. 11-41; Ernst 1991, S. 236-240. 22 Terézia Mora, eigentlich Terézia Kriedemann, wurde 1971 in der ungarischen Grenzstadt Sopron geboren. Sie lebt seit 1990 in Berlin, wo sie als Schriftstellerin, Übersetzerin aus dem Ungarischen und Drehbuchautorin tätig ist. Ihr Debüt, der Erzählband Seltsame Materie, ist 1999 erschienen und umfasst zehn Geschichten, die allesamt im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet angesiedelt sind, wie der Klappentext suggeriert. 23 Vgl. Natascha Würzbach: Erzählter Raum. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, S. 105-129. 24 Vgl. Wolfgang Essbach: Anthropologische Überlegungen zum Begriff der Grenze in der Soziologie. In: Fludernik/ Gehrke 1999, Anm. 3, S. 85-98, hier S. 94. Laura Heged s 80 tellosen Flüchtlings, der auf Drängen der Mutter vom Großvater über die Grenze gebracht werden soll. Obwohl Orte und Personen namenlos bleiben, werden der Grenzraum und der See durch mehrere indirekte Referenzen soweit näher bestimmt, dass als Handlungsort vom Neusiedler See und dessen östlichem Ufer ausgegangen werden kann. Das Dorf am See liegt an der äußersten Peripherie des Landes an einem angrenzenden ‚Drüben’, welches zugleich von einer doppelten Grenze, der Staats- und der Binnengrenze, eingeschlossen ist. Ebenso ist das Haus der Familie in peripherer Lage situiert, und auch der Hof selbst ist an zwei Seiten durch eine Mauer von der dörflichen Umgebung und dem „stinkenden kleinen Krebsbach“ (55) abgetrennt: Unser Haus ist das unterste im Dorf, das letzte Ende, wie man es nennt, in die engste Stelle zwischen Hügel und See gequetscht. Der Bach hinter uns ist nach Krebsen benannt, die es hier lange nicht mehr gibt, er umfließt unsere Mauer und biegt kurz darauf ab zum See. (55) Dennoch werden diese alles umschließenden und allgegenwärtigen Grenzen vom See durchbrochen, der in seiner topologischen Verbindungsfunktion dem Grenzraum einen fließenden dynamischen Charakter verleiht, den Raum in Bewegung setzt und so einen Gegenpol zur ‚stabilen’, ‚starren’ künstlichen Trennlinie darstellt. Der Bach ist die Verbindung zum See, und der See der Übergang zur ‚anderen Seite’. Überdies enthält diese Textstelle eine indirekte Referenz auf ein konkretes Toponym: der Bach, der nach Krebsen benannt ist, verweist auf den Ort Kroisbach, der - abgeleitet vom Gewässernamen ‚Krebsbach’ - etymologisch auf die ursprünglich slawische Bezeichnung „rak(v)nica“ zurückgeht, 25 das sich auch im Ungarischen Ferto rákos (rák dt. Krebs) wiederfindet. Es ist jenes Grenzdorf am See, das während der Grenzöffnung 1989 eine zentrale Rolle spielte und heute einen Erinnerungsort darstellt. 26 Im erzählten Raum stellen das Dorf und der See an einer geographischen Grenze einen Gegenraum, ein Heterotopos 27 dar, denn er ist ein andersartiger Raum, der - von einer Binnengrenze abgetrennt - außerhalb der anderen Orte liegt, diese zwar repräsentiert, aber zugleich in ihr Gegenteil verkehrt. Das Dorf ist ein Ort, der in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten“ 28 steht, und somit ein heterotoper Ort ist, weil er „ein System der Öffnung und Abschließung“ 29 erzeugt, das den Raum gleichsam isoliert, aber auch einen Zugang - den Zutritt durch Passierscheine - ermöglicht. Unter diesem Aspekt ließen sich Grenzräume generell als Heterotopien denken, weil hier eine Ordnung suspendiert, neutralisiert und die andere 25 Vgl. http: / / www.uni-graz.at/ slaw4www_hpmt_slawischesteiermarkae.doc, 7.4.2010. 26 Vgl. http: / / www.fertorakos.hu/ de/ latniv_17.asp, 3.4.2010. 27 Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne u. Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt/ Main 2006, S. 317-329, hier S. 320. 28 Ebenda, S. 320. 29 Ebenda, S. 325. Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben 81 nicht etabliert ist. 30 Oder sind Grenzräume doch vielmehr Durchgangsorte, „Nicht-Orte“, 31 an dem die Körper in dynamischer unauflöslicher Relation zueinander stehen, und deshalb eher provisorische Transiträume, in denen „Worte und Bilder“ 32 zirkulieren, so dass sie nicht über ein Gedächtnis und eine eigene Identität verfügen? In der Erzählung Der See finden sich beide Konzepte wieder, denn einerseits erscheint das Dorf am See als Gegenort, anderseits agieren die Figuren - ortsgebunden und verankert in der Zeit -, indem sie erinnernd auf ihre Raumerfahrungen zugreifen, diese (re)produzieren, wodurch sie dem Raum Sinn verleihen und sich den „Nicht- Ort“ anzueignen versuchen. Um im Folgenden die unterschiedlichen Facetten von Flucht zu veranschaulichen, möchte ich die eingangs formulierte Leitfrage noch einmal aufgreifen: Wer schmuggelt wen, warum, wann und wie? Unter diesem Aspekt will ich auf jene Charaktere der Erzählung eingehen, die über das Motiv der Flucht miteinander verbunden sind und in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen. Nach meiner Lesart sind das der Großvater, der Fremde und das Mädchen. Die folgenden Textpassagen sollen illustrieren, wie die Ich-Erzählerin über diese Verkettung reflektiert. Wer aber ist eigentlich dieser Fremde? Er weiß nicht, wo er hier gelandet ist. Er begreift erst nach einiger Zeit, daß sich diese mehlbestäubten Menschen immer noch im falschen Land befinden. Oder vielmehr: daß er selbst sich im falschen Land befindet. […] Er stottert erschrocken in seinen fremden Sprachen, die er alle nicht beherrscht, bis er schließlich durcheinanderkommt und verstummt. Er starrt uns nur noch an. Sein verschwommener grauer Wolfsblick. Lange Stille. […] Er will, wie alle, zum See. Jemand hat ihm gesagt, er brauche nur dem Bach bis zur Mündung zu folgen, dann sei er am Ziel. Nur daß der Bach zu früh zu Ende war. (55f.) Die Ich-Erzählerin übernimmt die Perspektive des Fremden und beschreibt seine Gedanken, die zunächst auf ein Ausgeliefertsein und Verwirrung hindeuten. In der Eingangsszene wurde er als mittellos dargestellt, als einer, der bis auf seinen Körper, bis auf das nackte Leben, reduziert ist: „er hat doch nichts mehr. Noch nicht einmal einen zweiten Schuh. Diese Gauner, die ihn den Bach haben runterlaufen lassen, haben ihm alles weggenommen“ (53) - außer seinem Goldzahn und dem Ehering, wobei er sich auf den von der Mutter angebotenen Tauschhandel einlässt und bereit ist, auch diese wegzugeben. Er hat alles verloren und aufgegeben und hofft dafür, die Freiheit zu gewinnen. Mit der Beschreibung dieser Figur wird Verlusterfahrung zugleich auf mehreren Ebenen thematisiert: neben dem Verlust von Besitz und Eigentum geht es auch um den Verlust von Identität sowie um Trennung, was im Weggeben des Eheringes symbolisiert wird. Auch der temporäre Verlust der Sprache drückt innere Zerrissenheit und Verzweiflung aus. Der 30 Vgl. ebenda, S. 320-322. 31 Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt/ Main 1994, S. 90-135. 32 Ebenda, S. 127. Laura Heged s 82 Fremde kann nur noch phonetische Laute hervorbringen, sich nicht einmal mehr artikulieren, was bis zur Sprachlosigkeit führt. Und dennoch: er ist zwar sprachlos, aber nicht tatenlos, denn er handelt: „Er will, wie alle, zum See“ (56), der ihm die Flucht über die Grenze ermöglichen soll und durch den er auf die ‚andere’ Seite zu gelangen hofft. Aber nur der Großvater kennt den Weg dorthin. Der Großvater, der eigentlich Fischer von Beruf ist, „legt seit sechzig Jahren seine Angeln und Reusen im Schilf aus.“ (56) Aber: Seitdem Vater nicht mehr bäckt, bringt Großvater wieder Fremde nach drüben. Er folgt mit ihnen dem versteckten Bachlauf durch den Schilfgürtel. In Hörweite des offenen Wassers läßt er sie allein. Er zeigt ihnen einen Stern, dem sie folgen sollen bis ins Wasser und dann tauchen, solange es geht, bis es von einer Welle zur nächsten schließlich drüben ist. Großvater hat den Weg nicht vergessen, obwohl er ihn lange nicht mehr gegangen ist. Jahrzehntelang kam kaum jemand von außerhalb bis zu diesem Dorf. Die Passierscheine hatten einen grünen Streifen für Kinder, einen roten für Erwachsene, er lief quer über die Vorderseite, strich alles durch, als wäre es ungültig. Aber sie waren gültig, die Ausweise, und obwohl uns die Grenzhüter als Dorfbewohner kannten, kontrollierten sie sie jedesmal. Anfangs, erzählt Vater, schlitzten sie selbst den Fischen aus Großvaters Fang die Bäuche auf, wer weiß, was sie da finden wollten. Großvater zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem, und wenn, dann hatte er einen Akzent. Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers gesprochen. Das machte ihn verdächtig. Man schlitzte seine Fische auf und fand nichts. Nur aufgeplatzte Galle. Aber das ist schon lange her, wer weiß, ob es stimmt. Großvater schweigt dazu. Der Weg bis zum Dorf ist seit einiger Zeit wieder frei. Die Grenzhüter haben sich zurückgezogen, unsichtbar in die Wiesen, ins Moor, und es kommen immer mehr ausweislose Fremde über die Mauer zu unserer Backstube geklettert. Alles ist hier Grenze, die Fremden könnten auch über die Wiesen gehen, über Land, aber sie wollen nur Großvater und den See, für alle und von allen Seiten gleich undurchschaubar und gefährlich, tierlaut in der Nacht, durch den man wie Lurche, wie die Aale hindurchschlüpfen kann. (57f.) In dieser Textpassage wird auf mehreren Zeitebenen erzählt, wobei selektiv erinnerte Erlebnisse miteinander verflochten sind. Während die Erzählerin den Großvater charakterisiert, vermittelt sie auch zahlreiche Facetten der Grenze, indem sie über Erinnerungen des Vaters reflektiert sowie über politische Veränderungen und Alltagspraktiken berichtet. Benannt werden zunächst die Beweggründe für die illegale Tätigkeit des Großvaters, hinter welcher offensichtlich ein finanzieller Grund steht. Denn früher, so geht aus einer anderen Textstelle hervor, konnte der Vater durch seine Nebentätigkeit als Bäcker das Einkommen der Familie etwas aufbessern, aber seit er an Tuberkulose erkrankt ist, kaufen die Dorfbewohner sein Brot nicht mehr. Diese verlorene Einnahmequelle veranlasst den Großvater, wieder Fremde zur Grenze zu bringen. Die äußeren Lebensumstände, das Finanzielle, zwingen Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben 83 ihn zur Tat, und die Erkrankung des Vaters legitimiert unter moralischem Aspekt letztlich seine illegale Tätigkeit - so scheint es zunächst. Denn später erfährt der Leser den wahren Grund: „Er tut es nicht für die Fremden. Die Fremden bedeuten ihm nichts. Er tut es auch nicht für Vater, denn er mag Vater nicht. Er spricht nicht mit ihm. Er bringt sie für uns hinüber, für meine Brüder und mich. Und für unsere Mutter, die nicht seine leibliche Tochter ist. Deren Vater auch nach drüben geschwommen oder ertrunken ist.“ (69) Die Erzählerin reflektiert, dass es dem Großvater keineswegs um Bereicherung an materiellen Gütern geht. Obwohl er den Tauschhandel der Mutter stillschweigend akzeptiert, hat dieser Tausch für ihn einen anderen Wert. Seine Handlung zeigt, dass er die gegenwärtige Situation als Provisorium betrachtet und verdeutlicht ferner seinen Glauben an die Freiheit - wenn schon nicht an die eigene, so doch an die der kommenden Generation. Neben den Handlungsmöglichkeiten in einer Grenzsituation wird auch über unterschiedliche individuelle Wertvorstellungen reflektiert. Die Erzählerstimme vermittelt das sehr subtil und unaufdringlich, ohne zu moralisieren oder über jemanden zu urteilen. Überdies enthält die Aussage auch ein zukunftsweisendes Moment, denn sie nimmt symbolisch die Grenzöffnung von 1989 vorweg. Fest steht jedoch: geschmuggelt und geflohen wird nachts. Auf welchem Fluchtweg aber der Großvater die Fremden zur Grenze bringt, bleibt sein Geheimnis, denn der Bachlauf ist versteckt und nur er kennt den Weg zur Grenze, den er aber verschweigt: „Unsichtbar die Grenze. Großvater verrät nicht, wo sie ist.“ (66). Die Aussage: „Großvater hat den Weg nicht vergessen, obwohl er ihn lange nicht mehr gegangen ist“ legt die Annahme nahe, dass er schon vor der Grenzziehung in der Region gelebt hat. Zudem referiert sie implizit auf die Grenzverschiebungen nach 1920, auf jene politische Entscheidung, die dazu führte, dass die Einwohner ‚über Nacht’, ohne den Ort gewechselt zu haben, der ‚anderen Seite’, ja möglicherweise der ‚falschen Seite’ zugehörten. Die Resonanz dieser künstlichen Grenzziehung zeigt sich besonders an der Figur des Großvaters. Sein Wissen über den Raum, seine detaillierten Ortskenntnisse, beruhen demnach auf einer starken lokalen Identität, seinen Erfahrungen im Grenzraum und seiner Erinnerung. Er verlässt sich auf sein Gedächtnis und findet in der Dunkelheit mühelos, sozusagen ‚blind’ den im Schilf versteckten unsichtbaren Weg zur Grenze. Das wissentliche Verschweigen des Weges und der versierte Umgang mit dem Raum verdeutlichen, welches Feld an Optionen das Wissen eröffnet, dessen Macht im Raum Grenzen überschreitet, weil es Spielräume erschließt. Der Großvater wendet bei seinen Grenzgängen jene „stabilen Taktiken“ an, mit denen er problemlos staatliche Kontrollen umgeht und sich subtil dem „Netz[e] der Überwachung“ 33 entzieht. 34 Den Flüchtlingen aber gibt er einen Stern mit auf den Weg als Garant 33 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 186. 34 Vgl. ebenda, S. 183-187; Michel Foucault: Short CutS. Hg. v. Peter Gente, Heidi Paris, Martin Weinmann, Frankfurt/ Main 2004, S. 56-80, hier S. 77f. Laura Heged s 84 und Orientierungshilfe. Dieser Stern, vielmehr Weihnachtsstern, leuchtet als biblisches Symbol den Fremden den Weg. Wie sich das Leben im Grenzgebiet auf den Alltag der Dorfbewohner auswirkte, beschreibt die Protagonistin im nächsten Abschnitt. Dazu wechselt sie die Zeitebenen durch mehrere Rückblenden. Diese sind durch Tempuswechsel vom Präsens ins Präteritum gekennzeichnet, was auf erlebte Ereignisse in der Vergangenheit und deren Konsequenzen für die Gegenwart, etwa die Motivation des Großvaters, Fremde über die Grenze zu schmuggeln, verweist. Dass das Dorf über viele Jahre nur mit einem Passierschein zugänglich war, bedeutete für die Dorfbewohner, an einer doppelten Grenze zu leben, denn die Region war durch diese zwar durchlässige, dennoch stark kontrollierte Binnengrenze durch Zutrittsverbot 35 vom Hinterland partiell getrennt und somit teilweise isoliert. Außerdem enthält diese Textstelle die implizite Mitteilung, dass jene Grenze in ihrer Funktion als Staatsgrenze eine stark bewachte war und das Indiz, dass es sich dabei sowohl um eine politische Systemgrenze als auch um eine Sprachgrenze handelte. Das wiederum verweist auf eine konkrete osteuropäische Grenze zum Westen, das heißt auf den ‚Eisernen Vorhang’ zwischen Österreich und Ungarn. Verifiziert wird dieser Zusammenhang durch den Neusiedler See, den einzigen an einer System- und Sprachgrenze gelegenen europäischen See. Dem erzählten Grenzraum wird somit historische und politische Bedeutung zugeschrieben, wodurch er bewertet und zugleich strukturiert wird. Im folgenden Abschnitt wechselt die Ich-Erzählerin erneut die Perspektive und reflektiert aus dem Blickwinkel des Vaters über gegenseitige Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren. Die übertriebenen Kontrollen und Erniedrigungen der Grenzwächter im Umgang mit dem Großvater, den sie wegen seines fremden Akzentes verdächtigten, machen die soziale Konstruktion von Differenz sichtbar. Die Ausgliederung erfolgt in zweifacher Hinsicht: Zum einen wird dem Großvater die Glaubwürdigkeit als Fischer aberkannt, indem er als Schmuggler verdächtigt wird, worauf sich die Aussage, dass man ihm die Fische aufschlitzte, bezieht. Zum anderen wird er aufgrund der phonetischen Abweichung in seiner Aussprache als Fremder wahrgenommen. Der Akzent seiner Muttersprache, die eindeutig negativ konnotiert ist, macht ihn unterschwellig zum Systemgegner und somit zum potentiellen Feind, was mit der Aussage: „Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers gesprochen. Das machte ihn verdächtig.“ (57) verdeutlicht wird. Diese Bezüge konstituieren im Text eine ethnischsprachliche Trennlinie zwischen dem scheinbar ‚Eigenen’ und dem angeblich ‚Fremden’. Andererseits wird auch mit dem Klischee der Sprachbeherrschung gespielt und zugleich auf die Kontingenz ethnozentrischer Fremdzuschreibung mittels der Kategorie ‚Sprache’ verwiesen. Das führt zur Annahme, dass erst die Herstellung der Staatsgrenze Differenz erzeugte, woraus sich die Verallgemeinerung schlussfolgern lässt, dass der Prozess der Ab- 35 Vgl. Kocsis 1993, Anm. 16, S. 198. Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben 85 grenzung die Wahrnehmung der Akteure verändert und gleichzeitig Identität stiftet. Beim Großvater zeigt sich die Identität im Alleingang, das heißt, in der partiellen Isolation und in der selbst gewählten Sprachlosigkeit, denn: „Großvater zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem […]“ (57). Da er weder die Landessprache noch seine Muttersprache benutzt, positioniert er sich folglich zwischen den Sprachen. Dieses ‚Dazwischen-Sein’ äußert sich im Schweigen. Des Großvaters Sprachbewusstsein, das sich ‚Nicht-Entscheiden-Wollen’, ist auch eine Art von Grenzgängertum und spiegelt seine Grenzgänge als Fluchthelfer. Dennoch ist seine bewusste Sprachverweigerung ambivalent, denn sie könnte als Vorkehrung gedeutet werden, um nicht aufzufallen, aber auch als eine Form von Widerstand oder eben Resignation. Auch dient die Figur des Großvaters als Projektionsfläche für eine Vielzahl von Symbolen: Als Fischer hüllt er sich immerfort in Schweigen. Er ist ‚stumm wie ein Fisch’, der zu Heiligabend über einen unsichtbaren Weg selbstlos Fliehende in die Freiheit führt. Hier werden mit dem Motiv des Fischers und des Fisches zum einen menschliche Eigenschaften wie Verschwiegenheit, Wachsamkeit und Beherrschung symbolisiert. Zum anderen ist der Fisch das Symbol Christi und gilt als Attribut von Heiligen. Die Grenzgänge des Großvaters könnten in dieser Hinsicht als Gleichnis zum Apostel Petrus und zur Deutung der Apostel als Menschenfischer 36 gelesen werden. Im letzten Abschnitt wechselt die Erzählerin wiederholt die Zeitebenen. Indem sie über erlebte Ereignisse reflektiert, nimmt sie zugleich Bezug auf die Gegenwart und leitet daraus Schlussfolgerungen für zukünftiges Geschehen ab. Deutlich wird das etwa am Tempuswechsel ins Präsens sowie durch die Präposition ‚seit’, die zeitlich den Beginn einer noch nicht abgeschlossenen Phase markiert. Die Erzählerin berichtet von einem ungehinderten freien Zugang zum Dorf, was zur Annahme führt, dass der einst streng kontrollierte Grenzraum nun durchlässiger, offener geworden ist. Wenn in der Erzählgegenwart von einer nach hinten offenen Grenzregion gesprochen wird und der Leser davon ausgeht, dass die Geschichte in Westungarn situiert ist, was sich aus den erwähnten impliziten Referenzen ableiten lässt, könnte sich diese Textstelle ebenso auf ein konkretes historisches Ereignis beziehen, nämlich auf die Grenzöffnung von 1989 und den Fall des ‚Eisernen Vorhangs’. Mit der Semantisierung der Standorte wird folglich nicht nur ein geschichtlicher Handlungsraum hergestellt, sondern auch eine Bewertung impliziert. Die weniger scharf bewachte Grenze aber erhöht die Fluchtchancen und eröffnet neue Fluchtmöglichkeiten für „ausweislose Fremde“ (58). Eine latente Bedrohung angesichts einer möglichen Überfremdung scheint von diesen in steigender Zahl ankommenden nicht identifizierbaren Flüchtlingen auszugehen. Für sie bedeuten der See und ein ortskundiger Fluchthelfer eine Gelegenheit zu entkommen. Sie kommen mit einem festen Willen 36 Vgl. Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole, Augsburg 2000, S. 142-145; Evangelium nach Lukas (5,1-11) und Matthäus (4,18-22). Laura Heged s 86 und einem konkreten Ziel, denn sie wissen über die Betätigung des Großvaters als zuverlässiger Fluchthelfer. Das veranlasst sie, nicht die anderen, weniger gefährlichen Fluchtwege zu benutzen, sondern sich freiwillig der Ungewissheit des Sees auszusetzen. Der See, der sich direkt im Grenzraum befindet, vereint das Getrennte, denn er verbindet beide Seiten miteinander. Unter Berücksichtigung der bereits erwähnten indirekten Raumbezüge, verweist diese topographische Angabe - wenn auch nur vermittelt - wiederholt auf den Neusiedler See. Den See beschreibt die Erzählerin als etwas Unberechenbares und Undurchsichtiges, durch den man bei Dunkelheit geräuschlos, also „tierlaut in der Nacht“ (58) entfliehen kann. Auf der Erzählebene spiegelt die Landschaft die Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren wider, wobei die Atmosphäre des Sees mit der Charakterisierung der Grenzwächter korrespondiert. Deutlich wird das etwa in der Verwendung negativ konnotierter Adjektive wie: ‚unsichtbar’, ‚gefährlich’ oder ‚undurchschaubar’. Eine Erzählweise, die in ähnlicher Form auch in der Darstellung eines Traumes wiederkehrt, über den die Hauptfigur einen inneren Monolog führt und der ihre Gefühlswelt und ihre Gedanken beschreibt: Ich öffne die Augen nicht. Ich öffne sie nicht. Ich gleite durch junges Schilf. Ich bin leicht wie ein Kind, mein Körper ist ein Boot. Die schwachen Halme legen sich unter mich, schneiden mich, streicheln mich. Langsam, scharf sickert das Wasser von unten durch. Bald ist es geschafft. Ich lasse mich ins Untrinkbare gleiten. Es soll mich hinübertragen bis morgen früh. […] Ich liege auf dem Rücken, bewege meine eiskalten Finger, das Wasser des Sees, das glatt unter mir liegt, ein graues Laken, und ich flüstere: Ich bin tot. (64) Diese Episode, die sich auf dem Dachboden des Hauses ereignet, schildert den Bewusstseinszustand der Figur, wie er in der Phantasie oder im Traum erlebt wird. Auch hier handelt es sich um eine Grenzüberschreitung, aber in anderer Gestalt: Im Traum überschreitet die Erzählerin beinahe die Grenze, doch ihre imaginierte Flucht missglückt. Der in Gedanken erprobte Grenzübertritt wird zu einem existentiellen Ereignis. Sie setzt der Trostlosigkeit des Alltags einen Traum von Freiheit entgegen, wobei sich der im Unterbewusstsein erdachte Fluchtweg als ein Angsttraum erweist, denn die Erzählerin sieht sich als Wasserleiche davon schwimmen. Somit erscheint ihr Sehnsuchtsraum als ein utopischer: Vereint mit dem See mündet ihre Vision von ‚der anderen Seite’ in den Tod. Im Medium des Wassers, das tiefenpsychologisch für das Unbewusste steht, Quelle des Ursprungs und Element der Auflösung, wird die Erzählfigur an die Schnittstelle von Leben und Tod versetzt. Ihre imaginierte Grenzüberschreitung wandelt sich gleichsam zu einer Schwellenerfahrung. Obwohl sich im Wasser die topographische Grenze auflöst und in Gestalt des Sees zu einem dynamischen Ganzen formt, kann es den entgrenzten Körper nicht hinübertragen. Mit dem Motiv vom schönen Wassertod, das in leicht abgewandelter Form an die Figur der Ophelia anknüpft, rückt die Figur an die Schwelle des Todes als des einzig möglichen Auswegs. Auch dies ist ein Nicht-Ort oder ein Niemandsort, denn das Subjekt ist weder auf der Grenzen erfahren - Grenzen erhandeln - Grenzen erschreiben 87 ‚falschen’ noch auf der ‚anderen Seite’ im ersehnten ‚Drüben’. 37 Doch gerade mit dieser Gedankenreise erfolgt die Überlagerung der konkreten und metaphorischen Grenze und somit die Verschränkung von realem und erzähltem Raum. Auf der Erzählebene gelingt durch diese imaginierte Flucht, die Rolle des Grenzgängers und des Flüchtlings zu verbinden. Durch Perspektivenübernahme spiegelt sich sowohl die Figur des Großvaters als auch die des Fremden in der Gedankenreise der Protagonistin, die in einer Doppelrolle agiert: Zum einen ist sie die Erzählinstanz, die zwischen dem Großvater und dem Fremden vermittelt, deren Gedanken transferiert und zum anderen die Hauptfigur, die sich selbst als eine Grenzgängerin im Transitraum definiert. Den See konstituiert sie somit als einen Raum der Erinnerung. Die narrative Struktur des erzählten Raumes wird bestimmt durch das Setzen von topographischen und metaphorischen Grenzen, die aufgrund ihres amorphen Charakters nicht immer eindeutig klassifizierbar sind, sondern sich stattdessen verschieben, überlagern und wechselseitig beeinflussen. Mit dieser erzählerischen Gestaltung gelingt es der Autorin, das Motiv der Grenzüberschreitung auf thematischer, metaphorischer und narrativer Ebene zu verbinden. Damit lässt sich die Erzählung als anschauliches Beispiel für die Verknüpfung von sozialem Raum (im Sinne Löws) und erzähltem Raum (im Sinne Lotmans) bewerten. Die Textauszüge demonstrieren den unterschiedlichen Umgang der literarischen Figuren mit dem Phänomen der Grenzüberschreitung: Sie werden porträtiert als Fluchthelfer, Flüchtlinge oder Kleinkriminelle. Überdies verdeutlichen sie, inwiefern ihre Flucht von der jeweiligen Intention und Motivation bestimmt wird und demnach in Funktion und Gestalt variieren kann: So ließe sich etwa von einer ‚illegalen Flucht’ des Fremden, einer ‚partiellen Flucht’ des Großvaters und einer ‚imaginierten Flucht’ der Erzählerin sprechen. Flucht und Grenzüberschreitung könnten ebenso als existentielle Grenzerfahrungen in einer Diktatur gelesen werden. Obwohl Flucht und Beihilfe zur Flucht juristisch eine Straftat darstellen, geschieht das Überschreiten dieser Grenze um der Freiheit willen - und erfährt hierdurch eine positive Konnotation. Neben der Darstellung der Handlungsträger veranschaulicht der Text die Kennzeichnung und Konstruktion der Grenzregion als Transitraum, als einen Ort, an dem sich illegale Grenzverletzer und legale Grenzgänger aufhalten und der diesen als Durchzugsgebiet dient. Darüber hinaus zeigen sie aber auch die Sinnstiftung und Bedeutung des Raumes als einen Gedächtnisraum, Erinnerungsraum, Wissensraum oder gar Gewissensraum, lenkt doch die Darstellung der Grenzregion auf Probleme, die nach dem Ende zweier Totalitarismen entstanden sind, wie Transformationsprozesse, Flüchtlingsströme oder Kleinkriminalität. Mit anderen Worten: Einerseits lassen sich aus den narrativen Entwürfen, die selektiv auf historische, soziale und Macht- 37 Vgl. Waldenfels 1999, Anm. 3, S. 151-153; Augé 1994, Anm. 31, S. 127. Laura Heged s 88 diskurse Bezug nehmen, Verallgemeinerungen ableiten, andererseits stellt die Autorin in ihrer Erzählung ein subjektives spezifisches literarisches Modell der Grenzregion her. Sie konstruiert somit eine fiktive Wirklichkeit des Grenzraumes und reflektiert zugleich die Ambivalenz der Grenze. H OLGER P ÖTZSCH (T ROMSØ ) Liminale Räume in Srdjan Dragojevi s Lepa Sela, Lepa Gore und Danis Tanovi s Ni ija Zemlja Dieser Beitrag behandelt das Motiv liminaler Räume im Kriegsfilm. Das Hauptargument des Textes ist, dass solche gegnerische Seiten verbindende Tunnels oder geteilte Zonen zwischen den Linien als ‚dritter Raum‘ fungieren. Dieser hat das Potential, etablierte Diskurse und Identitätskonstrukte, die auf einer gegenseitigen Ausschließlichkeit von Selbst und Anderem basieren, in Frage zu stellen. Durch die Analyse eines serbischen (Lepa Sela, Lepo Gore, 1996) und eines bosnischen Kriegsfilms (Nic ija Zemlja, 2001), 1 die den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zum Thema haben, wird gezeigt, wie diese Filme liminale Räume präsentieren und verhandeln. Mit Rückgriff auf die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe soll sodann untersucht werden, wie solche geteilten Zonen als diskursive (Ver)- Handlungsräume alternative Bedeutungsrahmen möglich machen. Liminale Zonen als diskursive (Ver)Handlungsräume Der Term Liminalität wurde von Victor Turner 2 geprägt und beschreibt eine rituelle Übergangssphäre, einen Zustand temporären Ausschlusses aus einer Gemeinschaft, die typisch für Initiationsriten vieler Kulturen ist. Liminalität im Kriegsfilm wird hier jedoch nicht als eine solche rituelle Ausnahmesphäre im Sinne Turners verstanden, in der Jugendliche zu Männern reifen, bevor ein Wiedereinschluss sie zu vollwertigen Mitgliedern ihrer Gesellschaften macht. In einem an Homi K. Bhabha 3 angelehnten Verständnis des Begriffs als produktiver und potentiell subversiver, dritter Raum stellt Liminalität in dieser Untersuchung die inhärente Logik kriegerischer Handlungen in Frage: die gegenseitige Ausschließlichkeit von Freund und Feind - von Selbst und dem Anderen - durch konstitutive Barrieren. 1 Lepa Sela, Lepo Gore (BR Jugoslawien 1996; dt. Schönes Dorf, Schöne Flammen), im Folgenden abgekürzt als LSLG); Nic ija Zemlja (Koproduktion BE, UK, SL, F, I, BiH 2001; dt. Niemandsland), im Folgenden abgekürzt als NZ. 2 Victor Turner: Dramas, Fields, and Metaphors: Symbolic Action in Human Society, Ithaca 1974. 3 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London - New York 1994. Holger Pötzsch 90 Wie ich einem früheren Artikel ausgeführt habe, haben solche konstitutiven Barrieren sowohl eine topographische als auch eine epistemologische Dimension. 4 Der Soldat, der sich in Feindesland vorwagt, schützt sich mit verschiedenen Formen von topographischen Barrieren - von Schützengräben über gepanzerte Fahrzeuge bis hin zu Rüstungen oder kugelsicheren Westen - vor einem Feind, der im Laufe der Handlung weitgehend unsichtbar, unzugänglich und unverständlich bleibt. Der Feind wird durch bestimmte filmische Mittel - Fernaufnahmen, verwackelte Kamera, rasche Schnitte usw. - als allgegenwärtig abwesend dargestellt: er ist als tödliche Bedrohung potentiell überall und bleibt zugleich verborgen. Epistemologische Barriere steht hier also für die Unzugänglichkeit der Motive, Rationalität und der inhärenten Menschlichkeit des Anderen, der zu einem gesichtslosen Schrecken reduziert wird. Implizit verleihen diese Barrieren durch den Ausschluss des potentiell subversiven Anderen zugleich dem Selbst Identität und diskursive Stabilität. In Kriegsfilmen fordert Liminalität topographische und epistemologische Barrieren effektvoll heraus und ermöglicht eine „intervention of the Third Space of enunciation, which makes the structure of meaning and reference an ambivalent process […] [and] challenges our sense of the historical identity of culture as a homogenizing, unifying force“. 5 Dem produktiven, liminalen Zwischenraum ist also das Potential zu Eigen, entzweiende Barrieren als verbindende Kontakt- und Verhandlungszonen neu zu konstituieren, die sodann etablierte Diskurse und Identitäten herauszufordern vermögen. Aufgrund dieser Nutzung des Liminalitätsbegriffes nähert sich dieser Beitrag einer „kritischen Topographie“ im Sinne Reinhold Görlings an, die auch „den Raum zwischen den Orten, den Raum der unbekannten, fremden, minoritären Stimme des anderen berücksichtigt”. 6 Um eine weiterführende Betrachtung geteilter, liminaler Zonen als diskursive (Ver)Handlungsräume vorzubereiten, ist eine kurze Einführung in die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2001) notwendig. 7 Diese soll zu einem Verständnis der diskursiven Prozesse beitragen, durch die solche “split-spaces of cultural enunciation” 8 eine Überdetermination, und daraus folgend, eine Störung oder Unterminierung etablierter Positionen möglich machen. 4 Holger Pötzsch: Challenging the Border as Barrier: Liminality in Terrence Malick’s “The Thin Red Line”. In: Journal of Borderlands Studies, Vol. 25 (1) (2010), S. 67- 80. 5 Bhabha 1994, Anm. 3, S. 54. 6 Reinhold Görling: Heterotopia. Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München 1997, S. 27-28. 7 Ernesto Laclau u. Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London - New York, 2001. Für Einführungen siehe: Louise Phillips u. Marianne W. Jørgensen: Discourse Analysis as Theory and Method, London 2002 und Jacob Torfing: New Theories of Discourse: Laclau, Mouffe and Ž i ž ek, Oxford 1999. 8 Bhabha 1994, Anm. 3, S. 56. Liminale Räume 91 Laclau und Mouffe zufolge sind Diskurse mehr als semiotische Systeme. Sie sind materieller Natur und schließen alle Felder des sozialen Lebens ein. Diskurse gleichen situierten, zeitlich begrenzten und nie zur Gänze stabilisierten Bedingungsgefügen, die nicht nur das Aufkommen von Äußerungen sprachlicher Natur, sondern auch das Hervorbringen performativer (z.B. Handlungen) oder materieller (z.B. Bauwerke) Artikulationen möglich machen und deren Vielfalt begrenzen. In Laclaus und Mouffes Terminologie sind Diskurse „partial limitations of a field of contingency”, die ständig von einem unumgehbaren „surplus of meaning” in einem den Diskurs umgebenden „field of discursivity” herausgefordert und unterminiert werden. 9 Dieses konstitutive Außen erzeugt den Diskurs und bedingt zugleich dessen ständige Subversierung. Veränderung wird somit denkbar, und die Idee in letzter Instanz determinierender Strukturen wird durch eine Vorstellung von ständig andauernden Prozessen temporärer und kontingenter Strukturierung ersetzt. Wie verhält es sich mit den diesen Strukturierungen unterworfenen Subjekten? Laclau und Mouffe schreiben: „[w]henever we use the category of ‚subject’ […], we will do so in the sense of ‚subject position’ within a discursive structure”. 10 Die Idee eines autonomen Subjekts als transzendenter Lokus individueller Erfahrung und produktiver Kern diskursiver Ordnungen wird so zurückgewiesen. Subjekte als Subjekt-Positionen sind diskursiv konstituiert. Soweit folgen Laclau und Mouffe ihrem Vordenker Althusser. Im Gegensatz zu ihm betrachten sie jedoch Subjekte als nicht ausschließlich von einem dominanten (ideologischen) Diskurs positioniert, sondern als das ständigen Änderungen unterworfene Produkt einer Reihe solcher Positionierungen durch eine Vielzahl alternativer und sich häufig sogar gegenseitig ausschließender diskursiver Rahmen. Genau diesen Zustand meinen Laclau und Mouffe, wenn sie von ‚überdeterminierten Subjektpositionen’ sprechen. Für handelnde Subjekte bedeutet dies, dass auch deren Identität ständig subversiert und nie endgültig festlegbar ist. In den Worten von Laclau, der hier eine Idee Slavoj Ž i ž ek referiert: „The subject is […] the place of lack, an empty place that various attempts at identification try to fill”. 11 Diese Theorie diskursiv überdeterminierter Subjekte hat Folgen für ein Verständnis der Rezeption von Filmen durch den Zuschauer. Im Rahmen von Laclaus und Mouffes Theorie impliziert die Behauptung, der Zuschauer werde durch einen dominanten Filmdiskurs auf eine bestimmte Weise positioniert, nicht, dass dieser Zuschauer damit hilfloses Opfer ideologischer Prätentionen eines allmächtigen kinematografischen Apparates sei. Das Zuschauer-Subjekt filmischer Diskurse ist überdeterminiert und dominante, filmische Diskurse sind immer offen für eine Destabilisierung durch alternative 9 Laclau u. Mouffe 2001, Anm. 7, S. 111. 10 Ebenda, S. 115. 11 Ernesto Laclau: ‚ Discourse’. In: Robert E. Goodin u. Philip Pettit (Hg.): A Companion to Contemporary Political Philosophy, Oxford 1993, S. 436. Holger Pötzsch 92 filmische (oder extra-filmische) Diskurse. Filmdiskurse können daher als Schemata oder Vorlagen begriffen werden, die Rezeption ausrichten und den Zuschauer in dessen Lesearbeit stillschweigend anleiten. Gewisse Bedeutungsmuster erscheinen weniger abwegig als andere - der Zuschauer wird von technischen Gestaltungsmitteln und formalen Elementen der Filme beeinflusst, jedoch nicht in letzter Instanz determiniert. Robert Stam drückt diesen Umstand folgendermaßen aus: „[T]he spectator […] both is constructed, and him or herself constructs, within a kind of constrained or situated freedom”. 12 Liminale Räume - im Kriegsfilm häufig geteilte oder verbindende Lokalitäten wie Tunnel, Brücken, Niemandsländer, Gefangenenlager - unterminieren epistemologische Barrieren und schaffen somit Möglichkeiten für das Hervortreten von potentiell subversiven, alternativen Diskursen des jeweils Anderen. Diese alternativen Bedeutungsrahmen wiederum überdeterminieren den vom dominanten Diskurs des Filmes positionierten Zuschauer. Das Zuschauersubjekt wird in die Lage versetzt, unter gewissen Einschränkungen zwischen unterschiedlichen, filmischen Interpellationsmustern zu wechseln. Dieses Oszillieren zwischen durch liminale Orte in Verbindung gebrachten, alternativen Perspektiven schafft Handlungsraum, in dem Identitäten und diskursive Ordnungen neu ausgehandelt werden können. Liminale Zonen machen also nicht nur den Diskurs des Anderen zugänglich, sie unterlaufen durch das Aufzeigen anderer möglicher Ordnungen auch den Diskurs, der eigenen Identitäten Stabilität verleiht. Beide hier behandelte Kriegsfilme entwerfen an prominenter Stelle liminale Kontakt- und Verhandlungsräume - einen Bosnien mit Serbien verbindenden Tunnel und einen verlassenen Schützengraben zwischen bosnischen und serbischen Linien. Liminale Räume in Dragojevi s Lepa Sela, Lepa Gore und Tanovi s Nic ija Zemlja Dragojevi s Film Lepa Sela Lepo Gore wurde 1995 in den serbischen Territorien der bosnischen Föderation gedreht. LSLG basiert auf einer dokumentarischen Novelle von Vanja Buli , die über eine Gruppe serbischer Soldaten berichtet, die 1992 von bosnischen Einheiten im Visegrad Tunnel eingeschlossen worden war. Iordanova zufolge war Buli s Text „part of a typical state-sponsored media strategy to counter widespread Western depictions of the Serbs as the main aggressors in the Bosnian war”. 13 Dennoch, so fährt Iordanova fort, gelang es Dragojevi in seinem Film, die Vorlage von einem „straightforward boost of Serb spirits” in einen „more sober and complex look at the controversial experiences of war” zu verwandeln. 14 So war LSLG 12 Robert Stam: Film Theory. An Introduction, Oxford 2000, S. 244. 13 Dina Iordanova: Cinema of Flames. Balkan Film, Culture and the Media, London 2001, S. 144. 14 Ebenda. Liminale Räume 93 der erste serbische Film, der offen zeigte, dass Serben Verbrechen gegen Zivilisten verübten und ‚ethnische Säuberungen’ durchführten. Dragojevi ’ Film präsentiert dem Zuschauer eine Geschichte aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg, die von einer „clearly Serbian narrative perspective” erzählt wird. 15 Tatsächlich bleiben, wie Iordanova bemerkt, Muslime im Film „episodic, supporting figures with little personal characterisation”. 16 Krsti zufolge ist die einseitige Darstellungsweise in LSLG ein „subtle device [that] blurs viewer sympathies and ultimately provokes introspection”, indem er den Zuschauer unbewusst an die Perspektive der Menschen heranführt, „who raped, burned villages and genocidally executed Muslims and Croats in Bosnia”. 17 Der Diskurs von LSLG fordert somit Verstehensweisen heraus, die ohne ein monolithisches Bild der Serben als „arch villains of the new world order” nicht auskommen. 18 LSLG spielt in den serbischen Territorien Bosniens und erzählt die Geschichte des Serben Milan und des Bosniers Halil. Die beiden sind seit ihrer Kindheit beste Freunde, doch treibt der ausbrechende Krieg jeden auf seine respektive Seite des Konfliktes. Vom Augenblick des Kriegsausbruchs an wird im filmischen Universum LSLGs eine unüberwindliche, epistemologische Barriere zwischen den beiden vormaligen Freunden gezogen. Durch die unausgewogene Anwendung von z. B. subjektiven Einstellungen oder Nahaufnahmen der Darsteller lädt die Kamera den Zuschauer konstant zu einer Identifikation mit Milan und einer einseitigen emotionalen Ausrichtung auf die serbischen Soldaten ein. Die muslimischen Gegner werden durch häufig verwackelte Fernaufnahmen nur undeutlich dargestellt. Sie sind im Schatten, hinter Rauch, oder in dunklen Winkeln verborgen und verbleiben daher zumeist unsichtbar - verzerrte und bedrohliche Stimmen in der Dunkelheit ohne klar erkennbaren Ausgangspunkt. Diese filmischen Gestaltungsmittel bringen den muslimischen Feind als „ubiquitously absent“ 19 hervor: Er ist unsichtbar, jedoch potentiell überall, reduziert zu einer tödlichen Bedrohung, die plötzlich als Schatten hervorbricht, abgeschossen wird und spurlos verschwindet. Von Anfang an behandelt Dragojevi s Film das Thema Grenzen, Barrieren und liminale Zonen zwischen nunmehr geteilten sozio-kulturellen Gemeinschaften. Die Rahmenerzählung, in Form einer teils fiktiven Nachrichtensendung des jugoslawischen Fernsehens von 1971, zeigt die offizielle 15 Igor Krsti : „Showtime Brothers! ” A Vision of the Bosnian War: Sr an Dragojevi ’s „Lepa Sela, Lepo Gore” (1996). In: Andrew James Horton (Hg.): The Celluloid Tinderbox. Yugoslav Screen Reflections of a Turbulent Decade, Telford 2000, S. 43- 61, hier S. 44. 16 Iordanova 2001, Anm. 13, S. 145. 17 Krsti 1996, Anm. 15, S. 60. 18 Tomislav Z. Longinovi : Vampires Like Us: Gothic Imaginary and „the serbs”’. In: Dušan I. Bjeli u. Obrad Savi (Hg.): Balkan as Metaphor: Between Globalization and Fragmentation, Cambridge 2002, S. 39-59, hier S. 56. 19 Pötzsch 2010, Anm. 4. Holger Pötzsch 94 Eröffnung des „Tunnels der Brüderlichkeit und Einheit“, der fortan die beiden jugoslawischen Teilrepubliken Serbien mit Bosnien verbindet. Die Eröffnung jedoch geht schief, und der Beamte, der das dünne, rote Band vor der scheinbar endlosen, unheimlichen Schwärze des gähnenden Tunneleingangs zu durchtrennen versucht, schneidet sich tief in den Finger. Vor dem Hintergrund ekstatischen Feierns zoomt die Kamera schließlich auf den blutenden Daumen ein, der von der drohenden Dunkelheit des Tunnels verschluckt zu werden scheint. Die folgende Szene spielt 1980 und zeigt Milan und Halil als Kinder, die nebeneinander vor dem Eingang des außer Betrieb genommenen Tunnels stehen. Halil will die dunkle Höhle betreten, wird jedoch von Milan mit Hinweis darauf, dass im Tunnel ein Ungeheuer hause, zurückgehalten. Die beiden entscheiden sich, das Monster nicht zu wecken und stattdessen später, und besser bewaffnet, zurückzukehren. Abb. 1: Milan und Halil vor dem verfallenen Tunnel der Einheit und Brüderlichkeit Die Tunnelsequenzen des Films etablieren einen Rahmen, der eine dominante Lesart des filmischen Textes motiviert. Die vom Regisseur gewählte Bildsprache, die musikalische Untermalung, Kamerabewegungen, sowie die Verwendung spezieller Geräuschkulissen unterminieren ironisch die offizielle Nachrichtensendung und entlarven die Verweise auf Brüderlichkeit und Einheit, für die der Tunnel als Bindeglied symbolisch einstehen soll, als jeder Grundlage beraubt. Andrew Horton schreibt: „As practiced by Balkan film- Liminale Räume 95 makers, irony often calls forth both tears and laughter as we ‚get’ the difference between ideals and harsh realities, dreams and history”. 20 In LSLG wandelt sich der Tunnel von einer Repräsentation des liminalen Traumes friedlichen, gegenseitigen Kontaktes und wechselseitiger Anerkennung zu einem bedrohlichen Ort, von dem aus verschüttete, doch äußerst reale Widersprüche und Gegensätze erneut ans Tageslicht drängen. Dragan Bjelogrli , der Produzent von Dragojevi Film, bemerkt dazu: “[t]he ogre [in the tunnel] stands for the fear of difference”. 21 Dieses verborgene und offiziell verleugnete Ungeheuer verwandelt eine potentielle Verbindungslinie in eine tödliche Sackgasse. „Swallowed in the darkness of the tunnel is the repressed history of the region“, wie Goulding es ausdrückt. 22 Der Tunnel in LSLG wurde verschiedentlich interpretiert: einerseits als ein Symbol für „the decay of the Yugoslav myths of folkloric brotherhood and unity” (Krsti ), 23 aber auch in psychoanalytischem Sinne als „claustrophobic confine endanger[ing] the sanity of the protagonists“ (Iordanova), 24 oder als Verweis auf „subterranean, dark aspects of male aggression“ (Filip evi ). 25 Diese Lesarten öffnen den Blick auf den Tunnel der ‚Brüderlichkeit und Einheit’ als einen liminalen Raum, der sich fundamental von dem produktiven und subversiven dritten Raum Bhabhas unterscheidet. Statt Kontakte zu ermöglichen und einer Destabilisierung von auf gegenseitigen Ausschluss basierenden diskursiven Identitäten Vorschub zu leisten, wird der Tunnel hier zu einer unheimlichen Zone, von der irrationale Schrecken ausgehen. Auf diese Weise wird es möglich, ihn im Sinne von Manuel Aguirres Verständnis liminaler Räume zu sehen. Aguirre hat relevante Untersuchungen zum Motiv des Eingeschlossenseins in einer sich langsam ausbreitenden und alles verschlingenden, unheimlichen, liminalen Zone zwischen Rationalität und Irrationalität unternommen und dieses als definierendes Element der Gattung des Schauerromans festgestellt. 26 Aguirre, dessen Überlegungen auch für andere Medien fruchtbar gemacht werden können, verwendet den Terminus Limen, oder Schwelle, um jene Erzähltechniken zu beschreiben, welche beim Lesen Horroreffekte hervorrufen. Ihm zufolge setzt der Schauerroman zwei Formen von Räumen voraus: 20 Andrew Horton: Beyond „No Man’s Land”. Comic Tragedy and Tearful Laughter in Cinemas of the Balkans. In: World Literature Today, Vol. 77, no. 3-4 (2003), S. 30-35, hier S. 33. 21 Zit. n. Krsti 1996, Anm. 15, S. 59 (Hervorh. i. O.). 22 Daniel J. Goulding: Liberated Cinema. The Yugoslav Experience 1945-2001, Bloomington - Indianapolis 2002, S. 196. 23 Vgl. Krsti 1996, Anm. 15, S. 51. 24 Vgl. Iordanova 2001, Anm. 13, S. 144. 25 Vojislava Filip evi : Historical Narrative and the East-West Leitmotif in Milcho Manchevski’s “Before the Rain”. In: Film Criticism, Vol. 29, no. 2 (2004), S. 3-33, hier S. 15. 26 Manuel Aguirre: Liminal Terror: The Poetics of Gothic Space. In: Jesús Benito u. Ana Ma Manzanas (Hg.): The Dynamics of the Threshold: Essays on Liminal Negotiations, Madrid 2006. Holger Pötzsch 96 On the one hand, the domain of rationality and intelligible events; on the other hand, the world of the Other, the Numinous, that which transcends human reason. These are separated - and simultaneously brought in contact - by some manner of threshold, and plots consistently involve movement from one site to the other. 27 Er führt weiter aus, dass Grauen nicht primär durch ein faktisches Überschreiten der Schwelle hervorgerufen wird, sondern eher durch ein Betreten der Schwelle, welche sich ausdehnt und zu einem zweidimensionalen Raum, einem Territorium, wird: „instead of a line [the limen] becomes a two-dimensional space, a territory”. 28 Am Beispiel von Ridley Scotts Film Alien (USA 1979) legt Aguirre dar, dass dieser zweidimensionale Schwellenraum fiktiven Schreckens dynamisch wirkt und für Protagonisten ansteckend ist. Der Limen wird selbst und macht alle, die ihn betreten, zu einem „part of the Other, [the limen] is supposed to demarcate or isolate”. 29 Diese unheimlichen Effekte liminaler Räume liegen in deren Eigenart begründet: „unlike ordinary space, threshold space does not ‚stay put’ but expands or […] infects its occupants who thus carry it forward”. 30 Auch der Tunnel in LSLG kann als ein solcher sich ausdehnender, ansteckender Schwellenraum angesehen werden. Durch das Betreten des Tunnels - und implizit einer Domäne des individuellen und kollektiven Unbewussten, in der sich unterdrückte Erinnerungen an vergangene Verbrechen und traumatische Erlebnisse mischen - werden die Protagonisten infiziert. Sie tragen fortan das im Tunnel verschüttete Ungeheuer vor sich her und weiten damit den Schwellenraum des Grauens immer weiter aus. Dies führt die Protagonisten unausweichlich in einen tragischen Tod. Abb. 2: Der Tunnel in Dragojevic´s LSLG als unheimlicher Schwellenraum 27 Ebenda, S. 15. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 16. 30 Ebenda, S. 26. Liminale Räume 97 Ein anderer Film, der Kriegserfahrung als einen unheimlichen Übergang in schaurige Schwellenräume zwischen Vernunft und Wahnsinn im Sinne Aguirres darstellt, wird von LSLG aufgerufen: So erinnert unter anderem, wie Krsti 31 bemerkt, die Anfangssequenz von Dragojevi s LSLG stark an den Beginn von Francis Ford Coppolas berühmten Vietnamfilm Apocalypse Now (USA 1979). In Apocalypse Now füllt ein Fluss - wie der Tunnel ein potentiell verbindender Topos - die Rolle des unheimlichen, liminalen Schwellenraumes, in den sich die Protagonisten vorwagen, in dem sie festgehalten werden und von dem aus sie Chaos und Zerstörung in die Welt tragen. Tanovi s Film Nic ija Zemlja spielt in der Zeit nach dem Dayton Vertrag und erzählt die Geschichte eines bosnischen und eines serbischen Soldaten, die gemeinsam in einem verlassenen Schützengraben zwischen verfeindeten Linien festsitzen. Gemeinsam mit einem zweiten verwundeten Bosnier versuchen sie mit Hilfe von UN-Truppen und den globalen Medien ihre Rettung zu organisieren. Trotz dieser Versuche und einer zögerlichen Annäherung zwischen Serben und Bosniern, die sich auf eine Unzahl gemeinsamer Erfahrungen und Referenzen stützt, siegt zuletzt die intrikate Logik des Krieges. Zwei der Männer sterben und einer bleibt hilflos, in symbolischer Position auf einer Landmine liegend, im Niemandsland zurück. Tanovi s Film war ein Erfolg und gewann 2002 einen Oscar für den besten ausländischen Film. NZ wurde als „clearly echo[ing] the tragedy of Srebrenica” 32 interpretiert, als ein „antiwar film which […] points the way for new life in the artistic treatment of war” 33 und als eine „semi comedy [that] […] remakes the subgenre of war satire and subtly questions conventional narrative structure”. 34 NZ liefert eine fundamentale Kritik ineffektiver und pompöser westlicher Interventionen und entlarvt satirisch die verborgene Logik hinter der Unfähigkeit von westlicher Politik und globalen Medien, den Feinheiten lokaler Konflikte und Bürgerkriege zu entsprechen. Corbin bemerkt, “Tanovi suggests that the narrativizing tendencies of the media - building up two sides, showing conflict and resolution, creating pathetic victims in need of rescue - are vastly ill-suited to the realities of war”. 35 Im Gegensatz zu Dragojevi s LSLG, der eine rein serbische Perspektive auf den Konflikt wählt, nutzt NZ einen „point of view [that] is not anchored in any one national perspective, but sees a local ethnic conflict from a roaming vantage point”. 36 Tanovi s Film beginnt mit einer Szene, die für die Setzung epistemologischer und topographischer Barrieren, die im Kriegsfilm Freund von Feind trennen und beiden Bedeutung verleihen, illustrativ ist. Eine Gruppe bosnischer Soldaten 31 Vgl. Krsti 1996, Anm. 15, S. 50-53. 32 Andrew Horton: No Man’s Land. In: Cineaste, Vol. 27, no. 2 (2002), S. 38-39, hier S. 39. 33 Matthew Stewart: Danis Tanovi ’s “No Man’s Land” and the Contemporary War Movie’. In: The Midwest Quarterly, Vol. 47, no. 1 (2005), S. 9-25, hier S. 12. 34 Amy Corbin: No Man’s Land (Nikogaršnja Zemlja), in: Film Quarterly, Vol. 60, no. 1 (2006), S. 46-50, hier S. 46-47. 35 Ebenda, S. 50. 36 Ebenda, S. 46. Holger Pötzsch 98 wird mit dem Auftrag entsandt, die Frontlinie zu verstärken. Auf dem Weg verlaufen sie sich und sind gezwungen den nächsten Morgen abzuwarten. Während der Nacht verbleiben die Soldaten in konstanter Furcht vor einem unsichtbaren, doch potentiell allgegenwärtigen Feind. Diese epistemologische Grundbedingung wird dem Zuschauer durch bestimmte Erzähltechniken vermittelt: Nahaufnahmen von Gesichtern, subjektive Kamerawinkel, oder entsprechende Dialoge zwischen Protagonisten. Obwohl es dem Zuschauer freilich möglich ist, die hervorgerufene diegetische Situation abzulehnen, bedeuten diese Techniken dennoch eine systematisch vorgetragene Aufforderung an das Publikum, sich mit den bosnischen Soldaten zu identifizieren. Als am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, wird eine befestigte Frontlinie sichtbar. Ein Windstoß lässt eine Fahne flattern und macht die Farben Serbiens sichtbar. In den Sekunden, die auf diese schicksalsschwere Entdeckung folgen, werden fast alle Bosnier von hinter einem anonymen Befestigungswall verborgenen serbischen Soldaten erschossen. Bereits die Anfangsszenen von NZ ziehen topographisch-epistemologische Barrieren zwischen serbischen und bosnischen Soldaten. Bosnier werden zur einzigen Projektionsfläche für Mitgefühl und Identifikation der Betrachter. Der Feind, der serbische Andere, bleibt weitgehend unsichtbar und unnahbar, verborgen hinter Befestigungswällen oder in wackligen Langaufnahmen und raschen Schnitten nur undeutlich dargestellt. Statt sich jedoch auf solche herkömmlichen Gestaltungsweisen zu beschränken und einmal mehr die Geschichte vom individualisierten Soldat-Helden als einziger Identifikationsfigur zu erzählen, der auf dem Schlachtfeld mit den Herausforderungen ringt, die ein unsichtbarer und unnahbarer, feindlicher Anderer für ihn ersonnen hat, öffnet NZ an prominenter Stelle einen liminalen Raum, eine Kontakt- und Verhandlungszone, die Freund und Feind dazu zwingt, sich einander anzunähern, die inhärente Menschlichkeit des jeweils anderen anzuerkennen und auf andere als gewalttätige Weise miteinander umzugehen. Auf diese Weise wird eine Aushöhlung von klassischen, auf epistemologischen und topographischen Barrieren basierenden Kriegsnarrativen ermöglicht. Abb. 3: Vorsichtige Annäherung: Ciki und Nino im liminalen Zwischenraum des Schützengrabens Liminale Räume 99 Nach dem Massaker sucht der überlebende Bosnier Ciki in einem verlassenen Schützengraben im Niemandsland zwischen den Linien Zuflucht. Dort gelingt es ihm, den serbischen Soldaten Nino, der ausgesandt worden war, um nach Überlebenden zu suchen, zu überwältigen. In diesem Moment tritt der verlassene Schützengraben als liminale Kontaktzone im Sinne Bhabhas hervor. Er wird zu einem dritten Raum, von dem aus etablierte, auf gegenseitigen, totalen Ausschluss basierende Diskurse unterminiert werden können. Diese Veränderung des Raumes geht mit einer geänderten Repräsentationsstrategie einher: Die Geschehnisse werden nicht mehr ausschließlich durch den Bosnier Ciki fokalisiert, 37 sondern auch die Perspektive des Serben Nino wird für das Publikum zugänglich gemacht. Dies geschieht unter anderem durch die Nutzung subjektiver Einstellungen, um die Blickrichtung Ninos darzustellen. Die konkurrierenden Sichtweisen werden sodann im liminalen Kontaktraum des Schützengrabens kombiniert und miteinander in Dialog gebracht. Corbin hebt in diesem Sinne hervor: „Tanovi often films from various subjective angles to underscore his point that wars always have multiple points of view”. 38 Diese Form einer Doppelfokalisierung lässt sich beispielhaft anhand der Filmsequenz zeigen, die auf die Gefangennahme des serbischen Soldaten Nino folgt. Eine Fernaufnahme gibt dem Publikum eine Übersicht über die Lage im Schützengraben. Im Hintergrund nähert sich der Bosnier Ciki, der seinen serbischen Gegner gerade angeschossen hat. Im Vordergrund windet sich der verwundete Nino. Auf diese Einstellung folgt eine Nahaufnahme von Ninos Gesicht, die leicht von oben her gefilmt ist, und dieser wiederum eine Halbtotale, leicht von unten her gefilmt, auf den sich nähernden Ciki. Diese Sequenz wird in mehreren Einstellungen fortgesetzt und zeigt abwechselnd Ninos Gesicht, von oben her aufgenommen und ängstlich den Todesschuss erwartend, und Ciki von unten und über den Lauf eines Gewehres gefilmt. Die Szene als Ganzes kann als Schuss-Gegenschuss-Sequenz gelesen werden, welche die Ereignisse für den Zuschauer sowohl durch Ciki, als auch durch Nino fokalisiert. Beide werden somit zugleich Subjekt und Objekt des filmischen Blicks. Der Todesschuss bleibt aus, und der geteilte, liminale Raum im Niemandsland ermöglicht im Folgenden einen Austausch zwischen den Protagonisten, der eine Unmenge von Gemeinsamkeiten zwischen den Kontrahenten aufzeigt. Ohne Uniform werden sie für die Scharfschützen beider Seiten ununterscheidbar und können so, vom Rand des Schützengrabens aus, ihre Präsenz signalisieren. Dialoge zeigen eine Unzahl persönlicher und kultureller Gemeinsamkeiten auf, die in der plötzlichen Erkenntnis kulminieren, dass sie beide dieselbe Frau in Banja Luka kennen. Gleichzeitig macht eine 37 Zu dem Begriff Fokalisierung in visuellen Medien siehe: Mieke Bal: Dispersing the Gaze: Focalization. In: Dies. : Looking In. The Art of Viewing, London 2004, S. 41- 63. 38 Vgl. Corbin 2006, Anm. 34, S. 47. Holger Pötzsch 100 Sprachbarriere die Kommunikation mit Journalisten und UNPROFOR Truppen außerhalb des Schützengrabens schwierig. Corbin verweist treffend darauf, dass „[o]ne of the most wrenching ironies [in NZ] is that Ciki and Nino are closer to each other than to anyone else, like squabbling siblings […] theirs is the only fluent communication in the film”. 39 Abb. 4: Aufhebung liminalen Potentiales in NML: Wer hat Schuld am Krieg? Beide Männer bleiben jedoch tief in ihren jeweiligen konzeptionellen Universen verwurzelt und das vorsichtige Aufbrechen der epistemologischen Barriere zwischen ihnen, das der geteilte, liminale Raum ermöglicht hatte, erlahmt und kommt zum Stillstand. Beide sind nur mit vorgehaltener Waffe dazu zu bringen, die Mitverantwortung der eigenen Seite am Krieg einzugestehen und vorsichtige Annäherungsversuche werden sofort mit Verweis darauf zurückgewiesen, dass sie sich nächstes Mal wohl durch das Visier eines Gewehres zu Gesicht bekommen werden. Als sich für Nino die Möglichkeit eröffnet, mit Hilfe von UNPROFOR den Schützengraben zu verlassen, kann er nur durch einen gewaltsamen Akt Cikis zurückgehalten werden. Dies löst eine Kettenreaktion von gegenseitigen Vergeltungen aus, die zuletzt beiden das Leben kostet und die Möglichkeit einer liminalen, inkludierenden Alternative im geteilten Kontaktraum des Schützengrabens ein für alle Mal verstellt. Die letzte Einstellung des Films zeigt eine Luftaufnahme des verwundeten zweiten bosnischen Soldaten. Von seinem Freund, UNPROFOR und den globalen Medien im Stich gelassen, bleibt er, auf einer nicht zu entschärfenden Landmine „made in EU” liegend, allein im Schützengraben zurück, während eine ansteigende Kamera sich langsam von ihm entfernt. Für Hor- 39 Ebenda, S. 49. Liminale Räume 101 ton stellt dies „one of the most satisfying examples […] of a single shot capturing the theme, mood, and metaphor of a film” dar. 40 Die oben durchgeführten Überlegungen machen es möglich, grundlegende Unterschiede zwischen den Liminalitätsformen der beiden hier untersuchten Filme herauszuarbeiten. Während der liminale Schwellenraum des Tunnels der „Brüderlichkeit und Einheit“ in LSLG einen unheimlichen Ort im Sinne Aguirres darstellt, von dem aus verschüttete und verleugnete Schrecken die Welt zu überfluten drohen, ermöglicht der geteilte Raum des verlassenen Schützengrabens in NZ das Hervortreten eines konkreten Anderen und dessen Diskurses. Während die Bosniaken in LSLG weitgehend als allgegenwärtig abwesende Feinde dargestellt werden - als gesichts- und identitätslose Bedrohungen, die aus einem unzugänglichen Außen erwachsen -, wird der serbische Andere in NZ nach dessen Ankunft im Niemandsland zu einer Alternative: Er erhält ein eigenes Gesicht, einen eigenen Namen, eine eigene Stimme und einen eigenen Blick. Der Schützengraben von Tanovi funktioniert im filmischen Diskurs also scheinbar wie ein „split-space of cultural enunciation”, 41 von dem neue Bedeutungen und alternative Diskurse auszugehen vermögen. Durch u.a. subjektive Kameraführung, Nahaufnahmen, Dialoge und Schuss-Gegenschuss- Sequenzen positioniert der Film sein Publikum innerhalb sowohl eines serbischen, als auch eines bosnischen Diskurses, die dann im liminalen Raum des Schützengrabens zusammengeführt werden. Der Zuschauer wird überdeterminiert und in die Lage versetzt, zwischen beiden Perspektiven zu oszillieren. Unabhängig vom Rezeptionskontext - den außerfilmischen Diskursen, die zu jeder Zeit den Zuschauer in vielfältiger Weise positionieren - lässt Tanovi s Film also zwei konkurrierende filmische Diskurse hervortreten, deren Kombination durch den Zuschauer eine kritische Bestandaufnahme und potentielle Unterminierung beider Bedeutungsrahmen möglich macht. Der filmisch überdeterminierte Zuschauer wird hier selbst zur liminalen Verhandlungszone - zu einem „split-space of cultural enunciation”, 42 der eine kreative Bedeutungsproduktion jenseits der zerstörerischen Logik einer Politik der Polarität und Exklusion denkbar macht. LSLG wiederum bringt nur einen - den serbischen - Diskurs als filmischen Bedeutungsrahmen hervor. Dragojevi s Film verneint konsequent die Möglichkeit und das Potential geteilter, liminaler Räume, die hier mehr als Orte hervortreten, von denen ungeahnte Gefahren auszugehen vermögen. Der bosniakische Andere bleibt zumeist gesichtsloser Schrecken und tritt nicht als Träger alternativer Perspektiven hervor. Eine Überdetermination des Zuschauers ist in diesem Fall also nicht das Resultat konkurrierender filmischer Diskurse, sondern in weit stärkerem Grad abhängig von der Positionierung des Publikums in einer außerfilmischen Wirklichkeit. 40 Vgl. Horton 2002, Anm. 32, S. 39. 41 Vgl. Bhabha 1994, Anm. 3, S. 56. 42 Ebenda. Holger Pötzsch 102 Eine Frage des Balkanismus? 43 Schlussbemerkung? Tritt das ehemalige Jugoslawien in den beiden hier diskutierten Filmen als ein unverständlicher Ort hervor, wo der totale Andere haust, und von dem jeder Zeit plötzliche, irrationale Gewaltakte und ungeahnte Schrecken ausgehen können? Wird diesem Anderen ein zivilisierter, friedlicher Westen gegenübergestellt, welcher ersteren durch negative Gegenüberstellungen zu definieren vermag? Ersteht, in den Worten Todorovas, „the specter of the Balkans“ 44 aus zerstörtem Tunnel und verlassenem Schützengraben auf, um einen zivilierten Westen heimzusuchen? Ich denke, dies ist nicht der Fall. LSLG liefert eine wenig vorurteilsbehaftete Version des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens. Dragojevi s Film kann als eine „internal method of critique“ gelesen werden, „which does not take Serbian subjectivity for granted as a completed selfhood, but treats Serbian subjectivity and the symbolic order which forms it as its central problem“. 45 Die unfreiwillige und dysfunktionale Bande serbischer Brüder im Tunnel der Brüderlichkeit und Einheit ist illustrativ für eine solche Lesart. Die serbische Einheit besteht aus so divergierenden Charakteren, wie einem Kriegshelden der Partisanenzeit, einem Belgrader Junkie, einem Kleinkriminellen, sowie einem Literaturprofessor, um nur einige zu nennen. Diese „represent an extraordinary spectrum of confused and contradictory ideologies and ‚reasons’ for participating in the war“. 46 Es ist daher gerade nicht eine undifferenzierte serbische Identität, die in Dragojevi s Film zum Ausdruck kommt und die für einen Balkanismusdiskurs typisch wäre. Vielmehr werden eine Vielzahl von konkurrierenden Perspektiven und Weltsichten miteinander in Dialog gebracht, die ein ständiges Aushandeln von Positionen notwendig machen. Der Tunnel wird so zu einem liminalen Verhandlungsraum innerhalb eines klar serbischen diskursiven Rahmens und verhindert eine Simplifizierung des komplexen Zusammenspiels von Identitäten, historischen Entwicklungslinien und persönlichen Lebensgeschichten, aus denen sich der Konflikt speist. Auch NZ exotisiert weder Region noch Protagonisten. Ganz im Gegenteil, durch die sarkastische Kritik am (fehlenden oder ineffektiven) westlichen Eingreifen und einem selbstsüchtigen Engagement der globalen Medien leistet Tanovi s Film eher einer Stereotypisierung eines westlichen Blickes Vorschub, der sich als blind erweist für Nuancen jenseits eines dichotomischen Opfer-Täter-Schemas. Tanovi s Film positioniert zudem den Zuschau- 43 Für eine Anwendung von Saids theoretischem Ansatz auf den Kulturraum Balkan siehe z.B.: Maria Todorova: Imagining the Balkans, Oxford 1997, insb. S. 3-20, sowie Dušan I. Bjeli : Introduction: Blowing Up the „Bridge“. In: Ders. u. Bjeli 2002, Anm. 18, S. 1-23. 44 Vgl. Todorova 1997, Anm. 44, S. 3. 45 Vgl. Bjeli 2002, Anm. 44, S. 12. 46 Vgl. Goulding 2002, Anm. 22, S. 196. Liminale Räume 103 er durch sowohl einen serbischen wie auch einen bosnischen Diskurs und fordert dadurch etablierte Bedeutungsrahmen, die auf einer gegenseitigen Ausschließlichkeit und strengen Dichotomisierung basieren, wirkungsvoll heraus. Dieses Vorgehen legt die Grundlage für eine mögliche Rekonzeptionalisierung beider Konfliktparteien. Abb. 5: Die eigentliche epistemologische Barriere? Der Balkan und der Westen in NML Dennoch, das Faktum, dass Ciki und Nino offenbar nicht anders können, als sich gegenseitig umzubringen, und dass der letzte überlebende Bosnier hilflos auf einer Landmine liegend zurückbleibt, kann eine solche Lesart teilweise unterlaufen. Als ein Mikrokosmos des Konflikts scheint der geteilte Raum des Schützengrabens nur massive Gewalt möglich zu machen. Kann er somit als ein Symbol für den Balkan als irrationalen, chaotischen und bedrohlichen Ort gelesen werden, der einem zugegebenermassen pathetischen und ineffektiven, jedoch in letzter Instanz gutwilligen und friedlichem Westen gegenübersteht? In diesem Fall würde die Barriere nicht zwischen Ciki und Nino verlaufen, sondern zwischen einem westlichen Publikum und den beiden Männern im Schützengraben. In dieser Lesart würden Ciki und Nino als die Repräsentanten des ultimaten, unheimlichen Anderen hervortreten - als Balkan-Ungeheuer oder „spectres” -, durch scheinbar irrationalen Hass miteinander verbunden und unfähig, die vorgehaltene, hilfsbereite Hand zu ergreifen. Es könnte eine interessante zukünftige Forschungsarbeit sein, eine solche mögliche Balkanismus-Lesart von NZ mit dem großen Erfolg von Tanovi s Film im Westen in Verbindung zu bringen. K LAUDIJA S ABO (W IEN ) Das schweigende Sprechen im kroatischen Film am Beispiel von Dalibor Matani s Blagajnica hoc´e ic´i na more (dt. Die Kassiererin möchte ans Meer gehen) Wie ein Phantom zieht sich das als Paradigma zu verstehende Schweigen der Darstellerinnen streckenweise durch den Film Die Kassiererin möchte ans Meer gehen von Dalibor Matani aus dem Jahr 2000. Die Figuren Matani s erinnern an Stummfilmakteure, die untereinander mehr über Gestik und Mimik als mit Worten interagieren. Eine junge Angestellte spricht in dem gesamten Film kein einziges Wort, was im Film selbst kommentierend herausgestellt wird. Auch die Hauptdarstellerin Barica - die besagte Kassiererin mit der Sehnsucht nach dem Meer - fällt durch ihre beiläufige Wortkargheit auf. Diese paradigmatische Wortlosigkeit wird von Borislav Knez evic´ als ein Zeichen gedeutet, welches auf die tief liegenden Probleme innerhalb der kroatischen Kinematographie zur Zeit der Transformation hinweise, ebenso wie auf ein Unvermögen, sich aufgrund des Fehlens populär-kultureller Referenzen artikulieren und die gesellschaftlichen Zustände thematisieren zu können. 1 In Die Kassiererin möchte ans Meer gehen manifestieren sich indes diese kulturellen Referenzen, entgegen dem von Knez evic´ interpretatorischen Ansatz der populär-kulturellen Referenzarmut, über die symbolreiche Bildsprache und musikalischen Verweise, und sie spiegeln die gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse der Nachkriegszeit wider. Das Schweigen als semiotisches Zeichensystem Das Schweigen ist hierbei als ein Ausdruck und eine Stellungnahme zu einer postkommunistischen Gesellschaft in einer Phase des Umbruchs zu verstehen und kann sowohl als Zustimmung oder als Ablehnung der gegenwärtigen Verhältnisse gedeutet werden. Mit Paul Watzlawicks Worten gesprochen: Wenn man also akzeptiert, dass alles Verhalten in einer zwischenpersönlichen Situation Mitteilungscharakter hat, d.h. Kommunikation ist, so folgt daraus, dass man, wie immer man es auch versuchen mag, nicht nicht kommunizieren 1 Vgl. Borislav Kne ž evi : Hrvatska filmska šutnja: Blagajnica Dalibora Matani a i Trgovci Kevina Smitha. Hrvatski Filmski Ljetopis, 35, Zagreb 2003, S. 3f. Klaudija Sabo 106 kann. Handeln oder Nichthandeln, Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter. 2 Jede Form der Interaktion, auch wenn diese nonverbal erfolgt, ist somit stets auch Kommunikation. Wer schweigt oder verstummt, kann sich seiner physischen, visuellen Präsenz, die er mit anderen teilt, nicht entziehen. Es findet ein permanentes Senden nonverbaler Informationen statt. Eine Semiotik des Schweigens versucht also, das intendierte Nicht-Reden verstehbar zu machen. Über das schweigende Sprechen wird damit die nonverbale Kommunikation zu einem Sprachrohr, die sich selbst artikuliert. Die Auffassung von und der Umgang mit dem Phänomen Schweigen hat nicht nur einen individuellen Charakter, sondern darüber hinaus auch eine kollektive Dimension, die soziale Beziehungen in spezifischer Weise wiedergibt. Niklas Luhmann diskutiert in dem Buch Reden und Schweigen Funktion und Bedeutung des Schweigens für gesellschaftliche Systeme. Für ihn ist Schweigen ein Gegenbild, welches die Gesellschaft in ihre Umwelt projiziert, oder auch „der Spiegel, in dem die Gesellschaft zu sehen bekommt, dass nicht gesagt wird, was nicht gesagt wird“. 3 Worüber eine Gesellschaft schweigt, was sie genau verschweigt und welche Themen bewusst unausgesprochen bleiben, scheint symptomatisch für ihre Verfassung. Das Aussprechen oder Verschweigen gewisser Themenfelder innerhalb der Gesellschaftsgruppen ist dabei hierarchisch angeordnet. Wer das Sagen und damit die Macht inne hat, ist berechtigt, die Stimme zu erheben und wird zudem erhört; marginalisierte Gesellschaftsgruppen werden ihrer Stimme entzogen und bleiben ungehört. Innerhalb der feministischen Literatur wird das Schweigen in der Öffentlichkeit als ein immer noch der Frau zuzusprechendes Charakteristikum gedeutet. 4 Die Hauptdarstellerinnen in Die Kassiererin möchte ans Meer gehen gehören damit in doppelter Hinsicht marginalisierten Gesellschaftsgruppen an: zum einen dem patriarchalen Gesellschaftssystem verhaftet, stehen sie in einem Angestelltenverhältnis ohne eigenen Handlungsspielraum. Zum anderen repräsentieren sie die am Rande der Gesellschaft angesiedelte Gruppe von `Nachkriegsverlierern´ in der Phase der Transformation. Ihr kollektives Schweigen repräsentiert ihre Ohnmacht gegenüber einem repressiven System und einer Gesellschaftsordnung, die ihnen kein Gehör und damit auch keine Form der Meinungsäußerung zugesteht. 2 Paul Watzlawick: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969, S. 51. 3 Luhmann, Niklas u. Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt/ Main 1989, S. 16. 4 Siehe dazu jene Aufsätze in Dietmar Kampers und Christoph Wulfs Sammelband Schweigen. Unterbrechung und Grenze der Menschlichen Wirklichkeit (Berlin 1992), die zu frauenspezifischen Themen Bezug nehmen: Birgit Hoppes „Das Schweigen der Frauen - Leugnen der Differenz“ (S. 107 - 117) oder Barbara Sichtermanns „Die schweigende Mehrheit war weiblich“ (S. 128-138). Das schweigende Sprechen im kroatischen Film 107 Das politische Schweigen Im kroatischen Journalismus existiert schon lange das Syntagma des „Kroatischen Schweigens“, welches sich vor allem auf die Periode von 1971 bis 1989 bezieht. Kroatische Politiker, Intellektuelle und andere wichtige Persönlichkeiten verstummten in dieser Zeit, verängstigt durch die Repression, die nach dem kroatischen Frühling erfolgte. Der kroatische Frühling - eine politische Bewegung Intellektueller, die in den späten 60ern und frühen 70ern mehr Rechte für Kroatien und Autonomie von Jugoslawien einforderten -, wurde unter der Regierung Josip Broz Titos niedergeschlagen. Tito bewertete die Bewegung als ein Wiederaufleben des kroatischen Faschismus und ließ die Demonstrationen gewaltsam beenden. Viele der studentischen Aktivisten wurden festgenommen und einige zu jahrelanger Haft verurteilt - unter ihnen auch der spätere Staatspräsident Franjo Tu man. 5 Der Film von Dalibor Matani handelt jedoch von einer anderen Periode kroatischer Geschichte und auch kroatischen Schweigens. Fokussiert wird nun das Schweigen einfacher Leute in der Zeit der Transformation zu einer postkommunistischen und postjugoslawischen Gesellschaft. Er zeigt die Situation der Zagreber Bevölkerung, macht Alkoholismus, Korruption, Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit zum Thema. Damit einhergehend weist er nicht nur auf die gesellschaftlichen Missstände, sondern indirekt auch auf die problematische Situation der Kulturindustrie, respektive der Filmindustrie, hin. Film in der Krise Der Zusammenbruch Jugoslawiens und der Fall des Kommunismus sowie die von Franjo Tu man geführte Semi-Diktatur in den 1990ern verursachte eine schwere Krise in der Filmindustrie. Die Neunziger wurden allgemein als die schlechteste Periode in der kroatischen Filmproduktion seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Der Kriegsausbruch beendete die Kooperationen zwischen den Teilrepubliken; der Nachfolgestaat Kroatien reduzierte seine Filmförderungen auf ein Minimum. Weitere Faktoren, die der Entwicklung der kroatischen Filmindustrie zusetzten, waren das Aufkommen einer immensen Videopiraterie, das Fehlen von verbindlichen Gesetzen sowie ein auf Kroatien geschrumpfter Absatzmarkt. 6 Eine weitere Problematik, typisch für alle Länder, die sich in einer post-kommunistischen Transformation befinden und befanden, ist der Wegfall des totalitären Regimes, welches für viele Regisseure eine thematische Grundlage ihrer Filme darstellte. Gleichzeitig sa- 5 Franjo Tu man wurde 1990 zum Präsidenten der damaligen sozialistischen Teilrepublik Kroatien gewählt, 1992 Präsident der souveränen Republik Kroatiens und war als solcher bis 1999 im Amt. 6 Vgl. Margit Rohringer: Der jugoslawische Film nach Tito. Konstruktion von kollektiven Identitäten, Wien 2008, S. 8-11. Klaudija Sabo 108 hen sie sich gezwungen, mit der westlichen Filmindustrie in den Wettbewerb zu treten. Einen weiteren Rückschlag für die kroatische Filmindustrie brachte die wenig transparent durchgeführte Privatisierung der ältesten und größten Filmproduktionsfirma Jadran Film, in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Der juristisch und finanziell unklare Status der Firma im Zuge der Privatisierung verringerte entschieden die Anzahl der produzierten Filme. Zeitgleich fiel die Produktionsfirma in ihrer technischen Entwicklung stark zurück und verlor damit einen Großteil ihrer internationalen Koproduktionsaufträge. Die derzeitigen Hauptfinanciers von Filmen sind das Ministerium für Kultur und das staatliche kroatische Fernsehen HRT. Damit ist die Filmproduktion Kroatiens in der gesamten Periode der Transformation, von 1990 bis heute, mit dem staatlichen Apparat ökonomisch und ideologisch verbunden geblieben. Vor allem die jüngere Generation von Filmschaffenden beklagt die starke Einflussnahme des staatlichen Fernsehsenders auf die Filmindustrie und kritisiert, dass sowohl das Fernsehen als auch die Kinospielfilmproduktion von denselben Verantwortlichen kontrolliert wird. 7 Weiter ist anzumerken, dass die Kaufkraft der einzelnen Bürger während der Zeit der Transformation stark gesunken ist, so dass sich auch die Ausgaben für Kulturgüter dementsprechend verringert haben. Viele Kinos hatten im Laufe der Zeit immer weniger Gäste verzeichnet und mussten aufgrund von Privatisierungsmaßnahmen und nicht durchgeführten Modernisierungen schließlich ganz schließen. Im Jahre 1999 wurden beispielsweise durchschnittlich nur 40 Kinos in ganz Kroatien jeden Tag im Jahr bespielt. Statistiken zufolge ging der durchschnittliche Kroate in den 90ern weniger als einmal im Jahr ins Kino. 8 Positiv ist jedoch anzumerken, dass durchschnittlich in der Zeitspanne von 1991 bis 2002 pro Jahr fünf bis acht Spielfilme entstanden, was angesichts der schwierigen Situation und der kleinen Märkte eine durchaus achtbare Zahl darstellt und eine Steigerung zur Periode 1945 bis 1990 bedeutet, in der durchschnittlich nur vier Filme hergestellt wurden. 9 Die Kassiererin möchte ans Meer gehen: Das Bild des Anderen Der Film Die Kassiererin möchte ans Meer gehen, finanziert aus den Produktionsmitteln des kroatischen Fernsehens HRT und dem Ministerium für Kultur, verzeichnete jedoch im Gegensatz zu vielen anderen nationalen zeitgleichen Produktionen mit 55.000 Zuschauern einen kommerziellen Erfolg, was sicherlich am Aufgreifen von damals aktuellen politischen und wirtschaftli- 7 Ebenda. 8 Ebenda, S. 107. 9 Hrvoje Turkovi ; Vjekoslav Majcen: Hrvatska kinematografija. Ministarstvo kulture i HFS. Zagreb 2003, S. 58. Das schweigende Sprechen im kroatischen Film 109 chen Auseinandersetzungen lag. Der Film war einer der ersten, der die letzten zehn Jahre der HDZ Regierung, 10 unter dem Deckmantel der Komödie, offen und kritisch thematisierte. Damit stieß der Film auch bei den Medien auf Interesse. Insbesondere die kontroverse Darstellung der zugezogenen Herzegowiner in Zagreb ist dafür verantwortlich zu machen. Während der Kriegszeit immigrierten, zum großen Missfallen der Zagreber Bevölkerung, kroatischstämmige Herzegowiner in die kroatische Hauptstadt, wobei sich in den Folgejahren ein negativ besetztes Stereotyp des Herzegowiners entwickelte, das im Film aufgegriffen wird. Für die negative stereotype Darstellung von zugezogenen Herzegowinern wurden gegen Regisseur Dalibor Matani Vorwürfe eines versteckten Rassismus erhoben. Der Inhaber des lokalen Supermarkts, Miljenko, ist herzegowinischer Herkunft und der Chef der Hauptdarstellerin Barica, einer alleinerziehenden Mutter, die zusammen mit ihrer an Asthma leidenden Tochter im Armenviertel von Zagreb lebt. Die Kassiererin Barica plant, mit ihrer Tochter ans Meer zu fahren. Ihr Chef Miljenko verwehrt ihr jedoch den Urlaub, da er mehr Zeit mit seiner neuen Angestellten Jadranka, ebenfalls aus Bosnien- Herzegowina, verbringen möchte, und seine Angestellten den Supermarkt in der Zeit bewirtschaften sollen. Miljenko repräsentiert den eingangs erwähnten negativ besetzten Stereotyp des Herzegowiners. Als Inhaber eines Kleinwarenladens zählt er zu den Nachkriegsgewinnern, und betreibt zudem neben seinem offiziellen Geschäft Schwarzhandel mit herzegowinischem Wein, den er in seinem Kellergewölbe lagert. Der Minimarkt ist eine Anspielung auf die Privatisierung der Supermärkte, die während der Tu man-Ära durchgeführt wurde, und eine von vielen nonverbalen Anspielungen auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Auf der Tür des Hinterzimmers hängt ein Plakat mit Franjo Tu man, womit der seit Titos Zeiten betriebene Personenkult und die Anordnung, dass in jedem öffentlichen Gebäude ein Bild Titos präsent sein musste, modifiziert aufgegriffen wird. Tu man ist damit stellvertretend für Miljenko im Supermarkt anwesend und blickt auf die sich abspielenden Ereignisse. Eine physische Überlagerung von Miljenko und dem Abbild Franjo Tu mans vollzieht sich in dem Moment, in dem Miljenko das Fenster der Tür öffnet und die Stelle von Tu mans Plakat einnimmt. Miljenko kann als Vertreter der kroatischstämmigen Herzegowiner, die Franjo Tu man während des Krieges militärisch in der Herzegowina unterstützt hat, verstanden werden. Der politische Kurs, den die Regierungspartei HDZ unter Tu man in den Jahren des Krieges verfolgte, zielte auf die Separation bosnischherzegowinischer Kroaten und die Teilung Bosniens ab. Die Tu man- Regierung behandelte die Herzegowina mit ihren rund 500.000 bosnischen Kroaten, als gehörte sie zum eigenen Territorium. Dies äußerte sich auch im 10 HDZ ist eine Abkürzung für die Hrvatska Demokratska Zajednica/ Kroatische Demokratische Union, die 1989 gegründet und 1990 als Partei zugelassen wurde. Klaudija Sabo 110 Wahlrecht der Bosnien-Herzegowiner in Kroatien, sowie in den institutionellen Verflechtungen zwischen Zagreb und der Parteieliten der bosnischen Kroaten. Miljenko, Inhaber von mehreren Schallplatten und einer Musikanlage, legt in seinem Arbeitszimmer in regelmäßigen Abständen Musik auf, die zugleich den gesamten Supermarkt bespielt. Die von Miljenko getroffene Musikauswahl, Hits der Schlagermusik der 60er und 70er Jahre - gesungen von damaligen Stars wie Drago Dikli , Gabi Novak und der Band Novi Fosili, allesamt Musiker kroatischer Abstammung - dominieren den Soundtrack im Film. 11 Die Schlagermusik als identitätsstiftendes Ventil verhilft Miljenko, der nach wie vor als Herzegowiner und damit als der Andere wahrgenommen wird, sich der kroatischen Gemeinschaft integrativ anzunähern und an der, wenn auch schon vergangenen, Kultur zu partizipieren. Vor allem der Song von Drago Dikli : Zagreb je najljepsi grad / Zagreb ist die schönste Stadt repräsentiert Miljenkos Verbundenheit mit der kroatischen Hauptstadt, die ihm zu Selbständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit verholfen hat, und damit auch seinen Wunsch, Teil der Zagreber Gemeinschaft zu werden. Supermarkt - Mikrokosmos und Makrokosmos Der Supermarkt stellt einen Mikrokosmos dar, der zum einen auf den nicht existenten Arbeitnehmerschutz und damit auf die prekären Arbeitsverhältnisse der Supermarkt-Angestellten, zum anderen auf die Armut seiner einkaufenden und großteils stehlenden Kundschaft hinweist. Damit kann der Supermarkt auch als Allegorie des Makrokosmos - die allgemeinen gesellschaftlichen Zustände in Kroatien zur Zeit der Transformation - verstanden werden. Die schwierige finanzielle Situation der Kunden äußert sich im Film in den immer wiederkehrenden Versuchen, vor allem von Rentnern und Jugendlichen, Lebensmittel aus den Regalen zu entwenden. Als eine beim Stehlen erwischte Dame sich beklagt, sich heutzutage noch nicht einmal Brot leisten zu können, tritt die prekäre Situation der Rentner besonders deutlich hervor. Das Rentensystem, welches nach Ende des sozialistischen Regimes neu strukturiert und auf ein Existenzminimum herab gemindert wurde, hat viele Rentner in finanzielle Nöte versetzt. Im Mikrokosmos Supermarkt wiederum ist es die Kassiererin Barica, die stellvertretend für all jene Angestellten steht, welche bei der Einforderung von Urlaubstagen angewiesen sind auf das Wohlwollen ihres Chefs und keinerlei gewerkschaftlichen oder arbeitnehmerrechtlichen Rückhalt, der ihnen die Durchsetzung ihrer Rechte ermöglichen würde, für sich beanspruchen können. Ein Mangel an staatli- 11 Weitere in dem Film vorkommende Bands und Sänger sind zum einen die Rockband Svadbas, welche den Soundtrack zu dem Film kreierten und Drago Dikli s Schlager „Moja Draga“ modernisierten und zum anderen der Schlagersänger Dra ž en Ze i . Sie zählen zu jenen Musikern, die nach 1989 ihre musikalische Karriere begannen. Das schweigende Sprechen im kroatischen Film 111 cher und sozialer Unterstützung ist auch bei den Kindertagesstätten absehbar. Die Versorgung und Erziehung ihres Kindes muss die alleinerziehende Mutter Barica ihrer Nachbarin übergeben. Die Lücken im Sozialsystem weisen auf ein nicht funktionierendes Gemeinschaftssystem in Kroatien zur Zeit der Transformation hin, das vor allem den Rentnern und Jungfamilien wenig soziale Unterstützung bietet. Die neue post-sozialistische Gemeinschaft - eine Utopie Der von der Kassiererin Barica und ihrer Tochter ersehnte Urlaub am Meer ist einer Utopie vergleichbar. Der zuerst von Thomas Morus (1516) geprägte Begriff der Utopie wird in seiner fiktionalen Geschichte als Name für eine ferne Insel, auf der ein ideales Gemeinwesen vorherrscht, verwendet. 12 Vergleichbar mit Morus’ Insel steht für die Kassiererin der Urlaubsort als ein in sich geschlossener Ort, in dem ein ideales Gemeinwesen vorherrscht, welches gleichzeitig die an Asthma leidende Tochter von ihrer Krankheit heilt sowie, sinngemäß, Mutter und Tochter wieder frei durchatmen lässt. Die Kassiererin Barica, den gesamten Film über durchweg depersonalisiert dargestellt, lebt in einem nach wie vor patriarchalen Gesellschaftssystem, welches ihr als allein stehender Frau keinerlei Chance der freien Meinungsäußerung und Artikulation von Bedürfnissen ermöglicht. Sowohl Barica als auch ihre Kollegin schweigen und ordnen sich damit dem gesellschaftlichen und politischen System unter. Eine einzige, doch folgenschwere Handlung, die eine Rebellion gegenüber der Degradierung darstellt, findet statt: jener Moment, in dem Barica Selbstjustiz betreibt und ihren Chef samt seiner Geliebten in den Kühlraum sperrt und sich damit ebenfalls wortlos gegen das Patriarchat und die gesellschaftlichen Missstände auflehnt. Die neu gewonnene Selbstbestimmtheit kann ausgelebt und der Urlaub angetreten werden. Der Ort widerspricht jedoch, aufgrund des bewölkten Himmels und des von Fabriken umgebenden tristen grauen Strands, der Urlaubs-Idealvorstellung von Barica und ihrer Tochter. Die Utopie wird somit zur Dystopie und bleibt Wunschtraum einer besseren Gesellschaftsordnung an einem weiterhin nicht-existenten Ort. Der Kommissar, der den kriminellen Akt Baricas aufklären soll, repräsentiert hierbei die Staatsgewalt des neuen jungen Staates Kroatien und steht symbolisch für die sich im Umbruch befindende Gesellschaft. Er bringt eine positive Wendung in das Leben der Kassiererin Barica, führt die Szenerie in ein Happy End und evoziert damit gleichzeitig einen positiven Gesellschaftsausblick. Voller Zuneigung für die Kassiererin bestraft er sie nicht für die an ihrem Chef begangene Freiheitsberaubung, sondern bringt sie erneut ans Meer. Diese abrupt vollzogene Wendung zum aus dem Verlauf des Films unerwarteten Happy End erinnert an das Auftreten des reitenden Boten des Königs in 12 Vgl. Thomas S. Morus: Utopia, Essen 1997. Klaudija Sabo 112 Brechts Dreigroschenoper, der das ganze Elend des Stücks schlagartig in eine Belohnung für die Protagonisten verwandelt, die bei aller Sympathie für die Akteure übertrieben oder zumindest unverhältnismäßig wirkt. Der Kommissar als Personifikation des Staates fungiert hierbei als Retter einer marginalisierten Gesellschaftsgruppe und ist damit im übertragenen Sinne Hoffnungsträger eines neuen Gemeinwesens, der das Land längerfristig aus der schwierigen Zeit der Transformation führen und damit schlussendlich die Utopie zur Realität werden lassen soll. Fazit Die Kassiererin, eine vorstädtische, allein erziehende Mutter auf der Kippe ihrer Existenz, repräsentiert zusammengefasst jene populäre Vorstellung von den negativen Auswirkungen eines vom Krieg gebeutelten und sich in der Transformation befindenden jungen Staates Kroatien. Exemplarisch als Figur, verweist sie als Zeichen, als Symptom, auf das Krankheitsbild der Gesamtgesellschaft. Dieses Krankheitsbild wiederum spiegelt hierbei eine Gemeinschaft wider, die auf einem nicht vorhandenen Sozialsystem basiert, sich auf ein korruptes und auf Vetternwirtschaft und Schwarzhandel basierendes Wirtschaftssystems stützt, und marginalisierten Gesellschaftsgruppen verwehrt, sich zu jenen prekären Zuständen zu äußern und ihre Rechte einzuklagen. Das Aussprechen und das Kritisieren dieses Zustands erfolgt bei Matani s Kassiererin nicht erwartungsgemäß lauthals, sondern im Gegenteil auf der nonverbalen Ebene, welche sowohl auf die individuelle als auch auf eine gesamtgesellschaftliche Konstitution verweist. Das Schweigen fungiert als Sprachrohr und kann als eine Form der Ohnmacht, eine Sprachlosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen gedeutet werden. Es artikuliert gleichzeitig das erzwungene Nicht-Reden, innerhalb eines patriarchalen und in sozialen Gruppen denkenden Systems. Die zahlreichen unterschiedlichsten bildhaften Verweise zeugen davon, dass der Film auf einen Fundus an populären Kulturreferenzen zurückgreifen kann und in einen nonverbalen Dialog mit dem Zuschauer tritt und darüber die gesellschaftlichen Prozesse kommentiert. Er greift entgegen Knezevi s Auffassung aktuelle sowie aus der Zeit des ehemaligen Jugoslawiens stammende Kulturreferenzen auf und spiegelt damit eine sich im Umbruch befindliche Gesellschaft wider. Verzeichnete die kroatische Kinematographie auch aufgrund der Transformationskrise und der Hinterlassenschaft der vielfältigen Probleme aus der Periode des Sozialismus und des Krieges Einbußen, so ist nichtsdestotrotz eine zunehmende Filmproduktion erkennbar. Die turbulenten zwei Jahrzehnte eröffnen Filmemachern, ungeachtet der schwierigen Produktionsbedingungen, einen überaus reichen thematischen Fundus, aus dem sie schöpfen können, um neue Inhalte und Formensprachen zu entwickeln. G ERALD L IND (G RAZ ) Zentrum der Peripherie Gerhard Roths Foto-Text-Bände Grenzland und Im tiefen Österreich Der österreichische Autor Gerhard Roth hat mit seinem Zyklus Die Archive des Schweigens (1980-1991) äußerst vielschichtige, hyperreferentielle und intermediale literarisch-dokumentarische Kulturanalysen vorgelegt. Betrachtet man die verschiedenen Textsorten und Medien, die zu diesem Zyklus oder in sein Umfeld gehören, die Romane, Essays, Fotografien, Spiel- und Dokumentarfilme, so wird eine räumliche Bewegung evident, die verschiedene Zentrum- Peripherie-Relationen durchmisst: Von der steirischen Hauptstadt Graz zieht in Der Stille Ozean (1980) der Arzt Ascher wegen eines Kunstfehlers ins südsteirische Grenzland, von dort geht der schizophrene Imkerssohn Franz Lindner nach seinen Streifzügen durch mentale und reale, gegenwärtige und vergangene Räume in Landläufiger Tod (1984) mit einem Zwischenstopp in der Grazer psychiatrischen Klinik Feldhof nach Wien, dem Schauplatz der Zyklusbände Am Abgrund (1986) und Der Untersuchungsrichter (1988). Die Geschichte der Dunkelheit (1991) spielt teilweise in Wien, führt aber als „Bericht“ über das Leben des jüdischen Remigranten Karl Berger auch zu verschiedenen Orten des Exils. Gerahmt werden die Archive des Schweigens vom Essayband Eine Reise in das Innere von Wien (1991) und dem erst 1990 publizierten, aber an den Beginn des Zyklus gestellten Foto-Text-Band zur Südsteiermark Im tiefen Österreich. Im Folgenden sollen anhand von Im tiefen Österreich 1 und dessen ‚Vorgänger’, dem nicht in die Archive des Schweigens aufgenommenen und deshalb bisher von der Forschung noch kaum beachteten Foto-Text-Band Grenzland (1981), 2 Roths Repräsentations-, Konstruktions- und Analyseweisen der Südsteiermark untersucht werden. Im Fokus der Untersuchung stehen das Verhältnis von Zentrum und Peripherie sowie (meta)ethnographische und gedächtnistheoretische Aspekte. Der Metaethnograph James Clifford schreibt in seinem Aufsatz zur ethnographischen Selbststilisierung bei Joseph Conrad und Bronis aw Malinowski über den polnischen Autor der Argonauten des westlichen Pazifik (1922): 1 Gerhard Roth: Im tiefen Österreich, Frankfurt/ Main 1994 (Die Archive des Schweigens 1). Im Folgenden abgekürzt als ITÖ. 2 Gerhard Roth: Grenzland/ On the Borderline. Ein dokumentarisches Protokoll/ A documentary record. [Dt./ Engl.] Übers. v. Stuart Gilbert u. Isabel G. Hüttner, Wien 1981. Im Folgenden abgekürzt als GL. Gerald Lind 114 Die Kanarischen Inseln bilden den überraschenden Schauplatz für Malinowskis Schreibkur. Er zieht wohl aus Gesundheitsgründen dorthin, aber diese Ortswahl ist sicherlich von vielfältigen Faktoren bestimmt. Man ist geneigt, diesen Ort als einen Grenzort am äußersten Rand Europas zu betrachten […]. Wichtiger jedoch ist der Umstand, daß er früher auf den Kanaren einen Urlaub mit der Mutter verbracht hatte. Nun ist er mit seiner neuen Frau wieder dort und vollendet hier auch seine erste bedeutende Arbeit. 3 Einige Parallelen zwischen Malinowski und Gerhard Roth fallen auf: Wie bei Malinowski spielten auch bei Roths 1977 erfolgtem Umzug von der steirischen Hauptstadt Graz in die an der Grenze zum damaligen Jugoslawien liegende Südsteiermark gesundheitliche Gründe eine Rolle; ähnlich wie James Clifford die Kanarischen Inseln lokalisiert, erscheint die südsteirische Grenzregion in Roths Werk am Rande des westlichen Europa; wie Malinowski auf den Kanarischen Inseln mit seiner Mutter, so war Roth als Kind mit seinem Vater in den ersten Nachkriegsjahren zum „Hamstern“ in diesem Landstrich unterwegs 4 und verbrachte von 1948 bis 1950 dort seine Schulferien; 5 nach der Trennung von seiner ersten Frau schrieb Roth in der Südsteiermark Winterreise (1978), bis heute einer seiner erfolgreichsten Romane. 6 Aber auch wesentliche Unterschiede sind zu bemerken: Während Malinowski die Kanarischen Inseln benötigte, um über die Feldforschungen bei den Trobriandern schreiben zu können, befasste sich Roth ausführlich mit der für ihn neuartigen Sozialstruktur, Geschichte und Landschaft der Südsteiermark selbst. Für die erste literarische Umsetzung dieser Beobachtungen - Der Stille Ozean (1980) - kehrte Roth aber wieder kurzfristig nach Graz zurück, da ihn - hierin wiederum wie Malinowski - die räumliche Nähe zum Beschriebenen beeinträchtigte. 7 Der ersten literarischen Auseinandersetzung mit der Region folgte 1981 gewissermaßen als dokumentarisches Pendant der Foto-Text- Band Grenzland. Während Der Stille Ozean nun näher an den Arbeiten des von James Clifford mit Malinowski in Verbindung gebrachten Joseph Conrad liegt, ist für Roths dokumentarische, Malinowski verwandte Herangehens- 3 James Clifford: Über ethnographische Selbststilisierung. Conrad und Malinowski. In: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von James Clifford (u.a.). 2. aktual. Aufl., Tübingen - Basel 2004, S. 194-225, hier S. 217. 4 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung in Gerhard Roth: Das Alphabet der Zeit, Frankfurt/ Main 2007, S. 148-196. 5 Gerhard Roth: Eine Expedition ins tiefe Österreich. Über meine Fotografie. In: Uwe Wittstock (Hg.): Gerhard Roth. Materialien zu „Die Archive des Schweigens“, Frankfurt/ Main: Fischer 1992, S. 23-32. 6 Vgl. für die biographischen Details Gerhard Roth: Von der Sehnsucht, die Identität zu wechseln. Gespräch mit Georg Pichler. In: Marianne Baltl u. Christian Ehetreiber (Hg.): Gerhard Roth, Graz - Wien 1995 (Dossier 9). S. 11-39, S. 29-30. 7 Vgl. Gerhard Roth: Reise durch das Bewußtsein. Ein Monolog von Gerhard Roth über Die Archive des Schweigens, aufgezeichnet von Kristina Pfoser-Schewig. In: Uwe Wittstock (Hg.): Gerhard Roth. Materialien zu „Die Archive des Schweigens“, Frankfurt/ Main 1992, S. 82-94, hier S. 84. Zentrum der Peripherie 115 weise Grenzland aufschlussreicher. Allerdings sollte laut Clifford keine scharfe Trennung zwischen beiden Genres vorgenommen werden, da sich „Ethnographien und Romane […] sowohl ähnlich als [auch] unähnlich“ sind. 8 Für Clifford sind Ethnographien „realistische kulturelle Fiktionen“, das heißt - macht man den Umkehrschluss - dass für ihn Romane nicht auf überprüfbare Weise mit der außerliterarischen Realität korrespondieren müssen. Gemeinsam sei aber beiden, Conrads Romanen und Malinowskis Ethnographien - und Gerhard Roths hybriden, zwischen dem Poetischen und Dokumentarischen pendelnden Foto-Text-Bänden -, der „Prozeß der fiktionalen Selbststilisierung in den relativen Systemen der Kultur und der Sprache - einen Prozeß, den ich ethnographisch nenne.“ 9 Um diesen Prozess geht es im vorliegenden Aufsatz. Grenzland, Gerhard Roths erste Einzelpublikation von Landbeschreibungen und Fotografien, steht nun in einer Reihe vorangegangener Texte, Filme und Ausstellungen des Autors zur Südsteiermark. Schon 1978, also relativ kurz, nachdem er aus gesundheitlichen Gründen auf das Land gezogen war, publizierte der Autor in der Neuen Kronen Zeitung den Artikel „Vom Landleben in der Steiermark“, 10 in dem er für die Landbewohner Partei ergriff und eine starke Zentrum-Peripherie-Asymmetrie konstatierte. 1979 wurde im österreichischen Fernsehen der dreiteilige Dokumentarfilm Menschen in Österreich ausgestrahlt, für den Roth ihm persönlich wichtige Interviewpartner auswählte: die Kleinbäuerin Juliane Ranegger, den Kirchenwirt „Finsterl“ und Josef Malli, bekannt als der alte Mautner, dessen außergewöhnliche Persönlichkeit auf Roth besonders anziehend wirkte. 1980 erschien nicht nur Der Stille Ozean, aus dem 1979 schon mit Porträtfotografien versehene Auszüge in der Literaturzeitschrift protokolle erschienen waren, 11 sondern im Magazin der Zeit auch der mit 21 Fotografien illustrierte Text „Land an der Grenze“, 12 der Analogien zu Grenzland aufweist. Außerdem wurden Fotografien zum Stillen Ozean in der Literaturzeitschrift Harlekijn 13 - ebenso wie der folgenreiche Text „Landläufiger Tod. Eine Entenjagd“ mit 8 Clifford 2004, Anm. 3, S. 215. 9 Ebenda. 10 Gerhard Roth: Vom Landleben in der Steiermark, Neue Kronen Zeitung, Graz, 26.2.1978. Mehrfach abgedruckt in: Ders: Menschen Bilder Marionetten. Prosa Kurzromane Stücke, Frankfurt/ Main 1979, S. 135-137; ders. : Die schönen Bilder beim Trabrennen, Frankfurt/ Main 1982, S. 136-138. Auch in Salzburger Nachrichten, 9.10.1982, S. 28. Für die Benützung des Zeitungsausschnittearchivs danke ich der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur Wien. 11 Gerhard Roth: Der stille Ozean. Auszüge aus einem neuen Roman und Fotos. In: protokolle 3 (1979), S. 68-112. 12 Gerhard Roth: Land an der Grenze. In: Zeit-Magazin Nr. 16, 11.4.1980, S. 18-24 u. 29. 13 Gerhard Roth: Fotos zu Der Stille Ozean. In: Harlekijn 2 (1980), S. 5-9. Gerald Lind 116 Fotografien einer Entenjagd in den manuskripten - publiziert 14 und in Villach, 15 Graz 16 und Hamburg 17 im Rahmen einer Ausstellung gezeigt. 1981 erschien schließlich Grenzland, 1982 wurde im steirischen Gleinstätten 18 und in Wien 19 die Fotoausstellung zum Buch gezeigt. In den wenigen Rezensionen, die zu dem Foto-Text-Band erschienen sind, wurden vor allem die Fotografien positiv aufgenommen und zum Teil auch in Bezug zu Der Stille Ozean gesetzt. 20 Grenzland kann also nicht als erste öffentliche dokumentarischfotografische Äußerung Roths zur Südsteiermark verstanden werden, sondern sollte vielmehr als vorläufiges Abschlussdokument gelesen werden, dem dann der formal völlig entgegengesetzte, alle Roth zu Gebote stehenden literarischen Mittel ausschöpfende Roman Landläufiger Tod folgte. Da sich Grenzland, allein schon wegen seiner auf nicht-österreichische Leser zielenden Zweisprachigkeit, nicht in einen Zykluskontext einpassen ließ, 21 wurde neun Jahre später, 1990, der Foto-Text-Band Im tiefen Österreich nachgereicht und an die erste Stelle der Archive des Schweigens gesetzt. In ethnographischen Texten gibt es, wie James Clifford Bezug nehmend auf Johannes Fabian feststellt, „eine durchgängige Tendenz, die Anderen in einem zeitlich distinkten, jedoch örtlich bestimmten Raum (an früherer Stelle) innerhalb des angenommenen Fortschritts der westlichen Geschichte zu präfigurieren.“ 22 Das in Gerhard Roths Fokus liegende südweststeirische Dorf Obergreith wird stets genau lokalisiert und an der äußersten geographischen Peripherie (Österreichs) verortet, nämlich als „ein Dutzend Kilometer von der jugoslawischen Grenze entfernt“, wie es in Im tiefen Österreich (ITÖ 14 Gerhard Roth: Landläufiger Tod. Eine Entenjagd. In: manuskripte 69/ 70 (1980), S. 224-229. Dieser Text ist die narrative Ausgangsbasis für Landläufiger Tod, wurde aber später nicht in diesen Roman aufgenommen. 15 Vgl. Volkszeitung, Klagenfurt, 25.4.1980. 16 Vgl. Wochenpresse, Wien, 16.4.1980. 17 Vgl. Die Welt, Hamburg, 5.6.1980. 18 Vgl. z. B. Ilsa Nedetzky: Stilles Grenzland in Wort und Bild. Zu Gerhard Roths Fotoband ‚Grenzland’. In: Südost Tagespost, Graz, 4.4.1982, S. 11. 19 Vgl. Profil, Wien, Nr. 22, 1.6.1982, S. 54. Die Aufzählung der Ausstellungen und Fotoabdrucke erfolgt anhand einer Rekonstruktion aus den zitierten Zeitungsartikeln und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 20 Vgl. neben der oben erwähnten Besprechung von Ilsa Nedetzky auch noch Jan Tabor: Die Feste feiern, wie sie kommen. „Grenzland“: Fotos von Gerhard Roth. In: Kurier, Wien, 16.6.1982, S. 13 sowie Harald Strobl: Ein schönes Lehrbuch für alle Fotografen. Gerhard Roth in der Landesberufsschule Gleinstätten. In: Neue Zeit, Graz, 2.3.1982, S. 4. 21 Das Buch erschien auch nicht bei Roths Hausverlag Fischer, sondern im kleinen Hannibal-Verlag. Ulrich Greiner erwähnt beziehungsweise bedauert in seiner Rezension von Grenzland, dass der Fischer-Verlag das Buch nicht publizieren wollte. (Vgl. Ulrich Greiner: Sehen und nochmals sehen. Gerhard Roths dokumentarischer Text- und Bildband „Grenzland“. In: Die Zeit, Hamburg, 19.2.1982.) 22 James Clifford: Über ethnographische Allegorie. In: Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/ Main 1999, S. 200-239, hier S. 206. Zentrum der Peripherie 117 5), aber auch in „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ 23 und Grenzland (GL 7) heißt. In Im tiefen Österreich hat Roth allerdings seine ursprüngliche Betonung der Ab- und Ausgegrenztheit Obergreiths deutlich zurückgenommen. Das könnte mit einer Neuperspektivierung der Grenze im Zuge der mit dem Jahr 1989 bezeichneten Transformationsprozesse im angrenzenden Jugoslawien zusammenhängen. In Im tiefen Österreich wird diese Grenze retrospektiv jedenfalls in erster Linie aus einer ökonomischen Perspektive interpretiert, die Region wird - der von Clifford angesprochenen Verortung der aufgesuchten fremden Kultur „an früherer Stelle“ im Fluss der Zeit entsprechend - als vom Festland abgetrennte Insel erzählt: „Die Grenze zum kommunistischen Jugoslawien bedeutete jedoch, daß das Gebiet wirtschaftlich vom Binnenland abgeschnitten war. So veränderte sich alles viel langsamer, als anderswo in Österreich.“ (ITÖ 29) In Grenzland wird im Unterschied zu Im tiefen Österreich auch der Weg beschrieben, der von der Stadt auf das Land, vom Zentrum in die äußerste Peripherie, zu einem „verlassenen“ Ort führt: „Man fährt von Graz mit dem ROTEN BLITZ, der sich entgegen seinem Namen langsam durch die Gegend quält, zum einstöckigen Bahnhof Pölfing-Brunn, einem verlassenen Stationsgebäude, in dem nur ein oder zwei Beamte in Uniform anzutreffen sind.“ (GL 7) 24 Die Betonung der Abgegrenztheit findet sich in Grenzland aber weiters auf einer Ebene, die in Im tiefen Österreich überhaupt fehlt. Denn in dem mit „Obergreith“ betitelten ersten Textabschnitt von Grenzland wird zusätzlich zu der von österreichischen Zentren (Graz, Wien) aus verstandenen Peripherisierung der Region eine zweite Zentrum-Peripherie-Relation eingeführt, eine Peripherisierung innerhalb der Peripherie: „Selbst für die Bewohner der umliegenden Orte ist Obergreith etwas Abgeschiedenes“ (GL 7) Obergreith wird so zum Zentrum der Peripherie: „Viele kennen es kaum, sie kommen, da es dort nichts gibt, was für ihren Alltag von Wichtigkeit wäre (etwa einen Arzt, eine Einkaufsstelle der Landwirtschaftlichen Genossenschaft oder einen Händler für landwirtschaftliche Geräte), nur selten hinauf.“ (GL 7) Zwischen dem Dorf auf der Anhöhe und der Ebene gibt es laut Roth „so etwas wie eine imaginäre Grenze.“ (GL 7) Der entstehende Eindruck einer sozioökonomisch von außen abgeschnittenen dörflichen Welt wird räumlich noch weiter akzentuiert: „Aus der Ebene ist Obergreith nicht zu sehen. Es liegt verborgen hinter Mischwäldern, nur von schmalen Straßen, die nicht durchgehend asphaltiert sind, erschlossen. Mit einem öffentlichen Verkehrsmittel ist es nicht zu erreichen.“ (GL 7) Diese Passagen aus dem Abschnitt „Obergreith“ können als Strategien des „Othering“, 25 das heißt des 23 Vgl. Roth 1992, Anm. 5, S. 23. 24 Vgl. hierzu auch die Beschreibung der Zugfahrt von Graz auf das Land in Gerhard Roth: Der Stille Ozean. Roman, Frankfurt/ Main 1992 (Die Archive des Schweigens 2), S. 15-16. 25 Vgl. Johannes Fabian: Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben. In: Eberhard Berg u. Martin Fuchs (Hg.): Kultur, Gerald Lind 118 Fremdmachens, eingeordnet werden. In Grenzland geht es im Sinne einer Legitimierung des Forschungsinteresses darum, die Unentdecktheit, die Unbeschriebenheit dieses Ortes zu betonen. Das spätere Im tiefen Österreich weist keine ähnlich deutliche Differenzsetzung zwischen Obergreith und der umliegenden Region auf. Deshalb ist auch im ersten Zyklusband die Dichotomie von Zentrum und Peripherie weniger dominant. Eine Formulierung aus Grenzland wie „Die Fahrt zurück in die Stadt ist wie eine Flucht“ (GL 27) wäre mit der in Im tiefen Österreich eingenommenen neutraleren Position nicht mehr vereinbar. Weniger evident wird allerdings auch die Identifikation mit der Landbevölkerung, die im letzten Satz von Grenzland, der sich auf die Porträtfotografien von Landbewohnern bezieht, zum Ausdruck gebracht wird: „Ich möchte so ein Gesicht haben.“ (GL 74) Trotz der in Im tiefen Österreich im Vergleich mit Grenzland stärker angestrebten Ausgewogenheit ist dennoch eine in Grenzland formulierte Grundannahme für Roths Repräsentationen der Südsteiermark zwischen 1981 und 1990 im Wesentlichen - bei einer graduellen Reduktion des ‚Anderseins’ - gleich geblieben: „Es ist alles anders. Und doch geschieht Allgemeingültiges.“ (GL 38) Die Analyse der für Roth zum Zeitpunkt der Recherchen gegenwärtigen ländlichen Kultur weist auch eine historische Ebene auf, die sich aus den Erzählungen der Dorfbewohner zu ergeben scheint: „Die Alten hatten eher Zeit und redeten von den Kriegen, der ,Zwischenkriegszeit’, den Bräuchen.“ (ITÖ 94) Deutlicher noch als Im tiefen Österreich stellt Roth in dem autorpoetischen Aufsatz „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ die Hinwendung zur Vergangenheit weniger als einen vom ihm intendierten, sondern vielmehr als von den Dorfbewohnern initiierten und betriebenen Prozess dar. Roth beschreibt in diesem Text, wie es zu Beginn seines Aufenthalts in der Südsteiermark im Kaufhaus Lesky zu den ersten ‚Kontaktaufnahmen’ gekommen ist: „Dort gingen die Bewohner des Landstrichs ein und aus, sprachen über ihren Alltag, erzählten ihr Leben oder aus ihrem Leben. Ich machte Porträts und schrieb die meisten Erzählungen auf.“ 26 Dann sei er weiter zu den einzelnen Bauernhöfen gegangen: „In den Häusern erzählten mir die Alten ‚ihr Leben’. Manchmal zeigte man mir alte Fotografien, und ich begann diese ebenfalls zu fotografieren oder, wenn sie nicht gebraucht wurden, zu sammeln.“ 27 Es ist angesichts der oben beschriebenen Rücknahme der in Grenzland vorgenommenen ‚Exotisierung’ des Landlebens in Im tiefen Österreich bezeichnend, dass Gerhard Roth im Zusammenhang mit dem Kaufhaus Lesky in der fast zeitgleich mit dem ersten Zyklusband publizierten „Expedition ins tiefe Österreich“ schreibt, dass dieses „nur einige Hundert Meter von meinem Haus entfernt war.“ 28 Nachdem für Roth selbst das Land bekannt soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/ Main 1999, S. 335-364, hier S. 337. 26 Roth 1992, Anm. 5, S. 26. 27 Ebenda, S. 27. 28 Ebenda, S. 26. Zentrum der Peripherie 119 geworden war, beschreibt er es als Teil der Gegenwartskultur. Deshalb sowie aufgrund der Erzählungen der Dorfbewohner und ihrer Fotografien ergibt sich eine gesteigerte Relevanz von Gedächtnis und Erinnerung für die Dorfrepräsentation. In Grenzland ist „Alte Fotografien“ (Text GL 11-12, Fotos 13- 23) nur eines von acht Kapiteln. Im tiefen Österreich hingegen besteht aus den zwei Teilen „Alte Photographien“ (ITÖ 7-91) und „Aus meinen Fotonotizbüchern“ (ITÖ 93-209). Diese alten Fotos aus der Region können nun als Gedächtnismedien verstanden werden. Mithilfe dieser Medien - indem er sie sammelt, anordnet und kommentiert - inszeniert Gerhard Roth das kollektive Gedächtnis der Region. Sein Blick bei der Inszenierung dieses Gedächtnisses ist aber ein fremder und sekundärer, es handelt sich hier um (dörfliche) Selbstrepräsentationen, die von Roth kontextualisiert und interpretiert werden. Das ist ein entscheidender Unterschied zu Roths eigenen Fotografien. Denn bei diesen ist sein Blick zwar zunächst ebenfalls ein fremder, aber eben nicht auf Gedächtnismedien. Aus der augenblicklichen Wahrnehmung heraus werden - in der longue durée - seine Fotografien zu Gedächtnismedien. Aber in seinen Fotografien und den dazugehörigen Erläuterungen kann der Autor die firsthand-Perspektive des Ethnographen entfalten. Die subjektive Fremdheit des Gedächtnismaterials wird in Im tiefen Österreich nur indirekt thematisiert, zum Beispiel in Bezug auf eine ein „Mitglied des Jungfrauenvereins“ zeigende Fotografie: „Es war mir nicht möglich, über ihr Schicksal [der Mitglieder des Jungfrauenvereins; GL] mehr zu erfahren, als daß sie Arbeitskräfte und katholisch waren.“ (ITÖ 19) In Grenzland hingegen wird dieses Problem als zentral erfasst. In der Einleitung zu den alten Fotografien heißt es über die abgebildeten Personen: Wir wissen nichts oder wenig von ihnen. Von den meisten nicht einmal den Namen. Wie in bekannten Verkleidungen stehen sie vor uns - unwirklich. Dieser junge Soldat ist in Frankreich gefallen. Wir verspüren nichts bei diesem Gedanken. Wir wissen, ohne zu glauben. Möglicherweise ist das Geschichtsempfinden: Leeres Wissen. (GL 11) Roths Anmerkung ist widersprüchlich, da sie zunächst vom Nichtwissen über die Vergangenheit handelt, dann aber doch von einem meist begrenzten Wissen ausgeht, das schließlich zum „leeren Wissen“ führt. Ein gewisses subjektives Unbehagen, eine Unsicherheit gegenüber diesen Fotografien scheint jedenfalls in dieser Passage durch, in der es tatsächlich um die Grenzen historischer Rekonstruktion und Interpretation geht. Nur über Erzählungen der Dorfbewohner kann der Autor etwas über die Fotografien erfahren, ohne diese Stütze des Dorf- und Familiengedächtnisses werden sie unlesbar. Maurice Halbwachs erklärt in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen dieses Phänomen über die sozialen Bezugsrahmen von Gedächtnis. Werden diese verändert, verändern sich oder verschwinden gar die Inhalte des jewei- Gerald Lind 120 ligen kollektiven Gedächtnisses. 29 Nimmt man also zum Beispiel die dörflichen Gedächtnismedien aus dem Dorf heraus, werden sie unlesbar, weil sie niemand mehr zu erklären versteht. Andererseits aber ist das Dorfgedächtnis selbst ständig in Transformation, die kommunikative Ebene ist deutlich stärker als die fotografische, verändert sich diese, ist auch jene davon betroffen. Auf die jüngeren Dorfbewohner können die Fotografien bereits genau so fremd wirken wie auf Roth, und wenn die Inhalte zu den Bildern nicht in einem individuellen Gedächtnis oder textuell gespeichert werden, gehen sie verloren, werden die Bilder fremd. Das Fremdwerden der eigenen Kultur und das Fremde einer von der offiziellen Geschichtsschreibung bisher nur gestreiften ruralen Kultur gehen hier also ineinander über und decken sich mit einer Auffassung der (amerikanischen) historischen Anthropologie: „Das Fremde ist nicht mehr nur das Fremde einer anderen Kultur; es findet sich in der eigenen Kultur, und zwar als das Fremde einer anderen, vergangenen Zeit bzw. das Fremde eines in der Geschichtsschreibung bisher Marginalisierten und Ausgegrenzten.“ 30 Roth löst dieses Problem in Im tiefen Österreich insofern, als er einerseits die Bäuerin Juliane Ranegger als Gewährsfrau heranzieht, sich in seinen Erläuterungen wiederholt auf sie bezieht. Andererseits aber versucht er die Dorfgeschichte in einem größeren, besser erschlossenen Bezugsrahmen des Gedächtnisses zu verorten. Er berücksichtigt über das Regionale hinausgehende historische Zusammenhänge und vernetzt die alten Fotografien mit der Geschichte Österreichs und Europas. Deshalb wurden auch nicht nur Fotografien ausgewählt, die den eng begrenzten Ausschnitt einer Region zeigen, sondern auch solche, die beispielsweise Soldaten an der italienischen Isonzofront (ITÖ 45), verschiedene Szenen des „Russlandfeldzugs“ (ITÖ 66- 73) oder einen Naziaufmarsch in Maribor (ITÖ 64) zeigen. Der in diesem Artikel schon mehrfach zitierte Aufsatz „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ gehört offiziell nicht zu den Archiven des Schweigens. Der Text war aber für die Rezeption insbesondere von Im tiefen Österreich von Bedeutung. Roths Beschreibung seiner Intentionen und Vorgehensweise war maßgeblich für die Interpretation. Vor allem auch, weil der Autor in Im tiefen Österreich seine Forschungsmethode nur kurz umreißt mit „Ich fotografierte, machte Notizen, hörte zu.“ (ITÖ 94) Aufgrund der rezeptionssteuernden Relevanz von „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ soll abschließend auch dieser so eng mit Grenzland und Im tiefen Österreich verbundene Text aus einer Metaperspektive gelesen werden. 29 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/ Main 1985. 30 Harald Neumeyer: Historische und literarische Anthropologie. In: Ansgar Nünning u. Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart - Weimar 2003, S. 108-131, hier S. 110. Zentrum der Peripherie 121 Aus ethnologisch-anthropologischer Sicht kann die „Expedition“ als fable of rapport 31 verstanden werden, eine Textform mit einer typischen narrativen Struktur, die von den „neuen Ethnologen“ zur Erklärung ihrer Herangehensweise bei der teilnehmenden Beobachtung eingesetzt wurde, später aber aufgrund der Etablierung dieser Methode weitgehend unnötig geworden war: Ein klar umrissenes Bild, eine pointierte Narrative kristallisierte sich heraus - von dem Außenseiter, der in eine Kultur eintritt und sich dabei einer Art Initiation unterzieht, die zu ‚Kontakt’ führt (zumindest zu Akzeptanz und Einfühlung, gewöhnlich aber ist damit etwas der Freundschaft sehr Ähnliches gemeint). 32 Die „Expedition“ weist eine solche, allerdings selbstreflexiv abgefederte und mit Differenzierungen versetzte, Plotstruktur auf, von den oben zitierten ersten „Kontaktaufnahmen“ mit den Einheimischen bis hin zum Aspekt der Vertiefung und Intensivierung der Beziehung und teilweisen Freundschaft: „Selbstverständlich lernte ich manche Menschen besser kennen und manche weniger gut. Es entwickelten sich Freundschaften, Bekanntschaften, und es vertieften sich andererseits Mißtrauen und Ablehnung.“ 33 In diesem Kontext spielt für die Konstitution ethnographischer Autorität die persönliche, subjektive Erfahrung des Forschers eine wichtige Rolle, denn der „Ethnograph akkumuliert persönliches Wissen über das Arbeitsfeld. (Die Possessivform ‚mein Volk’ [„my people“] war bis in die jüngste Zeit in Anthropologen-Kreisen ganz gebräuchlich; aber der Ausdruck bezeichnet in Wirklichkeit ‚meine Erfahrung’).“ 34 Auch Gerhard Roth wendet diese Perspektive in der „Expedition“ an: „Ich sammelte aber nur Fotografien ‚meines’ Landstrichs.“ und „Ich fotografierte alle Pflanzen, die in ‚meinem’ Landstrich wachsen, und bestimmte sie.“ 35 Roth ironisiert durch die Anführungszeichen den Wortgebrauch und nimmt dem Possessivpronomen so die bei ethnographischen Texten mitschwingende ‚hegemoniale’ Semantik, verweist aber gleichzeitig auf seine persönlichen Erfahrungen in diesem Landstrich. Aufgrund dieser Erfahrungen vermeinte Roth, „immer tiefer und tiefer in eine unbekannte Lebens- und Denkweise vor[zu]stoßen“, 36 also im Zuge seiner Erkundungstouren ein besonderes, tieferes, nicht rein rationales Verständnis für die Region entwickelt zu haben. Auf diesen Aspekt eines Tiefenverständnisses zielt auf einer Bedeutungsebene auch der Titel Im tiefen Österreich ab. In Grenzland wiederum findet sich der Satz: „Langsam und wie von selbst entsteht die Grammatik, die ein Verstehen ohne Worte möglich macht.“ (GL 68) James Clifford stellt in seiner Untersuchung zur ethnographischen Autorität fest: Die aus der Erfahrung herrührende Autorität beruht auf einem ‚Gespür’ für den fremden Kontext, auf so etwas wie akkumuliertem Verstehen und einem Gefühl 31 Vgl. James Clifford: Über ethnographische Autorität. In: Berg/ Fuchs 1999, Anm. 25, S. 109-157, hier S. 134. 32 Ebenda, S. 126-127. 33 Roth 1992, Anm. 5, S. 28. 34 Clifford 1999, Anm. 31, S. 130. 35 Beide Zitate Roth 1992, Anm. 5, S. 28. 36 Ebenda. Gerald Lind 122 für den Lebensstil eines Volkes oder die Art eines Ortes. In den Texten der frühen teilnehmenden Beobachter ist es häufig offensichtlich, daß man sich auf solche Fähigkeiten beruft. 37 „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ ist ein Text, der mit Selbstautorisierungsstrategien arbeitet, wie sie für ethnographische Texte typisch sind. Diese Selbstautorisierung wird aber auch ironisiert und das Verhältnis des ‚Forschers’ zu den ‚Erforschten’, des Fremden zu den Einheimischen wird nicht homogenisiert, sondern in seiner Ambivalenz belassen. Diese Haltung ist zwar nicht so explizit, aber dennoch auch in Grenzland und Im tiefen Österreich auffindbar. Metaethnographische Ansätze lassen sich, wie gezeigt, auf Roths Foto- Text-Bände Grenzland und Im tiefen Österreich sowie auf den diese begleitenden Text „Eine Expedition ins tiefe Österreich“ applizieren. Es sollte allerdings keinesfalls außer acht gelassen werden, dass es sich hier um die Arbeiten eines Schriftstellers handelt, die per se in einem Dialog mit dessen literarischer Produktion stehen und auch in Bezug auf diese Dialogizität hin gelesen werden. Es sind also ganz andere Bezugsrahmen mit anderen Regelwerken zu berücksichtigen als in herkömmlichen ethnographischen Texten. Die Besonderheit von Roths Vorgehensweise besteht gerade darin, dass er kein Ethnograph ist, aber dennoch ihm unbekannte Gegenden erforscht und genreübergreifend, intermedial, zyklisch repräsentiert. Der Fluss zwischen den verschiedenen Formaten beziehungsweise Genres geht nicht nur in eine Richtung und ist auch nicht frei von Widersprüchen. Grenzland und Der Stille Ozean, Im tiefen Österreich und Landläufiger Tod stehen zueinander nicht in dem simplen Verhältnis: hier dokumentarische, faktische Basis, dort der dazu gehörende fiktionale Text. Alle diese Bücher sind vielmehr Produkt einer großen Recherche, bei der, trotz allem, Roth der literarischen Arbeit den Vorzug vor der dokumentarisch-fotografischen gibt. Deshalb und auch, weil die Foto-Text-Bände nach den Romanen und mit Blick auf diese gestaltet wurden, sind die fiktionalen Elemente in Roths quasi-ethnographischen Dokumentationen viel expliziter vorhanden als in dezidiert ethnographischen Arbeiten. Und so ist es bei Gerhard Roth bisweilen, dass sich nicht die ‚Wirklichkeit’ in die Romane, sondern die ‚Wirklichkeit’ der Romane in die dokumentarischen Repräsentationen einschreibt. 38 37 Clifford 1999, Anm. 31, S. 127. 38 Vgl. für weitere metahistoriographische Perspektiven auf Gerhard Roths Repräsentationen der Südsteiermark das Kapitel „Die Vergessenen“ in Gerald Lind: Das Gedächtnis des ‚Mikrokosmos’. Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens, Tübingen 2011. III. Gedächtnis & Erinnerung E INLEITUNG VON Ingo Lauggas So unschwer der Übergang von der Thematik des Räumlichen zu jener von Gedächtnis & Erinnerung zu nehmen ist - Daniela Finzi hat das in ihrem Vorwort bezüglich des Textes von Gerald Lind bereits angedeutet -, so unvermeidlich ist es, dass hier nun der Name Assmann fällt: zum einen haben Jan und Aleida Assmann nicht nur einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass aus besagtem Komplex „ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften“ 1 geworden ist, zum anderen war es gerade Aleida Assmann, die mit ihrer Studie Erinnerungsräume 2 auch dessen spatiale Dimension herausgearbeitet hat. Sie zeigt darin eindrücklich, wie sehr das kulturelle Gedächntis auf die Interaktion zwischen räumlichen und zeitlichen Faktoren angewiesen ist, um Form annehmen und zu einem kollektiven Gut werden zu können. Gedächtnisräume und -orte können, wie von Assmann beschrieben, physische sein, sie sind aber auch auf einer funktionalen oder gar symbolischen Ebene Element einer ‚Erinnerungstopologie ’ : man denke an Pierre Noras Lieux de mémoire, die außer von Orten und Bauwerken auch von Personen, Texten oder Riten gestellt werden. 3 Im letzten Text des nun folgenden Abschnitts wird mit Wien als Schauplatz eines Romans eine ganze Stadt zum literarischen Erinnerungsraum. Indem Mirjam Bitter in ihrer Analyse des Romans Ohnehin von Doron Rabinovici auch zeigt, wie im Österreich der 1990er Jahre zunehmend die Frage virulent wird, was mit der Erinnerung - hier: an die Shoah - geschieht, wenn ihre letzten ZeugInnen sterben, spricht sie zwei zentrale Elemente der Konjunktur von Erinnerungsforschung, in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften zumal, an: zum einen die gegebenenfalls verallgemeinerbare These von der diese Konjunktur befördernden Epochenschwelle, zum anderen das spezifische Problem des Verblassens dessen, was mit Halbwachs kollektives Gedächtnis heißt: „das kollektive Erinnerungsgefüge der Zeitgenossen“ 4 . Assmanns kulturelles Gedächtnis wird, behauptet Wolfgang Mül- 1 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 11. 2 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, Müchen 1999. 3 Vgl. Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005. 4 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Zweite überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien - New York 2008, S. 261. Ingo Lauggas 124 ler-Funk, „den Platz der zeitgenössischen Erinnerungsmatrix einnehmen“ 5 . Da die Wechselwirkung von individuellem und kollektivem Gedächtnis in allen Texten des folgenden Abschnitts direkt oder indirekt zum Thema wird, lohnt es, einleitend noch einmal an Maurice Halbwachs zu erinnern, haben Jan und Aleida Assmann doch auch ihre Thesen in kritischer Auseinandersetzung mit dem französischen Soziologen entwickelt. Obschon dessen zentraler Text vom Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen ausgerechnet von zwei Kapiteln zum Traum seinen Ausgang nimmt, 6 grenzt sich Halbwachs explizit von zeitgenössischen Gedächtnistheorien wie jener von Freud mit der Kernaussage ab, dass Erinnerung kein individuelles, sondern ein soziales Phänomen ist, und mehr noch: das soziale Gedächtnis gewissermaßen die Voraussetzung für die Existenz eines privaten ist. Halbwachs setzt demnach „ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses“ voraus, und unser individuelles Denken ist nur in dem Maß der Erinnerung fähig, „wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.“ 7 Das Aufspüren von sozialem „Sinnmaterial“ 8 wird uns bei der Beschäftigung mit den unterschiedlichen Gedächtnisformen und Erinnerungsäußerungen immer wieder begegnen, und weiterführend könnte bei der hier implizit vorausgesetzten Differenzierung zwischen kulturellem, kollektivem und individuellem Gedächtnis abermals zwischen einem überindividuellen auf der einen und einem kollektiven Gedächntis auf der anderen Seite differenziert werden: welchen Beitrag leistet das Erinnern zur Konstituierung des behaupteten Kollektivs? Unterbleiben kann freilich auch nicht die Betonung, dass Erinnerung und Gedächtnis, wie sie diesem Abschnitt als Überschrift dienen, keinesfalls synonym zu denken sind: Erinnerung könnte als spontanes Ereignis bezeichnet werden, als nur begrenzt beeinflussbare Wiederkehr des Vergangenen, während das Gedächtnis der aktiven Anstrengung bedarf, Erinnerung bewusst zu machen und mittels kultureller Techniken zu formulieren. Und damit langen wir beim Erzählen an: Verblüffender Weise haben weder Halbwachs noch die Assmann-Schule besonderes Augenmerk auf die narrativen Strukturen von Erinnerung und Gedächtnis gelegt, obschon diese dem selben kulturellen Komplex angehören, 9 der eine Aspekt ohne den anderen kaum denkbar scheint. Denn erst in der Erzählung werden jene Sinnzusammenhänge erzeugt, welche die von der Vergangenheit im Erinnern angenommene Identität ermöglichen: die Vergangenheit wird aus gegenwär- 5 Ebenda 6 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/ Main 1985, S. 25ff. 7 Ebenda, S. 21. 8 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/ Main 1991, S. 16. Vgl. hierzu allgemein Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, Stuttgart 2005. 9 Vgl. Müller-Funk 2008, Anm. 4, S. 252 bzw. 260. Einleitung 125 tiger Perspektive nicht nur re-, sondern effektiv konstruiert - und erinnerte Vergangenheit „findet ihre Form in der Erzählung“ 10 . Bei besagter Konstruktion und mehr noch: ihrer intergenerationellen Weitergabe nun spielen poetische Verfahren eine zentrale Rolle. Weniger als die Frage nach dem Gedächtnis der Literatur - man denke an intertextuelle Bezüge, Gattungsgedächtnis und nicht zuletzt an Literaturgeschichte - interessieren hier aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zum einen jene Gedächtniskonzepte, welche die Inszenierung und Repräsentation von Erinnerung und Gedächtnis im literarischen Text analysieren und hinterfragen, sowie andererseits das Verständnis von Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, unhintergehbares Element ihrer kulturellen Dimension. Literatur wird hier als ein Medium begriffen, „das in historischen Erinnerungskulturen aktiv an der Herausbildung, antagonistischen Aushandlung, Transformation sowie kritischen Reflexion kollektiver Gedächtnisse beteiligt ist“ 11 . Es liegt auf der Hand, dass in den zentraleuropäischen Ländern, in welchen nach dem Ende der sozialistischen Systeme Umbrüche vonstatten gegangen sind, die alle Bereiche des privaten und gesellschaftlichen Lebens betreffen, diese Aushandlungsprozesse um das kulturelle Gedächtnis in besonderer Weise sensibel und problematisch sind. Elisabeth Blasch, die den nun folgenden Block zu Gedächtnis und Erinnerung eröffnet, zeigt das in ihrem Beitrag an den Beispielen Ungarns und Kroatiens. Hier sind zwei literarische Texte verortet - Dubravka Ugreši s Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation und Péter Nádas’ Erzählung Spurensicherung -, die verbindet, als „Bilderzählungen“ gelesen werden zu können: die Narration wird hier nicht allein dem Text anvertraut, sondern dieser tritt in eine Dialektik mit der Rhetorik der Bilder, konkret: von Fotografien. Die historische Zäsur des Zusammenbruchs des Sozialismus habe in der Literatur ihre auch fotografischen Spuren hinterlassen, schreibt Blasch, und Fotografien erfüllen in den analysierten Texten eine Funktion, die über das Illustrative weit hinausgeht: Erinnerung und Gedächtnis werden wesentlich von ihnen mitkonstruiert, und dies sogar unabhängig davon, ob sie - wie bei Ugreši - im Wesentlichen nur Thema sind, oder bei Nádas in den Text montiert werden und so, gemeinsam mit diesem, einen Gedächtnisdiskurs konstruieren, der nicht auf eine Perspektive rückführbar ist. Beiden Werken ist gemein, dass das Fotografische und das Literarische eine unauflösliche Symbiose eingehen, wie Blasch es formuliert. Dass Fotografie hier als Gedächtnismedium thematisiert wird, das mit Literatur in einen intermedialen Dialog tritt, bringt naheliegend das Thema der Medialität ins Spiel, das stets untrennbar mit jenem von Gedächtnis in Verbindung steht. Nicht nur ist das kulturelle Gedächtnis, wie wir gesehen ha- 10 Assmann 1992, Anm. 1, S. 75. 11 Astrid Erll: Erinnerungshistorische Literaturwissenschaft: Was ist… und zu welchem Ende… ? In: Ansgar Nünning u. Roy Sommer (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 115-128, hier S. 125. Ingo Lauggas 126 ben, in unterschiedlichen Formen, schriftlich oder bildlich etwa, kodiert; grundsätzlich ließe auch sagen, dass diese kollektive Wissensform jedenfalls eines Mediums bedarf, um gewissermaßen überhaupt objektivierbar zu sein, vor allem aber, um weitergegeben, kulturell überliefert werden zu können. Texte, Bilder, Orte fungieren als diskursive Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sind die Pfeiler eines mediengestützten Gedächtnisses. 12 Damit sind aber auch sie von dem Umstand kontaminiert, dass es mit Halbwachs ein Gedächtnis außerhalb des gesellschaftlichen Bezugrahmens schlicht nicht gibt, und das kollektive Gedächtnis geprägt ist von dem Umstand, dass die es formulierende gesellschaftliche Instanz bei seiner Konstruktion von dem Bedürfnis nach einer identitäts- und sinnstiftenden Vergangenheit getragen ist. Es ist kein Speicher zur Bewahrung der Vergangenheit, sondern Ergebnis einer Konstruktion aus Perspektive der Gegenwart. Aus diesem Grund kann es niemals um ‚Wahrheit’ oder ‚Objektivität’ gehen, sondern um das Stiften von Kohärenz - im Erinnern und im Erzählen. Wie für jedes Medium gilt dies auch für die Literatur, deren erinnerungskulturelle Rolle eben dezidiert nicht in einer wie auch immer konzipierten „Dokumentfunktion“ 13 besteht. Dies bedenkend ist die Untersuchung, die Milka Car im zweiten nun folgenden Text vorstellt, von besonderem Interesse, weil sie die Grenzen und Möglichkeiten des Dokumentarischen anhand einer sehr spezifischen medialen Konstellation auslotet: dem Dokument im Roman. Ausgehend von Dieter Kühns Text Geheimagent Marlowe, der sich aus Protokollen, Berichten, Transskripten und Abschriften zusammensetzt, entwickelt Car die These, dass die Funktion von dokumentarischen Elementen im Roman just darin bestehen kann, das herkömmliche Verständnis der Trennbarkeit von Fiktivem und Faktischem zu hinterfragen. Damit rührt sie am Grundproblem der Repräsentation von Realität in der Literatur, indem sie den Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch des Dokuments als scheinbaren Garanten des Wirklichen demontiert und aufzeigt, wie auch das Dokumentarische diskursiv geprägt ist und daher als in gesellschaftliche Prozesse eingebettet erkannt werden muss. Mit ihrer Verwendung des Begriffs des Dikursiven folgt Car Hayden White, wodurch sich selbst das Dokument in seiner Kontingenz Begriffen wie ‚Realität’ oder ‚Wahrheit’ widersetzt. In dem Beitrag wird also ein neuer Zugang zum Dokumentarroman vorgeschlagen, der den Dokumentarismus als eigene literarische Methode mit allen gattungstypologischen und literaturtheoretischen Fragen, die damit verbunden sind, aufwertet. Auch in jenem Roman, den Ursula Knoll untersucht, geht es um Wahrheit und Wirklichkeit, hier jedoch auf eine auf den ersten Blick groteske und prekäre Weise, nimmt doch der ehemalige SS-Mann Schulz in Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur die Identität des jüdischen Opfers der Shoah Finkelstein an, wandert nach Palästina aus und beteiligt sich am Aufbau des Staa- 12 Vgl. Assmann 1999, Anm. 2, S. 13ff. 13 Erll 2004, Anm. 11, S. 124. Einleitung 127 tes Israel. Konsequenzlos legt der Ich-Erzähler Schulz ein umfassendes Geständnis über seine Verbrechen ab, und konsequent liest Knoll den ganzen Roman als gescheitertes Geständnis, um ihn als kritischen Beitrag zum deutschen Aufarbeitungs- und Erinnerungsdiskurs der 1960er und 70er Jahre zu analysieren, der allerdings den ungewohnten Weg über Körper und Körperlichkeit nimmt: Hilsenrath verbinde auf herausfordernde Weise diese zwei jeweils gelinde gesagt problematischen Felder. Knoll folgt dabei zum Teil Ansätzen einer Reformulierung auch des kulturellen Gedächtnisses auf der Ebene einer Geschichte des Körpers und stellt Fragen nach der Konstruktion von Norm(alität) und Differenz, Überschreitung und Perversion in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Dies wird verbunden mit einer komplexen Infragestellung des Leseverhältnisses selbst, nach der Performanz des Textes und der Fortschreibung von Normen im Lesen des Textes. Hilsenraths Roman ist erst sieben Jahre, nachdem er in englischer, französischer und italienischer Fassung erfolgreich war, auf Deutsch erschienen, und man durfte demnach gespannt sein, wie dieser Text in Deutschland aufgenommen werden würde, bewegt er sich doch, wie Knoll Ruth Klüger zitiert, mit seinem Thema auf einem „Minenfeld“. Damit schließt sich der Kreis zum schon eingangs angesprochenen Aufsatz von Mirjam Bitter, die es ausgehend von Doron Rabinovicis Roman Ohnehin mit einer der zentralen Fragen jeder Gedächtnistheorie aufnimmt: jener nach der Dialektik von Erinnern und Vergessen. Müßig zu sagen, dass wir es hier nicht mit einem einander ausschließenden, sondern komplementären Begriffepaar zu tun haben. Paul Ricœur hat in seinem Entwurf einer systematischen Theorie des Gedächtnisses die „geheime Beziehung“ zwischen Erinnern und Vergessen in seine Reflexion einbezogen, 14 begnüge man sich doch zu häufig damit, „das Vergessen für das Gegenteil, den Feind der Erinnerung, ja sogar den heimtückischen Gegner der angeblichen Pflicht zur Erinnerung zu halten“ 15 . Deren Verflochtenheit zeigt sich jedoch nicht zuletzt auch darin, dass, was vergessen ist, durchaus noch latent vorhanden und abrufbar sein kann. Diese spezifische Form von An- und Abwesenheit ist auch in den von Blasch besprochenen Fotografie- Texten Thema und wird dort durch das einprägsame Bild eines überbelichteten Fotos verdeutlicht, das für eine Erinnerung steht, ohne dass auf ihm etwas zu erkennen wäre: die fotografische Leerstelle symbolisiert das Vergessen und Bewahren gleichermaßen. Das Widerspiel von Erinnern und Vergessen ist Grundlage jeder Kultur, und so „besteht heute in dem mäandrierenden memoria-Diskurs weitgehende Übereinstimmung, daß das Verhältnis von Vergessen und Erinnern nicht als antithetisch, sondern als synergetisch zu bestimmen ist“ 16 . 14 Vgl. Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. 15 Paul Ricœur: Erinnerung und Vergessen. In: Ders. : Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999). Hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005: S. 295-315, hier S. 302. 16 Müller-Funk 2008, Anm. 4, S. 90. Ingo Lauggas 128 Ausschließliches Erinnern oder Vergessen sind entweder reine Hypothese oder pathologisches Symptom, und so ist es kein Zufall, dass die neurologische Erkrankung eines NS-Täters, der an einer sehr spezifischen Form von Gedächtnisschwund leidet (oder auch nicht so sehr leidet), einen der Hauptstränge des in der jüngeren Vergangenheit angesiedelten Romans von Doron Rabinovici stellt, mit dessen Untersuchung dieser Block abgeschlossen wird. Mirjam Bitter verortet die Dynamik von Erinnern und Vergessen in einem Spannungsfeld identitärer Kategorien, das sie einer Vermessung unterzieht, indem sie sich kritisch des Instrumentariums der Intersektionalitätstheorie bedient. Auf diese Weise zeigt sie sowohl die Verflochtenheit unterschiedlicher Identitätskategorien als auch die Verquickung von Erinnern und Vergessen auf, zwei Argumentationsstränge, die in der Frage nach der Konsequenz aus der identitären Verortung für die eigene Positionierung im Disput um die Legitimität des Vergessens (und den Nutzen der Erinnerung) zusammengeführt werden. Dessen Ausgang, so Bitter, muss offen bleiben und von Fall zu Fall verhandelt werden. Damit hängt auch dieser Beitrag mit am roten Faden des folgenden Abschnitts, dass Gedächtnis selbst eine Geschichte hat und in gesellschaftliche Prozesse eingebunden und damit in Machtverhältnisse eingebettet ist. Gedächtnis und Erinnerung sind nichts Gegebenes, sondern ein dynamischer Faktor von immenser Bedeutung für den Menschen und seine Würde. Sie daher auch zu pflegen und zu hüten gehört in den Augen des italienischen Schriftstellers und Essayisten Leonardo Sciascia, in dessen Werk die memoria ein Leitmotiv ist, nicht nur zu den Potenzialen, sondern auch zu den Aufgaben der Literatur; einem mahnenden Vermächtnis gleich kommt demnach der Untertitel seiner letzten Aufsatzsammlung, 17 die dem zukünftigen Gedächtnis gewidmet ist: „(wenn das Gedächntnis eine Zukunft hat)“. 17 Lenardo Sciascia: A futura memoria (se la memoria ha un futuro), Milano 1989. E LISABETH B LASCH (W IEN ) Bilderzählungen Fotografien als Elemente narrativer Erinnerungs- und Gedächtniskonstruktion in Texten von Péter Nádas und Dubravka Ugreši 1 Intermedialität in Zeiten historischer Umbrüche Fotografien sind als Speichermedien im politischen wie literarischen Diskurs immer wieder präsent und, wie Susan Sontag festhält, Teil der ideologischen Definition von Ereignissen, deren Einschreibung in das kommunikative und kulturelle Gedächtnis sie ermöglichen. 2 Im privaten Raum fundiert das fotografische Bild Identitäten und (auto)biographische Erzählungen, die im Alltag meist unreflektiert hingenommen, im Kontext historischer Umbrüche aber verstärkt mit Bedeutung aufgeladen und literarisch produktiv genutzt werden können. Die historische Zäsur des Zusammenbruchs des Sozialismus hat in der Literatur ihre fotografischen Spuren hinterlassen, die sich in den entstandenen intermedialen Bilderzählungen jedoch unterschiedlich präsentieren können. Beide hier besprochenen Beispieltexte - Dubravka Ugreši s Roman Das Museum der bedingungslosen Kapitulation und Péter Nádas’ Erzählung Spurensicherung 3 - verwenden so Fotografien nicht als reine Illustrationen, sondern als zentrale Träger der Konstruktion von Erinnerung und Gedächtnis im erzählerischen Diskurs. Die Untersuchung derartiger Bilderzählungen, die in das literarische Schreiben Elemente des Fotografischen 4 integrieren, ist grundsätzlich in einem intermedialen Kontext zu verorten, wobei Fotografie und Literatur als Medien 1 Der Aufsatz entstand im Rahmen eines Dissertationsprojektes, das von der Universität Wien mit einem Forschungsstipendium (F-346) gefördert wird. 2 Vgl. Susan Sontag: In Platos Höhle. In: Dies. : Über Fotografie, Frankfurt/ Main 2003 15 , S. 146-172; vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München 2005 5 , S. 48ff. 3 Péter Nádas: Spurensicherung. Berlin 2007, im Folgenden abgekürzt als S mit Angabe der Seitenzahl. Dubravka Ugrešic´ : Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Frankfurt/ Main 1998, im Folgenden abgekürzt als DMdbK mit Angabe der Seitenzahl. 4 Vgl. Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998. Vgl. auch Bernd Busch: Fotografie/ fotografisch. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 494-534, hier S. 494ff. Elisabeth Blasch 130 der Speicherung und der Bearbeitung das interne Gedächtnis der Menschen entlasten und in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. 5 Dieses ermöglicht eine originäre narrative Form der Evokation von Erinnerung und Gedächtnis, die unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Ein fotografisch-literarischer Museumsdiskurs In Dubravka Ugreši s Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, einem viel besprochenen, „quasiautobiographischen“ 6 Text, ist die Fotografie omnipräsent, wenn sich die exilierte kroatische Ich-Erzählerin mit dem gewaltsamen Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawien am Beginn der 1990er auseinandersetzt. Der Text stellt ein Netz aus Verweisen unterschiedlicher Themen und Motive aufeinander dar, in das die Fotografie intermedial verwoben ist. Im Gegensatz zu Péter Nádas’ Text gibt es hier keine montierten, reproduzierten Fotografien, die den Textfluss durchbrechen würden. Präsentiert werden vielmehr imaginierte Fotografien, die der Fantasie der Erzählerin entspringen, und zitierte Fotografien, die auf real existente Fotografien Bezug nehmen, diese also etwa ekphratisch in Sprache übersetzen. Ein klarer Fall von zitierter Fotografie liegt bei jenem Bild vor, das der deutschen Ausgabe als Coverfoto dient, also Teil des verlegerischen Peritextes ist. 7 Das Bild der drei badenden Frauen (aus Ugreši s Privatsammlung) ist nicht materiell in Text eingebunden und dem Leser dennoch bekannt, es wird narrativ präsentiert und wiederholt zitiert: Auf meinem Schreibtisch steht ein vergilbtes Foto. Es zeigt drei unbekannte Frauen beim Baden. Von dem Foto weiß ich lediglich, daß es zu Beginn des Jahrhunderts an der Pakra aufgenommen wurde. Das Flüßchen verläuft unweit der kleinen Stadt, in der ich geboren wurde und meine Kindheit verbracht habe. Ich stelle fest, daß ich das Foto immer bei mir habe wie einen Fetisch, dessen wahre Bedeutung ich nicht kenne. Ich weiß nur, daß die mattgelbe Oberfläche hypnotisch auf mich wirkt. Manchmal starre ich sie lange an und vertiefe mich in die Re- 5 Vgl. Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 21ff. Vgl. Kirsten Dickhaut: Intermedialität und Gedächtnis. In: Astrid Erll u. Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, Berlin 2005, S. 203-226, hier S. 208. 6 Dagmar Burkhart: Objekte der Erinnerung in Dubravka Ugreši s Quasi- Autobiographischem Roman Museum der Bedingungslosen Kapitulation. In: Susi K. Frank (Hg): Gedächtnis und Fantasma. Festschrift für Renate Lachmann. München 2001, S. 595-603, hier S. 598. Vgl. auch Anne Cornelia Kenneweg: Schreiben über den Kommunismus als gesellschaftliche Aufgabe, (quasi-)autobiografische Sinnsuche und ästhetische Herausforderung. Das Beispiel Dubravka Ugreši . In: Ulf Brunnbauer u. Stefan Troebst: Zwischen Amnesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa, Köln 2007, S. 273-289, hier S. 286. 7 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/ Main 2001, S. 29ff. Bilderzählungen 131 flexe der drei Frauen auf dem Wasser, in ihre Gesichter, die mich ansehen. Ich tauche in sie ein, als wollte ich ein Geheimnis enträtseln, einen Spalt entdecken, einen geheimen Tunnel, durch den ich in einen anderen Raum, eine andere Zeit gleiten kann. (DMdbK 12) Die Erzählerin leitet aus dem biografischen Bezug zur Kindheit ihre Funktionalisierung der Fotografie ab, die als Fetisch bezeichnet und als Ersatzobjekt für ein unbekanntes und uneinholbares Abwesendes in den Text integriert wird. Die geringe Größe, die variable Betrachtungsdauer, die Möglichkeit der Fixierung des Blicks und die Verortung im Privat- und Familienleben begünstige Fotografien, so Christian Metz, für eine fetischisierende Betrachtung, da das Fehlen von Bewegungen, Ton oder Ablauf die Aufladung durch Konnotationen, Imaginationen und Erinnerungen ermögliche. 8 Die abwesende Vergangenheit wird durch das Foto als Erinnerungsimpuls zugänglich gemacht, an dem sich die Erzählerin wiederholt festhält. Diese Suche nach der verlorenen Zeit verläuft im Sinne von Marcel Prousts gleichnamigen Romanzyklus: für Proust können Fotografien jedoch den Anspruch der Evokation einer mémoire involontaire nicht erfüllen, da diese unbewusst aus Sinneswahrnehmungen heraus entspringe. 9 Für la mémoire volontaire jedoch ist die Fotografie ein Hilfsmittel in der Erinnerungsarbeit, die der von Maurice Halbwachs beschriebenen, aus der Gegenwart heraus rekonstruierten Erinnerung nahe kommt. 10 Bei Ugreši jedoch steht im Kontext der Fotografie das sinnliche, nicht steuerbare Erinnern gleichberechtigt neben der willentlichen Erinnerungsarbeit. Beide Modi gehen von der Beglaubigung, dass das, was man sieht, tatsächlich gewesen sei, aus, die Roland Barthes in Die helle Kammer als zentrale Wirkung der Fotografie beschreibt. Das rekonstruierende Erzählen von Ugreši s Erzählerin spielt mit Barthes’ Noema, denn an Hand des Fotos der badenden Frauen wird im Text immer wieder nach dem geheimen Tunnel in eine andere Zeit gesucht, die unwiederbringlich bleibt. 11 In einer Variation der zitierten Textstelle wird der Verweis auf den Fetisch durch jenen auf die Reliquie ersetzt, die Betrachtung der Fotografie schließt das Warten auf das „Klicken eines Fotoapparats“ (DMdbK 218), auf eine Wiederbelebung des Vergangenen mit ein. Das Foto der badenden 8 Vgl. Christian Metz: Foto, Fetisch. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Band II, Frankfurt/ Main 2003, S. 215-225, hier S. 222. Zur Familienfotografie vgl. Marianne Hirsc: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge 2002 2 . 9 Vgl. Marcel Proust: In Swanns Welt. In: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (3 Bände), Frankfurt/ Main 2000, S. 63ff. 10 Vgl. Aleida Assmann: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner u. Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen. Wien 2002, S. 27-45, hier S. 28. Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 55f. 11 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/ Main 1989, S. 86f. Elisabeth Blasch 132 Frauen kann jedoch nur durch Betrachtung und Imagination wiederbelebt werden: Als Fragment erhält es narrativ Bedeutung zugeschrieben, als Überrest und Erinnerungszeichen verweist es im Exil auf ein abwesendes, vergangenes Ganzes, das durch Narration vervollständigt wird. 12 Verloren, und somit erinnerungswürdig, ist jedoch nicht die spezifische abgebildete Situation, sondern all das, was dieses Foto repräsentiert, worauf es verweist. Das Bild stellt den (wiederholten) Erzählanlass dar, um den sich die Imagination rankt, und kann so als Externalisierung, d. h. als Träger von Gedächtnisinhalten, und als Spur, also als Verweis auf ein vergangenes Geschehen und eine uneinholbare Vergangenheit gelesen werden. 13 Um eine imaginierte Fotografie kreist das Kapitel Das Gruppenfoto (DMdbK 219ff.), das von den Freundinnen der Erzählerin und ihrem letzten gemeinsamen Abend, bevor Politik, Krieg und unterschiedliche Lebensentwürfe die Gruppe trennen, berichtet. Ein Gruppenfoto wird aufgenommen, damit ein Erinnerungsbild für die Zukunft bestehen bleibt, die Fotografie soll einen Wendepunkt des Lebens festhalten und ihn so für die spätere Erinnerung kontrollierbar machen. 14 (DMdbK 236ff.) Die Hoffnung der Erzählerin, mit Hilfe des Fotos gegen das Vergessen ankämpfen zu können, erweist sich als trügerisch. Das entwickelte Foto ist weiß, überbelichtet, eine fotografische Leerstelle. Wiederum hält die Erzählerin im Exil ein Foto in Händen, das im Gegensatz zum komplementären Bild der badenden Frauen jedoch nichts abbildet: In den Händen halte ich ein wertloses Souvenir, unser einziges gemeinsames Foto. […] Neben unser leeres Foto lege ich das andere, das ich stets bei mir habe […] Intime Rituale mit kleinen Fetischen sind kompliziert wie die Rituale der Rückerinnerung und haben Bedeutung nur für den Besitzer. Unser leeres Foto wurde vor einigen Jahren an einem Abend aufgenommen, den ich im Gedächtnis behalten will. Durchaus möglich, dass es nie aufgenommen wurde, daß ich alles erfunden habe, daß ich auf die weiße gleichgültige Fläche Personen projiziere, die nicht existieren und etwas hineinschreibe, was nie gewesen ist. Denn das einzige, was ich in den Händen habe, ist ein überbelichtetes Foto … (DMdbK 220) Die fotografische Leerstelle, um die das Kapitel kreist, symbolisiert wie die Feder, die ein Engel den Freundinnen der Erzählerin schenkt, das Verges- 12 Vgl. Stefanie Peter: Reliquie. In: Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek 2001, S. 483f. Zur Spur vgl. Sybille Krämer u. a. (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/ Main 2007. 13 Vgl. Jens Ruchatz: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen. In: Astrid Erll u. Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 83-105. 14 Vgl. Barry King: Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem perfekten Moment. In: Wolf 2003, Anm. 8, S. 173-214, hier S. 212ff. Bilderzählungen 133 sen. 15 (DMdbK 238ff.) Um sich der ehemaligen Gefährtinnen zu versichern, versucht die Erzählerin aus ihren bruchstückhaft werdenden Erinnerungen die Geschichte jeder einzelnen nachzuerzählen. Die fotografische Leerstelle wird für das innere Auge des Rezipienten narrativ durch eine imaginierte Fotografie gefüllt, der Fantasie überlassen, die die Beschreibungen der Personen neu erfindet, wenn die Erinnerungsarbeit versagt (DMdbK 272). Eine ähnliche Leerstelle findet sich in Barthes’ Heller Kammer: jene Fotografie, die der Leser im Gegensatz zu vielen anderen nie zu Gesicht bekommt, das Bild seiner Mutter, ist der Katalysator der Überlegungen zur Fotografie. 16 Narrativ werden so Bilder geschaffen, die auf Grund ihres imaginativen Potentials auch ohne konkrete Abbildung dem Fotografischen zugeordnet werden können. Als „subjektive Vorstellungsbilder“ 17 werden sie in Analogie zum diskursiven Charakter des Erinnerns bei jedem Rezeptionsakt neu konstruiert, wobei der Leser die evozierende Systemerwähnung anhand ihrer Markierungen entschlüsseln und imaginativ verarbeiten muss. Neben der expliziten Thematisierung des Bezugssystems des Fotografischen wird so im Text selbst eine fotografische Illusion erweckt. 18 Wo die Belegfunktion der Fotografie in einer imaginativen Leerstelle endgültig scheitern muss, beginnt die „Grauzone des Vergessens“ (DMdbK 107f.), die Potential für das literarische Erzählen in sich birgt. Die systematische Kontamination des Textes durch das Fotografische gipfelt bei Ugreši in der Poetik des Albums (DMdbK 23ff.), die sich als literarische Versuchsanordnung zur Bedeutung von Fotoalben im familiären und generationellen Gedächtnis sowie den Funktionsweisen von Erinnerung und Gedächtnis liest. Am Beginn thematisiert ein Zitat von Susan Sontag das „unerbittliche Verfließen der Zeit“, das memento mori der Fotografie. 19 Die zeitliche und räumliche Uneinholbarkeit, die die Bilder verdeutlichen, fordert eine schrittweise De- und Rekonstruktion der persönlichen wie kollektiven Vergangenheit, des familiären Gedächtnisses ebenso wie des persönlichen Erinnerns. So beginnt die Mutter der Erzählerin nach dem Tod des Vaters, Fotos in Alben zu sortieren, denn die gemeinsame familiäre Identität ist Vergangenheit, wie für die Erzählerin später im Exil das sozialistische Jugoslawien Vergangenheit sein wird. Das Leben bündelt sich im Fotoalbum, nur was darin aufgehoben ist, existiert. (DMdbK 39) Voraussetzung für dieses Bildgedächtnis ist neben der (Re-)Organisation der Inhalte die Selektion, die Bedeutungen zuschreibt und durch bewusste Auswahl von Fotos ein Funktionsgedächtnis konstruiert, das „ein Identitätsangebot macht und Ori- 15 Vgl. Burkhart 2001, Anm. 6, S. 596. 16 Vgl. Barthes 1989, Anm. 11, S. 73ff. 17 Vgl. Nicolas Pethes: Über Bilder(n) sprechen. Einleitung in Lesarten einer Theorie des Imaginären. In: Erich Kleinschmidt u. Ders. (Hg.): Lektüren des Imaginären. Bildfunktion in Literatur und Kultur, Köln 1999, S. 1-14, hier S. 1. 18 Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen 2002, S. 159f. 19 Vgl. Sontag 2003, Anm. 2, S. 21f. Elisabeth Blasch 134 entierungsfunktion besitzt“. 20 Als Selektionskriterien, die eine Voraussetzung für Speichern und Erinnern darstellen, wirken das limitierte Platzangebot im Album, persönliche (Re-)Interpretationen der Vergangenheit und spezifische soziale Gebrauchsweisen der Fotografie. 21 Offensichtlich ist die Nähe dieses Sammlungs- und Inventurkonzepts zum Begriff des Archivs: Selektion, Manipulation und Retusche beeinflussen den durch das Fotoalbum organisierten Blick zurück sowie die kohärente Erzählung der eigenen wie auch der kollektiven Vergangenheit. 22 Als Resultate der Selektion verlieren die Fotografien, so Burkhart, im narrativen Kontext des Romans ihre vermeintliche Referentialität und „zeigen sich als das, was sie wirklich sind: Interpretationen […]“. 23 Ähnlich funktioniere laut Ugreši auch das Gedächtnis: „Es interpretiert die banalsten Ereignisse und verfälscht sie. Dennoch ist man überzeugt, daß es nichts als die Wahrheit ist.“ 24 Die Autobiographie ihrer Erzählerin wird zum verbalen Fotoalbum: Das Foto reduziert die unendliche und unbeherrschbare Welt auf ein Viereck. Das Foto ist unser Maß der Welt. Das Foto ist auch Erinnerung. Das Gedächtnis reduziert die Welt auf Vierecke. Das Ordnen der Vierecke in einem Album ist Autobiographie. Zwischen diesen beiden Genres, dem Familienalbum und der Autobiographie, besteht zweifellos eine Verbindung: das Album ist eine materielle Autobiographie, die Autobiographie ist ein verbales Album. (DMdbK 42) Die Funktionsweisen des lokalen und variablen visuellen Gedächtnisses des Fotoalbums orientieren sich an den zentralen Ereignissen des Lebens. 25 Sie spiegeln sich in der Erinnerungsarbeit, die die Erzählerin im Exil in Bezug auf ihre verlorene Heimat in Form eines literarischen Albums leistet, denn die Episoden der Berlin-Kapitel kreisen um die Vergangenheit und machen 20 Aleida Assmann: Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon. In: Moritz Csáky u. Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 2, Wien 2001, S. 15-29, hier S. 22. 21 Vgl. Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg 2006. 22 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/ Main 1981, S. 187f. Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003, S. 343ff. 23 Vgl. Burkhart 2001, Anm. 6, S. 599f. 24 Klaus Nüchtern: Tränen für Tito und Tudjman (Interview mit Dubravka Ugrešic´). In: Falter, Nr. 10, 1999, S. 67. 25 Vgl. Matthias Bickenbach: Fotoalbum. In: Pethes/ Ruchatz 2001, zit. Anm. 12, S. 177f.; Matthias Bickenbach: Das Dispositiv des Fotoalbums. Mutation kultureller Erinnerung. Nadar und das Pantheon. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001, S. 87- 128; Michel Frizot: Riten und Bräuche. Fotografien als Erinnerungsstücke. In: Ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 747-754. Bilderzählungen 135 die Stadt selbst zum „topographischen Medium der Erinnerung“. 26 Die Erinnerungsakte der Ich-Erzählerin funktionieren so im Spannungsfeld von studium und punctum, das von Barthes in Bezug auf die Fotografie beschrieben wurde. Das kulturelle Interesse des studium entspricht der Erinnerungsarbeit, der mémoire volontaire, dem Versuch der Rekapitulation vergangener Ereignisse. Das „nostalgische Erinnern“ 27 , das Aufblitzen der Vergangenheit in Gegenständen und Fotografien, entspricht dem punctum - ein Phänomen, das Ivana Perica als „punctuale Poetik der Fotografie“ bezeichnet. 28 All das erinnert schließlich an Barthes’ fotografischen Textgestus in Die helle Kammer, die fragmentarische Prosa unterstreicht den Charakter textueller Momentaufnahmen. 29 Wie das Album der Mutter enthält so auch die Erzählung der Tochter redundante Elemente, anhand unterschiedlicher Bilder wird die Vergangenheit immer wieder neu erzählt, aktualisiert, rekonstruiert. Im Exil legt sie schließlich selbst ein Fotoalbum an, um ihre Vergangenheit nach den historischen Umbrüchen zu verwahren, wobei sie jedoch jene Bilder, an denen schmerzhafte Erinnerungen kleben, bewusst in der Schublade des Schreibtisches unter Verschluss hält. (DMdbK 48) Die Fremdheit und Verlorenheit im Exil werden an Beginn und Ende des Romans ebenfalls durch die Fotografie symbolisiert: „Es gibt zwei Sorten Flüchtlinge: solche mit Fotos und solche ohne Fotos.“ (DMdbK 14, 285) Spurensuche Péter Nádas Band Spurensicherung beleuchtet die Zeit vor und nach dem Systemwechsel in Ungarn und vereint fünf autonome Texte, die gemeinsam mit montierten Fotografien einen multiperspektivischen Gedächtnisdiskurs konstruieren und trotz des primär dokumentarischen Gestus Erzähltexte bleiben, deren Ziel das Sammeln von Blickwinkeln und Beweisstücken ist. Besonders im namensgebend zweiten Text (S 33ff.), auf den sich die folgenden Überlegungen konzentrieren, wird mit Hilfe montierter Fotografien ein Gedächtnisraum, ein Feld der Zusammenhänge vermessen. Dieses entsteht aus parallel laufenden Textteilen und Abbildungen, denen auf eingeschobenen Doppelseiten kurze Bildtexte dialektisch gegenüberstehen. 26 Ivana Perica: Topographie Berlins als Topologie der Exilschrift. Dubravka Ugreši s Museum der bedingungslosen Kapitulation. In: Marijan Bobinac u. Wolfgang Müller-Funk (Hg.): Gedächtnis - Identität - Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext, Tübingen 2008, S. 279-293, hier S. 284. Vgl. auch Karlheinz Rossbacher: Heimat und Fremde bei Dubravka Ugreši . In: Svjetlan Lacko Viduli u. a. (Hg.): Germanistik im Kontakt, Zagreb 2005, S. 275-287. 27 Kenneweg 2007, Anm. 6, S. 287f. 28 Perica 2008, Anm. 26, S. 291. 29 Vgl. Annegret Pelz: Das ABC des Exils von Dubravka Ugreši . In: Wolf Segebrecht u. a. (Hg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart, Frankfurt/ Main 2003, S. 343-353, hier S. 344, 349. Elisabeth Blasch 136 Der zentrale Text aus dem Jahr 1977 wurde für das sogenannte kollektive Tagebuch verfasst, das im Untergrund zirkulierte, und zitiert Béla Szász’ Text Freiwillige für den Galgen, der die Ereignisse des für die ungarische Geschichte zentralen Jahres 1949 aufarbeitet. 30 Die meisten Fotos zeigen jenes Haus, das Dreh- und Angelpunkt des Textes ist, stellt sich doch heraus, dass hier in Zusammenhang mit den vom Rákosi-Regime veranstalteten Schauprozessen Persönlichkeiten wie eben Béla Szász verhört, gefoltert und festgehalten wurden. Szász’ detaillierte Beschreibungen des Hauses ermöglichen es Nádas bei einem Rundgang, die entscheidende Verbindung herzustellen. Dem steht die Erkenntnis gegenüber, dass Nádas das Haus auch aus seiner eigenen Jugend kennt: Die Erinnerung an die Arglosigkeit, mit der wir uns als Kinder ausgerechnet vor diesem Haus mit unseren Skiern abgemüht hatten, paralysierte mich in diesem Moment völlig. […] Ich zählte die Ecken des Zimmers. Es gab keinen Zweifel, ich stand in dem sechseckigen Raum. An einem Sommernachmittag in diesem sechseckigen Raum. „Aber das ist doch der sechseckige Raum! “ V. konnte diesen dumpfen Aufschrei nicht verstehen, und mir war, als hätte ich keine Zeit mehr für Erklärungen. Ich musste rasch handeln. […] Aber ich ging wie jemand, der einen Beweis dafür sucht, daß er an einem gewöhnlichen Sommernachmittag da ist, wo er ist, und dennoch hofft, widerlegt zu werden. (S 48) Nádas versucht nun zu belegen, dass es sich um eben dieses Haus handelt. Als Anhaltspunkte, jedoch nicht als Beweise, dienen auch die Fotografien, die zunächst die von Nádas’ tatsächlich durchgeführte Spurensuche in diesem Haus dokumentieren und so die Nachforschungen begleiten. (S 65, 79) Die montierten Fotos wurden von Nádas selbst aufgenommen und wie die erläuternden Fußnoten erst der deutschen Ausgabe beigefügt. Der Akt des Fotografierens wird mehrmals erwähnt und explizit als Spurensicherung bezeichnet: „Ich hatte meinen Fotoapparat bei mir. Und V. hatte versprochen, noch so lange dort zu bleiben, bis wir die nötige Spurensicherung richtig durchgeführt hätten.“ (S 52) Schon Walter Benjamins Kunstwerk-Text beschreibt die Fotografie als Beweismittel, um einen Tatort zu identifizieren, selbst wenn seit der Tat viel Zeit vergangen sei: Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen […], Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Sie beunruhigen den Betrachter; er 30 Vgl. Béla Szász,: Freiwillige für den Galgen. Die Geschichte eines Schauprozesses. Nördlingen 1986. Zum historischen Hintergrund vgl. György Gyarmati: Ungarn vom Zweiten Weltkrieg bis heute. In: István György Tóth (Hg.): Geschichte Ungarns. Budapest 2005, S. 689-784. Vgl. Steven Béla Várdy: Historical Dictionary of Hungary. Lanham, Md. & London 1997. Bilderzählungen 137 fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen. […] In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden. 31 Die von Benjamin wiederholt geäußerte Forderung einer Beschriftung von Fotografien erfüllt Nádas durch die beigefügten erläuternden Texte, die den Rezipienten zu einer bestimmten Lesart der Bilder hinführen und Elemente des Haupttextes variieren. 32 Die Notwendigkeit einer derartigen Bild-Text- Montage hebt auch Sontag in Zusammenhang mit der Bildbeschriftung hervor, die als „fehlende Stimme“ jedoch stets nur eine mögliche, zwangsläufig begrenzte Interpretation der Fotografie sein könne. 33 Die Tatortfotografie müsse daher, so Bernd Stiegler, „gelesen, entziffert und gedeutet werden, um über die reine Spurensicherung hinaus in den Bildern des Tatorts die Tat rekonstruieren zu können, die in den Bildern längst verschwunden ist.“ 34 Die kriminalistische Spurensuche wird zu einer Dechiffrierung der Vergangenheit durch Bilder und Narrationen. Nádas ist sich bewusst, dass auch die beschriftete Fotografie nicht als Beweis dienen kann, sondern als Dokument lediglich das Ergebnis der Rhetorik der Bilder ist. 35 Derart betrachtet sind die Fotos immer Metaphern, die bestimmte Erzählungen untermauern. Wie bei Ugreši s Erinnerungsbildern ist nicht primär das Abgebildete, sondern die Funktionalisierung der Fotografien als Spuren für das Entstehen von historischen wie individuellen Erzählungen von Bedeutung. Die kriminalistische Spurensuche wird zu einer Dechiffrierung der Vergangenheit durch Bilder und Erzählungen. Das Haus als Tatort symbolisiert die schrecklichen Ereignisse eines Jahres, in dem Schauprozesse und Folter auf der Tagesordnung standen, und wird so zum „traumatischen Ort“ 36 des verschütteten ungarischen Gedächtnisses, der in den offiziellen historischen Erzählungen keinen Platz findet und dessen Topografie Nádas gerade deshalb mit Hilfe der Fotografien im Sinne einer Externalisierung dokumentiert und speichert. Die im Jahr 1977 31 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/ Main 2003, S. 21. 32 Vgl. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: ebenda, S. 64. 33 Vgl. Susan Sontag: Der Heroismus des Sehens. In: Dies. 2003, Anm. 2, S. 84-110, hier 106f. 34 Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt/ Main 2006, S. 230. 35 Vgl. ebenda S. 73. Während bei Ugreši die Dokumente als Spuren der Vergangenheit sowohl „als nostalgische Flucht in die Vergangenheit als auch ihr Beleg“ dienen können, fällt bei Nádas die nostalgische Komponente weg. Vgl. Milka Car (2008): Von der testimonialen Prosa bis zum Postmodernismus. Kroatischer Dokumentarroman in den 1990er Jahren. Vgl. http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ -MCar3, S. 9, 10.08.2009. 36 Vgl. Assmann 2003, Anm. 22, S. 328ff. Vgl. auch Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte. In: Ders. : Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11-33; Beate Binder: Gedächtnisort. In: Pethes/ Ruchatz 2001, Anm. 12, S. 199ff. Elisabeth Blasch 138 aufgenommenen Fotos werden als Spuren der Ereignisse des Jahres 1949 gelesen, ohne diese jedoch abzubilden. Diese Abwesenheit der eigentlichen Ereignisse ist typisches Charakteristikum von Spuren, die etwas anzeigen, das „zum Zeitpunkt des Spurenlesens irreversibel vergangen ist“. 37 Geht man davon aus, dass Spuren gelesen werden wollen, also erst durch Interpretation hervorgebracht werden und ihre Semantik ausschließlich innerhalb einer narrativen Logik entfalten, so erscheint die Beschriftung, die Nádas in seiner vielschichtigen Erzählung vornimmt, unumgänglich zu sein. 38 Diese Text-struktur macht eine lineare Lektüre unmöglich, erst im Vergleich, der den Leseakt selbst zur Spurensuche werden lässt, erschließt sich der Kontext, in dem die Fotos als gleichwertige Stilmittel neben den Texten stehen. Der Charakter der Spur wird auf einem Foto, das die ehemalige Garage, die nun als Schuppen dient, abbildet und auch auf dem Cover zu sehen ist, auf einer weiteren Ebene thematisiert (S 70f, 58). Am Foto sind die Umrisse des ehemaligen Garagentors, das im Rahmen eines Umbaus zugemauert wurde, als stoffliche, materielle Zeichen vergangener Präsenz noch deutlich erkennbar. 39 Die Uneinholbarkeit der Vergangenheit wird signalisiert, das abwesende Garagentor muss als Bedeutungsträger aktiv identifiziert werden. Ist der Kontext - so wie im Bildtext - geklärt, verweist diese Spur eben nicht primär auf einen beliebigen Umbau, sondern auf all das, was in diesem Haus 1949 geschah. Als Kommentar zur Überlagerung mehrerer zeitlicher Ebenen in einer fotografischen Spur liest sich eines von Ugreši s Berliner Textfragmenten: Über die Bilder von heute legte er verblichene Bilder derselben Örtlichkeiten aus vergangener Zeit. […] Dieser holographische Effekt, die Vergangenheit, die wie ein feuchter Fleck in die Gegenwart durchschlägt, verursacht beim Besucher schmerzliches Unbehagen. Auf einmal scheint ihm, daß das Vergessen nur eine andere Form des Erinnerns ist, so wie auch die Erinnerung nur eine andere Form des Vergessens ist. (DMdbK 212) Die Schatten der Vergangenheit materialisieren sich in der Fotografie selbst. Schmerzhaftes Unbehagen wecken so auch Nádas’ Bild-Text- Kombinationen, indem sie Folterszenen bewusst vermeiden und stattdessen den Eindruck unbelebter Alltäglichkeit vermitteln. In Kombination mit der narrativen Logik der Begleittexte schleicht sich jedoch die Banalität des Grauens ein, die gerade auf der Differenz zur scheinbaren Harmlosigkeit des Gezeigten fußt. Diese ist auch Thema von Nádas’ Kindheitserinnerungen, die auf allen Textebenen thematisiert sind. Das Nicht-Wissen-Wollen der Kinder, so Nádas‚ resignierende Feststellung, durchdringe die ungarische Gesellschaft bis heute (S 43). 37 Sybille Krämer: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Dies. 2007, Anm. 12, S. 11-33, hier S. 17. 38 Vgl. ebenda S. 16f. 39 Vgl. ebenda S. 15. Vgl. Stiegler 2006, Anm. 34, S. 217ff.; Jens Ruchatz: Spur. In: Pethes/ Ders. 2001, Anm. 12, S. 558ff. Bilderzählungen 139 In Ungarn wie auch in Kroatien ist nach dem Ende der sozialistischen Systeme und den damit verbundenen Umbrüchen das kulturelle Gedächtnis neu konstruiert worden, der Blick zurück nach Zäsuren erweist sich als problematisch. Nádas führt das Scheitern demokratischer Konzepte eben auf diese Umschreibung, auf das Problem des Vergessens und Verdrängens der kollektiven wie individuellen Geschichte zurück, dem er in seinen Texten nachspürt. Er begrüßt die Wende, auch wenn er an ihrem Erfolg zweifelt, und kämpft in Spurensicherung gegen dieses Vergessen an, das nach jedem kulturellen Umbruch unweigerlich einsetzt. 40 Die Multiperspektivik der Text- und Bildelemente in Spurensicherung soll dem Leser dabei jenen differenzierten Blick ermöglichen, den Nádas bei den Bürgern seines Landes, die den „totalen Gedächtnisverlust“ (S 95) gewählt hätten, schmerzlich vermisst. Private Erinnerungen, historische Ereignisse und die Rolle des Lesers Das Fotografische und das Literarische gehen bei Nádas wie bei Ugreši eine unauflösliche Symbiose ein, in der sich die einzelnen Ebenen in einem „mehrdimensionalen Bild“ 41 gegenseitig kommentieren. In der scheinbaren Heterogenität textlicher und bildlicher Elemente entspinnt sich in Spurensicherung ein multiperspektivisches Netz aus Momentaufnahmen, wie in Ugrešic´s Poetik des Albums werden „Bündel von Erfahrungen“ 42 für die Nachwelt zusammengetragen. Diese sollen für Erinnerungsakte, für den aktiven Prozess der Repräsentation bereitgehalten werden. Parallel dazu vollziehen beide Texte in ihrer Verwendung der Fotografie die erinnernde Neukonstruktion von Vergangenheit bei jedem Rezeptionsvorgang nach. 43 So werden mit Hilfe des Gedächtnismediums Fotografie die Texte selbst zum Ort der gezielten „Sammlung, Konservierung und Aufbewahrung von Wissen“. 44 Dieser Anspruch, alltägliche wie historische Bruchstücke der Welt sein Eigen und handhabbar zu machen, wird durch die Ansammlung von Fotos und Textteilen verdeutlicht: das Fotografieren wird in Sontags Sinn zum Aneignungsakt. 45 Diese Aneignung und Inventarisierung der Welt ent- 40 Vgl. Manuela Lück: Nur die Wahrheit. Péter Nádas verfolgt sichtbare und unsichtbare Spuren der sozialistischen Diktatur, http: / / www.literaturkritik.de, Nr. 2 (Februar 2008), 5.9.2009. Vgl. Ilma Rakusa: Die Logik der Dinge. Péter Nádas’ aufklärerischer Erzählband führt in die Tiefe der ungarischen Geschichte. In: Die Zeit, Nr. 5, 24.01.2008, http: / / www.zeit.de/ 2008/ 05/ L-Nadas, 5.9.2009; Wolf Scheller: Der Staat ist zusammengebrochen (Interview mit Péter Nádas). In: Der Standard, Album, 5.9.2009, S. A3. 41 Lück 2008, Anm. 40. 42 Sabine Brandt: Pardon wird nicht gegeben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 6, 8.1.2008, S. 32. 43 Zur Rolle des Lesers vgl. auch Car 2008, Anm. 35, S. 8. 44 Assmann 2001, Anm. 20, S. 17. 45 Vgl. Sontag 2003, Anm. 2, S. 10. Elisabeth Blasch 140 spricht der Postmoderne und ihren Arbeitsweisen, denn die „Fotografie innerhalb der Postmoderne zu denken heißt, sie innerhalb des Geflechts von Musealisierung, Geschichtlichkeit und Gewahren von Gegenwart beziehungsweise Gegenwärtigkeit als einen markanten und gegenwartsbestimmenden Text zu fassen.“ 46 Beide Texte können so von fotografischer Seite als Inventur einer unsicher gewordenen individuellen bzw. kollektiven Identität gelesen werden, im Rahmen derer Erinnerungen an eine unwiederbringliche Vergangenheit an Bildern festgemacht werden. Die Integration des Fotografischen erfolgt dabei unterschiedlich: Ugreši zitiert und imaginiert Fotografien, wenn sie mit nostalgischer Wehmut zurückblickt, in ihrem Erinnern überlagern sich individuelles, familiäres und kollektives Gedächtnis, wodurch die individuellen Verwendungsweisen der Fotografie auf kollektive Kontexte umgedeutet werden. Nádas arbeitet die ungarische Zeitgeschichte dokumentarisch auf, indem er Fotografien neben den Texten montiert. Auch bei ihm überlagern sich private Erinnerungen mit kollektiven Gedächtnismomenten. Ugrešic´ nimmt auf das Fotoalbum als klassischer Gedächtnisspeicher und das Sammeln, Ordnen und Auswählen als wesentliche Elemente seiner Konstitution Bezug. Auch Nádas‚ Bildersammlung kann als Album gelesen werden, wobei die Rekonstruktion des Vergangenen an Hand fotografischer Spuren im Zentrum steht. Entworfen wird ein multidimensionaler Gedächtnisraum, in dem das Grauen und die banale Alltäglichkeit für das kollektive Gedenken bewahrt werden. Beide Beispieltexte rekurrieren so auf zentrale Charakteristika der Fotografie als Medium der Erinnerungs- und Gedächtniskonstruktion: simultane An- und Abwesenheit, die Beglaubigung von Realität, ihre Funktionalisierung als Speichermedium, Externalisierung und Spur. Das Fotografische durchdringt das Erzählen und fordert gemeinsam mit der fragmentarischen Struktur, die für beide Texte charakteristisch ist, den Leser zur aktiven Partizipation an der Erinnerungsarbeit der Bilderzählungen auf. 46 Hubertus von Amelunxen: Ästhetik und Simulakrum. In: Wolfgang Kemp und Ders. (Hg.): Theorie der Fotografie I-IV, 1839-1995, München 2006. Bd. IV, S. 207- 29, hier S. 207. Zur Postmoderne bei Ugreši vgl. Dagmar Burkhart: Postmoderne Intertextualität in den slawischen Literaturen. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung, Tübingen 2000, S. 199-220. Milka Car (Z AGREB ) Dokument und Roman - Dokumentarroman? Grenzen und Möglichkeiten des Dokumentarischen I. In ihrem mit allen Signalen der Authentizität formierten fingierten Bericht beteuert eine fiktive Figur: „Hier geht es um Fakten“. 1 Mit diesem Hinweis auf die faktische Ebene wird im Roman Geheimagent Marlowe von Dietrich Kühn ein doppelbödiges Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit arrangiert, bei dem die angebliche oder tatsächliche Integration des faktischen Materials, das als Garant des dokumentarisch Verbürgten fungiert, nicht nur auf eine weitere Variation des Bruches mit den Konventionen verweist, sondern darüber hinaus eine Reihe von gattungstypologischen Fragen aufwirft. Welche Rolle spielen Fakten in einem Text, der als Roman eines Mordes untertitelt ist? Offenbar kommt dem integrierten faktischen Material transgressive Funktion zu, es soll bestimmte gattungstypische „Kontinuitätserwartungen“ 2 wecken und die Lesererwartung in eine metatextuelle und kontextbezogene Richtung lenken. Die der Dokumentarliteratur inhärente transgressive Funktion in ihrem ständigen Changieren an der/ den Grenze(n) - zwischen Fiktivem und Faktischem, Dokumentarischem und Literarischem, Wahrem und Fingiertem - lässt sich als Arbeit am Text 3 beschreiben. Sie wird als eine textuelle Arbeit betrachtet, die darauf gerichtet ist, die Grenzen des Textes und des überlieferten konventionellen Wissens vom Verhältnis Fiktion/ Realität zu überschreiten. Im Roman Geheim- 1 „Sie reden davon, ich hätte Bradley umgebracht. Davon kann die Rede aber nicht sein! “ - „Die Fakten sprechen eine andere Sprache […].“ In: Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Roman eines Mordes, Frankfurt/ Main 2008, S. 7f. 2 Wilhelm Voßkamp: Gattungen. In: Helmut Brackert u. Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 253-269, hier S. 259. 3 Mit Julia Kristeva wird der Text als Praxis verstanden, „eine Praxis des Strukturierens und Destrukturierens, er ist Vorstoß hin zu den subjektiven und gesellschaftlichen Grenzen, und nur unter dieser Voraussetzung ist er Lusterleben und Revolution.“ Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/ Main 1978, S. 31. Milka Car 142 agent Marlowe wird mit der dezidierten transgressiven Geste die Vorstellung von Faktischem, Verbürgtem und Authent-ischem demontiert. Mit der (über)betonten und zugleich fingierten Faktizität des Textes werden nicht nur Konventionen der literarischen Fiktion hinterfragt, sondern offenbar ein Versuch unternommen, zwei Rezeptionsebenen gleichzeitig zu aktivieren und unmittelbar zwischen der Wirklichkeit des Textes - also des elisabethanischen Zeitalters in England - und metatextuellen Anspielungen zu changieren. Anders gesagt, erhoben werden die „Fragen nach den Rändern, an denen die Lektüre ansetzt“ 4 . Gerade eine solche Lektüre vom Rande her wird in der vorliegenden Arbeit am Kühns Roman versucht. Im Vordergrund steht sodann die theoretische Erörterung der genretypischen Voraussetzungen und nicht eine textimmanente Lektüre des Romans. Die Verfahren im Roman Geheimagent Marlowe sollen die These illustrieren, dass die Einbeziehung dokumentarischer Signale in Roman dazu angetan ist, das tradierte Verständnis von der Grenze zwischen Fiktivem und Faktischem zu problematisieren. Die unmittelbare Montage der referenziellen Partikel verweist auf die Strategien der Repräsentation einer bestimmten Gesellschaft in der Literatur und initiiert somit einen Dialog mit der Gesamtheit der Kultur - einen Dialog sowohl mit der literarischen Tradition als auch mit überlieferten Denk- und Wahrnehmungsweisen. Mit ihrem hybriden Charakter und ihrer prinzipiellen Offenheit steht die Dokumentarliteratur exemplarisch für das Problem der Repräsentation von Realität in der Literatur. Gerade dieses heikle Verhältnis zwischen Dokumentarischem und Fiktivem verlangt, die institutionellen Grenzen der Literatur für den Dokumentarroman jeweils neu zu definieren. Mit dem transgressiven Gestus des Dokumentarromans wird an die von Jacques Derrida in Hinblick auf die Gattungstypologie erhobene Frage erinnert: „Wie kann man da die Grenzen, das Funktionieren und die Auswirkungen der Institutionen erkennen? “ 5 Dabei beschreibt der Begriff der Transgression vor allem die dem Dokumentarroman immanente Hinterfragung der Grenzen der Romangattung. Diese sind dabei nicht normativ zu lesen, sondern im Sinne der von Derrida thematisierten Unhintergehbarkeit der Gattungsgesetze. 6 Geheimagent Marlowe ist in diesem Sinne als eine Herausforderung an den ordnenden Sinn des Wissenschaftlers zu betrachten, denn er widersetzt sich üblichen Gattungskategorisierungen und bestätigt somit die Fähigkeit der Literatur, als Interdiskurs 7 zu funktionieren. Nach dem inhaltlichen Schema wäre der Roman ohne weiteres als Kriminalroman einzustufen, aber schon aus der kurzen vorangestellten Analyse geht hervor, dass diese Gattungskategorie den Anspruch des Romans nicht völlig ausschöpft. Wir haben es vielmehr mit einem Aktivieren des Referenzpotentials und dem Changieren zwischen unterschiedlichen 4 Jacques Derrida: Gestade, Wien 1994, S. 14. 5 Jacques Derrida: Das Gesetz der Gattung, In: Ebenda, S. 245-285, hier S. 254. 6 „Sobald man das Wort ‚Gattung’ vernimmt, sobald es erscheint, sobald man versucht, es zu denken, zeichnet sich eine Grenze ab.“ Ebenda, S. 248. 7 Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Birgit Wagner. Dokument und Roman - Dokumentarroman? 143 Textebenen zu tun, das analysiert werden muss. Gerade in seinem ausgeprägt dokumentarischen Gestus der Montage der letztlich fingierten oder fiktiven Fakten entfaltet dieser aus Protokollen, Berichten, Transskripten und Abschriften konzipierte Roman seine volle transgressive Wirkung. Die Referenzkodes werden auf der Handlungsebene funktionalisiert und in einer „metasprachlichen“ Bewegung auf der Ebene des Diskurses zugleich ironisiert. 8 Somit erweist sich die „demonstrativ geheuchelte Wahrheitstreue“ 9 als das wichtigste Strukturelement in diesem Roman. Es zeugt davon, dass sich der zeitgenössische Dokumentarroman im „selbstreferentiellen Gewebe der Kultur (R. Koselleck)“ 10 bewegt und in dieser Perspektive verorten lässt. Damit kann Geheimagent Marlowe als ein später Nachfahre der dokumentarischen Literatur gelesen und interpretiert werden. Das gelingt jedoch nur, wenn wir das Konzept der Dokumentarliteratur im Roman etwas breiter fassen, als es in der Germanistik traditionell der Fall ist. Postuliert wird hier, dass der Dokumentarismus als eigene literarische Methode epochenübergreifend wirksam ist und spezifische gattungstypologische und literaturtheoretische Fragen aufwirft. Ausgehend von einer derartigen Prämisse lassen sich weitergehende Fragen zum Status des Dokumentarischen im Roman stellen. Als erstes soll die Funktion der dokumentarischen Teile im Roman erörtert werden. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen, eine Typologie der dokumentarischen Formen im zeitgenössischen Roman zu erarbeiten. Die gattungstypologisch innovative Problematisierung der Faktizität im Roman von Dietrich Kühn soll diese Tendenz belegen, aber auf eine genaue Textanalyse muss in diesem Rahmen verzichtet werden. II. Als erstes stellt sich die Frage, was der stark betonte Referenzbezug im Roman bewirken kann. Die Arbeitshypothese lautet: Das Ziel der proklamierten Anlehnung an die Materialität des Referenziellen ist in der Regel als ein dezidiertes Signal des eigenartigen Spiels mit den literarischen Konventionen zu deuten - sei es als Hinterfragung von Konventionen der Fiktion, sei es als Absage an die geschlossene Form und die Formen realistischer Darstellung, 8 „Die Referenzcodes haben so etwas wie eine Brechwirkung, sie bereiten Übelkeit durch Langeweile, durch Konformismus, durch die Abneigung vor der Wiederholung, die sie begründet. Ein bewährtes und je nach Autor mehr oder weniger oft angewandtes Mittel dagegen ist, sie zu ironisieren: das heißt den erbrochenen Code mit einem zweiten Code, der ihn mit Distanz ausspricht, zu überdecken […] mit anderen Worten, einen metasprachlichen Prozeß zu beginnen […]“. Roland Barthes: S/ Z, Frankfurt/ Main 1976, S. 140. 9 Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981, S. 53. 10 zit. nach: Gerhard Neumann u. Rainer Warning (Hg.): Transgressionen, Literatur als Ethnographie, Freiburg im Breisgau 2003, S. 10. Milka Car 144 wobei die der Romangattung immanente referenzielle Funktion thematisiert wird. In der angelsächsischen Literaturtheorie hat Lennard J. Davis 11 zeigen können, dass der Ursprung des Romans sich in unmittelbarer Nähe zum faktischen Diskurses bewegt, so dass die Grenze zwischen faktographischen (journalistischen, biographischen usw.) und fiktionalen Diskursen nicht ein für allemal fixierbar ist. Anhand dieser untrennbaren Nähe zwischen Weltbezüglichkeit bzw. außertextuellen Referentialität und der fiktionalen Welt des Romans ist zu schließen, dass die dokumentarische Methode nicht strikt an eine bestimmte Epoche oder an eine bestimmte Poetik gebunden ist, sondern dass es möglich sein sollte, die Merkmale der dokumentarischen Schreibweise historisch und typologisch variabel zu lokalisieren und auf diese Art und Weise zu untersuchen. „Der eigentliche Sprachverstoß besteht hier also in der Okkupation von sprachlichen Mitteln“ 12 - diese Feststellung von Harald Fricke beschreibt treffend die Strategien der Narrativierung im Dokumentarroman. Als ein weiterer Ausdruck der Transgression ist die Tendenz des Dokumentarischen anzusehen, bei der sich der Dokumentarroman zunehmend aus dem Bereich der ‚faktisch’ und ‚authentisch’ verbürgten Objektivität in die textuelle Praxis der Sinnproduktion verlagert. Dadurch zeigt sich, dass die Dokumentarliteratur gerade dort interessant ist, wo sich Einbildungen zu etwas Realem machen und Realitäten als Produkte der Einbildungskraft verhüllen lassen […], das Ersonnene und das Real-Gemachte einander berühren, gerade dort, wo Skepsis und Glaubensbereitschaft in heftigen Streit über die Substanz von Erhofftem und das Vorhandensein von Nicht-Gesehenem geraten. 13 Damit rückt der diskursiv produzierte Charakter des Realen in den Mittelpunkt des Dokumentarromans. Anders gesagt, verhandelt wird der diskursiv produzierte Charakter des Dokuments selbst. Zugleich werden die Knotenpunkte zwischen Konvention und Repräsentation, die eine Bewegung im diskursiven Bereich aufweisen, zum Vorschein gebracht. Wurde das Dokument in seinem unhinterfragten Potenzial des Faktischen und Authentischen in der Literatur funktionalisiert und dann als solches auch weiter analysiert, verliert es zunehmend diese Aura. In diesem Sinne transportiert der Dokumentarroman die fundamentalen Erkenntnisse aus der Literatur- und Kulturtheorie mit, „über ihren Anteil an der Erfindung des Realen und an der Erkenntnis, dass das Reale erfunden ist“. 14 11 “ When the words ‘fact’ and ‘fiction’ are used, they are not defining two distinct and unimpeachable categories. They are more properly extremes of a continuum […] If humans treat these arbitrary categories as clearly defined, it is because we are habituated to their use.” Lennard J. Davis: Factual fictions: the origins of English novel, Philadelphia 1996, S. 10. 12 Fricke 1981, Anm. 9, S. 48. 13 Stephen Greenblatt: Was ist Literaturgeschichte? , Frankfurt/ Main 2000, S. 9-51, hier S. 43. 14 Ebenda, S. 47. Dokument und Roman - Dokumentarroman? 145 In Übereinstimmung damit ist nachzuweisen, dass die Autoren der Dokumentarromane den differenzierten und heterogenen Charakter des Dokuments belegen wollen - das Dokument wird als ein Produkt vielfältiger gesellschaftlicher Diskurse angesehen und erst als die Summe dieser vielfältigen Diskurse in den literarischen Text einmontiert. Das Dokument selbst ist aus Diskursen zusammengesetzt, die „als Fluss von Wissen und Wissensvorräten durch die Zeit“ 15 gleiten und sich in Romanform verfestigen. Die Dokumente werden in den narrativen Text integriert mit dem Ziel, auf die Differenz und Abweichung in der kulturellen Praxis der Denotation aufmerksam zu machen. Die in den Roman integrierten Dokumente lenken die Rezeptionshaltung auf die außertextuelle Realität, jedoch tragen sie in sich zugleich die Eigenschaft, das im Roman dargestellte Wirklichkeitsbild zu konstruieren oder zu destabilisieren. Es ist somit eine aus den Fugen geratene Text-Welt, die mit Hilfe des dokumentarischen Materials problematisiert wird. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie Dokumente zu integrieren sind, damit das Fiktive und das Konstrukthafte der Welt im Text zum Ausdruck kommen. Die grundsätzliche Problemstellung der Dokumentarliteratur verlagert sich also von der Geste der Authentizitätsbeteuerung zur Fragestellung: Inwieweit kann Literatur Diskurse der Realität noch re-präsentieren? Wir haben es mit einem polyperspektivischen Spiegelverhältnis zu tun, das sich im zeitgenössischen Dokumentarroman reflektiert, einerseits als Bewusstsein der Widerspiegelung der Kultur in Dokumenten, andererseits als Tatsache, dass gerade Dokumente diese Kultur mitkonstruieren und somit auch im Wesentlichen mitbestimmen. Dies hat eine epistemologische Umschichtung im Rahmen des Gegendiskurses Literatur zur Folge und muss in der jeweiligen Analyse mitgedacht werden. Mit der Integration oder Montage des authentischen Materials wird vor Augen geführt, dass das Dokument selbst ein Produkt in der Ordnung der Diskurse ist. Die Diskursanalyse erklärt mit ihrer umfassenden Bewegung die Frage nach dem Sinn und Zweck der Montage von authentischen Realitätspartikeln und bietet Einsicht in die Manipulierbarkeit von Dokumenten, was im Dokumentarroman immer dringlicher thematisiert, von der Literaturwissenschaft allerdings lange vernachlässigt wurde. In der Regel wird in Abhandlungen zur Dokumentarliteratur der Status des Dokuments nicht problematisiert. So befasst sich die systemtheoretisch angelegte Studie von Matthias Uecker 16 aus dem Jahr 2007 mit Dokumentarliteratur in literaturhistorischer Perspektive und stellt ihre Ausprägungen in der Weimarer Republik dar. Gerade die Systemtheorie weist darauf hin, dass die zwei von Uecker hervorgehobenen Hauptmerkmale des Dokumentari- 15 Siegfried Jäger: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Reiner Keller et al. (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 81-112, hier S. 82. 16 Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik, Oxford et al. 2007. Milka Car 146 schen: „der betonte Bezug zur außertextuellen Wirklichkeit“ und die „angenommene pragmatische Wirkungsabsicht“ 17 die Grenzen des Literatursystems hinterfragen. Argumentiert wird das mit der These, „daß die dokumentarische Literatur eine symptomatische Reaktion auf die grundsätzliche Unbestimmtheit“ 18 des Literatursystems ist. In der Weiterführung dieser These begründet der Autor die Möglichkeit des Dokumentarischen, „die unwandelbare Härte des Realen“ 19 zu repräsentieren. Dies erfolgt mit der Einsicht in die pragmatischen Zwecke einer solchen Repräsentation - die Darstellung der Wirklichkeit konzentriert sich demnach auf soziale Umstände dieser Zeit und auf implizite oder explizite Kritik der konkreten gesellschaftlichen Realität. Das hier erläuterte dokumentarische „Konzept des authentischen Wirklichkeitsbezuges“ 20 ist sodann zeitgebunden und jeweils in Hinblick auf eine bestimmte Epochenpoetik zu erklären. Jedoch wird in diesem avancierten Versuch der Status des dokumentarischen Materials selbst nicht thematisiert, denn das Postulat von der Authentizität des Dokuments wird nicht in Frage gestellt. Ähnlich argumentiert Wolfgang Dahlke 21 , der in seiner Darstellung dokumentarischer Formen den „realitäts-verweisenden Gestus“ 22 und die Vorgeformtheit dokumentarischen Materials betont und in diesem Sinne die Dokumentarliteratur auf „rein ‚material-expositorisch[e]’“ 23 Erscheinungsformen zu begrenzen versucht. Dabei schließt er jegliche Möglichkeit der Fiktionalisierung aus, „um die Demarkationslinie zwischen ‚Dokumentation’ und ‚Fiktion’ nicht zu verwischen“. 24 In seiner klaren Ausarbeitung der Funktion und Integrationsweise des Dokuments geht es darum, auf die Tendenzen „einer politisch radikalen, zweckorientierten neuen Funktionszuweisung“ 25 in der Dokumentarliteratur hinzuweisen. Seine Bestimmung ist literaturgeschichtlich funktional, stößt jedoch in der Analyse der Dokumentarromane von Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger an ihre Grenzen, in denen das Dokument „als Fragment zur Konstruktion der Wirklichkeit als Fiktion“ in Erscheinung tritt, was als ein „Abschied von Belegcharakter und Faktenfrömmigkeit“ 26 gedeutet wird. Damit ist der 17 Ebenda, S. 31. 18 Ebenda, S. 63. 19 Ebenda, S. 91. 20 Ebenda, S. 92. 21 Wolfgang Dahlke: Material - Form - Funktion. Über das Verhältnis von Rohmaterial und Ästhetik in neu-epischen und faktographischen Texten und Stücken in den 20er Jahren und in der deutschen Gegenwart, Frankfurt/ Main et al. 1986. 22 Ebenda, S. 4. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 16. 25 Ebenda, S. 22. 26 Ebenda, S. 233. Dokument und Roman - Dokumentarroman? 147 Autor gezwungen, die „konsequente Leugnung einer eindeutigen Zeigefunktion des Dokuments als Beleg für Tatsächliches“ 27 einzugestehen. Horst Tonn 28 geht in seiner Studie bei der Darstellung der amerikanischen Dokumentarliteratur des 20. Jahrhunderts von der viel zitierten These Reiner Baumgarts vom „verbürgten Stoff“ und der „empirisch erfahrbare[n] Wirklichkeit“ 29 als Ausgangspunkt der Dokumentarliteratur aus. In seiner Betrachtungsweise, die die Dokumentarliteratur als operative Praxis zu definieren versucht, kommt den referenziellen Bezügen eine zweifache Funktion zu: Auf der einen Seite steht die Beglaubigung der Fakten aus der Realität, auf der anderen Seite die Aktivierung des Lesers, der mit den authentischen Zeugnissen der (grausamen, ungerechten) sozialen Realität unmittelbar konfrontiert wird. Dadurch wird Dokumentarliteratur als eine Art sozialer Praxis betrachtet und somit oft ideologisch instrumentalisiert. Daraus geht hervor, dass die operativen und historisch-materialistischen Konzepte der Dokumentarliteratur in der Regel von einem Kurzschluss der Widerspiegelungstheorie begleitet werden. Dieser Kurzschluss geht aus dem Hauptproblem dieser Betrachtungsweise mit ihrer stillschweigenden Voraussetzung hervor, dass das Dokument eine stabile und unhinterfragbare Natur hat, womit man seinen diskursiven Eigenschaften jedoch nicht gerecht wird. Verkannt wird der prozesshafte und von kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen abhängige Status des Dokuments. Damit wird auch eine monolithische Vorstellung von Kultur evoziert beziehungsweise ihr diskursiver Status negiert. Die präsupponierte statische Natur des Dokuments impliziert zudem, dass es als integraler Bestandteil des literarischen Textes eine bestimmte Funktion nur dann erfüllen kann, wenn es feste referenzielle Bezüge mit einer in sich kohärenten außertextuellen Realität herstellt. Die dokumentarische Methode präsentiert sich jedoch als eine Doppelbewegung, die sich in der diskursiven Praxis ereignet und erst durch sie konkretisiert wird. Demzufolge wird im Dokumentarroman die Wirklichkeit als Menge der diskursiv produzierten Wirklichkeiten dargestellt. III. In der herkömmlichen Betrachtungsweise werden die Thesen von Michel Foucault 30 und anderen poststrukturalistischen Theoretikern von einer 27 Ebenda. 28 Horst Tonn: Wahre Geschichten. Die amerikanische Dokumentarliteratur im 20. Jahrhundert, Essen 1996. 29 Ebenda, S. 10. 30 „Die Aussageanalyse ist also eine historische Analyse, die sich außerhalb jeder Interpretation hält, sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen, […] nicht nach dem Nicht-Gesagten […] sondern umgekehrt, auf welche Weise sie existieren, was es für sie heißt, manifestiert worden zu sein, Spuren hinterlassen Milka Car 148 immer schon im Voraus produzierten, diskursiven, vermittelten Form von Wirklichkeitswahrnehmung außer Acht gelassen. Unsere Wirklichkeitswahrnehmung betrachtet Roland Barthes als eine diskursive Suche: Der Sinn oder […] das Ziel dieser Suche besteht darin, die Instanz der Realität (oder Instanz des Referenten), das mythische Alibi, das für die Vorstellung von Literatur beherrschend war und nach wie vor ist, durch die eigentliche Instanz des Diskurses zu ersetzen […]. 31 Statt der üblichen Verortung von Dokumentarliteratur im Umfeld der Begriffe Faktum, Materialität oder Wirklichkeit wird hier eine entgegengesetzte Position vertreten: Es wird darauf hingewiesen, dass Dokumente eine wesentliche Rolle gerade in der Re-Konstruktion von Realität übernommen haben. Die Realität wird als Problem oder Herausforderung repräsentiert oder sogar dekonstruiert - wie es bei Dietrich Kühn mit der Verschleierung der Ebenen des Faktischen und Fiktiven der Fall ist -, wobei Fiktionalisierungsstrategien und demonstrative Montage bewusst eingesetzt werden. Insofern ist der Dokumentarroman als eine Transgression konventionalisierter Wahrnehmung in der Literatur und in der Welt zu verstehen, die durch die ihr immanente Ambiguität zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf mehreren Ebenen aktivierend wirkt. Auch gerade deshalb sind im Dokumentarroman die „Interferenzbeziehungen zu anderen Diskursen“ 32 stark ausgeprägt und müssen jeweils mit-gelesen und mitrekonstruiert werden. Dabei wird der Begriff Diskurs im Sinne von Hayden White gebraucht: „Ein Diskurs bewegt sich ‚auf und ab’ zwischen überkommenen Kodierungen von Erfahrung und dem untergeordneten Gewirr von Phänomenen, die sich der Einordnung in konventionalisierte Begriffe von ‚Realität’, ‚Wahrheit’ oder ‚Möglichkeit’ widersetzen.“ 33 Diese in Anlehnung an Foucault’sche Diskurstheorie entwickelte Definition des Diskurses erweist sich als ein für Dokumentarromane brauchbares analytisches Instrument, das die produzierte Natur des Dokuments mitreflektiert. Für eine epochenübergreifende Konzeption des Dokumentarischen wäre es somit notwendig, ein präzises analytisches und begriffliches Instrument zur Gattungsbestimmung zu haben […].“ Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/ Main 1973, S. 159. 31 Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt/ Main 2005, S. 27. 32 Harro Müller: Einige Notizen zu Diskurstheorie und Werkbegriff. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/ Main 1988, S. 235-243, hier S. 239. 33 „Diskurs ist mit einem Wort im Wesentlichen ein vermittelndes Unternehmen. Als solches ist der Diskurs sowohl interpretativ als auch präinterpretativ; er handelt immer ebenso sehr über das Wesen der Interpretation selbst wie über den Gegenstand, der der manifeste Anlaß zu seiner eigenen Entstehung und Gestaltung ist.“ Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 11. Dokument und Roman - Dokumentarroman? 149 auszuarbeiten. Dies soll durch die Abkoppelung des Dokumentarischen vom Wahrheits- oder Wirklichkeitsbegriff durchgeführt werden. Im Unterschied zu den tradierten normativen Konzeptionen der Dokumentarliteratur in der Germanistik schlägt Barbara Foley ein breit gefächertes Konzept des Dokumentarischen vor, mit dem sie in erster Linie den diskursiven und ideologischen Status des Dokuments im Roman zu analysieren versucht. Ausschlaggebend ist ihre dynamische Textkonzeption, die es der „gewaltige[n] amorphe[n] Masse“ 34 des Romans erlaubt, die faktographischen Stoffe unterschiedlich in die Romanform zu integrieren. Mit dem von Barbara Foley in Anlehnung an Philippe Lejeune ausgearbeiteten Begriff vom ´dokumentarischen Gattungsvertrag´ lassen sich die Ausprägungen des damit erzielten „dokumentarischen Effekts“ (B. Foley) in epochenspezifischen generischen Konzepten analysieren. Im Bereich des Dokumentarischen ist nur eine kommunikativ-funktionale Gattungsbestimmung möglich, die keine Gattungshomogenisierung anstrebt, sondern bestimmte dokumentarische Indikatoren im jeweiligen Fall zu detektieren vermag. Da der Dokumentarroman über ein Arsenal von Fiktionalitätsindikatoren verfügt, perforiert er sowohl das (vermeintliche) Authentizitätspostulat als auch die Gattungsgrenzen des Romans. Der Dokumentarroman konstruiert sich als Gemenge der Gattungsmerkmale von Reisebericht, Geschichtsroman, Biographie oder ethnologischer Studie, verzichtet jedoch nicht auf die Kategorie der Fiktionalität, sondern modelliert sie auf eine radikale Weise: angezeigt wird der fiktionale Charakter im Realen. Um jedoch keinen Vorwurf der Gattungsbeliebigkeit 35 aufkommen zu lassen, sollte nach der von Harald Fricke herausgearbeiteten Gattungstypologie zwischen drei Ebenen des Dokumentarischen in der Literatur unterschieden werden. Die höchste Ebene würde der Gattungsbegriff vertreten, nach dem ‚Dokumentarliteratur’ als „unspezifizierte[r] Oberbegriff für ganz verschiedenartige literarische Gruppenbildungen“ 36 einzusetzen ist: als Sammelbegriff für alle historischen Formen der Dokumentarliteratur inklusive der Formen der operativen oder der neusachlichen Dokumentarliteratur. Wichtig wäre es daher, innerhalb dieses ‚unspezifizierten’ Gattungsbegriffes, dem immer noch der Vorwurf des ‚sogenannten’ 37 anhaftet, zwischen Genre und Textsorte zu unterscheiden. Dabei würde ‚Genre’ literaturhistorisch verwendet und ‚Textsorte’ „als rein systematischer lite- 34 Edward Morgan Forster: Aussichten des Romans, Frankfurt/ Main1982, S. 13. 35 Eine Relativierung der Typologie unternimmt Jacques Derrida: „Und wenn es im Herzen des Gesetzes selbst ein Gesetz der Unreinheit oder ein Prinzip der Kontamination gäbe? Und wenn die Möglichkeitsbedingung des Gesetzes das a priori eines Gegen-Gesetzes wäre, ein Unmöglichkeitsaxiom, das Sinn, Ordnung und Vernünftigkeit des Gesetzes verdrehen würde? “ Derrida 1994, Anm. 4, S. 250. 36 Fricke 1981, Anm. 9, S. 132. 37 Dieter E. Zimmer: Die sogenannte Dokumentar-Literatur. In: Die Zeit 28. 11. 1969. Milka Car 150 raturwissenschaftlicher Ordnungsbegriff“ 38 vorgeschlagen. Konkret wären hier als bestimmte dokumentarische Textsorten fingierte oder hybride (auto-)biographische Textsorten 39 anzuführen. Auf diese Weise wären hybride dokumentarische Textsorten deutlich von beschriebenen und literaturhistorisch klassifizierten Genres der Dokumentarliteratur unterscheidbar. Zugleich gilt in dieser elastischen Konzeption „ein Gesetz der Unreinheit, eine Ökonomie des Parasitären“ 40 . Das architextuelle „Modell der Gattungskompetenz“ 41 wird damit auf den Dokumentarroman übertragbar, sodass tatsächlich von bestimmten „Kontinuitätserwartungen“ die Rede sein kann, die je nach Bedarf instrumentalisiert und reflektiert werden können. Dies ist bei Dieter Kühn und seiner Dementierung der Gattungserwartungen des Dokumentar- und Kriminal-romans der Fall. Festzustellen ist dabei, dass sich die Rekonstruktion der Wirklichkeit/ Wahrheit dabei dem erzählerischen Zugriff entzieht. Aber anhand der angeführten Merkmale der Transgression, des dokumentarischen Vertrags und der re-konstruktiven Montage der Realitätspartikel wird es möglich, eine gattungstypologisch klare Grenze zwischen dem Dokumentarroman und historischbiographischen Formen der Memoiren-Literatur zu ziehen. In den letztgenannten Formen überwiegt die narrative Integration des Dokumentarischen und eine linear-kausale Erzählweise, während im zeitgenössischen Dokumentarroman mit seiner komplexen Montage-Struktur und seinen avancierten narrativen Techniken immer die jeweilige Metaebene aktiviert wird. Dabei wäre zunächst die Frage nach der Verschränkung der Fiktion mit dem faktographischen dokumentarischen Material in hybriden Textsorten der (Auto-)Biographie zu analysieren, die somit inhaltlich und formal als biographische, testimoniale oder autobiographische dokumentarische Textsorten zu definieren wären. Diese klassifikatorische Unterscheidung würde dann auch die in der Dokumentarliteratur vorkommenden Fiktionalitätsindikatoren und Fiktionalitätsprivilegien erklären, ohne die Dokumentarliteratur in die Spalte der nichtfiktionalen Literatur einordnen zu müssen. Im nächsten Schritt wäre es notwendig, die narratologischen Voraussetzungen 42 zu untersuchen, durch welche das Dokument in die Romanform inte- 38 Fricke 1981, Anm. 9, S. 132. 39 Beispiele hierfür sind Romane wie Marbot von Wolfgang Hildesheimer, Hammerstein oder der Eigensinn von Hans Magnus Enzensberger oder Der Freund und der Fremde von Uwe Timm. 40 Derrida 1994, Anm. 4, S. 252. 41 „Gegenstand der Poetik […] ist nicht der in seiner Besonderheit betrachtete einzelne Text […], sondern der Architext, oder […] die Architextualität des Textes […], d. h. die Gesamtheit jener allgemeinen und übergreifenden Kategorien - Diskurstypen, Äußerungsmodi, literarische Gattungen usw. -, denen jeder einzelne Text angehört.“ Gerard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/ Main1993, S. 9f. 42 „Der literarische Text markiert dann einen bestimmten Knotenpunkt auf einem historisch beschreibbaren Feld, das sich über interdiskursive Relationen strukturiert.“ Jutta Kolkenbrock-Netz: Diskursanalyse und Narrativik. Voraussetzungen Dokument und Roman - Dokumentarroman? 151 griert wird, sodass es in einem literarischen Modus zur Wirklichkeit steht. Ausgehend von der These von Jutta Kolkenbrock-Netz soll der Dokumentarroman als Knotenpunkt von Diskursen analysiert werden. Vor allem geht es darum, den Formbestand des Narrativen im Dokumentarroman zu detektieren - demzufolge ihm der fiktionale Status nicht abgesprochen, sondern ganz im Gegenteil mit Hilfe literaturtheoretischer Kategorien immer neu verhandelt wird. Wenn der Dokumentarroman als Hinterfragung der Konventionen der fiktionalen narrativen Struktur des Romans verstanden wird, muss die Frage gestellt werden, welche Funktion das dokumentarische Material in Roman hat. Es wird die These vertreten, dass es sich bei den Ausprägungen des Dokumentarischen um einen literarischen Beleg einer andauernden transgressiven Geste handelt. Das Dokument im narrativen Text ist als Signal für das textexterne Spiel mit literarischen (Gattungs-)Konventionen zu verstehen. Das Dokument bewegt sich in der Regel im Trümmerfeld des Faktischen - der Weltbezug wird zu einem Textbezug, denn das Dokument wird primär als „Praxis der Signifikation“ und „permanente Verortung des nur flüchtig Anwesenden“ 43 eingesetzt. Mit dieser These vom prozessualen und dynamischen Charakter des Dokuments, das erst als solches Eingang in den Roman findet, kann vor allem der Paradigmenwechsel in der Dokumentarliteratur belegt werden, der seit den späten 70er Jahren sichtbar wird, als sich der Umgang mit Dokumenten und ihre Zielsetzung radikal ändern. Seit dieser Zeit werden Dokumente nicht mehr in offener Collagestruktur mit einem autoritären Authentizitätsanspruch aufeinander montiert, sondern graduell unterschiedlich fiktionalisiert. Damit ist zugleich ein verändertes Verständnis von der Funktion der Literatur in der Gesellschaft verbunden - es müssen theoretische und gattungstypologische Konsequenzen aus der von Barbara Foley formulierten Einsicht gezogen werden: „We do not imitate the world, we construct versions of it.“ 44 Diese Entwicklung geht mit dem wachsenden „Bewußtsein der unsicheren Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion“ 45 einher. In dieser Sicht erweist sich der Dokumentarroman als eine hybride Form, für die die metareflexive Funktion der Transgression von zentraler Bedeutung ist. Die Spannung zwischen dem Tatsächlichen und dem Vorstellbaren bildet ein substantielles Moment des Dokumentarromans. Die Formen der Konstruktion von Wirklichkeit und und Konsequenzen einer interdisziplinären Fragestellung. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/ Main1988, S. 261-283. 43 Catherine Belsey: Von den Widersprüchen der Sprache. Eine Entgegnung auf Stephen Greenblatt. In: Greenblatt 2000, Anm. 13, S. 51-73, hier S. 59. 44 Barbara Foley: Telling the truth. The Theory and Practice of Documentary Fiction, Ithaca/ London 1986, S. 11. 45 Anton Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism, Tübingen-Basel 2001, S. 251-267, hier S. 257. Milka Car 152 ihrer diskursiven Kolonisation stehen im Mittelpunkt der Roman-Analyse. Dazu wird eine „heterotopische“ Analyse angestrebt: Sie soll „ein wirksamer Ort [werden] von dem aus unsere Wunschträume systematisch beschrieben und beherrscht werden - ein Ort der Kultur“ 46 . Einen unmittelbaren Konnex stellt hierbei der Dokumentarroman mit seiner Eigenschaft her, „den Anspruch auf Originalität und Singularität literarischer Fiktionen in Frage [zu] stellen“ 47 , indem er die „Voraussetzung diskursiver Vorprägung“ 48 ins Zentrum der Darstellung rückt. Diese Vorprägungen des aus Sedimenten sprachlicher und symbolischer Codes zusammengesetzten dokumentarischen Materials können mit dem Begriff des Interdiskurses gefasst und analysiert werden. Dabei wäre es Aufgabe der Diskursanalyse, „so tief wie möglich die irreale Realität der Sprache“ 49 im Dokumentarroman zu erforschen und zu belegen. So wird das Dokument „in der unersetzbaren Buchstäblichkeit des Wortes“ 50 , beziehungsweise in seiner eigenen Pluralität erkennbar - die im Unterschied zu früheren operativen Konzepten der Widerspiegelungstheorien hier als seine Hauptfunktion postuliert wird. Dazu wird an die von Jürgen Link und Ursula Heer-Link entwickelte kontextorientierte Konzeption des Interdiskurses angeknüpft, die den „sustained effect of double reality reference characteristic of documentary realism“ 51 zu beleuchten vermag. Mit dem von der Diskursanalyse entwickelten Apparat ist die Art und Weise zu beschreiben, wie der zeitgenössische Dokumentarroman die realitätsnahe Darstellung verabschiedet und eine Vorherrschaft imaginativer Strukturen und diskursiver Prozesse suggeriert. Die lange Zeit unhinterfragt wiederholte Formel vom Authentizitätsanspruch 52 des Dokuments wird durch die Frage nach den Konstitutionsbedingungen der ihm zugrunde liegenden Texte und Diskurse ersetzt. Das Dokument wird als ein Produkt der textuellen Praxis betrachtet, womit sich das Grundproblem der Dokumentarliteratur zu der Frage verschiebt: Welche Sprache sprechen die Fakten? Mit anderen Worten: Als Vorstufe einer 46 Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Opladen-Wiesbaden 1999, S. 38. 47 Sigrid Weigel: Das Phantom der Tradition. In: Corina Caduff u. Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute - ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, Zürich 2004, S. 35-45, hier S. 37. 48 Ebenda. 49 Roland Barthes: Literatur heute. In: Ders. : Literatur oder Geschichte, Frankfurt/ Main 1969, S 70-85, hier S. 83. 50 Jacques Derrida: Was ist Dichtung? , Berlin 1990, S. 12. 51 Lars Ole Sauerberg: Fact into fiction. Documentary realism in the Contemporary Novel, London 1991, S. 5. 52 „Es gibt in unserer ganzen Zivilisation eine Vorliebe für den Wirklichkeitseffekt, die aus der Entfaltung spezifischer Genres wie des realistischen Romans, des Tagebuchs, der dokumentarischen Literatur oder der vermischten Nachrichten, […] deren einziger relevanter Zug (im Verhältnis zur Zeichnung) eben darin besteht zu bedeuten, daß das dargestellte Geschehen wirklich stattgefunden hat.“ Barthes 2005, Anm. 31, S. 162. Dokument und Roman - Dokumentarroman? 153 Gattungstypologie des Dokumentarromans sind im jeweiligen Fall die Auswirkungen des dokumentarischen Vertrags mit seiner transgressiven Funktion zu untersuchen und in Abhängigkeit von der Autorenpoetik zu analysieren. Die Aufgabe einer Gattungstheorie des Dokumentarischen wäre es, die „in den Netzen der eigenen Performativität verfängt[en]“ 53 Gattungsgesetze zu beschreiben und somit einen neuen Zugang zum Dokumentarroman zu ermöglichen. 53 Derrida 1994, Anm. 4, S. 17. U RSULA K NOLL (W IEN ) Den Körper lesen Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur Welches Lesen? Das Nachdenken darüber, was Literatur mit der Geschichte der Shoah, ihren Opfern und ihren TäterInnen tut, bewegt sich immer auf einem „Minenfeld“ 1 , wie Ruth Klüger es einmal so treffend formuliert hat - einem hochpolitisierten, von Fragen einer Moral und Ethik, wie auch immer sie gefasst werden, nie freien Raum. Ebenso ist alles, was mit Fragen des Sexuellen und des Körpers zu tun hat, politisch umkämpftes Terrain. Edgar Hilsenrath legte 1971 mit Der Nazi & der Friseur 2 einen Roman vor, in dem sich beides auf sehr herausfordernde Weise verschränkt. Denn das Geständnis des „Massenmörders Max Schulz, später dann Itzig Finkelstein“, der nach einer Karriere als SS-Mann die Identität seines besten Freundes Itzig Finkelstein annimmt, den er selbst in einem Lager in Polen ermordet hat, der nach Palästina auswandert und dort als jüdischer Friseur und Haganah-Kämpfer am Aufbau des israelischen Staates mitarbeitet, bis er als „Itzig Finkelstein, früher der Massenmörder Max Schulz“ im „Wald der 6 Millionen“ stirbt bzw. seinen Tod imaginiert, erzählt nicht nur über die Ambiguität der Konstruktion dieses Schulz/ Finkelstein, später dann Finkelstein/ Schulz, sondern inszeniert dies gerade über den Körper, in dem sich sexuelle und ‚rassische’ Einschreibungen verdichten. Schon in den ersten Sätzen des Romans ist dieses Verhältnis angelegt: Ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz […]. An meiner rein arischen Herkunft ist nicht zu zweifeln, da der Stammbaum meiner Mutter, also der Minna Schulz, zwar nicht bis zur Schlacht im Teutoburger Wald, aber immerhin bis zu Friedrich dem Großen verfolgt werden kann. Wer mein Vater war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen […]. Ich habe die Stammbäume meiner fünf Väter sorgfältig prüfen lassen, und ich versichere Ihnen, daß die arische Herkunft der fünf einwandfrei festgestellt wurde. 3 1 Ruth Klüger: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur, Göttingen 2006, S. 217. 2 Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur. Gesammelte Werke Bd. 2. Hg. v. Helmut Braun, Berlin 2004. 3 Ebenda, S. 7. Ursula Knoll 156 Was aber tut der Hilsenrath-Text, performanztheoretisch gedacht, auf diesem „Minenfeld“ genau? Was heißt es, den Roman zu lesen, wenn sich Lesen als ein Leseverhältnis verstehen lässt, in dem von keiner festen, fixen, sicheren Opposition von Text und Lesenden ausgegangen werden kann, sondern von einem Akt des Lesens, der das lesende Subjekt immer erst konstituiert, einem Begriff von Lesen also, der, wie es Elisabeth Strowick in ihrem Text Sprechende Körper formuliert, „das Subjekt der Performanz des Lesens unterstellt“. 4 In welches Leseverhältnis verstrickt Hilsenraths Roman ein lesendes Subjekt, das er selbst entwirft, und wie wird das Leseverhältnis, in Übernahme von Strowicks Titel, durch die sprechenden Körper als strukturbildende Momente des Textes bestimmt? Es sind Fragen nach dem, was der Text tut (performt) und nach dem, was die Lektüre des Textes tut, an denen sich meine Überlegungen ausrichten. Dem möchte ich anhand einer kritischen Relektüre von drei Texten aus der Sekundärliteratur, die jeweils eine eigene Lesart des Romans vorschlagen, nachgehen. Relektüre 1: Körper 1967/ 68 schreibt Edgar Hilsenrath seinen Roman für den Verlag Doubleday & Company, 5 erst in München, dann in New York. Der Text lässt sich zunächst als Versuch der kritischen Einschreibung in einen westdeutschen Aufarbeitungsdiskurs lesen, dessen Metapher des ‚unfassbar Bösen’ jedes Sprechen über NS-TäterInnenschaft rahmt. Über die Konstruktion des ‚Bösen’, das dem Deutschen passiert sei, wird versucht, das andere Deutsche, das nicht von diesem Bösen affiziert wurde, als das Eigentliche, das Echte herauszuarbeiten. Dieser Diskurs ermöglicht, dass NS-TäterInnen in die ‚Normalität’ des gesellschaftlichen Alltags der 60er Jahre integriert sind und für ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden. Hilsenraths Roman befragt die Begriffe von Norm, echtem Eigenen und Körper: was wird in der Rede des Max Schulz als ‚Normalität’ gesetzt, wer setzt das und an wen richtet sich das? Wie vollzieht sich die Überkreuzung Schulz / Finkelstein vor der Behauptung ‚rassischer’ Reinheit? Welche Körperinszenierungen entwirft der Text, wenn doch Körper von einer abstrahierten Form des Bösen absorbiert wurden? Gerade auf der formalen Ebene werden diese Fragen greifbar: In früheren Fassungen ist der Text als Briefroman konzipiert. Die Briefe richten sich hauptsächlich an Schulz’ Mutter und einen Präsidenten, in dem sich Simon Wiesenthal erkennen lässt. Schulz bezichtigt sich darin selbst als SS-Mörder. Der Roman beginnt mit einem Geständnis, das 4 Elisabeth Strowick: Sprechende Körper - Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, München 2009, S. 121. 5 1971 erscheint der Roman dort auf Englisch unter dem Titel The Nazi & The Barber. Auf Deutsch wird er erst 1977 im Verlag Helmut Braun publiziert. Weitere Verlagsstationen des Romans sind in der Editorischen Notiz in der Gesamtausgabe aufgelistet. Siehe Hilsenrath 2004, Anm. 2, S. 478. Den Körper lesen 157 sich, vor dem zeitlichen Hintergrund der Frankfurter Auschwitzprozesse, zunächst auch an einen Staatsanwalt richtet. Er wird in der Eröffnungsszene direkt adressiert. 6 In die veröffentlichte Fassung sind aber weder die Briefromanform noch die Anrede an den Staatsanwalt aufgenommen, ebensowenig wie alle Elemente, die explizit auf die Briefform verweisen und somit das Du des Textes an eine/ n Adressat/ in rückbinden. Durch die Streichung veruneindeutigt sich die Anrede des Textes, die nun von der konkreten Figur (Simon Wiesenthal, die Mutter, der Staatsanwalt) zu einer wie auch immer gedachten Leseinstanz übergeht. Welche Bedeutung kommt dieser Veruneindeutigung zu bzw., genauer gefragt, welche Konsequenzen hat das für das Lesen des Romans? Für Jens Birkmeyer besteht die Funktion der Streichung darin, „daß diese sämtliche Dimensionen überschreitende und damit inkommensurable Schuld des Protagonisten diesem sukzessive klar wird und als maximale ethische Zumutung auf den Leser übergeht.“ 7 Er setzt somit die Leseinstanz mit Max Schulz analog und versteht diese Analogie als Versuch des Romans, die Frage nach der moralischen bzw. ethischen Dimension von Schuld aus einer TäterInnenperspektive aufzuwerfen. Birkmeyer liest Schulzes Erzählung als Machtdiskurs, der versucht, die „Grenzen des Sagbaren zu übertreten“, um das Unsagbarste zu sagen. Die Mittel des Textes sind folgerichtig Übertreibung, Possen, Pornographien und Skurrilitäten, 8 um, so Birkmeyer, ein „Narrativ der moralischen Folgenlosigkeit der Schuld“ 9 herzustellen und damit genau diese im westdeutschen Diskurs zu entlarven. An seine Lesart anschließend wirft Birkmeyer die Frage auf, ob der Roman vielleicht „deshalb so grotesk [sei], weil er das Groteske der Normalität des Unnormalen, das Perverse des vermeintlich Unperversen erzählen will, das sich genau dann einstellt, wenn die Normalität als das kaschierte Grauenvolle enttarnt wird.“ 10 Offen aber bleibt, welche Begriffe von Normalität und Perversion Birkmeyers Lektüre hier setzt, und welchen Begriff von Normalität und Perversion der Roman inszeniert. Ich komme darauf zurück. Die Du- oder Sie-Erzählung, in der sich die Dialogstruktur der Figurenebene in einer Dialogstruktur des Erzählaktes doppelt, trägt immer ein Mo- 6 „Sehr geehrter Herr Staatsanwalt, ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz. […] An der rein arischen Herkunft meiner Wenigkeit ist nicht zu zweifeln, sehr geehrter Herr Staatsanwalt, da der Stammbaum meiner Mutter […] bis zu Friedrich dem Großen verfolgt werden kann.“ Zit. n. Jens Birkmeyer: Die Infamie der Schuld. Vom Briefroman zur Tätergroteske: Edgar Hilsenraths „Der Nazi & der Friseur“. In: Helmut Braun (Hg.): Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath, Berlin 2005, S. 51-68, hier S. 60. 7 Ebenda, S. 59. 8 Ebenda, S. 56. 9 Ebenda, S. 65. 10 Ebenda, S. 57. Ursula Knoll 158 ment der Ambiguität in sich. Eine Ambiguität, die, wie Erika Greber 11 in ihren narratologischen Überlegungen zur (auch vergeschlechtlichten) Struktur des Du eines Textes, in Anlehnung an Bachtin ausführt, sich daraus erklärt, dass das Du-[oder Sie]Pronomen […] ja per definitionem nicht die eigene, sondern die Sicht eines anderen [markiert]. Das heißt, im Du-Erzählen ist grundsätzlich ein zweistimmiger Diskurs der Interferenz konstruiert - unhintergehbar Heteroglossie. Genau das ist ja der springende Punkt der Du-Narration: dass hier eine irgendwie nicht dingfest zu machende Erzählinstanz spricht. 12 Die Interferenz macht die Bestimmung des erzählten Dus und des erzählenden Ichs uneindeutig. In Hilsenraths Roman gilt das für das Ich gleich im doppelten Maße: Der Ich-Erzähler Max Schulz ist ein auktorialer Ich- Erzähler, der sich selbst zum Gegenstand seines Erzählens macht. Er ist eine in sich selbst gespaltene Erzählinstanz: die erzählende und die erzählte verschränken sich miteinander, und diese Spaltung oder Doppelung wird in der Konstruktion von Schulz/ Finkelstein zu Finkelstein/ Schulz ein weiteres Mal wiederholt. Für Jens Birkmeyer berührt gerade dieses Oszillieren des Max Schulz zwischen auktorialem Erzählen und Ich-Erzählen die ethische Dimension des Komplexes Schuld und Sühne, er führt aber nicht weiter aus, was unter dieser ‚ethischen Dimension’ zu verstehen wäre. Eine andere Lesart ergibt sich aus dem Umstand, dass die Interferenz, so Erika Greber, „eine metatextuelle Reflexion über das Erzählen selber“ 13 innerhalb des Textes ermöglicht. Veruneindeutigt der Roman also durch die Interferenz das Du und das Ich im Monolog des Max Schulz, seinem Geständnis, arbeitet er selbstreferentiell und befragt die Gattung des Geständnisses und dessen Funktionieren angesichts der Erfahrung der Shoah. Deutlicher wird dieses Verfahren gegen Ende des Romans, als sich der Erzähler Max Schulz einem von ihm selbst initiierten Verhör durch den ehemaligen Richter Wolfgang Richter unterzieht, der die ‚Beichte’ von Schulz, dem jüdischen Friseur und Haganah-Kämpfer Itzig Finkelstein, nur als ‚Spiel’ versteht. Nachdem Schulz seine Verbrechen aufgezählt und geschildert hat, kommt es zwischen den beiden Männern zur Frage nach dem ‚gerechten’ Urteil: „Wieviel hast du eigenhändig umgebracht, Max? “ „Genau weiß ich’s nicht, Wolfgang. Ich hab sie nicht gezählt.“ „Ungefähr, Max? “ 11 Erika Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? Latenter Erzähler und implizites gendering (am Beispiel einer Kurzgeschichte von Tschechow). In: Sigrid Nieberle u. Elisabeth Strowick (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte - Medien - Episteme, Köln et al. 2006, S. 45-72. 12 Ebenda, S. 60. 13 Ebenda, S. 59. Den Körper lesen 159 „Ungefähr 10.000. Es könnten aber auch mehr gewesen sein. Oder auch weniger. Nur, um eine runde Ziffer zu nennen: 10.000! “ […] „Dann lautet mein Urteil: 10 000 mal aufhängen! “ „Hör mal zu, Wolfgang. Du willst mich doch nicht etwa 10 000 mal aufhängen lassen? “ „Doch, Max! “ „Das geht aber nicht, Wolfgang. Ich habe nur einen Nacken! “ 14 Es ist der Körper mit seinem Nacken, der in diesem Dialog als Hindernis vorgeschoben wird, der eine als adäquat erachtete Strafe verunmöglicht. Wenig später kommt die ‚Gerichtsverhandlung’ doch zu einem Ende: Versuchen Sie, uns zu sehen! Zwei ratlose Männer. Sie haben ein Spiel gespielt. Sie sind müde. Besonders der Richter. Er ist eingenickt. Und er wacht wieder auf. Er blickt mich an. Er sagt: „Max Schulz. Es gibt keine Lösung. Das ist ein schäbiges Spiel.“ Ich sage: „Ein Urteil muss gefällt werden.“ Und der Richter sagt: „Ich bin müde. Mir fällt jetzt nichts ein. Und das ist ein schäbiges Spiel. Und ich bin ein alter Mann.“ Ich frage: „Soll ich das Urteil fällen? “ Und der Richter nickt, sagt: „Ich bin müde. Was ist das Urteil? “ Ich sage: „Freispruch! “ Und der müde alte Mann nickt…sagt: „Freispruch! “ 15 Wieder ist es der Körper, der mit seiner Müdigkeit einen Freispruch begünstigt und über den sich eine Strafe verhindern lässt. Und es ist die Sicht des Richters, den Prozess als Spiel zu verstehen, die vom Erzähler Schulz übernommen und an das Sie herangetragen wird, das den Text liest. Wenn aber in der Anrede des „Versuchen Sie, uns zu sehen“, die den Dialog mit dem Richter doppelt, immer die „Sicht eines anderen“ mitschwingt, wie Greber es formuliert, konstruiert demnach die lakonische Erzählung des Erzählers gerade im Subjekt des Lesens seine Sicht? Eine Sicht, die die Verbrechen somit auch trivialisiert und herunterspielt und so, wie der Richter, mit Max Schulz zur Einsicht des Freispruchs gelangt? Elisabeth Strowick denkt in ihrem Text Sprechende Körper performanztheoretisch über den Akt des Lesens nach. Sie entwirft anhand eines Freud- Witzes ein Modell von Lesen als „triangulärem Performativ“, um das Moment der Fehllektüre als Ereignis, das die Intention des sprechenden Subjekts unterläuft und gleichzeitig Räume der Resignifikation öffnet, als literaturtheoretische Kategorie fassbarer zu machen. Strowick zufolge liegt es gerade an der „strukturelle[n] Alterität des (Fehl-)Aktes des Lesens […], dass dieser sich wiederholt und damit zugleich Möglichkeiten subversiver Relektüren eröffnet.“ 16 Strowicks „trianguläres Performativ“ versucht, das Verhältnis von Lesen und Text in einer Dreiecksformation zu denken, in der die jeweili- 14 Hilsenrath 2004, Anm. 2, S. 454f. 15 Ebenda, S. 457. 16 Strowick 2009, Anm. 4, S. 121f. Ursula Knoll 160 gen Enden des Dreiecks als unterschiedliche Positionen eingenommen werden können. Dieses Dreieck an die ‚Gerichtsszene’ in Hilsenraths Roman angelegt, ergibt zwei mögliche Lesarten: in einer ersten Lektüre befindet sich an einem Ende Max Schulz als auktorialer Ich-Erzähler seiner Geständnisse, am anderen Ende der Richter, dem ein Urteil in den Mund gelegt wird. Am dritten Ende ist das Objekt der Aggression, die in der Ermordung Itzigs figurierte Shoah mit Schulzes bloß in irgendeiner Zahl abstrahierten Opfern. Wenn sich in der zweiten Position, der des Richters, die Position des Subjekts des Lesens doppelt, in Analogsetzung der Dialogstrukturen, hieße das für diese Position eine KomplizInnenschaft mit Max Schulz, mit seiner Denkordnung des Tötens und dessen selbstreferentieller Logik des Trivialisierens. So gedacht würde der Akt des Lesens, in dem sich Text und lesendes Subjekt nachträglich konstruieren, das Wissensregime und Denken von NS- TäterInnen, hier SS-Männern, wiederholen und festigen: in der Wiederholung jede Differenz feststellen. Eine zweite Lesart ergibt sich durch den Umstand, dass die Urteilssprechung aber zunächst durch das Einschlafen des Richters unterbrochen wird. Der Körper, hier nicht als Metapher gedacht, sondern „als strukturelles Moment von Handlung, das den Akt des Lesens zu einem Fehlakt verschiebt“, 17 so Strowick, unterläuft aber die eben skizzierte Lesart und macht die Lektüre zu einer in sich differenten Wiederholung dessen, was Max Schulz sagt. Der schlafende Körper des Richters ist dann als jenes Moment zu setzen, welches das Lesen zu einem Fehlakt verschiebt, nämlich zu einem, das Schulzes Geständnis bzw. seiner rhetorischen Verfasstheit des Entschuldigens, das sich keiner Konsequenz unterwirft, nicht folgt. Die Konsequenzlosigkeit der Schuld bleibt darin zwar enthalten, Max Schulz entwirft für sich einen Freispruch, der unwidersprochen bleibt. Die hegemoniale Selbstgerechtigkeit, Selbstgerechtigkeit auch im wortwörtlichen Sinn, des Max Schulz liest sich dann aber als „in sich differenter Akt der Wiederholung“ eines Geständnisperformativs, das scheitert, hier scheitern muss. So lässt sich mit Strowick die Inszenierung von Schulzes Geständnis als „Figur der Kreuzung“ lesen bzw. als „Signifikant der ‚Unreinheit’“, 18 die nicht nur die Figur des arischen Massenmörders Schulz, als Erzählinstanz und als Ich des Textes, sondern auch die Gattung Geständnis unterläuft - gerade, wenn Gattung als etwas verstanden wird, in dem die Begriffe Genealogie und Geschlecht untrennbar mitschwingen. 2. Relektüre 2: Sexualisierter Körper Zurück zum Beginn des Textes, in dem genau diese Verschränkung von Genealogie, Geschlecht und Ursprung inszeniert wird: Auch hier ist der Monolog Schulzes von einem „Signifikanten der ‚Unreinheit’“ unterlaufen, denn wo die lange Erklärung des Vaterschaftsverhältnisses die Frage nach der biologischen 17 Ebenda, S. 14. 18 Ebenda, S. 19. Den Körper lesen 161 Abstammung aufwirft (und im totalitären Kontext des Nationalsozialismus ist das eine Frage nach dem Recht auf Leben), verlagert der Text diese von Beginn an auf das Ausstellen jeder Nazi-Terminologie: der Ursprung des Max Schulz wird als Folge unkontrollierter Sexarbeit figuriert, ist aber als ‚rassenrein’ gesichert. Gerade über diese Verschränkung von Sex und der Behauptung einer ‚Reinrassigkeit’ werden Max Schulz als Erzähler, seine potentiellen ErzeugerInnen und damit das Personal des Romans, kleinbürgerliche deutsche TäterInnen und MitläuferInnen, konstruiert. Es ist der Körper - kein vordiskursiver Körper, sondern das Verhältnis von Körper und Sprache als Handlungsmoment, wie es in den Körperinszenierungen, die der Text entwirft, ausgedrückt ist -, über den hier das erzeugt wird, was immer als das Groteske bei Hilsenrath bezeichnet wird. Das Groteske aber ergibt sich aus der Differenz einer Norm, die in der Erzählung konstruiert wird, und deren Überschreitung. Erst in dieser Differenz entsteht ein Raum, in dem sich die Kritik und die Subversion des Grotesken entfalten kann. In Hilsenraths Roman ist es das Sexuelle, das, wie Heribert Hoven 19 in seiner Lektüre des Textes ausführt, die Binnenordnung dieser ‚Norm’ vorgibt: die fünf mutmaßlichen Väter des Ich-Erzählers haben in einer genau festgesetzten Hierarchie Sex mit der Mutter Minna Schulz, einem ‚sozialdarwinistischen’ Recht des Stärkeren folgend. Gleichzeitig ist aber gerade der Schwächlichste, der Hausdiener, derjenige, dessen ‚arischer’ Stammbaum sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt und als unerschütterlicher Beweis für die ‚Reinrassigkeit’ zitiert wird, bis zu einem „Knappen des ruhmreichen Ritters Siegismund von der Weide“ 20 nämlich, der als Träger des Schlüssels des Keuschheitsgürtels von Siegismunds Frau ausgewiesen wird. Auch hier wieder ein sexualisierter Einschub, der bezeichnend ist, kommt doch die Metapher des Schlüssels wenig später an der Stelle wieder, an der das Baby Max Schulz von seinem nunmehrigen Stiefvater Slavitzky, SA-Mann der ersten Stunde, vergewaltigt wird und währenddessen den Schlüssel „knarren und knirschen“ 21 hört. Dennoch wird das Recht des Stärkeren zur fundamentalen Argumentationsstrategie des Erzählers Schulz, gerade auch da, wo der Sex die Ordnung durcheinanderbringt und durch die Ordnung der ‚Rasse’ ersetzt werden muss: Kurz nach Kriegsende beginnt Schulz, nun seit kurzem der Schwarzhändler Itzig Finkelstein, eine Affäre mit der ‚arischen’ Gräfin von Hohenhausen: Die Gräfin hat hohe sexuelle Ansprüche, Finkelstein/ Schulz muss sich einer mehrwöchigen Schulung durch deren Butler unterziehen. Als es endlich zum Sex kommt, beschreibt der Ich-Erzähler Schulz seine Reaktion auf ein plötzliches Black-Out, das ihn alles, was er gelernt hat, vergessen lässt, und das damit verbundene Gefühl der Demütigung so: 19 Heribert Hoven: Die Ästhetik des Geschlechtsverkehrs oder Anmerkungen zum Thema: Sexualität im Werk Edgar Hilsenraths. In: Thomas Kraft (Hg.): Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen, München 1996, S. 191- 201. 20 Hilsenrath 2004, Anm. 2, S. 7. 21 Ebenda, S. 23. Ursula Knoll 162 im Laufe jener ersten Nacht…raffte ich mich auf, kriegte eine Wut, wollte mich rächen, stieß einen fürchterlichen Fluch aus, warf mich auf die Gräfin und nahm sie im Sturmangriff, der drei Sekunden dauerte […] Und wissen Sie, was die Gräfin zu mir sagte? „Herr Finkelstein“, sagte sie, „Sie sind ein Barbar“. „Ich bin Jude“, sagte ich. „Kein Barbar.“ „Um so schlimmer“, sagte die Gräfin. […] Es ist klar: Die Gräfin ist eine Antisemitin! In der letzten Zeit hat sie die Maske ganz fallen lassen. 22 Heribert Hoven weist darauf hin, dass der Erzähler hier „der Sprache des Aggressors“ 23 verhaftet bleibt, der Sprache von Hitlers Mein Kampf, und sich jedes Sprechen Schulzes über Sexualität generell nur im ‚Sturmangriff’ artikulieren kann. Hoven ist bislang der einzige, der in der Sekundärliteratur auf Figurationen des Sexuellen eingeht. Hovens Text fasst Sexualität dabei grundsätzlich als „die anarchisch-vitale Seite des Humanen“ 24, die die NS-Diktatur mit ihrer Rassenlehre bekämpft und verstümmelt habe. Von daher denkt er Hilsenrath und dessen Roman als „Menschenfreund, als Aufklärer“ 25 , der durch die nackte Darstellung seiner Figuren als triebhaft und egoistisch eine Hoffnung auf eine Welt gebe, die aus der Erfahrung des Massenmords gelernt hat. Der Roman konstruiere Figuren, die, nach der Entwertung aller Werte, auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen seien und darin aber auch die Hoffnung auf eine bessere Welt repräsentierten. Diese Aufladung des Sexuellen mit einem Anspruch auf Befreiung und einen ethischen Gehalt durchzieht Hovens Lektüre. Im Subtext lassen sich Ansätze der NS-Repressionshypothese, wie sie die westdeutschen 68er formulierten, mitlesen, die, verkürzend gesagt, davon ausgeht, dass die Shoah aus der Unterdrückung der Sexualität auf Seiten der TäterInnen resultiere und von daher die Idee der sexuellen Befreiung eine antifaschistische Grundbedingung darstelle. Den Nationalsozialismus als sexuell repressives Regime zu setzen, verkennt aber nicht nur die Funktion der antisemitischen und rassistischen NS-Sexual- und Biopolitik als ideologisches Zentrum des Massenmords. 26 Diese Lesart sperrt sich auch gegen den Roman selbst. Denn was bedeutet es, folgende Szene des Romans als anarchische Befreiung durch das Sexuelle verstehen? Relektüre 3: weiblicher Körper Max Schulz heiratet Mira Schmulevitch, eine von zwei Überlebenden eines Massakers, das 1941 „im ukrainischen Städtchen Wapnjarka-Podolsk“ an den 22 Ebenda, S. 212f. 23 Hoven 1996, Anm. 19, S. 193. 24 Ebenda, S. 192. 25 Ebenda, S. 191. 26 Vgl. u.a. die Arbeiten von Dagmar Herzog, die deutlich machen, wie NSsexualpolitische Richtlinien und Maßnahmen Sexualität als „jüdisch entartet“ diffamieren, gleichzeitig aber als arisches, heterosexuelles, männliches Privileg fördern: Dagmar Herzog: Sex after Fascim. Memory and Morality in Twentieth- Century Germany, Princeton 2005. Den Körper lesen 163 jüdischen BewohnerInnen verübt wurde, vielleicht auch durch Schulz’ Truppen selbst, der Text lässt dies offen. Mira wird danach in ein Konzentrationslager deportiert (der Name wird nicht genannt), überlebt und emigriert nach Israel, wo sie im Friseursalon ihres Onkels auf Schulz, jetzt der jüdische Friseur Finkelstein, trifft. Mira, die „stumme Freßmaschine“, wie der Erzähler Schulz sie nennt, und wodurch in Mira auch die Körperlichkeit der Mutter eingelagert ist - es gibt nur einen Buchstaben Differenz zwischen der Mutter Minna Schulz und der stummen Mira Schmulevitch -, Mira spricht nicht mehr. Stattdessen isst sie ununterbrochen, alles was sie finden kann, sie setzt unbegrenzte Nahrungsaufnahme gegen die Erinnerung. Gleich in der ersten Begegnung zwischen Mira und dem Friseur Finkelstein/ Schulz ist das von Bedeutung, wie der Erzähler Schulz berichtet: Seit Mira in mein Leben hineinstieg … mit all dem Fett und all den stummen Schreien … onaniere ich Tag und Nacht. Kann kaum auf den Füßen stehen. Mache das tagsüber auf der Toilette des Friseursalons Schmuel Schmulevitch, nachts im einsamen Bett. Sehen Sie, Mira verkörpert irgendetwas für mich, was ich zu kennen glaube und doch nicht recht begreife. Wenn ich an sie denke, dann kriege ich Lust, zuzustoßen, zu zertrümmern, aufzufressen, mir einzuverlieben, verliere dabei guten Samen … und nachdem ich den Samen verloren hab, da möchte ich alles wieder ausspucken, zusammenflicken, streicheln, versöhnen … aber nicht loslassen, als müßte ich es festhalten, um es wieder zu fressen … 27 Claudia Öhlschläger und Birgit Wiens versuchen in ihrem Band Körper- Gedächtnis- Schrift 28 , Konzepte der ‚Geschichte des Körpers’ und seiner sexuellen Markierung wie auch des kulturellen Gedächtnisses neu zu formulieren, d.h. eine performanztheoretische Auffassung von Körper als Effekt sich wiederholender, diskursiver Akte mit Diskursen der Gedächtnistheorie zu verschalten. Öhlschläger/ Wiens weisen dabei darauf hin, dass der weibliche Körper als „privilegierte Matrix“ 29 der Einschreibung des kulturell Verdrängten fungiert. Auf die Szene aus Hilsenraths Roman angelegt ist das kulturell Verdrängte demnach die Erfahrung des Verbrechens, die für Mira nur in Form von gesteigerter, jede Grenze überschreitender Essensaufnahme artikulierbar ist. Das Körperfett als Überschreitung der alltäglichen Norm des Friseursalons stellt für sie ihren Umgang mit ihrem Überleben dar. Gleichzeitig ist es der sexuelle Trigger für Schulz, in dem auch der ‚fette Arsch’ der Mutter widerhallt, d.h. das Erzählte ist auch hier, über den Körper der weiblichen Figur, die als Lustobjekt des Erzählers inszeniert ist, in der Überschneidung von Körperfett / Schweigen / ermordete Menschen / Onanieren sexuell gerahmt. Max Schulz braucht Mira gleichsam als konstitutives Außen seiner neu angenommenen Identität als jüdischer Friseur und zionistischer Kämpfer. Dennoch bewegt er sich in der Bedeutungsstruktur, die der Text von Anfang an konstruiert, denn als Mira einwilligt, Finkelstein/ Schulz 1947 in 27 Hilsenrath 2004, Anm. 2, S. 381. 28 Claudia Öhlschläger u. Birgit Wiens (Hg.): Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin 1997. 29 Ebenda, S. 17. Ursula Knoll 164 Beth David zu heiraten, ist die erste Reaktion des Erzählers Schulz die Frage danach, was wohl die Mutter und Slavitzky von dieser Heirat halten würden: Slavitzki würde sicher sagen: „Mit 40, da sieht nicht jeder Arsch gleich aus. Da wird man wählerisch.“ Und meine Mutter würde sagen: „Das stimmt, Anton.“ Und Slavitzki würde sagen: „Das muß ein guter Arsch sein.“ Und meine Mutter würde sagen: „Ein Judenarsch! Und obendrein fetter als meiner! Das reizt meinen Max.“ 30 Der „fette Judenarsch“ der Mira Schmulevitch fügt sich reibungslos in die Denkordnung der Mutter und Slavitzkis. Darin liegt keine anarchische Befreiung durch das Sexuelle. Das Ganze bekommt noch eine problematische Wende, wenn Schulzes Beziehung zu Mira, wie es Andreas Graf in seiner Lektüre 31 des Romans vorschlägt, als Teil der Konstuktion Schulz/ Finkelstein zu Finkelstein/ Schulz als Schulzes innere Buße gelesen wird. In seiner Auseinandersetzung mit Mira begreife Max Schulz erstmals, so Graf, „daß seine aus einer dumpfen Rachsucht gespeiste Zerstörungslust Ausdruck eines tiefen Zärtlichkeitsbedürfnisses ist. […] Er erlebt die Liebe, muss aber einsehen, daß die Vergangenheit nicht revidierbar ist.“ 32 Für Graf ist die Geburt des gemeinsamen, behinderten Kindes und dessen früher Tod der Beleg für die Unentrinnbarkeit der Erinnerung. Graf zitiert die Stelle, an welcher der Erzähler Schulz zum ersten Mal an Mira zu denken beginnt, spart in seinem Zitat aber bezeichnenderweise die Onanie aus und überhöht die Szene zu einem romantischen Versuch des reuigen Neubeginns. Grafs Lesen bleibt somit Schulzes Denkmuster unwidersprochen verhaftet, das Mira funktional als Möglichkeit besetzt, sich durch die Zeugung eines Kindes (eines jüdischen Kindes, der matrilinearen Logik folgend, noch dazu eines jüdischen Kindes einer KZ-Überlebenden) von den eigenen Verbrechen reinzuwaschen. Seine Lektüre fällt hinter die groteske Überschreitung des Textes zurück. Denn die Erzählbewegung von Schulz/ Finkelstein ist eine Nachahmung, die das ‚Original’ - das Original der romantischen Liebe, des Ursprungs, eines nicht von der Shoah gerahmten Selbtverständnisses - parodiert und dessen Autorität unterläuft, was schon an der Eröffnungsszene des Romans aufgezeigt und in der Auseinandersetzung mit Mira noch einmal durchgespielt wird. Sie ist offen für mimetische Subversion. Immer noch: welches Lesen? Vielleicht lässt sich zusammenfassend sagen, dass das Scheitern des Geständnisses des Max Schulz, als das der ganze Text gelesen werden kann, 30 Hilsenrath 2004, Anm. 2, S. 384f. 31 Andreas Graf: Mörderisches Ich. Zur Pathologie der Erzählperspektive in Der Nazi & der Friseur. In: Kraft 1996, Anm. 19, S. 135-149. 32 Ebenda, S. 145. Den Körper lesen 165 und für das die ‚Gerichtsszene’ exemplarisch steht, Fragen nach der ‚Norm’ und dem Körper offenlegt - und an diesem Punkt geht der Roman über seine konkrete kritische Einschreibung in den westdeutschen Erinnerungsdiskurs der 60er Jahre hinaus. Er sensibilisiert dafür, wie in Körper Vorstellungen des Sexuellen, die mit einem ethischen Anspruch aufgeladen sind, eingelagert werden. Er fragt nach den Bedeutungen, die über den Körper angeeignet oder verworfen werden, gerade auch über die Achse Geschlecht ausgetragen. Er gibt zu denken auf, wo sich Normen im Lesen des Textes weiterschreiben und in welches Leseverhältnis sich ein lesendes Subjekt verstrickt. M IRJAM B ITTER (G IEßEN ) Interdependenzen Erinnern und Vergessen im Spannungsfeld vielfacher Identitätskategorien in Doron Rabinovicis Roman Ohnehin Versammelt man Beiträge zur ‚Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext’, steckt darin die implizite Annahme, über den Raum, den zentraleuropäischen, ein Verbindendes vorzufinden, in dessen Rahmen sich dann durchaus Heterogenes aufeinander beziehen kann. In diesem räumlich umgrenzten Kontext soll es weiterhin um Kultur gehen, die heutzutage ebenso wenig als eindimensionale Entität aufgefasst werden kann, sondern gerade in ihren vielen Dimensionen und ihrem Stimmengewirr gewürdigt wird. Im vorliegenden Text bezieht sich die Analyse nun auf den zentraleuropäischen Kontext, genauer gesagt auf das darin angesiedelte literarische Wien, als Erinnerungsraum sowie als Treff- und Kreuzungspunkt vielfältiger immer schon in sich mehrdimensionaler Identitäten. Vom literarisch vermittelten Stadtraum also schreitet die Analyse zu dessen metaphorischen Implikationen für Erinnerung und Identität fort. Mithilfe erinnerungstheoretischer Ansätze sowie dem in der gender-orientierten Kulturanalyse entwickelten Konzept der Intersektionalität sollen in Doron Rabinovicis dafür geradezu prädestinierten Roman Ohnehin die vielfachen Interdependenzen herausgearbeitet werden, die in diesem Erinnerungs- und Identitätsraum herrschen: sowohl zwischen verschiedenen Identitätskategorien oder zwischen Erinnern und Vergessen untereinander, als auch zwischen den identitären Verortungen der Romanfiguren und deren Haltung zu Erinnern und Vergessen. Wiener Straßen- und Stimmengewirr 1 : vom Stadtzum Menschenbild Nicht erst im Zuge des spatial turn richtet sich die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften auf den Raum als soziale und kulturelle, niemals bloß physische Größe. Schon unter Rückgriff auf Michail Bachtin lässt sich der Mensch als ein chronotopisches Wesen beschreiben, weshalb unterschiedli- 1 Den Begriff des Stimmengewirrs wendet Rabinovici auf seine eigene identitäre Situation an. Vgl. Doron Rabinovici: Wohin mit Österreich? Oder: Zwischen Tracht und Niedertracht. Gedanken zu einer neuen Koalition. In: Ders. / Isolde Charim (Hg.): Österreich. Berichte aus Quarantanien, Frankfurt/ Main 2000, S. 46- 58, hier S. 54. Mirjam Bitter 168 che Romantypen durch ihre jeweiligen Raum-Zeit-Konstellationen auch verschiedene Bilder des Menschen vermitteln. 2 In der Topographie des in Ohnehin vermittelten Wienbildes lässt sich daran anknüpfend über die Neuverortung von Zentrum und Peripherie hinaus die Metaphorik vieler Interdependenz- und Intersektionalitätstheorien wiederfinden: [A]nders als etwa Paris lief Wien nicht auf einen Mittelpunkt zu. Im Gegenteil; jede große Achse wurde durch Kreise, durch den Gürtel und durch den Ring durchschnitten. Arbeiterbezirke blieben klar von bürgerlichen Vorstädten und die wiederum von den repräsentativen Prachtbauten getrennt. Ja, lange noch waren gar die steinernen Reste der einstigen Befestigungen und Mauern nicht weggeräumt worden. Nur die Wienzeile durchbrach ein wenig diese hermetische Hierarchie, lief breit und mächtig von Schönbrunn bis zur Bastei. Der Naschmarkt war vor dem Kärntnertor aufgekeimt, an dieser Barriere hatte er genistet, von dieser Trennlinie und gegen sie gelebt; er blühte auf zum eigentlichen Absatzgebiet, zum Ort, wo Wandel und Handel vor sich gingen über Standesgrenzen und Klassengegensätze hinweg. 3 Der hier historisch verortete Naschmarkt auf der Wienzeile ist im Roman vielfach Schauplatz „zufälliger Begegnungen oder verabredeter Treffen“. 4 Über den Begegnungsort Naschmarkt, jenen Schwellen- und Grenzort zwischen sozialem Zentrum und Peripherie, den Rabinovici in einer Umordnung Wiens mit narrativen Mitteln zum Mittelpunkt der Wientopographie seines Romans macht, 5 gelingt es dem Autor, zwei sonst häufig getrennt wahrgenommene Phänomene der heutigen österreichischen Gesellschaft gemeinsam in den Blick zu nehmen: zum einen die „multikulturelle Konstellation, die das Ergebnis verschiedener Migrationsbewegungen und Globalisierungstendenzen darstellt“, zum anderen den Umgang „mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs.“ 6 Dabei geht die multikulturelle Konstellation über den ‚mitteleuropäischen Mythos’ und das von Francis Michael Sharp in seinem Aufsatz über den Roman benannte habsburgische Wien um die Jahrhundertwende 7 hinaus, denn sie hat globale Ausmaße und 2 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos, Frankfurt/ Main 2008. 3 Doron Rabinovici: Ohnehin. Roman, Frankfurt/ Main 2004, S. 177. Im Folgenden im Fließtext zitiert als (O 177). 4 Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs, Berlin 2008, S. 140. 5 Diesen Gedanken sowie viele weitere Anregungen verdanke ich der inspirierenden Respondenz Gerald C. Linds zu meinem Vortrag auf der diesem Sammelband vorausgegangenen Tagung. 6 Vgl. Doerte Bischoff: ‚Einmal muß Schluß sein? ’ Über Abrechnungen, Entschuldungen und kommunikative Erinnerung anlässlich einer Lektüre von Doron Rabinovici. In: Jens Birkmeyer u. Cornelia Blasberg (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Bielefeld 2006, S. 187-219, hier S. 196. 7 Francis Michael Sharp: Doron Rabinovici’s Ohnehin. Selective Memory and Multiple Pasts. In: Trans - Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 16, 2005. http: / / www.inst.at/ trans/ 16Nr/ 05_2/ sharp16.htm, 2.3.2010. Interdependenzen 169 die Koexistenz wird, wie noch gezeigt werden soll, im Wien des Jahres 1995, in dem der Roman spielt, nie als unproblematisch verklärt. 8 Begrifflichkeiten und Metaphorik der Intersektionalität Straßenmetaphorik wie im obigen Romanzitat findet sich auch in Konzepten der Intersektionalität, die sich in der gender-orientierten Kulturanalyse großer Beliebtheit erfreut, weil sie dem fundamentalen Anliegen gerecht zu werden verspricht, Differenzen auch innerhalb einer zuvor als stabil angesehenen Identitätskategorie wie etwa derjenigen der ‚Frau’ anzuerkennen und sichtbar zu machen. Zwar lassen sich Diskussionen um Überschneidungen verschiedener Kategorien bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, 9 doch wurde der Begriff intersectionality erst 1989 von der Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt, und erst seit den 1990er Jahren trat er in der deutschsprachigen Debatte seinen Siegeszug an. Crenshaw verwendete zur Veranschaulichung ihres Konzeptes die Metapher der Straßenkreuzung: Wenn sich die Straße des Rassismus und die des Sexismus kreuzen, ist die Unfallgefahr für Schwarze Frauen auf dieser Kreuzung besonders hoch, sowohl die gender- Ambulanz als auch die race-Ambulanz kehren jedoch jeweils wieder um, weil sie sich nicht für zuständig halten. 10 Die Straßen im angeführten Romanzitat werden als „Achsen“ bezeichnet, ein Begriff, den Cornelia Klinger und Gudrun Axeli-Knapp in ihrem Konzept der Achsen der Ungleichheit 11 verwenden. Kritik rief in der Debatte um das Zusammenspiel verschiedener Identitätskategorien sowohl das Straßenkreuzungsals auch das Achsenbild hervor, weil sie suggerieren, dass diese Achsen bzw. Straßen außerhalb der Kreuzung getrennt voneinander existieren, einzelne Kategorien also so etwas wie einen eigenständigen genuinen Kern haben. 12 Die „Mauern“ und „Befestigungen“ (O 177) im Romanzitat scheinen diese Vorstellung klar trennbarer Kategorien zunächst zu unterstützen - wäre da nicht der Naschmarkt, der „diese hermetische Hierarchie“ (ebd.) durchbricht. Die Verben ‚aufkeimen’, ‚nisten’, ‚leben’ und ‚blühen’ setzen der klaren Ordnung von Kategorien naturwüchsige Unordnung und das Überschreiten vorgegebener „Trennlinie[n]“ (ebd.) entgegen. Hier geht „Wandel und Handel vor sich […] über Standesgrenzen und Klassengegensätze hinweg“ (ebd.). Und so wie „Wien 8 Vgl. dazu auch Beilein 2008, Anm. 4, S. 277, Fn. 143. 9 Vgl. Katharina Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie. In: Dies. et al. (Hg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007, S. 23-64. 10 Vgl. Kimberlé Crenshaw: Intersectionality. Reflections on a twenty year old concept. http: / / www.cgc.uni-frankfurt/ intersectionality, 28.8.2009. 11 Cornelia Klinger u. Gudrun-Axeli Knapp: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt/ Main 2007. 12 Vgl. Walgenbach 2007, Anm. 9. Mirjam Bitter 170 nicht auf einen Mittelpunkt zu[läuft]“ (ebd.), zeigt sich im Laufe der großteils auf dem Naschmarkt angesiedelten Romanhandlung, dass niemand nur gutbürgerlich, nur Mann, nur einheimisch oder nur heterosexuell etc. ist, sondern dass jede dieser Identitätskategorien als in sich interdependent verfasst konzeptualisiert werden muss. 13 Der Naschmarkt ist dementsprechend eine „Mischung aus scharfen Aromen und süßlichen Düften“ (O 16), es „vermengten sich hier auf der Wienzeile alle Landsmannschaften und Klassen“ (O 182), die Protagonisten bestellen dort ständig eine „Melange“ (O 21), spannen untereinander ein „Netz“ (O 21) auf, sind „ineinander verheddert“ (O 20), „verstrickt“ (O 37, 64) oder „verkeilt“ (O 90): Es geht also allemal um die Mischung, die Verstrickungen, die Interdependenzen verschiedener Kategorien, die Jan Nederveen Pieterse aus soziologischer Perspektive als Melange-Effekt 14 beschrieben hat. Verflechtungen von Kategorien im Roman Anhand verschiedener Personenkonstellationen dieses vielstimmigen Romans werden unterschiedliche Differenzkategorien aufgerufen. So zeigt sich an der beendeten Beziehung des Protagonisten Stefan Sandtner zu seiner aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Kollegin Sonja Kramar die Verquickung von Geschlechter- und Klassenverhältnis, denn sie fühlt sich von dem „Söhnchen aus gutbürgerlichem Haus“ (O 71) nicht verstanden. In Sonjas Affäre mit ihrem gemeinsamen Vorgesetzten Professor Kahlbauer lassen sich zudem berufliche Machthierarchien erkennen. Diese sind explizit mit sexuellen Begehrenskonstellationen verknüpft, die sich u. a. an Kahlbauers Füllfederhalter offenbaren, vom eifersüchtigen Stefan als phallische „Goldfeder“ und „Zauberstaberl“ (O 72) bezeichnet. Der von dem illegal in Wien lebenden serbischen Deserteur Goran Boškovi explizit benannte „heutige[…] Rassismus“ (O 83), für den eine kolumbianische Künstlerin eine „Selbsthilfegruppe anonymer Rassisten“ (O 89) gründen will, wird in seinen Auswirkungen neben Goran vor allem an Patrique Mutabo veranschaulicht. Dieser ist nach eigener Aussage ein „waschechter“ (O 163) Österreicher, womit ironisch auf den Wahlkampf der FPÖ Bezug genommen wird, die ihre Kandidaten als ‚echte Österreicher’ angepriesen hatte. Essayistisch äußert sich Rabinovici dazu u. a. in seinem Text Tracht und Zwietracht. Oder Politik als Folklore: Der Rassismus der Satten richtet sich gegen die vielen hier Geborenen, die dennoch nie zu Bodenständigen werden, gegen die Eingebürgerten, die trotzdem nicht als Inländer gelten, und gegen die Zugewanderten, denen die Aufenthaltser- 13 Vgl. ebenda. 14 Jan Nederveen Pieterse: Der Melange Effekt. Globalisierung im Plural. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/ Main 1998, S. 104-124. Interdependenzen 171 laubnis verweigert wird, aber auf deren Dienste die nationalistischen ‚echten Österreicher’ keine Sekunde verzichten könnten. 15 Im Roman wird Patrique Mutabo, der „Sohn eines kongolesischen Diplomaten“ (O 21), der (wie der Autor Rabinovici) schon im Alter von drei Jahren nach Österreich kam und alle „Nuancen“ (O 158) der Sprache beherrscht, als ‚rassisch Anderer’ wahrgenommen, was das Warten „an einem U- Bahnschacht vor dem Resselpark“ (O 156) gefährlich macht. Dass Rabinovici im Roman wie in der Essayistik explizit den Begriff „Rassismus“ verwendet, ist durchaus nicht selbstverständlich, wird doch u. a. in der Debatte um die Benennung relevanter Kategorien im Rahmen der Intersektionalitätstheorie die aus den USA importierte Trias race, class, gender meist nicht nur um weitere Kategorien ergänzt, sondern race häufig durch ethnicity ersetzt. Rabinovici hingegen kritisiert die Vermeidung einer „Wortwahl, die an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnert“, wenn stattdessen „von Kultur […] gesprochen [wird], als wäre sie eine biologische, genetische, naturgegebene Konstante.“ 16 Den Leserinnen und Lesern dieses Fortwirken nationalsozialistischen Gedankenguts in der „Biologisierung des Sozialen“ 17 auch außerhalb des (ebenso wenig verschwundenen) Antisemitismus vor Augen zu führen, dazu dient u. a. die ‚multikulturelle Konstellation’ des Romans. Als weitere Kategorie wird Alter benannt, als Stefan Little Jimmy Scott hört, „der klang, als habe er die Leben Hunderter Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts erlitten“ (O 193). Sie spielt im Roman sonst vornehmlich als Kategorie Generation eine Rolle, sowohl bei der Unterscheidung von Mitbzw. Überlebenden der NS-Verbrechen von deren Nachgeborenen, als auch bei derjenigen zwischen Immigranten und deren in Wien geborenen Kindern. Neben Generationalität 18 werden an der türkischen Familie Ertekin und der griechisch-zypriotischen Familie Alexandrus, deren Naschmarktstände nebeneinander liegen und deren Kinder irin und Theo als „eine Art Romeo und Julia von der Wienzeile“ 19 zueinander finden, auch Ethnizität, Herkunft und wiederum Geschlechterrollen thematisiert. 15 Doron Rabinovici: Tracht und Zwietracht. Oder Politik als Folklore. In: Credo und Credit. Einmischungen, Frankfurt/ Main 2001, S. 130-155, hier S. 152. 16 Doron Rabinovici: Rassismus und Antirassismus als Verbindendes zwischen den Kulturen. In: Trans-Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15, 2003. http: / / www.inst.at/ trans/ 15Nr/ plenum/ rabinovici15DE.htm, 2.3.2010. 17 Rabinovici 2001, Anm. 15, S. 151. 18 Vgl. Jürgen Reulecke: Generation/ Generationality, Generativity, and Memory. In Astrid Erll u. Ansgar Nünning: Cultural memory studies. An international and interdisciplinary handbook, Berlin 2008, S. 119-125. 19 Nicole Streitler: [Rezension zu Ohnehin]. http: / / www.literaturhaus.at/ buch/ buch/ rez/ rabinovici_ohnehin, 2.3.2010. Mirjam Bitter 172 Judentum - als irgendwo zwischen Genealogie, Religion und Ethnizität angelegte Identifikation 20 - wird anhand des Shoahüberlebenden Paul Guttmann sowie Lew Feininger zur Sprache gebracht, welcher der Generation nach der Shoah angehört. Lews Beziehung zu Sophie, die er mit den Worten: „Na ja, wir trennen uns seit Jahren.“ (O 249) beschreibt, zeigt damit auch das Ineinanderverheddertsein nachgeborener Juden und Nicht-Juden in einem Land, in dem „die Wehrmacht [1938] bei Überschreitung nationaler Grenzen auf solch hartnäckige Begeisterung gestoßen“ (O 178) war. Indem jüdische Identitäten, anders als in Rabinovicis vorigem Roman Suche nach M., in Ohnehin als ein Thema unter vielen auftreten, verschiebt sich der Fokus hin zu Interdependenzen vielfältiger Kategorien. Vielstimmiges Erinnern? Führt man sich die Fülle explizit benannter und erzählerisch vorgeführter Kategorien vor Augen, liegt der Begriff der ‚Vielstimmigkeit’ auf der Hand. 21 Diesbezüglich fallen allerdings zwei Dinge auf: Erstens bietet der Roman zwar erzähltechnisch durch wechselnde interne Fokalisierungen verschiedene Perspektiven auf das Romangeschehen, andererseits jedoch gibt es einen eindeutigen Protagonisten, aus dessen Sicht die Lesenden die meisten Passagen des Romans verfolgen, und mit dem die Geschichte anfängt und auch endet. Zweitens wird ausgerechnet Heteronormativität nicht explizit thematisiert - was keinesfalls bedeuten muss, dass diese nicht vorhanden wäre. Ziel einer Interdependenz-Analyse sollte immer auch sein, ‚die andere Frage zu stellen’ und vordergründig dethematisierten Kategorien nachzugehen. Der Neurologe Stefan Sandtner, Sohn eines Mitglieds des obersten Verfassungsgerichtshofes und einer Steuerberaterin, erfolgreich sowohl als Künstler als auch als Arzt und hin- und hergerissen zwischen der kühlen, mädchenhaften Ärztin Sonja Kramar und der exotisch, heißen, farbenfrohen Künstlerin Flora Dema aus dem Kosovo, ist nun gerade kein mehrfach Marginalisierter, sondern klassische ‚hegemoniale Männlichkeit’ in der ‚Krise’ 22 . Seine schwankende Haltung zeigt sich gleich auf der ersten Romanseite an seinem Zapp-Verhalten vor dem Fernseher, dann an seiner endlosen Wohnungssuche, der „Abwechslung“ (O 121) durch immer ausgefallenere Restaurants, in die er Flora führt, sowie vor allem an seinem Oszillieren zwischen Sonja und Flora, die zugleich für das Oszillieren zwischen Medizin und Kunst sowie zwischen Erinnerung und Vergessen stehen. Dieser Versuch einer männlichen Rezentrierung läuft auch über die eher implizit the- 20 „Jewishness disrupts the very categories of identity because it is not national, not genealogical, not religious, but all of these in dialectical tension with one another.“ Jeffrey M. Peck: Being Jewish in the new Germany, New Brunswick 2006, S. 157. 21 Diesen verwendet etwa Bischoff 2006, Anm. 6, S. 207f. 22 Vgl. Robert W. (Raewyn) Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000, insbes. S. 97-107. Interdependenzen 173 matisierte Kategorie der Attraktivität, die nur für weibliche Figuren Relevanz zu besitzen scheint. Während alle Frauenfiguren des Romans attraktiv sind und ständig über äußere Attribute, wie Haar- und Hautfarbe, Kleidung und Accessoires beschrieben werden, erfährt man von Stefan nur, dass er aus einer höheren Schicht kommt als Sonja und als reicher Einheimischer auch der in einem „Loch“ (O 217) hausenden Flora mit begrenzter Aufenthaltserlaubnis in seiner gesellschaftlichen Stellung weit übergeordnet ist. An einer entweder vom Lektorat übersehenen oder aber absichtlich eingebauten Irritation wird die der Fokalisierung auf Stefan geschuldete teilweise sehr klischeehafte Dichotomie von Sonja und Flora deutlich: Hat Sonja auf S. 50 noch „braunes Haar“, in dem das Morgenlicht „fuchsienrot“ schillert, so hält Stefan auf S. 234 „blondes Haar, die schlanke Figur“ für Sonja, in klarer Opposition zu Flora, die er in jeder „Frau mit dunklem Haar und kessem Gang“ (O 234) sieht. Dass es sich bei Kategorisierungen (nicht nur im vorliegenden Roman), selbst wenn sie als in sich interdependent verfasst dargestellt werden, letztlich jeweils auch um Klischees handelt, lässt eine weitere Romanaussage über den Naschmarkt anklingen: „Doch längst war der Naschmarkt […] zum Klischee geworden, ohne seine Bedeutung zu verlieren, zum Gemeinplatz und zum Sonderfall der Einwohner und der Touristen, zum Wahrzeichen und zum Trugbild einer Stadt.“ (O 178) Da „es allzu billig [wäre,] ein idyllisches Bild zu zeichnen von bunter Vielfalt und froher Harmonie“ (O 178), stellt der Roman vielfach die Kommunikationsprobleme und Missverständnisse in den Vordergrund. Immer wieder geht es darum, wer etwas versteht oder gerade nicht versteht. 23 Eine der eindrücklichsten Szenen ist die einer falschen Übersetzung aus dem Jiddischen, bei der die zwei Hälften des Publikums zwar jeweils genau das Gegenteil verstehen, aber gerade deshalb alle zufrieden sind, weil sie das hören, was sie erwarten. 24 Selbst die wenigen, die beiden Versionen lauschen und die „Dissonanz“ (O 99) wahrnehmen, sind zufrieden, weil sie das Phänomen so faszinierend finden. Verstehen beruht mithin immer auf Übersetzungen, die gar nicht exakt sein können und um der Vielstimmigkeit willen vielleicht auch gar nicht exakt sein sollten. Analog zu dieser Szene lassen sich teilweise auch aus dem Zusammenklang der Wahrnehmung des weißen, männlichen Protagonisten Stefan Sandtner auf der Suche nach Wegen aus der Krise mit anderer Figurenrede und gelegentlichen Mitsichten anderer Figuren Dissonanzen heraushören. Dies rechtfertigt in Bezug auf den Roman letztlich doch den Begriff der Vielstimmigkeit, namentlich, wenn man letzteren im Sinne Bachtins als 23 Als Auswahl möge genügen: „Verstehen Sie denn nicht? “ (O 27) „Du willst nicht verstehen.“ (O 50) „Ich will nicht verstehen.“ (O 72) „Verstehst Du? […] Komplett sogar.“ (O 204) „Du verstehst nicht.“ (O 230). 24 Vgl. Dirk Niefanger: ‚Wie es gewesen sein wird.’ Opfer und Täter bei Doron Rabinovici“ In: Gerd Bayer u. Rudolf Freiburg (Hg.): Literatur und Holocaust, Würzburg 2009, S. 193-212, hier S. 207 sowie Bischoff 2006, Anm. 6, S. 202f. Mirjam Bitter 174 soziale Redevielfalt im Roman begreift, deren Sprachen je „für spezifische Sichten der Welt“ 25 stehen. Erinnern und Vergessen im Roman In diesem so gesehen vielstimmigen Roman lassen sich, wie Astrid Erll für die literaturwissenschaftliche Erinnerungsforschung vorgeschlagen hat, einzelne Figuren im Anschluss an Maurice Halbwachs somit als „Ausblickspunkt[e]“ 26 auf verschiedene Gruppengedächtnisse begreifen. Denn insbesondere über die Frage nach Erinnern und Vergessen herrscht im Roman Uneinigkeit, weshalb er im Sinne Birgit Neumanns als „soziobiographischer Erinnerungsroman“ bezeichnet werden kann. 27 Dass die Hauptfigur Stefan Sandtner Neurologe ist und an einer Studie zu Erinnerungsstrukturen arbeitet, macht gleich zu Anfang auf die Rolle der Gedächtnistheorie für den Roman aufmerksam, zu deren Leitdisziplin die Neurowissenschaften sich in den letzten Jahren aufgeschwungen haben. Dass dabei allerdings nicht alles objektiv und wissenschaftlich zugeht oder zugehen kann, zeigt sich ebenfalls auf der ersten Romanseite, da der Neurologe durch Zufall ein „Zaubergebräu“ (O 7) entdeckt hat. Das „Zaubergebräu“ weist auf die im Roman noch mehrfach aufgerufene Märchenthematik und -metaphorik (vgl. insbes. O Kap. 6). Anhand dieser sowie in medizinisch-theoretischen Diskussionen der Romanfiguren wird die Frage der Authentizität von Erinnerung aufgeworfen. Stefan behandelt den früheren SS-Mann Doktor Herbert Kerber, der an dem (medizinisch belegten) 28 „Korsakow-Syndrom“ (O 33) leidet. Der alte Kerber ist im Jahr 1945, direkt nach Kriegsende „eingefroren“ (O 26); er erinnert sich an jedes Detail der letzten Kriegsjahre - in der Romangegenwart 1995 kann er sich dagegen nichts länger als „dreißig“, maximal „vierzig Minuten“ (O 124) merken. Indem durch diesen besonderen Gedächtnisschwund Aussagen aus der vermeintlich unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Gedenken im Jahre 1995 parallel dargestellt werden, führt der Roman Transformationen, vor allem aber Konstanten im österreichischen Gedächtnis vor. Der Satz „Einmal muß Schluß sein.“ fällt nämlich außer bei Kerber (O 27) auch im Rahmen des populistischen Wahlkampfs (O 10) der „Rechtsrechten“ 25 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Rainer Gübel (Hg.): Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/ Main 1979, S. 154-300, hier S. 183. 26 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 31. Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005. 27 Birgit Neumann: Erinnerung - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“, Berlin 2005, S. 229f. 28 Bischoff 2006, Anm. 6, S. 205. Interdependenzen 175 (O 243) und kann dort als Variation des Slogans „Stop der Überfremdung“ gelesen werden, mit dem die FPÖ 1999 erfolgreich war. 29 Herbert Kerber ließe sich somit als Ausblickspunkt auf das Tätergedächtnis damals und heute lesen, fällt aus seinem Mund der besagte Satz doch im Zusammenhang von „Schuld“, „Leichenbergen“ und „Krieg“, von denen er nichts mehr hören möchte (O 27). Seine Tochter Bärbl Kerber könnte als Darstellung der (allerdings knapp 30 Jahre verspäteten und deshalb nur mehr als Farce aufgeführten) Rebellion der 68er gelesen werden, in der zudem eine Dosis „Geschlechterkampf“ (O 34) enthalten ist, während ihr Bruder Hans Kerber den zum Karrieristen bekehrten Alt-68er gibt, der den „Klassenkampf“ (O 61) nun von der herrschenden Klasse aus führt. Auf der anderen Seite wären Paul Guttmann und seine beiden früheren Lebensgefährtinnen als Ausblickspunkte auf das vom Trauma geprägte Gedächtnis ehemaliger Verfolgter zu nennen. „Noch war es nicht vorbei.“ (O 256) ließe sich so als Ausdruck des Opfergedächtnisses lesen: Solange noch ehemalige Verfolgte leben, denen die Möglichkeit des Vergessens gar nicht gegeben ist, und solange noch ehemalige Verfolger leben, die sich durch Verschweigen der Bestrafung entziehen, kann und darf es nicht vorbei sein. Allerdings sind all diese Ausblickspunkte und Gedächtnistypen, wie es sich für den auf Ambivalenz angelegten literarischen Diskurs gehört, letztlich doch nicht so eindeutig und dichotomisch zuordenbar. So ruft der Tod seiner Jugendliebe Ada Herz in Verbindung mit dem aggressiven Wahlkampf bei Paul Guttmann zwar Erinnerungen auf, die zu Erstickungsangst führen (vgl. O 246). Insgesamt ist er jedoch deutlich gegenwartsorientierter und gerade nicht wie Herbert Kerber in der Vergangenheit eingefroren. Dementsprechend geht es, als „noch war es nicht vorbei“ (O 248) in Zusammenhang mit Paul Guttmann fällt, gerade nicht um die Bezugnahme auf die NS-Vergangenheit, sondern um sein Leben, das in der Romangegenwart trotz traumatischer „Heimsuchung[en]“ (O 246) noch nicht vorbei ist, solange sein Sohn Micha Guttmann in Israel sich auf einen Besuch von ihm freut. Ebenso ist Lew Feiningers Umgang mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus, als Repräsentant der in Familien von Überlebenden aufgewachsenen nachgeborenen Generation, deutlich erwachsener und differenzierter gezeichnet als derjenige der Täterkinder Hans und Bärbl Kerber. Diese Differenzierungen führen zurück zum Versuch der Vielstimmigkeit im Roman, denn nicht die eine Geschichte, die es wieder und wieder möglichst unverfälscht vor Augen zu stellen gilt, steht im Zentrum dieser Vision, sondern die Frage, wie sich die vielen Geschichten, in denen sich Fakten und Fiktionen, Erinnertes und Erfundenes unauflöslich ineinander verwoben haben, so miteinander vernetzt werden können, daß keine von ihnen einen Wahrheits- und Ausschließlichkeitsanspruch vor den anderen behauptet. 30 29 Vgl. Anm. 16, Rabinovici 2003. 30 Bischoff 2006, Anm. 6, S. 198. Mirjam Bitter 176 Eine Vielstimmigkeit, die im vorliegenden Roman allerdings noch immer durch den Knotenpunkt privilegierter heteronormativer Männlichkeit zusammengehalten wird. Neben verschiedenen Aspekten der Erinnerungstheorie (etwa die narrative, (re)konstruktive und kreative Verfasstheit von Erinnerungen und deren Medialität) wie auch der Erinnerungspolitik (diese findet beispielsweise anhand von Denkmalenthüllungen, Ausstellungsprojekten und dem Wahlkampf Eingang in den Roman) stellt der literarische Text immer wieder die Verquickung von Erinnern und Vergessen heraus, statt diese als Oppositionen zu fassen. So wird etwa Ovids Vorschlag zitiert, gegen Liebesleid „das Gedächtnis in den Dienst des Vergessens“ (O 16) zu nehmen; Paul Guttmann ermahnt sich, „nicht den Erinnerungen des Vergessens [zu] verfallen“ (O 49); und Stefan wird immer wieder von seinem „langjährige[n] Unbekannte[n]“ (O 216), einem rothaarigen Mann mit Schnauzbart, gegrüßt und erklärt seiner Clique: „[I]ch habe zwar vollkommen vergessen, wer das ist, aber ich habe eine gute Erinnerung an ihn“ (O 85). Über den am Korsakow-Syndrom leidenden Herbert Kerber erklärt Stefan Sandtner: „Das Vergessen war Grundvoraussetzung seines Erinnerns. […] Er sagt nun, was er euch bisher verschwieg, weil er nicht mehr erinnert, woran er sich nicht mehr erinnern darf; weil er vergaß, was er vergessen machen wollte.“ (O 66) Nicht nur bei Kranken, auch bei dem gesunden Stefan wäre Vergessen dem Erinnern dienlich, als er am Bankomat Geld abheben will und seine Geheimzahl ihm nicht mehr einfällt: „Wenn er nur einfach wieder vergessen hätte, daß er sich an seine Geheimnummer erinnern wollte, wäre er wohl ohne Schwierigkeiten an Bargeld gekommen“ (O 114). Die Frage nach der Legitimität des Vergessens Vergessen ist also eine Grundvoraussetzung für Erinnern und kann gar nicht generell abgelehnt werden. Dennoch wird auch die ethische Frage nach der Legitimität von Vergessen im Roman verhandelt und nicht allgemeingültig, sondern differenziert nach Subjekten und Objekten des Vergessens beantwortet. Dies geschieht unter anderem durch die Wiederholungen des ersten sowie des letzten Romansatzes „Einmal muß Schluß sein.“ (O 7) bzw. „Noch war es nicht vorbei“ (O 256) in unterschiedlichen Kontexten. Wie der eliptische erste Satz des zweiten Kapitels: „Nichts dergleichen.“ (O 28) betont, handelt es sich gerade nicht um das Immergleiche, sondern die unterschiedlichen Kontexte verändern auch die Bedeutung der Sätze erheblich. Vielfach geht es dabei um die Frage der Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten, die neben der erwähnten Differenzierung in diejenige ehemaliger Verfolger und diejenige ehemaliger Verfolgter weiterhin aufgefächert wird in private und gesellschaftliche Erinnerung. So sagt den Satz „Einmal muß Schluß sein.“ (O 10) zunächst Stefan laut vor sich hin, als er keine Leichenberge mehr im Fernsehen anschauen will, er erschrickt jedoch Interdependenzen 177 sehr, als er kurz vor dem Ausschalten denselben Satz aus dem Mund eines Politikers im Wahlkampf vernimmt (vgl. ebd.). In anderen Kontexten verweist die Aufforderung „und damit Schluß“ (O 11) hingegen darauf, dass (in diesem Fall) Stefan endlich erwachsen werden und also einen verantwortungsvollen Umgang mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lernen muss. Als Yelda Ertekin, die Mutter der vom griechischen Standnachbarn geschwängerten S¸ irin, nach langem Schweigen laut wird und ihren Mann und ihre Söhne zurechtweist mit den Worten: „Genug jetzt! Schluß! “ (O 191), geht es darum, endlich in der Gegenwart und dem heutigen Leben in Wien anzukommen, statt sich in der Tradition und der Nostalgie nach der doch absichtlich verlassenen Türkei zu vergraben. In Bezug auf die Migranten der ersten Generation werden die Frauen als sehr viel zukunftsorientierter geschildert, ohne dass dies zwangsläufig Vergessen implizieren muss. Gerade weil man sich auch daran erinnert, warum man wegging, kann man den Neuanfang wagen. Die Frage nach dem Schluss ist also zwangsläufig verknüpft mit der nach dem Anfang, worauf gerade durch deren vordergründige Verkehrung in Anfangs- und Schlusssatz des Romans aufmerksam gemacht wird. Der Roman stellt, auch über die wiederholten ebenso situationsbedingten Variationen des elliptischen Satzes „Es vergessen.“ (vgl. insbes. O 205-233), den Wunsch nach Vergessen im Privaten zwar als verständlich und teilweise heilsam dar. Zugleich zeigt er jedoch anhand von Stefans Ignoranz Floras Lage gegenüber, dem Umstand, dass Stefan in der Wiener Ausdrucksweise „auf Flora vergessen“ (O 217) hat, sowie anhand des fortbestehenden Rassismus in Österreich - für den eben auch gilt: „Noch war es nicht vorbei“ (O 256) - besonders im gesellschaftlichen Rahmen die Notwendigkeit von Erinnerung. 31 Sowohl Stefans Vergessen als auch die Asylgesetzgebung, die nichts aus der Geschichte gelernt zu haben scheint, führen nämlich dazu, dass der illegal in Wien lebende Kameramann und Deserteur Goran nach Serbien ins Militärgefängnis abgeschoben wird. Stefans langjähriger Unbekannter ist, wie sich (zu spät) herausstellt, Sektionsleiter im Innenministerium und hätte Goran sicher eine Aufenthaltsgenehmigung besorgen können - und Gorans Abschiebung wiederum ist der Grund dafür, dass Flora Stefan verlässt, weil sie sich selbst nicht verzeihen kann, Stefan nicht stärker auf ihre und Gorans Lage aufmerksam gemacht zu haben. Als Mann, dessen exotische Schönheit entweder nicht vorhanden oder gesellschaftlich und im Roman zumindest kein Thema ist, konnte Goran nicht die Kategorie Attraktivität für sich nutzen, nach ihm erkundigt sich nach seiner Abschiebung auch niemand, anders als nach der gen Paris 31 Privates und Gesellschaftliches ist dabei im Roman gerade nicht so klar getrennt, wie ich es hier zu analytischen Zwecken vorübergehend getan habe. Dies verdeutlicht u. a. die von Lew Feininger in einem Atemzug genannte Reaktion auf die Ermordung Yitzchak Rabins und auf die Trennung von Sophie (vgl. O 213). Mirjam Bitter 178 gezogenen Künstlerin Flora. Sophie, die Stefan vorhält, „auf Flora vergessen“ zu haben, meint die Wiener Phrase, diese falsche heimische Konstruktion, passe hier ganz gut, denn so fehlerhaft und grammatikalisch dumm diese Wendung klinge, charakterisiere sie seine Ignoranz auf gemeine Weise ungemein gut, denn obenauf war er gewesen, und darunter war, was oder worauf er vergessen hatte, nämlich Flora, und darüber hatte er es sich gemütlich gemacht […] ‚Warst du irgendwann einmal in ihrer Bleibe, in diesem Loch? […] Nein, nein, du hast auf sie vergessen.’(O 217) Die Legitimität von Vergessen hängt also von Machtrelationen, durch vielfältige Identitätskategorien bestimmten Hierarchieverhältnissen und daraus resultierenden materiellen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Vergessen und Erinnern ab. Schluss Die Frage nach der Legitimität des Vergessens und dem Nutzen der Erinnerung lässt sich nicht abstrakt und allgemeingültig beantworten, sondern muss von Fall zu Fall verhandelt werden. Womit wir wieder beim Naschmarkt, dem Ort von „Wandel und Handel“ (O 177), angelangt wären. Dass auf dem Naschmarkt nicht nach Gesetzen wissenschaftlicher Ökonomie gehandelt wird, sondern bei den dortigen Verhandlungen „vor allem der Mensch“ (O 175) zählt, setzt gleichzeitig eine Klammer um alle auf den letzten Seiten verwendeten Kategorien und Differenzbegriffe. Zum einen heißt das Auffinden von Dichotomien sprachlicher Natur vor allem, dass Literatur aus Sprache besteht, und nicht, dass diese Dichotomien in einer wie auch immer gearteten ‚Realität’ wirklich existieren. Zum anderen wird von einem wissenschaftlichen Aufsatz - anders als von Literatur - erwartet, eine gewisse Ordnung in die Unordnung der untersuchten Gegenstände zu bringen. Nachdem ich versucht habe, dieser Konvention zu genügen, möchte ich nicht verschweigen, dass sich die ganze ‚Geschichte’ auch anders erzählen ließe, dass der Roman zwar vielfältige Kategorien ins Spiel bringt, gleichzeitig jedoch Skepsis gegenüber Identitätskategorien benennt. Da Stefan Sandtner am Ende noch nirgendwo angekommen ist, sondern wie zu Anfang sich „an das Fernsehen verlieren“ (O 256) möchte und einen neuen Anfang auf morgen verschiebt, bleibt auch offen, ob seine zuvor absichtlich als ‚Versuch’ bezeichnete männliche Rezentrierung glücken wird. „Noch war es nicht vorbei“ (O 256), und wahrscheinlich kann es gar nicht vorbei sein, sondern ist Identität nur als ständiger Prozess und Verhandlung bestehender Identifikationsangebote und deren gesellschaftlicher Preise überhaupt denkbar. Interdependenzen 179 Mit Judith Butler sowie dem antikategorialen 32 Strang in der Intersektionalitätsdebatte ließe sich auf die fundamentale Bedeutung des hilflosen ‚etc.’ verweisen, das jeder Aufzählung von Kategorien folgt: 33 Es lässt sich nicht alles in Kategorien fassen, was die immer wieder neu performativ hergestellten Identitäten von Menschen ausmacht, und in guten Romanen sind auch die Figuren mehr als Schablonen und verfügen über ihr jeweiliges ‚etc.’ Für den Bereich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Erinnern und Vergessen und deren Interdependenzen macht der Roman zudem deutlich, dass Medizin und Neurowissenschaften den Erinnerungsstrukturen alleine nicht auf die Spur kommen können. Er lässt sich also auch lesen als Plädoyer für Interdisziplinarität und lebensweltliche Verankerung der Wissenschaft, u. a. der Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext. 32 Vgl. Leslie Mc Call: The Complexity of Intersectionality. In: Signs 30 (2005), H. 3, S. 1771-1800. 33 Vgl. Gabriele Winker u. Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 23. IV. Identität E INLEITUNG VON Ingo Lauggas Durchaus schlüssig wird dieser Band, den eine Sektion zu(m) ‚Anderen’ eröffnet hat, nun von einem Block zum Thema ‚Identität’ geschlossen, der seinerseits plausibel an das soeben über Gedächtnis und Erinnerung Gelesene anknüpft: denn erstens ist nicht nur Erinnerung wesentlich an der Konstitution von Identität maßgeblich beteiligt, sondern lassen sich die im vorigen Abschnitt untersuchten Attribute ans Gedächtnis jeweils auch den verschiedenen Identitäten anlegen: persönliche, kollektive und kulturelle Identität(en). Und zweitens sind auch und gerade die verschiedenen Formen kollektiver Identität gegenstandslos ohne die dazu gehörige Erzählung: kollektive Geschichten werden gehört und weitererzählt, produziert und reproduziert, der Blick zurück verbindet „immer schon unauflösbar die Gegenwart mit der Vergangenheit, Fakten mit Interessen, Erkenntnis mit Macht“ 1 . Kulturelle Identität ist somit keine imaginäre, individuelle Erfindung, sondern gewinnt Materialität durch ihre Geschichte, „und Geschichten haben ihre realen, materiellen und symbolischen Effekte.“ 2 Es geht somit bei Identität nicht anders als bei Erinnerung um Sinnstiftung, die nicht zuletzt über das Erzählen hergestellt wird: auch Identität ist narrativ. 3 In der Tat gehen mehrere Autorinnen des folgenden Abschnittes von der narrativen Konstruiertheit von Identitäten aus: Nicole Kandioler in ihrer Analyse der Reproduktion des heterosexuellen Narrativs, vor allem aber Emilija Man i , die jugoslawische narrative Identitätsbildungen untersucht und dabei insbesondere die Bedeutung des ‚Vergangenen’ und dessen Narrration herausarbeitet, die der Bündelung und Interpretation disparater Erinnerungen dient. In ihrer auch historischen Analyse spielt die Wechselwirkung zwischen kulturellen und angenommenen nationalen Identitäten eine zentrale Rolle, und Man i zeigt auf, dass die Vergegenwärtigung des Vergangenen auf unterschiedlichen Ebenen zu einem Re-Ethnisierungsprozess im ehemaligen Jugoslawien führte, der im Wesentlichen von symbolischen Inszenierungen geprägt ist; durch Erzählung und Mythos wird allerdings 1 Mona Singer: Fremd. Bestimmung - Zur kulturellen Verortung von Identität, Tübingen 1997. 2 Stuart Hall: „Kulturelle Identität und Diaspora“. In: Ders. : Rassismus und Kultur. Ausgewählte Schiften 2, Hamburg 1994, S. 26-43, hier S. 30. 3 Zur ‚narrativen Identität’ vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, München 1996, sowie allgemeiner Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Zweite überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien - New York 2008, S. 271ff. Ingo Lauggas 182 nicht nur Identität, sondern auch die Vergangenheit selbst konstruiert - und kulturelle Identitäten „sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden“, wie Stuart Hall schreibt, 4 der uns in dieser kleinen Einleitung naheliegender Weise noch öfter begegnen wird, hat er das Nachdenken über Identitäten in den Kulturstudien seit den 1980er Jahren doch entscheidend geprägt. 5 Die Ergebnisse dieses Nachdenkens können als bekannt vorausgesetzt werden (vielleicht in Teilen auch als überholt, doch dazu später), und brauchen an dieser Stelle lediglich kursorisch in Erinnerung gerufen zu werden: Identitäten werden in und durch Kultur produziert und reproduziert, ihre symbolische Markierung von Ein- und Ausschluss ist Ausdruck von gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen: das macht das eminente Interesse aus, das Kulturwissenschaften zwangsläufig an ihnen haben müssen, denn „Kultur ist zugleich der Bedeutungshorizont, vor dem Identitäten artikuliert werden, und das Werkzeug, mithilfe dessen diese Artikulation vonstatten geht.“ 6 Der Begriff Artikulation steht hier für einen Abschied von essentialistischen Identitätskonstruktionen hin zur Möglichkeit eines diskursiven „doing identity“, 7 weswegen ein kulturwissenschaftlicher Zugang sich weniger mit den Identitäten selbst, als mit den Voraussetzungen sowie den Prozessen ihrer Herstellung (und ihrer Auflösung) beschäftigt und damit mit der Grundfrage nach Ursache und Wirkung: Sind Identitäten Voraussetzung für bestimmte diskursive Subjektkonstruktionen oder deren Ergebnis? Inwiefern werden identitäre Zuschreibungen an das zu identifizierende Individuum selbst Teil der Identitätskonstruktion? Und in der Folge: Welchen Anteil hat das Individuum noch an seiner Identitätskonstruktion, wenn Identitäten doch stets Teil eines gesellschaftlichen und diskursiven Beziehungsgeflechts sind? Jedenfalls ist in den letzten Jahrzehnten Halls Diktum, wonach „moderne Identitäten ‚dezentriert’, ‚zerstreut’ und fragmentiert“ sind, 8 zweifelsfrei eher wahrer als widerlegt worden: Identitäten sind mehr denn je plural, umkämpft und damit in Bewegung, woraus sich ergibt, „daß nichts feststeht und niemals ein für allemal festgestellt werden kann, wer jemand ist, sein will, sein kann“. 9 4 Hall 1994, Anm. 2, S. 30. 5 Vgl. Markus Reisenleitner: „Stuart Hall: Identitätsrouten ohne Garantien“. In: Martin L. Hofmann et al. (Hg.): Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie, Frankfurt/ Main 2006, S. 312-328, hier S. 324ff. 6 Oliver Marchart: Cultural Studies, Konstanz 2008, S. 33. 7 Singer 1997, Anm. 1, S. 153. 8 Stuart Hall: „Die Frage der kulturellen Identität“. In: Ders. : Rassismus und Kultur. Ausgewählte Schiften 2. Hamburg 1994, S. 180-222, hier S. 180. 9 Peter Straub: „Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“. In: Aleida Assmann u. Heidrun Friese (Hg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt/ Main 1998, S. 73-104, hier S. 88. Einleitung 183 Bei dieser Kontingenz setzt der erste Text des folgenden Abschnitts an, in dem die Subjekttheorien bei Nietzsche und Foucault einander gegenübergestellt werden; Erna Strniša beschreibt die ‚Interpretationskrise’, in welches das Subjekt bei Nietzsche eben aufgrund der Tatsache gerät, dass es nicht in der Lage ist, die als Masken empfundenen Identitätsangebote anzunehmen - genauso wenig wie allerdings das Foucault’sche Subjekt in der Lage ist, aus den Machtverhältnissen, in das es eingebettet ist, auszutreten. Um im gesellschaftlich-politischen Raum handlungsfähig zu sein, muss das Subjekt an seiner Identität arbeiten, ohne jedoch der identitären Logik zu verfallen. Die Arbeit an sich selbst ist Hauptaufgabe sowohl bei Nietzsche als auch bei Foucault, und die Frage nach der ‚philosophischen Identität’ ergibt sich für Strniša aus ihrer Spurensuche nach den jeweiligen Ausformulierungen des ethischen Subjekts, das vor dem Dilemma steht, der Dichotomie zwischen gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller Handlungsfähigkeit nur durch die kreative Geste der Selbstschöpfung entkommen zu können, in seiner (post)modernen Kondition aber zu eben diesem Akt aber nicht in der Lage zu sein. Diese sehr grundlegende theoretische Auseinandersetzung verdeutlicht, welch existenzielle Bedeutung Fragen der Identität zukommt, wodurch kein gesellschaftlicher Bereich vordergründig von ihnen unberührt zu bleiben scheint, keine Frage nicht auch als Identitätsproblem gesehen werden kann (und wird). In sehr signifikanter Weise hat Hall in seinem berühmten Text über Die Frage der kulturellen Identität aus dem Jahr 1992 die „De- Zentrierungen des Subjekts“ just entlang der zentralen Theoriestränge, von denen die britischen Cultural Studies wesentlich beeinflusst waren, zu verdeutlichen versucht: die Tradition des marxistisch-strukturalistischen Denkens, Freud und die Psychoanalyse nach Lacan, Strukturalismus und Poststrukturalismus, die Diskurstheorie nach Foucault und die identitätspolitisch geprägten neuen sozialen Bewegungen, allen voran die feministische: 10 ihnen ist gemein, dass das Ich das eigene Haus nicht mehr zu dominieren scheint. Man mag von der Brauchbarkeit dieser schematischen Darstellung heute halten, was man will, was sie doch gut verdeutlicht, ist der Umstand, dass eine sich als kritische Gesellschaftsanalyse verstehende Kulturwissenschaft in keinem ihrer Bereiche an Identitätsfragen vorbeikommt. Dies ergibt sich aus dem schon angesprochenen Umstand, dass Identität in Wahrheit nie nur individuell ist, vor allem aber aus der ihr zukommenden Funktion, zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln, zwischen subjektiver Erfahrung und dem kulturellen Umfeld, in dem diese gemacht wird: sie „verklammert das Subjekt mit der Struktur“ 11 . Identität verortet das Individuum in gesellschaftlichen Zusammenhängen, und Gramsci spricht hier von einer „tätigen Beziehung“, welches das Individuum zu den „massenhaften, objektiven oder 10 Vgl. Hall 1994, Anm. 8, S. 193ff. 11 Ebenda, S. 182. Ingo Lauggas 184 materiellen Elementen“ unterhält. 12 Auf diese Vermittlungsmechanismen zwischen Individuum und Gesellschaft nehmen sowohl Erna Strniša als auch Emilija Man i in ihren Texten Bezug: die eine, um die Situiertheit des Subjektes in einem Netz von Machtbeziehungen zu verdeutlichen, die andere, um die Problematiken zu untersuchen, die sich ergeben, wenn diese Mechanismen nicht mehr ‚funktionieren’. In beiden Fällen kommt die in dem Gramsci-Zitat schon angeklungene nahe Verwandtschaft von Identitäts- und Ideologietheorie zum Ausdruck, vor allem wenn man von deren Ausformulierung durch Althusser ausgeht, der Identitäten als ideologischen Effekt begreift und davon ausgeht, dass „Ideologie in einer Weise ‚handelt’ oder ‚funktioniert’, daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (Interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ‚rekrutiert’ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ‚transformiert’ (sie transformiert sie alle).“ 13 So ist es nur stimmig, dass auch Hall in seinem Text zum Begriff der ‚Anrufung’ greift, wenn er davon spricht, dass das postmoderne Subjekt auf keine gesicherte Identität mehr rückgreifen kann, weil diese ständig abhängig von unserer Interaktion mit kulturellen Systemen neu konstituiert und transformiert wird. 14 All dies führt freilich zur Erschütterung der Identitäts-Kategorie als solcher, weil bei derart ausufernder Kontingenz ihre sinnvolle analytische Anwendung längst fragwürdig ist. Zwar lässt sich noch immer argumentieren, dass am Identitäts-Begriff insofern festzuhalten ist, dass er Aussagen über das beständige Vorhandensein jener Machtverhältnisse erst möglich macht, die real existierende Ausschlüsse und Stereotypisierungen zeitigen, wodurch Identität gewissermaßen „wahr“ wird; 15 doch andererseits haben nicht zuletzt die Gender Studies, in denen - ähnlich den postkolonialen Analysen - dem Prozess der Identifikation stets besonderes Augenmerk zukam, gezeigt, dass identitäre Kategorien oft auch dem eigenen Anliegen zuwiderlaufen, etwa indem binäre Identitäts-Logiken reproduziert und gefestigt werden. Zwei Auswege, die völlige Unbrauchbarkeit des Identitäts-Begriffs abzuwenden, seien an dieser Stelle kurz umrissen: der eine wird vom Ansatz der Queer Studies gestellt, der nicht nur die angesprochene Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt, sondern auch jede auf ein ebenso zweipoliges Schema reduzierte Vorstellung von sexuellem Begehren. Nichts weniger als der Begriff der ‚Person’ wird in Frage gestellt, zumal dessen Identität wesentlich über Geschlecht und Sexualität definiert wird: die „kulturell intelligiblen Identitätsbegriffe“ 16 greifen nicht mehr. Gudrun Perko hat erst kürzlich wieder die Kernaussagen von Queer Theory kompakt zusammengefasst, um 12 Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Heft 10.2, Hamburg 1994ff., S. 1341. 13 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg et al. 1977, S. 142. 14 Vgl. Hall 1994, Anm. 8, S. 182f. 15 Kien Nghi Hà: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005, S. 15. 16 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/ Main 1991, S. 38. Einleitung 185 aufzuzeigen, wie sie identitäres Denken aufbrechen, indem Identitäten ohne ‚natürlichen’ Kern und stets mehrdimensional aufgefasst und Mehrdeutigkeiten zugelassen werden, indem die Ausdrucksformen von Geschlecht und Sexualität nicht eingeschränkt, unterschiedlichste Kategorien miteinander verknüpft und Diversität wie Pluralität anerkannt werden: „Ein Plädoyer für Pluralität grenzt sich so von intendierten Identitätspolitiken und -logiken ab, mit denen homogene Ordnungen aufrecht erhalten werden sollen, die den einen nützen, den anderen jedoch schaden.“ 17 Weit von diesem Anspruch entfernt sind die Diskurse, die in den von Nicole Kandioler in ihrem Beitrag analysierten tschechischen Filmen realisiert werden: Sowohl bei Miloš Formans Die Lieben einer Blondine (1965) als auch bei Vladimír Moráveks Sex in Brno (2003) lässt sich eine detaillierte Analyse der filmischen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten anstellen, die in beiden Fällen - wie oben schon angesprochen - nicht nur heterosexuelle Narrative nachweist, sondern mehr noch: Plädoyers für die Heteronormativität. Im Fall von Morávek werden Männlichkeit und Weiblichkeit jedoch derart stereotyp präsentiert und ihre Konstruiertheit durch das Handeln der Figuren indirekt aufgezeigt, dass Kandioler zu dem Schluss gelangt, dass der Film zumindest potenziell auch als eine subtile und möglicherweise ungewollte Kritik an Heteronormativität gelesen werden kann. Bemerkenswert ist jedenfalls die Grundannahme des Textes, dass der Regimewechsel 1990 auch eine Transformation heterosexueller Narrative mit sich gebracht haben muss, was sich seinerseits auf die Art auswirkt, wie Heterosexualität ‚erzählt’ wird. Kommen wir damit zum zweiten der angesprochenen Auswege aus der Krise des Identitätsbegriffs, der freilich mit der von der Queer Theory postulierten Möglichkeit einer „Trans-“ bzw. „Cross-Identität“ 18 in Verbindung steht: dem in den Kulturwissenschaften längst überaus einflussreich gewordenen Konzept der Hybridität, das ja auch schon von Hall ausführlich rezipiert wird. 19 Heute ließe sich möglicherweise noch mehr sagen, dass Hybridität als wesentliches Merkmal der postmodernen Kondition zu betrachten ist, was aber auch heißt, dass sie - wie alles andere auch - eine Ware sein kann. Hier lohnt es sich, die Frage der sozialen Beweglichkeit als Kernanforderung neoliberaler Politik in den Blick zu nehmen, weil sich damit trefflich illustrieren lässt, wie sehr Hybridität im globalisierten Kapitalismus ganz im Sinne Adornos Warenform angenommen hat: es lässt sich von einer vertikalen wie von einer horizontalen Mobilitätsanforderung sprechen, wobei erstere eben den sozialen, und zweitere den kulturellen Aspekt meint - Beweglichkeit ist das Ergebnis der Nutzung von Möglichkeiten, richtig verwertetes Anders- Sein Ausdruck kreativen Potenzials: die Ware Hybridität wird zu einem 17 Gudrun Perko: „Wissenschaftstheoretische Grundlagen zu Queer Theory als Hintergrundfolie von Queer Reading“. In: Anna Babka u. Susanne Hochreiter (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen, Göttingen 2008, S. 69-87, hier S. 83f. 18 Ebenda, S. 84. 19 Vgl. etwa Hall 1994, Anm. 8, S. 217ff. Ingo Lauggas 186 guten Preis vermarktet. Solche Agency entfernt sich freilich gehörig von dem von Homi Bhabha formulierten politischen Versprechen, wonach Hybridisierung für die Möglichkeit steht, das kulturelle Feld im Sinne der Marginalisierten zu instrumentalisieren. Das gegenhegemoniale Potenzial zu Markte getragener Hybridität ist nicht weniger in Frage zu stellen, als die Kritik gerade an der postkolonialen Theorieszene berechtigt ist, dass ein abgehobener intellektueller „Hype um Hybridität“ (Hà) - die inflationäre Vermarktung also im Wissenschafts-Geschäft - reale Gewalt- und Ausschlussmechanismen eher verschleiert als sie bekämpft, und damit entpolitisierende Effekte hat. 20 „Auf Identität wird entweder aus einer randständigen Position Anspruch erhoben“, schreibt Bhabha an anderer Stelle, „oder bei dem Versuch, das Zentrum zu besetzen“ 21 - beides Kategorien, die zumindest in kultureller Hinsicht auf die Strukturen innerhalb der Festung Europa nur schwer anwendbar sind. Im den folgenden Block und den gesamten Band schließenden Schlüsselbeitrag geht Ruth Wodak der Frage nach, ob und in welcher Form von transeuropäischen Identitäten gesprochen werden kann, wie diese konstruiert werden, vor allem aber, welche Rolle Vielbzw. Mehrsprachigkeit dabei spielt. Wodak wirft dabei unter anderem die Frage auf, ob Mehrsprachigkeit ein wesentlicher Bestandteil dessen ist, was europäische diversity ausmacht, und geht der Auswirkung sprachlicher Transformationen auf mehrsprachige Kommunikationsstrukturen nach - dies führt letztendlich auch hier zu Mechanismen des Ein- und des Ausschlusses. Vom schon angesprochenen ‚doing identity’ kommen wir mit Wodak somit zu einem ‚doing Europe’, das jedoch seinerseits nicht untersucht werden kann, ohne der Menschen Rechnung zu tragen, denen es gelingt, in die Festung Europa einzudringen, sich in ihr niederzulassen und sie so kulturell zu diversifizieren. Für diese Menschen mit, sagen wir: rezentem Migrationshintergrund stellt sich die Frage nach kultureller und identitäter Hybridität freilich etwas anders, steht sie doch eher für eine traumatisierende und oft unfreiwillige ‚Entwurzelung’, die Ausdruck bzw. Resultat (globaler) Machtverhältnisse ist. Der gegenwärtige Diskurs des Multikulturalismus aber verkennt diese politische Komponente und wähnt sich in einer postideologischen Welt, in der herkömmliche ideologische Differenzen ihre Bedeutung verloren haben, geht es doch nur noch um die Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen, Identitäten: „Der eigentliche politische Kampf wird in einen Kulturkampf um die Anerkennung von Marginalidentitäten und für die Toleranz gegenüber den Unterschieden umgewandelt.“ Der so spricht ist Slavoj Ž i ž ek, 22 20 Ich gebe hier einen Gedanken wieder, den ich bereits geäußert habe in: Ingo Lauggas: Das Prinzip des ausgeschlossenen Mittleren. In: Anna Babka, Julia Malle u. Matthias Schmidt (Hg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Anwendung. Kritik. Reflexion, Wien 2011. 21 Homi K. Bhabha: „Postkoloniale Politik. Vom Überleben der Kultur“. In: Das Argument 215: 1996, S. 345-359, hier S. 349. 22 Slavoj Ž i ž ek : Ein Plädoyer für die Intoleranz. Wien 2009, S. 75. Einleitung 187 Zentraleuropäer par excellence aus Ljubljana, der mit dem Argument gegen die „repressive Toleranz des Multikulturalismus“ 23 angeht, dass dieser die Ideologie schlechthin des globalisierten Kapitalismus ist, der seinerseits jede partikuläre Gegebenheit ‚gleichberechtigt’ betrachtet: hinsichtlich ihrer Ausbeutbarkeit. Der gönnerhafte, eurozentristische Respekt vor der Besonderheit des Anderen, vor allen lokalen Kulturen, drücke lediglich das eigene Überlegenheitsgefühl aus. Das Problem „der hybriden Koexistenz von diversen kulturellen Lebensweisen“ besteht in Ž i ž eks zumindest bedenkenswerter Polemik darin, dass sie Erscheinungsform „der massiven Präsenz des Kapitalismus als globalem Weltsystem [ist]. Er bezeugt die beispiellose Homogenisierung der heutigen Welt.“ 24 23 Ebenda, S. 69. 24 Ebenda, S. 74, Herv. i. O. Erna Strniša (L JUBLJANA ) Selbstformung des ethischen Subjekts bei Nietzsche und Foucault Sowohl Friedrich Nietzsche als auch Michel Foucault - ein moderner und ein postmoderner Philosoph - gingen nach unserer Überzeugung von einem spezifisch-gemeinsamen Problem aus: der allgemeinen, überall anwesenden Unfähigkeit, Neues zu schaffen. Aber beide boten ein anderes Heilmittel dafür. In diesem Text versuche ich zu zeigen, inwieweit ihre Formulierungen des Problems Parallelen aufweisen und in welchem Maße ihre Lösungen verwandt sind. An dieser Stelle versuche ich auch zu erläutern, warum die oben erwähnte Unfähigkeit ein ethisches Problem darstellt. Diese Kraftlosigkeit, die das Neuschaffen anbelangt, fällt nämlich mit der allgemeinen Krise der Moralsysteme zusammen. Das Denken Foucaults sowie das seines Denkvaters Nietzsche vollzieht sich in einem Raum, wo nicht nur Gott und die höchsten Werte abwesend sind, sondern wurde auch die Hierarchie der Werte aufgelöst. Es gibt in diesem Universum zwar immer noch Gebote, Normen und Werte, die dem Individuum zur Verfügung stehen, die aber zugleich nicht mehr verbindlich sind. Die sozialen Identitäten, auf der anderen Seite, wurden genauso instabil und erwiesen sich als auf keine Weise mit dem angeblichen Wesen des Individuums verbunden. Die Krise der Werte hat aber einen doppelten Charakter. Sie zeigt sich nicht nur durch den offensichtlichen Relativismus, sondern scheint der Mensch trotz der anscheinenden Freiheit auch durch historische, soziale und sogar körperliche Gegebenheiten determiniert zu sein. Wir haben es also mit dem seltsamsten Zusammenhang von Relativismus und Determinismus zu tun. Auf der einen Seite fühlt man sich frei, einen eigenen Lebensstil und ein Wertsystem auszuwählen, auf der anderen aber fehlt jedoch die Antwort auf die Frage: Warum gerade dieser Weg? Warum nicht ein anderer? Zugleich handelt man schon immer nach einer bestimmten Art und Weise, die nach Nietzsche wie auch nach Foucault nicht beliebig ist. Nietzsche zufolge ist jeder von uns Erbe einer spezifischen Struktur der Instinkte, genauer gesagt, man ist durch den Zusammenhang vom Traditionellen und Instinktiven, die man als zwei Aspekte des Gleichen verstehen kann, begrenzt. Nach Foucault ist das Subjekt auf ähnliche Weise als Wirkung bestimmter Machtverhältnisse, als Resultat historischer diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken zu fassen. Die Position des Subjekts ist der Position eines Gliedes im Netz gleich, eines Gliedes im Netz der Machtbeziehungen, das dazu beiträgt, sie aufrechtzuerhalten. An dieser Stelle stellen sich zwei Fragen: Wie ist die Unfähigkeit des Neuschaffens mit der Krise der Moralsysteme verbunden? Und zweitens, wie Erna Strniša 190 können wir über die Unfähigkeit, Neues zu schaffen, sprechen, wenn wir doch überall auf Produkte des Schaffens stoßen? Man schafft doch immer etwas: Gebrauchsgegenstände, Ideen, Bücher, Kapital. Der Kern des Problems liegt aber anderswo: Hannah Arendt, die diese Situation in Vita activa beschreibt, weist darauf hin, dass obwohl man immer etwas produziert, das Produkt dieses Schaffens vom Schöpfer getrennt wird. Der Schöpfer kommt durch sein Erzeugnis weder zum Ausdruck, noch wird er im Prozess des Schaffens selbst verändert. In diesem Kontext verspottet Arendt auch die so genannten Intellektuellen: sogar ihre schlechtesten Werke seien normalerweise viel besser als sie selbst. Das Schaffen fällt also aus dem Bereich des Ethischen heraus. 1 In diesem Sinne ist das Schaffen vor allem auf das Selbst bezogen. Was man eigentlich neu schaffen muss, ist es selbst. Die Arbeit an sich selbst ist sowie nach Nietzsche wie auch nach Foucault unsere ethische Hauptaufgabe. Will man Neues schaffen, muss man zuerst an sich selbst arbeiten, der „dummen Tatsächlichkeit“, deren Resultat man auch ist, entfliehen. Mit Adornos Worten muss man dem Widerstand leisten, was die Gesellschaft aus einem gemacht hat. 2 Sich selbst neu zu schaffen bedeutet aber zugleich, sich nicht mehr auf „das Eigene“ berufen zu können. Sobald man nämlich das Eigene zu suchen beginnt, stößt man gleich auf das Fremde gerade im Herzen des angeblichen Eigenen. Die beiden Philosophen formulieren deswegen einen anderen ethischen Imperativ, den wir mit folgenden Worten zusammenfassen können: man muss das Eigene - die eigenen Werte, Normen, das eigene Gute, den eigenen Lebensstil - nicht in sich selbst entdecken, sondern es erfinden. Das bedeutet aber nicht, dass man es ganz einfach wie „aus der Speisekarte“ wählen kann. Man muss hierzu einer doppelten Falle entweichen. Auf einer Seite muss man nicht mehr wie eine „Schraube in der Maschine“, als Resultat einer langen Kette der Praktiken handeln. Zugleich darf man sich aber auch nicht einem ganz beliebigen Handeln überlassen, beziehungsweise heute den einen und morgen den anderen Normen und Geboten folgen. * Die beiden Philosophen würden also der Feststellung zustimmen, dass man der „Relativismus-Determinismus-Gabel“ nur durch eine kreative Geste entfliehen kann. Durch diese Geste schafft man sich selbst neu und handelt deswegen nicht mehr wie ein Gefangener seiner zu großen Freiheit (die zwar paradoxerweise durch bestimmte, in den meisten Fällen nicht empfundene 1 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München - Zürich 2002. 2 Vgl. Theodor W. Adorno: Nachgelassene Schriften, Bd. 10, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt/ Main 1963. Selbstformung des ethischen Subjekts 191 und nicht erfahrene Gegebenheiten schon immer begrenzt wird). 3 Wir müssen jetzt aber zeigen, wie das überhaupt möglich ist. Der Grundprozess, der nach Nietzsche jedes Lebewesen charakterisiert, ist Interpretation, und die oben erwähnte Unfähigkeit, Neues zu schaffen, beziehungsweise sich selbst neu zu schaffen, fällt eigentlich mit der Krise der Interpretationsfähigkeit zusammen. Wie ist der Prozess der Interpretation mit dem Begriff des Schaffens verbunden? Bei Nietzsche schafft das Subjekt nicht einfach aus dem Nichts, sondern ist jedes Schaffen eine Interpretation von Bestehendem. Und bekanntermaßen interpretiert bei Nietzsche jedes Lebewesen, von einfachsten Organismen, die sich Teile der Umwelt aneignen, bis hin zum Menschen und seinen intellektuellen Prozessen. Interpretieren bedeutet: sich Teile der Umgebung aneignen, sie umgestalten und dabei sich selbst verändern. Solches Schaffen produziert also nicht etwas radikal Neues; es handelt sich im Gegenteil um die Umgestaltung von Bestehendem nach dem Maß des Schöpfers. 4 Und, wie Nietzsche schon feststellte, wurde diese Fähigkeit in seiner Zeit gefährdet. Bleibt nämlich irgendetwas im Subjekt stecken, das es nicht zu interpretieren gelingt, ist das nicht nur ein Kennzeichen der Schwäche, sondern bedroht das Subjekt noch weiter und verursacht ein „Trauma“. Und gerade mit dieser Gefahr kämpft der moderne Mensch, teilweise weil das alte Wertsystem kraftlos geworden ist und ihm der sittliche Gesetzgeber fehlt, teilweise weil die Einflüsse von außen so vielfältig geworden sind, dass er sie nicht mehr „verdauen“ kann; 5 kann er sich die Welt nicht mehr aneignen, kann er nicht mehr Neues schaffen. Er selbst ist eigentlich eine Mischung, Erzeugnis verschiedensten Vorfahren, die Kreuzung vieler Einflüsse, die aneinander stoßen und die Versuche des Subjekts behindern, sich auf ein Ziel zu konzentrieren. 6 Aber gerade das verlangt Nietzsche von seinem Subjekt. Es muss sich seine eigenen Gesetze schaffen, beziehungsweise seine Einheit wiedererlangen und gerade als solches bekommt es auch seine Interpretationsfähigkeit wieder. Nietzsches schaffendes Subjekt ist also notwendigerweise der Schöpfer seiner selbst und seiner Welt zugleich. Der Prozess der Interpretation verläuft immer doppelt; das Subjekt eignet sich die Welt an, „verdaut“ Teile seiner Umgebung, und es wird zugleich auch selbst immer wieder verändert. Bevor wir uns der Frage widmen, wie die Selbstformung des Subjekts Nietzsche zufolge möglich ist, möchten wir noch darauf hinweisen, dass Foucault die Lösung, die auf dem Begriff der Interpretation basiert, nicht 3 Gerade diese Gegebenheiten werden sich später als dasjenige Material, das das Subjekt bewusstmachen und bearbeiten muss, erweisen. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Wert, Frankfurt/ Main 1992. 5 Es handelt sich hier um die obenerwähnte Flut der Normen, Werte, Identitäten, die dem Subjekt anscheinend zur Verfügung stehen, sie frei auszuwählen. 6 Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, München 1990. Erna Strniša 192 akzeptieren wird. Er misstraut der Interpretation als Sinnsuche, die an ein Subjekt als Autor geknüpft ist, wie auch der Interpretation als Sinngebung, die hinter der Oberfläche des Textes immer versteckte Bedeutungen ahnt. In der Archäologie des Wissens begründet Foucault nämlich die archäologische Methode, die die reine diskursive Faktizität der Texte zum Vorschein bringen sollte. Dafür muss der Archäologe auf die Interpretation beziehungsweise auf die Erklärungen verzichten. Die einzige Methode, derer er sich bedient, ist Beschreibung. Im Feld des Diskurses vollzieht sich nach Foucault alles gerade auf der Oberfläche, und das Subjekt als Produkt der diskursiven Praktiken betritt immer den schon vorhandenen Diskurs, ist aber nicht mehr als sein Autor zu verstehen. 7 Im Rahmen der nichtdiskursiven Praktiken ist die Situation ganz ähnlich. Das Subjekt entspricht einem Teil der diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken, den Institutionen (zu denen auch z. B. das Schulsystem, das Strafsystem, das Arbeitsmilieu usw. gehören), die es produziert haben, es ist ganz flach und kann sich deswegen per definitionem gar nichts einverleiben. Auch Nietzsche fasst wie gezeigt sein Subjekt als Resultat bestimmter Gegebenheiten beziehungsweise als kein autonomes Zentrum auf. Das autonome Subjekt löst sich auf, aber trotzdem bleibt dem Nietzschean’schen Subjekt mehr Inhalt, mehr von Eigenem. (Das Eigene wird zwar nie als solches empfunden, es wird nämlich, wie oben erwähnt, ererbt und deswegen eher als bestimmter Zwang rezipiert). Und gerade deswegen kann Nietzsche immer noch an den „Stoffaustausch“ zwischen Subjekt und seinem Objekt glauben, sei das der wörtliche Austausch zwischen dem Organismus und seiner Umgebung, oder die bewussten psychischen und geistigen Prozesse beim Menschen. * Nietzsche setzt also das Schaffen der Interpretation gleich. Wir wissen nur nicht, wie das Subjekt die Interpretationsfähigkeit zurückbekommen soll. Die Situation des modernen Menschen, die Nietzsche schildert, scheint ziemlich aussichtslos zu sein, und auch die Antwort, die Nietzsche anbietet, ist fast ein Paradox. Er kann seinem Subjekt kein einziges „Handlungsrezept“ geben, und zudem ist bekannt, dass er alle „dogmatischen“ Moralsysteme, sogar die skeptischen Ausführungen, ablehnt. Die einzig richtige Haltung, die sein Subjekt einnehmen kann, ist ein aktives Erfahren der Interpretationskrise. Das Subjekt empfindet und es wird von einer Menge Identitäten, Werte usw. umgeben, es empfindet diese Identitäten als bloße Masken, die er sich nicht richtig aneignen kann; und Nietzsches „Anweisung“ lautet noch lange nicht „aneignen um jeden Preis“, sondern eher „in der Lage beharren“. Das bedeutet aber auch nicht, dass man sich von seiner Situation zynisch distanzieren 7 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/ Main 1988. Selbstformung des ethischen Subjekts 193 kann, im Gegenteil, man sollte jede Maske tatsächlich als falsche empfinden und immer wieder versuchen, eine passende zu entdecken. Das impliziert aber auch, sich von jeder Idee, die uns nah ist, rechtzeitig zu trennen. Wir sind dazu verpflichtet, die Haltung des Wanderers aufrechtzuerhalten und uns nicht zu schnell einzupendeln. Diese Haltung nahm Nietzsche selbst ein; in seiner ersten intellektuellen Biographie schildert Lou Salomé seinen Versuch, ein „polyphonisches Subjekt“ zu sein; ein Wanderer, der sich aktiv dem Chaos in sich stellt und sich selbst immer wieder in Masken und Verkleidungen verliert. Er wechselt nicht nur Standpunkte, sondern Perspektiven. 8 „Wir sind Experimente“, 9 beschrieb Nietzsche diese Position. Wir sind aber Nietzsche zufolge keine Experimentatoren; nicht nur, dass wir uns von diesem Versuch nicht distanzieren können, sondern bleibt uns auch das Ziel unbekannt. Sarah Kofman zufolge ist die Position des Subjekts „mit tausend Augen“ nicht nur Nietzsches Ausgangspunkt, sondern auch das einzige Ziel seiner Philosophie, das mit der sogenannten amor fati Haltung zusammenfällt. Es gäbe also keine andere Aufgabe, keinen Endzustand, nur den ewigen Weg unter verschiedenen Perspektiven, wobei das wandernde Subjekt jede Erscheinung mit „ja und amen“ begrüßt. 10 Wir sind aber der Überzeugung, dass Nietzsches Philosophie doch einen Endzustand voraussetzt. Nietzsche spricht nämlich sehr häufig von einem radikalen Bruch der Geschichte, sein Denken ist auf eine neue Ära gerichtet. Auf der anderen Seite nennt er diesen Bruch aber nicht „Revolution“, sondern eher „die stillste Stunde“. Wie ist das zu verstehen? Das Ziel des Weges ist uns, nochmals, unbekannt, wobei „beharren“ oder „fortfahren“, mit Badious Worten, Nietzsches einziges Gebot ist. Aber auf der Rückseite dieses Prozesses, in dem das Subjekt Perspektiven wechselt und sich erfolglos immer neue Masken anzueignen versucht, entsteht etwas Neues. Dadurch formiert sich allmählich seine „erste Natur“, seine eigene Art und Weise der Interpretation. Das Ziel des Weges ist eine Umwandlung des Wanderers: „Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiß nötig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand gefunden hat! — Und dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst — aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt“. 11 Man erfindet zuletzt also doch seine eigene Perspektive, seinen Lebensstil, und wird zum Gesetzgeber seines selbst. Wie und wann das im Prozess des Wanderns passiert, und ob es immer passiert, kann Nietzsche freilich nicht sagen. Wie das „neue Subjekt“ jetzt die Welt bewertet, ist also nichts Beliebiges. Es hängt von einer spezifischen Anlage tief im Subjekt ab, die sich erst im 8 Vgl. Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Dresden 1924. 9 Zit. nach Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, Köln 2008, S. 453. 10 Vgl. Sarah Kofman: Nietzsche and Metaphor, Continuum 2001. 11 Zit. nach Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, München et al. 1988, S. 266. Erna Strniša 194 Prozess des Wanderns entwickelt. Mit anderen Worten, man kann nur das werden, was man ist, aber gerade das, was man ist, kann man nie im Voraus wissen. 12 Aristoteles paraphrasierend, eine Eichel kann zu einer Eiche werden, oder auch nicht - zu einer Buche kann sie aber nicht werden. Aber um das zu werden, was wir sind, müssen wir notwendigerweise den oben beschriebenen Weg beschreiten. Das Eigene erscheint erst im Prozess des Perspektivenwechsels. Daraus ist ersichtlich, dass der Bruch der Geschichte, den Nietzsche so oft ankündigt, eigentlich auf der Ebene der Geschichte des Subjekts geschieht. Deswegen auch die Rede über die „stillste Stunde“. Nietzsche glaubte an keinen Bruch der Geschichte, sondern an die Möglichkeit einer ganz neuen subjektiven Haltung. Das alte, kraftlose Subjekt, das nicht mehr schaffen/ interpretieren kann, wird durch ein neues, kreatives Subjekt ersetzt, das sein eigenes, individuelles Gutes verfolgt. Die Art und Weise seiner Interpretation der Welt wird aber von einer schon bestehenden Anlage gelenkt. * Die ethische Selbstformung des Nietzschean’schen Subjekts vollzieht sich also im Prozess der Erfahrung der Interpretationskrise, der am Ende doch zur Realisation unserer „ersten Natur“ beziehungsweise zur Entdeckung unserer eigenen Art und Weise der Interpretation führt. Dadurch schafft sich das Subjekt also selbst neu, als interpretierendes bewertet es seine Welt neu, schafft Neues und wird dadurch selbst immer wieder verändert. Wie schon erwähnt, kann Foucault eine solche, auf Interpretation basierende Lösung nicht akzeptieren, weil sein Subjekt sich die Welt gar nicht mehr aneignet. Interpretation als „Stoffaustausch“ ist bei ihm strukturell unmöglich, weil sein Subjekt ganz „flach“ ist beziehungsweise nur einen Teil der diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken, die es produziert haben, darstellt. Trotzdem haben die Lösungen der beiden einen gemeinsamen Aspekt; sie gehen davon aus, dass die Selbstformung des Subjekts nur indirekt, durch Umgestaltung schon vorhandenen „Materials“ passiert. Das Nietzsche’sche Subjekt versucht seine Interpretationsfähigkeit wiederzubekommen, wobei es sich nicht auf sich selbst, sondern auf die Welt bezieht. Es wird zu einem neuen Subjekt durch die Aneignung der Umwelt. Judith Butler stellt in Bezug auf Foucault das Selbe fest. Man kann sich selbst nicht kennenlernen, man kann sich selbst nicht schaffen, ohne außer sich zu treten. Die Selbstformung des Subjekts vollzieht sich nur mithilfe einer Norm, die es nicht geschaffen hat, mittels der Sprache, die schon lange vor ihm da war, kurzum, im Prozess, in dem es sich als kein Autor erkennen kann. 13 Das Foucault’sche Subjekt ist Resultat der jeweiligen Machtverhältnisse, die sich durch Diskurse und Institutionen realisieren. Es ist immer Teil der 12 Vgl. Friedrich Nietzsche: Ecce Homo, München et al. 1988. 13 Vgl. Judith Butler: Giving an Account of Oneself, New York 2005. Selbstformung des ethischen Subjekts 195 Machverhältnisse, einer der Faktoren in dieser Maschinerie. Genauer gesagt, es wird zum Subjekt gerade in dem Moment, in dem es erkennt, was die Macht von ihm will. Das Subjekt gehorcht der Macht. Die Macht ist Foucault zufolge aber nicht auf ein Zentrum eingeschränkt, sondern wirkt als ein Netz. Jeder von uns übt also Macht aus. Aus den Machtbeziehungen kann demnach niemand austreten. Unser Handeln ist immer schon durch die Gegebenheiten des jeweiligen Machtsystems bestimmt. Das bedeutet aber nicht, dass es vollkommen determiniert ist. Man kann der Macht auf die eine oder andere Weise gehorchen und in die bestehende Machtbeziehungen sogar aktiv eingreifen. Ein aktiver Eingriff ist aber nur deswegen möglich, weil der gesellschaftlich-politische Zusammenhang, dem das Subjekt angehört, selbst keineswegs stabil ist, sondern sich ständig wandelt. Es muss also darauf hingewiesen werden, dass die Machtverhältnisse nur unter freien Individuen errichtet werden können. Im Übrigen handelt es sich um Herrschaftszustände, die dann entstehen, wenn es einem Individuum oder einer Gruppe gelingt, die Machtverhältnisse zu blockieren. Die Freiheit des Subjekts ist auch in „normalen“ Zuständen immer wieder bedroht, weil es ständig auf der Lauer sein muss, nicht wieder zum Förderer der bestehenden Machtstruktur zu werden. Mit anderen Worten, es muss seine Freiheit immer wieder realisieren, sie besteht nur im und durch Handeln. Es gibt keine Welt ohne Macht, weil man immer auch mit anderen freien „Faktoren“ rechnen muss, aber die jeweilige Machtstruktur selbst ist immer etwas Kontingentes. Dafür, wie man in der jeweiligen Situation handeln beziehungsweise wo und auf welche Weise man in die bestehende Machtstruktur eingreifen soll, gibt es freilich wieder keine universale „Rezeptur“. Das Subjekt muss die Verantwortlichkeit für seine Entscheidungen selbst tragen. Das einzig universale Moment seiner Haltung wäre vielleicht das Gebot, die Freiheit immer wieder realisieren zu müssen. Das Foucault’sche Subjekt hat nämlich genauso wie das Nietzschean’sche keine Substanz, sondern ist ein Prozess, etwas ewig Werdendes. Hier stellt sich aber noch die Frage, wie das Handeln im gesellschaftlichpolitischen Raum mit der Selbstformung des Subjekts verbunden ist. Die Selbstformung des Subjekts (die von der Subjektgenese zu unterscheiden ist - unter Subjektgenese verstehen wir den Prozess, durch den das Subjekt als „Untertan“ der Macht sich zum ersten Mal herausbildet) kann nur in einem Prozess, in dem das Subjekt von sich wegschaut, passieren. Die Beschäftigung mit sich selbst, die Suche nach dem Eigenen, erweist sich auf der anderen Seite immer als fruchtlos. Die immer schon bestehenden Diskurse, Institutionen, Normen usw., die das Subjekt zwar zweifellos bestimmen, erweisen sich als Material, das man bearbeiten kann, das umgestaltet werden kann, beziehungsweise auf dem man Neues schaffen kann (und das auch „neutralisierend“ gegen absolute und deswegen paralysierende Freiheit wirkt). Der Diskurs ist uns fremd, die Sprache war schon lange vor uns da, ihre Zeit ist nicht unsere Zeit, aber trotzdem gestaltet sie uns, wir erscheinen in ihrer Mitte, sind an sie geknüpft und können in ihrem Bereich operieren - Erna Strniša 196 auch wenn wir noch lange keine Verfasser sind, verfügen wir über ihr strategisches Potential. 14 Das Handeln im gesellschaftlich-politischen Raum, in dem das Subjekt zum ersten Mal auch erschienen ist, bedeutet also zugleich eine Arbeit an sich selbst. Das Subjekt muss sich mit der ihm zugewiesenen Identität nicht abfinden, sondern muss sie selbst gestalten. Dabei muss es aber die Falle der identitären Logik vermeiden und auf die ständige Frage „Was gehört zu meiner wirklichen Identität? “ verzichten. Es bildet sich also zum zweiten Mal - als ethisches Subjekt - nur durch das Handeln im Gemeinsamen heraus. Gerade weil das Subjekt immer in ein Machtnetz eingebunden ist, kann es das Netz nicht verwandeln, ohne dabei auch sich selbst zu verwandeln. Es hat keinen Sinn, sich die Frage zu stellen, was zur „philosophischen Existenz“ gehört. Unsere philosophische Identität gestaltet sich nur durch unser Handeln im Gemeinsamen, d. h. durch unsere Schriften, öffentliche Vorträge usw. Und auch wenn unsere Schriften nicht gelesen werden, verfügen sie trotzdem über ein strategisches Potential. Wir können nie im Voraus sagen, auf welche Weise sie eines Tages benutzt werden können. * Das ethische Subjekt schafft also, Foucault zufolge, sich selbst neu, indem es die gesellschaftlich-politische beziehungsweise die gemeinsame Realität „bearbeitet“. Es gibt keine mögliche Realität außerhalb von Machtverhältnissen, und deshalb ist nach Foucault auch kein absoluter Bruch, keine Revolution möglich. Nietzsche ist an diesem Punkt seines Weges gegangen. Bei ihm könnte man, paradoxerweise, eher von einer „Revolution“ sprechen, die aber, wie schon erwähnt, auf der Ebene des Subjekts passiert. Der Bruch, den Nietzsche schildert, ist auf einer Seite zwar viel radikaler, auf der anderen Seite führt er aber zur Isolierung. Wir haben gesehen, dass das Nietzsche’sche Subjekt völlig auf seine Aufgabe, die Interpretationsfähigkeit wiederzubekommen, orientiert ist. Im Gegensatz zum Foucault’schen Subjekt, das per definitionem immer im Bereich des Fremden operiert (weil es selbst, Deleuze zufolge, lediglich eine „Falte des Fremden“ ist 15 ) und sich die Realität nicht aneignet, sondern sie umgestaltet, ist für das Nietzsche’sche Subjekt jedes Fremde, das dem Prozess der Interpretation entflieht, beziehungsweise das es nicht „verdauen“ kann, schon ein Kennzeichen der Schwäche. Im interpretierenden Subjekt beeinflussen das Eigene und das Fremde einander zwar ständig, das Subjekt eignet sich das Fremde an und wird dadurch selbst verändert. Es ist aber nicht fähig, neben dem Fremden zu beharren, sich dem Fremden zu stellen und es als Fremdes beziehungsweise Anderes zu akzeptieren. Gerade das blockiert 14 Vgl. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow: Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, New York 1982. 15 Vgl. Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/ Main 1992. Selbstformung des ethischen Subjekts 197 jede Möglichkeit des politischen Handelns, das immer im Zusammenstoß mehrerer Perspektiven und auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache passiert. Mit anderen Worten, das neue Nietzsche’sche Subjekt, das Subjekt nach dem Bruch, befindet sich in ewiger Bewegung von einem zum nächsten Objekt, wobei in jedem Moment nur das (ewig werdende) Subjekt und sein Objekt existieren. Das kreative Subjekt ist also einem spielenden Kind in ewiger Gegenwart gleich und es muss jeden vergangenen Augenblick gleich vergessen. Man könnte vielleicht noch sagen, dass es sich kaum noch um ein Subjekt handelt. Es besteht nämlich nur noch in Bezug auf das jeweilige Objekt, hat aber keine persönliche Geschichte, keine Vergangenheit mehr und ist deswegen ständig von Desubjektivierung bedroht. Nicht nur ist der Weg der Selbstformung ganz individuell und kann nicht vorgezeichnet werden, sondern er vollzieht sich in einer spezifischen Einsamkeit, die jede Möglichkeit des Politischen ausschließt. „Mein Gutes“, das Nietzsches Subjekt verfolgt, ist eigentlich einem persönlichen Wahn gleich. Foucault weiß aber ganz gut, dass dem Narren, der eine ganz neue Sprache, die auf keine Weise Diskurs der Macht war, erfunden hatte, die Möglichkeit der Selbstformung entnommen wurde. 16 Nach Foucault ist also eine solche Haltung nicht mehr möglich oder wenigstens nicht mehr produktiv. Während Nietzsche noch daran glaubt, dass man dem Kapitalismus noch entfliehen kann um nicht nur eine bloße „Schraube in der Maschine“ zu sein, ist das nach Foucaults Auffassung nicht mehr möglich. Will das Individuum nicht als Narr behandelt werden, muss es sich mit der Position eines Gliedes im Netz der Macht abfinden. Als solches kann es aber in diesem Netz immer subversiv wirken. Nietzsches Fehler war also nach meiner Überzeugung nicht der Aufruf zur so genannten „großen Politik“, sondern dass er den Einzelnen und das Gemeinsame zu radikal getrennt hat. Auf der anderen Seite erweist sich bei Foucault die soziale Realität, von der das Subjekt zwar bestimmt wird, auch als Material, aus dem es Neues schaffen kann. 16 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/ Main 1988. E MILIJA M AN I (W IEN ) Umbrüche und Identitätskrisen Zu jugoslawischen narrativen Identitätsbildungen und ihrem deutschsprachigen Kontext 1 Mit dem Fall der Berliner Mauer befanden sich die damaligen sozialistischen Staaten an einem Wendepunkt. Die sozialistische Ideologie konnte der neuen Realität nicht mehr gerecht werden, womit der Weg zur Demokratisierung dieser Länder frei wurde. Dieser Prozess steht eng in Verbindung mit der Transformation kollektiver und politischer Identitäten und läuft parallel mit dem fortschreitenden Prozess der europäischen Integration. Die global- politischen Strukturveränderungen nach der Beendigung des Kalten Krieges erwiesen sich als sehr komplexe und ambivalente Prozesse. Es zeichnete sich vor allem eine widersprüchliche Tendenz ab: Einerseits wuchsen Relevanz und Dynamik der Nation, andererseits schien die Zeit der „postnationalen Konstellation“ (Jürgen Habermas) gekommen zu sein. Diese Problematik eröffnet ein ganzes Spektrum von Themen, die mit der Neudefinition kollektiver und politischer Identitäten und dem komplexen Verhältnis von Nation, Identität und Kultur eng in Verbindung stehen. Die Neunzigerjahre haben die Vermehrung des Partikularen und die Ablehnung des Universalismus als überholten Totalitarismus auf die internationale Ebene gesetzt. Gleichzeitig sind die identitären und kulturellen Konflikte gewachsen. Deswegen liegt diesem Aufsatz die Auffassung zugrunde, dass Fragen von Kultur, Identität und Geschichte als wechselseitige Entwicklungs- und Konstruktionsmomente im transnationalen und transregionalen Zusammenhang begriffen werden können. Die erwähnte Problematik und die mit ihr verbundenen Ein- und Ausschlussmechanismen lassen sich am Beispiel des ehemaligen Jugoslawien in all ihrer Komplexität besonders gut beobachten. Wenn von Jugoslawien die Rede ist, spricht man oft gleichzeitig von zwei unterschiedlichen Prozessen: dem Staatszerfall und den kriegerischen Konflikten. Obwohl es in der Europäischen Union üblich geworden ist, die Desintegration Jugoslawiens und die nachfolgenden Kriege als synchrone Vorgänge zu sehen, werden die Ursachen von Zusammenbruch und Krieg in zahlreichen neueren zeithistorischen Forschungen eben nicht 1 Bei folgendem Aufsatz handelt es sich in seiner Grundstruktur um gekürzte und dem Publikationskontext angepasste Kapitel aus meiner Dissertation zu „Die Macht der Kultur. Zu (post-)jugoslawischen romantischen Identitätsnarrationen und ihrem europäischen Kulturkontext.“ (Wien 2011) Emilija Man i 200 als deckungsgleich gesehen. 2 So nahmen die westlichen politischen Eliten und Medien der 1990er Jahre die kriegerische Auflösung Jugoslawiens als Neuauflage des so genannten Pulverfasses Balkan dar; die monokausale These, Unterschiede in den kulturellen und nationalen Identitäten hätten die Bildung neuer Nationalstaaten unumgänglich gemacht, konnte sich durchsetzen. Diese These von der Unvereinbarkeit der verschiedenen Kulturen wurde in einem schon seit den 1980er Jahren zu beobachtenden Desintegrationsprozess in den damaligen Teilrepubliken durch die narrative Aktivierung von Vergangenheit aufgestellt. Identität als ‚Erzählung unseres Ich’ Als Kategorie gewinnt Identität an Bedeutung erst, wenn sie zum Problem wird - oder, mit Zygmunt Bauman: Identität kann nur als Problem existieren, sie war von Anfang an ein Problem, wurde als Problem geboren. 3 Für Start Hall ist es nicht verwunderlich, dass wir gerade in dem Moment, wenn wir ein bestimmtes Bewusstsein von Identität verloren haben, feststellen, dass wir es brauchen: „Identität wird nur in ihrer Krise zum Problem, wenn einiges von dem, was gesichert, kohärent und stabil erschien, durch die Erfahrung des Zweifels und der Unsicherheit verworfen wird.“ 4 Identität befindet sich immer in einem Prozess der Herausbildung. „Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tode zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder ‚Erzählung unseres Ich’ über uns selbst konstruieren“, so Stuart Hall. 5 Die gesellschaftlichen Konzepte der Selbstbestimmung wie eben Identität werden in mehr oder minder großen Narrationen formuliert, transportiert und kultiviert. Die Konstitution der Identität geschieht im Medium der Sprache beziehungsweise der Erzählung. Letztere steht zur Kategorie Zeit in doppelter Beziehung, da die Zeitdifferenz gleichzeitig aufgehoben und vorausgesetzt wird: Der Bezug auf einen Text ist zum einen der Bezug auf etwas, das Geschichte geworden ist. Zum anderen wird, indem die Erzählung vergangene Zeit erzählt, im Akt des Erzählens die vergangene Zeit Gegenwart. Die Vergangenheit wartet nicht einfach darauf, für unsere Identitäten eine Entschädigung zu liefern. Sie wird immer wiedererzählt, wiederentdeckt und neu erfunden. Sie muss in Erzählungen verwandelt werden. Die Narrationen dienen in funktionaler 2 Zu der These, dass der Zusammenbruch der staatlichen Strukturen überhaupt erst die Voraussetzung für den Ausbruch der Kriege schuf: Holm Sundhaussen u. Heiko Hänsel (Hg.): Konfliktregionen Südosteuropas im Zeitalter des Nationalismus (Teil 1), Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Geschichte und Kultur, Bd. 3 und 4, Berlin 2001. 3 Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997, S. 134. 4 Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 2000, S. 181. 5 Ebenda, S. 183. Umbrüche und Identitätskrisen 201 Hinsicht der Synthetisierung und Interpretation von disparaten Erinnerungen. Der Akt des Erinnerns besteht aus dem Abrufen von Gedächtnisinhalten, denen bereits modifizierte Inhalte zur Verfügung stehen. Deswegen gibt die erzählte Vergangenheit niemals die effektive Vergangenheit wieder. Es geht um Sinnstiftung und nicht um Faktizität. Erinnerungen können meistens nur kleinere Abschnitte des Lebens ans Tageslicht bringen, während es Erzählungen gelingen kann, Gesamtzusammenhänge herzustellen. Der Begriff Identität lässt sich selbst nicht leicht definieren, da man bei der Identitätsforschung kein fertiges Objekt beobachtet, sondern eher einen sozialen Prozess, in dem die Identitäten konstruiert werden. „Die kollektiven Identitäten speisen sich aus einem Prozess der - permanenten - Reproduktion der symbolischen Sinnsysteme und sozialen Praktiken.“ 6 Kollektive Identität beruht auf Erinnerungen, die Mitglieder eines Kollektivs miteinander teilen, und setzt Kommunikation innerhalb der Gruppe voraus. Romantische Identitätsnarrationen 200 Jahre vor dem Umbruch von 1989 hat die Französische Revolution von 1789 gleichfalls einen wichtigen Umbruch in Europa verursacht und einen neuen Mythos - nämlich jenen der Nation - produziert. Sie hat das Bewusstsein für jene Fragen der kollektiven Identitätsbildung geweckt, die heute zur Debatte stehen. In dieser Zeit entstand gleichzeitig ein besonderer Zusammenhang zwischen Kultur und Nation. In seinem 1983 erschienenen Hauptwerk Nations and Nationalism legt Ernest Gellner die Formel des modernen Nationalismus fest: 7 eine Nation, eine Sprache, ein Staat. Nach Gellner verändert sich in der Industriegesellschaft das Verhältnis zwischen Macht und Kultur und bildet sich eine Hochkultur aus. So entstand eine Verbindung von Staat und Hochkultur, mit der als Begleiterscheinung kulturelle Homogenität einhergeht. Gellner identifiziert in der staatlich organisierten Ausbildung den Hauptmotor, mit dem die Idee „Nation“ verbreitet und gesichert wurde. In der Zeit der Ungewissheit und Unsicherheit, die mit dem Zerfall der neuen Ordnung einherging, bot die Nation Halt und vermittelte Identität. Nach der französischen Revolution wurde offensichtlich ein neuer Interpretationsrahmen in der Gesellschaft benötigt. In der Epoche der Aufklärung entstand eine narrativ konstituierte Großerzählung, die „die europäische Identität“ mit „europäischer Kultur“ beziehungsweise Zivilisation gleichsetzt. Die Entwicklung der „europäischen Kultur“ wurde in die Geschichte der Menschheit eingebettet und bot eine gute Gelegenheit, „Europas“ Überlegenheit im Kulturvergleich auszuweisen. Gleichzeitig konnte man durch Vergleich die eigene Kultur den anderen europäischen Ländern als überlegen darstellen. Da in Deutschland zu jener Zeit die Herausbildung einer politischen Identität durch Revolution, wie sie in Frankreich stattge- 6 Carolin Emcke: Kollektive Identitäten, Frankfurt - New York 2000, S. 220. 7 Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991. Emilija Man i 202 funden hatte, nicht möglich war, stellte Kultur das Hauptidentifikationsmerkmal dar. So entstand eine romantische Gegenerzählung, die besagt, dass sich im Partikularen das Universale offenbart und nicht umgekehrt. Die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland bei den Nations- bildungsprozessen hat Eric Hobsbawm erläutert. Nachdem die Revolution die französische Nation hervorbrachte, konnten Zugehörigkeitsgefühl und Loyalität mittels einiger offensichtlicher Symbole wie Marianne, der Tricolore und der Marseillaise ins Bewusstsein der Mitbürger gerufen werden, so Hobsbawm. 8 Da das deutsche Volk vor 1871 nicht politisch definiert und vereint und sein Verhältnis dem Reich gegenüber nicht klar war, musste hingegen laut Hobsbawm die symbolische und ideologische Identifikation im damaligen Deutschland komplexer sein. Daher wurden die vielfältigen Identifikationsquelle ausgehend von der Mythologie und Folklore (deutsche Eiche, Kaiser Friedrich Barbarossa) über die Karikaturen bis zur Definition der Nation über seine Feinde benötigt. Auch Deutschland konnte sich am leichtesten über Gegensätze definieren. Die Epoche der Romantik steht eng in Verbindung mit einer Umbruchs- zeit und ist damit im besonderen Maß gekennzeichnet. Von zahlreichen Autoren unterschiedlichster Genres wird die eigene Zeit ausdrücklich als die eines endgültigen Abschieds und der Trennung begriffen, als die Epoche des Identitätsverlustes. Was einst war, die naturwüchsige Identität von kulturellem, politischem, sozialem Leben, das ist jetzt zerstört, und die kritische Reflexion, die sich auf den Gang der zugrundeliegenden Entzweiung richtet, hat die Aufgabe, aus den zerstückten Teilen das Bild eines kommenden Ganzen zusammenzusetzen. „Versöhnung“ lautet das Zauberwort dieser Arbeit. Aber sie hat es schwer, denn die Kultur selbst scheidet - so scheint es wenigstens -als Heilmittel aus. Sie war es, sagt Schiller, „welche der neuen Menschheit diese Wunde schlug“. 9 Die identitätsstiftende Kraft kultureller Selbstwerdung bildet einen Kern der romantischen Bewegung, die nach neuen kulturellen Identifikationsmustern suchte. Für Romantiker ist die abstrakte Universalität der Aufklärung leer und bekommt erst durch Partikularismus, Besonderheit, Spezifität einen Inhalt. Die Verbindung einer der Weg für einen theologisch gestützten Universalismus geebnet werden, aber auch für die homogenisierten, gemeinschaftsradikalen Identitätskonzepte. Die Förderung nationaler Identität geschah in Deutschland nach der Schlacht von Jena im Jahre 1806 und der Niederlage Preußens durch Rückgriff auf die Vergangenheit, besonders durch eine patriotisch-identitätsstiftende Barockrezeption. Dieter Martin hat untersucht, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Literatur aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges aktualisiert wurde, um sich während der Napoleonischen Kriege nationaler Werte zu versichern und „die Rolle zu bestimmen, die Dichtung und Dichter bei der 8 Vgl. Eric Hobsbawm: The Invention of tradition, Cambridge 1997. 9 Dietrich Harth: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften, Dresden 1998, S. 155. Umbrüche und Identitätskrisen 203 Bildung einer deutschen Nation zukomme.“ 10 Martin führt die exemplarische Rezeption der barocken Traumsatire „A la mode Kehrauß“ vom deutschen Staatsman und Satiriker in der Epoche des Barocks Johann Michael Moscherosch vor, um zu zeigen, wie zum einen die Strafreden archaischer Helden als patriotische Appelle an die Gegenwart dienten. Zum anderen bekamen die Dichter durch die poetische Aktualisierung der barocken Nationssituation „eine identitätssichernde Vorreiterrolle“ in der Gegenwart. So wurde ein Hintergrund für den Brückenschlag von den Napoleonischen Kriegen zurück zum Dreißigjährigen Krieg geliefert. Die romantischen Schriftsteller wie Kleist, Fichte, Arnim, Görres u.a. mobilisierten die deutsche Vergangenheit gegen die französische Gegenwart. Die rückwärtsgewandte Utopie nationaler Einheit wurde als ein aus der Vergangenheit legitimierter Entwurf des Zukünftigen verstanden. „Die Literatur wurde als Ausdruck von Gesellschaft verstanden, wodurch der Schriftsteller eine entsprechende soziale oder auch nationalpädagogische Funktion erhält.“ 11 Die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins war in Deutschland bis zu den Revolutionskriegen und während der napoleonischen Herrschaft vorrangig von Intellektuellen getragen. Symbolisches Universum und Identifikation Die romantischen Identitätskonzepte stellen eine Art „cognitive maps“ dar, die als Folie für die Herausbildung kollektiver Identitäten im ehemaligen Jugoslawien seit dem 19. Jahrhundert dienten, da es in dieser Region gleichfalls zuerst um die Herausbildung einer Nation und später eines Nationalstaates ging. Dabei haben sie eine doppelte Funktion gehabt, da sie gleichzeitig für die Herausbildung einzelner Nationen sowie einen integrativen Jugoslawismus dienten. Trotz bestehender kultureller Differenzen war es nämlich zu besagter Zeit möglich, die Grundlage für eine spätere Integration auf übernationaler Ebene zu legen. Etwa 200 Jahren später sollten die Diffenrenzen zu konträren Identitäten verhärtet werden. So entstand zu jener Zeit ein Reservoir an Bedeutungen, das im Sinne des sozialen Imaginären verstanden werden kann, und aus welchem die kulturellen Codes einer Gesellschaft zu entziffern wären. Das Konzept der kollektiven Identität umfasst sowohl ein Set an Praktiken und Werten, als auch das dauerhafte Erbe an Überzeugungen und Normen, die sich zu einer Vorstellung von Identität ausgebildet haben. Das Ensemble von imaginären Bedeutungen in einer Gesellschaft ist deswegen genauso wichtig wie das Gruppenbewusstsein. Das Individuum identifiziert sich nicht bloß mit Institutionen, sondern vor allem mit seinem symbolischen Universum. Nach 10 Dieter Martin: Vom Beistand altdeutscher „Biederleute“ bei der romantischen Suche nach nationaler Identität, in: Sheila Dickson u. Walter Pape (Hg.): Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie, Tübingen 2003, S. 3-11, hier S. 4. 11 Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart 1990, S. 109. Emilija Man i 204 Cornelius Castoriadis verbirgt eine Ebene des Symbolismus einen Sinn, der selbst Wirkungen zeitigt, und diese Ebene kann von keiner funktionalen Determination erreicht werden. 12 Dieser Sinn produziert das Imaginäre. Das Imaginäre verschafft unserer gemeinschaftlichen Existenz allererst einen Inhalt und verleiht ihr eine symbolische Bedeutung. Das Imaginäre im Sinne Castoriadis’ besitzt jene schöpferische Kraft, die bei der Gründung einer Gesellschaft unerlässlich scheint. Das Imaginäre bezieht sich auf bestimmte Vorstellungen und Bilder, die uns leiten, ohne dass wir sprachlich oder reflexiv darüber verfügen. Eine Verfügung erlangen wir erst durch einen Wechsel in das Symbolische. Das symbolische Band integriert die Gesellschaft politisch und ermöglicht eine nichtge-genständliche Form der Selbstinstituierung. Eine symbolische Re-Inszenierung der romantischen Identitäts-konzeptionen im Jugoslawien nach 1989 weist auf die Wiederkehr ähnlicher Grundkonstel- lationen wie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hin. Die Dualität und der Widerspruch zwischen Universalismus und Partikularismus, Kosmopolitismus und Nationalismus, Vergangenheit und Zukunft, die für die Zeit der Romantik kennzeichnend waren, sind auch nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus erneut in Europa aktuell geworden. So wie nach der Französischen Revolution die inneren Grenzen zwischen den Ständen fielen und bloß die äußeren Grenze des Staatsgebiets blieben, so fallen heutzutage auch die äußeren Grenzen zwischen Staaten, die der Politik bisher einen klaren Rahmen verpasst hatten. Moderne Identität sieht sich widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt. Einerseits soll sie flexibel und formbar sein, andererseits aber muss Identität eine mindestens zeitweise stabile Form erhalten, damit Gesellschaft möglich ist. Genau diese Problematik stand auch im Mittelpunkt der romantischen Suche nach verbindlichen Identitätsmuster. Da die üblichen Vermittlungsmechanismen zwischen Individuum und Gesellschaft nicht mehr funktionierten, zeichnete sich eine Spaltung ab, die die bis heute aktuell gebliebene Identitätsproblematik zum Kernproblem werden lässt. Die Romantiker gehen von einem Bruch, von einem „Riss im Sein“ aus, der sich in der Trennung von Subjekt und Objekt artikuliert. Der Welt des Gegenständlichen, Objektiven steht das Subjekt gegenüber; der Gegensatz scheint unüberbrückbar zu sein. So entsteht die Sehnsucht nach der Heilung der Welt, nach der Zusammenführung von Gegensätzen zu einem harmonischen Ganzen. Gerade der romantische Lösungsversuch der Identitätskrise durch Erlösung des Ichs von den Anstrengungen und den Qualen der Suche nach einer Identität sei sehr problematisch, so Ruthard Stäblein. 13 Die Sehnsucht nach Einheit und somit nach Erlösung des 12 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/ Main 1997. 13 Vgl. Ruthard Stäblein: Zwischen Auflösung und Erlösung des Ich. Zur Wiederkehr einer romantisch-modernen Bewusstseinskrise bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannstahl. Mit einem methodischen Vorspann nach Walter Benja- Umbrüche und Identitätskrisen 205 krisenerschütterten Individuums versuchten einige romantische Schrifsteller durch dessenAuflösung in einem größeren Ganzen zu befriedigen: in der Gemeinschaft eines Kollektivs, das wiederum dem christlichen corpus mysticum nachempfunden war. Solche Überwindung aller Zerrissenheit, solch romantischer Lösungsversuch einer fundamentalen Identitätskrise kann jedoch problematisch sein, da er auf politischer Ebene totalitär konzipierten Ordnungen Vorschub leistet. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen in Jugoslawien Der Prozess der Reethnisierung beziehungsweise der Rückbesinnung auf ethnische Zugehörigkeit und „wahre“ Identität setzte mit der Umbruchsituation im ehemaligen Jugoslawien nach dem Zerfall des Landes ab 1989 mit der Vergegenwärtigung des Vergangenen sowohl in den literarischen Werken als auch in den kulturellen Praktiken wie Feiern von Jubiläen, Mobilisierungsaktionen, Organisation von Massenversammlungen sowie Konstruktion und Wiedererfindung von Traditionen an. Als symbolische Inszenierung und Re-Inszenierung erhielten die Ereignisse aus der Geschichte - als Elemente kollektiver Geschichte - ein neues Gewicht. So ist die Bildung kultureller Identität als ein Prozess symbolischer Einheitsbildung und Individuierung zu verstehen. Die Kontinuität kultureller Identitätslinien wird über die Schaffung symbolischer Bezugspunkte hergestellt. Bestimmte exponierte Momente der Geschichte werden zu bezugsfähigen Einheiten verdichtet, die sich durch wiederholte symbolische Inszenierung bestätigen. Dabei wird immer wieder klar, dass der Rekurs auf ein historisches Jubiläum weniger etwas über das Ereignis selbst aussagt, als vielmehr über die politische Situation und die aktuelle Bedürfnislage der jeweiligen Gegenwart. Die Verknüpfung historischer Opfermythen mit einem aktuellen Bedrohungs-szenario angesichts der damaligen politischen Situation im Lande sollte die Bevölkerung vereinen und mobilisieren. In diesem Sinne wäre auch der 600. Jahrestag der Schlacht von Kosovo im Jahre 1989 in Serbien zu deuten. Drei Jahre davor, also 1986, wurden anlässlich des 200-jährigen Geburtstagsjubiläums von Vuk Karad ž i zahlreiche Veranstaltungen in Serbien organisiert, um an sein Identitätskonzept zu erinnern. Das von Vuk Karad ž i entworfene Kulturkonzept 14 wurde wieder aktualisiert und erreichte bald danach seinen Höhepunkt in einer Art der Mobilisierung, die unter dem Motto „Das Volk hat sich ereignet“ stattfand. Dazu kam eine weitere Mobilisierungsaktion der breiten Massen, die so genannte „antibürokratische Revolution“, die die Massenversammlungen auf der Straße als min. In: Cornelia Klinger u. ders. (Hg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation, Frankfurt/ Main 1989, S. 40-84. 14 Vuk Karad ž i war der bedeutendste serbische Sprachreformator, der mit seiner Reform eine radikale Veränderung der bisherigen Usus vollzog, indem er sich bei der Reform ausschließlich auf die Volkssprache und der Volksdichtung stüzte. Emilija Man i 206 eine Art nicht institutionalisierter Mittel zur Erreichung der politischen Ziele eingeführt hat. Der Rückgriff auf Tradition und Traditionalismus als Legitimationsquellen des Regimes hat eine sehr bedeutende Funktion auch in Kroatien eingenommen. Franjo Tudjman mit seinem neuen Regime inszenierte sich so als Verwirklicher der Tradition des neun-hundertjährigen Traums der Nation. 15 Dabei wurden die traditionellen Symbole, Mythen und Praktiken zu Haupstützen der Politik. Die alten Helden wie die mittelalterlichen kroatischen Könige Tomislav und Zvonimir, Uskoken und die Volkshelden Mijat Tomi und Ivo Senjanin, sowie die nationalen Ideologen wie Ante Star evi und Stjepan Radi wurden unaufhörlich in den Medien, öffentlichen Reden und Bildungsinstitutionen wiederbelebt. In Slowenien ging es gleichfalls darum, erstmals einen Nationalstaat zu errichten. Während die meisten anderen osteuropäischen Länder auf die Geschichte einer mehr oder weniger ausgeprägten Eigenstaatlichkeit zurückgreifen konnten, war das in Slowenien nicht der Fall. Der slowenische Schriftsteller Aleš Debeljak erklärt in seinem Essay „Blick auf Slowenien“ die Situation von damals mit folgenden Worten: Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte der Marginalität konnten die Slowenen frei und verantwortlich über ihre Zukunft entscheiden. Dieses umwälzende Ereignis war indes bereits von romantischen Hoffnungen von vielen slowenischen Schriftstellern und Dichtern vorweggenommen worden, auch wenn es aller Rationalität zu widersprechen schien. Die Schriftsteller beschäftigten sich traditionellerweise mit der Verpflichtung und dem Risiko, als nationale Fackelträger zu fungieren, als Wächter der moralischen, gesellschaftlichen und geistigen Werte, die in der slowenischen Sprache enthalten seien. Es war die Sprache, die vor allem den nationalen Schatz widerspiegelte und als Unterscheidungsmerkmal der slowenischen Identität diente. 16 Nachdem die Selbständigkeit erlangt war, führte der junge slowenische Staat den „Prešern-Tag“ (Prešernov Dan) als gesetzlichen Feiertag ein. 17 Damit wurde die starke Konzentration auf nationale Symbolik mit dem slowenischen Gründungsnarrativ verbunden, das der slowenische Dichter Franc Prešern mit seinem Epos Die Taufe an der Savica (1836) 18 schuf. Die narrative Schaffung von Kulturräumen: Balkan und Europa Als die europäischen Integrationsprozesse nach dem Zusammenbruchs des Sozialismus einen neuen Aufschwung bekamen, schienen für die Konstruktion 15 Vgl. Siniša Maleševi : Ideology, Legitimacy and the New State: Yugoslavia, Serbia and Croatia, London 2002; serb. Übersetzung: Ideologija, legitimnost i nova drzava: Jugoslavija, Srbija i Hrvatska, Beograd 2004. 16 Aleš Debeljak: Blick auf Slowenien. In: Politik und Zeitgeschichte 46, 13.11.2006. 17 Der Prešern-Tag wird am 8. Februar als Kulturfeiertag in Slowenien gefeiert. 18 Prešern dramatisiert und mythologisiert den verlorenen Kampf der heidnischen Ahnen Sloweniens und ihre Konversion zum Christentum im 8. Jahrhundert. Savica ist der Wasserfall in den Julischen Alpen und wird oft als Modell für das Wieder-Zusammenfinden aller Slowenen begriffen. Umbrüche und Identitätskrisen 207 der europäischen nationalen Identität „Alteritätspartner“ in der näheren Umgebung erforderlich, denen eine nicht europäische, „unzivilisierte“ Identität zugeschrieben werden konnte und welche so die semantische Opposition zur eigenen, „europäischen“ Nation darstellten. 19 Auch die diskursive Operation der Orientalisierung beziehungsweise Balkanisierung - von der Ethnologin Milica Baki -Hayden mit Bezug auf den jugoslawischen Kontext als „eingenistete Orientalismen“ [nesting orientalisms] bezeichnet - kam zum Einsatz. So konnte man die narrative Schaffung von Kulturräumen, die auf die Revalorisierung von Dichotomien wie Ost/ West, Europa/ Asien, Europa/ Balkan, Christentum/ Islam, Katholiken/ Orthodoxe zurückgeht, beobachten. Slavoj Žižek hat die ganze Problematik auch auf Westeuropa ausgeweitet und so beschrieben: The Balkans are always somewhere else, a little bit more towards the southeast… For the Serbs, they begin down there, in Kosovo or in Bosnia, and they defend the Christian civilization against this Europe’s Other; for the Croats, they begin in orthodox, despotic and Byzantine Serbia, against which Croatia safeguards Western democratic values; for Slovenes they begin in Croatia, and we are the last bulwark of the peaceful Mitteleuropa... for many North Germans, Bavaria, with its Catholic provincial flair is not free of a Balkan contamination; many arrogant Frenchmen associate Germany itself with an Eastern brutality entirely foreign to French finesse; and this brings us to the last link in this chain: to some conservative British opponents of the European Union, for whom— implicitly, at least—the whole of the European continent functions today as a new version of the Balkan Turkish Empire, with Brussels as the new Istanbul, a voracious despotic centre, which threatens British sovereignty.... Is not this identification of continental Europe itself with the Balkans, its barbarian Other, the secret Truth of the entire movement of the displaced delimitation between the two? 20 So sind Differenzen wieder einmal Hierarchien geworden. Im ehemaligen Jugoslawien, wo sich seit den 1980er Jahren Slowenen und Kroaten immer stärker als Teile West-Europas deklarierten, ließ sich in den neunziger Jahren dieser Prozess gut beobachten. Während die Außenstehenden eher dazu neigen, Balkanismus als einen einheitlichen Ausdruck des „Anderen“ wahrzunehmen, positionierten die Balkan-Länder sich selbst in einer Art Hierarchie. Dieses Vorgehen impliziert, dass es immer einen „Anderen“ gibt, der noch „andersartiger“ zu sein scheint als man selbst (Griechen, Rumänen, Türken, Albaner, Bulgaren, etc.). Wie Maria Todorova festellte, wurde der Balkan unter Balkaniern selbst am meistens verachtet: Immer gehe es darum zu beweisen, wie man selbst mit den negativen Eigenschaften, die diesem Raum zugeschrieben werden, nichts zu tun habe. Zum einen besteht der 19 Dieser Prozess der so genannten Europäisierung Europas wurde von den Mitgliedstaaten unter dem Motto „Einheit in der Vielfalt“ initiiert und steht in Verbindung mit den Fragen von Integration und Differenz, womit auch ein Prozess der Grenzziehung angesetzt wurde. 20 Slavoj Žižek : The fragile absolute—Or why the Christian legacy is worth fighting for, London 2000, S. 3-4. Emilija Man i 208 Wunsch, die Stigmatisierung durch Stereotypen über den vermeintlich nicht genug zivilisierten Balkan zu vermeiden; zum anderen scheint es wichtig zu sein, diese Sterotype auf keinem Fall in Frage zu stellen, um sie in der Auseinandersetzung mit einem der Nachbarn verwenden zu können. Kollektive beziehungsweise kulturelle Identität stellt keine vorhistorische oder essentialistische Entität dar, sondern wird erst über die Artikulation von kulturellen Differenzen diskursiv generiert. 21 Achim Trunk hat in seiner Studie zur europäischen Identität erläutert, dass die unterschiedlichen kollektiven Identitäten gleichzeitig neben- oder miteinander existieren können. 22 Sie können auch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Identität beruht auf der Wahrnehmung von Differenz, was dazu führen kann, dass die unerwünschten Eigenschaften aus dem Selbstbild abgespalten und auf fremde Metagruppen projiziert werden können. Es besteht also eine enge wechselseitige Beziehung zwischen negativen und positiven Differenzen. Die vier Modi der Abgrenzungen von anderen Metagruppen sind laut Trunk: der identifizierende Modus, bei dem sich die Mitglieder einer Metagruppe mit einer anderen Metagruppe eng verbunden fühlen; der kooperative Modus, bei dem die Angehörigen einer Metagruppe die fremde Metagruppe als Partner betrachten und in einem Kooperationsverhältnis stehen; der konkurrierende Modus, bei dem die fremden Metagruppen als Konkurrent, also als Gegner in einem Wettbewerb angesehen wird; und der antagonistische Modus, in dessen Zentrum die Perzeption eines unüberbückbaren, zum Konflikt führenden Gegensatzes steht. 23 Unter den vier Modi negativer Identitätsformierung scheint vor allem der vierte Modus in besonderem Maße identitätsstiftendes Potenzial aufzuweisen, da er klare Abgrenzungen liefert. Der kooperierende Modus hingegen scheint weniger prägend zu sein. Die Polarisierung zwischen Balkan und Europa und vice versa weist aber auch auf eine Tradition hin, die besonders seit dem 19. Jahrhundert in Europa beobachtet werden kann. Sie besagt, dass die Welt in so genannte Kulturkreisen und Nationalstaaten aufgeteilt ist. Die kulturelle Formung von Räumen beziehungsweise die Verbindung von Kultur und Raum stellt zum Teil eine problematische Verbindung dar, läuft man durch raumzentrierte Wirklichkeitsdarstellungen doch Gefahr, die Kultur zu essentialisieren. Hinter der Vorstellung des Kulturkreises steckt mehr als die Vorstellung einer einheitlichen Nationalkultur. Es handelt sich vorwiegend um eine Art Wertegemeinschaft, die über nationale Grenzen hinausgeht. Gerade die Polarisierung zwischen Balkan und Zentraleuropa (als zwei verschiedene, Orient und Okzident symbolisierende Kulturkreise), die im Prozess der Desintegration Jugoslawiens eine wichtige Rolle gespielt hat, legt Zeugnis ab über die weltweit zu beobachtende Politisierung der kulturellen 21 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London - New York 1994. 22 Vgl. Achim Trunk: Europa, ein Ausweg, Politische Eliten und europäische Identität in den 1950er Jahren, München 2007. 23 Ebenda, S. 45. Umbrüche und Identitätskrisen 209 Unterschiede nach 1989. Eine wieder aktuell gewordene Territorialisierung und Naturalisierung der Kultur zeigt, wie die Kultur (aufgefasst als kollektives Individuum) der politischen Legitimation als Grundlage dient. Die Gesellschaften sind spezifische Kulturkreise geworden, und die Kultur wird in die sogenannten Identitätskämpfe hineingezogen. Die kulturellen Unterschiede sind ein entscheidender Faktor bei der Formung politisch relevanter Identitäten geworden. Zum einem wird heutzutage den einzelnen Nationen eine besondere Rolle im Diskursfeld „Europa“ als zu bewahrende Kulturräume zugesprochen, zu anderem bekräftigt diese Politik ein wie schon erwähnt problematisches Kulturkonzept, nach welchem die unterschiedlichen Lebensformen für das einzelne Kollektiv oder für das Individuum nicht kombinierbar oder austauschbar sind. Kultur im Kontext von Macht und Herrschaft spielt gerade bei neotraditionalistischen Formen kollektiver Identitätsbestimmung eine wichtige Rolle. Die Wiederentdeckung und -aneignung einer authentischen oder verloren gegangenen Kultur wird oft als politische Legitimation mit anderen Interessen rechtfertigt. Alain Tourain hat davor gewarnt, dass die moderne Welt mehr radikalen Konflikten ausgesetzt sei als die des Industriezeitalters. 24 Die identitären und kulturellen Konflikte sind nicht so verhandlungsfähig, wie es die Interessenkonflikte waren. In Konflikten werden heutzutage nicht nur soziale Akteure einander entgegengesetzt, sondern Kulturen, die als unvergleichbare Identitäten eines Kollektivs verstanden werden. Die negativen Erzählungen, die den Balkan und Europa thematisieren, werden beiderseits nach den Regeln der imaginären Geographie als Handwerk für die Dramatisierung der Differenzen gegenüber dem Anderen eingesetzt. Inzwischen scheint sich Südosteuropa langsam auf dem Weg zur europäischen „Normalität“ zu befinden, aber die Verbindung von Kultur im normativen Sinne und ethnischer Herkunft bleibt immer noch ein europäisches Problem mit einem großen Konfliktpotential. 24 Vgl. Srdjan Vrcan: Kultura kao društveno opasan pojam. In: Re : 61 (2001), H. 7, S. 111. N ICOLE K ANDIOLER (W IEN ) Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno Narrative der Heterosexualität im tschechischen Spielfilm vor und nach 1989 1 Die Gegenüberstellung von Sex in Brno (tschechisch Nuda v Brne ) von Vladimír Morávek und Die Lieben einer Blondine (tschechisch Lásky jedné plavovlásky) von Miloš Forman fokussiert die Frage, wie diese beiden Filme Heterosexualität erzählen und was sie über die Inszenierung von Geschlechter- verhältnissen im postsozialistischen Tschechien 2003 (Sex in Brno) und in der wenige Jahre vor dem Prager Frühling stehenden Tschechoslowakei 1965 (Die Lieben einer Blondine) vermuten lassen. Abgesehen von der Zeit, die zwischen den Filmen steht, ist davon auszugehen, dass der Regimewechsels 1990 und die mit ihm einhergehenden gesellschaftspolitischen Veränderungen auf dem ehemaligen Gebiet der tschechoslowakischen Republik eine Transformation von heterosexuellen Narrativen mit sich gebracht haben, die den Fokus der vorliegenden Filmanalysen bildet. Der Vergleich von zwei Filmen bringt es mit sich, dass die jeweilige Ab- und Anwesenbzw. die Verschiedenheit von Signifikanten Bedeutungen schaffen, die sich erst aus der Differenz der Signifikanten ergeben. Bedeutungen also, die erst aus dem Dialog der Filme erstehen, die der Dialog der Filme gleichsam generiert. Man könnte hier von verschiedenen semiotischen Codes sprechen, die appliziert werden und nicht nur kulturelle, soziale und politische Konnotationen haben, sondern auch ästhetische. Zwei Filme miteinander zu vergleichen, ist dann sinnvoll, wenn eine Frage, ein Themenkomplex vor anderen beleuchtet werden soll. Es ist nicht mein Anliegen, die Komplexität der beiden Filme zu schmälern, indem ich sie gegen einander ausspiele. Der Vergleich soll sie vielmehr in eine dialogische Situation bringen, in der die Intervisualität, das Zitieren von Motiven, Bildern, das Kommunizieren der Narrative produktiv gemacht werden und für das Verstehen heteronormativer Strukturen im Film zum Einsatz kommen können. 1 Der vorliegende Text ist Teil eines Dissertationsprojekts, das sich im Spannungsfeld Film und zentraleuropäische Identität bewegt. Arbeitstitel: Grenzauflösung und Identitätsverlust. Narrative von Nation und Geschlecht in exemplarischen polnischen, tschechischen und österreichischen Spielfilmdialogen. Nicole Kandioler 212 Die tschechische Filmkritik hat Vladimír Morávek euphorisch als einen Erben der Nová Vlna 2 rezipiert. Tatsächlich finden sich trotz unterschiedlich konzipierter Plots zahlreiche inhaltliche, semantische und audiovisuelle Zitate von Die Lieben einer Blondine im Film Moráveks. Die unmittelbare Bezugnahme der Filmkritik auf den Film Formans und die nostalgische Bezeichnung Moráveks als Erbe der Nová Vlna verweist auf eine scheinbare Kontinuität im tschechischen Film, die vierzig Jahre Realgeschichte gleichermaßen aushebelt. Dieser Beitrag möchte zum einen in Form dreier vergleichender Sequenzanalysen der beiden Filme diese scheinbare Kontinuität, die keine ist und keine sein kann, untersuchen und eventuelle Brüche und Verschiebungen in der Darstellung und „Herstellung“ von Heterosexualität aufzeigen. Zum anderen sollen die für die filmische Konstruktion der geschlechtlichen Identitäten relevanten Kategorien von Zentrum und Peripherie ebenso wie gesellschaftspolitische Transformationen im osteuropäischen Raum in die Analyse der Filme miteinbezogen werden. Meine Argumentation geht von der Prämisse aus, dass Identitäten als narrative Konstrukte gedacht werden sollten, die in engem Zusammenhang mit der Erzählung von Kultur und damit von dominierender Norm stehen. Wolfgang Müller-Funk beschreibt Kulturen als „Ensembles von Narrativen“ 3 . Kulturen konstituieren sich über narrative Strukturen und diese „sind durch Formen der Medialisierung in den Kulturen präsent und stehen als Repräsentationen zur Verfügung“ 4 . Sie benötigen die Formen der Medialisierung sogar insofern, so Müller-Funk, als sie bestimmter Rhetoriken des Erzählens und bestimmter Techniken ihrer Speicherung und Abrufbarkeit bedürfen. Der narrative Film als eine Form der Medialisierung eignet sich wie kaum ein anderes Medium dazu, die Erzählung von Kultur als “whole way of life“ (T.S. Eliot, Raymond Williams) zu erzählen. Für die Analyse dieser Narrative beziehe ich mich nicht auf ein poetologisches Verständnis des Narrativs als diachrone Entfaltung einer von Figuren getragenen Handlung. Vielmehr orientiere ich mich an einem - an Lévi Strauss´ Konzept des Mythème angelehnten - Verständnis des Narrativs als paradigmatische Verbreitung semantischer Makroeinheiten. 5 Die Verbreitung und Funktion 2 Vor allem atmosphärisch und hinsichtlich des Humors der frühen Forman- oder auch Menzel-Filme schließe der Film Vladimír Moráveks an die Nová Vlna an, aber auch die beschränkten Produktionsmittel und die radikalen ästhetischen Entscheidungen erinnern an die tschechoslowakischen Filme der 1960er Jahre. 3 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien 2008, S. 171. 4 Ebenda. 5 Vgl. Claude Lévi-Strauss : Anthropologie structurale, Paris 1958, S. 241-246; Teresa De Lauretis: Alice doesn´t. Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington 1982, S. 104. Das Mythème (in Anlehnung an Phonem, Morphem, Semem) hat bei Lévi- Strauss strukturelle, konstitutive Bedeutung in Bezug auf den Mythos. Der Mythos, ein Sprachgebilde, besteht aus kombinierten, gebündelten semantischen Ein- Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno 213 eines solchen Narrativs wird dann sichtbar, wenn ein Paradigmenwechsel eintritt. Erst dann wird kenntlich, dass das Narrativ identitätsstiftende Funktion hat. Es geht mir nicht um eine Destillierung geschlechtlicher oder nationaler Identitäten aus dem Geflecht der filmischen Narration. Rückschlüsse auf die realen gesellschaftlichen Kontexte erlauben diese Narrative nur bedingt. Am ehesten versuche ich, mittels des Sequenzvergleichs in die filmischen Herstellungsweisen dieser Identitäten zu intervenieren 6 und ihre semiotischen Codes zu dechiffrieren. Die beiden s/ w-Filme erzählen die Geschichte einer Initiation, wobei in Die Lieben einer Blondine ein Paar und in Sex in Brno mehrere Paare im Zentrum der Narration stehen. Der Film Formans ist im Genre der Tragikomödie angesiedelt, die Darsteller und Darstellerinnen sind zu einem großen Teil Laien. 7 Der Film Moráveks gehört dem Genre der (romantischen) Komödie an, im Presseheft wird er „mit Augenzwinkern als optimistische Tragikomödie“ angekündigt. 8 Das Drehbuch, das Vladimír Moràvek gemeinsam mit dem Hauptdarsteller Jan Budar verfasst hat, beruht auf der Erzählung „Standa debütiert“ von Pavel Bedúra. Die Kernbesetzung von Sex in Brno setzt sich großteils aus Theaterschauspielern und -schauspielerinnen des Klipcera Theaters in Hradec Králové in Nordost-Böhmen zusammen, dessen Intendant Morávek ist. Die Lieben einer Blondine spielt zu einem großen Teil in der ca. 60 km von Prag entfernten Kleinstadt Zru . Dort lebt Andula, titelgebende Blondine, und erlebt Leid und Lust/ Frust erster amouröser Abenteuer mit dem anderen Geschlecht. Andulas Alltag ist von der Arbeit in der ortsansässigen Schuhfabrik, dem Internatsleben mit den anderen Mädchen und den geheimen und halboffiziellen Rendez-vous mit ihren Liebhabern geprägt. Die Begegnung mit dem Pianisten aus der Hauptstadt, Milda, wird jedoch alles andere in den Schatten stellen. Beim Ball mit den Reservisten aus dem Nebenort, wo Milda auftritt, lernen die beiden sich kennen und verbringen eine Liebesnacht miteinander, die nicht ohne Folgen bleibt. Schwanger ist Andula zwar nicht, aber ernsthaft verliebt! Und so macht sie sich auf den Weg nach Prag und steht eines Abends sehr zur Verwunderung von Mildas Eltern in der elterlichen Wohnung, wo sie, bang auf Milda wartend und von der Mutter missgünstig beäugt, die Nacht verbringen wird. Sex in Brno - der Originaltitel bedeutet übersetzt übrigens ‚Langeweile in Brünn’ - privilegiert vor einer Protagonistin einen Schauplatz: Brünn ist hier mehr als eine Kulisse, Brünn ist ein Lebensstil. In einer Nacht in Brünn spielt heiten, den Mythèmes, die seine Grundlage bilden. Erst die Relationen unter den Mythèmes ergeben in ihrer Bündelung die Bedeutung des Mythos. 6 Vgl. Andrea B. Braidt: Film-Genus, Marburg 2008, S. 67. 7 Professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen sind u.a. Vladimír Pucholt, Hana Brejchová, Vladimír Menšík. Über die Zusammenarbeit mit Laien und professionellen Darstellern und Darstellerinnen, siehe Miloš Forman: Novák, Jan: Rückblende. Erinnerungen, München 1994, S. 193ff. 8 Vgl. http: / / verleih.polyfilm.at/ sex_in_brno/ PHSexInBrno.pdf, 1.4.2010. Nicole Kandioler 214 der Film, eine Nacht, die einen Wendepunkt im Leben der Protagonisten und Protagonistinnen darstellt und die andererseits auch nicht anders ist als eine Nacht wie tausend andere Nächte davor oder danach. Die Nacht der Nächte soll es aber für Olinka und Standa werden, die sich vor einem Jahr bei einem Sportfest kennen gelernt haben und sich seither Briefe schreiben. Olinka plant gemeinsam mit ihren Freundinnen diese erste Liebesnacht, sie erfährt von jeder etwas anderes: wie sie sich am besten beim Liebesakt verhalten soll, worauf sie bei der Verführung Standas achten muss oder aber was der optimale Soundtrack für das Ereignis ist. Auch andere Paare finden in dieser Nacht in Brünn zu- oder auch gleich wieder auseinander. Obwohl sie auf die Diegese von Sex in Brno keinen oder nur geringen Einfluss nimmt, ist doch die Tatsache, dass der Protagonist und die Protagonistin des Films als Menschen mit mentaler Behinderung dargestellt werden, für die Gegenüberstellung der beiden Filme von zentraler Bedeutung. Im Presseheft erzählt Vladimír Morávek, dass die beiden Figuren ursprünglich nicht als Menschen mit Behinderung konzipiert waren. Aufgrund einer Begegnung mit einem jungen Mann in Karlsbad, der „geradezu [als] der Prototyp von Standa“ erschien, „ungeschickt, aber in gewissem Sinne auch frech und ungelenk“, 9 entschloss sich das Filmteam dazu, die Hauptfiguren, ohne dass im Film ein Wort darüber fiele, als Menschen mit Behinderung darzustellen. Auf die Implikationen dieser „Entscheidung“ in Bezug auf die Darstellung stereotyper Vorstellungen heterosexueller Romantik, werde ich noch zurückkommen. Im Folgenden sollen drei Sequenzen von Die Lieben eine Blondine und Sex in Brno jeweils verglichen und zueinander in Bezug gesetzt werden. Ziel des Vergleiches ist es, zu zeigen, wie sich beide Filme zentraler Narrative von Zentrum und Peripherie und gesellschaftspolitischer Transformationen auf der Folie von Heteronormativität bedienen. Flüsternde Mädchen: Nähe und Distanz über das Foto In beiden Filmen findet sich eine Szene von Intimität und Vertrautheit zwischen zwei Freundinnen: Zu sehen ist die Protagonistin mit einer Freundin im Bett, heimelige Stimmung. Es wird geflüstert, in einem Fall, weil die anderen Internatsbewohnerinnen schon schlafen, im anderen Fall, damit der neugierig und misstrauisch vor der Tür auf und ab schleichende Liebhaber der Freundin nicht hört, was gesagt wird. In Die Lieben einer Blondine werden erste amouröse Erlebnisse und Fantasien erzählt, in Sex in Brno erhält die Protagonistin eine Anleitung, wie sie sich in der ersten Liebesnacht mit Standa verhalten soll. Es handelt sich bei dieser Szene der flüsternden Mädchen um das augenscheinlichste audiovisuelle Zitat des Forman-Films. 10 Während 9 Vgl. http: / / verleih.polyfilm.at/ sex_in_brno/ PHSexInBrno.pdf, 1.4.2010. 10 In Lásky jedné plavovlásky hat die Szene die Funktion eines Leitmotivs und kommt wiederholt vor. Die Erlebnisse Andulas werden immer wieder mit ihrer Erzählung darüber kontrastiert. Die „flüsternden Mädchen“ als Motiv kommen übrigens Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno 215 das Flüstern in Die Lieben einer Blondine noch stärker ein mädchenhaftes, verhalten kokettes ist, hat es in Sex in Brno eher ausschließende Funktion. Eine besondere Rolle kommt in dieser Szene einem Foto zu, das in Die Lieben einer Blondine als trennendes und in Sex in Brno als verbindendes Moment gelesen werden kann. In Die Lieben einer Blondine berichtet Andula von ihrer neuesten Eroberung und zeigt das Bild des Auserwählten und den Ring, den er ihr geschenkt hat. Es geht darum, sich vor der anderen zu profilieren, die „Erwachsenere“ zu sein, Teil von etwas zu sein, an dem alle teilhaben wollen. Das Bild des jungen Mannes repräsentiert das Ziel, das beide Mädchen zu erreichen suchen, das gemeinsam Begehrte, das sie gleichzeitig aber auch trennt und zu Konkurrentinnen in einem umfassenderen Spiel macht. In der zitierten Szene in Sex in Brno ist die Stimmung ebenso intim, jedoch weniger feierlich. Man hält sich nicht mehr lange mit Fotos und Ringen des Auserwählten auf, man spricht und berät sich über „das erste Mal“. Der bei dieser nüchternen und nicht zimperlichen Anleitung zur Sache überflüssige Liebhaber der älteren Freundin wird kurzerhand des Zimmers verwiesen, als er den geflüsterten Geheimnissen auf den Grund kommen will. Nicht ehrfürchtig und naiv wird hier die Initiation (geradezu ein rite de passage) vorbereitet, sondern selbstbewusst und abgeklärt. Das Foto des begehrten Objekts in Die Lieben einer Blondine ist in Sex in Brno dem Fotocover eines Bildbandes von Helmut Newton gewichen, auf dem zwei Frauen sich einander mit nackten Oberkörpern zugewandt berühren. Als Spiegel der Schauspielerinnen weist das Foto auf ein potentiell homoerotisches Moment im Gespräch zwischen den beiden Frauen hin. Ihre Verbundenheit wird durch die schroffe Abweisung des Liebhabers noch betont. 11 Die in beiden Sequenzen ironisch inszenierte Abbzw. Anwesenheit des Mannes weist auf einen Paradigmenwechsel in den Geschlechterverhältnissen hin: Der abwesende idealisierte Held von 1965 ist 2003 dem manipulierbaren, etwas lästigen Nebendarsteller gewichen. auch in einem der bekanntesten Filme der Nová Vlna, den Tausendschönchen von Ve¨ ra Chytilová (tsch. Sedmikrásky, 1966) vor. Auch hier oszilliert das Motiv der flüsternden Mädchen zwischen romantisch verklärter Schüchternheit und der angedeuteten lesbisch-subversiven Intimität der Beziehung. 11 Helmut Newtons Coverbild könnte an dieser Stelle ebenso gut als normative Vorlage gelesen werden. Insofern nämlich als der lesbische Flirt nichts anderes als ein (relativ klassisches) Mittel zum Zweck der Verführung des begehrten männlichen Objektes sein könnte. Das Newton-Bild würde in diesem Fall eher die Funktion einer Kopiervorlage stereotyp(isiert)er (westlicher! ) Geschlechterbilder haben und nicht so sehr als verbindendes Moment zwischen den beiden Frauen gelesen werden können. Mit der Semantik homosexueller bzw. -sozialer Figurationen befasse ich mich ausführlicher in meiner Dissertation. Ich danke Gerald Lind für seine aufschlussreiche Lektüre dieser Szene. Nicole Kandioler 216 In beiden Filmen werden Narrative der Initiation in Szene gesetzt, die, insofern sie von einer heterosexuellen Matrix ausgehen, natürlich eine Initiation in die Heterosexualität meinen. Während im Film Formans die Initiation vor dem Hintergrund einer verschlafenen kommunistischen Dorfgemeinschaft und einer als Fluchtpunkt imaginierten Großstadt stattfindet, haben sich Zentrum und Peripherie bei Morávek zunächst einmal geographisch verschoben. Nach der Wende ist Brünn von der regionalen Provinzstadt (in Zeiten des Kommunismus galt es allemal als Station zwischen Prag und Pressburg) wieder zur europäischen Kulturstadt aufgestiegen. Dennoch liegt es im internationalen und westlich orientierten Mental Mapping an der europäischen Peripherie. Diese Situation einer Stadt, die zwischen vergangenem Ruhm und Provinzialität schwankt, reflektiert Sex in Brno auch durch die Ausstattung bzw. den Soundtrack des Films. Einerseits haben wir es mit knalligen Interieurs, ausgesucht originellen Outfits zu tun, andererseits mit einem tschecho-tschechischen Soundtrack der 1960er Jahre. 12 Auch auf einer sozialen Ebene hat eine Verschiebung stattgefunden, die, wie ich meine, ebenfalls mit dem Begriffspaar von Zentrum und Peripherie gefasst werden kann. Wenngleich Die Lieben einer Blondine in der geographischen und politischen Peripherie angesiedelt ist, so positioniert sich der Film doch sozial im Zentrum der Norm. Der beherzt-engagierte Fabriksleiter möchte „seinen Mädchen“ dazu verhelfen, ein bisschen Licht in ihren grauen Fabriksalltag zu bringen. Also werden die Soldaten der benachbarten Garnison eingeladen. Es versteht sich von selbst, dass alle Beteiligten von dieser Einladung begeistert sind. Sex in Brno entscheidet sich hingegen für die Fokussierung des Randes, der Minderheit. Das Liebespaar in Sex in Brno besteht eben nicht aus den sprichwörtlichen „ganz normalen“ Jugendlichen von nebenan. 13 Die Familien und die Freunde des Paares blenden die Tatsache 12 Insbesondere die unkonventionelle FreundInnen-Familie der Protagonistin erinnert mitunter an Figuren aus Filmen von Pedro Almodóvar. 13 In meiner Dissertation untersuche ich, wie sich durch politische und gesellschaftliche Veränderungen des zentral- und osteuropäischen Raumes die subjektive und im Film reflektierte Wahrnehmung urbaner, virtueller, aber auch körperlicher Räume verändert hat. Der Frage, inwiefern die Wahl Moráveks, die Protagoni- Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno 217 der Behinderung weitgehend aus. (Heterosexuelle) Liebe und (heterosexuelles) Begehren werden als universell, als mentale und soziale Unterschiede überschreitend angenommen. Die Handlungen und Reaktionen des Umfelds entsprechen also exakt dem Erwarteten. Nicht so die Handlungen und Reaktionen des Liebespaars. Standa und Olinka handeln nicht nach ihrem Instinkt, nicht nach einem Trieb, sie imitieren vielmehr, was ihnen von ihrem Umfeld vermittelt wird. Diese Identifizierung durch Mimesis unterläuft aber gerade die Annahme, dass Heterosexualität „das Natürlichste der Welt“ sei, bzw. sich von selbst versteht. Es lässt sich also ein Verfremdungseffekt im Brecht’schen Sinne feststellen, der auf eine Sichtbarmachung der Konstruktivität heterosexueller Verhaltensweisen und -normen abzielt. Erziehung von Mädchen in Böhmen 14 - die Lehrerin Der Szenenkomplex zwei, benannt nach der 1994 erschienenen Novelle des tschechischen Bestseller-Autors Michal Viewegh, dessen Bücher in den letzten Jahren mehrfach als Grundlagen erfolgreicher Spielfilme 15 fungiert haben, stellt der namenlosen Genossin Erzieherin aus Die Lieben einer Blondine die Psychologin Vlasta Kulková aus Sex in Brno gegenüber, die sich ihren Lebensunterhalt durch Vorträge an der Volkshochschule verdient. Während die Genossin Erzieherin die Internatszöglinge über die „Ehre der jungen Mädchen“ „aufklärt“, appelliert die Psychologin an die Frauen, sich darüber klar zu werden, worum es eigentlich geht: um die männlichen Geschlechtsorgane. Die namenlose Erzieherin verkörpert kompromiss- und humorlos die Prüderie und Bigotterie des Systems, 16 die darin gipfelt, dass über ihre Empfehlung, sich zu bessern, im Plenum der Internatszöglinge abgestimmt wird. Als könnte sich eines der Mädchen frei dafür entscheiden, „schlecht“ bleiben zu wollen. Als stünde die freie, willentliche Entscheidung zur oder gegen die Besserung über der Autorität der „Genossin“ Erzieherin. Die Psychologin Vlasta Kulková gehört ihrerseits aufgrund ihrer Bildung und ihres gesellschaftlichen Umfelds der Generation befreiter Frauen an. Aufgeklärt und selbstbewusst spricht sie über Frauen und Männer. Darüber, wie frau mit einem Mann glücklich wird. Ihre Expertise lockt allerdings kaum ein Dutzend Frauen in den Hörsaal. Und auch der Ausschnitt aus ihrem Leben in Sex in Brno zeigt vielmehr eine in Konventionen gefangene als davon „befreite“ Frau. stInnen des Films als Menschen mit mentaler Behinderung darzustellen, als eine Reaktion auf Globalisierung und wirtschaftlichen Liberalismus zu lesen ist, wird in meiner Dissertation nachgegangen. 14 Deutscher Titel des 1999 in deutscher Sprache erschienen Skandalromans von Michal Viewegh: Výchova dívek v e chách, Petrov 1994. 15 Zum Beispiel: Výchova dívek v C echách (Petr Koliha, 1997), Báje c ná léta pod psa (Petr Nikolaev, 1997), Román pro z eny (Filip Ren , 2005). 16 Dieses war auch ein Moralregime. Nicole Kandioler 218 Die Lieben einer Blondine sowie Sex in Brno bedienen hier das sehr produktive und sehr komplexe Stereotyp der mehr oder weniger emanzipierten, mehr oder weniger tugendhaften, mehr oder weniger unerotischen und vor allem traurigen Gestalt der „Lehrerin“. Auch motivgeschichtlich handelt es sich bei der Figur der Lehrerin um eine symbolisch stark aufgeladene Figur. Die Genossin Erzieherin mag von der Ehre jungfräulicher Mädchen und die selbstständige Psychologin Vlasta Kulková von der Selbstverwirklichung moderner Frauen predigen, semantisch bewegen sie sich in ein und demselben Bedeutungsrahmen. Es würde allerdings zu kurz greifen, in den beiden Figuren lediglich stereotype Darstellungen von Frauen in verschiedenen historischen Kontexten zu lesen. Bei Forman ist die Genossin Erzieherin ja vor allem als ein Teil und auch als Auswuchs einer totalitären Ideologie zu begreifen, die es durch die ironische Inszenierung dieser absurden Szene auch zu subvertieren gilt. Ich würde also meinen, dass in diesem Fall die undifferenzierte Darstellung der Genossin Erzieherin auch als widerständige Praxis in Bezug auf das System gelesen werden muss. In Sex in Brno wiederum ist Vlasta Kulková nicht die einzige „traurige Gestalt“: Das Festhalten an den Konventionen ihrer Männlich- und Weiblichkeiten hat sich geschlechtsunabhängig für die Figuren als leerer Wahn erwiesen. Obwohl sie ganz genau zu wissen meinen, wie sie sich verhalten sollten, was es für sie bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein, gelingt es ihnen nicht so recht, glücklich zu sein. Die stereotype Darstellung dieser Figuren kann also auch als Kritik an Heteronormativität gelesen werden. Vlasta Kulkovás frustriertes Liebesleben wird in der Szene deutlich, als ihre wortstark proklamierte Freizügigkeit bei ihrem Liebhaber zu zeitweiliger sexueller Impotenz führt. Honza, der heterosexuelle Macho wiederum, der mit seinem besten Freund von Kneipe zu Kneipe zieht, ist von den Frauen besessen und spricht unablässig über seine potentiellen Eroberungen. Allerdings hat er kategorisch keinen Erfolg bei den Frauen und muss sich letztlich eingestehen, dass er sich in seinen besten Freund verliebt hat. Dem Frau- und dem Mann-Sein, wie es von Normen und Konventionen überformt ist, scheint konstitutiv auch der Bruch mit der Inszenierung dieser Normen und Konventionen zugrunde zu liegen. Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno 219 Familien und Idyllen: Narrative familiärer Autorität Aus dem dritten Szenenkomplex habe ich zwei einander ebenfalls formal und semantisch stark ähnelnde Szenen ausgewählt, die auf jeweils unterschiedliche Art und Weise familiäre Strukturen in Szene setzen. In beiden Filmen taucht einmal nach und einmal vor der Peripetie der Handlung - die Liebesnacht als „Höhepunkt“ der Initiation - eine Situation der Legitimierung auf. In Die Lieben einer Blondine begibt sich Andula nach Prag, um dem Angebeteten nahe zu sein und trifft in der elterlichen Wohnung Mildas Eltern. In Sex in Brno wird der potentielle Liebhaber, Standa, kurz vor dem großen Akt noch einmal bei den FreundInnen Olinkas vorstellig. Während die Eltern (vor allem die Mutter Mildas) sich nicht genug darüber wundern können, dass ein fremdes Mädchen aus Zru mit Koffer und ohne Plan die Nacht in ihrer Wohnung und mit ihrem Sohn verbringen wollte, erkundigen die FreundInnen Olinkas sich lediglich lapidar, wo der gutaussehende Bruder von Standa die Nacht zu verbringen gedenke. Letztlich wird die schlagfertige Jitka Standas Bruder verführen und auf diese Weise Teil des Reigens der Paare werden, die in dieser Nacht in Brünn zusammen sind. Narrative familiärer Autorität und deren Unterwanderung bilden den Subtext dieser beiden Szenen. Während in Formans Film die familiären Strukturen klar an jene einer Kleinbürgerfamilie gebunden sind, scheint Morávek durch den Akt des Zitats eine Verschiebung familiärer und freundschaftlicher Strukturen andeuten zu wollen. Die Legitimierung der Wahl des Sexualpartners erfolgt nicht mehr durch die elterliche Autorität - die wird in Sex in Brno durch Schlafmittel ruhig gestellt - sondern durch eine Art freundschaftliches Ritual, in dem die traditionelle Rolle der Eltern gleichzeitig imitiert, persifliert und neu interpretiert wird. Eine Hommage an das Leben nannte die zeitgenössische Filmkritik Miloš Formans Film Die Lieben einer Blondine. Es wäre noch treffender, von einer Hommage an die Heterosexualität zu sprechen. Der Film Vladimír Moráveks Sex in Brno wiederum, und das sollte der vorliegende Beitrag zeigen, kann als eine Hommage an heterosexuelle Praktiken, aber auch als eine subtile (oder unbeabsichtigte) Kritik an Heteronormativität gelesen werden. Die Erzählung der „uralten Geschichte eines Mannes und einer Frau“ (des Natürlichsten auf der Welt) im Kontext zweier außerhalb der Norm angesiedelter Nicole Kandioler 220 Individuen lässt sich als Dekonstruktion heteronormativer Romantikvorstellungen lesen und ermöglicht einen differenzierteren Blick auf die Thematik von Sexualität und Gesellschaft. Was Vladimír Morávek als individuelle künstlerische Entscheidung darstellt, könnte auch als eine durch die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse aufgekommene Notwendigkeit gedeutet werden. Vielleicht ist es nach Jahrzehnten feministischer Kritik nicht mehr möglich, die „boy meets girl“ Geschichte mit unveränderten Narrativen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu erzählen. Denn auf der Ebene gesellschaftspolitischer Transformationen ist es eben jener Paradigmenwechsel, mit dem die Entwicklung und die Differenzierung der Kategorie „Geschlecht“ einhergeht, der die scheinbare Kontinuität zwischen Die Lieben einer Blondine und Sex in Brno unterbricht und der die Erzählungen von Heterosexualität als identitätsstiftende Narrative kenntlich macht. Ruth Wodak (L ANCASTER ) Multilingualism and the Discursive Construction of Transnational European Identities Who and what is “Europe”? 1 In this chapter, I seek to identify and analyze processes of identity construction within Europe and at its boundaries, while focusing primarily on the many (also contradictory) functions of multilingualism for processes of identification 2 : This will be attempted firstly by studying focus groups with migrants entering the “Fortress Europe”; secondly, by presenting some opinions of Members of the European Parlaiment on multilingual practices which they daily encounter, and thirdly, by investigating new forms of citizenship and language tests in EU countries. I will mainly be concerned with the following guiding questions and related assumptions: • How are European processes of identity construction linked to multilingualism? Is multilingualism an essential part of Europe’s “diversity“? (How should we assess widely held beliefs about a generalised “necessitated” convergence towards a sole lingua franca (ELF))? • Do patterns of linguistic change have an impact on the efficiency and fairness of different forms of multilingual communication? Who is included and who is excluded through language and where, how and why does this occur? Although the genres mentioned above are all characterized by precise linguistic features and possess distinct textual functions, they are - and this is one of my central claims throughout this chapter - linked with each other through specific arguments, topics and topoi which are recontextualized from one public sphere to the other; they change and adopt meanings, lose functions and claim new ones, and together discursively construct several European public spaces for debates on the salience of multilingualism. 3 This is what is meant by “doing Europe“: the on-going negotiation of meanings of Europe and its language policies in many different public spheres in a range of genres, and in many languages. First, I focus on some theoretical approaches necessary to analyze the complexity of multilingualism in Europe while drawing on my Discourse- Historical Approach in Critical Discourse Analysis which is elaborated elsewhere in detail, 4 Pierre Bourdieu’s concept of the “linguistic market“ 5 and theories on the discursive construction of transnational identities and on “inclusion and exclusion”. Second, I summarize some methodological con- Ruth Wodak 222 siderations for the analysis of debates on multilingualism, and then proceed to the three case studies mentioned above. Finally, in my conclusions, I discuss the many arguments on the salience and changing values of multilingualism illustrated throughout this chapter. Theoretical Framework: Identity Politics and Language Policies - a critical approach to the study of “multilingualism” The Construction of European Identities - a discourse-historical approach Europe consists of different historical traditions, different nation-states with their respective histories, different cultures, different languages, different political, national, regional and local interests and traditional ideologies, different interest lobbies, different economic concepts, different organizations etc. Among the 27 EU member states, some belong to the Schengen zone and to the Euro community, others do not; some have voted for certain treaties, others have not; some have colonial pasts, others do not; some have been among the losers of both world wars, others have not; and so forth. The central issues for politicians, who have been dealing with these aspects of European identity formation, involve the re-organization, the legitimization and the representation of this enlarged Europe. Thus, some “values” have to be established or newly created, which allows for a more explicit legitimization. Identities are defined and constructed mainly by their common pasts, presents and futures, by narratives and collective memories that are constantly reshaped and negotiated, as we have extensively shown elsewhere. 6 Hence, the official “Europe” has to find a “new narrative”, a new perspective or vision, perhaps some common ideologies, or even a utopia in which at least some European citizens would identify with and believe in. 7 My theoretical and methodological approach to the topic of “European Identities” is discourse-historical (see below). In the following, four claims serve to set out an interdisciplinary framework to investigate the discursive construction of European identities: • Firstly I claim that something like a single unified identity for Europe should not and cannot be hypostasized in advance. On the contrary, the primary concern is to investigate the formation of different constructions, representations and images of Europe in particular political, historical and cultural contexts. We all live with many different regional, local, national and European identities, which are constantly re-negotiated and co-constructed by different elites, social groups, and in everyday experiences. • Secondly, a context-dependent negotiation of identities has to be assumed and discursively co-constructed in interactions. In the context of the European Union, shifting borders, new/ old ideologies, languages and language conflicts, as well as new laws determine and restrict the possibilities of participation and access of EU citizens. Multilingualism 223 • Thirdly, I claim that the relationship between discourse, politics, and identity is characterized by new and frequently hybrid forms (see above). The processes of (economic) globalization on the one hand, and (social) fragmentation, on the other, are calling into question the established identities or identity constructions of groups, institutions, and states. New public spaces, media, and communication technologies have changed the basic rules for discourses. • Along the same lines, we observe the standardization of regulations, laws, scripts, pictograms and forms, of curricula and medical protocols, as well as of literature. On the other hand there is a growing awareness and appreciation within Europe of local cultures, languages, and products. For example, the focus on “diversity” is an expression of a new ideology, of a “multicultural society”. Policy-making processes in Europe as such (for example on asylum and citizenship policies) are increasingly dependent on the “central” institutions in Brussels and Strasbourg. However, the more the EU de-regulates in certain areas (e.g., free market policies), the more requirements for regulation are present in other areas (e.g., financial, monetary policies); not to mention the fact, that even de-regulation processes have to be regulated. Furthermore, the present discourses on Europe consist, as a rule, of the interplay between three respective goals and dimensions: a) Making sense of Europe (ideational dimension), b) Organizing Europe (organizational dimension), c) Drawing borders (geographical dimension). It is the interplay of these three dimensions that determines the specific form of debates on European identities, as well as of policy processes in many other areas. The first dimension refers to the idea of Europe, its essence, substance or meaning. The second dimension reflects the question of how Europe shall be organized and which institutional forms of decision-making and political framework are appropriate for the future. The third dimension concerns the question of border-construction: who is inside, who stays outside? With these three dimensions and goals, three forms of legitimizing the political construction of the EU (and its enlargement) are connected, which relate to specific topics and argumentation strategies (see below). a) legitimization through idea (identity, history, culture), b) legitimization through procedure 8 (participation, democracy, efficiency) c) Legitimization through “standardization” (of humanitarianism, of social standards, economic standards). These legitimization strategies touch on essential problems of political representation. I will specifically focus on “drawing borders” and “legitimization through standardization” in the following examples on different functions of multilingualism in the European Union. The Linguistic Market The second main influence on my theoretical framework on multilingualism studies in this chapter is the work of the French sociologist Pierre Bourdieu, and in particular his metaphoric use of the terms market and capital to de- Ruth Wodak 224 scribe elements of linguistic interactions. 9 Furthermore, there is an indirect influence arising from Bourdieu’s impact on CDA as a whole, particularly in the area of power relations. 10 In the following, I will briefly summarize Bourdieu’s metaphor and make a few observations about some of the other concepts he developed, such as habitus and symbolic violence. In Bourdieu’s view, a linguistic market exists “whenever someone produces an utterance for receivers capable of assessing it, evaluating it and setting a price on it” 11 . While the concrete elements are familiar from many sociolinguistic models (and might be called the “social-psychological dimension” in the discourse-historical approach), the abstract elements are more specific to Bourdieu’s analogy. The laws of price formation, and how these come into being, are particularly interesting and explored later in this section. The value of an utterance is always dependent on the immediate context. However, someone who is very competent at using a feature highly valued in that particular market could be said to hold capital in that market. 12 Bourdieu states that those who hold the most capital need only speak to receive linguistic profit, irrespective of what they say (ibid.). While this may be true in certain narrow contexts (his example is the liturgy in Catholic mass), and while there may be a general tendency for those with the most capital to have to worry less about what they say, perhaps Bourdieu exaggerates here. Particularly with respect to fields such as politics, where the topics of a text are frequently recontextualised, and any linguistic capital the speaker may have had is diminished. Bourdieu points out that “there is a very clear relation of dependence between the mechanisms of political domination and the mechanisms of linguistic price formation that characterise a given social situation” 13 . He uses Quebecois and French/ Arabic speakers in former French colonies as examples. In some cases, he writes, “linguistic struggles may not have obvious linguistic bases […] and yet involve interests as vital [… as] economic interests in the narrow sense” 14 . In other cases, particularly Quebec, it seems more the case that the opposite is true, and that the linguistic elements of a struggle are at the forefront; however, in other contexts Bourdieu’s conjecture seems reasonable. Capital, Bourdieu states, holds value only on a certain market, and mainly it is those who hold the most capital who also have the most control over the rules of price formation and even over the existence of the market itself. Bourdieu mentions Latin speakers who, at their time of writing, were seeking to preserve their market, and hence the value of their capital, by trying to create new consumers for their linguistic products through the means of Latin education in schools. If we compare this example with the position of Latin speakers in the Middle Ages in Europe, it is clear they once held far more valuable assets - their capital was such that they controlled the spread of learning and even of information itself. If we apply Bourdieu’s approach to our topic “multilingualism in the European Union“, it is obvious, that some languages have more prestige or capital than others (f. ex., English and French versus German or Lithuanian 15 ). This capital has developed historically and synchronically, depending Multilingualism 225 on the language ideologies connected to specific languages, 16 to the number of speakers, and to the prestige and position of the country where this language is spoken. However, the specific capital, of course, depends on the very unique interaction. Nevertheless, there is clearly a case to be made for the existence of more hegemonic and less hegemonic languages. Taking this argument further, we could even speak of a “hegemonic multilingualism” where only a few languages in the EU are regarded as salient such as English and French, and to a lesser extent German and Spanish. Multilingualism, language ideologies, and language planning The equal status of all national languages as official languages within the EU and, theoretically also as working languages has been repeatedly discussed since the founding treaties. In the same way, European multilingualism has been seen as an essential component in the future construction of a European identity/ European identities, and in the preservation of societal and individual multilingualism. At least the knowledge of three languages (trilingualism) has repeatedly been declared an essential component of European politics by various European authorities in declarations of political intent on matters of language, education and pedagogy (e.g. Article 2 of the European Cultural Convention of 19 th December 1954, “Recommendation 814 on Modern Languages in Europe” of the European Council on 5 th October 1977, the KSZE final document of 1 st August 1975) 17 . Finally, in the treaties of Maastricht and Amsterdam, the EU again committed itself to European multilingualism, which was echoed by the European Council of Ministers’ “Recommendation concernant les langues modernes 98/ 6”. Multilingualism in Europe is, however, seen by many as overly elaborate, cumbersome, and as a competitive disadvantage (especially in particular areas such as science), in comparison, for example, to the USA. 18 Demands have been repeatedly voiced for a common, dominant, European language, 19 or at least a single internal working language within the EU. International developments in language policy may support such demands, as there is meanwhile a tendency towards a never before experienced degree of hegemony. Such arguments are counterweighted by recent experiences of linguistic differentiation that have led to the emergence, so to speak, of “new” languages. What was unified under the umbrella of Serbo-Croat has now become Bosnian, Croatian and Serbian. To provide a factual grounding for our analysis, some language statistics are necessary. Worldwide there are between 2500-8000 languages; in Europe, only several hundred languages are spoken. 20 Haarmann 21 lists 76 autochthonous languages in Europe. Nevertheless, European languages belong to the most important languages in the world: 350 million people speak English, 250 million Spanish, 150 Russian, 100 German and 70 French (meanwhile over 1 billion speak Chinese (Mandarin and or Cantonese). About 1, 6 billion people speak English as second or foreign language, 50 Million German, 35 Million French, and 30 Million Spanish. 22 English is the language of bureaucracy in 60 states (French in 30, Spanish in 20, German in Ruth Wodak 226 8), English is the official language in 16 multinational organizations, and French is spoken in 12. From an economic perspective (languages spoken in the business world), English ranks first ahead of Japanese, Chinese and German. In the sciences, English is clearly leading with 90, 7% of publications in the Natural sciences written in English. 23 This implies a strong hegemony of a few languages, especially English, in our globalised world. This also implies that native speakers of English need to know very few foreign languages, if at all: 66% of the British speak only English! For some, these numbers might suggest the model of one lingua franca, namely English, as a kind of leading language for Europe: 47 % of all Europeans speak English, 32% German and 26% French as second language. 24 These numbers, however, illustrate that not everyone is prepared for English as lingua franca and that such a policy would create a further democratic deficit; a linguistic divide to match that of the digital divide. Moreover, these numbers do not include the migrants in European countries who speak many totally different languages. And of course all of these questions of language policy must also be seen in the context of EU-enlargement (in the years 2004, 2007), and thus the various issues cited are more acute now than ever before and are being discussed by an increasingly large segment of the public. For the purposes of this chapter, let me briefly review the concept of “language policies” which is clearly related to the status of multilingualism in any given society: Following Herbert Christ 25 , I view language policy as “every public influence on the communication radius of languages, the sum of those „top-down“ and „bottom-up“ political initiatives through which a particular language or languages is/ are supported in their public validity, their functionality and their dissemination. Like all policies it is subject to conflict and must regularly be re-ordered through constant discussion and debate”. 26 The so-called Leitsprachenmodell (the language of the majority or of the dominant group should serve all communicative purposes) contradicts official proposals on diversity, intercultural communication and integration. Such a model, of course, also contradicts European language policies, which emphasize multilingualism, equality of languages and diversity. As Michael Clyne states, “European integration was never intended to mean homogenization. One of its aims has always been unity within diversity and this should be one of its contributions to the world.” 27 It is certainly important to know the language of the majority or the context in which it is used; what is problematic from the perspective of diversity and integration is that the dominant language comes to be viewed as the only relevant language. Acquiring an hegemonic status and competence in this language is made compulsory for success (see section on Bourdieu above and implications for migrants below). The “gatekeepers”, so to speak, request the national language; and the language issue, as has been proved in multiple studies on migration in EU countries, is the one of most salient factors for migrants in respect to access in employment, housing and education. 28 Multilingualism 227 The Discourse-Historical Approach - Investigating Inclusion and Exclusion through “Hegemonic Multilingualism” The Discourse-Historical Approach in CDA adopted here is threedimensional: after having first established the specific contents or topics of a specific discourse, the discursive strategies (including argumentation strategies) are investigated. Thirdly, the linguistic means (as types) and the specific, context-dependent linguistic realisations (as tokens) are categorized and related to both prior levels. The entire framework and methodology of the discourse-historical approach are elaborated elsewhere (see references quoted above). Thus, in this paper I will restrict myself to presenting some salient features which are necessary to analyze inclusion/ exclusion through hegemonic multilingualism in specific genres and texts. It needs to be emphasized at this point that the discourse-historical approach, since its inception, has always included the analysis of the broad and narrow contexts, in reference to Cicourel’s approach 29 to “context”. 30 Moreover, in such an analysis, historical developments as well as structural norms and institutional frames are accounted for. When investigating discriminatory discourses, five heuristic questions are relevant when approaching a specific text or textual sequence: 1) How are persons named and referred to linguistically? 2) What traits, characteristics, qualities and features are attributed to them? 3) By means of what arguments and argumentation schemes do specific persons or social groups try to justify and legitimize the inclusion/ exclusion, of others? 4) From what perspective or point of view are these labels, attributions and arguments expressed? 5) Are the respective utterances articulated overtly, are they even intensified or are they mitigated? Table 1: Relevant questions for the analysis of identity constructions Following these questions, we are especially interested in five types of discursive strategies, which are all involved in positive selfand negative otherpresentation. These discursive strategies underpin the justification/ legitimization of inclusion/ exclusion and of constructions of (multilingual or monolingual) identities. By “strategy” we generally mean a (more or less accurate and more or less intentional) plan of practices, including discursive practices adopted to achieve a particular social, political, psychological or linguistic goal. 31 Ruth Wodak 228 Strategy Objectives Devices referential / nomination Construction of ingroups and out-groups • membership categorization • metaphors and metonymies • synecdoches (pars pro toto, totum pro pars) Predication Labelling social actors more or less positively or negatively • stereotypical, evaluative attributions of negative or positive traits • implicit and explicit predicates argumentation Justification of positive or negative attributions • topoi used to justify inclusion or exclusion, discrimination or preferential treatment perspectivation, framing or discourse representation Expressing involvement Positioning speaker’s point of view • reporting, description, narration or quotation of events and utterances intensification, mitigation Modifying the epistemic status of a proposition • intensifying or mitigating the illocutionary force of utterances Table 2: Discursive strategies for positive selfand negative other representation Referential strategies or nomination strategies serve to construct and represent social actors. This is done in a number of ways: membership categorization devices, through metaphors and metonymies, and synecdoches, in the form of a part standing for the whole (pars pro toto) or a whole standing for the part (totum pro parte) are most relevant. Social actors as individuals, as group members or as entire groups are linguistically characterized through predications. Predicational strategies may, for example, be realized as evaluative attributions of negative and positive traits in the linguistic form of implicit or explicit predicates. Third, there are argumentation strategies and a fund of topoi through which positive and negative attributions are justified. For example, it can be suggested that the social and political inclusion or exclusion of persons or policies is legitimate on specific grounds. Fourth, the perspectivation, framing or discourse representation by means of which speakers express their involvement in discourse, and position their point of view is important. Finally, intensifying strategies, on the one hand, and mitigation strategies, on the other, qualify and modify the epistemic status of a proposition by intensifying or mitigating the illocutionary force of utterances. In the following short case studies, I will apply this methodology when analyzing modes of inclusion and exclusion through “hegemonic multilingualism” in selected European discourses. Multilingualism 229 “European Everyday Experiences - Migrant Voices” The first example illustrates some major tensions which exist in all public and private spheres across Europe. In this case study, I focus on a topology and membership categorization based primarily, but not exclusively, on language competence - language competence in the national language of EU member states. The choice of this criterion (and case study) illustrates everyday life and migrant experiences in terms of EU exclusion/ inclusion policies. While investigating immigration policies in eight EU countries (Austria, France, Italy, Sweden, UK, Cyprus, Poland, Germany) language policies turned out to be one of the main “gate keeping devices” in integration and in the possible acquisition of citizenship. In focus group discussions which were conducted about a range of topics, language competence was perceived as salient by most participants in the discussions. As part of the fieldwork, while investigating the so-called “Voices of Migrants” 32 we organised a set of five focus groups with migrants in each of the aforementioned eight EU countries. In Austria, Turks, Sudanese and South Africans working in international organizations, Poles, and South Tyroleans were selected according to the country/ region of their origin, gender as well as their educational status. Migrants in all of the investigated groups brought language (and its social importance) into the discussions. Extract 1: SCH-F6: One day here in school I went into this room because I had to do some ironing (.) and a girl who was standing vis á vis of us said ahm (.) I was talking to her [F2] (.) hey start speaking German (.) hey that’s none of your business what I am talking (.) I really wanted to kill In this scenic account, the young girl, an Austrian citizen of Turkish origin, explains her rage in situations when her native language is not accepted. Such incidents were told over and over again in stories as example of everyday racism. The account in Extract 1, however, does not depict the events clearly; we do not really find out if the girl resisted, started to argue or really told the Austrian girl what she was thinking - or if the direct speech occurred as fantasy in her mind. Often enough, young people just become silent. They are silenced by such discriminatory, excluding utterances. As some of the migrants emphasized very emotionally, without a proper knowledge of German it is almost impossible to acquire a decent job, or to do well in the Austrian educational system (speak as we do and you will survive). The bilingualism of migrants is seen as a janus-faced feature which especially depends on the languages concerned. Furthermore, bilingualism is often reflected in an intermixed use of German and the mother tongue which generally is judged in a negative way by Austrians (speak as we do and you will belong to us). On the other hand, many migrants described the importance of speaking and using their own native language. Their native language was the crucial factor shaping their individual and collective identities as well as allowing them to keep various modes of belonging with other members of their ethnic, Ruth Wodak 230 religious, cultural or national group. What includes them in their own group seems to exclude them in the host country. As one participant states: Extract 2: EE-F4: (2.0) I have a cultural heritage I have a long history I have a language (.) which I want to keep I want to (.) […] (1.0) I want to HAVE them and this is my property (.) The following example illustrates the heated discussion in the focus group of Turks: Extract 3: ENE-M3: yeah BUT what I know of-from people who who have studied here who are living here I think they have they have a lot of difficulties in getting jobs in their fields I-I-I I know that many foreigners who studied here in the Austrian universities but they cannot get jobs in their fields although they speak German well they know aam-that language and you find that people doing completely different jobs from one who studied IT or medicine but he can be a taxi driver ENE-M1: (unintelligible 2.0) MK: yeah ENE-M3: I do not think that is easy for non-Austrians to get jobs even if they ARE qualified and even if they even if they have Austrian citizenship The issues of language and citizenship are related to each other in this sequence. The topos of definition is applied: who counts as “Austrian“? Not even somebody who has Austrian citizenship and speaks German, because s/ he “looks different“. Implied are other (racialized) membership categories, such as “looks, skin colour” etc. This example illustrates how cultural definitions of identity are constructed in everyday life and determine access and inclusion or exclusion. Moreover, we hear how even qualifications and education do not suffice as membership criteria. The meta-distinctions are stronger - they seem to divide people along biological-racist lines where rational arguments and even legal requirements remain ineffective. Extract 4: F1: For example once on the Donauinsel we were (.) together (.) with her (.) and (0.5) eh an Austrian she was on bike and I think her her son was there (.) and she just stops and says look sweetie, there are eh Tschuschen [derogatory term for guest workers, usually from eastern Europe] they are Austeh thingy foreigners (unread.0.5) just call them this and this (.) and we look at her and we were so disappointed and then she started shouting and so on F2: No she she had kind of a seat behind her and there was her child like she had I think (.) and she had ehm (.) eh the bike in her hand or something I can“t remember (.) and she goes really sweetly to the child look sweetie yes that ehm und right away I thought eh she wants to say something say something nice (.) Multilingualism 231 because she also said it loud so we could hear it well she goes they are Tschuschen say Tschuschen to them (.) and the child just gazes calmly Narratives and stories occur frequently in focus group discussions. Such everyday experiences allow insight into discrimination scenarios that migrants come across so frequently. Elsewhere, we have discussed exclusion experienced by female migrants and narratives from focus groups conducted in other countries in more detail. 33 In extract 4, the two accounts focus primarily on derogatory labelling and disappointed expectations. The label “Tschusch” (stemming from the Slavic root for “foreign“) is employed spontaneously by Austrians (Viennese) meeting Turkish migrants, once on the Donauinsel, a leisure park in Vienna, and once in the tram. Both times, there was no obvious trigger for the abusive and offensive remarks. And both times, the migrants were taken by surprise. The scenic and direct reliving of the experiences, in very emotional and affective intonation, depicts the deep disappointment and the pain which was inflicted by these remarks. Moreover, it becomes very clear that in both incidents, the passers judged the migrants and categorized them by their looks, and not by any other criteria; nor did they probably overhear them talking in a foreign language (though they might have in the tram). In the first story, the process of socialisation into stereotypes and prejudice is depicted explicitly: the mother actually conveys to her child how these people should be labelled and that they are different, i.e. foreigners. Thus the topos of definition and predication strategies are employed explicitly. The mother concludes her lesson by starting to scream at the “foreigners”. Rarely do we encounter such vivid descriptions of the recontextualization, and of the explicit and public transfer of prejudice and stereotypes. In the second case, a shift of styles is indicated which takes the migrant by surprise. She remembers that the Viennese woman was first very friendly and then changed her style and again explicitly taught her child, how to label the “foreigner” as “Tschusch”. Extract 5: F3: Well in secondary school (.) my form teacher spoke with me (0.5) well he asked if we had to wear the headscarves and so on whether we can’t take it off and so on and I said no that is our religion like this (0.5) and well he didn’t want that he wasn’t that xenophobic but (0.5) he wanted that we remove the headscarf (unread.0.5) he was just asking (0.5) apart from that everything was OK in secondary school (unread.0.5) I didn’t have any problems because of the headscarf but on the street (.) is not like that M1: There you have problems (.) because of the headscarf F3: Yes (0.5) mostly yes M1: How (1.5) stupid comments or F2: Yes F3: Yes for example like on the Donauinsel (0.5) what she now (unread.0.5) Ruth Wodak 232 F5: For example eh one month ago or thereabouts eh I was with her I think we went to the loo (.) and there was someone by the stairs and said headscarf mafia M1: Mhm F4: I wear a headscarf for about about six months I have well (unread.2.0) I was with my mother hospital (.) there was one I know one nurse or something what also (unread.1.0) headscarf mafia M1: A so [I see/ aha] F4: I often hear that (.) yes F2: Famous headscarf mafias ((laughs)) (1.0) and there you have to dress all in black I mean why do you wear red and why do you wear white In extract 5, another ubiquitous topic is addressed which illustrates the Europe-wide discussions about the so-called headscarf worn by some Muslim women. In this account, the girl first narrates her school experiences where she employs a disclaimer (it was not that bad in school, the teacher was not really xenophobic) and then continues to present another incident where she was labelled as belonging to the “headscarf mafia“. A new predication is thus created which is negatively connoted because the mafia is perceived to be criminal; hence it can be inferred through an argumentative fallacy that this label implies that everybody wearing a scarf must be criminal (topos of definition). It is not only language, but the habitus of migrants, their “looks” and their dress (i.e. the colour of their dress) which are stigmatized. In this case, the scarf is clearly linked to a different religion and marked as a sign of non-belonging. Indexicality comes into play. The last two examples imply a whole range of topologies of exclusion. Starting out from the obvious - the different language - many other symbols are then marked as foreign and different. The consciously created difference is subsequently labelled as negative, employing predicational and argumentative strategies. “Foreigners” or “being foreign” is discursively constructed through language, looks, dress, and colour; i.e. habitus. Children are taught by their parents to perceive and remember these semiotic indicators and how to label them discursively. Similar results were detected in the other seven countries, which cannot be elaborated in this chapter because of space constraints. However, it is obvious that the concepts of monolingualism and homogeneity are tied to the nationalistic and even chauvinistic attitudes of the “real” Austrian, the “real” Dutch, and so forth, to stereotypes and prejudices of belonging and nonbelonging, and thus to strategies of inclusion and exclusion. Aliens, foreigners, “others” are not welcome; they do not belong and are excluded (even after having acquired citizenship) and even if the economy would profit from their presence. The dimension of inclusion and exclusion thus touches on a central topos of all EU discourses and cuts across the nexus of all EU identity discourses. 34 Multilingualism 233 Members of European Parliament (MEPs) and Their Perspectives on Multilingualism The European Parliament (EP) is the only directly elected parliamentary institution of the EU. Together with the Council of the EU, it forms the bicameral legislative branch of the Union’s institutions and has been described as one of the most powerful legislatures in the world. The Parliament and Council form the highest legislative body within the Union. However their powers as such are limited to the competences conferred upon the EC by member states. Hence the institution has little control over policy areas held by the states and within the other two of the three pillars of the EU. The Parliament is composed of 785 MEPs, who serve the second largest democratic electorate in the world (after India) and the largest trans-national democratic electorate in the world (342 million eligible voters in 2004). The MEPs are elected every 5 years since 1979 by universal adult suffrage and sit according to political allegiance; about a third are women. MEPs in Parliament belong to seven different parliamentary groups, including over thirty non-attached members known as non-inscrits. The two largest groups are the European People’s Party - European Democrats (EPP-ED) and the Party of European Socialists (PES). The method which has slowly become the dominant procedure (about three-quarters of policy areas) is the Co-Decision Procedure, where powers are essentially equal between Parliament and Council. Co-decision provides an equal footing between the two bodies. Under the procedure, the Commission presents a proposal to Parliament and the Council. They then send amendments to the Council, which can either adopt the text with those amendments or send back a ‘common position’. That proposal may either be approved or further amendments may be tabled by the Parliament. If the Council does not approve these, then a ‘Conciliation Committee’ is formed. The Committee is composed of the Council members plus an equal number of MEPs who seek to agree a common position. Once a position is agreed, it has to be approved by Parliament, again by an absolute majority. 35 All 14 MEPs which we interviewed in 1997 emphasize that they enjoy their job even though it is stressful and that multilingualism does not cause them any difficulties; quite to the contrary, most MEPs welcome the diversity associated with multilingualism. 36 This was surprising for us as interviewers because we often had the impression that misunderstandings of many kinds (arising from linguistic diversity) occurred on a regular basis. One MEP summarizes the commonly held view that multilingualism is not an obstacle. Of course when a speaker uses many mitigation devices, disclaimers, and explicit assertions that there is ‘no real problem’, as in the extract below, this might indicate the opposite as subtext; however, this interpretation necessarily remains speculative. Extract 6 There is no real problem with linguistics which/ of course/ I mean there is no/ is/ is a wonderful language of course but - terms of its appreciation across the European Union I haven’t found a single if you like person who hasn’t been able to ex- Ruth Wodak 234 press themselves part in and interrupts me when I am trying to speak French or whatever (MEP 11) A second MEP describes some of the most acute issues of MEPs’ everyday life: problems of clarity due to translation mistakes leading to conflicts over the content which are actually caused by mistranslations; this extract thus points to major - also negative - implications of multilingualism and related translation services; 37 in this way, the enacted diversity remains problematic in some ways, and positive in others: Extract 7 Frequently there are difficulties in the parliament itself, because the foreign language versions of the text arrive too late, and then you just stand there and only have English and French, and generally the Finns and the Swedes suffer the most. They receive/ have constant problems with their translations, and others likewise, and when/ when I am supposed to work directly with a text as the correspondent or (xxxx), then I want to hold a text that is in my mother tongue. And the others feel the same way, because technicalities are nonetheless frequently vital, not, (xxxx) also in these translations every now and then severe mistakes pop up, which in turn have a totally different meaning in a foreign language, which is why it’s always necessary to work in one’s mother tongue and then check the other version, (xxxx) and this always results in some mistakes. Frequently the mistakes are just small, but sometimes they’re quite significant. [We] argue for an hour in the committee, an hour until a colleague comes along and says: man, there’s a translation error, look here, and then we will realize: my god, a translation error (xxxx), well at that point everything is over. It’s been this complicated since […] Citizenship and Multilingualism In the following, the subjective, personal experiences of migrants, on the one hand, and of MEPS on the other, are linked to the official level of European Union language and citizenship policies. Such a contrast allows the exposition of the many inherent contradictions in the search for European identities and related values. Recent changes in political, religious and social relationships between communities worldwide have contributed to a situation in contemporary Europe where states are now addressing the meaning of the term “citizenship”. Parameters for determining exactly who is (or can become) a “citizen” are at present unresolved, with little consensus across nation states. Two established criteria for determining citizenship, which are common in policy discourse, are birthplace and bloodline. 38 However, with the recent appearance of new states in Europe and the flow of populations across state boundaries, a new criterion centred on proficiency in the official language(s) of a state has emerged. Unlike the former two criteria, this is an attribute that can be acquired and has come to be seen as central to facilitating “integration” 39 . A corollary of this citizenship criterion is that an acquired language criteria requires measurement in order to determine the level of an individual’s proficiency. Multilingualism 235 Recent research into European citizenship policies (but not specifically the language aspect of them) argues that governments tend to approach immigration as either a threat or an opportunity. 40 With regard to language, a general trend identified in a first pilot survey conducted by Susan Dray 41 , whose results I am summarizing below, is that states that wish to encourage immigration (e.g. Romania, Poland, Hungary) will place less emphasis on language and assessment, than states that perceive immigration as a problem (e.g. Austria, Finland, France, Germany). Language (and assessment procedures) may be employed as an instrument of control with language tests being legally required of some “groups” but not others. At present there is no consensus in Europe on the minimum level of proficiency in an acquired language. States are working independently to establish their own thresholds, drawing on a range of alternative solutions. For example, in Austria and Finland, where language tests are enforced by law, language assessment criteria correspond to the Common European Framework of Reference for Languages (CEFR). However, the baseline standards in the two countries are different. Furthermore, in some countries there is no formal language test. In Greece, for example, command of Greek is assessed during the “citizenship” interview. Currently, there is preliminary information on all 26 European states. 42 Some examples illustrating the variety of approaches and social contexts involved are summarised in Table 3. Table 3. Summaries of 6 approaches to language assessment for citizenship in Europe Austria The “integration agreement” (2003) obliges applicants for permanent residence (except asylum seekers and refugees whose status is regulated under different laws) to complete a “Deutsch- Integrations-Kurs” (German Integration Course). Those who can prove their knowledge of German are exempt from taking the course, but there are no specifications for proving or evaluating linguistic ability. 43 Applicants are required to reach Level A1 of the 6 levels identified in the CEFR within 100 sessions of 45 minutes. Applicants must pass the test within 18 months of arriving in order to have 50% of their costs paid for by the Austrian government. If the applicant continues to fail, does not take the exam or does not attend the course, they can be subject to fines and eventually lose their residence permit. This is the first time that the Austrian government has given financial support to immigrants for learning German. 0,1,5 A stipulation of the Czech Citizenship Act is that an applicant can “prove his or her Czech language proficiency”. A pilot project entitled “Selection of Skilled Foreign Workers” was launched in 2001 to test the future of a larger scale immigration policy aimed at facilitating immigration. Although, initially, desirable immigrants were Ruth Wodak 236 considered to be “linguistically and culturally akin ethnics”, since 2004 the opportunity for “experts“ to immigrate to Czech Republic has been increasingly extended to nationals of more countries. France Currently there appears to be no established test despite an intention to implement a “new certification for migrants” by the end of 2005, which would test competence in French after a French course of 200- 500 hours. The test was to be obligatory for citizenship and for a “carte de residence”. In 2005, however, further developments heading towards a US-style points-based system of immigration was being investigated, in which knowledge of languages would be an element. Germany Germany’s new immigration law (2005) requires a “satisfactory knowledge” of German in order to become a German citizen by naturalisation. In the absence of language proficiency certificates, authorities can request that the applicant take a language test. The exact test procedure is not clear. “Citizenship” courses, however, are currently under discussion. These are based on the US system, and aim to teach and test applicants on the German constitution and culture. They implicitly require knowledge of German. Germany also has a “law of return” , which grants people of German descent (“Aussiedler”) the right to settle in Germany, subject to a language test. The purpose of this test is to identify applicants as being legitimately German and knowledge of dialect is preferred over „correct“ or standard German. This test consists of a brief series of oral questions to test understanding, vocabulary and “fluency”. 44 Netherlands Applicants for Dutch citizenship who are resident foreigners in the Netherlands must have lived there for 5 years and must demonstrate a “sufficient command” of Dutch. For those outside of the Netherlands, the “civic integration examination” requires a “fundamental knowledge of the Dutch language and Dutch society”. It is an oral test held in the applicant’s home country. There are no courses available but there is an “education pack” costing 65 Euros. The test costs 350 Euros. Poland Resident foreigners may apply for naturalisation after 5 years in Poland. A new Repatriation Act became effective in 2001 restoring citizenship for those who had been displaced during communist rule and the Second World War. To qualify under the repatriation law a person must demonstrate that a parent, grandparent or two great-grandparents had Polish citizenship. There is no explicit mention of a language test. The current situation in Europe is a patchwork of solutions to an array of perceived “citizenship” problems, which show varying degrees of familiarity and awareness of language assessment practices. Dray’s pilot survey found no information about how language assessment was developed in any of the countries where language tests are implemented. Multilingualism 237 This ad hoc development of policies regarding citizenship initially occurred with little engagement with existing academic debates. 45 Academic critiques of the CEFR 46 , for example, have been ignored in the policy arena, where the Framework is uncritically applied to language proficiency standards. Academic awareness and activity surrounding the issue of developing language tests for citizenship is continuing to grow. Amongst this work are research on the ideologies of language that underpin citizenship legislation, 47 and the role of language rights in democratic citizenship. 48 Whilst there has been some policy response to academic work in the area of language tests for identity (i.e. the establishment of citizenship by descent) in the form of a set of guidelines (proposed by linguists and adopted by a number of international professional organisations) 49 , this test addresses only those claiming rights on the basis of their ethnic heritage. Thus, this is only one dimension of the way in which language is used to determine citizenship. These debates are likely to become more common with increasing academic activity in the field. An indication of this trend is the fact that the Association of Language Testers in Europe dedicated a day-long forum to the topic of language assessment and citizenship at its annual conference. 50 In addition, the Council of Europe has identified, and is currently addressing, the issue of language regarding “adult migrants”. Incidentally the situation is similar in English-speaking countries outside Europe" where immigration and citizenship are central national concerns. In the USA proficiency in English is not a requirement for citizenship, although the USA has developed a new naturalisation test of which English language proficiency is a component. In New Zealand, the IELTS test, initially designed to assess language proficiency for study purposes, is now used to assess the English proficiency of migrants. In Canada and Australia, “points” are awarded according to the applicant’s level of language proficiency and these contribute to the selection process. In Canada these points are awarded at interviews by an untrained immigration officer. 51 In Australia they are awarded after a language test is taken. Proposals for developing a points system based on the US model are well advanced in the UK and in Germany, and are also under consideration in France. Conclusion Summarizing, I propose a heuristic model (Figure 1), which grasps the basic tensions and antinomies detected in all three examples above and which thus could serve as a general framework for research on European identities and the development of a hegemonic multilingualism. Apart from the clear newly-established functions of multilingualism as part of the competitive European knowledge-based economy, multilingualism possesses other, contradictory functions illustrated in the first two examples in this chapter: gate-keeping functions and the construction of inclusion and exclusion. Hence, the dimension of inclusion and exclusion cuts Ruth Wodak 238 across all the examples analyzed in this chapter. The general concept of insiders and outsiders seems salient in all domains, in and between societies, in cyberspace, in every day conversations, and in organizational discourses. 52 Niklas Luhmann 53 claims that the social sciences do not have a precise description and analysis of the processes of social inclusion and social exclusion. He defines inclusion and exclusion as the two vital meta-distinctions of our times: certain social groups lead “parallel lives”; the social problems thereby transcend the traditional values of justice and democracy. Only those who feel themselves to be included still adhere to democratic values. However, inclusion and exclusion are not to be considered as static categories: the person who is excluded today may be included tomorrow, and vice versa. Although membership can always be redefined, important “gatekeepers” decide who will have access: new laws, new ideologies, new languages, and new borders - in Europe and elsewhere. The desired “openingup” of the European Union, the greater participation and democratization, therefore still has to overcome some essential obstacles if it is to reunite the so-called “parallel lives”. Multilingualism 239 Ruth Wodak 240 1 This paper draws and extends research published on the 6 th framework project DYLAN (http: / / www.ling.lancs. ac.uk/ activities/ 286/ ) and in Anna Duszak and Juliane House: Globalization, Discourse, Media: In a Critical Perspective. Warsaw 2010. I thank Jakob Engel for revising and editing the English language of this chapter. Of course, all responsibilities rest solely with the author. 2 For recent research on the discursive construction of European identities see Gilbert Weiss: A.E.I.O.U. - Austria Europe Imago, Onus, Unio? In: Mikael Malmborg and Bo Stråth (Eds. ): The Meaning of Europe, Oxford/ New York 2002, p. 263-283; Gilbert Weiss: Die vielen Seelen Europas. Eine Analyse „neuer” Reden zu Europa. In: Mokre et al. (Eds. ): Europas Identitäten: Mythen, Konflikte, Konstruktionen, Frankfurt/ New York 2003, p. 183-206; Florian Oberhuber, Ruth Wodak et al.: Debating the European Constitution: On representations of Europe/ the EU in the press. Journal of Language and Politics 4: 2/ 2005, p. 227-273; Ruth Wodak and Gilbert Weiss: Möglichkeiten und Grenzen der Diskursanalyse: Konstruktionen europäischer Identitäten. In: O. Panagl and R. Wodak (Eds. ): Text und Kontext. Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinären Vergleich, Würzburg 2004a, p. 67-86; Ruth Wodak and Gilbert Weiss: Visions, Ideologies and Utopias in the Discursive Construction of European Identities: Organizing, Representing and Legitimizing Europe. In: Martin Pütz, Joanne van Aertselaer and Teun van Dijk (Eds. ): Communicating Ideologies: Multidisciplinary Perspectives on Language, Discourse and Social Practice, Frankfurt/ Main 2004b, p. 225-252; Peter Muntigl, Gilbert Weiss and Ruth Wodak: Union Discourses on Un/ Employment. An interdisciplinary approach to employment policy-making and organizational change, Amsterdam 2000; Bo Stråth: The future of Europe. Journal of Language and Politics 2006; Ruth Wodak and Sonja Puntscher-Riekmann: Europe for All: Diskursive Konstruktionen europäischer Identitäten. In: Monika Mokre, Gilbert Weiss and Rainer Bauböck (Eds. ): Europas Identitäten: Mythen, Konflikte, Konstruktionen, Frankfurt/ Main 2003, p. 283-304; Andreas Musloff: Metaphor and political discourse, Basingstoke 2004; Ruth Wodak: Interdisciplinarity, Gender Studies and CDA: Gender Mainstreaming and the European Union. In: Michelle Lazar (Ed.): Feminist Critical Discourse Analysis, London 2005a, p. 90-114; Ruth Wodak: Linguistic Analyses in Language Policies. In: Thomas Ricento (Ed.): An Introduction to Language Policy. Theory and Method, Oxford 2005b, p. 170-193; Christoph Bärenreuter: “It is not sufficient to have a moral basis, it has to be democratic too.” Constructing “Europe“ in Swedish media reports on the Austrian political situation in 2000. In: Ruth Wodak and Paul Chilton (Eds. ): New Research Agenda in CDA: Theory and Interdisciplinarity, Amsterdam 2007, p. 189-212; Florian Oberhuber: “Deliberation or „Mainstreaming“: Empirically Researching the European Convention. In: Wodak/ Chilton 2007, p. 165-188; Michal Krzyz · anowski: “European Identity Wanted! On Discursive Dimensions of the European Convention”. In: Wodak/ Chilton 2007, p. 137-164; Bo Stråth and Ruth Wodak: Europe - Discourse - Politics - Media - History: Constructing ‘crises’? In: Anna Triandafyllidou, Ruth Wodak and Michal Krzyz · anowski (Eds. ): Europe and/ in Media, Basinstoke 2009; Michal Krzyz · anowski and Ruth Wodak: Multiple Identities, Migration, and Belonging: Voices of Migrants. In: Carmen Caldas-Coulthard and Rick Iedema (Eds.): Identity Troubles, Basingstoke 2007, p. 95-119; Michal Krzyz · anowski and Ruth Wodak: Theorising and Analysing Social Change in Central and Eastern Europe: The Contribution of Critical Discourse Analysis. In: Aleksandra Galasinska and Michal Krzyz · anowski (Eds.) Discourse and Transformation in Central and Eastern Europe, Basingstoke 2008a; Michal Krzyz · anowski and Ruth Wodak: Poli- Multilingualism 241 tics of Exclusion: Debating Migration in Austria Transaction Press, New Brunswick 2008b; Ruth Wodak and Scott Wright: Communicating Europe in Cyberspace. Journal of Language and Politics 5(2)/ 2006, p. 251-275; Ruth Wodak and Scott Wright: The European Union in Cyberspace: Democratic Participation via Online Multilingual Discussion Boards? In: Brenda Danet and Susan C. Herring (Eds.): The Multilingual Internet: Language, Culture and Communication in Instant Messaging, Email and Chat, Oxford 2007, p. 385-407. I am very grateful to Johnny Unger and Susan Dray for allowing me to draw on some of their considerations of their pilot studies on language policies for Scots, and language and citizenship, respectively; see Johnny Unger: The Discursive Construction of Scots. PhD Thesis, Lancaster University 2006; Susan Dray: Language and Citizenship. Project Report, Lancaster University 2006. 3 See Ruth Wodak: Introduction: Discourse, text, and context. In: Ruth Wodak/ Mikal Krzyz · anowski (Eds.): Qualitative Discourse Analysis in the Social Sciences. Basingstoke 2008; Ruth Wodak: The Discourse of Politics in Action: ‘Politics as Usual’. Basingstoke 2009. 4 See Ruth Wodak: The discourse-historical approach. In: Ruth Wodak and Michael Meyer (Eds.): Methods of Critical Discourse Analysis. London 2001, p. 63-95; Ruth Wodak: ‘Critical discourse analysis’. In: Clive Seale et al. (Eds.): Qualitative Research Practice, London 2004, p. 197-213; Martin Reisigl and Ruth Wodak: Discourse and Discrimination. Rhetoric of Racism and Antisemitism, London 2001. 5 Pierre Bourdieu: In other Words - Essays towards a Reflexive Sociology. Cambridge 1994. 6 See Ruth Wodak, Rudolf de Cillia, Martin Reisigl and Karin Liebhart: The Discursive Construction of National Identity. Edinburgh 1999 [2009]; Ruth Wodak and Rudolf de Cillia: Commemorating the past: the discursive construction of official narratives about the Rebirth of the Second Austrian Republic. Discourse and Communication, 1(3)/ 2007, p. 337-363; Hannes Heer, Walter Manoschek, Alexander Pollak and Ruth Wodak (Eds.): Wie Geschichte gemacht wird. Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg. Vienna 2003. 7 See Wodak/ Weiss 2004a.b, n. 2; Ruth Wodak and Gilbert Weiss: Analyzing European Union Discourses. Theories and Applications. Ruth Wodak and Paul Chilton (Eds.): A New Agenda in (Critical) Discourse Analysis. Amsterdam 2007. 8 See Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Berlin 1969. This model is extensively elaborated in Weiss 2002 and Wodak/ Weiss 2004 a.b, n. 2. 9 See also Unger 2006, n. 2. 10 See Stefan Titscher, Ruth Wodak, Eva Vetter et al.: Methods of Text and Discourse Analysis. London 2000. 11 Pierre Bourdieu: Outline of a Theory of Practice. Cambridge 1993, p. 78. 12 Ibid., p. 80. 13 Ibid. 14 Ibid., p. 81. 15 See Krzyz · anowski/ Wodak 2008a, n. 2. 16 See Wodak/ Wright 2006, 2007, n. 2. 17 Cf. Konrad Schröder: Fremdsprachen im europäischen Haus. Die Neueren Sprachen 4-5/ 1992, p. 359. 18 See Ulrich Ammon: Deutsch als internationale Verkehrssprache in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. In: Karl Ermert (Ed.): Sprache zwischen Markt und Politik. Über die internationale Stellung der deutschen Sprache und die Sprachenpolitik in Europa, Loccum 1994, p. 13 -52. Ruth Wodak 242 19 See Dieter E. Zimmer: Abschied von Illusionen. Über den internationalen Status der deutschen Sprache. In: D.E. Zimmer (Ed.): Deutsch und anders. Die Sprache im Modernisierungsfieber. Hamburg 1997, p. 201-214; Bertel Haarder, following Herbert Christ: Fremdsprachenunterricht für das Jahr 2000. Tübingen 1991, p. 21. 20 See Barbara Grimes: Ethnologue. Languages of the World. 14. Aufl. 2000, http: / www.sil.org/ ethnologue. 21 Harald Haarmann: Die Sprachenwelt Europas. Geschichte und Zukunft der Sprachnationen zwischen Atlantik und Ural. Frankfurt/ New. York 1993, p. 53ff. 22 See Rudolf de Cillia: Grundlagen und Tendenzen der europäischen Sprachenpolitik. In: Monika Mokre, Gilbert Weiss and Rainer Bauböck (Eds.) Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen. Frankfurt/ New York 2003, p. 231-256: p. 232ff. 23 See Ulrich Ammon: Grundzüge der internationalen Stellung der deutschen Sprache - mit Hinweisen auf neueste Entwicklungen. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 47.2/ 1999, p. 99-119: p. 109. 24 See de Cillia 2003, n. 22; Robert Phillipson: English-Only Europe? Challenging Language Policy. London 2003. 25 Herbert Christ: Sprachenpolitische Perspektiven. In: Karl-Richard Bausch, Herbert Christ and Hans-Jürgen Krumm: Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen- Basel 1995, p. 75-81: p. 75. 26 Christ 1991, n. 19, p. 55. 27 Michael Clyne: Towards inter-cultural communication in Europe without linguistic homogenization. In: Rudolf De Cillia, Hans-Jürgen Krumm and Ruth Wodak (Eds.): Die Kosten der Mehrsprachigkeit. Globalisierung und sprachliche Vielfalt / The Cost of Multilingualism. Glabalisation and Linguistic Diversity. Vienna 2003, p. 39-48: p. 40. 28 See Ruth Wodak, Michal Krzyz · anowski and Fleur Ulsamer: Focus Group Analysis. Report Workpackage 3, XENOPHOB Project, Vienna 2003; Jan Blommaert: Discourse. Cambridge 2005; Ruth Wodak: Discourses in European Union organizations: Aspects of access, participation, and exclusion. ’ In: Charles Briggs (Ed.): Four decades of epistemological revolution: Work inspired by Aaron V. Cicourel. Special Issue TEXT and TALK, Vol.27/ Issue 5/ 6 - 2007a, p. 655 - 680; Gerard Delanty, Ruth Wodak and Paul Jones (Eds.): Migration, Identity, and Belonging. Liverpool 2008. 29 See Aaron Cicourel: The Interpretation of communicative contexts: examples from medical encounters. In: Alessandro Duranti and Charles Goodwin (Eds.): Rethinking context: language as an interactive phenomenon, Cambridge 1992, p. 291-310. 30 See Ruth Wodak: Disorders in Discourse. London 1996. 31 All these strategies are illustrated by numerous categories and examples in Reisigl/ Wodak 2001, n. 4, p. 31-90. Owing to space restrictions, it would be impossible to present all these linguistic devices in this paper. 32 Delanty/ Wodak/ Jones 2008, n. 28. 33 See Krzyz · anowski & Wodak 2008b, n. 2. 34 See Ruth Wodak: ‘Doing Europe ’ : the Discursive Construction of European Identities, in Richard C.M. Mole (Ed.): Discursive Constructions of Identity in European Politics, Basingstoke 2007b, p. 70-95; Ruth Wodak: AFTERWORD. “What Now? “ - Some Reflections on the European Convention and its Implications, In: Michal Krzyz · anowski and Florian Oberhuber: (Un)doing Europe. Bern 2007c, p. 203- 216. 35 See Wodak 2009, n. 3, for more details. 36 Ibid., p. 90. Multilingualism 243 37 Ibid., p. 93. 38 See Patrick Weil: Access to citizenship: a comparison of twenty five nationality laws. In: T. Alexander Aleinikoff/ Douglas Klusmeyer (Eds.): Citizenship today: global perspectives and practices, MPI Publications 2001. 39 Cfr. Sergio Carrera: A comparison of integration programmes in the EU: trends and weaknesses. Challenge Papers No.1. Centre for European Policy Studies, Brussels 2006. 40 See Rainer Bauböck, Eva Ersboll, Kees Groenendijk and Harald Waldrauch (Eds.): Acquisition and loss of nationality: policies and trends in 15 European states. Project report. Institute for European Integration Research, Austrian Academy of Sciences, Vienna 2006; Tariq Modood, Anna Triandafyllidou and Ricard Zapata- Barrero (Eds.): Multiculturalism, Muslims and Citizenship: a European approach. London 2006. 41 Dray 2006, n. 2. 42 Austria, Belgium, Czech Republic, Denmark, Estonia, Finland, France, Germany, Greece, Hungary, Ireland, Italy, Latvia, Lithuania, Luxembourg, Moldova, Netherlands, Poland, Portugal, Romania, Federal Republic of Russia, Slovenia, Spain, Sweden, Switzerland, United Kingdom. 43 See Rudolf de Cillia and Ruth Wodak: Ist Osterreich ein ‚deutsches’ Land? Innsbruck 2006. 44 Tim McNamara: 21st century shibboleth: language tests, identity and intergroup conflict. Language Policy 4/ 2005: p. 351-370. 45 Cf. Brigid Fowler: Fuzzing citizenship, nationalising political space: A framework for interpreting the Hungarian ‘status law’ as a new form of kin-state policy in Central and Eastern Europe. ESRC “One Europe or Several? ” Programme, Working Paper 40/ 02-2002. 46 E.g. J. Charles Alderson: ‘Waystage’ and ‘threshold’. Or does the Emperor have any clothes? Mimeo 2004; Glenn Fulcher: Deluded by artifices? The Common European Framework and harmonisation. Language Assessment Quarterly. 1 (4)- 2004: p. 253-266. 47 E.g. Tommaso Milani: Language testing and citizenship: Poststructuralist perspectives on a language ideology in Sweden. Paper presented at Lancaster University 23/ 03/ 06 (in press, Journal of Language and Politics); Ingrid Piller: Naturalisation language testing and its basis in ideologies of national identity and citizenship. International Journal of Bilingualism 5(3)/ 2001: p. 259-277. 48 See Hugh Starkey: Democratic citizenship, language diversity and human rights. Council of Europe, Strasbourg 2002. 49 See McNamara 2005, n. 44. 50 ALTE. Language Assessment and Citizenship Forum Abstract, 2nd International Conference, Berlin 2005. 51 See McNamara 2005, n. 44. 52 See Wodak 2007a, n. 28; Wodak 2007 b.c, n. 34. 53 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Vol. Frankfurt/ Main 1997. Autorinnen und Autoren Daniel Bitouh: Studium der Germanistik und Afrikanistik an der Universität Yaounde in Kamerun; derzeit Dissertant am Institut für Germanistik der Universität Wien; arbeitet an einer Dissertation zum Thema „Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths. Zur Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus. Ein postkolonialer Blick“. Forschungsschwerpunkte: deutsche und afrikanische Literatur; postkoloniale Literatur- und Kulturtheorie. Mirjam Bitter studierte Neuere deutsche Literatur und Italienisch in Marburg, Venedig und Berlin. Ihre Magisterarbeit zu Lyrik und Essayistik Barbara Köhlers wurde 2006 unter dem Titel „sprache macht geschlecht“ veröffentlicht. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Gießener Graduierten- zentrum Kulturwissenschaften und dort für das Rezensionsmagazin KULT_online zuständig. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang von Gedächtnis und Geschlecht in junger jüdischer Literatur. Eilsabeth Blasch: Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Kulturwissenschaft/ Cultural Studies und Spanisch in Wien und Madrid; arbeitet an einer Dissertation zum Thema „Bilderzählungen. Fotografie als Mittel der intermedialen Konstruktion von Erinnerung und Gedächtnis im literarischen Erzählen“, die 2009 mit einem Forschungsstipendium der Universität Wien gefördert wurde. Von 2008 bis 2010 Lehrbeauftragte an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Wien; derzeit ist sie als freie Lektorin tätig. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität, Literatur und Fotografie, Kulturwissenschaften, Lese(r)-forschung, Metafiktion, Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Milka Car: Studium der Komparatistik und Germanistik an der Universität Zagreb, Dozentin an der Abteilung für Germanistik der Universität Zagreb. Rezensentin deutschsprachiger Neuerscheinungen für das Dritte Programm des Kroatischen Rundfunks und Mitarbeiterin für deutsche Literatur beim Kroatischen Lexikographischen Institut. Diplomarbeit zum Thema Arnolt Bronnen 1918-1933, Magisterarbeit unter dem Titel Die deutschsprachige Dramatik im kroatischen Theater in Zagreb 1894/ 5-1939/ 40 und Doktorarbeit unter dem Titel Der deutschsprachige Dokumentarroman im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (2008). Forschungsschwerpunkte: deutsch-kroatische Literaturbeziehungen: rezeptionsästhetische und kulturwissenschaftliche Aspekte, deutschsprachiger Dokumentarroman. Autorinnen und Autoren 245 Daniela Finzi: Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Salzburg, Wien, Paris und Berlin. Langjährige Arbeit im Theaterbereich (Dramaturgie und Regie), von 2007 bis 2009 Kollegassistentin am Initiativkolleg „Kulturen der Differenz. Transformationen in Zentraleuropa“; seit Herbst 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund Freud Museum Wien. Sie arbeitet an einer Doktorarbeit zum Thema „Unterwegs zum Anderen. Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten aus deutschsprachiger Perspektive“. Arbeitsschwerpunkte: Theater- und Kulturwissenschaft, Kulturtheorie, Museologie. Isabel Capeloa Gil, Jg. 1965, ist Professorin für Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Katholischen Universität in Lissabon (UCP). Sie hat zahlreiche Publikationen zu Intermedialität, Geschlechterdifferenz, Wissenschaft und Literatur, und Kultur um 1900. Sie ist die Herausgeberin der Zeitschrift Comunicaç-o e Cultura und Senior Researcher des Zentrums für Kommunikation und Kultur (CECC) in Lissabon. Sie ist Honorary Fellow am Institute for Romance and Germanic Languages in London. Laura Hegedu s, M.A., Studium der Kulturwissenschaften, Anglistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Leipzig (1991- 1996 DAAD-Stipendiatin). Seit 1998 Lehrtätigkeit im Bereich Deutsch als Fremdsprache u. a. am Goethe-Institut, an der Hochschule für Technik Wirtschaft und Kultur Leipzig, am Max-Planck-Institut und an der Volkshochschule in Leipzig. 2000-2001 German Language Assistant an der Kingston University in London. 2005-2006 Dozentin am Goethe-Institut in Ljubljana. 2007-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Reflexion kultureller Interferenzräume. Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“ (BMBF) am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), derzeit Arbeit am Dissertationsprojekt „Literarische Wahrnehmung von Grenzregionen in deutsch- und ungarischsprachiger Gegenwartsprosa“. Nicole Kandioler: Studium der Theaterwissenschaft, Romanistik und Slawistik in Wien. Dissertationsprojekt zu Narrativen von Identität und Geschlecht in exemplarischen tschechischen, polnischen und österreichischen Spielfilmdialogen. 2004-2008 Lehrtätigkeit am Département d´allemand, Universität Rouen, und Mitglied der Forschungsgruppe CR2A (Forschungsachsen Transformation-Identität-Gender). Dezember 2008 - September 2010 Koordination des interdisziplinären Initiativkollegs Sinne-Technik- Inszenierung: Medien und Wahrnehmung. Seit September 2010 Univ.-Ass. Prä-doc bei Univ.-Prof. Dr. Klemens Gruber am TFM Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien. Marietta Kesting ist Wissenschaftlerin, Filmemacherin und Photographin. Im Rahmen ihres Studiums schloss sie am Bennington College USA einen B.A. und in Berlin an der Humboldt-Universität Berlin den Magister in Kul- Autorinnen und Autoren 246 turwissenschaft ab. Von 2008 - 2010 Assistentin am Schwerpunkt für visuelle Kultur- und Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Seit 2011 Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg „Gender as a Category of Knowledge“ (HU Berlin). Zurzeit arbeitet sie an einer Dissertation mit dem Arbeitstitel: Visualisierung von Gender, Migration und Xenophobie im Post-Apartheid Südafrika - Crossmapping der dokumentarischen Strategien in Photographie und Film. Ursula Knoll geb. 1981 in Wien, lebt und arbeitet dort. Studium der Germanistik/ Judaistik/ Romanistik in Wien und Bishkek (Kirgisistan), Mitarbeit im Projekt: POSTCOLONIAL - QUEER: Postkoloniale Theorien und Queertheorien im Dialog mit deutschsprachiger Literatur. Leitung: Dr.in Anna Babka. Inst. f. Germanistik, Universität Wien. Derzeit Arbeit am Dissertationsprojekt „den_die Nazi lesen: Sexualität, ‚Rasse’ und NS-TäterInnenschaft“, Univ. Wien, und Arbeit als Dramatikerin (wiener wortstätten / Landestheater Linz). Ingo Lauggas: Literatur- und Kulturwissenschaftler, Koordinationsstelle Kulturwissenschaften/ Cultural Studies an der Universität Wien. Lehrbeauftragter im gleichnamigen Studiengang sowie am Institut für Romanistik. Forschungsfeld: Kulturtheorie, Literarische Ästhetik. Hg. (mit Elisabeth Mixa und Friedhelm Kröll): Einmischungen. Die Studierendenproteste mit Antonio Gramsci lesen (2011). Gerald Lind: Gerald Lind studierte Geschichte und Germanistik an den Universitäten Wien und Edinburgh, war Kollegiat am Initiativkolleg „Kulturen der Differenz. Transformationen in Zentraleuropa“ (Universität Wien) und promovierte zum Werk von Gerhard Roth. Zur Zeit ist Lind im Bereich Lehrentwicklung an der Karl-Franzens-Universität Graz und als Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen tätig. Emilija Man i : Studium der Germanistik und Skandinavistik an der Philologischen Fakultät in Belgrad, an der Humboldt-Universität zu Berlin, sowie an der Freien Universität Berlin. Ihre Dissertation mit dem Titel „Die Macht der Kultur. Zu (post-)jugoslawischen romantischen Identitätsnarrationen und ihrem europäischen Kulturkontext” setzt sich ausgehend von der germanistischen Romantik-Forschung mit den Konzepten der imaginativen Darstellung von kulturellen und nationalen Identitäten aus der komparatistischen Sicht in der jugoslawischen und deutschsprachigen Region auseinander. Im Fokus der Forschung steht besonders das Verhältnis zwischen Identität und Differenz sowie die Rolle der Kultur bei der Identitätsstiftung. Sie war von 2006 bis 2009 Kollegassistentin am Initiativkolleg „Kulturen der Differenz. Transformationen in Zentraleuropa“, Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Kulturwissenschaften, Theorie des Narrativen, Kulturtheorie, kulturelle und nationale Identitäten. Autorinnen und Autoren 247 Wolfgang Müller-Funk: Literaturwissenschaftler und Kulturphilosoph, von 1998-2002 Professor für German Cultural Studies an der Univ. Birmingham. Zahreiche Gastprofessuren und Scholarships (u.a. GCSC Gießen, Leipzig, Trinity College, Dublin, in Zagreb, Lissabon, Szeged und Bratislava), derzeit Professor für Kulturwissenschaften am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literatuirwissenschaft der Univ. Wien. Diverse Forschungsprojekte und Sammelbände im Bereich von Kulturwissenschaften/ Cultural Studies. Monographien: Die Farbe Blau (2000); Die Kultur und ihre Narrative (2002/ 2007), Kulturtheorie (2006/ 2010), Komplex Österreich (2009). Holger Pötzsch: Doktorand am Institut für Kultur und Literatur, Universität Tromsø, Norwegen. Er ist dort Teil der Forschungsgruppe Border Poetics. Pötzsch hält einen Master in Friedens- und Konfliktforschung von derselben Universität. Seine Ausbildung umfasste Studien an der Ludwig- Maximillians-Universität, München, der Humboldt-Universität, Berlin und der Universität Tromsø. Sein Forschungsinteresse gilt audio-visuellen Repräsentationen von Krieg, Kriegsfilm und Erinnerungskultur, sowie der diskursiven (Re)Produktion von Grenzen in und durch Populärkultur. Er arbeitet im Moment an einer Dissertation über Grenzziehungen, Grenzverletzungen und liminale Räume im Kriegsfilm. Klaudija Sabo: Studium der Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte in Berlin; arbeitet an ihrer Dissertation zum Thema „Imaginierte Nationen. Konstruktion ethnischer Identitäten im bosnischen, kroatischen und serbischen Film“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wien, Institut für Zeitgeschichte, Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Filmwissenschaften, Transformationsprozesse in Südosteuropa, Spiel- und Dokumentarfilm. Erna Strniša wurde 1980 in Ljubljana geboren. Sie studierte Philosophie und Geschichte an der Philosophischen Fakultät, Universitat Ljubljana. Von 2005 bis 2010 Studentin des Postdiplomstudiums am Wissenschafts- und Forschungszentrum der Slowenischen Akademie für Wissenschaft und Künste (2010 Dissertation in Philosophie). Von 2005 bis 2006 arbeitete sie in Ausbildung als Praktikantin am Gymnasium. Ab 2007 arbeitet sie als Journalistin am Multimediazentrum, Slowenischer Rundfunk. Marta Wimmer: Studium der Germanistik an der Neophilologischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan´; arbeitet seit 2007 an einer Dissertation zum Thema „Poetik des Hasses in der österreichischen Literatur am Beispiel ausgewählter Werke“. 2009 - 2010 Werfel-Stipendiatin in Wien. Arbeitsschwerpunkte: österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Ruth Wodak: Die Sprachwissenschaftlerin und Professorin für Diskursforschung lehrt an den Universitäten Wien und Lancaster und war als Gastpro- Autorinnen und Autoren 248 fessorin u.a. in Uppsala, Stanford, Minnesota und Budapest tätig. Sie zählt zu den wichtigsten VertreterInnen der Critical Discourse Analysis und hat zahlreiche Preise, u.a. den Wittgenstein Preis für Spitzenforschung (1996), erhalten. Ihre Forschungsfelder umfassen Diskursanalyse, gender studies, Sprache in/ und Politik, Vorurteil und Diskriminierung und ethnographische Methoden lingusitischer Feldarbeit. Sie ist im redaktionellen Beirat zahlreicher linguistischer Zeitschriften und Co-Herausgeberin von Discourse and Society, Critical Discourse studies und Language and Politics sowie der Buchreihe Discourse Approaches to Politics, Society and Culture (DAPSAC). Zu ihren jüngeren Publikationen zählen: Ist Österreich ein ‚deutsches’ Land? (mit Rudolf de Cillia, 2006), Qualitative Discourse Analysis in the Social Sciences (mit Michal Krzyz · anowski, 2008), Migration, Identity and Belonging (mit Gerard Delanty und Paul Jones, 2008), The Discursive Construction of History. Remembering the Wehrmacht’s War of Annihilation (mit Hannes Heer, Walter Manoschek, Alexander Pollak, 2008), The Politics of Exclusion (mit Michal Krzyz · anowski, 2009), Gedenken im Gedankenjahr (mit Rudolf de Cillia, 2009) und The discourse of politics in action: ‚Politics as Usual’ (2009).